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1 Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier 106, Rue de la Fayette, Paris Über die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft im Brennpunkt vielfältiger Kulturen Autor: Harald Brandt Redaktion und Regie: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Freitag, 19.08.2016, 19.15 Uhr Sprecher 1: Hendrik Stickan Sprecher 2 Bodo Primus Sprecher 3 Jean Paul Baeck Sprecher 4 Martin Bross Sprecher 5 Bernd Reheuser Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ©

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier 106, Rue de la Fayette, Paris Über die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft im Brennpunkt vielfältiger Kulturen Autor: Harald Brandt Redaktion und Regie: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Freitag, 19.08.2016, 19.15 Uhr Sprecher 1: Hendrik Stickan Sprecher 2 Bodo Primus Sprecher 3 Jean Paul Baeck Sprecher 4 Martin Bross Sprecher 5 Bernd Reheuser

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ©

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Sprecher 1:

An den Wänden hängen Bilder von zerbombten Häusern, Trümmerbergen und

Menschen, die zwischen den Ruinen ihrer Wohnviertel herumirren. Photos aus dem

Südosten der Türkei, wo die Regierungsarmee seit Sommer 2015 wieder mit

äußerster Härte gegen die kurdische Bevölkerung vorgeht. "Wollen Sie einen Tee?",

fragt der hochgewachsene Mann im Empfangsraum, mit dem ich von Deutschland

aus ein paar Mal telefoniert habe. "Ich freue mich, dass Sie uns besuchen. Der

Direktor wird gleich da sein, bitte warten Sie hier."

Sprecher 5:

106, Rue de la Fayette, Paris

Über die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft im Brennpunkt vielfältiger Kulturen

Ein Dossier von Harald Brandt

Sprecher 1:

Im Institut Kurde de Paris bin ich mit Kendal Nezan verabredet, der das kurdische

Kulturinstitut 1983 im zehnten Arrondissement von Paris gegründet hat. Er stammt

aus der Region von Diyarbakir, die heute wieder im Zentrum des Konflikts zwischen

dem türkischen Staat und den Kurden steht. Die französische Metropole sollte

eigentlich nur eine Zwischenstation für ihn sein. 1967 war Kendal Nezan auf dem

Weg in die USA, wo er an der Universität von Berkeley Physik studieren wollte. Aber

dann geriet er in den Strudel der Pariser 68er Studentenrevolte, die seinen

politischen Überzeugungen entsprach, und er blieb in Frankreich.

Später hat der promovierte Teilchenphysiker einige Jahre an der Internationalen

Atomaufsichtsbehörde in Genf gearbeitet, aber die politische Arbeit zog ihn immer

wieder zurück nach Paris.

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Sprecher 1:

Kendal Nezan empfängt mich in seinem Büro im zweiten Stock, das man über eine

schmale Treppe erreicht. Der 67-jährige Wissenschaftler ist ein Mensch, der nicht

gerne über sich selbst redet. Er bleibt lieber im Hintergrund und dieser Charakterzug

prägt auch die Politik des Kulturinstituts. Das diskret in einem Hinterhof gelegene

dreistöckige Gebäude ist von der Rue de La Fayette aus nicht einzusehen. Der

ideale Ort für Geheimverhandlungen zwischen kurdischen Abgesandten und

europäischen oder amerikanischen Politikern. "Lange Zeit waren wir so etwas wie

eine inoffizielle Botschaft Kurdistans", sagt Nezan. "Aber wir wollten von Anfang an

alle Strömungen der kurdischen Gesellschaft repräsentieren und nicht das

Aushängeschild einer politischen Partei sein."

Sprecher 5:

Der Versuch, in den 1970er-Jahren ein überparteiliches Kulturinstitut in Deutschland

zu schaffen, scheiterte am Druck der türkischen Führung auf die deutsche

Regierung. In Frankreich war die Situation nach dem Wahlsieg der Sozialisten 1981

günstiger. Viele Politiker der Parti Socialiste waren entsetzt über das brutale

Vorgehen des irakischen Diktators Saddam Hussein gegen die kurdische Minderheit,

das während des irakisch-iranischen Kriegs in den 80er-Jahren die Züge eines

Völkermords annahm. Zwar stand Frankreich im ersten Golfkrieg offiziell auf der

Seite des irakischen Diktators, aber Staatspräsident François Mitterand lag auch das

Schicksal der Kurden am Herzen. Außerdem war er ein großer Freund kurdischer

Literatur. Yaşar Kemal war einer seiner Lieblingsschriftsteller. Das verschaffte

Kendal Nezan Gehör auf höchster Regierungsebene.

O-Ton Kendal Nezan

On était une douzaine de fondateurs originaires de toutes les régions du Kurdistan, donc c'étaient des gens connus dans les pays d'origine, des écrivains ... y compris parmi les fondateurs il y avaient trois kurdes d'Union soviétique, qui n'ont pas pu participer activement, mais qui ont apporté leur soutien. Il y avaient des kurdes d'Iraq, il y avait des kurdes d'Iran .... c'étaient surtout des artistes. Et sur place à Paris, concrètement c'était le cinéaste Yilmaz Güney qui venait d'avoir la palme d'or au festival de Cannes, donc il avait un rayonnement international, et puis il y avait

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moi même et on a crée une équipe pour conduire cette action. La France a défendu cette initiative malgré les protestations assez véhémentes de la Turquie.

Sprecher 2:

Ein Dutzend Leute aus allen Regionen Kurdistans haben das Institut gegründet,

Menschen, die in ihren Herkunftsländern bekannt waren, Schriftsteller ... auch drei

Kurden aus der Sowjetunion waren dabei, die sich zwar nicht aktiv beteiligen

konnten, die uns aber unterstützten. Manche Kurden kamen aus dem Irak, andere

aus dem Iran. Fast alle waren Künstler. Und vor Ort in Paris hat sich der international

renommierte Filmemacher Yilmaz Güney beteiligt, der 1982 gerade die Goldene

Palme beim Filmfestival in Cannes gewonnen hatte. Wir haben dann ein Team

gebildet, um die Gründung zu bewerkstelligen. Und Frankreich hat diese Initiative

trotz ziemlich heftiger Proteste aus der Türkei verteidigt.

Sprecher 5:

Bis Ende der 80er-Jahre leugnete die Türkei schlicht und einfach die Existenz der

Kurden in ihrem Land. Man sprach von Bergtürken oder von terroristischen

Bewegungen in den Bergen im Südosten, aber eine eigenständige andere Kultur

wurde nicht anerkannt.

