46
2. Das Medium Hypertext 62 2. Das Medium Hypertext In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff Hypertext erläutert und von ver- wandten Begriffen abgegrenzt. Einer Gegenüberstellung von Hypertext und traditionellem Lineartext folgt ein kurzer Abriss der Geschichte dieses „neuen“ Mediums. Unter Zugrundelegung des Rahmenmodells zur Beschreibung von Hypertext von Gall & Hannafin (1994) werden danach ausgewählte, für die vorliegende Untersuchung relevante Makro- und Mikrostrukuren von Hypertext beschrieben. Ein weiteres Unterkapitel ist der Navigation durch Hypertext ge- widmet. Anschließend werden Argumente für und gegen den Einsatz von Hy- pertext als Lernmedium referiert und Personenmerkmale, die beim Wissens- erwerb mit Hypertext, empirischen Ergebnissen zufolge, insofern eine Rolle spielen, als sie Navigation und/oder Lernprozesse beeinflussen können, be- handelt. Das Kapitel schließt mit zusammenfassenden Überlegungen über die Bedeutung der Kontrollüberzeugung im Rahmen des Wissenserwerbs mit Hy- pertext. 2.1 Begriffsbestimmungen Fragt man den Begriff „Hypertext“ in einem der Online-Lexika ab, so erhält man in etwa genauso viele Erklärungen, wie man Lexika konsultiert hat. Die Definitionen reichen z. B. von nicht-linearer Organisationsform von heteroge- nen Objekten (Wikipedia 21 ), über Methode, Informationen zu präsentieren (En- carta 3 2) bis zu speziellem Textformat (Online-Lexikon der Datenkommunika- 2 Wikipedia ist eine mehrsprachige, frei zugängliche Online-Enzyklopädie, die von der amerikanischen Wikimedia Foundation 2001 ins Leben gerufen wurde und deren deutsche Version derzeit etwa 126.000 Stichwörter umfasst. Da jeder Internetznutzer Einträge ma- chen bzw. bestehende verändern kann, ist die Qualität der Beiträge nicht immer zweifels- frei. Abrufbar unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite (2004-08-03) 3 Microsoft Encarta ist ein Multimedia-Lexikon mit über 50.000 Einträgen. Die kostenpflichtige Online-Version ist abrufbar unter: dhttp://de.encarta.msn.com/ (2004-08- 03)

2. Das Medium Hypertext - poekl-net.at · vorliegende Untersuchung relevante Makro- und Mikrostrukuren von Hypertext beschrieben. Ein weiteres Unterkapitel ist der Navigation durch

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

2. Das Medium Hypertext

62

2. Das Medium Hypertext

In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff Hypertext erläutert und von ver-

wandten Begriffen abgegrenzt. Einer Gegenüberstellung von Hypertext und

traditionellem Lineartext folgt ein kurzer Abriss der Geschichte dieses „neuen“

Mediums. Unter Zugrundelegung des Rahmenmodells zur Beschreibung von

Hypertext von Gall & Hannafin (1994) werden danach ausgewählte, für die

vorliegende Untersuchung relevante Makro- und Mikrostrukuren von Hypertext

beschrieben. Ein weiteres Unterkapitel ist der Navigation durch Hypertext ge-

widmet. Anschließend werden Argumente für und gegen den Einsatz von Hy-

pertext als Lernmedium referiert und Personenmerkmale, die beim Wissens-

erwerb mit Hypertext, empirischen Ergebnissen zufolge, insofern eine Rolle

spielen, als sie Navigation und/oder Lernprozesse beeinflussen können, be-

handelt. Das Kapitel schließt mit zusammenfassenden Überlegungen über die

Bedeutung der Kontrollüberzeugung im Rahmen des Wissenserwerbs mit Hy-

pertext.

2.1 Begriffsbestimmungen

Fragt man den Begriff „Hypertext“ in einem der Online-Lexika ab, so erhält

man in etwa genauso viele Erklärungen, wie man Lexika konsultiert hat. Die

Definitionen reichen z. B. von nicht-linearer Organisationsform von heteroge-

nen Objekten (Wikipedia21), über Methode, Informationen zu präsentieren (En-

carta32) bis zu speziellem Textformat (Online-Lexikon der Datenkommunika-

2 Wikipedia ist eine mehrsprachige, frei zugängliche Online-Enzyklopädie, die von der

amerikanischen Wikimedia Foundation 2001 ins Leben gerufen wurde und deren deutsche

Version derzeit etwa 126.000 Stichwörter umfasst. Da jeder Internetznutzer Einträge ma-

chen bzw. bestehende verändern kann, ist die Qualität der Beiträge nicht immer zweifels-

frei. Abrufbar unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite (2004-08-03) 3 Microsoft Encarta ist ein Multimedia-Lexikon mit über 50.000 Einträgen. Die

kostenpflichtige Online-Version ist abrufbar unter: dhttp://de.encarta.msn.com/ (2004-08-

03)

2. Das Medium Hypertext

63

tion43). Die Meinungen darüber, was Hypertext ist, gehen offensichtlich ausein-

ander.

Auch in der einschlägigen Fachliteratur gibt es bis dato keine einheitliche, all-

gemein gültige Definition für Hypertext. Während die einen Definitionsansätze

systemzentriert die charakteristische Hypertext-Struktur hervorheben und Hy-

pertext als „Verknüpfung von Textdokumenten durch hierarchische Relationen

und/oder Verweisstrukturen“ (Schnupp, 1992, S. 15; zitiert nach Blumstengel,

1998, S. 72) bezeichnen, orientieren sich andere eher an der Nutzung von

Hypertext und nehmen damit eine userzentrierte Position ein, wie z. B.

Nielsen, der Hypertext folgendermaßen definiert: „Hypertext is nonsequential;

There is no single order that determines the sequence in which the text is to

be read.“ (Nielsen, 1990, S. 1)

Eine didaktisch gelungen erscheinende Darstellung dessen, was Hypertext ist,

bietet Gerdes (1997) in grafischer Form (S. 7):

Abbildung 4. Veranschaulichung des Hypertext-Konzepts

(Gerdes, 1997, S. 7)

4 Dieses Online-Lexikon wurde von Patrick Seidler, einem Studenten an der Universität

Kassel, zusammengestellt und ist abrufbar unter:

http://www.uni-kassel.de/~seidler/lexikon.html (2004-08-03).

2. Das Medium Hypertext

64

Aus der Abbildung wird ein Merkmal von Hypertext, über das in den unter-

schiedlichen Definitionsvorschlägen Konsens herrscht, deutlich: Hypertext be-

steht aus Knoten (= atomare Informationseinheiten) und Links (= Verknüpfun-

gen).

Enthalten die Knoten nicht nur Texte oder einfache Schwarz-Weiß-Grafiken,

sondern auch farbige Bilder, Videos, Animationen, gesprochene Sprache,

Töne, Geräusche, Musik, etc. dann spricht man häufig von Hypermedia. Man-

che Autoren, wie z. B. Unz (2000) bezeichnen Hypermedia als multimedialen

Hypertext (S. 24). Die beiden Begriffe Hypertext und Hypermedia werden

vielfach aber auch synonym verwendet (Altun, 2000).

Hypertexte bzw. Hypermedia sind nur computerbasiert sinnvoll. Der Zugriff auf

die einzelnen Informationseinheiten erfolgt über eine direkt manipulierbare

grafische Benutzeroberfläche. Der User bewegt sich dabei entlang der Ver-

bindungen, z. B. durch Anklicken entsprechender Links mit der Maus, in der

Regel nicht-linear durch das Informationswerk, die sogenannte Hypertextba-

sis, die auch als Hyperdokument bezeichnet wird. Ein wesentliches Merkmal

von Hypertext ist damit die Aktivität, die vom User bei der Er- bzw. Bearbei-

tung gefordert wird: „Only when users interactively take control of a set of dy-

namic links among units of information does a system get to be a hypertext“

(Nielsen, 1990, S. 10).

Der Begriff Hypertext-System bezeichnet „alle Software-Hilfsmittel, mit denen

Hypertexte erstellt, verwaltet und genutzt“ werden können (Gerdes, 1997, S.

138). Ein solches Software-Hilfsmittel zur Nutzung von Hypertext ist z. B. der

Internet Explorer, eines zu Erstellung und Verwaltung von Hypertext ist z. B.

Frontpage. Vielfach stellen Hypertext-Autoren ihre Texte aber ohne derartige

Hilfsmittel her und schreiben ihre Quelltexte direkt in HTML (= Hypertext

Markup Language).

Als Abschluss dieser ersten Charakterisierung von Hypertext sei die von Unz

in Anlehnung an Schulmeister (1996) und Nielsen (1990) formulierte Definition

des Begriffs Hypertext wiedergegeben:

2. Das Medium Hypertext

65

„Hypertext bezeichnet die computergestützte Integration von Daten in einem

Netz aus Informationsknoten und Links. Hypertext wird als generischer Name

für nicht-lineare Informationssysteme benutzt, auch wenn das System nicht-

textgebundene Informationen enthält. Damit akzentuiert der Begriff Hypertext

die strukturellen Aspekte, das Konstruktionsprinzip“ (Unz, 2000, S. 24).

2.2 Text und Hypertext

Was Hypertext ausmacht, kann vermutlich am besten dadurch beschrieben

werden, dass man ihn mit herkömmlichem Lineartext vergleicht.

Als Hauptunterschied der beiden Textsorten wird in der Literatur sehr häufig

die Linearität bzw. Nicht-Linearität herausgestrichen. Traditionelle Texte, wie

z. B. Bücher verfügen demnach über einen linearen Aufbau, d. h. es gibt eine

bestimmte, festgelegte Reihenfolge, in der die einzelnen Textteile zu lesen

sind. Das lineare Abfolgemuster linguistischer Einheiten, die in einem Kon-

junktionsverhältnis zueinander stehen, wird als Syntagma bezeichnet. Hyper-

text dagegen ist nicht-sequentiell aufgebaut. Aufgrund seiner netzwerkartigen

Globalstruktur aus Informationsblöcken und Verknüpfungen gibt er keine feste

Leseabfolge der einzelnen Teile vor, sondern erlaubt es dem Leser, seinen

individuellen Weg durch den Textraum zu wählen. Dieses Abfolgemuster be-

zeichnet Freisler (1994) als das „Hypertagma“ (S. 38). Da dieses Abfolge-

muster aber letztlich immer linear sein wird, verweist Freisler die oft beschwo-

rene „nichtlineare Leseerfahrung“, die Hypertext ermöglichen soll, in das Reich

des Mythos (Freisler, 1994, S. 38).

Und auch die Struktur eines Hypertextes muss nicht notwendigerweise immer

nicht-linear sein: In einem sogenannten linearen Hypertext sind die einzelnen

Knoten so miteinander verknüpft, dass der Leser von einem zum nächsten

weiter schreitet. Andererseits können auch traditionelle Lineartexte nicht-line-

are Strukturen wie z. B. Fußnoten und/oder Querverweise enthalten. Auch

Lexika, Wörterbücher und andere Referenzwerke, Conklin bezeichnet diese

Textsorten als „manuelle Hypertexte“ (= „manual hypertexts“) (Conklin, 1987,

S. 20), geben dem Leser keine festgelegte Reihenfolge vor. Bei entsprechen-

2. Das Medium Hypertext

66

dem Vorwissen werden selbst Lehrbücher nicht Seite für Seite von Anfang bis

Ende durchgelesen, sondern der Lerner trifft eine seinen Bedürfnissen und

seinem aktuellen Kenntnisstand entsprechende Auswahl einzelner Textteile

und überspringt andere. Gerade bei papierbasierten Fachtexten ist nicht-linea-

res Lesen häufig eine sehr geeignete Methode, um aus einer Fülle von Infor-

mationen das Benötigte herauszufiltern. In vielen Zeitschriften ist ein gewisser

Trend zur Entlinearisierung zu beobachten: Anstelle eines längeren Fließtex-

tes findet sich hier oft ein kürzerer „Kerntext“, der zur Vertiefung durch sepa-

rate Tabellen, weiterführende Kommentare, Beispiele, etc. ergänzt wird

(Blumstengel, 1998, S. 72).

Die Grenzen zwischen Text und Hypertext sind also insofern fließend, als Text

in bestimmtem Ausmaß nicht-lineare und Hypertext lineare Strukturen enthal-

ten kann (Kuhlen, 1991, S. 27). Gemeinhin wird aber doch traditionellem Line-

artext eine eher monohierarchische Globalstruktur zugeschrieben, bei der zwi-

schen den einzelnen Textteilen eher unidirektionale 1:1 Beziehungen beste-

hen, während Hypertext eine eher netzwerkartige Globalstruktur aufweist, in

der eher bidirektionale m:n Beziehungen zwischen den Knoten bestehen, was

bedeutet, dass im Prinzip in Hypertext beliebig viele Pfade von einem Knoten

ausgehen und beliebig viele Pfade zu einem Knoten hinführen können (Kuh-

len, 1991; Freisler, 1994).

In traditionellem Text wird das Thema meist dahingehend entfaltet, dass von

einer zentralen Struktur hierarchisch untergeordnete Textteile abhängen. Ab-

schweifungen werden vermieden, viele Fußnoten sind die Ausnahme, weil sie

den Lesefluss bzw. das Verständnis stören. In Hypertext erfolgt die Themen-

entfaltung meist in verschiedenen, voneinander unabhängigen Strukturen. Die

einzelnen Textteile hängen prinzipiell nicht voneinander ab, Abschweifungen

und Fußnoten sind die Regel. Nicht von ungefähr bezeichnet Nielson Hyper-

text daher als „generalized footnote“ (Nielsen, 1995, S. 2).

