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14 MINUTEN Leben, Tod und Wiederauferstehung einer Lauflegende ALBERTO SALAZAR und John Brant Mit Text-Link zu den aktuellen Doping- vorwürfen

2007 HÖRTE ALBERTO SALAZARS HERZ FÜR 14 MINUTEN … · Vielleicht bekam ich das helle Licht nicht zu sehen, weil ich eine ganze ... vidence St. Vincent Medical Center DOA (dead

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ISBN 978-3-941297-34-0

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ALBERTOSALAZAR

und John Brant

„Ein Weltrekordläufer verliert beinahe ein Rennen, in dem er nie zu starten gedachte: das gegen die Zeit. Wie und warum überlebte Alberto 14 Minuten lang

ohne Herzschlag? Seine Suche nach einer intellektuellen, emotionalen und spirituellen Antwort auf diese Frage gewährt einen wunderbaren Einblick in

Seele und Verstand dieses Marathonmeisters.“

FRANK SHORTER, Olympiasieger im Marathon 1972

2007 HÖRTE ALBERTO SALAZARS HERZ FÜR 14 MINUTEN AUF ZU SCHLAGEN.

Der ehemalige Weltklasse-Marathonläufer war mit 48 Jahren immer noch topfi t, als er auf dem Nike Campus kollabierte. Sein Gesicht lief blau an. Ersthelfer leisteten Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung. Rettungs sanitäter versetzten ihm acht Elektroschocks mit dem Defi brillator. Alberto Salazar war 14 Minuten lang klinisch tot – zehn Minuten länger, als Opfer eines Herzstillstands normalerweise überleben. Neun Tage später stand er wieder an der Laufbahn und trainierte seine Läufer.

Salazar war dem Tod schon zuvor begegnet: Nach einem selbst zer störe -rischen Rennen hatte ein Priester bereits die Sterbesakramente an ihm vollzogen. Doch er überlebte diese und zahlreiche weitere Episoden dank seiner körperlichen Robustheit, seiner besessenen Trainings gewohnheiten und schieren Willens sowie – in seinen Augen – göttlicher Gnade.

In faszinierenden Details erzählt Salazar seine Geschichte vom schüchternen exilkubanischen Jungen aus einem Vorort von Boston zum größten Marathon-läufer seiner Ära. Zum ersten Mal lüftet er das Geheimnis um seine stürmische Beziehung zu seinem Vater, einem früheren Kampf gefährten Fidel Castros;seine Anfänge als Läufer zu Highschool-Zeiten im legendären Greater Boston Track Club; seine ungesunde Obsession, durch Schmerzen hindurchzutrainieren; seine dramatischen Siege in New York, Boston und Südafrika; und wie seine 14 Minuten in Todesnähe ihn lehrten, wieder zu leben.

www.sportweltverlag.de Mit

Text-Link

zu den aktuellen

Doping-

vorwürfen

14 MINUTENLeben, Tod und Wiederauferstehung

einer Lauflegende

ALBERTO SALAZARund John Brant

Aus dem Amerikanischen von Torsten Walter

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INHALT PROLOG ���������������������������������������������������������� 9

TEIL EINS ��������������������������� 17

TEIL ZWEI ������������������������� 117

TEIL DREI ������������������������� 215

EPILOG ��������������������������������������������������������� 275

DANKSAGUNG ����������������������������������������������� 277

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Die englische Originalausgabe dieses Buches ist im Jahr 2012 erschienen. Seither hat sich im Leben Alberto Salazars und der von ihm betreuten Athleten viel ereignet. Davon kann hier jedoch nicht die Rede sein. „14 Minuten“ ist Alberto Salazars Schilderung seiner Karriere als überragender Marathonläu-fer, seiner zahlreichen Verletzungen, durch die er den Weg zu Gott fand, der turbulenten Beziehung zu seinem Vater, seinem „Rekord“ eines 14 Minuten langen klinischen Tods und seiner wundersamen Wiederauferstehung sowie seiner Anfangsjahre als Coach junger Weltklasseläufer im Rahmen des Nike Oregon Projects.

Auf einige der Geschehnisse nach 2012 gehen wir auf unserer Webseite unter www.sportweltverlag.de/laufen/alberto-salazar/ ausführlich ein.

Von Alberto Salazar:Für meinen Vater

Von John Brant:Für den guten Samariter

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PROLOG

Wie sich herausgestellt hat, wird die Sache mit dem hellen Tunnel überbe-wertet.

In den Niederlanden haben Wissenschaftler kürzlich eine Studie mit Probanden durchgeführt, die aus dem Zustand des klinischen Tods wie-derbelebt wurden, das heißt, ihre Herzen hatten aufgehört zu schlagen. Nur 18 Prozent von ihnen berichteten von irgendwelchen mystischen Erfahrungen während der Zeit, die sie tot gewesen waren. Am 30. Juni 2007, an dem Tag, als ich starb, war ich Teil der 82-prozentigen Mehrheit. Ich wurde nicht durch einen blendend weißen Tunnel geschoben, meine Seele driftete nicht aus meinem Körper, und ich konnte auch nicht auf mich herabsehen, wie ich ausgestreckt auf dem dichten Gras auf dem Campus der Nike Headquarters bei Beaverton in Oregon lag. In Wirklichkeit war mein Tod ziemlich direkt und unkompliziert.

Im einen Moment ging ich noch neben meinen Läufern her, und wir sprachen über einen geeigneten Ort fürs Mittagsessen – im nächsten Moment lag ich in einem Krankenhausbett und umklammerte einen Rosenkranz. Zwischen diesen beiden Momenten gab es nur Schwärze und Vergessen. Das ist eigentlich ziemlich überraschend. Angesichts all der Nahtoderfahrungen und Wunder, mit denen ich in meinem bisherigen Leben zu tun gehabt hatte, sollte man denken, ich wäre bei den 18 Prozent gelandet, die im Angesicht ihres vermeintlichen Todes ein heiter-gelassenes Gefühl des Einsseins mit dem Universum

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spürten oder vor ihrem inneren Auge ihr ganzes Leben wie einen Film ablaufen sahen.

Vielleicht bekam ich das helle Licht nicht zu sehen, weil ich eine ganze Weile länger tot war als die anderen Teilnehmer dieser Studie. Die meis-ten Organe des menschlichen Körpers können bis zu 30 Minuten ohne Versorgung mit frischem Blut überleben, und abgetrennte Gliedmaßen können bis zu sechs Stunden nach einem Unfall wieder angenäht werden. Doch bereits nach fünf Minuten ohne Herzschlag wird eine vollständige Erholung des Gehirns ohne Folgeschäden extrem unwahrscheinlich. In den USA sterben jedes Jahr 300.000 Menschen an Störungen der Herzfunktion, doch genau genommen sterben sie nicht an verstopften Arterien oder einem Herzstillstand, denn nach wenigen Minuten – maximal zehn – ohne Versorgung mit frischem Blut stirbt unser Gehirn an Sauerstoffmangel, und das ist dann die wahre Todesursache.