Sprecher 1:

Diese Haltung machte es dem französischen Außenminister jedoch einfacher, eine

Protestnote zurückzuweisen, die ihm der türkische Botschafter kurz nach der

Gründung des Instituts überreichte.

O-Ton Kendal Nezan

Le ministre de l'époque était un homme très rusé - Claude Cheysson - a dit: "Monsieur l'Ambassadeur, je comprendrais que l'Iran ou l'Iraq qui reconnaissent d'avoir une population kurde dans leur pays expriment leur souci, leur mécontentement, mais je ne comprends pas en quoi ça vous gène puisque que officiellement chez vous, il n'y a pas de kurdes.

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Sprecher 2:

Der damalige Außenminister – Claude Cheysson - war ein gewiefter Diplomat, er

sagte: Herr Botschafter, ich könnte verstehen, dass der Iran oder der Irak

protestieren, die beide eine kurdische Bevölkerung in ihren Ländern anerkennen,

aber ich verstehe nicht, warum Sie unzufrieden sind, da es doch bei ihnen offiziell

gar keine Kurden gibt.

Sprecher 5:

Das kurdische Institut in Paris ist heute eines der wichtigsten kurdischen

Einrichtungen in Europa. Mit zahlreichen Initiativen in Parlamenten europäischer

Länder, beim europäischen Parlament und im US-Senat haben sich Kendal Nezan

und seine Kollegen in dem 16 köpfigen Direktorium immer wieder für

Menschenrechte und den Erhalt der kurdischen Kultur eingesetzt. Dafür erhielten sie

über die Jahre Unterstützung von vielen international bekannten Persönlichkeiten wie

Simone de Beauvoir, Bernard Kouchner Edward Kennedy, Danielle Mitterand, Costa

Gavras, Carlos Fuentes, dem Dalai Lama, Ellie Wiesel, Adolfo Perès Esquivel,

Rigoberta Menchu, von weiteren Nobelpreisträgern und Regierungen, wie etwa aus

Schweden und Norwegen.

Das kurdische Institut in Paris will die Kultur und die Geschichte eines Volkes ohne

Staat bewahren. Schätzungen zufolge leben zwischen 30 und 40 Millionen Kurden

im Nahen und Mittleren Osten – im Nordirak, in Syrien, Iran und in der Türkei. Auch

in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion existieren noch kurdische

Bevölkerungsgruppen.

Sprecher 1:

Die Arbeit des Pariser Instituts richtet sich aber nicht nur an französische und

europäische Medien sowie an ein französisches Publikum, das hier Ausstellungen

von kurdischen Künstlern besuchen und an Konferenzen über die politischen

Entwicklungen in Nahost teilnehmen kann. Kendal Nezan wollte immer auch den

Menschen vor Ort helfen.

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Sprecher 5:

Besonders kritisch war die Situation 1991, am Ende des zweiten Golfkriegs, als sich

die Kurden im Nordirak gegen Saddam Hussein erhoben. Der irakische Diktator hatte

zwar den Kampf gegen die von Amerika geführte internationale Allianz verloren, aber

der Westen schaute weg, als Saddam Hussein seine noch verbliebenen Helikopter

gegen die Schiiten im Süden und gegen die Kurden im Norden einsetzte.

O-Ton Kendal Nezan

Oui, tout à fait, oui….Nous avons joué, je pense, un rôle important lors l'exode kurde en 1991 quand il y avait deux millions des kurdes sur le chemin de l'exode vers l'Iran et vers la Turquie. ... toute l'opinion française s'est mobilisée et c'est le gouvernement française, le président Mitterrand qui a pris l'initiative de saisir le conseil de sécurité des Nations Unis ... pour qu'on crée une zone de sécurité, une no fly zone pour les kurdes d'Iraq ... c'est à l'origine de la création de cette zone kurde autonome. Pour la reconstruction de cette zone, nous avons joué le rôle de coordination avec des ONG occidentales ... dans le domaine de l'éducation, de la culture, de la reconstruction de ce pays qui a été un très grand parti détruit, c'est à dire que 90% des villages avaient été rasés, il y avaient une vingtaine de villes qui avaient été complètement détruite. Pour vous donner un seul exemple, en 91 pour la rentrée scolaire nous avons du imprimer en France, à l'imprimerie nationale 350000 manuels scolaires pour les enfants et payer le salaire de 25.000 instituteurs pendant un an pour commencer l'école. Souvent l'école était sous des tentes ou c'était dans des bâtiments qui n'avaient pas de fenêtres.

Sprecher 2:

Wir haben, glaube ich, eine wichtige Rolle im diesem Moment des Exodus‘ der

Kurden im Jahr 1991 gespielt, als zwei Millionen Menschen aus dem Irak in den Iran

und in die Türkei geflohen sind. Die französische Öffentlichkeit wurde mobilisiert, und

die Regierung unter Präsident Mitterrand rief den Sicherheitsrat der Vereinten

Nationen an. So wurde eine Flugverbotszone über dem kurdischem Gebiet

durchgesetzt, die den Grundstein für die Schaffung einer autonomen Zone im

Nordirak legte. Dann haben wir den Wiederaufbau dieser Region mit westlichen

Nichtregierungsorganisationen koordiniert , im Bereich der Bildung, der Kultur, bei

der Wiederherstellung dieses Landes, das zu einem sehr großen Teil zerstört war. 90

Prozent der Dörfer waren dem Erdboden gleichgemacht worden, etwa zwanzig

Städte waren völlig zerstört. Um Ihnen nur ein Beispiel zu nennen: für den

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Schulbeginn 91 haben wir in Frankreich in der Nationaldruckerei 350.000 Lehrbücher

für die Kinder drucken lassen und wir haben ein Jahr lang die Gehälter von 25.000

Lehrern bezahlt. Oft fand der Unterricht in Zelten oder in Gebäuden ohne Fenster

statt.

Sprecher 1:

Die Gelder für diese umfassende Hilfe spendeten Privatpersonen, private Stiftungen

und Nichtregierungsorganisationen aus Schweden und Norwegen.

Sprecher 5:

Als 2003 nach einer erneuten amerikanischen Intervention das Regime Saddam

Husseins endgültig fiel, beschleunigte sich die wirtschaftliche Entwicklung der

autonomen Kurdenregion im Nordirak. Das Kulturinstitut in Paris unterstützt bis heute

die kurdischen Behörden bei der Ausbildung von Studenten und beim Aufbau einer

universitären Infrastruktur.

Sprecher 1:

In der Bibliothek des Instituts treffe ich den jungen Literaturwissenschaftler Amer

Taher Ahmed, der hier für seine Habilitation forscht. Um die anderen Studenten nicht

zu stören, gehen wir in ein Café an der Rue de La Fayette.