Während in traditionellem Text die Gesamtkohärenz ein sehr wesentliches

Merkmal darstellt, existieren in Hypertext zwar verschiedene kohärente Hy-

2. Das Medium Hypertext

67

pertagmen, die Gesamtkohärenz jedoch nur in eingeschränktem Ausmaß als

eine Art „roter Faden“, der die einzelnen Textelemente zusammenhält.

Traditionelle Papiertexte weisen durch die Verwendung von Schrift und Bild

zur Wissensrepräsentation in der Regel einen geringeren Synästhetisierungs-

grad auf als Hypertexte, in denen zusätzlich zu diesen gängigen Symbolsys-

temen auch Animationen, Filme, Töne, Geräusche, gesprochene Sprache und

dergleichen Verwendung finden.

Aus medienhistorischer Sicht charakterisiert Freisler (1994) traditionellen Text

als technisch und pädagogisch voll ausgereiftes Kommunikationsmedium,

dessen soziale Akzeptanz in allen gesellschaftlichen Bereichen sehr groß ist.

Hypertext beschreibt er als ein „Medium im Inkunabelstatus“54, das noch auf

einen speziellen Bereich der Informationsübermittlung beschränkt ist, dem

aber steigende Akzeptanz in breiten Bevölkerungskreisen entgegengebracht

wird. (Freisler, 1994, S. 39).

2.3 Geschichte von Hypertext

Betrachtet man die Nichtlinearität als wichtigstes Merkmal von Hypertext, dann

ist Hypertext fast so alt wie die abendländische Schriftentwicklung, denn die

Entlinearisierung der „scriptura continua“ beginnt im 8. Jahrhundert in den

Skriptorien Englands und Irlands mit der Einführung der Wortabstände (Freis-

ler, 1994).

Erste Versuche, nichtlineare Textzusammenhänge zu realisieren, stellen die

sogenannten „Leseräder“ des 17. Jahrhunderts dar. Das erste Exemplar

wurde 1588 von Agostino Ramelli (1531 – 1608) entworfen: Es sah aus wie

ein Wasserrad, dessen Schaufeln aber an Stelle von Wasser Bücher trans-

5 Inkunabel von latein. „incunabula“ = Windeln, Wiege. Als Inkunabeln oder Wiegen- und

Frühdrucke bezeichnet man in der Buchwissenschaft Druckwerke aus der Frühzeit des

Buchdrucks bis 1500, die oft noch einen experimentellen drucktechnischen und

typographischen Zustand aufweisen.

2. Das Medium Hypertext

68

portierten, zwischen denen man beim Lesen durch Drehen des Rades hin-

und her springen konnte. Diese Technologie soll, Freisler (1994) zufolge, Bush

als Vorbild für sein MEMEX gedient haben.

Vannevar Bush (1890 – 1974), wissenschaftlicher Berater von Präsident

Roosevelt im Zweiten Weltkrieg, gilt allgemein als Vater der Hypertextidee. Er

beschreibt 1945 das von ihm erdachte, jedoch nie realisierte Informationssys-

tem MEMEX (= Memory Extender) als „a device in which an individual stores

all his books, records, and communications, and which is mechanized so that

it may be consulted with exceeding speed and flexibility” (Bush665, 1945, S.

102). Jeder Wissenschaftler sollte seine Materialien auf MEMEX speichern,

um der Allgemeinheit Zugriff darauf zu ermöglichen. Bush schlug aber nicht

nur eine neue Methode zur Speicherung und zum Abruf von Informationen

vor, sondern nannte auch drei vollkommen neue Hilfsmittel zur Interaktion mit

Texten: assoziative Indizes (oder Links), Pfade, die diese Links miteinander

verbinden, und Netzwerke, die aus solchen Pfaden bestehen. Damit hat Bush

die drei Hauptelemente eines flexiblen Textes, der für die individuellen Be-

dürfnisse jedes individuellen Lesers offen ist, beschrieben (Barnes, 1994).

In abgewandelter Form wurden die Überlegungen von Bush 1962 von Douglas

C. Engelbart, dem Erfinder der Computer-Maus, wieder aufgegriffen. Im Rah-

men des Projekts „Augment“, in dem er und seine Mitarbeiter am Stanford-

Research-Institute (SRI) sich das Ziel gesetzt hatten, Computertools zur Er-

weiterung der menschlichen Kapazität und Erhöhung der Produktivität zu ent-

wickeln, wurde das oN-Line System NLS geschaffen, eine Art „Journal“, in das

die Augment Mitarbeiter alle Arbeitspapiere, Berichte und Memos speichern

und durch Querverweise mit anderen Arbeiten verbinden konnten (Beißwen-

ger & Storrer, 2002).

Der Terminus Hypertext für nicht-lineare Texte, die auf Computerbildschirm

gelesen und geschrieben werden, wurde von Ted Nelson an der Brown Uni-

6 Ein Nachdruck dieses Artikels ist als PDF-File abrufbar unter: http://www.linse.uni-

essen.de/pdf_extern/publikationen/bush.pdf (2004-08-10).

2. Das Medium Hypertext

69

versity in Providence geprägt (Blumstengel, 1998). Nelsons „Xanadu“ gilt

heute als erster „richtiger“ Hypertext (Unz, 2000). Xanadu war konzipiert als

universelle Hypertextbasis, in die die gesamte Weltliteratur gespeichert und

durch Links miteinander verbunden werden sollte. Ein einmal in dieses Hyper-

archiv eingespeicherte Dokument sollte niemals wieder gelöscht werden, wo-

durch sämtliche Informationsquellen in multiplen Versionen allen Menschen

zugänglich sein sollten. In dieser von Nelson geplanten Form wurde das Xa-

nadu-Docuverse zwar nicht realisiert, ein Teil davon besteht aber seit der Ein-

stellung des Projekts 1992 bis heute. Genauere Informationen zu Xanadu ste-

hen online unter http://xanadu.com/ (2004-08-10) zur Verfügung.

Das erste funktionierende Hypertext-System der Geschichte war das 1967 von

Andries van Dam, Ted Nelson und anderen ebenfalls an der Brown University

entwickelte Hypertext Editing System. Ursprünglich für die Erstellung von

Lehrmaterialien für den Literaturkundeunterricht gedacht, wurde es später an

das Houston Manned Spacecraft Center verkauft, wo es zur Dokumentation

der Apollo Missionen eingesetzt wurde (Blumstengel, 1998).

Den Durchbruch für die Hypertext-Technologie bedeutete 1987 das System

HyperCard von Bill Atkinson, das beim Kauf eines Apple-Computers von Mac-

intosh gratis mitgeliefert wurde und mit dem jedermann dank der sehr einfa-

chen Programmiersprache HyperTalk eigene Hypertexte erstellen konnte.

Schulmeister ist der Meinung, dass keine andere Software zuvor „derart be-

deutsamen Einfluss auf den Einsatz von Computern“ hatte. (Schulmeister,

1996, S. 211).

Das heute weltweit bekannteste und größte Hypertext-/Hypermedia System ist

das WWW (= World Wide Web).

In dieser kleinen Auswahl soll das von Hermann Maurer und seinen Kollegen

in den frühen 90er Jahren an der Universität Graz entwickelte Hypertext-

/Hypermedia System Hyper-G, das mittlerweile unter dem Namen Hyperwave

kommerziell vertrieben wird, nicht unerwähnt bleiben. Es wird in mancher Hin-

sicht als dem WWW überlegen angesehen, weil die Informationen über Start

und Ziel aller Links nicht in die Knoten integriert sind, sondern in spezialisier-

2. Das Medium Hypertext

70

ten Strukturen verwaltet werden, was die auf Webseiten allgegenwärtigen

„broken links“ (= Verknüpfungen, deren Zielknoten nicht mehr existiert) verhin-

dert, und weil es außerdem, im Unterschied zum WWW, die einfache Ent-

wicklung und Verwaltung mehrsprachiger Dokumente erlaubt (Blumstengel,

1998). Über die zahlreichen Einsatzmöglichkeiten von Hyperwave informiert

die Webseite http://www.hyperwave.at/d/ (2004-08-10).

Die aktuelle Situation von Hypertext-/Hypermedia Systemen charakterisiert

Schulmeister (1996) folgendermaßen: „Immer noch werden neue Hypertext-

Systeme entwickelt, teils für experimentelle Zwecke, teils mit speziellen Funk-

tionserweiterungen für kooperatives Arbeiten und Schreiben, teils aber auch

mit exotischen Abwandlungen der Standard-Funktionen“ (Schulmeister, 1996,

S. 212).

2.4 Anwendungsbereiche von Hypertext

Hypertext war ursprünglich konzipiert, um die Informationssuche in umfangrei-

chen Datenbanken zu erleichtern (vgl. Bush, 1945). Aufgrund technischer

Weiterentwicklung und des massiven Preisverfalls für Computer wurden die

Anwendungsbereiche aber immer vielfältiger, sodass Hypertext heute in na-

hezu allen Bereichen des Lebens zu finden ist (vgl. Inhalte des WWW).

Um zu entscheiden, ob sich eine Anwendung für den Einsatz von Hypertext

eignet, empfiehlt Shneiderman (1989) die Beachtung der „three golden rules

of hypertext“ (Nielson, 1995, S. 43):

• Die in Frage kommende Information hat einen großen Umfang und besteht

aus einzelnen Teilen.

• Diese einzelnen Teile stehen in Beziehung zueinander.

• Der Nutzer braucht zu einem bestimmten Zeitpunkt nur ein kleines Segment

der Gesamtinformation.

WISSENSCHAFT

Hypertexte eignen sich nicht nur als reine Informationssysteme, um allge-

meine Informationen z. B. über eine Universität und ihr Studienangebot zur

2. Das Medium Hypertext

71

Verfügung zu stellen, sondern auch zur wissenschaftlichen Dokumentation

von Forschungsergebnissen und deren Präsentation im Internet. Ein Beispiel

dafür stellt die Dissertation von Blumstengel (1998)76dar, die in ihrer

ursprünglichen Form als Hypertext geschrieben und auch online veröffentlicht

wurde.

AUS- UND WEITERBILDUNG

Vor allem die Aus- und Weiterbildung ist ein wichtiges Einsatzgebiet für Hy-

pertext. Obwohl empirische Ergebnisse keine eindeutigen Aussagen zulassen,

wird gemeinhin angenommen, dass ein Einsatz von Hypertext im Unterricht

die Motivation der Lerner fördert, weil er entdeckendes und selbst gesteuertes

Lernen erlaubt. Im Schulunterricht werden meist Hypertexte, die um eine

instruktionale Komponente (z. B. einen vorgegebenen Pfad, integrierte Tests

und Verständnisfragen mit entsprechendem Feedback) erweitert sind, in Form

von Lern-CDs, die es mittlerweile für fast alle Unterrichtsfächer gibt,

eingesetzt. Hypertexte können natürlich auch zum Selbststudium genutzt

werden (vgl. Kuhlen, 1991). Die Grenzen zwischen Bildung und Unterhaltung

sind bei den entsprechenden Anwendungen oft fließend, was das Schlagwort

„Edutainment“ verdeutlicht (vgl. Blumstengel, 1998, S. 92).

WIRTSCHAFT

Viele Unternehmen bedienen sich der Hypertext-Technologie, um sich selbst

und ihre Produkte weltweit im Internet zu präsentieren. Hypertext wird häufig

eingesetzt, um hohe Druckkosten für optisch ansprechende Kataloge zu spa-

ren und um Interessenten durch entsprechende Querverweise auf andere

Produktdarstellungen, die sie interessieren könnten, zum Kauf zu animieren.

Hypertext kann auch als Werkzeug für Büroorganisation eingesetzt werden,

um täglich im Betrieb anfallende Dokumente zu vernetzen. Mit Hilfe bestimm-

ten Anwendungen, die unter anderem auch Hypertext-Strukturen verwenden,

können Teams über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg kollaborativ und

7

7 http://dsor.upb.de/de/forschung/publikationen/blumstengel-diss/main_index_titel.html

(2004-08-10)

2. Das Medium Hypertext

72

kooperativ arbeiten, und auch in der Mitarbeiterschulung wird Hypertext

vermehrt eingesetzt (vgl. Blumstengel, 1998).

KULTUR

Für klassische lineare Literaturformen erscheint Hypertext wenig geeignet: „As

long as you are just reading a novel with a single stream of action, you are

much better of reading a printed book.” (Nielson, 1995, S. 120). Für Lyrik ist

die Hypertextform dagegen sehr wohl vorstellbar.

Als Ergänzung zu traditionellen Literaturformen hat sich in den letzten Jahren

eine weltweite Cyberliteratur entwickelt, die Autoren unabhängig von Verle-

gern macht und vielfach auch den Leser zum aktiven Mitgestalter werden

lässt, die aber auch etwas sehr Flüchtiges und Ungreifbares sein kann, da

man nie weiß, ob die Texte am nächsten Tag auch noch online sein werden.

Ein Beispiel für Cyberliteratur, die Hypertext-Technologie verwendet, ist „Blue

Suburban Skies“, das derzeit am Institut für Medienwissenschaft der Univer-

sität Trier entsteht. Unter http://www.uni-

trier.de/uni/fb2/medien/leben/cyberfiction/index.html (2004-08-10) kann

jedermann, nach Voranmeldung per Email an die Verantwortlichen, an der

Gestaltung dieses Werks mitwirken.

In Museen und Ausstellungen findet man immer häufiger sogenannte POIs (=

point of information), Computerterminals, an denen die Besucher mit Hilfe von

Hypertext-Technologie zusätzliche Hintergrundinformationen zu einzelnen

Ausstellungsstücken abrufen können.

2. Das Medium Hypertext

73

UNTERHALTUNG

In diesem Bereich wird die Vermischung von Information und Unterhaltung

(= Infotainment) besonders deutlich, wenn man die zahlreichen Hypertext-

Angebote im Internet zu Themen wie Reisen, Natur, Autos, Kochen, etc.

betrachtet. Die hypertextuelle Aufbereitung ermöglicht dem User einerseits

den gezielten Zugriff auf konkrete, ihn interessierende Informationen,

andererseits ein unterhaltsames Durchforsten des Informationsangebots zu

einem bestimmten „Modethema“. Auch viele Spiele auf CD machen sich

Hypertext-Technologie zu Nutze (vgl. Blumstengel, 1998).

