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Inhalt DIDAKTISCHE BEITRÄGE Zivilrecht Die Legitimationswirkung der Gesellschafterliste – Teil 1 Von Stud. iur. Nabil Ismail, Bremen 412 Grundwissen zum Urheberrecht – Teil 1 Von Wiss. Mitarbeiter Julian Kanert, Wiss. Mitarbeiterin Stefanie Meyer, Chemnitz 419 Strafrecht Zur Darstellung der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) in der Fallbearbeitung Zugleich Anm. zu BGH, Beschl. v. 26.3.2019 – 4 StR 381/18 = NStZ-RR 2019, 203 Von RiOLG Prof. Dr. Dennis Bock, Kiel 427 Grundzüge der strafrechtlichen Konkurrenzlehre (§§ 52 ff. StGB) – Teil 2 Von Stud. iur. Jan Bauerkamp, Stud. iur. Jean-Marc Chastenier, Bielefeld 432 ÜBUNGSFÄLLE Zivilrecht Fortgeschrittenenklausur Arbeitsrecht: Trainerwechsel Von Wiss. Mitarbeiter Johannes Götz, Regensburg 441 Öffentliches Recht Examensklausur: Staatshaftungsrecht – Folgenreiche Ermittlungsmaßnahmen Von Prof. Dr. Matthias Friehe, Ref. iur. Aurelia Philine Birne, Wiesbaden 447

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Inhalt DIDAKTISCHE BEITRÄGE Zivilrecht

Die Legitimationswirkung der Gesellschafterliste – Teil 1 Von Stud. iur. Nabil Ismail, Bremen 412

Grundwissen zum Urheberrecht – Teil 1 Von Wiss. Mitarbeiter Julian Kanert, Wiss. Mitarbeiterin Stefanie Meyer, Chemnitz 419

Strafrecht

Zur Darstellung der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) in der Fallbearbeitung Zugleich Anm. zu BGH, Beschl. v. 26.3.2019 – 4 StR 381/18 = NStZ-RR 2019, 203 Von RiOLG Prof. Dr. Dennis Bock, Kiel 427

Grundzüge der strafrechtlichen Konkurrenzlehre (§§ 52 ff. StGB) – Teil 2 Von Stud. iur. Jan Bauerkamp, Stud. iur. Jean-Marc Chastenier, Bielefeld 432

ÜBUNGSFÄLLE Zivilrecht

Fortgeschrittenenklausur Arbeitsrecht: Trainerwechsel Von Wiss. Mitarbeiter Johannes Götz, Regensburg 441

Öffentliches Recht

Examensklausur: Staatshaftungsrecht – Folgenreiche Ermittlungsmaßnahmen Von Prof. Dr. Matthias Friehe, Ref. iur. Aurelia Philine Birne, Wiesbaden 447

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Inhalt (Forts.) 5/2020 ÜBUNGSFÄLLE Öffentliches Recht

Fortgeschrittenenhausarbeit: Parteimitglieder im Schützenverein Von Wiss. Mitarbeiter Thomas Kemper, Ref. jur. Leon Heuschen, Trier 454 Fortgeschrittenenklausur: Gemeinde – Staat – Haftung? Von Ass. iur. Justin Friedrich Krahé, LL.B. (UCL), Heidelberg 462

Strafrecht

Anfängerklausur: Die missglückte Cold-Water-Challenge Von Wiss. Mitarbeiter Ass. iur. Patrick Pörtner, Osnabrück 469

ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN Strafrecht

EuGH, Urt. v. 17.1.2019 – C-310/16 (Nationale Beweisverwertungsverbote und unions- rechtliches Effektivitätsgebot) (Prof. Dr. Martin Böse, Bonn) 476

BGH, Urt. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20 (Versuchsbeginn beim Diebstahl einer mit Schutz- mechanismen gesicherten Sache) (Prof. Dr. Thomas Rotsch, Gießen) 481

ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN Zivilrecht

BGH, Urt. v. 13.3.2020 – V ZR 33/19 (Ende der fiktiven Schadensberechnung?) (Wiss. Mitarbeiter Benedikt Bielefeld, Bochum) 490 Strafrecht

OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20 (Kontaktloses Bezahlen mit EC-Karte ohne PIN-Abfrage) (Prof. Dr. Michael Heghmanns, Münster) 494

BGH, Beschl. v. 14.4.2020 – 5 StR 10/20 (Gewahrsam an zurückgelassenen Sachen) (Wiss. Mitarbeiter Jan Rennicke, Göttingen) 499

REZENSIONEN Zivilrecht

Wörlen, Rainer/Schindler, Sven/Balleis, Kristina, Anleitung zur Lösung von Zivilrechtsfällen, 10. Aufl. 2020 (Prof. Dr. Kai E. Wünsche, Meißen) 502

Strafrecht

Engländer, Armin, Examens-Repetitorium Strafprozess- recht, 10. Aufl. 2020 (Generalstaatsanwalt Thomas Harden, Köln) 503

Inhalt AUFSÄTZE Strafrecht Der zivilrechtliche Charakter der Sportwette Von Prof. Dr. Gerd Müller 1

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Inhalt (Forts.) 5/2020 REZENSIONEN Strafrecht

Roxin, Claus/Greco, Luís, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, Grundlagen, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 5. Aufl. 2020 (Wiss. Mitarbeiter Henning Lorenz, M.mel., Halle- Wittenberg) 505

VARIA Zivilrecht

Evidenzbasierte Examensvorbereitung Zivilrechtliche Lösungsskizzen „auf Distanz“ gelesen Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Dr. Hanjo Hamann, J.S.M. (Stanford), Bonn/Berlin 507

Inhalt AUFSÄTZE Strafrecht Der zivilrechtliche Charakter der Sportwette Von Prof. Dr. Gerd Müller 1