Sprecher 1:

Ich bestelle einen Monaco, ein Gemisch aus Bier, weißer Limonade und einem

Schuss Grenadine-Sirup. Amer schließt sich an. "Das ist bei der Hitze genau das

Richtige", meint er lächelnd. Wie alle meine Gesprächspartner im Kurdischen Institut

ist er sehr höflich, etwas zurückhaltend, aber hinter dieser Haltung steckt ein

Mensch, der in seinem Leben schon viel aushalten musste und der keine Angst vor

der Zukunft hat.

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Sprecher 5:

Als 1975 die Verhandlungen über einen Autonomiestatus zwischen den irakischen

Kurden und der Zentralregierung in Bagdad endgültig scheiterten, mussten alle

Kämpfer, alle Peshmerga, ihre Dörfer und ihre Felder verlassen und im Iran Zuflucht

suchen.

O-Ton Amer Taher Ahmed

Ma famille aussi en faisait partie avec plusieurs milliers personnes. ... Notre village est très, très loin de la frontière iranienne et ils ont fait tout le chemin à pied. Ils ont été accueilli par les Iraniens et installé dans les villes, les villages, les camps et tout. Je suis né quelques années plus tard en 1978. Je suis de naissance iranienne, mais je n'ai pas la nationalité iranienne, parce que les Iraniens ne donnent pas de nationalité aux refugiés ... qui sont nés sur le territoire.

Sprecher 3:

Meine Familie gehörte dazu, neben mehreren tausend anderen Menschen. Unser

Dorf ist sehr, sehr weit von der iranischen Grenze entfernt und die Familie hat den

ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt. Die Flüchtlinge wurden von den Iranern

aufgenommen und in verschieden Städte, Dörfer oder Camps verteilt. Ein paar Jahre

später kam ich zur Welt, im Jahr 1978. Von Geburt her bin ich also Iraner, aber ich

habe nicht die iranische Staatsangehörigkeit. Die Iraner gewähren Flüchtlingen, die

auf dem Territorium geboren werden, nicht ihre Staatsangehörigkeit.

Sprecher 1:

1995 kehrte Amer Taher Ahmeds Familie in den Irak zurück. Sein Vater war vier

Jahre zuvor beim Aufstand der Kurden gegen Saddam Hussein gefallen. "Mein Vater

war ein Peshmerga", sagt der 38-jährige Wissenschaftler, "ein Kämpfer, der immer

wieder über die Grenze gegangen ist. Manchmal war er monatelang nicht da und

wenn er uns dann wieder im Iran besuchte, war er ein Fremder geworden." Amer hat

sehr zwiespältige Erinnerungen an diese Zeit. In Erbil, der Hauptstadt der autonomen

Kurdenregion im Nordirak, studierte er acht Semester kurdische Sprachen und

Literatur. Einer seiner Professoren machte ihn auf die Möglichkeit aufmerksam, über

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das kurdische Kulturinstitut in Paris ein Stipendium in Frankreich zu bekommen.

Amer machte seine Bewerbungspapiere fertig, steckte sie in einen offenen Umschlag

und reiste zur türkischen Grenze, um sie dort abzuschicken. "Der offene Umschlag

war wichtig", sagt der junge Akademiker lächelnd bei unserem Gespräch im Café,

"die Türken wollten kontrollieren, was ein Kurde da nach Frankreich schickt."

Mehrere Monate wartete er auf eine Antwort und versuchte so oft wie möglich sein

elektronisches Postfach zu prüfen – es gab Anfang der 2000er-Jahre nur wenige und

langsame Internetanschlüsse in der kurdischen Hauptstadt Erbil – aber vergeblich.

Schließlich besuchte ihn ein kurdischer Abgeordneter einer politischen Partei, der

vom Pariser Institut gebeten worden war, die Antwort mündlich zu überbringen.

Zusammen mit drei anderen Doktoranden konnte Amer Taher Ahmed sein Studium

in Frankreich abschließen. „Wenn Kendal Nezans Team nicht gewusst hätte, wie die

Dinge in Kurdistan laufen, hätte ich die Antwort nie bekommen und mein Leben hätte

wohl einen anderen Verlauf genommen“, sagt Amer.

O-Ton Amer Taher Ahmed

Le 17 janvier 2002 c'est le jour ou j'ai mis le pied sur le territoire français. La première fois. ... Je n'ai pas vu Charles de Gaulle, l'aéroport Charles de Gaulle ... un étudiant de l'institut est venu me chercher ... on est sorti ici, Gare du Nord, qui n'est pas très loin d'ici, et j'ai un souvenir d'un état d'étonnement, et de joie ... je n'ai jamais vu avant cette architecture et je peux dire parfois je marchais en pleine rue ... et je ne me suis pas rendu compte, j'avais ma valise ne main comme ça que je trainais qui était très lourde et je regardais autour de moi. Et ce bonheur, après je l'ai perdu, un peu comme une langue que tu aimes parler comme le français ... j'adorais la phonétique, j'adorais écouter les gens parler français, j'en rêvais. Mais une fois que je l'avais appris ... ce bonheur d'écouter et de parler le français, un peu perdu comme même. Et là aussi, je me souviens le jour où je suis du métro et ... wow!

Sprecher 3:

Am 17. Januar 2002 habe ich zum ersten Mal den Fuß auf französischen Boden

gesetzt. Charles de Gaulle, den Flughafen Charles de Gaulle habe ich gar nicht

richtig wahrgenommen. Ein Student des Instituts hat mich dort abgeholt und wir

kamen hier an, am Gare du Nord, am Nordbahnhof, nicht sehr weit von hier. Ich

erinnere mich an einen Zustand des Staunens und der Freude. Noch nie hatte ich so

eine Architektur gesehen und ich bin manchmal mitten auf der Straße gelaufen, mit

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meinen Koffer in der Hand, der sehr schwer war und den ich hinter mir hergezogen

habe. Dieses Glücksgefühl habe ich später ein bisschen verloren, so wie bei einer

Sprache, die man immer sprechen will. Ich hörte immer sehr gerne Menschen

Französisch sprechen, aber als ich es dann selbst gelernt hatte, ist diese Magie ein

wenig verlorengegangen. Aber der Tag, an dem ich hier aus der U-Bahn gestiegen

bin ... Wow.

Sprecher 1:

Am nächsten Tag reiste Amer weiter nach Royan an der Atlantikküste, wo er neun

Monate lang Französisch lernte und sich auf die Universität vorbereitete. Am

Departement für iranische Studien an der Sorbonne machte er seinen

Masterabschluss und promovierte 2009 über den Einfluss der französischen Poesie

auf die zeitgenössischen Dichter im Iran. Danach arbeitete er sechs Jahre lang an

der österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Jetzt bereitet er sich auf

einen Lehrauftrag an der amerikanischen Universität von Berkeley vor.