Ich war 14 Minuten klinisch tot.14 Minuten sind eine lange Zeit. Abraham Lincolns berühmte Rede

von Gettysburg war viel kürzer als 14 Minuten. Zu meinen besten Wettkampfzeiten konnte ich in 14 Minuten locker drei Meilen laufen. In 14 Minuten können Sie sich eine halbe Sitcom-Folge, einschließlich Werbung, im Fernsehen ansehen. Keiner der Ärzte, die mich behan-delten, und keiner der Experten, die ich seit dem Tag, an dem ich kollabierte, konsultiert habe, hat jemals von jemandem gehört, der so lange „weg“ war wie ich und ohne Gesundheitsschäden zurückkehrte. Eigentlich hätte ich bei meiner Ankunft in der Notaufnahme des Pro-vidence St. Vincent Medical Center DOA (dead on arrival) sein müs-sen, also bei der Ankunft bereits tot. Bestenfalls (oder schlimms-tenfalls, je nach Sichtweise) hätte ich noch hirntot einige Tage oder Wochen lang im Koma vor mich hinvegetiert, bis meine Frau Molly die qualvoll-schreckliche Entscheidung zum Abschalten der Maschi-nen hätte treffen müssen. Mit wirklich viel Glück (oder, wieder je nach Perspektive, zum Fluch meiner Familie) hätte ich vielleicht mit schweren Hirnschäden in der bloßen Hülle meines Körpers über-lebt. Doch stattdessen quatschte ich am Tag nach meinem klinischen Tod munter im Krankenzimmer mit meinen Besuchern, und neun Tage später stand ich wieder als Trainer an eben der Stelle, an der ich

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zusammengebrochen war – ohne jede körperliche oder geistige Beein-trächtigung.

Im Oktober 1981 stellte ich eine Weltbestleistung beim New York City Mara-thon auf, indem ich die 26,2 Meilen (42,195 km) in 2 Stunden, 8 Minuten und 13 Sekunden zurücklegte. Mit dieser Leistung konnte ich meinen Status als bester Langstreckler meiner Ära besiegeln. Ich lebte ein Leben extremer sport-licher Exzesse, mit ebensolchen Grenzüberschreitungen auf meine Art wie ein Drogensüchtiger oder ein Alkoholiker. Ich war berühmt – viele würden sagen: berüchtigt – für meine Obsession, jeden Rivalen in Sachen Trainingsumfang zu übertreffen, und für meine totale Weigerung zu verlieren. In späteren Jahren würde ich für diesen Exzess noch jahrzehntelang einen hohen Preis zahlen müssen, doch zu jener Zeit in den späten ’70ern und frühen ’80ern – auf der Höhe des ersten Laufbooms – führte meine Besessenheit mich an die Weltspitze: Mein Foto erschien landesweit auf den Titelblättern der Magazine, Präsident Ronald Reagan schüttelte mir bei einer Zeremonie im Weißen Haus die Hand, und der Sportartikelhersteller Nike benannte eine Kollektion nach mir. Jetzt, 25  Jahre später, gelang mir ein zweiter, wenn auch inoffizieller Weltrekord: meine 14 Minuten.

Meine Begleiter und ich waren an diesem Samstagmorgen im Sommer 2007 in entspannter Feierlaune auf dem Trainingsgelände von Nike unterwegs. Mein Trainingsteam kam gerade von den US-Leichtathletikmeisterschaften in Indianapolis zurück, wo sich drei meiner Schützlinge, Kara Goucher, Karas Ehemann Adam Goucher und Galen Rupp, unter den ersten Drei ihrer jeweili-gen Rennen platziert und damit die Qualifikation für die Weltmeisterschaften in Japan später im selben Sommer errungen hatten. In einem nicht-olympi-schen Jahr entsprach das für Profiathleten im Langstreckenlauf in etwa einer Finalteilnahme beim Super Bowl, und entsprechend beschwingt waren wir.

Seit sechs Jahren leitete ich nun als Trainer das von Nike gesponserte Oregon Project. Mit der vollen Unterstützung des Firmengründers Phil

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Knight und des damaligen Vorstandsvorsitzenden Tom Clarke hatte ich die Mission, einen in den USA aufgewachsenen Champion für die wich-tigsten Marathons der Welt aufzubauen. Erstaunlicherweise war es seit meinem Erfolg in New York 1982 erst einem männlichen Amerikaner gelungen, eines der Top-Rennen zu gewinnen, nämlich Greg Meyer beim Boston Marathon 1983. Und Phil – zusammen mit dem gesamten US-Sport-Establishment – gierte nach einem einheimischen Helden, der die Dominanz der Läufer aus Kenia und Äthiopien durchbrechen könnte. Niemand wusste besser als ich, wie viel man investieren musste, um dieses Niveau zu erreichen, und keiner kannte die damit verbundenen Risiken genauer: die verschiedenen physischen, psychologischen und seelischen Desaster, die sich einem Läufer in den Weg stellen können, wenn er oder sie sich dem schmalen Grat nähert, der härtestes Training von selbst-aufopferndem Exzess trennt. Mein Job war es, eine Handvoll junger US-Eliteläufer an diesen Grat heranzuführen, dabei jedoch ein Überschreiten zu vermeiden.

An jenem Morgen schien es so, als hätte ich das ideale Gleichgewicht gefunden, das den Sieg bringen würde. Die Feuerprobe der nationalen Meisterschaften hatten wir erfolgreich hinter uns gebracht. Der Druck war nun von uns genommen, und ich gönnte meinen Läufern eine gewisse Erholungsphase mit halbwegs reduzierten Trainingsumfängen. Kara und Adam ließen die Laufschuhe einige Tage komplett im Schrank, und auf Galens Trainingsplan stand nur ein relativ lockerer Lauf über fünf Meilen, gefolgt von einer Runde Schnelligkeits- und Schnellkraftübungen, die er mit Josh Rohatinsky absolvierte, einem vielversprechenden Nachwuchs-läufer von der Brigham Young University, der erst vor kurzem zu unserem Team gestoßen war. Joshs jüngerer Bruder Jared war gerade zu Besuch in der Stadt. So schlenderten Jared, Josh, Galen und ich vom Parkplatz in Richtung des Trainingscenters.

Es war ein schöner lauer Sommermorgen, wie ich ihn nur aus dem Willa-mette Valley in Oregon kenne. Der warme Sonnenschein vertrieb die leichte morgendliche Bewölkung, und die Luft war so klar, dass die ganze Welt zu glänzen schien. Tage wie dieser entschädigen uns für acht Monate Depri-Wetter. Doch während jedermann sich über das berüchtigte Regenwetter in Oregon beklagt, stört es mich im Allgemeinen nicht so sehr. Der hartnäckige,

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aber milde Nieselregen hier ist für mich nur eine kleine Unannehmlichkeit im Vergleich zu den eisigen Winterstürmen in Connecticut und Massachusetts, wo ich aufgewachsen bin.