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 412

Die Legitimationswirkung der Gesellschafterliste – Teil 1 Von Stud. iur. Nabil Ismail, Bremen I. Einleitung Ein Blick zurück in die Zeit vor dem Inkrafttreten des Mo-MiG1 zeigt, dass es die Gesellschafterliste schon gab, sie jedoch ein Schattendasein führte.2 Nunmehr ist sie der neue „Star des GmbH-Rechts“3 und zählt zu den wichtigsten Do-kumenten der Gesellschaft.4 Zu verdanken hat sie den Zu- gewinn an Popularität vor allem ihrer Funktion als Legitima-tionsgrundlage gegenüber der Gesellschaft (§ 16 Abs. 1 GmbHG) und der Eigenschaft als Rechtsscheingrundlage für einen gutgläubigen Erwerb (§ 16 Abs. 3 GmbHG). Natur- gemäß sah sich auch die Rechtsprechung mit den neu ent-standen Streitfragen konfrontiert. Allein der BGH hat in den letzten Jahren über sechs Mal ausführlich Stellung nehmen müssen, während die Oberlandesgerichte über 30 Entschei-dungen publizierten.5 In den beiden vergangenen Jahren ha- ben vor allem zwei weitere Entscheidungen des BGH über die Gesellschafterliste in Bezug auf die Einziehung von Ge-schäftsanteilen für Aufsehen gesorgt.6 Dadurch hat auch die Vorschrift über die Anteilseinziehung, die seit 125 Jahren un- verändert Bestand hat, an einer gewissen Dynamik gewon-nen.7 Insbesondere die Frage, unter welchen Voraussetzun-gen der von einer Einziehung Betroffene gegen den Verlust seiner Legitimation einstweiligen Rechtsschutz beantragen kann, gehört zu den aktuell umstrittensten Themen des GmbH-Rechts.8 Die jüngste Judikatur bietet folglich Anlass, die Reichweite und Grenzen der rechtlichen Wirkungen der Gesellschafterliste zu vermessen. II. Die Gesellschafterliste 1. Überblick Beginnend mit der Gründung einer GmbH bedarf es zu ihrer Entstehung einer konstitutiven Eintragung ins Handels- register,9 bei der von sämtlichen Geschäftsführern eine unter-zeichnete Liste aller Gesellschafter einzureichen ist, § 8 Abs. 1 Nr. 3 GmbHG. Diese Gesellschafterliste muss den Vorgaben des § 40 GmbHG entsprechen und folglich Name, Geburtsdatum, Wohnort und die Nennbeträge des Geschäfts-anteils sowie die prozentuale Beteiligung am Stammkapital enthalten. Die Inhaltsangaben sind dabei enumerativ und kön- nen nicht freiwillig ergänzt werden.10 Angesichts der freien 1 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Be-kämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23.10.2008, BGB1. I 2008, S. 2026. 2 Römermann, GmbHR 2015, 1214 (1216). 3 Lieder, GmbHR 2016, 189 (189). 4 Seibt, in: Scholz, Kommentar zum GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 40 Rn. 9. 5 Wachter, GmbHR 2018, 1129 (1132 m.w.N.). 6 BGH GmbHR 2019, 335; BGH NJW 2019, 3155. 7 Kleindiek, GmbHR 2017, 815 (815). 8 Lieder/Becker, GmbHR 2019, 505 (505 m.w.N.). 9 Herrler, in: Münchener Kommentar zum GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 7 Rn. 9. 10 BGH GmbHR 2015, 526.

Veräußerlich- und Vererblichkeit von Geschäftsanteilen, ist der Geschäftsführer gemäß § 40 GmbHG verpflichtet, nach Wirksamwerden jeder Änderung in den Personen der Gesell-schafter oder des Umfangs ihrer Beteiligung, unverzüglich eine korrigierte Gesellschafterliste zum Handelsregister ein-zureichen. Die Liste wird dabei nicht im Handelsregister ein- getragen,11 sondern vielmehr durch Speicherung im dafür vorgesehenen Registerordner aufgenommen (vgl. § 9 Abs. 1 HRV).12 Die Einreichung einer geänderten Liste durch den Geschäftsführer erfolgt grundsätzlich auf Mitteilung und Nachweis, sodass es dem betreffenden Gesellschafter obliegt, die Veränderung anzuzeigen und darzulegen.13 Ausnahms-weise kann eine derartige Anzeige entbehrlich sein, wenn der Geschäftsführer aufgrund seiner amtlichen Stellung Kenntnis von der Veränderung erlangt.14 Dies ist regelmäßig der Fall, wenn er, wie beispielsweise bei der Zwangseinziehung von Geschäftsanteilen,15 an der Veränderung mitgewirkt hat.16

Ist in die Veränderung ein Notar involviert, hat dieser, anstelle der Geschäftsführung, die Pflicht zur Einreichung. Der Notar kommt dabei einer ihm obliegenden Amtspflicht nach.17 Bleibt er somit unbegründet untätig, besteht die Mög-lichkeit einer Beschwerde nach § 15 Abs. 2 BNotO oder die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nach § 19 BNotO.18 Daneben ist der Geschäftsführer zwar nicht sub-sidiär verpflichtet,19 aber gegebenenfalls berechtigt, die Ein-reichung selbst vorzunehmen.20 2. Historie und Normzweck Seit dem Inkrafttreten des GmbHG im Jahre 1892 hat die Gesellschafterliste erstmals durch die MoMiG-Reform am 1.11.2018 signifikant an Bedeutung gewonnen.21 Mit dem Ziel der Missbrauchsbekämpfung22 sollte durch die laufende Einreichungspflicht die Authentizität der Liste gefördert wer- den.23 Durch das Gesetz zur Umsetzung der Vierten EU-Geld- wäscherichtlinie erfolgte eine zusätzliche Erweiterung des

11 Kort, GmbHR 2009, 169 (171). 12 KG GmbHR 2012, 686 (687). 13 Bayer, in: Lutter/Hommelhoff, Kommentar zum GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 16 Rn. 21. 14 Heidinger, in: Münchener Kommentar zum GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 40 Rn. 152. 15 OLG Frankfurt GmbHR 2017, 868 (871). 16 Heidinger (Fn. 14), § 40 Rn. 161, 168. 17 BGH NZG 2011, 516 (517). 18 Fischer, GmbHR 2018, 1257 (1259). 19 OLG München GmbHR 2009, 825 (826 f.); OLG München GmbHR 2017, 523 (525). 20 BGHZ 199, 270 (277). 21 Seibt, in: Münchener Anwaltshandbuch zum GmbH-Recht, 4. Aufl. 2018, § 2 Rn. 231a; Wachter, GmbHR 2018, 1129 (1129). 22 RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 37; Noack, DB 2006, 1145 (1477). 23 Heidinger (Fn. 14), § 40 Rn. 2.