Sprecher 5:

Die Arbeit des Kulturinstituts in Paris beschränkt sich nicht auf die Unterstützung von

Einzelpersonen und Institutionen in der autonomen kurdischen Zone im Nordirak.

Auch der Friedensprozess in der Türkei geht auf eine Initiative des Instituts zurück,

das hier als Vermittler zwischen den Konfliktparteien aufgetreten ist. Zwischen 2008

und 2015 schien sich die Lage der Minderheiten in der Türkei langsam zu

verbessern. Mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK kam ein Waffenstillstand

zustande, der Unterricht in kurdischer Sprache wurde wieder erlaubt, und viele

Menschen im Südosten glaubten, dass es zu einer dauerhaften Aussöhnung

zwischen den Türken und den Kurden kommen würde.

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Sprecher 1:

Am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag, findet in Nizza auf der

Strandpromenade ein Terroranschlag statt, für den der sogenannte Islamische Staat

die Verantwortung übernimmt. Über 80 Menschen, die auf der Strandpromenade das

traditionelle Feuerwerk verfolgen, werden von einem LKW getötet, der in die dichte

Menge rast und seine Todesfahrt fortsetzt bis der Fahrer von der Polizei erschossen

wird. Am Abend des darauffolgenden Tages, nach meinem Interview mit Kendal

Nezan, kommt die Nachricht vom Militärputsch in der Türkei. Wenige Stunden nach

dem Scheitern des Putsches beginnt in der Türkei eine beispiellose

Verhaftungswelle, die nicht nur die Armee, sondern auch die Justiz, die Verwaltung

und die Medien trifft. Auch die Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen

Partei der Völker, HDP, fürchten um ihr Schicksal.

Sprecher 5:

Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 hatte die Partei zum ersten Mal die 10-

Prozent Hürde überschritten und der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP

die absolute Mehrheit streitig gemacht. Eine regierungsfähige Koalition kam nicht

zustande und bei den Neuwahlen im November erlangte die AKP knapp die absolute

Mehrheit. Das Wiederaufflammen des Konflikts mit der verbotenen Arbeiterpartei

PKK im Südosten der Türkei wird von vielen Beobachtern als ein Manöver des

Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan angesehen, um verlorene Wählerstimmen

zurück zu gewinnen. Im Mai 2016 schließlich setzte die AKP eine

Verfassungsänderung durch, die mehr als ein Viertel der Abgeordneten ihrer

parlamentarischen Immunität beraubt.

Sprecher 1:

Zwei Tage nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei treffe ich den Bibliothekar

des Kurdischen Instituts in Paris. Seit Beginn der 1980er-Jahre hat Gerard Gautier

immer wieder Reisen in den Iran, den Irak und die Türkei unternommen und dort

auch gearbeitet. Er ist Spezialist für Kurdisch und Persisch und hat einen Lehrauftrag

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am Institut für orientalische Sprachen in Paris. Die Entwicklung in der Türkei sieht er

mit Sorge.

O-Ton Gerard Gautier

En parallèle avec la levée d'immunité des députes kurdes, parce que c'est les kurdes qui sont visés ... maintenant ils viennent de faire passer une loi d'amnistie pour les - entre guillemet - actions, je dirais plutôt exactions des forces de l'ordre dans la campagne anti-kurde au sud-est, au Kurdistan de Turquie. On est bien dans un deux poids deux mesures. ... Maintenant il y a eu des attentats non revendiqués par Daech mais qui portent la marque de Daech ... c'est très étrange, tous ces attentats qui visent des civils en Turquie ... les premiers attentats qui portent la marque de Daech, ils visent des kurdes ... Ankara, Sürüç ... c'est ça d'ailleurs qui re-déclenche le démarrage de la guerre avec le PKK suite à l'exécution de deux policiers turques par le PKK qui dit, nous avons des preuves que ces deux policiers sont des complices des attentats. On peut se poser quand même des questions sur le type de manipulation qui mène à ces attentats, on n'a pas la réponse. De façon générale, quand il y a des enquêtes sur des problèmes comme ça, ça sort pas. On n'a rien qui arrive au jour, ou peut-être dans dix ans.

Sprecher 4:

Parallel zur Aufhebung der Immunität von kurdischen Abgeordneten - die man ja vor

allem damit treffen will - ist ein Amnestiegesetz verabschiedet worden, das die

Aktionen - ich würde eher sagen, die Übergriffe - der Armee bei der Anti-Kurden

Kampagne im Südosten der Türkei betrifft. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Zu

manchen Attentaten in türkischen Städten hat sich der Islamische Staat nicht

bekannt, aber sie trugen die Handschrift des IS. Alle Attentate richten sich gegen

Zivilisten in der Türkei. Die ersten Anschläge dieser Art waren besonders gegen

Kurden gerichtet ... Ankara, Sürüç ... Als die PKK daraufhin zwei Polizisten

ermordete, die sie beschuldigte in die Anschläge verwickelt zu sein, war das der

Auslöser für die neue Militärkampagne gegen die kurdische Arbeiterpartei. Da kann

man sich schon fragen, was für Manipulationen hinter diesen Anschlägen stecken.

Die Ermittlungen werden - wie immer bei solchen Problemen - geheim gehalten und

die Ergebnisse werden, wenn überhaupt, vielleicht erst in zehn Jahren der

Öffentlichkeit bekannt.

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Sprecher 1:

Von 1999 bis 2004 arbeitete Gerard Gautier für die französische Stiftung Danielle

Mitterand in Erbil, der Hauptstadt der autonomen Kurdenregion im Nordirak.

Zusammen mit Vertretern anderer Nichtregierungsorganisationen leitete er den

Aufbau eines Ausbildungszentrums für das Erlernen von Englisch und Französisch.

Die halbherzige Unterstützung des Westens für die Kurden heute erinnert ihn an die

Situation vor gut 15 Jahren.

O-Ton Gerard Gautier

Les Nations Unies refusaient absolument de nous aider parce que nous étions considéré comme illégaux ... puisque eux avait obtenu suite aux pressions de la communauté internationale l'autorisation du régime de Saddam Hussein de se trouver au Kurdistan d'Iraq. Mais les ONG avaient du choisir, soit elles travaillaient dans la zone tenue par le régime bassiste, soit elles travaillaient du côté des kurdes. Quand on travaillait du côté des kurdes on était automatiquement interdit de travail du côté du régime et en plus, le régime avait lancé ... comment dire ça ... un reward, une récompense, on avait une prime sur nos têtes. Si quelqu'un ramenait ma tête à un poste de garde de l'armée irakienne, ça lui rapportait je ne sais pas combien. Mais on était protégé par les kurdes, on n'avait pas vraiment d'inquiétude, mais on avait quand même nos passports sur nous tout le temps, parce que on ne savait pas si un moment donné l'armée irakienne n'allait pas tenter de réenvahir la zone du Kurdistan.