2.5 Aufbau von Hypertext

In Anlehnung an das Architekturmodell von Cambell und Goodman beschreibt

Nielson (1995, S. 131ff.) folgende drei Schichten, aus denen Hypertext be-

steht:

• Datenbankschicht („database level“): Auf dieser Ebene, die die Basis eines

Hypertextes darstellt, sind die verschiedenen Datentypen gespeichert.

• abstrakte Hypertext-Maschine („hypertext abstract machine“): Hier erfolgt

die Definition von Knoten und Links bzw. die Festlegung ihrer Formate.

• Benutzerschnittstelle („presentation level“): Sie stellt den „Ort der Kommuni-

kation zwischen User und System“ (Marchionini & Shneiderman, 1988, S.

73) dar, d. h. hier interagiert der Hypertext-Leser mit dem System: Auf die-

ser Ebene wird festgelegt, welche Kommandos und Manipulationsmöglich-

keiten dem User zur Verfügung stehen.

2.5.1 Hypertext-Basis

Die Wissensbasis eines Hypertexts ist mehr als eine bloße Sammlung von

Fakten, denn sie bietet meist nicht nur eine Fülle von Informationen in unter-

schiedlichen Formen (z. B. Texte, Grafiken, Bilder, etc.), sondern auch ent-

sprechende Strukturen, d. h. die einzelnen Informationen werden in einen

größeren Kontext eingebettet.

2. Das Medium Hypertext

74

Nach Gall und Hannafin (1994) kann diese Datenbasis hinsichtlich ihrer Breite,

ihrer Tiefe, ihrer Homogenität und des Grades der Verbundenheit der in ihr

enthaltenen Informationen beschrieben werden:

• Breite: Ähnlich wie eine Enzyklopädie enthält eine Datenbasis mit hoher

Breite mannigfaltige Informationen. Eine Datenbasis mit niedriger Breite

dagegen fokussiert auf eine beschränkte Anzahl von Themen.

• Tiefe: Hohe Tiefe liegt vor, wenn sich die Datenbasis auf wenige Themen

beschränkt, diese aber sehr ins Detail gehend behandelt. Bei geringer Tiefe

werden die einzelnen Themenbereiche nur wenig elaboriert.

Gewählte Breite und Tiefe einer Datenbasis sollten sich immer an der Ziel-

gruppe des Hypertextes und deren Bedürfnissen orientieren.

• Homogenität: Die in einer homogenen Datenbasis gespeicherten Materia-

lien weisen einen hohen Grad an Ähnlichkeit auf, eine inhomogene Daten-

basis hingegen hat eher den Charakter eines Notizblocks, d. h. sie enthält

sehr unterschiedliche Datenquellen (z. B. Texte, Abbildungen, Karten, etc.)

• Verbundenheit: In einem lose verbundenen System muss der User die

einzelnen Informationen selbst verbinden. Ein stark verbundenes System

hält viele Assoziationen zwischen den unterschiedlichen Informationsteilen

bereit, denen der User auf seinem Weg durch den Hypertext folgen kann.

2.5.2 Knoten

Was in einem traditionellen Text Kapitel, Subkapitel und/oder einzelne Text-

abschnitte, das sind in Hypertext die sogenannten Knoten („nodes“). Sie wer-

den definiert als „die grundlegenden, atomaren Einheiten der Informations-

speicherung“ (Tergan, 2002, S. 110) bzw. „informationelle Einheiten“ (Kuhlen,

1991, S. 80). Ihre Funktion ist es, den User mit „phenomena“ zu beliefern

(Perkins, 1991, zitiert nach Gall & Hannafin, 1994, S. 216).

Gall und Hannafin (1994) unterscheiden zwischen Präsentationsknoten und

Interaktionsknoten. Erstere enthalten, wie die Bezeichnung bereits vermuten

lässt, eine Präsentation der Information. Diese kann statisch (z. B. Text, Bild,

Grafik) oder dynamisch (z. B. Animation, Musik, Tonsequenz) sein. Interakti-

2. Das Medium Hypertext

75

onsknoten enthalten darüber hinaus auch eine Anweisung, wie die Information

verwendet wird. Der User hat hier die Möglichkeit, den Inhalt zu manipulieren

(z. B. Objekte verschieben, Fragen beantworten, Grafiken zeichnen).

Die Größe eines Knotens wird als Granularität (= Korngröße) bezeichnet und

kann von einigen, wenigen Worten bis zu komplexen Dokumenten reichen.

Die Wahl einer geeigneten Knotengröße ist abhängig von Art, Zweck und Ge-

samtumfang der präsentierten Informationen. Im Allgemeinen wird empfohlen,

eine gewisse Größe (z. B. 100 Zeilen bei Shneiderman, Kreitzberg & Berk,

1991, zitiert nach Gerdes, 1999, S. 198) nicht zu überschreiten, da bei sehr

großen Knoten spezifische Eigenschaften und Vorteile von Hypertext verloren

gehen: Der User hat nicht mehr das Gefühl, die Reihenfolge der Informations-

einheiten selbst steuern zu können (Unz, 2000). Sehr kleine Knoten wiederum

bewirken eine starke Atomisierung und Dekontextualisierung, wodurch das

Verstehen des Textzusammenhangs behindert bzw. eventuell sogar unmög-

lich gemacht werden kann. Entsprechend den Beschränkungen des menschli-

chen Kurzzeitgedächtnisses wird eine Anzahl von ca. sieben Elementen

(= Chunks) pro Knoten als wünschenswert erachtet (Kuhlen, 1991), wobei es

allerdings von Zielgruppe und Anwendungsbereich abhängt, was ein Chunk

ist: Ein- und derselbe Inhalt kann bei niedrigem Vorwissen aus vielen Chunks

bestehen, bei hohem Vorwissen dagegen nur aus einem (Gerdes, 1999, S.

198).

Aus dem Umstand, dass in einem Hypertext nicht auf die in traditionellen

Texten üblichen kohäsiven Gestaltungsmittel über die Grenzen von Einheiten

hinweg (z. B. Formulierungen wie „wie oben gezeigt…“, „wie aus dem bereits

Besprochenen hervorgeht…“ und dergleichen) zurückgegriffen werden kann,

ergibt sich die Forderung nach kohäsiver Geschlossenheit der einzelnen

Knoten. Das bedeutet, dass ein Knoten so gestaltet werden muss, dass er in

kohäsiver Hinsicht autonom ist und auch entsprechend autonom rezipiert wer-

den kann. Kohäsive Geschlossenheit eines Knotens gewährleistet, dass von

anderen Knoten auf ihn referenziert werden kann, ohne dass das Verständnis

des Gesamt-Hypertextes darunter leidet (Kuhlen, 1991). Im Sinne der kohäsi-

ven Geschlossenheit erscheint es daher sinnvoll, bei der Erstellung eines Hy-

2. Das Medium Hypertext

76

pertextes keinen traditionellen (linearen) Text als Grundlage zu verwenden.

Die notwendige Entlinearisierung eines sequentiellen Basistextes führt häufig

dazu, dass die einzelnen Knoten nicht über ausreichende kohäsive Geschlos-

senheit verfügen. Aus diesem Grund wurde der in dieser Untersuchung ver-

wendete Hypertext als Hypertext geschrieben und nicht einfach durch Adaptie-

rung eines bereits vorhandenen Lineartextes erstellt.

Auf der Benutzeroberfläche erfolgt die Darstellung des Inhalts eines Knotens

in der Regel in einem Fenster auf dem Bildschirm. Da dieses Fenster maximal

so groß sein kann wie der Bildschirm, lässt sich ein umfangreicherer Text nicht

simultan anzeigen. Diesem „Problem“ kann grundsätzlich auf zwei Arten be-

gegnet werden. Die eine Möglichkeit ist es, den Text auf mehrere Knoten zu

verteilen, die linear miteinander verknüpft werden und auf die der User durch

bildschirmweises Blättern (= paging) zugreifen kann. Da bei dieser Methode

eine weitere Fragmentierung des Textes notwendig ist, kann das Verständnis

des Zusammenhangs darunter leiden. Eine zweite Möglichkeit ist es, den Text

in einen einzigen Knoten zu stellen. Der User muss nun scrollen (= zeilenwei-

ses Auf- und Abschieben des Textes mittels des Rollbalkens am Bildschirm-

rand), wodurch das Auffinden einer bestimmten Information im Text erschwert

sein kann. Manche Systeme (z. B. Intermedia) erlauben die simultane Anzeige

beliebig vieler Knoten in überlappenden Fenstern auf dem Bildschirm (Gerdes,

1999, S.198). Diese Möglichkeit erscheint jedoch bedenklich, weil sie zu be-

trächtlicher Verwirrung des Lesers führen kann.

2.5.3 Links

Links stellen vermutlich das wichtigste Element von Hypertext dar, denn „Ver-

knüpfungen erwecken Hypertext erst zum Leben“ (Kuhlen, 1991, S. 102). Sie

setzen die einzelnen Knoten zueinander in Beziehung und erlauben dem User

die Navigation durch das Informationsnetz.

Jeder Link verfügt über einen Ausgangspunkt, den Quellanker, der immer ge-

nau bestimmt ist, und einen Zielpunkt, den Zielanker, der entweder ein ande-

rer Knoten, eine bestimmte Stelle im selben Knoten oder ein Objekt außerhalb

des Hypertexts (z. B. eine Webseite im Internet) sein kann.

2. Das Medium Hypertext

77

In der Literatur gibt es eine Vielzahl von Taxonomien zur Typisierung von

Links, Triggs (1983) allein unterscheidet z. B. 75 verschiedene Arten (Schul-

meister, 1996, S. 234; dort auch eine Übersicht über andere Taxonomien).

Grundsätzlich gibt es nach Kuhlen (1991) zwei Möglichkeiten, Knoten zu ver-

binden: mit referentiellen Links, die auf assoziativen Beziehungen beruhen,

ohne dass diese Beziehung spezifiziert wird, und mit typisierten Links, die ex-

plizit semantische oder pragmatische Beziehungen zwischen den Knoten wie-

dergeben. Die meisten in Hypertext vorkommenden Links sind referentielle

Verknüpfungen, die die einzelnen Knoten miteinander verketten und damit

assoziatives Navigieren durch die Hypertext-Basis erlauben. Da ihre Bedeu-

tung durch den Hypertext-Autor nicht genau beschrieben wird, bezeichnet

man sie auch als „implizite Links“ (Blumstengel, 1998, S. 80).

Nach Platzierung und Darstellung können nach Kuhlen (1991), wie bereits an-

gedeutet, drei Arten der Verknüpfung unterschieden werden:

• Bei interhypertextuellen Verknüpfungen liegen Ausgangs- und Zielpunkt auf

verschiedenen Knoten.

• Intrahypertextuelle Links haben Quell- und Zielanker in ein- und demselben

Knoten. Diese Art der Verlinkung wird meistens dann gewählt, wenn der In-

halt eines Knotens größer ist als eine Bildschirmseite.

• Liegt der Ausgangpunkt des Links innerhalb der Hypertext-Basis, der Ziel-

punkt jedoch in einem externen Objekt, wie z. B. einer anderen Hypertext-

Basis, so spricht man von extrahypertextueller Verknüpfung.

Nach ihrer Gerichtetheit unterscheidet man zwischen unidirektionalen und bi-

direktionalen Verknüpfungen. Ein unidirektionaler Link kann nur in einer Rich-

tung, nämlich vom Quell- zum Zielanker, verfolgt werden, ein birektionaler Link

dagegen in beide Richtungen.

Gerdes (1997) unterscheidet Links außerdem hinsichtlich ihrer Globalität und

Lokalität. Bei globalen Ankern sind Ausgangs- und/oder Zielpunkt ein ganzer

Knoten, bei lokalen Ankern eine bestimmte Stelle innerhalb eines Knotens,

2. Das Medium Hypertext

78

meist ein speziell markiertes Wort. Daraus ergeben sich verschiedene Kombi-

nationsmöglichkeiten.

Bei Blumstengel (1998) findet sich darüber hinaus die Unterscheidung von

statischen und dynamischen Links. Statische Links werden vom Hypertext-

Autor vorgegeben, sind fest im System gespeichert und stellen derzeit die ty-

pische Linkform in Hypertext dar. Neuere Systeme können z. B. aufgrund von

bestimmten Benutzeraktivitäten zur Laufzeit Links generieren. Solche dynami-

schen Links entstehen, indem das System Informationen über Knoten, die be-

reits aufgerufen worden sind, verarbeitet und auswertet und dem Benutzer

Vorschläge unterbreitet, welche Knoten für ihn noch relevant sein könnten.

Wegen des erhöhten Rechenaufwands, der (noch) aufwändigen Implementie-

rung und des fehlenden semantischen Verständnisses des Systems finden

dynamische Links, wenn überhaupt dann meist nur als Ergänzung zu stati-

schen Links Verwendung.