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Die Legitimationswirkung der Gesellschafterliste – Teil 1 ZIVILRECHT

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ZJS 5/2020 413

zwingenden Listeninhalts,24 der durch die Gesellschafterlis-tenordnung 2018 weiter ausgestaltet wurde. Historisch sollte die Liste dogmatisch an das Aktienregister25 und das Grund-buch des Liegenschaftsrechts angenähert werden.26 Insbeson-dere die Legitimationswirkung der Gesellschafterliste wurde an die Regelungsstruktur des Aktienregisters angelehnt.27 Die Funktion als Rechtsscheingrundlage ist im Aktienregister hingegen nicht vorgesehen,28 findet sein Vorbild jedoch zu Teilen im Grundbuch.29 Divergierend stellt die Eintragung in die Gesellschafterliste gleichwohl keine Wirksamkeitsvoraus- setzung für die Übertragung von Gesellschaftsanteilen dar.30 Die Liste wird daher vom Registergericht anders als das Grundbuch nur verwahrt und abgesehen von der formellen Prüfungspflicht31 nicht bezüglich ihrer materiellen Richtig-keit überprüft.32 Demzufolge geht die Annahme eines „klei-nen Grundbuchs“33 fehl.

Rückblickend steuerten die gesetzlichen Neuerungen er-heblich zur Erhöhung des Richtigkeits- und Transparenz- niveaus bei.34 Vorwiegend begründet die Liste de lege lata die Legitimation des Gesellschafters gegenüber der Gesell-schaft. Die Gesellschaft kann daher anhand eines formellen Tatbestandes erkennen, wen sie zu Gesellschafterversamm-lungen zu laden hat und wer Schuldner von noch bestehenden Einlageansprüchen ist.35 Befriedigt wird ferner das Informa-tionsinteresse Dritter, welche sich über die Gesellschafter- struktur Gewissheit verschaffen können.36 Jede Veränderung in der Gesellschafterstruktur vom aktuellen Stand bis zurück zur Gründung der Gesellschaft kann nachvollzogen werden.37 Schließlich fungiert die Liste als Publizitätsträger und bietet die Grundlage für einen Rechtsscheinerwerb.38

24 Altmeppen, in: Roth/Altmeppen, Kommentar zum GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 40 Rn. 2. 25 RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 37; Westphal, in: Systemati-scher Praxiskommentar zum GmbH-Recht, 3. Aufl. 2019, § 16 Rn. 3. 26 Servatius, in: Baumbach/Hueck, Kommentar zum GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 40 Rn. 3. 27 RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 37. 28 Bayer, in: Liber amicorum für M. Winter, 2011, S. 9 (15). 29 RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 38. 30 Noack, in: Festschrift für U. Hüffer, 2010, S. 723 (725); Terlau, in: Michalski u.a., Kommentar zum GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 40 Rn. 1. 31 BGHZ 199, 270 (276). 32 OLG Frankfurt a.M. GmbHR 2011, 823 (825); BGHZ 199, 270 (276). 33 Mayer, MittBayNot 2014, 24 (25); Vossius, DB 2007, 2299 (2299). 34 Heckschen, NZG 2019, 1097 (1097); RegE, BT-Drs. 16/ 6140, S. 37. 35 RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 37; Wiersch, NZG 2015, 1336 (1336). 36 OLG Köln GmbHR 2014, 29. 37 Keil, DZWIR 2019, 315 (316). 38 Omlor/Spies, MittBayNot 2011, 353 (355).

3. Korrektur einer fehlerhaften Liste Tritt eine Veränderung im Sinne des § 40 GmbHG ein oder stellt sich die Liste nachträglich als fehlerhaft heraus, kann der zu Unrecht nicht eingetragene Gesellschafter, korrespon-dierend zur Einreichungspflicht, seine Aufnahme in die Ge-sellschafterliste verlangen.39 Um nach der Eintragung legiti-miert zu bleiben, hat er zudem erwachsend aus dem Mitglied-schaftsverhältnis einen Anspruch darauf, dass die Gesell-schaft bereits eine fehlerhafte Korrektur der Liste zu seinen Lasten unterlässt.40 Umgekehrt ist angesichts des (nachwir-kenden) Mitgliedschaftsverhältnisses der zu Unrecht Einge-tragene berechtigt, seine Löschung aus der Liste zu fordern.41 Gleichermaßen muss der vermeintliche Erwerber gemäß §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB die Möglichkeit haben bereits sei- ne Eintragung in die Gesellschafterliste zu unterbinden, wenn er seine materielle Gesellschafterstellung bestreitet.42 Der Korrektur-/Unterlassungsanspruch richtet sich dabei nicht ge- gen den Geschäftsführer selbst,43 sondern gegen die Gesell-schaft.44 Das ergibt sich daraus, dass es sich um eine mit-gliedschaftliche Verpflichtung zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter handelt.45 Zwar obliegt dem Geschäfts-führer kraft Gesetz die höchstpersönliche Einreichungspflicht, dies rührt jedoch allein aus seiner Eigenschaft als Organ der Gesellschaft her.46 Gegen den Notar hingegen kommt ein unmittelbarer Anspruch aufgrund seiner amtlichen Funktion nicht in Betracht.47 Dementsprechend kann ihm auch die Listeneinreichung nicht untersagt werden.48

Stellt sich die Gesellschafterliste nachträglich als fehler-haft heraus, kann der Geschäftsführer trotz mangelnder Nach- prüfungspflicht auch eigenhändig zur Korrektur berechtigt und unter Umständen verpflichtet sein, wenn ihm die Unrich-tigkeit positiv bekannt wird.49 Gerichtet ist diese Befugnis allein auf den status quo ante,50 sodass er nicht zu eigenmäch-tigen Veränderungen zur Bestreitung der Listenposition des Gesellschafters bemächtigt ist.51 Hält er die Listenlage indes-sen nur für zweifelhaft, ist die Streitfrage den Prätendenten

39 RegE, BR-Drs. 354/07, S. 86; OLG Thüringen GmbHR 2013, 1258 (1259); OLG Hamm GmbHR 2014, 935 (937). 40 Wagner, GmbHR 2016, 463 (467); Fischer, GmbHR 2018, 1257 (1260); Bayer, in: Festschrift für Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 35 (40). 41 Ebbing, in: Michalski u.a., Kommentar zum GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 16 Rn. 85; RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 38. 42 Vgl. RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 38; Altmeppen (Fn. 24), § 16 Rn. 51 f.; parallel zum Aktienrecht: Bayer, in: Münche-ner Kommentar zum AktG, 5. Aufl. 2019, § 67 Rn. 146. 43 Unzutreffend Hasselmann, NZG 2009, 486 (489). 44 KG Berlin GmbHR 2019, 937; Fischer, GmbHR 2018, 1257 (1260); Bayer (Fn. 40), S. 40. 45 Lieder, GmbHR 2016, 189 (191). 46 KG Berlin GmbHR 2019, 937. 47 Bayer (Fn. 13), § 40 Rn. 59. 48 Heidinger (Fn. 14), § 40 Rn. 141. 49 Bayer (Fn. 13), § 40 Rn. 54. 50 Bayer (Fn. 13), § 40 Rn. 5. 51 OLG Rostock GmbHR 2017, 523.