Sprecher 4:

Die Vereinten Nationen haben uns damals jede Hilfe verweigert, weil wir als illegal

betrachtet wurden. Auf Druck der internationalen Gemeinschaft hatte Saddam

Hussein der UN zwar erlaubt, sich im irakischen Kurdistan aufzuhalten. Das galt aber

nicht für die NGOs. Sie mussten sich entscheiden: Entweder sie arbeiteten in der von

Saddam Husseins Baath-Regime gehaltenen Zone, oder sie arbeiteten auf der

kurdischen Seite. Wenn man auf der Seite der Kurden arbeitete, bekam man

automatisch ein Arbeitsverbot für die andere Seite. Außerdem hatte das Regime ein -

wie soll ich sagen - einen reward, eine Kopfprämie auf uns ausgeschrieben. Wenn

jemand also einem Wachposten der irakischen Armee meinen Kopf präsentiert hätte,

dann hätte er dafür eine Prämie in irgendeiner Höhe bekommen. Die Kurden haben

uns natürlich beschützt, wir mussten uns nicht wirklich Sorgen machen. Allerdings

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hatten wir immer unsere Pässe dabei, weil wir nicht wussten, ob die irakische Armee

nicht doch zu irgendeinem Zeitpunkt versuchen würde, die kurdische Zone wieder

einzunehmen.

Sprecher 1:

Kendal Nezan befürchtet, dass sich die derzeitige Lage der Kurden in der Türkei

weiter verschlechtern wird. Der Journalist Robert Fisk habe im britischen

Independant vermutet: Sollte Europa zu dem Schluss kommen, dass es besser sei,

den türkischen Bürgern Visafreiheit zu gewähren, um das im Frühjahr 2016

beschlossene Flüchtlingsabkommen nicht zu gefährden, könne es durchaus

passieren, dass Staatspräsident Erdoğan diese Möglichkeit nutze, um große Teile

der kurdischen Bevölkerung zur Emigration zu drängen. Für Kendal Nezan wäre eine

solche Maßnahme nur die Fortsetzung einer langen Geschichte:

O-Ton Kendal Nezan

Depuis la fin de l'empire ottoman, les nationalistes turques ont voulu créer une Turquie avec une seule langue, une seule culture et donc éliminer toutes les autres communautés. Vous savez comme il y a eu ... le génocide des Arméniens. La Turquie a expulsé dans les années 20 1.200.000 grecs d'Anatolie. La seule communauté, numériquement ce sont les kurdes, on en a déporté beaucoup, il y a eu une politique d'assimilation et surtout, on a détruit tous les récifs de leur histoire .... des anciens châteaux forts, les palais, les témoins de l'histoire des principautés kurdes. Dans les bibliothèques, les livres concernants les kurdes ont été expurgés, détruits, etc.

Sprecher 2:

Seit dem Ende des Osmanischen Reiches wollten die türkischen Nationalisten eine

homogene Türkei mit einer Sprache und einer Kultur schaffen und alle anderen

Gemeinschaften beseitigen. Es hat den Völkermord an den Armeniern gegeben. Und

in den 20er-Jahren hat die Türkei 1.200.000 Griechen aus Anatolien vertrieben. Die

einzige Gemeinschaft, die noch zählt, numerisch, sind die Kurden ... Viele wurden

abgeschoben, andere hat man einer Politik der Assimilation unterzogen und vor

allem hat man alle Überreste ihrer Geschichte zerstört, die alten Festungen, die

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Paläste, die Stätten, die an die kurdischen Fürstentümer erinnern. Aus den

Bibliotheken wurden alle Bücher über und von Kurden, entfernt oder vernichtet.

Sprecher 1:

Auch der Bau von 22 Staudämmen und 19 Wasserkraftwerken im Südosten der

Türkei ist in Kendal Nezans Augen ein Schritt, um die Kurden aus ihren

angestammten Gebieten zu vertreiben. Besonders umstritten ist der fast

fertiggestellte Ilisu-Damm, der den Tigris zu einem riesigen See aufstauen wird. Über

60.000 Menschen müssen umgesiedelt werden und die historische Stadt Hasankeyf

wird für immer in den Fluten verschwinden.

O-Ton Kendal Nezan

Hasankeyf a été la capitale ou le siège du dernier rameau du royaume de Saladin. Pour les kurdes symboliquement c'est très important ... et puis c'est une ville qui a une histoire beaucoup plus ancienne, avec beaucoup de vestiges. La politique des barrages de la Turquie dans les années 80 c' était conçu pour le contrôle de l'eau. Qui contrôle l'eau au Proche Orient contrôle la région. Et donc, les deux grands fleuves du Proche Orient, le Tigre et l'Euphrate, viennent du Kurdistan. Si on construit beaucoup de barrages on peut exercer des pressions sur la Syrie et l'Iraq comme on veut. Donc, ça c'était l'une des raisons principales de la construction des barrages, et maintenant, il y a la destruction du patrimoine kurde. Il y a Hasankeyf, mais il y a aussi de vieilles villes comme Cizre comme Diyarbakir qui ont été détruite au cours des derniers mois. Et la Turquie maintenant veut y reconstruire des logements sociaux, avec une architecture affreuse dans lesquels elle veut installer des réfugiés syriens pour arabiser la population. Erdogan veut leur donner la nationalité turque alors qu'on leur a pas encore reconnu le statut de refugié et qui par reconnaissance voterait dans ces villes là pour Erdogan. Comme les élections se joue à 4,5 % parfois ... enfin, c'est aussi l'un des projets, j'espère qu'il va pas y arriver.

Sprecher 2:

Eine Nachfahre Saladins hatte Hasankeyf zu seiner Hauptstadt erkoren. Das hat für

die Kurden einen hohen symbolischen Wert ... Aber die Geschichte der Stadt reicht

noch viel weiter zurück. Die Staudammprojekte der Türkei zielen auf die Kontrolle

des Wassers. Wer das Wasser im Nahen Osten kontrolliert, der hat die Macht über

die ganze Region. Und die beiden großen Flüsse des Nahen Ostens, Euphrat und

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Tigris, haben ihre Quellen in Kurdistan. Wenn man also viele Dämme baut, kann

man Druck auf Syrien und den Irak ausüben. Das war einer der Gründe für den Bau

der Staudämme, und jetzt kommt die Zerstörung des kurdischen Kulturerbes hinzu.