Wir waren auf dem Weg zum zentralen Rasenplatz für unsere plyometri-schen Übungen und diskutierten darüber, wo wir zu Mittag essen wollten. Ich war 48 Jahre alt, auf dem Höhepunkt meiner Trainerkarriere und mit einer glücklichen, gesunden Familie gesegnet. Das glänzende Trainingsgelände, das ich durchquerte, gehörte einem mächtigen multinationalen Unternehmen, dessen Ressourcen ich nutzen durfte. Eines der Bürogebäude war sogar nach mir benannt und von dort, wo wir uns befanden, konnte man das Dach des Alberto Salazar Building sehen. Ich war von Menschen umgeben, die ich mochte, und hatte einen Job, den ich liebte. Alles schien einfach perfekt zu sein, und doch war ich nur Augenblicke von meinem eigenen Tod entfernt.

Der perfekte Morgen war nur durch eine mir kaum bewusste gesund-heitliche Sorge getrübt: In der vorangegangenen Woche in Indianapo-lis hatten mich stechende Schmerzen im Rücken und Nacken sowie ein allgemeines Erschöpfungsgefühl geplagt. Ich war jedoch zu beschäftigt gewesen, um mir über diese Symptome viele Gedanken zu machen. Daher hatte ich die Schmerzen auf eine ungünstige Schlafstellung auf dem langen Flug von Oregon und das Schwächegefühl auf den akkumulierten Stress bei der Vorbereitung meiner Athleten auf diesen Wettkampf geschoben. Trotz meines Abschieds vom Wettkampfsport 13 Jahre zuvor, hielt ich mich gut in Form: Ich lief jeden Tag fünf Meilen im Viereinhalb-Minuten-Schnitt pro Kilometer, trainierte mit Gewichten, rauchte nicht, trank nur mäßig Alkohol, ernährte mich gesund und hielt meine erblich bedingt hohen Blutdruck- und Cholesterinwerte durch entsprechende Medika-mente unter Kontrolle. Wie die meisten fitten Menschen meines Alters hielt ich mich für unbesiegbar.

Trotzdem hatte ich nach meiner Rückkehr von den Meisterschaften nach Portland unsere Hausärztin konsultiert. Auf die Beschreibung meiner Symptome hin hatte sie mich einer gründlichen Untersuchung unter-zogen, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Sie überwies mich dann zu einem Kardiologen, der mir ein Belastungs-EKG auf dem Laufband für die darauffolgende Woche verordnete. Von der Gesund-heitsvorsorge her war ich also auf der sicheren Seite. Nach Statistiken der

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amerikanischen Herzgesellschaft treten Herzinfarkte mit Todesfolge bei Männern zu 50 Prozent und bei Frauen zu 64 Prozent ohne Vorwarnung auf. Ich jedoch hatte eigentlich genug Warnungen gehabt. Und doch war ich der Letzte, bei dem man auch nur das leichteste Herzproblem erwartet hätte. Ich weiß, das sagen Leute mittleren Alters nach Herzattacken immer, aber in meinem Fall schien die Beweislage unanfechtbar: Ich war Alberto Salazar, einer der berühmtesten Langstreckenläufer, die Amerika bislang hervorgebracht hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich einen massiven Herzanfall erleiden sollte, schien also so fern zu liegen wie eine Bankrott-erklärung von Bill Gates.

Doch auf diesem kurzen Weg über den Campus kehrte der Schmerz, den ich das erste Mal in Indianapolis gespürt hatte, zurück: nur stärker und akuter als je zuvor! Es fühlte sich an, als ob mir ein Messer mitten in den Nacken gebohrt würde. Direkt nach diesem Schmerz ergriff mich eine Woge überwältigender Müdigkeit; ich konnte plötzlich kaum noch meine Füße heben. Die Kollegen vor mir bekamen von meiner Not nichts mit. Galen erklärte den Rohatinsky-Brüdern gerade, dass die Cafeteria im Mia Hamm Building samstags geschlossen sei und wir deshalb für das Mittagessen etwas außerhalb des Campus suchen müssten.

„Ich kenne da einen Spitzen-Deli in Southeast Portland“, meinte Galen gerade, „da packen sie dir den Truthahn handbreit dick ins Sandwich.“

Die Schmerzwelle ließ minimal nach, gerade genug, um mich zu sammeln und Atem zu holen. Ich nahm ein Sommer-Football-Trainingslager am ent-fernten Ende des Feldes wahr. Gleichzeitig dachte ich wieder über all das Gute nach, das mir in meinem Leben widerfahren war. Da war zum einen meine Tochter Maria, damals 16. Sie nahm in jener Woche an einem Reitturnier in Texas teil, und meine Frau Molly begleitete sie. Ich dachte daran, wie stolz ich auf Galen war, der für mich mehr ein Sohn als nur ein Athlet war. Ich hatte ihn sieben Jahre zuvor im Fußball-Team seiner Highschool in Portland entdeckt und sein enormes Talent vorsichtig entwickelt, ihn vor übermäßigem Ehrgeiz bewahrt, damit er nicht dieselben Fehler beging, die ich als junger Läufer immer und immer wieder begangen hatte; nun war er kurz davor, seine Gabe wirklich zu erkennen. Und schließlich – wie seltsam unser Gehirn doch funktioniert, selbst in den verzweifeltsten Augenblicken – dachte ich darüber nach, wo wir essen gehen sollten.

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„Geraldi’s“, sagte ich und meinte damit meinen Lieblings-Deli, der mit dem Auto in nur fünf Minuten vom Campus zu erreichen war, „die haben die besten Sandwiches der Stadt.“

Dann explodierte der Schmerz ausgehend von meinem Rücken und erfüllte mich ganz und gar, zu übermächtig, um ihn zu verbergen oder zu leugnen. „Galen, mir wird schwindelig“, ächzte ich. „Ich knie mich besser mal hin.“ Ich ließ mich noch halbwegs kontrolliert auf ein Knie nieder, damit ich mir, falls ich ohnmächtig würde, keine Kopfverletzung zuzie-hen würde. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt noch denken und zahlreiche Sinneseindrücke verarbeiten. Josh, Jared und Galen hatten sich zu mir umgedreht und waren von der Veränderung meines Äußeren geschockt. Galen sollte später Reportern erzählen, dass mein Gesicht lila anlief.

„Ich wusste, dass Alberto Schwierigkeiten hatte“, sagte er. „Es war schreck-lich. So, als ob ich meinem Vater beim Sterben zusehen müsste.“

Doch trotz des schneidenden Schmerzes und ungeachtet der flüchtigen Erkenntnis, dass ich nun niemals meine Mission würde vollenden können, niemals mein Wissen komplett weitergeben könnte, niemals Galens Entwick-lung zu einem Läufer nach meinem Bild würde abschließen können – fühlte ich mich vollkommen ruhig. Es war in Ordnung. Was auch immer geschehen würde, würde in Ordnung sein.