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DIDAKTISCHE BEITRÄGE Nabil Ismail

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zu überlassen.52 Die Zuständigkeit des Geschäftsführers zur Korrektur besteht jedenfalls für fehlerhafte, eigens von ihm eingereichte Listen,53 aber auch für welche, die vom Notar übergeben worden sind.54 Bevor der Geschäftsführer tätig wird, hat er den Betroffenen entsprechend § 67 Abs. 5 AktG Möglichkeit zur Stellungnahme zu gewähren.55 Allerdings besteht kein dem Grundbuch entsprechendes formelles Kon-sensprinzip.56 Daher führt ein Widerspruch des Betroffenen nicht unmittelbar zur Verwehrung der Korrekturbefugnis.57 Für die Durchsetzung des Korrekturanspruchs des Gesell-schafters hat dies den prozessualen58 Vorteil, dass die Zu-stimmung des Eingetragenen nicht einzuholen ist. III. Legitimationswirkung Das Rechtsverhältnis der Gesellschaft zum Gesellschafter nach einem Beteiligungswechsel wird durch § 16 Abs. 1 GmbHG geregelt. Demzufolge gilt im Fall einer Veränderung nur derjenige als Inhaber eines Geschäftsanteils, der als sol-cher in der Gesellschafterliste eingetragen ist. Die Gesell-schafterliste bildet folglich die ausschließliche Legitimations- grundlage für die Stellung des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft.59 1. Anwendungsbereich Die Norm bezieht sich korrespondierend zu § 40 GmbHG wortgemäß auf jede Form der Veränderung in der Person des Gesellschafters oder des Umfangs ihrer Beteiligung. Unter dem Begriff der Veränderung ist demnach jede Abweichung von den Angaben in der aktuellen Gesellschafterliste zu ver-stehen.60 Darunter fallen insbesondere die rechtsgeschäftli-chen Änderungen im Wege der Einzelrechtsnachfolge, wie die Abtretung des Geschäftsanteils. Die der Übertragung zugrundeliegende causa ist dabei grundsätzlich unbeachtlich, sodass auch Veränderungen ipso iure vom Anwendungs- bereich umfasst sind. Dazu zählen vor allem die Gesamt-rechtsnachfolge, die Anwachsung, aber auch die Begründung einer Gütergemeinschaft.61 Veränderungen im Umfang des Geschäftsanteils spielen in der Praxis regelmäßig keine eigen-ständige Rolle, da sie in den meisten Fällen mit einem Betei-ligungswechsel einhergehen.62

52 OLG München GmbHR 2015, 1214. 53 Heidinger (Fn. 14), § 40 Rn. 181. 54 BGH GmbHR 2014, 198 (203 f.); a.A. Tebben, DB 2014, 585 (585). 55 RegE, BR-Drs. 354/07, S. 102. 56 Lieder, GmbHR 2016, 271 (274); a.A Frankfurt a.M. ZIP 2013, 1429 (1431). 57 BGH GmbHR 2014, 198 (202). 58 Lieder, GmbHR 2016, 189 (192). 59 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 5; Lieder/Becker, GmbHR 2019, 441 (441). 60 RegE, BR-Drs. 354/07, S. 86. 61 Löbbe, in: Habersack u.a., Kommentar zum GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 16 Rn. 23.; Bayer (Fn. 13), § 40 Rn. 36. 62 Hasselmann, NZG 2009, 486 (490).

Einen Sonderfall stellt die Einziehung von Geschäfts- anteilen dar. Anteile einer GmbH können gemäß § 34 GmbHG eingezogen werden, wenn dies in der Satzung, unter der Vo-raussetzung eines hinreichenden wichtigen Grundes, vorgese- hen ist.63 Anders als bei der Einzel- oder Gesamtrechtsnach-folge, führt die Einziehung mit Beschlussmitteilung64 zum Untergang des Geschäftsanteils mit all seinen Rechten und Pflichten.65 In der Praxis ist die sog. Zwangseinziehung66 daher ein probates Mittel, um sich von missliebigen Gesell-schaftern zu trennen67 und beinhaltet ein erhebliches Miss-brauchspotential.68 Trotz des durch die Vernichtung denkbar schwersten Eingriffs in das Mitgliedschaftsrecht des Gesell-schafters,69 überrascht es, dass der Einziehungsbeschluss nicht an besondere Formvorschriften gebunden ist. Der von der Einziehung Betroffene kann somit ad hoc „ausgebootet“70 werden. Diese invasive Rechtsfolge erscheint nichtsdestotrotz regelmäßig gerechtfertigt, da der Gesellschaft das Verbleiben des Gesellschafters, in dem ein wichtiger Grund vorliegt (sog. „Störenfried“),71 oftmals nicht länger zugemutet werden kann.72 Angesichts dieser Rollenverteilung ist es nicht ver-wunderlich, dass teilweise versucht wurde, die Einziehung eines Geschäftsanteils vom Anwendungsbereich der Legiti-mationswirkung auszuklammern.73 Die Legitimationswirkung sei bereits tatbestandlich auf die vertraglichen oder gesetzli-chen Übertragungsakte beschränkt74 und diene zudem der Prävention von Missbräuchen, die ohnehin bei der Vernich-tung von Geschäftsanteilen nicht in Betracht kommen kön-nen.75 Wiederum andere Stimmen wollten eine Durchbrechung der Legitimationswirkung nur bei Nichtigkeit des Einzie-hungsbeschlusses und Kenntnis des Gesellschafters davon,76 bei Widerspruch des betroffenen Gesellschafters,77 bei Amor-tisation von Mehrheitsbeteiligungen78 oder bei einem gericht-

63 Westphal (Fn. 25), § 34 Rn. 5, 6. 64 BGHZ 192, 236; zuvor anders: OLG Frankfurt NJW-RR 1997, 612 f.; OLG Hamm NZG 1999, 597 (598); OLG Köln NZG 1999, 1222: „Bedingungslösung“. 65 BGH ZIP 1998, 1836. 66 Gemeint ist damit die Einziehung gegen den Willen des betroffenen Gesellschafters gemäß § 34 Abs. 2 GmbHG. 67 Kleindiek, in: Lutter/Hommelhoff, Kommentar zum GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 34 Rn. 1. 68 Heckschen, NZG 2019, 1097 (1097). 69 Rose, NZG 2018, 1247 (1250). 70 Kleindiek, GmbHR 2017, 815 (815). 71 BGHZ 9, 57 (159). 72 Vgl. Wachter, DB 2019, 2058 (2058). 73 Dieser Ansicht nur Menkel, NZG 2018, 891; Pentz, in: Fest- schrift für Reinard Marsch-Barner, 2018, S. 431 (444 f.). 74 Pentz (Fn. 73), S. 445. 75 Menkel, NZG 2018, 891 (893). 76 Wagner, Der Status des GmbH Gesellschafters nach der Zwangseinziehung, 2015, S. 186 f. 77 Kamiyar-Müller, Die fehlerhafte Zwangseinziehung von Geschäftsanteilen bei der GmbH, 2015, S. 225. 78 Otto, GmbHR 2018, 123 (133 f.).