Wie zum Beispiel Hasankeyf, oder auch die Altstadtbezirke von Diyarbakir oder

Cizre, die in den letzten Monaten vollkommen zerstört worden sind. Die Türkei will

dort jetzt Sozialwohnungen für syrische Flüchtlinge bauen, um die Bevölkerung zu

arabisieren. Erdoğan will ihnen die türkische Staatsbürgerschaft geben, obwohl sie

noch nicht einmal als Flüchtlinge anerkannt sind. Er hofft, dass sie dann aus

Dankbarkeit für ihn stimmen werden. Und da es bei den Wahlen manchmal auf vier

oder fünf Prozent ankommt ... na ja, das ist eins seiner Vorhaben. Ich hoffe, es wird

ihm nicht gelingen.

Sprecher 5:

Am 6. August 2016 empfängt Recep Tayyip Erdoğan drei Journalisten der

französischen Tageszeitung Le Monde in Istanbul. Es ist das erste Interview für

westliche Medien nach dem gescheiterten Putsch. Darin bestätigt er ganz offiziell

den von Kendal Nezan geäußerten Verdacht: Die, so wörtlich, "syrischen Brüder"

sollen die türkische Staatsbürgerschaft erhalten, und in den zerstörten Städten im

Südosten der Türkei sollen "moderne Häuser, mit angeschlossenen Schulen und

Gebetsräumen" entstehen. Dort sollen Menschen leben, die vor den Kämpfen

geflohen sind. Wer diese Menschen sein werden, sagt er nicht.

Sprecher 1:

In Köln treffe ich den kurdischen Schriftsteller Bachtyar Ali, der gerade sein neues

Buch "Der letzte Granatapfel" herausgebracht hat. In poetischer Sprache schildert er,

wie sich die Konflikte der letzten Jahrzehnte auf die Menschen ausgewirkt haben.

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O-Ton (deutsch) Bachtyar Ali

Das Problem ist, dass die Politik instrumentalisiert alle diese Konflikte, ja…. Wir

haben eine sehr, sehr lange, grausame Geschichte als Kurden in der Türkei. Die

kurdische Sprache wurde fast 80 Jahre verboten. Das ist einmalig in der Geschichte.

Man kann eine Religion, also einen Glauben verbieten, aber eine Sprache, das ist

einmalig in der Geschichte. So lange Zeit Millionen von Menschen von ihrer Sprache

entfernen, oder die zwingen, diese Sprache nicht zu sprechen, das ist eine sehr, sehr

schreckliche Erfahrung. Und natürlich hat das bis heute zu einem großen Misstrauen

zwischen Kurden und Türken geführt, ja. Es gab eine große Chance, dieses

Misstrauen wieder gutzumachen, ja und... ich war sehr oft in der Türkei, meine

Hoffnungen waren groß. Ich dachte, die türkische Gesellschaft kann allmählich diese

Phase verlassen und eine neue Epoche ist unterwegs. Aber leider sind alle diese

Träume geplatzt, weil wir nun eine Macht haben, die versucht, immer hierbleiben und

die versucht, alles zu instrumentalisieren um an der Macht zu bleiben. Das finde ich

sehr schrecklich.

Sprecher 1:

Muzafari Subhdam, der Erzähler in Bachtyar Alis Buch "Der letzte Granatapfel" ist

ähnlich wie der Vater von Amer Taher Ahmed ein Peshmerga, ein kurdischer

Kämpfer gegen die Gewaltherrschaft des irakischen Diktators Saddam Hussein.

Nach langer Gefangenschaft in einem abgelegenen Kerker irgendwo in der Wüste

versucht er, seinen Sohn Saryasi zu finden, den er wenige Tage nach seiner Geburt

verlassen musste. Die Suche entwickelt sich zu einer Irrfahrt durch die Abgründe

einer Gesellschaft, die von Krieg und Entbehrung gezeichnet ist.

O-Ton (deutsch) Bachtyar Ali

Der Roman ist über zwei verlorene Generationen. Die Vater-Generation und, und

auch die Sohn-Generation. Es ist ein Vater-Sohn Roman ... kann man in dem Roman

auch so betrachten, ja…Und die beide Generationen sind verlorene Generationen.

Und die können einander nicht helfen und die können nicht richtig kommunizieren,

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und die können auch einander nicht sehr gut verstehen, ja. Ja natürlich, dann kommt

dieser zentrale Begriff über die Rettung. Muzafari Subhdam versucht was zu retten,

er versucht, mindestens die Geschichte zu retten, man versucht, die Gedanken oder

unser Gedächtnis zu retten, ja. Diese Wort Rettung spielt sehr große Rolle in allen

meinen Romanen. Weil in diese politische Klima, wo Katastrophe herrscht und die

Angst ist sehr dominant, äääh….man kann nicht sehr leicht immer über Freiheit

träumen, man muss zuerst über Rettung nachdenken. Und deswegen alle meine

Figuren versuchen, etwas zu retten. Die versuchen, Liebe zu retten, die versuchen

Kunst zu retten, die versuchen, ihr Gedächtnis zu retten.

Sprecher 1:

Um die Rettung des kulturellen Gedächtnisses geht es auch Gerard Gautier. Im

ersten Stock des Kulturinstituts befinden sich die Räume der Bibliothek. Sie

beherbergt die größte Sammlung kurdischer Werke in der westlichen Welt. Für viele

Menschen der Diaspora ist sie ein wichtiger Ort, an dem sie Dokumente finden

können, die in den Ursprungsländern verschollen sind oder vernichtet wurden.

O-Ton Gerard Gautier

On a vraisemblablement une, je sais pas mais… vingtaine de milliers de documents au total, dont la moitié seulement est cataloguée. Nous avons les archives d'une chaine de télévision kurde ici, en audiovisuel ... bon, des revues, beaucoup de périodique publiés dans diverses langues. Juste un exemple, on a Riataza, cours nouveaux ... qui est une révue publié en Arménie soviétique entre les années 20 et 40 qui est publiée en kurde et en caractère cyrillique. Qu'on nous a envoyé, les cartons viennent d'Odessa. Nous numérisons beaucoup notre fond pour le mettre à disposition et pour le protéger au cas où des ... éléments du fonds qui seraient détruit pour une raison quelconque on essaie de protéger et faire des sauvegardes. ...Le projet pour la bibliothèque ... il y a un catalogue, mais qui n'est pas vraiment accessible en ligne ... c'est de la standardiser, de le mettre au standard des bibliothèques comme la bibliothèque nationale ou la bibliothèque des langues orientales ici à Paris, et puis de le mettre en ligne.