Wenn ich mich doch nur eine Minute lang ausruhen könnte – an diesen Gedanken kann ich mich erinnern – dann würde der Schmerz vielleicht vergehen. Und wenn nicht, auch okay. Ich wollte es Galen erklären. Ich wollte Josh und seinen Bruder beruhigen. Ich versuchte zu sprechen, aber kein Wort kam aus meinem Mund. Die Welt wurde schwarz, und ich fiel langsam auf die Seite, landete sanft auf dem Rasen, und eine wunder-same Kette von Ereignissen setzte sich in Gang. Engel – fast zu viele zum Zählen – eilten zu Hilfe, als hätten sie mein ganzes Leben lang auf diesen Augenblick gewartet. Die Uhr begann zu ticken. Meine 14 Minuten hatten begonnen.

Gerettet wurde ich an diesem Sommertag durch eine Demut einflößende, irre Kombination von Wissenschaft und Gnade, und ich weiß es genau: Ich wurde

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verschont, um meine Geschichte erzählen zu können. Ich schreibe dieses Buch nicht um des Geldes willen, ich habe genug Geld. Ich tue es auch nicht wegen des Ruhms oder wegen der Popularität, denn auch davon hatte ich genug. Und ganz bestimmt brauchte ich keine Abwechslung, denn das Oregon Project war mitten in der Vorbereitung für die Olympischen Spiele, bei denen Galen eine Medaille über 10.000 Meter zu gewinnen hoffte. In den letzten Jahren waren zwei weitere der weltbesten Langstreckler zu uns gestoßen – der US-Marathonläufer Dathan Ritzenhein und der britische Bahnläufer Mo Farah, und ich war nun auch für ihre olympischen Träume zuständig.

Das professionelle Training eines Weltklasseläufers zu leiten, ist heute ein 24-Stunden-Job, sieben Tage die Woche. Die Zeiten on the road sind da in vielerlei Hinsicht noch das Geringste. Für jede Bewegung des Körpers und jede Regung des Geistes gibt es Übungen. Als Trainer muss man genau beobachten, was die Läufer essen und wie viele Stunden sie schlafen sowie beurteilen, was sie über sich und den Sport denken. Als Athlet dachte ich, dass Training alles sei; doch heute muss ich mich nicht mehr um mich selbst kümmern, sondern stattdessen um ein halbes Dutzend junger Frauen und Männer mit ihren Träumen, Ängsten und Obsessionen. Aus irgendeinem Grund hat Gott mir einige der talentiertesten, kompliziertesten und lädiertesten Athleten gesandt, um mit ihnen zu arbeiten, gerade diejenigen, die oft von ihrer Gabe verwirrt sind und die sich selbst scheinbar nicht vom Überschreiten der Grenze zum Exzess zurückhalten können. Es sind Getriebene, die meinen, diese eine große Sache verwirklichen zu müssen, und vielleicht kann ihnen dieses Buch helfen, die richtige Richtung einzuschlagen.

Ich muss immerzu an die holländische Studie über Nahtoderfahrungen den-ken. Vielleicht war der Grund dafür, dass ich keinen hellen Tunnel gesehen habe, nicht die Tatsache, dass ich 14 Minuten klinisch tot war. Vielleicht bin ich vielmehr wie ein Stadtbewohner, der die Sterne nicht sehen kann, weil ihr Glanz von den unzähligen Lichtern seiner Großstadt überstrahlt wird. Vielleicht entging mir aber auch das göttliche Licht, weil ich – in variierenden Intensitäten – mein ganzes Leben in seinem Schein verbracht habe.

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Es scheint passend, dass sich meine frühesten Kindheitserinnerungen um Kampf, Konflikt und intensive Gefühle drehen. Die römisch-katholische Kir-che spielte ebenfalls eine Rolle. Ich war fünf oder sechs Jahre alt, und meine Familie war in den Sommerferien nach Michigan gefahren. Dort besuchte ich das Tagescamp eines katholischen Ordens, eine Art Bibelcamp. Ich kann mich auch an einige Ordensschwestern erinnern. Da fing ein anderer Junge an, mich zu ärgern. Er schlug mich mit einer Weinranke wie mit einer Peit-sche. Ich wurde wütend und kämpfte mit einer Heftigkeit gegen ihn an, die weit über den empfundenen Schmerz und die normale Abwehrreaktion eines kleinen Jungen hinausging.

Ich stürzte mich auf den Widersacher und begann, mit meinen Fäusten auf ihn einzuprügeln. Als er sich befreien konnte, jagte ich den panischen Jungen um einige Picknicktische. Die Nonnen stoppten mich, aber sie konnten die weiter aus mir herausströmende Wut nicht bremsen – es war wie eine aus der Tiefe kommende vulkanische Eruption wegen dieses unfairen Angriffs. Ich heulte und schlug um mich und ließ mich einfach nicht beruhigen. Schließlich mussten die Nonnen, die trotz ihrer Erfahrung noch nie einen solch emotionalen Ausbruch bei einem Kind erlebt hatten, meine Mutter anrufen, damit diese mich abholen kam.

Ich kann mich gut an den Tag erinnern: der stechende Schmerz der Ranke; das tiefe Grün des Grases und der Bäume; die erschrockenen weißen Gesichter der Ordensschwestern unter ihrer Tracht; und mein Wutausbruch, den ich sogar in diesem jungen Alter eher als mich durchströmend denn als von mir stammend empfand. Ich spürte, ich diente als eine Art Medium für Kräfte jenseits dessen, was ich verstand, und vielleicht auch jenseits dessen, was ich kontrollieren konnte.

Meine Jugend verlief ähnlich stürmisch. In unserem Haus wurde immer geschrien und gebrüllt. Wir stritten über die gleichen Dinge wie andere amerikanische Familien – wer wie lange im Bad brauchte, wer wann das Auto benutzen durfte, wer das letzte Stück Pizza bekam –, aber die Inten-sität, mit der wir diese Kämpfe ausfochten, unterschied uns deutlich von den anderen Familien. Jahre später, als ich mit Molly ausging, nahm ich sie mit zu Besuch bei meiner Familie nach Massachusetts, in dem Haus,

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in dem ich aufgewachsen war. Molly ist ein cleveres, freundliches, süßes blondes Mädchen aus Oregon mit blauen Augen und stammte aus einer Familie, die so ordentlich und ruhig war wie die Familien, die ich neidisch in den TV-Seifenopern der ’70er Jahre sah. Und nun erlebte Molly ihr erstes tosend-donnerndes Familiendinner bei den Salazars.