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Die Legitimationswirkung der Gesellschafterliste – Teil 1 ZIVILRECHT

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lichen Prozess gegen den Einziehungsbeschluss annehmen.79 Zutreffend80 hat sich die Rechtsprechung bewusst gegen jene Versuche den Grundsatz der Legitimationswirkung zu durch-brechen, entschieden81 und ist der bis dahin herrschenden Meinung gefolgt.82 Maßgeblich ist demnach allein der Inhalt der Gesellschafterliste.83 Die Legitimationswirkung gilt wort- gemäß gerade bei jeder Veränderung unabhängig vom Rechts-grund.84 Dass auch die Einziehung eine derartige Verände-rung darstellt, wird ausdrücklich durch die Gesellschafter- listenverordnung (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 GesLV) bestätigt.85 Die Vernichtung des Anteils steht der Vermutungswirkung eben-falls nicht entgegen, da sie in derartigen Fällen nicht etwa zum Entstehen eines scheinbaren Geschäftsanteils führt, son- dern vielmehr bewirkt, dass ein früher schon bestandener An- teil fiktiv fortbesteht.86 Ein Widerspruch zum Normzweck ist daneben nicht zu erkennen, da gerade die Gesellschafter- struktur formell abgebildet werden soll, ohne sie von kom-plexen materiellen Rechtsfragen abhängig zu machen.87

Im Gegensatz zum alten Recht umfasst der Anwendungs-bereich folglich jede eingetragene Veränderung zusammen mit der Gründerliste.88 Daher sind Belastungen eines Geschäfts-anteils mit dinglichen Rechten, wie Verpfändungen und Nieß-brauch mangels Eintragungsfähigkeit89 von der Legitimations- wirkung weiterhin ausgenommen. 90

2. Rechtsstellung des Eingetragenen gegenüber der Gesell-schaft Durch die Gesellschafterliste wird der Eingetragene gegen-über der Gesellschaft als Gesellschafter legitimiert.91 Die Liste bewirkt somit, dass nach einer Veränderung in der Per-son des Gesellschafters nur derjenige, der in der Liste einge-tragen ist, von der Gesellschaft als Gesellschafter zu behan-deln ist (positive Legitimationswirkung), weshalb auch von einer formellen Legitimationswirkung gesprochen wird.92 Dogmatisch begründet die Eintragung die unwiderlegbare Vermutung93 der umfassenden Gesellschafterstellung.94 Die 79 Maier-Reimer, in: Festschrift für R. Marsch Barner, 2018, S. 335 (344 f.). 80 Keil, DZWIR 2019, 315 (317). 81 BGH GmbHR 2019, 335; BGH NJW 2019, 3155. 82 Keil, DZWIR 2019, 315 (316); Damm, BWNotZ 2017, 2 (2); Servatius (Fn. 26), § 16 Rn. 4; Bayer (Fn. 13), § 40 Rn. 14; Kleindiek, GmbHR 2017, 815 (816). 83 BGH GmbHR 2019, 335. 84 BGH GmbHR 2019, 335 (338). 85 Wachter, GmbHR 2018, 1129 (1138). 86 BGH GmbHR 2019, 335 (338). 87 BGH GmbHR 2019, 335 (337). 88 Servatius (Fn. 26), § 16 Rn. 4; Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 30. 89 Bayer, GmbHR 2012, 1 (5). 90 Seibt (Fn. 4), § 16 Rn. 20. 91 Löbbe, GmbHR 2016, 141 (141). 92 Cramer/Koch, DStR 2020, 664 (664); Kleindiek, GmbHR 2017, 815 (815). 93 Unzutreffend Seibt (Fn. 4), § 16 Rn. 6: „Fiktion“. 94 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 6.

Vermutungswirkung bezieht sich daher auf sämtliche Gesell-schafterrechte, die ausschließlich vom Eingetragenen geltend gemacht werden können. Ihm stehen insbesondere die damit verbundenen Teilhabe- und Vermögensrechte zu.95 Darunter fallen auch das Stimmrecht und das Recht auf Ladung und Teilnahme zur Gesellschafterversammlung. Für die Gesell-schaft folgt daraus, dass sie den formell gelisteten Gesell-schafter zur Gesellschafterversammlung zu laden hat, da ansonsten sämtliche Beschlüsse analog § 241 Nr. 1 AktG nichtig wären.96 Angesichts der umfassenden Gesellschafter-stellung kann der Eingetragene unbeschränkt weitreichende Geschäftsführungsentscheidungen treffen, sowie Änderungen in der Satzung oder der Gesellschafterstruktur vornehmen.97 Die Legitimationswirkung gilt indes nicht nur aktiv zuguns-ten des Eingetragenen, sondern gleichermaßen passiv zu sei- nen Lasten .98 Daher trägt der Eingetragene gegenüber der Gesellschaft neben den Rechten auch die Pflichten aus der Rechtsstellung.99 Er haftet somit bereits aufgrund seiner Ge-sellschaftereigenschaft für alle Einlageverpflichtungen, die nach seiner Eintragung fällig werden.100 Zudem besteht ge-mäß § 16 Abs. 2 GmbHG die Haftung des Erwerbers eines Geschäftsanteils auch für alle rückständigen Einlageverpflich-tungen gleichrangig und gesamtschuldnerisch mit dem Ver-äußerer.101 Aufgrund der Anknüpfung der Vorschrift an das alte Recht,102 sind darunter jedenfalls sämtliche offene Leis-tungsplichten aus der Mitgliedschaft zu verstehen.103 Das be- deutet, dass der Erwerber unabhängig von seinem Kenntnis-stand104 auch für Verpflichtungen aus Differenzhaftung, Unter- bilanzhaftung, Ausfallhaftung oder für Nachschüsse haften muss105 und satzungsmäßigen Wettbewerbsverboten unterlie-gen kann.106 Zudem trägt er die Pflicht zur Insolvenzantrags-stellung.107 Eine Beschränkung der Haftung mit Wirkung für die Gesellschaft kann aufgrund des (auch) drittschützenden Charakters nicht vereinbart werden.108 Dennoch haften so-wohl Minderjährige nach § 1626a BGB, als auch Erben jedenfalls nach Eintragung in die Gesellschafterliste gemäß §§ 1975 f. BGB kraft Gesetzes nur eingeschränkt.109