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Sprecher 4:

Wir haben wahrscheinlich insgesamt etwa zwanzigtausend Dokumente, von denen

nur die Hälfte katalogisiert ist. Wir haben die Archive eines kurdischen TV-Senders

hier, also audiovisuelle Medien ... Revuen, Zeitschriften, viele in verschiedenen

Sprachen veröffentlichte Zeitschriften. Ein Beispiel ist Riataza, ein Magazin, das im

sowjetischen Armenien von den 20er bis in die 40er-Jahre veröffentlicht wurde, auf

Kurdisch in kyrillischer Schrift. Die Kartons wurden uns aus Odessa zugeschickt. Wir

sind dabei unseren Bestand zu digitalisieren, um ihn leichter zugänglich zu machen,

aber auch um ihn zu schützen, für den Fall, dass etwas aus irgendeinem Grund

zerstört wird. Ein Projekt für die Bibliothek - es gibt einen Katalog, aber der ist noch

nicht wirklich online verfügbar - besteht darin, einen Standard zu entwickeln, der dem

Standard der Nationalbibliothek oder der Bibliothek für orientalische Sprachen hier in

Paris entspricht. Das soll dann online zugänglich sein.

Sprecher 1:

Möglicherweise wird hier der Grundstein für eine zukünftige kurdische

Nationalbibliothek gelegt. "Angesichts der Aufgaben, die noch vor uns liegen, klingt

das vielleicht vermessen", meint Gerard Gautier weiter, "aber wenn die Kurden

irgendwann einmal einen eigenen Staat haben, dann wollen wir in der Lage sein,

ihnen einen international anerkannten Standard zur Verfügung zu stellen. Dazu

gehört auch die Klassifizierung der verschiedenen Schriftsysteme."

O-Ton Gerard Gautier

Le kurde s'écrit en alphabet latin en Turquie, en alphabet latin en l'Union Soviétique au début, mais pas le même, puis en passe en cyrillique et puis c'est écrit en alphabet arabe à l'époque ottomane puis en améliore cet alphabet arabe dans les années 20 au Kurdistan d'Iraq et au Kurdistan d'Iran, il passe par plusieurs systèmes un tout petit peu différent ... et on a des livres écrits dans toutes ces écritures. Dans un catalogue de bibliothèque standard, on se borne à noter écriture arabe, écriture cyrillique, etc, écriture latine, mais il faut que nous, on soit plus précis, il faut qu'on soit capable de détailler exactement de quel système d'écriture il s'agit. ... On est peut-être en train d'élaborer un futur standard qui serait le standard de classification de bouquins publiés en kurde avec les différents systèmes d'écriture. Sur les dialectes, c'est la même chose, il y a plusieurs kurdes et le bibliothèques ne

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conservent pas en général de quel dialect il s'agit. Et en plus, le système d'écriture est indépendant - en grande partie - du dialecte. Vous avez des livres publiés en kurde de Turquie, en kurmanç, qui sont publiés en cyrillique, en latin et en arabe. Suivant là, où ils sont publiés ... vous avez au nord du Kurdistan d'Iraq une zone kurmanç où c'est publié en alphabet arabo-persan. Les frontières linguistiques ne coincident pas avec les frontières des systèmes d'écriture qui correspondent aux frontières politiques.

Sprecher 4:

Kurdisch wird in der Türkei mit lateinischen Buchstaben geschrieben, zu Beginn war

das auch in der Sowjetunion so, allerdings mit leichten Unterschieden. Später wird

dann die kyrillische Schrift verwendet. Im osmanischen Reich wird kurdisch im

arabischen Alphabet geschrieben, das dann in den 20er-Jahren im irakischen und im

iranischen Teil Kurdistans immer weiter verändert wird. Es gibt also verschiedene

Schriftsysteme, die sich alle leicht voneinander unterscheiden und wir haben Bücher

in all diesen Schriften. In einem normalen Bibliothekskatalog wird nur erwähnt, ob es

sich um arabische, kyrillische oder lateinische Schrift handelt, aber wir müssen

genauer sein, wir müssen genau sagen können, um welches Schriftsystem es sich

handelt. Vielleicht sind wir dabei einen zukünftigen Standard zu entwickeln, der es

erlaubt, alle kurdischen Bücher, die in verschiedenen Schriftsystemen erschienen

sind, zu klassifizieren. Bei den Dialekten ist es ähnlich, es gibt verschiedene

kurdische Dialekte oder Sprachen und die Bibliotheken sagen im Allgemeinen nicht,

um welchen Dialekt es sich handelt. Und außerdem ist das Schriftsystem

unabhängig vom Dialekt – zu einem großen Teil. Sie haben Bücher, die in kurmanç,

also dem türkischen Kurdisch geschrieben wurden, und die in kyrillischer,

lateinischer oder arabischer Schrift vorliegen. Je nachdem, wo sie veröffentlicht

worden sind. Im Norden des irakischen Kurdistans gibt es eine Zone, in der Kurmanç

gesprochen wird und wo die Bücher im arabo-persischen Alphabet vorliegen. Die

Sprachgrenzen sind also nicht deckungsgleich mit der Ausbreitung einer bestimmten

Schrift. Nur die Grenzen der verschiedenen Schriftsysteme entsprechen in etwa den

politischen Grenzen.

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Sprecher 1:

2014 und 2015 hat sich Kendal Nezan mit mehreren Aufrufen an die internationale

Gemeinschaft gewandt und eine stärkere Unterstützung der Kurden im Kampf gegen

den Islamischen Staat gefordert. Er bedauert die zögerliche Haltung Europas

gegenüber einem Land wie Saudi Arabien, das sich weigere Flüchtlinge aus Syrien

oder dem Irak aufzunehmen und stattdessen in aller Welt Moscheen baue, in denen

eine radikale Form des Islam gepredigt werde. Jeder verfolge seine Interessen im

Nahen Osten, meint der Direktor des kurdischen Instituts, der Iran, Saudi-Arabien,

die Türkei. Die einzigen, die sich bei der Verteidigung ihre Werte schwer täten, seien

die Europäer. Das Handeln überlasse man lieber den Amerikanern.