Die Anzeige von Links auf der Benutzeroberfläche kann entweder in Form von

speziell gekennzeichneten Wörtern im Text selbst erfolgen (= embedded links)

oder in Form von ikonischen Schaltflächen (= Buttons oder Knöpfen) vom Text

getrennt. Eingebettete Links heben sich in der Regel durch Farbe und/oder

Unterstreichung vom Text ab bzw. lenken die Aufmerksamkeit des Users auf

sich, indem sie beim Überfahren mit der Maus ihre Farbe verändern (= Hover-

Effekt). Meist ändert auch ein einmal angeklickter Link seine Farbe, um dem

User bei einem neuerlichen Aufruf des betreffenden Knotens zu signalisieren,

dass er die entsprechende Seite schon betrachtet hat. Dadurch soll einer

möglichen Desorientierung des Users vorgebeugt werden. In manchen Hy-

pertext-Systemen gibt es „unsichtbare“ Linkanzeigen. d. h. das sogenannte

„hotword“ zeigt dem User erst beim Überfahren mit der Maus durch Verände-

rung des Cursors den Link an. Irler und Barbieri beschreiben diese Art der

Linkdarstellung als vorteilhaft, weil dabei der Lesefluss nicht durch Hervorhe-

bungen unnötig beeinflusst werde (Irler & Barbieri, 1990, zitiiert nach Gerdes,

1999, S. 202). Dem muss man jedoch entgegenhalten, dass eine derartige

Linkanzeige zu einem Übersehen von möglicherweise relevanten Informatio-

nen führen kann. Die Darstellung von Links in Form von Buttons, z. B. in einer

2. Das Medium Hypertext

79

Leiste am unteren Bildschirmrand, oder in einem eigenen Menu hat den Vor-

teil, dass dadurch unkontrolliertes, chaotisches Navigieren vermieden werden

kann, andererseits aber auch den Nachteil, dass dadurch die Bereitschaft des

Users, Links im Text selber zu folgen, reduziert werden könnte (Gerdes,

1999).

2.5.4 Hypertext – Strukturen

Die Struktur eines Hypertextes wird bestimmt durch die zwischen den Knoten

bestehenden Verknüpfungen. Welche Knoten dabei über welche Links nach

welchen Mustern miteinander verbunden werden, hängt von verschiedenen

Faktoren ab, wie z. B. dem darzustellenden Sachverhalt, der angestrebten

Komplexität des Hypertextes, der Form der Nutzung, der Zielgruppe und ihren

Bedürfnissen (Gerdes, 1999). Je nach Wahl der Struktur wird dem User mehr

oder weniger Kontrolle über die Auswahl seines Weges durch den Hypertext-

korpus gewährt.

In Abhängigkeit davon, ob die Verbindungen zwischen den Knoten nach

einem bestimmten Schema angeordnet sind oder nicht, unterscheidet man

strukturierte und unstrukturierte Hypertexte. Letztere basieren ausschließlich

auf referentiellen Verknüpfungen und stellen somit eine lose Sammlung von

Einzeltexten dar, die durch Querverweise miteinander verbunden sind (Gloor,

1990). Strukturierte Hypertexte hingegen gründen auf semantischen oder

pragmatischen Organisationsprinzipien.

Gerdes (1997) nimmt drei strukturelle Grundmuster an und unterscheidet da-

nach zwischen linearen, hierarchischen und vernetzten Hypertexten.

2. Das Medium Hypertext

80

• Linear strukturierte Hypertexte sind herkömmlichen Papiertexten am ähn-

lichsten, weil sich der Leser in ihnen wie in einem Buch von einer Seite zur

nächsten bewegt, wozu er Vorwärts- bzw. Rückwärts-Buttons benutzt. In

dieser einfachsten aller Hypertext-Topologien hat jeder Knoten genau einen

„Eltern-Knoten“ (= „parent“) und einen „Kind-Knoten“ (= „child“) (Parunak,

1989, S. 45). Ein linear aufgebauter Hypertext gestattet dem User nur we-

nig Freiheit: Die einzige Wahlmöglichkeit, die er hat, ist es, entweder auf die

nächste Seite weiter- oder auf die vorherige Seite zurück zu navigieren. Li-

neare Strukturen sind jedoch geeignet, wenn es darum geht, im Sinne einer

sogenannten geführten Unterweisung (= Guided Tour) in neue Sachver-

halte einzuführen oder vorstrukturierte Informationen zu vermitteln (Tergan,

2002).

• In hierarchisch strukturiertem Hypertext sind die Knoten in Form eines

Baums angeordnet. Am Startknoten, auch „Wurzelknoten“ (= „root“) oder

„Waise“ (= „orphan“) (Parunak, 1989, S. 46), dem einzigen Knoten im ge-

samten Hypertext, der keinem „Eltern-Knoten“ zugeordnet ist, steigt der

User in den Text ein. Eine hierarchische Struktur überlässt dem User mehr

Kontrolle: An diversen Entscheidungspunkten kann er durch entsprechende

Linkauswahl seine Lesereihenfolge selbst bestimmten. Da es in einem

streng hierarchisch aufgebauten Hypertext jedoch keine Querverbindungen

zwischen den Knoten auf einer Ebene gibt, wird die Freiheit in der Auswahl

der interessierenden Knoten wiederum beschränkt. In der Praxis wird der

streng hierarchische Aufbau eines Hypertexts dieses Typs jedoch oft da-

durch aufgelockert, dass gelegentlich an geeigneten Textstellen Querver-

bindungen zwischen zwei Knoten auf einer Ebene gesetzt werden. Mehr

Navigationsfreiheit bedeutet in einer hierarchischen Struktur auch die Ver-

wendung von „repeated nodes“ (Panero, 1995, zitiert nach Sturm, 2002, S.

30): Hierbei kann von mehreren übergeordneten Knoten auf einen be-

stimmten Knoten in einer tieferen Ebene direkt zugegriffen werden.

2. Das Medium Hypertext

81

• In einer vernetzten Hypertext-Struktur können von jedem Knoten aus Quer-

verweise auf beliebig viele andere Knoten gegeben werden. Damit über-

lässt diese Strukturform dem User ein hohes Maß an Kontrolle und das

höchste Ausmaß an Entscheidungsfreiheit bei der Knotenauswahl. Daraus

können aber auch zum Teil beträchtliche Orientierungsprobleme entstehen

(Gloor, 1990). Das kann vor allem dann passieren, wenn dem User nicht

ausreichend hypertextspezifische Navigationsmittel, wie z. B. grafische

Übersichten, zur Verfügung stehen. Netz-Strukturen sind geeignet, vielfäl-

tige semantischer Beziehungen zwischen Knoteninhalten zu präsentieren

(Tergan, 2002).

Eine weitere in der Literatur erwähnte Hypertext-Struktur stellt das sogenannte

Grid (= Gitter) dar, das auch als Matrixstruktur bezeichnet wird. Diese Struk-

turform bietet mindestens zwei orthogonale Sichtweisen an (Blumstengel,

1998, S. 78). Grids sind prinzipiell linear strukturiert, bestehen jedoch aus

mehreren Ebenen und erlauben somit eine Vorwärts- und Rückwärtsbewe-

gung durch den Text, zusätzlich aber auch den Zugriff auf unmittelbar darüber

oder darunter liegende Ebenen. Matrixstrukturen eignen sich für Bereiche, in

denen bestimmte Aspekte in verschiedenen Dimensionen verglichen werden

sollen (Parunak, 1989).

Als Spezialform der hierarchischen Struktur kann die sternförmige Hypertext-

Struktur bezeichnet werden. Hier wird ein zentraler Knoten, der das zentrale

Konzept des Hypertexts enthält, mit untergeordneten Knoten, die dieses Kon-

zept näher definieren oder erklären, verbunden (Jonassen, 1986; zitiert nach

Gall & Hannafin, 1994, S. 218). Kiosk-Systeme, die z. B.

Produktbeschreibungen enthalten, verwenden diese Struktur häufig

(Schulmeister, 1996).

Die ringförmige Struktur stellt eine Spezialform der linearen Hypertext-Struktur

dar. Ähnlich wie bei der linearen Struktur kann man auch hier nur von einem

Knoten zum nächsten weitergehen, jedoch ist dabei häufig keine Richtung

vorgegeben, wodurch ein Einstieg in den Hypertext an verschiedenen Stellen

möglich ist. Start- und Endknoten sind identisch (Parunak, 1989).

2. Das Medium Hypertext

82

In „reiner“ Form kommen die beschriebenen Strukturen in der Praxis eher

selten vor, die meisten Hypertexte, vor allem solche mit größerem Umfang,

kombinieren unterschiedliche Strukturformen miteinander, sodass z. B. ein

überwiegend netzartig gestalteter Hypertext auch hierarchische und lineare

Bestandteile aufweist. Solche Mischformen werden als „gemischt-strukturierte

Hypertexte“ (McDonald und Stevenson, 1995, zitiert nach Sturm, 2002, S 50)

bezeichnet. Es wird vermutet, dass diese Strukturform möglicherweise einen

optimalen Mix aus Direktion und Freiheit für den User darstellt. Abbildung 5

zeigt das Schema eines solchen Hypertextes „mit hybrider Organisationsform“

(Tergan, 2002, S. 103), in dem eine Netz-Struktur (1) mit einer Matrixstruktur

(2) und einer hierarchischen Struktur (3) verknüpft wurde.

Abbildung 5. Hypertextbasis mit hybrider Organisationsstruktur (nach Tergan, 2002, S. 103)

2. Das Medium Hypertext

83

2.6 Navigation in Hypertext

Wie auf die einzelnen Informationen in einem Hypertext zugegriffen wird,

hängt unter anderem ab von der Struktur des Hypertexts und den zur Verfü-

gung stehenden Navigations- und Orientierungshilfen, wie z. B. grafischen

Übersichten, Fisheye-Views (= spezielle Inhaltsverzeichnisse, in denen die

zum aktuellen Betrachtungspunkt nahe Umgebung detailliert, weiter entfernt

liegende Objekte dagegen überblicksmäßiger dargestellt werden), Backtra-

cking (= spezielle Funktion, die den User zum zuletzt besuchten Knoten zu-

rückführt), Breadcrumbs (= Markierung bereits aufgesuchter Knoten), Lesezei-

chenfunktionen, usw. (vgl. Kuhlen, 1991; Gerdes, 1999), von der Art der Auf-

gabenstellung (vgl. Marchionini & Shneiderman, 1988; Marchionini, 1995) und

den Intentionen, die der User verfolgt. Der Informationszugriff kann gezielt,

ungezielt oder zufällig erfolgen (Unz, 2000).

Tergan (2002) unterscheidet dabei drei grundlegende Formen:

• gezielte Suche mittels Schlüsselbegriffen und Suchalgorithmen: Dabei kön-

nen ähnlich, wie in einer traditionellen Datenbank, bestimmte Begriffe in

eine Suchmaschine eingegeben und mit Hilfe von Booleschen Operatoren

miteinander verknüpft oder von einem Index aus abgerufen werden. Vor-

aussetzung für diese Form des Informationszugriffs ist natürlich, dass der

entsprechende Hypertext auch die dafür notwendigen Tools bereitstellt bzw.

dass der User auch weiß, wonach er suchen soll und/oder kann.

• Verfolgen von Pfaden: Hierbei folgt der User einem vorab definierten Pfad,

den der Autor des Hypertextes durch sequentielle Verknüpfung bestimmter

Knoten festgelegt hat. Diese Form des Informationszugriffs eignet sich be-

sonders für User mit geringem Vorwissen zu einem bestimmten Thema und

wird daher besonders gern in Lernprogrammen in Form von Guided Tours

(= geführte Unterweisung) eingesetzt (Gerdes, 1999).

2. Das Medium Hypertext

84

• Browsing: Diese für Hypertext typischste Form des Informationszugriffs ist

dadurch gekennzeichnet, dass sich der User durch Verfolgen der Links von

Knoten zu Knoten bewegt. Im Unterschied zu den beiden anderen Formen

des Informationszugriffs wird dem User ein hohes Maß an eigener Kontrolle

zugestanden.

Da Browsing vom User ständig Entscheidungen darüber verlangt, welcher

Knoten als nächster aufgerufen werden soll, kommen hier vermutlich be-

stimmte Personenmerkmale wie z. B. Kontrollüberzeugungen und Kompe-

tenzerwartungen besonders zum Tragen.

Für die Beschreibung des Navigationsverhaltens können das „Ausmaß an

unternommener Exploration“ und das „Ausmaß an Redundanz“ als Kennwerte

der Besuchshäufigkeit von Knoten herangezogen werden. Diese beiden Indi-

zes wurden von Canter, Rivers und Storrs zwar bereits 1985 entwickelt, er-

weisen sich aber auch heute noch als hilfreich zur Untersuchung des Wahl-

verhaltens in Informationsnetzen (Astleitner, 1997, S. 70).

• Das „Ausmaß an unternommener Exploration“ (NV : NT = „nodes visited“ :

„nodes total“, Canter et al., 1985, S. 95) bezieht die Anzahl der aufgerufe-

nen Knoten auf die Gesamtzahl der verhandenen Knoten. Ein Wert nahe 1

zeigt eine umfassende Exploration des Hypertextes an. Da in die Berech-

nung dieser Kennzahl die Bearbeitungszeit nicht einfließt, sind keinerlei

Rückschlüsse darauf möglich, ob der Inhalt des Hypertextes auch tatsäch-

lich gelesen und nicht bloß durchgeklickt wurde.

• Das „Ausmaß an Redundanz“ (NV : NS = „nodes visited“ : „total number of

visits to nodes“, Canter et al., 1985, S. 96) setzt die Anzahl der besuchten

Knoten zur Gesamtzahl der Knotenaufrufe in Beziehung. Je höher dieser

Quotient, der ebenfalls nur Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann, desto

weniger häufig wurden ein- und dieselben Knoten mehrmals aufgerufen.