95 Omlor/Spies, MittBayNot 2011, 353 (356). 96 BGHZ 36, 207 (211). 97 Bayer/Selentin, in: Festschrift 25 Jahre Deutsches Notar-institut, 2018, S. 394 (395). 98 Verse, in: Henssler/Strohn, Kurz-Kommentar zum Gesell-schaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 16 Rn. 11. 99 Damm, BWNotZ 2017, 2 (4). 100 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 36. 101 Ebbing (Fn. 41), § 16 Rn. 140, 141; Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 187. 102 RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 38. 103 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 188. 104 Löbbe (Fn. 61), § 16 Rn. 94. 105 Wicke, in: Wicke, Kommentar zum GmbHG, 3. Aufl. 2016, § 16 Rn. 12. 106 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 185. 107 Bayer (Fn. 13), § 40 Rn. 39. 108 Mayer, MittBayNot 2014, 24 (25). 109 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 206.

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Umgekehrt hat die Legitimationswirkung zur Folge, dass sämtliche Personen, die nicht in der Liste eingetragen sind, der Gesellschaft gegenüber nicht als Gesellschafter gelten (negative Legitimationswirkung), selbst dann nicht, wenn ih- nen die Geschäftsanteile materiell-rechtlich zustehen.110 Die formelle Gesellschafterstellung ist vielmehr von der materiel-len Rechtslage entkoppelt.111 Ob tatsächlich eine Veränderung im Sinne des § 40 GmbHG eingetreten ist, ist somit für die Legitimation unbeachtlich,112 da die Eintragung gerade nur eine formelle und keine materiell-rechtliche Gesellschafter-stellung begründet.113 Dementsprechend vermögen Mängel des Verfügungsgeschäftes die formelle Listenposition nicht zu tangieren114 und können durch die Eintragung auch nicht geheilt werden.115 Sie berechtigen allein zur Korrektur der Gesellschafterliste.116 Entscheidend für die Frage, wen die Gesellschaft als Gesellschafter zu behandeln hat, ist folglich ausschließlich der Inhalt der Gesellschafterliste. Wird demzu-folge ein Geschäftsanteil zwangsweise eingezogen, verliert der Betroffene ungeachtet der Wirksamkeit des Beschlusses mit Austragung aus der Gesellschafterliste seine Berechti-gung.117 Aufgrund der Legitimationswirkung sind und blei-ben zwischenzeitliche Beschlüsse daher auch dann wirksam, wenn nachträglich festgestellt wird, dass der Listengesell-schafter zu Unrecht eingetragen war,118 respektive die Ein-ziehung sich im Nachhinein als unwirksam herausstellt.119 Sie stellt infolgedessen ein Druckmittel gegenüber dem tat-sächlichen Inhaber dar, der dadurch zur ordnungsgemäßen Listenführung angehalten werden soll.120 Solange ist die Gesellschaft weder berechtigt noch verpflichtet, einen nicht in der Liste aufgeführten Erwerber eines Geschäftsanteils als Gesellschafter zu behandeln,121 selbst wenn sie positive Kennt- nis von der Unrichtigkeit der Liste hat.122 § 16 Abs. 1 GmbHG verdrängt somit die §§ 413, 404 BGB als lex specialis.123

Das Rechtsverhältnis des Altgesellschafters zur Gesell-schaft entfällt folglich mit Einreichung der neuen Liste. Durch die Löschung wird er seiner Legitimation und seiner Rechte aus der Gesellschafterstellung verlustig und mit Wir-kung für die Zukunft von allen Pflichten befreit.124 Der Ver-äußerer soll sich indes nicht durch Übertragung seines Ge-schäftsanteils von bereits entstandenen Pflichten lossagen können und haftet weiterhin gemäß § 16 Abs. 2 GmbHG mit

110 Heckschen, NZG 2019, 1097 (1097). 111 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 26. 112 Lieder/Becker, GmbHR 2019, 441 (442). 113 RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 37. 114 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 29. 115 Bayer (Fn. 28), S. 22 (m.w.N.). 116 Seibt (Fn. 4), § 16 Rn. 27. 117 Wachter, DB 2019, 2058 (2060). 118 BGH GmbHR 2019, 335 (339). 119 Bayer/Selentin (Fn. 97), S. 394 f. 120 Omlor/Spies, MittBayNot 2011, 353 (356). 121 Löbbe (Fn. 61), § 16 Rn. 66. 122 OLG Frankfurt a.M. GmbHR 2017, 868 (870). 123 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 140. 124 BGHZ 132, 133 (137).

dem Erwerber als Gesamtschuldner.125 Ebenso besteht eine Haftung für noch nicht fällig gewordene Verbindlichkeiten als Rechtsvorgänger nach Maßgabe des § 22 GmbHG.126 3. Rechtsstellung des Eingetragenen gegenüber Dritten Die Legitimationswirkung gilt unmittelbar nur im Innenver-hältnis der Gesellschaft und ist für das Außenverhältnis ohne Bedeutung,127 weshalb auch von einer sog. relativen Gesell-schafterstellung gesprochen wird.128 Dritten gegenüber ist ab- gesehen vom gutgläubigen Erwerb allein die materielle Rechts-lage entscheidend,129 sodass der Geschäftsanteil weiterhin bloß vom materiellen Rechtsinhaber wirksam abgetreten oder verpfändet werden kann. Umgekehrt kann der Anteil auch nur von dessen Gläubigern gepfändet werden130 und wird einzig seiner Insolvenzmasse zugerechnet.131 Dennoch ist es möglich, dass sich der Schutzbereich reflexartig auf Dritte ausweitet.132 So werden sie in ihrem Vertrauen auf die Wirk-samkeit von Gesellschafterbeschlüssen unter Mitwirkung ei- nes Scheingesellschafters geschützt.133 Andersherum stellt die Stimmabgabe des materiellen Rechtsinhabers einen Anfech-tungsgrund dar, wenn dieser nicht formell legitimiert ist.134 Die Gläubiger der Gesellschaft profitieren ferner mittelbar durch die nach Austragung fortbestehende Haftung des Alt-gesellschafters gemäß § 16 Abs. 2 GmbHG.135 4. Rechtsstellung vor Eintragung Bevor die Eintragung eines Neugesellschafters in die Gesell-schafterliste erfolgt, ist diesem folglich die Ausübung seiner Mitgliedschaftsrechte verwehrt.136 Der Altgesellschafter ist daher auch nach Veräußerung oder Einziehung137 seines Ge- schäftsanteils bis zur Einreichung der neuen Liste weiterhin als Gesellschafter zu behandeln. Anders als nach altem Recht, verfügt der Erwerber grundsätzlich über keine Möglichkeit mehr die geänderte Liste selbst einzureichen. Vielmehr muss er seinen einklagbaren Korrekturanspruch durchsetzen.138 In der Zwischenzeit hat er Rechtshandlungen des Listengesell-schafters gegen sich gelten zu lassen.139 Umfasst sind davon sämtliche Handlung, speziell die Ausübung des Stimmrechts, die Auszahlung von Dividenden, aber auch der Ausschluss aus wichtigem Grund oder die Zwangseinziehung des Ge-