An den Anlass zum Gefecht an diesem Abend kann ich mich nicht mehr erinnern – ging es um einen Kinofilm oder darum, wer der bessere All-round-Baseballer sei, George Brett oder Mike Schmidt? – doch, wie es unsere Gewohnheit war, eskalierte der Disput zwischen meinen Brüdern, meinem Vater und mir rasch zu einem Kampf – scheinbar auf Leben und Tod. Wir gin-gen uns gegenseitig an die Gurgel, stießen lautstark bittere Verwünschungen aus, die für Mollys Ohren wie die Flüche von Todfeinden klingen mussten. Aber im nächsten Moment war alles vorüber. Dann hieß es: „Reich mir doch mal bitte das Salz.“ Molly konnte es einfach nicht glauben. Für sie kamen die Salazars von einem anderen Planeten.

Und wir kamen ja auch von einem anderen Planeten: Wir kamen aus Kuba. Wir kamen im wahrsten Sinne des Wortes von der Inselnation selbst, aber auch aus einem separaten Kuba, einer Art virtuellem Staat, den die kubanische Exil-Community in den USA gebildet hatte. Und meine Familie besetzte noch ein anderes kubanisches Reich, nämlich das von meinem Vater José Salazar geschaffene.

Mein Vater war der ranghöchste Sprecher der kubanischen Exil-Com-munity in New England. Bei allem, was auch nur im Entferntesten mit Kuba zu tun hatte, war mein Dad der richtige Ansprechpartner. Politiker holten sich bei ihm Rat, und er führte öffentliche Demonstrationen an. Da fuhr man nichtsahnend über eine Kreuzung und sah unverhofft mei-nen Vater mit einem Plakat, wie er in das Mikrofon eines Repor-ters brüllte und ihm dabei die Adern an seinem Hals anschwollen. Er trat im Fernsehen bei Podiumsdiskussionen mit Senator Edward Kennedy, seinem politischen Erzfeind, auf – der Bruder jenes John F. Kennedy, der in den Augen meines Vaters für die vermasselte Landung in der Schweinebucht, an der mein Vater teilgenommen hatte,

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verantwortlich war (auf persönlicher Ebene respektierten, ja mochten sich die beiden jedoch; Jahre später, nach meinem Sieg beim Boston Marathon 1982, schickte Senator Kennedy meinem Vater sogar eine Glückwunsch-karte).

In unserem Haus fanden ständig Versammlungen statt, die oft bis spät in die Nacht dauerten. Wütende Männer brüllten auf Spanisch herum – mein Bruder José und ich konnten sie noch oben in unserem Schlafzimmer hören, nachdem das Licht gelöscht war. Der zwei Jahre ältere José schien sich von dem Aufruhr im Erdgeschoss weniger stören zu lassen als ich. Er war ähnlich ver-drahtet wie mein Vater: absolut selbstsicher. José schlief auch leichter ein als ich. Als er schon längst gleichmäßig atmete, hörte ich immer noch die Stimmen anschwellen und abflauen sowie den Schwur, nach dem diese Männer lebten: El próximo año en La Habana! Next Year in Havana! Nächstes Jahr in Havanna!

Eines nachts ging ich halb schlafwandelnd ins Erdgeschoss hinunter. Seltsame Männer saßen dort in unserem Esszimmer. Die Luft war blau vor Zigaretten- und Zigarrenrauch. Auch mehr als 40 Jahre später kann ich mich noch ganz klar erinnern, wie ein Mann das Haus verließ und mit einem Maschinengewehr zurückkehrte.

Zu jener Zeit realisierte ich natürlich noch nicht – wirklich verstehen tat ich es erst, als ich schon längst erwachsen war –, dass dieser Intrige und dem Ingrimm meines Dads ein tiefer, alles durchdringender Verrat zugrunde lag. Ich spreche nicht von bloßem politischen Verrat, wie er hier in den Vereinig-ten Staaten gang und gäbe ist, der Enttäuschung, die man verspürt, wenn der Kandidat, den man inbrünstig unterstützt hat, sich nach seinem Amtsantritt nur als ein weiterer zynischer, ränkeschmiedender Politiker herausstellt. Ich spreche vom gewalttätigen Furor eines betrogenen Liebhabers. Ich spreche von dem Schaden, den die Seele nimmt, wenn unser engster Freund unser tiefstes Vertrauen verletzt.

Für meinen Vater war Fidel Castro nicht nur ein Bild in der Zeitung oder die zigarrenschmauchende Gestalt im Kampfanzug, die durch die Fern-sehnachrichten stolzierte. Mein Vater war ein Freund und Weggefährte

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Castros gewesen. Der Vater meines Vaters hatte Castro Arbeit gegeben, als er sich mehr schlecht als recht als junger Anwalt in der kubanischen Provinz durchschlug. Castro und mein Vater teilten den denselben Traum von Gerechtigkeit sowie die Erfahrung von Nächten unter Beschuss. Und eines qualvollen Nachmittags warteten sie stundenlang in der abgestan-denen Luft eines vollgestopften Büros auf die Schritte der Soldaten, die kommen würden, sie zu holen.

Und für meinen Vater war Che Guevara nicht bloß das Siebdruck-Bild auf den T-Shirts der College-Studenten. Mein Vater hatte an der Seite von Che gekämpft. Er hatte Feinde durch Ches Hand sterben sehen und hatte auf Ches Geheiß selbst Gegner bekämpft. Später arbeitete mein Vater unter Ches Kommando in der Revolutionsregierung und verschrieb sich mit Leib und Seele der ursprünglichen, demokratischen Vision der von Castro angeführten Revolution – mit einer bedingungslosen Loyalität, wie man sie in der heutigen Zeit kaum noch finden wird und die für einen unter sicheren und komfortablen Bedingungen lebenden Amerikaner schwer zu begreifen ist.

Vielleicht haben Sie die Szene aus dem Spielfilm „Der Pate: Teil II“ noch vor Augen: Havanna in den 1950ern, eine ganze Stadt in Leibeigenschaft des amerikanischen Gangsters Meyer Lansky, ein Spielplatz für wohlhabende Amerikaner, die sich in Kasinos und Bordellen vergnügten. Ganz im Sinne der Interessen der US-Zucker-, Obst- und Bergbauindustrie verhalf die amerika-nische Mafia dem US-gestützten kubanischen Präsidenten Fulgencio Batista und seinen Kumpanen zu einem Reichtum geradezu obszönen Ausmaßes, während der Rest des Landes darbte. Pulsierende Rhythmen, wunderschöne Frauen und starker Rum unter dem leuchtenden Mond über Havanna: Das klingt alles sehr romantisch, doch für die überwältigende Mehrheit der Kuba-ner bedeutete diese Szenerie Elend und Erniedrigung.