O-Ton Kendal Nezan

Alors que là, c'est notre avenir commun puisque Daech frappe en France, Daech peut frapper en Italie, en Allemagne ou ailleurs, c'est notre avenir commun, et il faut vraiment faire un effort. On n'a plus la génération des hommes politiques qui avaient une grande vision géopolitique comme celle de Churchill, de Gaulle, Roosevelt ... même plus tard, comme Olof Palme, Willy Brandt. C'étaient des gens qui avaient une vision planétaire. Et là, on est en train de bricoler, au jour le jour, on réagit, on n'a pas un plan d'action, on réagit à l'événement. On va décréter trois jours de deuil national, quelques discours, quelques bombardements, mais on n'a pas un plan d'action. Ça c'est dommage, donc la France n'est pas le seul dans ce cas là. Je pense qu'il faudrait en prendre conscience et il faudrait qu'au niveau européen il y a une décision commune. Il faut défendre nos valeurs dans les médias, dans des publications ... aider les démocrates sur place et puis aider ceux qui se battent les armes à la main contre ces barbares ... ça peut faire la différence. Si les Kurdes avaient les armements nécessaire, depuis 2014 Daech ne serait plus à Mosul ni nulle part.

Sprecher 2:

Es geht um unsere gemeinsame Zukunft: Der Islamische Staat verübt Anschläge in

Frankreich, er kann in Italien oder in Deutschland oder anderswo zuschlagen, das

betrifft uns alle und wir müssen wirklich etwas tun. Aber die Generation von Politikern

mit großen geopolitischen Visionen existiert nicht mehr, wie Churchill, de Gaulle,

Roosevelt und auch später noch Olof Palme, Willy Brandt, Menschen mit Visionen

für den ganzen Planeten. Heute wird von Tag zu Tag entschieden, ohne jeden Plan

wird mit Lösungen experimentiert, man reagiert nur noch auf die Ereignisse. Da

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werden drei Tage nationale Trauer erklärt, ein paar Reden gehalten, ein paar

Bomben abgeworfen, aber es gibt keinen wirklichen Plan. Das ist schade, und das ist

nicht nur in Frankreich so. Die Europäer müssen sich ihrer Werte bewusst werden

und gemeinsame Entscheidungen fällen. Wir müssen unsere Werte in den Medien,

in Publikationen verteidigen, den Demokraten vor Ort helfen und denen helfen, die

mit der Waffe in der Hand gegen die Barbaren kämpfen. Dann würden sich die Dinge

ändern. Wenn die Kurden die notwendigen Waffen gehabt hätten, wäre der IS schon

2014 aus Mossul und den anderen Städten vertrieben worden.

Sprecher 1:

Die Brutalität liege nicht in der Natur des Menschen, meint Bachtyar Ali bei unserem

Gespräch in Köln. Es seien die religiösen Dogmen und die Ideologien in unseren

Köpfen, denen wir glaubten unbedingt folgen zu müssen, die immer wieder

unsägliches Leid verursachten. Und die Politik instrumentalisiere diese

Überzeugungen für ihre eigenen Zwecke. Auch er findet, dass Europa die Werte

einer toleranten, weltoffenen Gesellschaft offensiver verteidigen sollte.

O-Ton Bachtyar Ali

Europa ist ein Modell für die ganze Menschheit. Wenn diese Modell ääääh…kollapst

oder oder halt nicht richtig funktioniert, das hat eine katastrophale Folgen für alle

anderen Nationen. Und deswegen, wir müssen alle versuchen, die Welt zu retten,

und die Welt zu retten ist nicht ein politischer Projekt. Die Politik allein kann die Welt

nicht retten. Aber die Katastrophe ist nun, die Politik ist unbeeinflussbar geworden.

Weil wir können durch Literatur oder Kunst oder Philosophie die Politik nicht mehr

beeinflussen. Und das ist sehr gefährlich, und das hat aus der Politik ein Monster

gemacht.

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Sprecher 1:

Der Kampf zwischen Fundamentalismus und Pluralismus, der jetzt auch Europa

erreicht habe, könne nicht allein auf militärischer Ebene gewonnen werden, meint

auch Kendal Nezan. Er findet es sehr gefährlich, dass die Stimme des Westens im

Orient nicht mehr zu hören sei. Deshalb bemüht sich das kurdische Kulturinstitut in

Paris seit Jahrzehnten, wesentliche Werke der Weltliteratur, der Philosophie und der

Geschichtsforschung in Übersetzungen den Menschen vor Ort zugänglich zu

machen. Auf der Webseite des Instituts gibt es eine monatliche Zusammenstellung

internationaler Presseartikel, die sich kritisch mit der Lage im Nahen Osten

auseinandersetzen.

O-Ton Kendal Nezan

Si on veut empêcher un retour à la barbarie ou une période d'ensauvagement, d'irrationalité, la seule manière c'est vraiment la science, la culture ... les armes de l'esprit qui peuvent développer des nouvelles idées ... des idées de tolérance, de pluralisme... c'est ça la bataille maintenant, c'est entre le fanatisme et le pluralisme. Les pays occidentaux restent un isolat - de plus en plus attaqué d'ailleurs - de ces valeurs de pluralisme ... grace auxquelles on se sent libre et heureux de vivre dans ces pays là. On ne peut l'apprécier que quand on a vécu dans des pays où constamment la police, l'armée, des arrestations pour un oui ou un non. Il y a un effort collectif à faire, mais malheureusement on n'en ai même pas encore au stade de prise de conscience collective et quand il n'y a de prise de conscience, il n'y a pas de décisions.

Sprecher 2:

Wenn wir eine Rückkehr zur Barbarei und den Rückfall in eine Epoche der Bestialität

und der Irrationalität verhindern wollen, dann brauchen wir die Wissenschaft und die

Kultur, die Waffen des Geistes, die neue Ideen hervorbringen, die Toleranz und

Pluralismus entwickeln helfen. Denn darum dreht sich der Kampf heute, um eine

Schlacht zwischen Fanatismus und Pluralismus. Die westlichen Länder sind wie eine

Insel des Pluralismus - die übrigens zunehmend angegriffen wird - auf der man

immer noch frei und glücklich leben kann. Ich glaube, das kann man nur wirklich

schätzen, wenn man in Ländern gelebt hat, wo man für ein Ja oder ein Nein von der

Polizei oder der Armee verhaftet werden kann. Wir brauchen eine gemeinsame

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Anstrengung, aber leider sind wir uns dessen immer noch nicht bewusst, und wo das

Bewusstsein fehlt, gibt es keine Entscheidung.

Absage

Sprecher 5:

106, Rue de la Fayette, Paris

Über die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft im Brennpunkt vielfältiger Kulturen

Ein Dossier von Harald Brandt

Es sprachen:

Hendrik Stickan, Bodo Primus, Jean Paul Baeck, Martin Bross und Bernd Reheuser

Ton und Technik: Michael Morawitz, Christoph Schumacher

Regie und Redaktion: Birgit Morgenrath

Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.