125 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 213; Seibt (Fn. 4), § 16 Rn. 51 f. 126 Bayer (Fn. 13), § 40 Rn. 38. 127 Seibt (Fn. 4), § 16 Rn. 12. 128 Vgl. Löbbe, GmbHR 2016, 141 (142); Westphal (Fn. 25), § 16 Rn. 3. 129 Servatius (Fn. 26), § 16 Rn. 14. 130 BGH GmbHR 2015, 526 (528). 131 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 172. 132 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 30. 133 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 170; Seibt (Fn. 4), § 16 Rn. 7. 134 Lieder, GmbHR 2016, 189, (197 f.). 135 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 170. 136 RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 37. 137 BGH NJW 2019, 3155. 138 Löbbe (Fn. 61), § 16 Rn. 60. 139 Seibt (Fn. 4), § 16 Rn. 39.

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Die Legitimationswirkung der Gesellschafterliste – Teil 1 ZIVILRECHT

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schäftsanteils.140 Dementsprechend muss der für die Einzie-hung wichtige Grund in der Person des Eingetragenen beste-hen, auch wenn dieser bereits nicht mehr wahrer Rechts- inhaber ist.141

Um den noch eingetragenen Scheingesellschafter von der- artigen Rechtsausübungen abzuhalten, steht dem Rechts- inhaber ein verschuldensunabhängiger Unterlassungsanspruch (§§ 823 Abs. 1, 1004 BGB) und gegebenenfalls ein neben- vertraglicher Anspruch auf Schutz und Rücksichtnahme zu, soweit Rechtshandlungen seine materielle Berechtigung ge- fährden würden.142 Dies führt allerdings allein zur Blockade der Rechtsausübung und nicht dazu, dass der wahre Gesell-schafter sie selbst ausüben kann.143 Schließlich ist es auch der Gesellschaft angesichts ihrer unverzüglichen Einreichungs-pflicht versagt, vollendete Tatsachen zu schaffen, wenn sie zuvor durch zurechenbare Mitteilung und Nachweis Kenntnis von einer Rechtsänderung erlangt hat.144 Anderenfalls können zwischenzeitlich Beschlüsse zu Lasten des Erwerbers unter Umständen wegen einer mitgliedschaftlichen Treuepflicht-verletzung anfechtbar oder nichtig sein.145 Um den wahren Gesellschafter weiter vor dem zwischenzeitlichen Verlust sei- nes Geschäftsanteils gemäß § 16 Abs. 3 GmbHG oder vor Schäden aufgrund seiner fehlenden Legitimation abzusichern, haftet der Geschäftsführer für Verletzungen seiner Einrei-chungspflicht nach Maßgabe des § 40 Abs. 3 GmbHG ge-genüber den Gläubigern und denjenigen Personen, deren Beteiligung sich geändert hat.146 Damit auch der Listen- gesellschafter nicht schutzlos gestellt ist, muss von seiner Inanspruchnahme durch die Gesellschaft abgesehen werden, wenn sie pflichtwidrig die Einreichung einer geänderten Liste unterlässt.147

Teilweise wird bei der Erbschaft eine andere Ansicht der fehlenden Eintragung vertreten.148 Anknüpfungspunkt findet die Betrachtung in § 67 Abs. 2 AktG, wonach im Aktienrecht auch in Ermangelung einer Eintragung die mitgliedschaftli-chen Rechte und Pflichten bereits mit Erbfall tradiert werden sollen.149 Eine Übertragung jener Überlegungen auf die Ge-sellschafterliste ist vom Gesetzgeber jedoch gerade nicht bezweckt, da er den Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 GmbHG ausdrücklich um den Erbfall erweitert hat.150 Wäre der Erbe bereits vor Eintragung als Gesellschafter anzuerken-

140 Verse (Fn. 98), § 16 Rn. 18; Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 40. 141 BGH GmbHR 2019, 335 (340). 142 Schlosser, in: Festschrift für Günther H. Roth, 2011, S. 695 (703). 143 Fischer, GmbHR 2018, 1257 (1263). 144 Leyendecker-Langner, ZGR 2015, 516 (526). 145 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 41. 146 Bayer (Fn. 13), § 40 Rn. 107. 147 Bayer (Fn. 28), S. 9, 31. 148 Ising, NZG 2010, 812 (815 f.); ausführlich zum Meinungs-stand Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 144. 149 Barz, AktG, 3. Aufl. 1975, § 67 Anm. 16; Cahn, in: Spind- ler/Stilz, Kommentar zum AktG, 4. Aufl. 2018, § 67 Rn. 47; OLG Brandenburg NZG 2002, 476 (478). 150 Löbbe (Fn. 61), § 16 Rn. 30; OLG Naumburg GmbHR 2017, 86 (88).

nen, würden sämtliche Beschlüsse der Gesellschaft ohne sei- ne Ladung nichtig sein.151 Dabei ist es in der Praxis häufig nicht möglich, auf Anhieb den rechtmäßigen Erben zu identi-fizieren, zumal die Gesellschafterliste die Funktion hat, die Legitimation von gerade diesen Unsicherheiten zu separie-ren.152 Infolgedessen gilt auch im Erbfall, selbst bei Vorlie-gen eines Erbscheins,153 keine Ausnahme.154 Eine Haftung des Erben besteht nichtsdestotrotz nach §§ 1922, 1967 BGB bereits vor der Eintragung,155 allerdings mit der Möglichkeit diese gemäß §§ 1975 f. BGB auf den Nachlass zu beschrän-ken.156