Mein Vater entstammte einer Familie mit einer langen und erfolgrei-chen Geschichte sowohl auf Kuba als auch in den USA: einer Familie von Ingenieuren, Lehrern, Unternehmern, Soldaten und Priestern. Der Familiensitz in Havanna war von solcher Erhabenheit, dass die Sowjets

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ihn nach der Revolution als Teil ihres Botschaftskomplexes nutzten. Mein Vater hätte ein Nutznießer des alten Batista-Regimes sein können, wenn er seine Ausbildung und seine Beziehungen dazu genutzt hätte, einen der vorderen Plätze an den Futtertrögen der Macht zu erlangen. Stattdessen entschied er sich für den härteren und tugendhafteren Weg und schloss sich mit einer wachsenden Zahl junger patriotischer Idealisten der Oppo-sitionsbewegung unter der Führung eines jungen Jurastudenten namens Fidel Castro an.

1950 bildete die Universität von Havanna das Herz der Bewegung. Castro, der in jenem Jahr seinen Abschluss an der Juristischen Fakultät machen sollte, war in der Studentenvertretung aktiv, und mein Vater führte die Vereinigung der Ingenieursstudenten an. Die Revolution würde ihren Höhepunkt zwar erst weitere neun Jahre später erreichen, doch die alte Regierung nahm Cas-tro bereits als Bedrohung wahr. Eines Tages kamen Regierungsbeamte auf den Campus, um ihn festzunehmen. Mein Vater hatte vorher davon Wind bekommen und versteckte Castro in seinem kleinen Büro im Gebäude des Studentenwerks. Er verschloss die Tür und schob zusammen mit Castro den Schreibtisch vor die Tür. Unten vor dem Gebäudeeingang verwehrte eine Sicherheitswache in einer beachtlichen Demonstration kubanischer Loyalität den Agenten den Zugang.

„Castro ist mir egal“, sagte die Wache, „aber José Salazar ist ein Freund von mir. Ich kann Sie nicht durchlassen.“

Als die revolutionären Kräfte einige Jahre später zu einer größeren Bedro-hung geworden waren, hätten sich die Regierungsagenten wahrscheinlich gewaltsam Zugang zum Gebäude verschafft, damals zogen sie sich jedoch zurück. Es folgte eine Pattsituation. Fidel Castro und mein Vater harrten den ganzen Nachmittag in dem kleinen Büroraum aus. Als Kind bekam ich die Geschichte so oft zu hören, dass ich ihre volle Bedeutsamkeit und Dramatik nicht registrierte: Mein Dad in Tuchfühlung mit einem Mann, der später eine der Schlüsselfiguren des 20.  Jahrhunderts wer-den sollte. Im Büro war es bestimmt heiß und stickig, die Luft immer schwerer vom Geruch nach Schweiß und Beklemmung. Vielleicht teilten

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sich die beiden jungen Männer ein Sandwich oder einen Kaffee, den ihre Unterstützer hineinschmuggeln konnten. Schließlich wurde es Nacht, und Castro konnte aus dem Büro schlüpfen und in der Dunkelheit entkommen.

Zwar wurde der Stolz meines Vaters über diese Episode im Laufe der Jahre zunehmend von Schuld und Bedauern gefärbt, verschwand jedoch nie völlig. Mein Dad hatte sich an diesem Tag einwandfrei verhalten: Er hatte seinen persönlichen Ehrenkodex hochgehalten – Loyalität zu einem Freund bewie-sen, einem Ideal gedient und sich unter Druck ehrenhaft verhalten. Wenn es eine Wahl gab, wählte er immer den harten Weg. José Salazar war vom Mantel der Geschichte gestreift worden; er – und seine Familie – würden nie mehr dieselben sein.

Im weiteren Verlauf der 1950er Jahre schloss Castro sich mit Che Gue-vara in Mexiko zusammen, kehrte heimlich nach Kuba zurück und baute in der Sierra Maestra eine Rebellenarmee aus entrechteten campesinos auf. Mein Vater verfolgte die Entwicklung der Rebellen und tat alles in seiner Macht Stehende zu ihrer Unterstützung. Zu diesem Zeitpunkt war Cas-tro noch nicht ins Lager der Kommunisten gewechselt, und er hatte sich auch noch nicht als Marxist zu erkennen gegeben. Er war einfach nur Patriot und führte eine hausgemachte Bewegung für Gerechtigkeit an. Es war die Gerechtigkeit und nicht ein politisches Credo, das meinen Vater und gleichgesinnte junge Kubaner anzog. Castro versprach die Befreiung des Landes von ausländischen und kriminellen Zwängen. So lässt sich die politische Anschauung meines Vaters am besten zusammenfassen.

Als die fidelistas sich ihren Weg aus den Bergen freikämpften und auf Havanna marschierten, schloss mein Vater sich den Truppen an und war auch an Feuergefechten und anderen Kämpfen beteiligt – so wie Tausende anderer junger und gut ausgebildeter Kubaner: Lehrer und Studenten, Geschäftsleute und Anwälte, Ingenieure und Ärzte. Das war keine leichte Entscheidung. Auch wenn sie die höchsten nationalen Werte hochhielten, so handelten sie doch gegen ihre ureigensten Interessen. Sie opferten ihren Reichtum, den gewohnten Komfort und, in vielen Fällen, ihr Leben.

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Mein Vater hat mir Geschichten vom Krieg erzählt. Einmal war er mit Che Guevara zusammen, als der eine Gruppe verwundeter Feinde ohne Wasser in der brennenden Sonne zurückließ. Ein Kamerad schlug vor, sie aus Gnade zu erschießen. Doch Che schüttelte den Kopf. „Diese gusanos (Würmer) können der Revolution nichts außer ihrem Blut geben.“ Und dann, so mein Vater, befahl Guevara seinen Soldaten, den Gefangenen die Kehle durchzuschneiden.

Während des Feldzugs führte mein Vater auch den Vorsitz bei Mili-tärgerichtsverfahren gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher. Einer der betreffenden Gefangenen war ein früherer Helfer Batistas gewesen und verantwortlich für den Tod vieler unschuldiger Menschen. Die Beweis-lage war eindeutig. In seiner Rolle als Richter sprach mein Vater den Mann schuldig und verurteilte ihn zum Tod durch ein Erschießungskom-mando. Obwohl die Schuld des Angeklagten außer Frage stand, verfolgte die Hinrichtung meinen Vater noch Jahre danach. Schließlich erzählte er die ganze Geschichte vor einigen Jahren einem Priester aus dem Dorf des Verurteilten. Der Geistliche bestätigte, dass sich der Betreffende der ihm vorgeworfenen Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatte. Erst das schenkte meinem Vater Seelenfrieden.

Doch zu jener Zeit, den 1950ern, gingen solche Vorfälle in den Wirren des Krieges unter. Als die gutausgebildeten Standesgenossen meines Vaters sich Castro anschlossen, halfen sie, die heroischen Kader der campesinos in der Sierra Maestra in eine legitime militärische und politische Kraft, eine organisierte städtische Bewegung umzuwandeln. Am 1. Januar 1959 rollten die Rebellen triumphierend durch die Straßen Havannas. Batista verließ die Insel schmachvoll zusammen mit seinen Komplizen, Spießgesellen und Hel-fershelfern. Kubas Ehre war wiederhergestellt – zumindest schien es für einen kurzen glänzenden Augenblick so. Ich war damals 18 Monate alt, also zu jung, um mich an die Ereignisse zu erinnern, aber vielleicht schlichen der Lärm und das Geschrei der Revolution sich bis in meine Träume.