2. Das Medium Hypertext

85

2.6.1 Browsing als hypertexttypisches Navigationsverhalten

Der Begriff Browsing leitet sich ab vom Englischen „to browse“ mit der Grund-

bedeutung „äsen, weiden“ und der übertragenen Bedeutung bzw. in Verbin-

dung mit den Präpositionen „in“ oder „through“ „durchblättern“ (vgl. Cassells

Wörterbuch). Im Sinne von „sich informieren“ und „schmökern“ (Kuhlen, 1991,

S. 126) hat sich „Browsing“ oder eingedeutschtes „Browsen“ als Fachbegriff

im deutschsprachigen Raum durchgesetzt und wird meist synonym zu Navi-

gieren verwendet (Gerdes, 1997). Gelegentlich findet man Browsen als Ober-

begriff von Navigieren (z. B. bei Marchionini, 1995) oder Navigation als Ober-

begriff, je nach dem Hilfsmittel, mit dem auf die Information zugegriffen wird

(z. B. bei Kuhlen, 1991)

Nach Marchionini (1988) ist Browsen etwas sehr Aktives und wird vor allem

dann eingesetzt, wenn ein Informationssystem wie z. B. ein Hypertext durch

seine Links dazu ermuntert. Marchionini und Shneiderman (1988) definieren

Browsing als eine explorative Informationssuchstrategie, die auf zufälligem

Entdecken (= „serendipity“887) beruht und besonders geeignet ist zur Erfor-

schung neuer Bereiche bzw. für nicht genau definierte Problemstellungen.

Carmel, Crawford & Chen (1992) beschreiben Browsing als „the art of not

knowing what one wants until one finds it“ (S. 866), d. h. die Person hat kein

bestimmtes Suchziel definiert, sondern geht mit eher vagen Vorstellungen an

den Hypertext heran, wodurch ihr Wissenserwerbsprozess den Charakter

eines Herauspickens (= „cherrypicking“) und Auswählens von als nützlich er-

achteten Informationen erhält.

8 „Serendipity“ stellt ein Kompositum aus dem englischen „serene“ (= heiter) und „pity“ (= ein

Grund zum Bedauern) dar und bezeichnet die zufällige Beobachtung von etwas, das

ursprünglich nicht Ziel der Exploration war, das sich aber bei genauerer Analyse als neue

und überraschende Entdeckung erweist.

2. Das Medium Hypertext

86

Demgegenüber unterscheidet Kuhlen (1991, S. 129ff.) zwischen gerichtetem

Browsen, dem sehr wohl ein bestimmtes Ziel zugrunde liegt, und ungerichte-

tem Browsen, vier Arten von Browsing:

• gerichtetes Browsing mit Mitnahmeeffekt: Der User verfolgt beim Durchblät-

tern eines Hypertextes, als „vorselektierter Menge“ an Informationen zu

einem bestimmten Bereich, ein vorher definiertes Ziel und nimmt dabei zu-

sätzliche, thematisch verwandte Informationen auf.

• gerichtetes Browsing mit Serendipity-Effekt: Auch hierbei verfolgt der User

bei seiner Durchsicht des Hypertextes ein bestimmtes Ziel, wird von diesem

aber durch verschiedene interessante Informationen abgelenkt, sodass er

darüber sein ursprüngliches Ziel aus den Augen verliert. Diese Art des

Browsens ist am Anfang gerichtet, wird aber in der Folge eher frei assoziie-

rend.

• ungerichtetes Browsing: Hierbei verfolgt der User kein bestimmtes Ziel. Er

ist sich zwar bewusst, dass er Informationen benötigt, weiß aber nicht ge-

nau, welche.

• assoziatives Browsing: Auch hier verfolgt der User kein bestimmtes Ziel,

sondern lässt sich vom Informationsangebot treiben und baut so lange As-

soziationsketten auf, bis kein weiterer Anreiz mehr zur Verfolgung angebo-

tener Links besteht. Da beim assoziativen Browsen häufig nicht mehr an

den Ausgangspunkt einer Assoziationskette zurückgefunden wird, kann es

in einen Zustand der Desorientierung münden.

Eine ähnliche Unterscheidung treffen Cove und Walsh (1988) in ihrem dreistu-

figen Browsing - Modell. Sie differenzieren zwischen suchendem Browsen

(= „search browsing“), einem gerichteten Browsen mit bekanntem Ziel,

allgemeinem Browsen (= „general purpose browsing“), bei dem ein

Informationsraum erforscht wird, der mit angenommener hoher

Wahrscheinlichkeit interessierende Aspekte enthält, und zufälligem Browsen

(= „serendipity browsing“), als ungerichteter Form, bei dem die Auffindung

allfälliger nützlicher Informationen einem glücklichen Zufall überlassen ist

(Cove & Walsh, 1988, zitiert nach Unz, 2000, S. 35).

2. Das Medium Hypertext

87

Carmel et al. (1992) sehen den Unterschied zwischen Browsing- und

Suchstrategien darin, dass Erstere jederzeit unterbrochen oder abgebrochen

werden können, Letztere im Idealfall erst mit der Auffindung des Suchziels

beendet sind. Als weitere Formen des Browsens konnten sie in einer

Untersuchung mit einem Hypertext über den Vietnamkrieg review-browse

(Überprüfen, Wiederaufsuchen von Informationen) identifizieren, das dadurch

gekennzeichnet ist, dass eine Integration der gefundenen Informationen ins

mentale Modell des Users angestrebt wird. Zu diesem Zweck werden bereits

besuchte Seiten zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgerufen, um die

betreffenden Informationen nochmals zu lesen. Scan-browse (Abtasten des

Informationsraums) kommt einem Abklopfen der einzelnen Hypertext-Knoten

nach interessanten Inhalten gleich. Die dabei angesteuerten bzw. gelesenen

Informationen werden jedoch einer Integration ins mentale Modell für nicht

wert befunden und daher auch nicht wieder aufgerufen, sondern es wird weiter

gebrowst, um andere interessante Inhalte zu finden (Carmel et al., 1994, S.

876f.).

Welche Browsing-Strategie eingesetzt wird, hängt nach Marchionini (1989,

1995) stark von der Art der Aufgabenstellung ab: Für geschlossene Aufgaben

mit einem spezifischen Ziel, z. B. einer Frage, auf die eine konkrete Antwort

gesucht und gefunden werden kann, eignet sich suchendes oder zielgerichte-

tes Browsen, für offene Aufgabenstellungen mit eher allgemeinen Zielen, wie

z. B. dem Sammeln von Informationen zu einem bestimmten Thema, dagegen

erweisen sich zielgerichtetes und zufälliges Browsing als effektiver (Unz,

2000, S. 36).

Die beim Browsen erfolgende Bewegung von Knoten zu Knoten kann in zwei-

erlei Hinsicht beschrieben werden:

• hinsichtlich ihrer Richtung als Vorwärtsbewegung beim Suchen nach neuen

Informationen bzw. beim Öffnen von noch nicht besuchten Knoten oder als

Rückwärtsbewegung zum Wiederfinden von bereits bekannten Informatio-

nen in bereits besuchten Knoten und

2. Das Medium Hypertext

88

• hinsichtlich ihrer Distanz als Bewegung in Schritten von einem Knoten auf

einen direkt mit diesem verbundenen oder als Bewegung in Sprüngen von

einem Knoten zu einem nicht direkt mit diesem verbundenen (Thüring,

Hannemann & Haake, 1995).

Die Strategie, von einem Knoten auf den nächstgelegenen zu springen, ver-

gleichen Gall und Hannafin (1994) mit einem Spaziergang. Diese Vorgangs-

weise erscheint insofern als vorteilhaft, als hierbei auf jede mit einem be-

stimmten Knoteninhalt assoziierte Information zugegriffen wird. Sie kann sich

jedoch auch als mühsam und ineffizient erweisen kann und vor allem dann

mit großem Aufwand verbunden sein, wenn nach einer bestimmten Informa-

tion gesucht wird, die auf einem weiter entfernten Knoten liegt. Beim Sprung

über größere Distanzen, von Gall und Hannafin mit einer Bus- bzw. Taxifahrt

verglichen, sollte der User abschätzen können, ob so ein Sprung für ihn in ir-

gendeiner Weise zielführend ist, denn es kann dabei zur Desorientierung

kommen, wenn nicht mehr an den Ausgangspunkt zurückgefunden wird (Gall

& Hannafin, 1994, S. 213ff.).

Gerdes (1997) weist darauf hin, dass diverse Klassifikationsschemata für

Browsing nicht ganz problemlos auf Lernkontexte übertragbar sind, da es

beim Lernen weniger um die Auffindung bestimmter Informationen geht, son-

dern mehr um die Aneignung und das Verstehen der Gesamtheit der in einer

Hypertext-Basis enthaltenen Informationen. Außerdem merkt sie an, dass

Lernen bei vielen der beschriebenen Browsingformen nur in inzidentieller

Form, „sozusagen als Nebenprodukt der gezielten Informationssuche“ auftrete

(Gerdes, 1997, S. 31). Gall und Hannafin sind der Ansicht, Browsing ermögli-

che ein hohes Maß an selbstgesteuertem Lernen, weisen aber auch darauf

hin, dass gerade Browsing zum Übersehen bzw. zum Nichterkennen der Re-

levanz wichtiger Inhalte führen kann (Gall & Hannafin, 1994). Da beim Brow-

sen die Informationen eher oberflächlich aufgenommen werden, ist die Be-

haltensleistung oft relativ gering (Park & Hannafin, 1993, zitiert nach Gall &

Hannafin, 1994, S. 219). Das zeigte auch eine Untersuchung von Shute

(1993), in der Personen mit hoch explorativem Navigationsverhalten die

schlechtesten Lernergebnisse erzielten (Shute, 1993, zitiert nach Dillon &

2. Das Medium Hypertext

89

Gabbard, 1998, S 343). Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Jonassen &

Wang (1993): Reines Browsen durch einen Hypertext bewirkt keine Verarbei-

tung der Informationen, die tief genug wäre, um zu bedeutsamem Lernen zu

führen (S. 6).

2.6.2 Navigationsmuster

Eine sehr brauchbare Erfassungsmethode für die Navigationsentscheidungen,

die ein User während seiner Hypertext-Bearbeitung trifft, ist die Analyse der

Logfiles (= vom System erstellte Protokolle über Zeitpunkte und Art der vom

User geöffneten Hypertextknoten). Logfiles geben nicht nur Aufschluss dar-

über, welche Inhalte wann und wie lange bearbeitet wurden, sondern erlauben

auch die nachträgliche Rekonstruktion seines Weges durch den Hypertext und

eröffnen damit eine Möglichkeit, unterschiedliche Navigationsleistungen von

Usern zu erklären. Da Logfiles kontinuierlich und vom User unbemerkt mitge-

schrieben werden, bleibt im Unterschied zu anderen Methoden, wie z. B.

Lautem Denken oder Videoaufzeichnung, die Hypertextbearbeitung davon

unbeeinflusst, weil vom User keine Aufmerksamkeit gefordert wird (vgl. Barab,

Bowdish & Lawless, 1997). Eine weitere Methode zur Erfassung der Naviga-

tion stellt die nachträgliche Befragung des Users dar. Da es sich hierbei aber

um Erinnerungsdaten handelt und Personen vermutlich nicht über komplexe

oder automatisierte kognitive Aktivtäten berichten können, sollte diese Me-

thode eher vermieden werden (Unz, 2000, S. 84).

Canter et al. (1985) vergleichen die Navigation eines Users durch Hypertext

mit den verschiedenen Wegen, die eine Person im Laufe eines Tages

zurücklegt. Ausgangs- und Endpunkt dieses Weges ist das Zuhause, da-

zwischen werden verschiedene Orte (z. B. Büro, Gasthaus, Einkaufszentrum)

besucht, wobei sich der Weg oft auch überkreuzt oder wiederholt. Jeder Ort

auf diesem Weg ist einem Hypertextknoten vergleichbar, die Strecken dazwi-

schen den Links. In Anlehnung an diese Metapher unterscheiden die Autoren

nun vier verschiedene Wegformen:

• Ein Ring beginnt und endet auf ein- und demselben Knoten, kein anderer

Knoten wird zweimal besucht.

2. Das Medium Hypertext

90

• Eine Spezialform des Rings stellt ein Loop (= Überschlag, Schleife) dar, der

über nur wenige Knoten führt.

• Sind Anfang- und Endknoten nicht identisch und wird auch kein Knoten

zweimal besucht, so spricht man von einem Pfad.

• Als weitere Spezialform des Rings kann der sogenannte Spike (= Dorn, Sta-

chel) bezeichnet werden, bei dem jeder Knoten zweimal besucht wird: ein-

mal auf dem Hin- und einmal auf dem Rückweg. Diese Form ist vor allem in

hierarchisch strukturierten Hypertexten zu finden.

Welche dieser einzelnen Formen bei der Bearbeitung eines Hypertexts in wel-

cher Art kombiniert werden, hängt ab von der Struktur des Hypertexts bzw.

von der Navigationsstrategie des Users: Beim Browsen weist das Navigati-

onsmuster eher wenige große Ringe und viele Loops auf, beim Suchen dage-

gen eher lange Spikes mit wenigen Loops. Abbildung 6 zeigt Beispiele dieser

beiden Navigationsmuster mit Ring (1), Loop (2) und Spike (3), demonstriert

aber gleichzeitig auch ein Problem solcher Einteilungen: Die Kategorien sind

oft nicht eindeutig genug, es kann zu Überschneidungen kommen, manches

wird eher willkürlich zugeordnet und vieles kann sich als Artefakt erweisen,

das sich aus der Art des Hypertextes ergibt (Unz, 2000, S. 84f.)

Abbildung 6. Wegformen beim Browsing (links) und beim Suchen (rechts)

(nach Canter et al., 1985, S. 100)

Anderson-Inman, Horney, Chen und Lewin (1994) unterscheiden zwischen

Lesemustern und Lernmustern. Erstere treten eher zu Beginn der Hypertext-

bearbeitung auf, wenn der User versucht, sich einen Überblick über den Ge-

samttext zu verschaffen. Seine Interaktion mit dem Hypertext beschränkt sich

in dieser Phase eher auf Durchklicken der einzelnen Knoten. Lernmuster sind

2. Das Medium Hypertext

91

dadurch gekennzeichnet, dass ausgewählte Knoten ausreichend lang be-

trachtet werden, um den Inhalt lernen zu können, dass auf einzelne Knoten

wiederholt zugegriffen wird, um den Text nochmals zu studieren, und dass

diverse unterstützende Angebote, wie z. B. Worterklärungen, genutzt werden

(Anderson-Inman et al., 1994, S. 283). Dabei werden allerdings individuell

unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten und/oder –strategien nicht berück-

sichtigt.