Jetzt waren die Rebellen an der Macht. Als gelernter Bauingenieur und Mann mit enormen Energiereserven und organisatorischen Fähigkeiten stieg mein

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Vater rasch in die Führungsebene der neuen Regierung auf und verschrieb sich der Durchsetzung der von Castro vertretenen Ideale. Neben seinem Patriotismus war mein Vater von einer Art ritterlicher Impulse getrieben, voller Bestreben, sich sowohl einem hehren Ziel als auch einem líder zu ver-schreiben, dem er vertraute und den er bewunderte. Diesen Impuls verstehe ich gut. Viele Jahre später würde ich einem leader Treue schwören, dessen Vision und Talente auf ihre Art ebenso weit gesteckt waren wie die Castros: Phil Knight, dem Genie hinter Nike, einer Firma, die ihre ganz eigene globale Revolution verwirklicht hat.

Mein Vater unterstützte die Revolutionsregierung beim Entwurf von 49 Projekten, darunter Apartmenthäuser, Bürogebäude und Hotels. Er arbei-tete voller Energie und Überzeugung, geschöpft aus dem Glauben, dass nun nach der Befreiung vom Joch ausländischer Mächte alle Kubaner zu Würde und Wohlstand würden kommen können. Doch die führenden Persönlichkei-ten der neuen Regierung, besonders Fidel und Che, arbeiteten nicht immer in demselben uneigennützigen, demokratischen Geist. Stattdessen entwickelten sie sich mit erschreckender Geschwindigkeit zu doktrinären Marxisten, weit-gehend unter sowjetischer Kontrolle.

Ich will an dieser Stelle nicht auf die Politik eingehen. Ich weiß, dass viele meinen, Castro habe sich nur wegen der Feindseligkeit der US-Regierung dem sowjetischen Lager zugewandt. Und viele Menschen behaupten, dass die sozialistische Revolution trotz ihrer Fehlschläge und Exzesse dem kubanischen Volk insgesamt gesehen große Vorteile gebracht habe. Doch mein Vater erlebte die Ereignisse aus erster Hand und kam zu einer ande-ren Schlussfolgerung. Seine Desillusionierung erreichte ihren Höhepunkt ungefähr acht Monate nach seinem Amtsantritt im Dienst der neuen Regierung, als er Pläne für ein Projekt entwarf, das ihm besonders am Herzen lag: den Bau einer Kirche, die den Bewohnern einer Kleinstadt auf dem Land als Gotteshaus dienen sollte.

Normalerweise verfielen die Vorgesetzten meines Vaters in Enthu-siasmus über seine Arbeit und nahmen seine Pläne kommentarlos an. Nicht so dieses Mal. Die Pläne für den Kirchenbau landeten wieder auf dem Schreibtisch meines Vaters, und zwar abgelehnt mit einer knappen Erklärung von Che Guevara persönlich: „In der Revolution ist kein Platz für Gott.“ Mein Vater wandte sich daraufhin an Fidel Castro, der Ches

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Entscheidung unterstützte und dessen Erlass bestätigte, dass Religion in der neuen nationalen Ordnung keine Rolle spielte.

Auf einen Schlag sah mein Vater die Revolution und ihre Anführer in einem neuen Licht. Für meinen Vater und für Millionen seiner Lands-leute war die katholische Kirche untrennbar mit der kubanischen Nation verbunden. Wenn Castro und Guevara ausländische Indoktrinierung als Vorwand benutzten, um die Religionsausübung einzuschränken oder zu behindern, dann waren sie doch nicht weniger eine Bedrohung für das Heil der Nation als Batista und Meyer Lansky! Und wenn die neue Regierung schon die Religionsfreiheit beschnitt, auf welchen grundlegenden Men-schenrechten würde sie als Nächstes herumtrampeln? Die tiefste Treue-pflicht empfand mein Vater gegenüber Gott und nicht der Revolution. Ja, es war sogar schwer zu sagen, wo die Leidenschaft meines Vaters für Kuba endete und wo seine Liebe zur katholischen Kirche begann.

Die römisch-katholische Kirche diente in unserer Familie seit Jahrhunderten als zentraler Bezugspunkt und Bindekraft für den Zusammenhalt. Dieser Glaube war tief verwoben mit Drama, Konflikt, Tod und nationaler Identi-tät. Genauso seltsam und exotisch wie einem Durchschnittsamerikaner die persönliche Loyalität meines Vaters vorkommen mochte, so verhielt es sich auch mit seinem Glauben.

Sein Vater, also mein Großvater, wurde von einer Nonne in einem Waisen-haus aufgezogen und besuchte später das Manhattan College und das College of the Holy Cross in den USA, beides katholische Institutionen. Väterlicher-seits gehen mir elf Generationen voraus, deren Taten von tiefem Glauben geprägt waren. Diese waren eher dramatisch als wohlüberlegt und mit Tod, Ehre, Familientreue und allzu oft auch mit Gewalt verbunden.

John Garesché (aus dem Garesché-Zweig unserer Familie, der sich sowohl nach Kuba als auch in die USA erstreckt) war ein Experte für Sakramente wie auch für Munition. Er kam 1836 auf Kuba zur Welt und emigrierte als junger Mann in die Staaten. 1858 arbeitete er als 22-Jähriger in einer Schießpulver-fabrik in Virginia. Im September dieses Jahres ordnete sein Chef eine Reihe von Waffentests an, deren Gefährlichkeit Garesché bekannt war – und die

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sich fatalerweise bestätigte. Garesché riet dringend von diesen Tests ab, doch sein Chef blieb unnachgiebig, und die Versuchsreihe wurde für den Morgen des 13. September angesetzt.

Die Nacht vor den Tests verbrachte Garesché mit Beten und meditierte über seine schlimme Lage. Er hätte einfach am nächsten Tag der Arbeit fernbleiben können, das hätte jedoch eine unentschuldbare Gehorsamsverweigerung dem Mann gegenüber bedeutet, dem er die Treue geschworen hatte, und wäre außerdem ein feiges Verhalten gewesen, das seine Untergebenen bei der Aus-führung der gefährlichen Tests an seiner Statt großen Risiken ausgesetzt hätte. Garesché entschied sich dazu, die Anweisungen zu befolgen, doch unmittelbar nach diesem Entschluss hatte er eine Vorahnung. Diese war ebenso klar wie der Ruf der Pflicht: Er wusste, dass er am nächsten Morgen sterben würde.