Nach Beishuizen, Stoutjesdijk und van Putten (1994) kennzeichnen kurze

Pfade eher oberflächlicheres, lange Pfade dagegen eher tieferes Verarbeiten

der Informationen (Beishuizen et al., 1994, S. 76). Hierzu muss angemerkt

werden, dass Pfadlängen natürlich auch stark von den strukturellen Gegeben-

heiten im betreffenden Hypertext beeinflusst werden.

Stanton und Baber (1992) teilen die Navigationsmuster nach hierarchischen

Kriterien ein in top-down (hierarchisch höhere Knoten werden zuerst besucht),

sequentiell (Aufruf der Knoten nach dem Layout auf dem Überblicksbild-

schirm) und elaborativ (Zick-Zack Bewegungen von höheren Knoten zu niedri-

geren und retour) (Stanton & Baber, 1992, S. 163). Auch diese Kategorisie-

rung erscheint nicht für alle Arten von Hypertext gleichermaßen geeignet.

Neuere Untersuchungen (vgl. z. B. Gerdes, 1997; Unz, 2000) verwenden zur

Erfassung von Pfadmustern graphentheoretische Maße, wodurch die Naviga-

tionsmuster in verschiedenen Hypertexten mit unterschiedlichen Aufgaben-

stellungen vergleichbar werden. Richtung und Distanz, die nach Thüring et al.

(1995) wesentlichen Aspekte der Navigation, können mit graphentheoreti-

schen Maßen wiedergegeben werden. Allerdings aggregieren solche Maße

Daten, wodurch der ursprüngliche Datenraum komprimiert wird. So sind keine

Aussagen über Phasen oder längere Sequenzen als Zweierschritte möglich

(Unz, 2000, S. 94).

2. Das Medium Hypertext

92

2.6.3 Navigationstypen

Neben der Beschreibung von Navigationsmustern finden sich in der Literatur

Versuche, mit Hilfe von bestimmten Variablen wie Anzahl besuchter Knoten,

Bearbeitungszeit, Bearbeitungstiefe (vgl. z. B. Lawless & Kulikowich, 1996;

Barab et al., 1997), Häufigkeit der Nutzung von Zusatzangeboten wie z. B.

Videos, Wortlisten, etc. (vgl. z. B. Anderson-Inman et al., 1996, Lawless &

Kulikowich, 1996, Barab et al., 1997, McGregor, 1999) Leser und/oder Lerner

eines Hypertextes mit möglichst ähnlichen Werten in den entsprechenden

Variablen Clustern zuzuordnen und damit Navigationstypen zu identifizieren.

Zur näheren Beschreibung der gefundenen Cluster können die Häufigkeiten

der ausgewählten Navigationsvariablen und Scores für die Lösung einer

Informationssuchaufgabe oder eines der Hypertextbearbeitung folgenden

Wissenstests mit verschiedenen externen Variablen, wie z. B. Vorwissen und

Interesse (Lawless & Kulikowich, 1996), Selbstwirksamkeit (Barab, et al.,

1997), Kontrollüberzeugungen (McGregor, 1999), in Beziehung gesetzt

werden, um so Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Navigations-

leistung und unterschiedlichen Personen- und Aufgabenmerkmalen zu erhal-

ten.

Anderson-Inman, et al. (1996) untersuchten an einer Reihe von als Hypertext

aufbereiteten Kurzgeschichten mit Hilfe von Vokabel- und Verständnistests,

Nacherzählungen und eigenen Textproduktionen Lesestrategien und Textver-

ständnis von über 600 amerikanischen SchülerInnen der Schulstufen sechs

bis acht. Aus Zeit und Abfolge der durchgeführten Interaktionen mit dem Hy-

pertext wurden Leseprofile erstellt. Dabei ließen sich drei Typen von Hyper-

text-Lesern erkennen (S. 284):

2. Das Medium Hypertext

93

• „Book - lovers“ (= Bücherfreunde98) gaben an, Bücher Texten am Computer

vorzuziehen, und tendierten zu einer linearen Bearbeitung, bei der sie eher

an der Oberfläche des Hypertextes blieben. Unterstützende Zusatzange-

bote, wie z. B. Worterklärungen, wurden eher am Anfang der Bearbeitungs-

zeit aufgerufen, in späteren Phasen dagegen immer seltener. Schwierigere

Details der Kurzgeschichten, wie z. B. ein überraschendes Ende, wurden

nicht verstanden.

• „Studiers” (= Lerner) waren dem Lesen von Texten am PC gegenüber sehr

positiv eingestellt, nutzten verschiedene Arten von Zusatzangeboten und

beschäftigten sich ernsthaft mit dem Inhalt der Kurzgeschichten, den sie

sehr detailliert nacherzählen konnten, was auf eine tiefer gehende Bear-

beitung des Hypertextes schließen lässt.

• „Resource - junkies“ (= Hilfsmittel - Süchtige) standen dem Lesen von Tex-

ten am PC ebenfalls sehr positiv gegenüber, gaben als Begründung dafür

aber das Vorhandensein von diversen Hilfsmitteln an, nach denen sie ge-

zielt suchten, um sie in kurzen Intervallen wiederholt aufzurufen, ohne dabei

den Text auf dem entsprechenden Knoten zu lesen. Die im Unterschied zu

den anderen Gruppen niedrigsten Leistungsscores zeigten, dass sich diese

User nicht ernsthaft mit den Kurzgeschichten auseinandergesetzt hatten.

Lawless und Kulikowich (1996) gaben 42 Studenten einer Einführungsvorle-

sung zur Bildungspsychologie einen Hypertext über verschiedene Themen der

Allgemeinen Psychologie (z. B. Behaviorismus, Kognition, Wahrnehmung) vor

und erfassten neben verschiedenen Navigationsvariablen wie Gesamtbear-

beitungszeit, Anzahl der aufgerufenen Knoten und Aufruf von erklärenden Vi-

deosequenzen auch Vorwissen und Interesse ihrer ProbandInnen. Die

Clusteranalyse der Navigationsvariablen ergab drei verschiedene Profile (S.

394)

9 Diese und die folgenden deutschen Bezeichnungen für verschiedene Navigationstypen sind

Übersetzungen der Verfasserin. Selbst erklärende englische Termini bleiben unübersetzt.

2. Das Medium Hypertext

94

• „Knowledge - seekers“ (= Wissen-Suchende) hielten sich vor allem auf

Knoten mit wichtigen Basisinformationen auf, nutzten Querverbindungen

zwischen den verschiedenen im Hypertext dargestellten Konzepten und do-

kumentierten durch das beste Wissenstestergebnis der drei Gruppen eine

optimale Hypertextbearbeitung. Das gute Abschneiden im Behaltenstest

könnte allerdings mit einem entsprechenden Vorwissen zusammenhängen,

denn diese Personen hatten auch die besten Ergebnisse im Pre-Test

(Lawless & Kulikowich, 1996, Tabelle 4, S. 396).

• „Feature - explorers“ (= System-Erforscher) verbrachten die meiste Zeit da-

mit, unterschiedliche Navigationstools auszuprobieren. Am Inhalt der Texte

erschienen sie dagegen weniger interessiert, worauf ihre schlechten Ergeb-

nisse im Behaltenstest schließen lassen.

• „Apathetic hypertext - users“ (= apathische Hypertext-User) verbrachten die

kürzeste Zeit im Hypertext, betrachteten nur wenige Knoten und nutzen nur

wenige Hilfsmittel bzw. Zusatzangebote. Sie schienen weder am Inhalt der

Knoten noch am Hypertext selbst interessiert und erzielten die schlechtes-

ten Wissenstestscores.

Barab et al. (1997) verwendeten in ihrer Untersuchung an 66 angehenden

Studenten ein Hypertext-System, das auf bis zu sieben Ebenen Informationen

in Form von Texten, Tonsequenzen, Grafiken und Videos über die vielfältigen

Serviceleistungen einer Universität im Nordosten der USA enthielt und eine

Netzstruktur aufwies. Die ProbandInnen mussten darin nach Antworten auf

Fragen des studentischen Alltags (z. B. Procedere der Prüfungsanmeldung)

suchen. Es wurden vier unterschiedliche Navigationstypen identifiziert (S.

33ff.):

• „Model - users“ entsprachen mit den wenigsten Seitenaufrufen und kürzes-

ten Bearbeitungszeiten am besten dem von den Autoren erstellten Modell

für eine effiziente Bewältigung der gestellten Aufgaben. Sie arbeiteten ziel-

gerichtet, d. h. sie waren bemüht, die Aufgaben zu erledigen, ohne sich da-

bei von den verschiedenen Angeboten des Systems und seinem Inhalt

ablenken zu lassen.

2. Das Medium Hypertext

95

• „Disenchanted volunteers“ (= enttäuschte Freiwillige) scheinen nicht nach

aufgabenbezogenen Inhalten gesucht zu haben. Die geringe Zahl besuch-

ter Seiten, die sehr kurze Gesamtbearbeitungszeit und das sehr schlechte

Informationssuchergebnis deuten an, dass weder Hypertextinhalt noch Auf-

gabenstellung das Interesse dieser Personen geweckt haben.

• „Feature - explorers“ öffneten die meisten Knoten, riefen im Unterschied zu

allen anderen Typen sämtliche Hilfsbildschirme auf, betrachteten die meis-

ten Filme, hatten aber ebenfalls sehr schlechte Ergebnisse. Damit bearbei-

teten diese Personen den Hypertext offensichtlich nicht im Sinne der Auf-

gabenstellung, sondern mit dem Ziel, möglichst viele „Sensationen“ in ihm

zu finden.

• „Cyber - cartographers“ drangen von allen vier Typen am tiefsten in das

System vor, d. h. sie wählten einen Themenbereich aus und erforschten

diesen bis in die untersten Ebenen. Sie betrachteten dabei zwar nur wenige

Seiten, nahmen sich für deren Bearbeitung jedoch viel Zeit. Ihre im Ver-

gleich zu den Modell-Usern schlechten Informationssuchergebnisse erklä-

ren die Autoren damit, dass diese Personen vermutlich nicht in erster Linie

nach der Lösung der Aufgabe suchten, sondern einen bestimmten Hyper-

textbereich ganz genau erforschen wollten.

Ein Vergleich der vier Cluster mit den individuellen Ausprägungen der hyper-

textspezifischen Selbstwirksamkeit, die mit vier von Barab et al. (1997) entwi-

ckelten, fünf - kategoriellen Items (Cronbach - Alpha = .84) (S. 28) erhoben

worden war, ergab signifikante Unterschiede zwischen den Personengruppen

hinsichtlich der Selbstwirksamkeit (Kruskal - Wallis Test: χ2 = 9.23, df = 3,

p < ,05), wobei Feature-Explorer (n = 7) die niedrigsten (M = 3.43) und Cyber-

Kartographen (n = 22) die höchsten (M = 4.15) mittleren Selbstwirksam-

keitswerte aufwiesen (S. 37).

Ähnliche Navigationstypen wie in den bereits beschriebenen Studien identifi-

zierte auch McGregor (1999) in einer Untersuchung an SchülerInnen der sie-

benten und elften Schulstufe, in der die Navigation durch Videoaufzeichnung

des Klickverhaltens der Personen erfasst wurde. Die ProbandInnen mussten

2. Das Medium Hypertext

96

in einem Hypertext über Biotope Informationen sammeln, ihr Vorgehen laut

kommentieren und im Anschluss an die Hypertext-Bearbeitung eine Concept

Map (= nachträglich von der Person gezeichnete Darstellung der Hypertext-

Struktur) erstellen, um ihr Verständnis der über- und untergeordneten Struktu-

ren des Systems unter Beweis zu stellen. Aus den Video- und Tonbandproto-

kollen wurden als Navigationsvariablen Gesamtbearbeitungszeit, Anzahl und

durchschnittliche Betrachtungszeit der aufgerufenen Knoten erschlossen. Mit

Hilfe einer Clusteranalyse identifizierte McGregor folgende Navigationstypen

(S. 196ff.):

• „Sequential studiers“ (= sequentiell Lernende) bewegten sich langsam und

auf sequentielle Art durch das System und klickten dabei auf den einzelnen

Knoten alle verfügbaren Links entweder von oben nach unten oder von

links nach rechts an. Ihre Aufmerksamkeit verteilten sie in etwa gleichmäßig

auf alle besuchten Knoten. Sie lasen alle Texte und verfolgten damit offen-

sichtlich das Ziel, die angebotenen Materialien möglichst vollständig zu be-

arbeiten. In ihren Concept Maps konnten diese Personen zwar die hierar-

chische Struktur des Hypertexts wiedergeben, ihre Zeichnungen zeigten je-

doch nur wenige Querverbindungen zwischen den Inhalten an.

• „Video viewers“ (= Video-Betrachter) waren dagegen vornehmlich an jenen

Knoten interessiert, die Bewegungs- oder Tonsequenzen enthielten und

verbrachten ca. 83 % der Gesamtbearbeitungszeit auf ihnen. Alle anderen

dargebotenen Informationen klickten sie nur kurz an, Texte lasen sie dabei

eher nicht. Dass diese Personen die Verbindungen zwischen den Inhalten

nicht erfasst hatten, zeigten ihre sehr einfach gestalteten Concept Maps,

die auf eine sehr oberflächliche Informationsverarbeitung schließen ließen.

• „Concept connecters“ (= Hersteller von konzeptuellen Verbindungen) wähl-

ten selektiv und gezielt einzelne Knoten aus und folgten von diesen aus

Querverbindungen zu konzeptuell verwandten Knoten. Die Kommentare der

Personen ließen darauf schließen, dass sie versuchten, Verbindungen zu

bereits Bekanntem herzustellen, und um eine Integration der neuen Infor-

mationen in ihr Vorwissen bemüht waren. Die Concept Maps dieser Gruppe

spiegelten ein Vordringen in die tiefsten Schichten des Hypertextes.

2. Das Medium Hypertext

97

Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Navigationstyp und

Kontrollüberzeugungen der ProbandInnen, die mit der LOC-Skala von Nowicki

und Strickland (1973) erhoben worden waren, ergab, dass sich in der Gruppe

der „concept connecters“ (n = 3) nur Personen mit internaler Kontrollüberzeu-

gung, in der Gruppe der „sequentiell studiers“ (n = 3) dagegen nur Personen

mit externaler Kontrollüberzeugung befanden (McGregor, 1999, S. 201). Die

Ergebnisse dieser Studie erscheinen jedoch aufgrund des sehr kleinen Stich-

probenumfangs von nur zehn Personen und der angewandten Methode der

nachträglichen Transkription der Videoaufzeichnungen in Logfiles in eher

fragwürdigem Licht.

Aufgrund unterschiedlicher Hypertext-Strukturen, Aufgabenstellungen und er-

hobener Navigationsvariablen sind die Ergebnisse der referierten Studien

vermutlich nur eingeschränkt vergleichbar. Dennoch fallen gewisse Gemein-

samkeiten im Navigationsverhalten auf: In jeder der besprochenen Untersu-

chungen wurde z. B. eine Personengruppe identifiziert, die in erster Linie an

den diversen Features und weniger am Inhalt des Hypertextes interessiert er-

schien und deren Hypertextbearbeitung durch Suche und Nutzung der ent-

sprechenden Angebote charakterisiert ist. Auf dieses Phänomen weisen auch

Barab et al. (1997) hin, die in diesem Zusammenhang eine nähere Erfor-

schung von möglicherweise dafür verantwortlichen Personenvariablen wie

Motivation und Interesse empfehlen (S. 38).

2. Das Medium Hypertext

98

2.7 Hypertext als Lernmedium

Allgemeine Erwartungen in die Wirksamkeit von Hypertext als Lernmedium

gründen sich vor allem auf die Möglichkeit einer vernetzten Repräsentation

multicodaler und multimodaler Informationen und des flexiblen, lernerorien-

tierten Zugriffs darauf (Tergan, 2002, S. 105). Hypertext erleichtert zwei

Teilprozesse des Lernens, nämlich Selektion und Organisation von Informati-

onen. Er präsentiert sich dem Lerner aufgrund seiner Beschaffenheit als fle-

xible Informationsquelle, die er seinem aktuellen Informationsbedürfnis bzw.

der jeweiligen Aufgabenstellung entsprechend auf unterschiedliche Arten und

seinem individuellen Arbeitstempo gemäß nutzen kann (Unz, 2000). Als die

wesentlichsten Probleme, die beim Lernen mit Hypertext auftreten können,

werden in der Literatur immer wieder Desorientierung und kognitive Überlas-

tung genannt (vgl. z. B. Conklin, 1987; Kuhlen, 1991; Unz, 2000; Tergan,

2002; Blömeke, 2003).

2.7.1 Argumente für Hypertext

2.7.1.1 Kognitive Plausibilität

Ein informationsvermittelndes System gilt dann als „kognitiv plausibel“, wenn

von der Repräsentation des Wissens in ihm zur Repräsentation des Wissens

im Rezipienten möglichst wenige Umformungsprozesse notwendig sind

(Freisler, 1994, S. 43).

Die netzwerkartige Informationsrepräsentation in Hypertext würde der An-

nahme von der kognitiven Plausibilität zufolge den Wissenserwerb erleichtern,

weil sie den assoziativen und schemabasierten Strukturen des menschlichen

Gedächtnisses vergleichbar sei und somit vom Lerner, ohne Umweg über die

bei papierbasierten Lineartexten notwendige Delinearisierung, mehr oder we-

niger einfach und direkt in seine eigenen kognitiven Strukturen integriert wer-

den könne (Jonassen, 1986, 1988; Marchionini, 1988; Kuhlen, 1991; Ford &

Chen, 2000).

2. Das Medium Hypertext

99

Empirische Befunde haben dies jedoch bislang nicht unterstützen können

(Dillon & Gabbard, 1998; Tergan 2002), denn es muss angenommen werden,

dass die Art der mentalen Repräsentationen der Knoten in semantischen

Netzwerken wesentlich komplizierter ist als bei Hypertext (Rouet, Levonen,

Dillon & Spiro, 1996; Blumstengel, 1998). Natürliche Netze sind im Unter-

schied zu Hypertext-Netzen mehrdimensionaler, da die Verknüpfungen in ih-

nen auf und zwischen allen Ebenen existieren, und dynamischer, d. h. sie ver-

ändern sich mit der Zeit bzw. verfügen über die Eigenschaften des Metawis-

sens und des Vergessens (Freisler, 1994). Eine Gleichsetzung der Hypertext-

struktur mit den komplexen Strukturen im menschlichen Gedächtnis erscheint

somit als unzulässig. Das Argument der kognitiven Plausibilität von Hypertext

sollte daher besonders kritisch hinterfragt (siehe Gerdes, 1997, S. 56ff.) und

eher den „pädagogischen Mythen“ über Hypertext zugerechnet werden

(Schulmeister, 1996, S. 245).

2.7.1.2 Multimedialität

In Hypertext können Texte, Bilder, Tonsequenzen, etc. miteinander in einem

Knoten kombiniert werden. Diese Verwendung unterschiedlicher Codierungs-

formen bedeutet ein gleichzeitiges Ansprechen mehrerer Sinnesmodalitäten.

Der Theorie der dualen Codierung und der Theorie von der Hemisphärenspe-

zifität des Gehirns zufolge wirkt sich das positiv auf das Verstehen der so dar-

gestellten Sachverhalte aus, was zu einer besseren Verankerung und leichte-

ren Abrufbarkeit der gelernten Inhalte führt (Barnes, 1994; Anderon, 1996;

Tergan, 2002). Für das Fremdsprachenlernen z. B. konnten Plass, Chun,

Mayer und Leutner (2003) dies empirisch nachweisen. In einer Untersuchung,

in der politische Texte über das geteilte Deutschland gelernt werden mussten,

erzielte die Studentengruppe, der der Lernstoff als multimedialer Hypertext

vorgelegt wurde, die besten Ergebnisse im nachfolgenden Wissenstest (Rette-

rer, 1991, zitiert nach Hasebrook, 1995, S. 96).

Andere Befunde zeigen aber, dass der multimediale Charakter von Hypertext

nicht notwendigerweise höhere Lernwirksamkeit bedeuten muss. Auffällige

Gestaltungsmerkmale lenken die Aufmerksamkeit von Lernern nämlich zum

2. Das Medium Hypertext

100

Teil so stark, dass es zur Bildung falscher mentaler Modelle kommen kann

(Lowe, 1996, zitiert nach Blömeke, 2003). Die Verarbeitung multipler Codie-

rungsformen erfordert außerdem einen kognitiven Zusatzaufwand vom Lerner,

was vor allem bei geringem Vorwissen dazu führen kann, dass potenzielle

lernfördernde Effekte nicht zum Tragen kommen können (Tergan, 2002). Eine

gleichzeitige Präsentation von z. B. textueller und gesprochener Information

kann daher nach dem Redundanzprinzip (= „redundancy principle“, Mayer und

Moreno, 2000, zitiert nach Blömeke, 2003, S. 63) auch zur Überforderung der

Verarbeitungskapazität des Lerners führen. Mehrere Studien zum Navigati-

onsverhalten (siehe Kapitel 2.6.3.) haben ergeben, dass multimediale Fea-

tures die Navigation durch Hypertext massiv beeinflussen und das sogenannte

„art museum phenonmenon“ (Carmel et al, S. 865) bewirken können: Der User

verbringt zwar viel Zeit im Hypertext-System, lernt aber nichts. Bei Webseiten,

die mit vielfältigen Hypermedia-Elementen ausgestattet sind, bewirkt diese

Komplexität eher Verwirrung beim User (Wang & Beasley, 2002). Der Einsatz

von Bild, Ton und dergleichen sollte daher wohlüberlegt und sparsam erfol-

gen, um diese „engaging details“ (= Elemente, die den Lerner dazu bewegen

sollen, sich aktiv mit dem Inhalt auseinanderzusetzen) nicht zu „seductive de-

tails“ (= Elemente, die für den Lerner so attraktiv sind, dass sie ihn von der

Auseinandersetzung mit dem Lernstoff abhalten) (Wade, Schraw, Buxton &

Hayes, 1993, zitiert nach Barab et al., 1997, S. 38) werden zu lassen.

Eine aus lerntheoretischer Sicht günstige Gestaltung eines Hypertextes kann

möglicherweise dennoch nicht zu einem erwünschten Lernergebnis führen.

Das passiert vor allem dann, wenn aufgrund der ansprechenden Gestaltung

ein Lerninhalt als so leicht verständlich wahrgenommen wird, dass dem Lerner

eine tiefere Auseinandersetzung damit als nicht notwendig erscheint und er

der „illusion of knowing“ (Blömeke, 2003, S. 70) erliegt.

2. Das Medium Hypertext

101

2.7.1.3 Kognitive Flexibilität

Ein weiteres Argument für die Eignung von Hypertext als Lernmedium ergibt

sich aus der Kognitiven Flexibilitätstheorie (Spiro & Jehng, 1990; Spiro, Col-

lins, Thota & Feltovich, 2003), die sich mit dem Wissenserwerb in komplexen

und wenig strukturierten Bereichen auseinandersetzt. In fortgeschrittenen Sta-

dien des Wissenserwerbs sieht sich der Lernende mit Inhalten von hoher

Komplexität konfrontiert. Ihre Bewältigung erfordert kognitive Flexibilität, d. h.

die Fähigkeit zur spontanen Rekonstruktion des eigenen Wissens auf viele

Arten in adaptiver Antwort auf sich ständig ändernde Anforderungen innerhalb

von Situationen und über Situationen hinweg (Spiro & Jehng, S. 165). Dafür

braucht es Lernumgebungen, die den Lerner mit der Komplexität und Irregula-

rität von Sachverhalten vertraut machen, Übervereinfachungen vermeiden und

Konzepte in verschiedenen Kontexten unter verschiedenen Zielsetzungen und

aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Hypertexte, deren Design die-

sem sogenannten „criss-crossed landscape approach“ (Spiro et al., 2003, S.

6) entspricht, sollen multidirektionales und multiperspektivisches Lernen er-

möglichen und gewährleisten, dass das auf solche Art erworbene facettenrei-

che Wissen flexibel angewandt werden kann. Anhand eines Prototypen, der

Aspekte der multithematischen Struktur des Films „Citizen Kane“ von Orson

Welles lehrte, beschrieben Spiro und Jehng (1990) die Eignung eines nach

den Forderungen der Kognitiven Flexibilitätstheorie konstruierten Hypertextes

für komplexes Lernen. Eine nachfolgende empirische Untersuchung mit einem

Hypertext über den Einfluss von Technologie auf Gesellschaft und Kultur des

20. Jahrhunderts ergab bessere Leistungen der Versuchsgruppe bei Transfer-

aufgaben. Hinsichtlich des Behaltens von Faktenwissen war jedoch die Kon-

trollgruppe überlegen (Jacobson & Spiro, 1995).

2.7.1.4 Lernerkontrolle

Eines der klassischen Argumente für Hypertext als Lernmedium ist das hohe

Ausmaß an Lernerkontrolle, das er ermöglicht. Unter Lernerkontrolle versteht

man den Grad, in dem ein Lerner seinen Lernprozess selbst steuern kann

(Milheim & Azbell, 1988, zitiert nach Wang & Beasley, 2002, S. 75), d. h. in-

2. Das Medium Hypertext

102

wieweit ihm selbst die Kontrolle über Lerngeschwindigkeit, Selektion und Se-

quenzierung der Lerninhalte überlassen ist (Reigeluth & Stein, 1983, zitiert

nach Wang & Beasley, 2002, S. 75) Im Unterschied zu anderen Lernmedien,

wie z. B. herkömmlichen Computer-Lernprogrammen, bietet Hypertext in der

Regel diesbezüglich wesentlich mehr Optionen, ist offener und weniger direk-

tiv und ermöglicht damit selbstgesteuertes Lernen (vgl. Gall & Hannafin, 1994;

Gerdes, 1999). Damit erscheint eine wesentliche Forderung der konstruktivis-

tisch orientierten Instruktionspsychologie erfüllt: Es sollen Lernbedingungen

geschaffen werden, in denen der Lernstoff nicht in fixfertiger Form vorgegeben

und passiv rezipiert wird, sondern der Lerner soll die Möglichkeit erhalten, ak-

tiv Bedeutung zu konstruieren (Schulmeister, 1996).

Obwohl die Ergebnisse vieler empirischer Studien ein widersprüchliches Bild

bieten, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Effektivität des Ler-

nens nicht allein vom Grad der Lernerkontrolle abhängt, sondern verschiedene

andere personeninterne und externe Faktoren, wie Lernertyp und Lernbedin-

gungen, eine Rolle spielen (Wang & Beasley, 2002), wird Lernerkontrolle all-

gemein dennoch als sehr wichtig für effektives Lernen erachtet (Dillon & Gab-

bard, 1998). Es wird angenommen, dass sie nicht nur zu besseren Lernergeb-

nissen, höherer Kompetenz und schnellerem Lernen führen kann, sondern

auch zu einer positiveren Einstellung dem Lerngegenstand gegenüber. Da-

durch, dass der Lerner mehr Selbstbestimmtheit erlebt, wird seine Selbstwirk-

samkeitsüberzeugung gestärkt, was sich auf sein künftiges Lernen günstig

auswirkt (Lawless & Brown, 1997). Lernumgebungen, in denen ein Lerner

aufgrund von Lernerkontrolle Autonomie erlebt, bewirken eine Steigerung der

intrinsischen Motivation, der Kreativität und des Selbstvertrauens. Die Erfah-

rung von weniger Druck und Anspannung als in sehr direktiven Lernumgebun-

gen wirkt sich letztlich auch positiv auf seine psychische und physische Ge-

sundheit aus (Deci & Ryan, 1987).