John Garesché blieb die ganze Nacht auf, um zu beten und seine Lage zu überdenken: Abwechselnd befasste er sich mit seinem Messbuch und einem religiösen Text über das Schicksal der Seele nach einem plötzlichen Tod. Am nächsten Morgen machte sich der junge Mann auf den Weg, seinem Schicksal zu begegnen, das sich genauso abspielte, wie seine Erfahrung als Ingenieur und sein Glaube als strenggläubiger Katholik es prophezeit hatten: Es kam zu einer furchtbaren Explosion, und Garesché starb.

Johns Geschichte und die von Julius Garesché, Johns Cousin, mein Ur-Ur-Großonkel, bekam ich als Kind erzählt. Für Julius’ Story hatte ich damals nicht viel Verwendung; wie bei anderen Geschichten, die mein Vater gern erzählte, fiel sie bei mir einfach nicht auf fruchtbaren Boden. Doch Jahre später stieß ich in einem Buchladen beim Stöbern in einem alten Folianten über den Bürger-krieg zufällig auf die Geschichte und ein Foto meines legendären Vorfahren.

Julius war einer der ersten gebürtigen Kubaner, die erfolgreich die US Mili-tary Academy in West Point absolvierten. Seine Großeltern waren beinahe bei der Niederschlagung eines Sklavenaufstands in Santo Domingo auf Kuba ums Leben gekommen. Angesichts dieses geschichtlichen Hintergrunds hätte der Junge verbittern und Rassist werden können, doch im Gegenteil: Julius führte ein Leben im Dienste des Staates. In West Point und später als Offiziersan-wärter in der US Army war er für seine Gewissenhaftigkeit, Bescheidenheit und Frömmigkeit bekannt. Während er in Washington, D.C., stationiert war, leistete er einen Beitrag zur Gründung des Kirchenkapitels der Gesellschaft des Heiligen Vincent de Paul, das heute noch den Bedürftigen zur Seite steht.

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Bei Ausbruch des Bürgerkriegs hatte sein Bruder Frederick, ein katho-lischer Priester, prophezeit, dass Julius innerhalb von 18 Monaten bei der ersten Feindberührung im Gefecht fallen würde. Julius bekam zunächst einen Posten in der Verwaltung zugewiesen. Doch trotz der Warnung sei-nes Bruders war er heiß darauf, an der Front zu dienen, und schrieb eine Petition an seine Vorgesetzten mit der Bitte um Versetzung, der schließlich entsprochen wurde. Er wurde als Gefechtsadjutant zu General William Rosecrans abgeordnet, der die Streitkräfte der Union in der Schlacht von Murfreesboro, Tennessee, im Dezember 1862 kommandierte. Am 31. Dezember führten die Konföderierten eine Großoffensive aus. Julius ritt neben dem General auf einem prächtigen Rappen in die Schlacht mit dem Abschlussring von West Point am Finger, einer Ausgabe des Messbuchs des Ordens „Imitation of Christ“ im Marschgepäck und dräuend über ihm die furchtbare Prophezeiung seines Bruders.

Ein Captain Bickham, der an jenem Tag ebenfalls im Feld war, erinnert sich folgendermaßen: „Inmitten des schlimmsten Gemetzels galoppierten sie durch einen wahren Kugelhagel. Dann schoss eine noch nicht explodierte Bombe knapp an Rosecrans vorbei und nahm Gareschés Kopf mit sich. Welch schrecklicher Anblick, als sich sein Gehirn über seine Kameraden ergoss, die sich voller Horror von dem grauenhaften Spektakel abwandten.“

Der Rappe, auf dem Garesché saß, lief noch 20 Schritte weiter, bevor der kopflose Körper schließlich aus dem Sattel auf den Boden neben der Eisen-bahnlinie stürzte. In dieser Schlacht fielen mehr als 27.000 Soldaten, aus dem Norden wie aus dem Süden, was Murfreesboro prozentual gesehen zu einem der blutigsten Gemetzel des gesamten Bürgerkriegs machte. Am Abend nach der Schlacht suchte einer von Gareschés Freunden, ein Klassenkamerad aus West Point, nach seinem Leichnam – der spektakuläre Todesfall war selbst an diesem grauenvollen Tag nicht unbemerkt geblieben – und fand ihn mit blu-tigem Schaum an der Stelle, an der zuvor der Kopf gewesen war. Der Offizier nahm den Klassenring des Toten und das Buch aus der Satteltasche an sich. An jenem Tag war die Legende des Julius Garesché geboren.

Noch heute heißt es, man könne die Erscheinung eines kopflo-sen Reiters sehen, wenn man in der Morgen- oder Abenddämmerung still über das alte Schlachtfeld bei den Gleisen läuft. Ich will die Mög-lichkeit gar nicht ausschließen; ich habe eine Menge Erfahrung mit

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Erscheinungen. Doch bisher habe ich Murfreesboro noch nicht besucht. Für mich ist Julius Garesché mehr als nur ein seltsamer Vorfall oder eine Touristenattraktion – er ist ein Teil von mir. Den Idealen, nach denen er lebte – Glaube, Ehre, Gerechtigkeit, Mut, Pflichtbewusstsein und Opferbereitschaft – versuche auch ich nachzueifern. Und es waren diese Eigenschaften, die Fidel Castro und Che Guevara vor 50 Jahren herausforderten, als sie meinem Vater mitteilten, die von ihm entworfene Kirche könne nicht gebaut werden und dass es in der kubanischen Revo-lution keinen Raum für Gott gebe.

Der Geist Gareschés lebte in meinem Vater weiter. Genauso wie er den leiden-schaftlichen, tiefverwurzelten Glauben geerbt hatte. Neben all der Pracht und dem Dramatischen fühlte er sich auch von den katholischen Grundwerten angezogen: den regelmäßigen Messebesuchen, der Beichte seiner Sünden bei einem Priester, dem Befolgen der Sakramente und dem Gebet und den Fürbitten an die Jungfrau Maria, die in unserer Glaubensrichtung eine ent-scheidende Stellung in der Beziehung zu Christus einnimmt.

Mein Vater konnte seinen Glauben nicht verraten, also vollzog er eine Kehrtwende. Im Wesentlichen traf er dieselbe Entscheidung wie John Gare-sché in der Nacht vor seinem Tod 1858. Doch während Garesché seinem Gewissen folgte und sich seinem Arbeitgeber verpflichtet fühlte, wandte sich mein Vater gegen seinen Boss, um einem weit größeren Vertrag nachzukom-men. Im Oktober 1960 schrieb mein Vater einen offenen Brief an Castro, in dem er ihn der Verfolgung der römisch-katholischen Kirche und des Verrats an der Revolution beschuldigte. Castro sandte daraufhin seine Häscher nach meinem Vater aus, doch er entkam kurz vor deren Eintreffen und bestieg ein Flugzeug nach Miami. Einige Monate später folgte ihm meine Mutter mit ihren vier kleinen Kindern nach.

Kurz nach unserer Ankunft erkrankte ich an schwerem Scharlach. Eine oder zwei Wochen lang war ich so krank, dass kurzzeitig sogar mein Leben bedroht

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