Lernerkontrolle bedeutet, dass der Lerner aktiv handelnd in das Lerngesche-

hen einbezogen wird, sich als selbstverantwortlicher Initiator von Veränderun-

gen in seiner Lernumgebung erlebt und dabei, unter der Voraussetzung von

Interesse am Lerngegenstand, einem hohen subjektiven Wert, den dieser

2. Das Medium Hypertext

103

Lerngegenstand für die Person darstellt, und der Überzeugung, sein Handeln

und die zugehörigen Umgebungsbedingungen kontrollieren zu können bzw.

über entsprechende Kompetenz zu verfügen, in so hohem Maß in die Lernsi-

tuation involviert werden kann, dass Flow-Erleben, ein Gefühl des völligen Ab-

sorbiertwerdens und Aufgehens im Handlungsablauf, möglich wird (Mandl &

Hron, 1989; Konrad, 1993). Eine Untersuchung der Gründe, warum sich Ju-

gendliche mit Computern beschäftigen, ergab übereinstimmend mit den Kern-

gedanken des Flow-Konzepts, einen engen Zusammenhang zwischen Zeit-

aufwand, Interesse und Anstrengung am PC mit Kontrollwahrnehmung und

tätigkeitszentrierten Anreizen und zeigte, dass Kontrollüberzeugungen und

Kompentenzerwartungen eng mit der „Freude am Tun“ im Sinne der Flow-

Theorie verbunden sind (Konrad, 1993). Dass Lernen mit Hypermedia bei

Personen positive affektive Zustände auslösen kann, konnten Konradt, Filip

und Hoffmann (2003) nachweisen: Ca. ein Viertel ihrer 66 ProbandInnen gab

nach der einstündigen Bearbeitung eines Hypermedia-Lernprogramms über

Management by Objectives (= Managementkonzept, das die Zielsetzungsthe-

orie anwendet) an, Flow erlebt zu haben. Die positive Stimmung korrelierte

außerdem mit höheren Wissensergebnissen.

Der Ausspruch „leave them alone and they will learn on their own“ (Merrill,

1990, zitiert nach Grabowski & Small, 1997, S. 161) hat sich in zahlreichen

Untersuchungen jedoch als Trugschluss erwiesen, denn nicht alle Personen

können gleich gut mit Hypertext lernen. Um die als Folge der höheren Lerner-

kontrolle beim Wissenserwerb mit Hypertext laufend notwendigen Entschei-

dungen treffen zu können, braucht der Lerner die Fähigkeit, sein Navigations-

verhalten zu strukturieren und selbstgesteuert durchzuführen (Ford & Chen,

2000). Vor allem Lernende mit geringem Vorwissen (vgl. Marchionini & Shnei-

derman, 1988; Dillon & Gabbard, 1998; Wang & Beasley, 2002), aber auch

Personen, die nicht über effektive Strategien bzw. ausreichende Selbstregula-

tionskompetenz verfügen (Steinberg, 1989, zitiert nach Barab et al., 1997, S.

25), können dabei überfordert sein. Außerdem sollte bedacht werden: Je mehr

Freiheit eine Lernumgebung einem Lerner lässt, desto größer wird auch seine

Freiheit, sich nicht besonders beim Lernen zu engagieren (Salomon, Perkins

& Globerson, zitiert nach Barab et al., 1997, S. 25).

2. Das Medium Hypertext

104

2.7.1.5 Entdeckendes und inzidentielles Lernen

Wird in der Literatur gelegentlich zwischen „entdeckendem Lernen“ und

„explorativem Lernen“ unterschieden (vgl. Gerdes, 1997, S. 53), so meinen

beide Begriffe im Grunde dasselbe. Die Bezeichnung „exploratives Lernen“

legt den Fokus eher auf den Weg, die Bezeichnung „entdeckendes Lernen“

eher auf das Ergebnis. Entdeckendes Lernen kann nach Heller (1990) vor al-

lem in Lernumgebungen wie Hypertext erfolgen, wo dem Lerner eine Fülle an

Möglichkeiten zur selbstkontrollierten Exploration von Alternativen und Ergeb-

nissen geboten wird, die ihn bislang noch nicht erkannte Zusammenhänge

wahrnehmen und verstehen lassen. Hypertextknoten und ihre Links haben

hohen auffordernden Charakter, denn sie verlocken geradezu zum Anklicken

und damit zum Erforschen der Hypertextbasis. Im Zuge der Exploration, die

ein Aktiverwerden des Lernenden als z. B. die Bearbeitung eines traditionellen

Lehrbuches erfordert, wird Wissen angesammelt, das dem Lerner einerseits

hilft, die aktuelle Aufgabenstellung zu bewältigen, das andererseits aber auch

neue Fragen aufwerfen kann, zu deren Beantwortung weiteres Erforschen des

Netzwerkes notwendig wird. Dieser selbst-perpetuierende Prozess wird durch

Interesse bzw. Neugierde in Gang gehalten (vgl. Kuhlen, 1991). Dass das ak-

tive Erarbeiten eines Lernstoffs mit positiveren Gefühlen verbunden ist und

dass ein Lerninhalt, der aktiv erarbeitet wurde, besser behalten werden kann,

ist pädagogisches Allgemeinwissen (vgl. Unz, 2000).

Bei der Verfolgung von interessant erscheinenden Links stößt der Lerner häu-

fig aber nicht nur auf Inhalte, die er zur Lösung der aktuellen Aufgabe benötigt.

Vor allem in Hypertexten mit größerem Umfang wird ein Lernender so manche

Information finden, nach der er ursprünglich gar nicht gesucht hat, die ihm

aber dennoch merkenswert erscheint. Heller definiert diese Form des eher

zufälligen Lernes als ungeplantes Lernen, das in einer Lernumgebung stattfin-

det, die eigentlich andere explizit festgelegte Lernziele unterstützen soll (Hel-

ler, 1990, S. 434).

Da Hypertext eine elaborierte Präsentation von Konzepten und ihren Bezie-

hungen zueinander erlaubt, dürfte er in besonderem Maße für inzidentielles

Lernen geeignet sein (Jones, 1989). Auch Gall und Hannafin (1994) vermuten,

2. Das Medium Hypertext

105

dass Hypertexte eher für entdeckendes und inzidentielles als für ergebnisori-

entiertes Lernen geeignet sind, weisen aber darauf hin, dass es unklar ist, ob

das am Hypertext per se liegt oder am Umstand, dass Hypertext für direktives

Lernen noch nicht erfolgreich adaptiert werden konnte (S. 224).

Ob entdeckend und/oder inzidentiell gelernt werden kann, hängt aber nicht nur

vom Lernmedium ab, sondern auch von der Person des Lerners. Heller (1990)

nimmt an, dass sich entdeckendes Lernen vor allem für Personen mit wenig

Lernangst und der Fähigkeit zur Selbststeuerung ihrer Lernprozesse eignet.

Dixon und Cameron (1975) konnten nachweisen, dass hochmotivierte Perso-

nen bei inzidentiellen Lernaufgaben bessere Ergebnisse erbringen, vermutete

Zusammenhänge mit dem LOC (= „locus of control“, Kontrollüberzeugungen)

konnten dagegen nicht bestätigt werden. Wolk und DuCette (1974)

untersuchten in zwei Studien den Zusammenhang zwischen Kontroll-

überzeugungen und inzidentiellem Lernen: Die Personen mussten

vordergründig Texte nach Schreibfehlern durchsuchen, erfasst wurde aber,

wie viel sie vom Inhalt des Textes behalten hatten. Nach dem ROT-IE als

internal Eingestufte zeigten sich bei diesen inzidentiellen Lernaufgaben den

Externalen überlegen. Auch bei Dollinger (2000) erzielten in einer von drei

Studien zum LOC und inzidentiellem Lernen internale Studenten – zur Erfas-

sung des LOC wurde hier die IPC-Skala von Levenson eingesetzt – bessere

Ergebnisse: In einem Wissenstest, in dem neben Inhalten der Persönlichkeits-

psychologie auch lernstoffirrelevante Details, wie Kurszeiten, Sprechstunden-

termine und Einzelheiten des Prüfungsprocedere abgefragt wurden, lagen die

Scores der internalen ProbandInnen signifikant über denen der externalen.

2.7.2 Argumente gegen Hypertext

2.7.2.1 Desorientierung

Orientierungsprobleme können in Hypertext in zweifacher Hinsicht auftreten:

bezogen auf die Navigation als „getting lost in space“ (Conklin, 1987, S. 38)

und/oder als konzeptuelle Desorientierung und zeigen sich in einem zu hohen

Tempo beim Durchgehen des Hypertextes, in unsystematischer Bearbeitung

2. Das Medium Hypertext

106

der Inhalte und einer „Flucht in Details“, bei der wesentliche Zusammenhänge

aus den Augen verloren werden (Blömeke, 2003, S. 72).

LOST IN HYPERSPACE:

Diese hypertextspezifische Form der Desorientierung äußert sich nach Unz

(2000, S. 39) und Gerdes (1999, S. 204) unter anderem darin, dass der User

nicht mehr weiß

• wo genau im Hypertext er sich gerade befindet,

• wie er zu einer bestimmten Information gelangen kann, von der er weiß

oder vermutet, dass sie im Hypertext enthalten ist,

• wie er zu einer bestimmten Stelle im Hypertext zurückfinden soll,

und tritt vor allem dann auf, wenn ein Hypertext sehr umfangreich ist, eine

komplexe Struktur aufweist und seine Bearbeitung durch den User mehr durch

assoziatives als durch zielorientiertes Vorgehen gekennzeichnet ist (vgl. z. B.

Tergan, 2002). Ursachen dafür können aber auch das Fehlen entsprechender

Navigationstools, eine unzureichende Aufklärung des Users über ihm zur Ver-

fügung stehende Navigationshilfen oder Unkenntnis ihrer Bedienung sein

(Dünser, 2000). Dem User ist es damit nicht möglich, eine adäquate mentale

Repräsentation von der Organisationsstruktur des Hypertextes auszubilden,

was sein Informationssuch- bzw. Lernergebnis vermutlich massiv beeinträchti-

gen wird. Als wichtiges Indiz für das Auftreten von Desorientierung betrachten

Möller & Müller-Kalthoff (2000) Fehleinschätzungen des Hypertext-Umfangs

durch den Leser. Während Altun (2000) die Meinung vertritt, dass Lost in Hy-

perspace in Wirklichkeit gar kein so großes Problem darstelle, weil als häu-

figste Navigationshilfe ohnehin der Back-Button des Browsers verwendet

werde (S. 49), ist Unz (2000) der Ansicht, ein geringes Ausmaß an Desorien-

tierung habe auch Vorteile, weil es neugierig mache und damit das explorative

Verhalten fördere (S. 40).

KONZEPTUELLE DESORIENTIERUNG

Mangelndes Vorwissen und/oder fehlende Hinweise auf die Relevanz be-

stimmter Inhalte für die jeweilige Aufgabenstellung können die kognitive Ori-

2. Das Medium Hypertext

107

entierung des Lerners innerhalb der im Hypertext dargestellten Sachstruktur

erschweren. Vor allem im Zuge des assoziativen Browsings kann es dazu

kommen, dass die semantische Bedeutung der aufgesuchten Informationen

nicht erkannt wird oder dass semantische Beziehungen zwischen Knoten un-

klar bleiben, sodass der User keine klare Vorstellung davon hat, auf welche

Knoten er als nächstes zugreifen soll. Dadurch ist er in der Folge nicht in der

Lage, die gelesenen Informationen in seine Wissensstruktur zu integrieren

bzw. eine kohärente Wissensrepräsentation aufzubauen (Tergan, 2002).

2.7.2.2 Kognitive Überlastung

Effektives Lernen mit Hypertext erfordert im Unterschied zur Bearbeitung

eines Lineartextes auf Papier zusätzlichen mentalen Aufwand: Der Lernende

muss sich merken, welche Knoten er schon gelesen hat und wie er dorthin

gekommen ist, um sie gegebenenfalls ein weiteres Mal zu besuchen, er muss

Links, die zu anderen ihm wichtig erscheinenden Informationen führen, und

ihre Positionen im Gedächtnis behalten, um ihnen zu einem späteren Zeit-

punkt folgen zu können, und schließlich muss er diverse Navigationstools und

ihre Funktionen geistig präsent halten. Daneben müssen Navigationsent-

scheidungen getroffen und Knoteninhalte aufgenommen werden. Diese si-

multanen Aufgaben erfordern erhöhte Gedächtniskapazität, Konzentration und

Fähigkeiten zur metakognitiven Kontrolle und können zu kognitiver Überbe-

lastung („cognitive overhead“, Conklin, 1987, S. 40) führen, die eine tiefere

Informationsverarbeitung verhindert und mit der eigentlichen Anforderung, wie

dem Auffinden und Lernen von Informationen, interferiert (Gerdes, 1999; Unz,

2000; Tergan, 2002). Nahezu paradox erscheint dabei, dass gerade jene

Features, die den User beim Wissenserwerb mit Hypertext unterstützen sol-

len, wie Navigationshilfen und multimediale Elemente, häufig eine Quelle von

kognitiver Überlast darstellen und damit die Gefahr bergen, Hypertext für

manche Personen zu „Hyperchaos“ werden zu lassen (Marchionini, 1988, S.

10).