Nicht selten kann der Eintragungsvorgang des Erwerbers eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Um dem praktischen Bedürfnis gerecht zu werden, bereits vor Aufnahme in die Liste Rechtshandlungen in Bezug auf das Gesellschafter- verhältnis vorzunehmen, ist es nach § 16 Abs. 1 S. 2 GmbHG möglich, Rechtshandlungen gegenüber der Gesellschaft rück- wirkend zu legitimieren.157 Demnach werden unmittelbar nach Wirksamwerden der Übertragung des Geschäftsanteils vorgenommene Handlungen ex tunc wirksam, wenn die Liste unverzüglich nach der Vornahme in das Handelsregister auf- genommen wird.158 Solange sind Rechtsgeschäfte des Neu- gesellschafters schwebend unwirksam und werden bei nicht unverzüglicher Aufnahme in die Liste endgültig unwirksam.159 5. Grenzen der Legitimationswirkung Die Aufnahme einer neuen Gesellschafterliste zum Handels-register hat somit weitreichende Folgen für den auf-/aus- gelisteten Gesellschafter. In Anbetracht dieses erheblichen Eingriffs erscheint es wenig verblüffend, dass die formelle Legitimationswirkung nicht uferlos reicht. Um die rechts-schützende Funktion der Gesellschafterliste nicht auszuhöh-len, ist gleichwohl eine restriktive Anwendung von Ein-schränkungen geboten.160 a) Nichteinhaltung gesetzlicher Mindestanforderungen Eine Einschränkung liegt dort nahe, wo die Mindestanforde-rungen zum Inhalt oder zum Verfahren der Gesellschafterliste nicht eingehalten worden sind.161 Grundsätzlich entfaltet auch eine inhaltlich unzutreffende Liste gänzlich Legitimations-wirkung,162 solange der Eingetragene sich identifizieren

151 Bayer, GmbHR 2012, 1 (4). 152 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 145. 153 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 149 f.; a.A. Lange, GmbHR 2012, 986. 154 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 43; Servatius (Fn. 26), § 16 Rn. 19 f.; OLG Naumburg GmbHR 2017, 86. 155 Wiersch, NZG 2015, 1336 (1339 f.). 156 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 44. 157 RegE, BR-Drs. 354/07, S. 85; RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 37/38. 158 Kort, GmbHR 2009, 169 (174). 159 Westphal (Fn. 25), § 16 Rn. 6. 160 Vgl. OLG Frankfurt GmbHR 2017, 868 (870). 161 Kleindiek, GmbHR 2017, 815 (816). 162 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 59.

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lässt.163 Scheidet eine personelle Zuordnung hingegen aus, entfällt auch die Legitimationswirkung. Ein schwerwiegender Verfahrensmangel ist ferner anzunehmen, wenn die Liste durch eine generell nicht zuständige Person eingereicht wor-den ist, 164 selbst dann, wenn die Eintragung der tatsächlichen Rechtslage entspricht.165 Anderenfalls wäre es mangels ma- teriellem Prüfungsrecht des Registers ohne Umstände mög-lich, die Gesellschafterstruktur zu manipulieren. Wird die Liste indes irrtümlich vom Geschäftsführer anstelle des zu-ständigen Notars oder umkehrt vom Notar anstelle des Ge-schäftsführers eingereicht, ist wegen teilweise schwieriger Abgrenzungsfragen kein einschlägiger Verfahrensfehler anzu-nehmen.166 Angesichts der weitreichenden Korrekturbefugnis des Geschäftsführers wird es ohnehin nur wenige Fälle ge-ben, in denen er gänzlich unbefugt ist. Wird die gesetzliche Kompetenzanordnung hingegen bewusst umgangen, lässt sich die unwiderlegliche Vermutungsregelung in Anbetracht der Missbrauchsbekämpfung nicht mehr rechtfertigen.167 b) Fehlende Zurechenbarkeit Die Legitimationswirkung setzt grundsätzlich voraus, dass die Eintragung, demjenigen, zu dessen Ungunsten sie wirkt, zurechenbar sein muss.168 Fehlt eine Zurechenbarkeit, besteht keine Grundlage, auf die sich die formelle Legitimation stüt-zen lässt.169 Normativ wird das Kriterium auf § 40 Abs. 1 S. 2 GmbHG gestützt, wonach die Einreichung durch den Ge-schäftsführer nur auf Mitteilung und Nachweis erfolgen soll.170 Wird der Geschäftsführer somit tätig, obwohl ihm die Verän-derung nicht mittgeteilt und nachgewiesen worden ist, fehlt es an der zurechenbaren Veranlassung durch den Betroffe-nen, sodass parallel zu § 67 AktG171 das Fundament für die Legitimationswirkung entfällt.172 Dieser Mitteilungsmangel wird geheilt, sobald der Eingetragene seine mitgliedschaftli-chen Rechte ausgeübt hat.173 Gleichermaßen mangelt es an der Zurechenbarkeit, wenn die Gesellschafterliste trotz Kennt-nis über ihre Unrichtigkeit zum Handelsregister eingereicht wird, da es in solchen Fällen an einem adäquaten Nachweis fehlt.174 Speziell Manipulationen, durch gefälschte Listen oder kollusives Vorgehen, stellen einen allgemeinen Zurechnungs- ausschluss dar175 und vermögen die Legitimationswirkung nicht zu entfalten.176 Ebenso verhält es sich, wenn die Anteils- 163 Löbbe (Fn. 61), § 16 Rn. 45. 164 Bayer (Fn. 28), S. 9, 30; Löbbe, GmbHR 2016, 141 (147). 165 Kleindiek, GmbHR 2017, 815 (817). 166 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 14; Verse (Fn. 98), § 16 Rn. 31. 167 Reymann, BB 2009, 506 (508). 168 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 51; Verse (Fn. 98), § 16 Rn. 32. 169 Verse (Fn. 98), § 16 Rn. 32. 170 Lieder/Becker, GmbHR 2019, 441 (443). 171 Vgl. RegE, BT-Drs. 16/6140, S. 37; Cahn, in: Spindler/ Stilz, Kommentar zum AktG, 4. Aufl. 2018, § 67 Rn. 40. 172 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 61; Seibt (Fn. 4), § 16 Rn. 24, 29. 173 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 11. 174 Bayer (Fn. 13), § 16 Rn. 17, 34. 175 Reymann, BB 2009, 506 (506). 176 Seibt (Fn. 4), § 16 Rn. 24.

übertragung an einem qualifizierten Mangel leidet. Zwar gilt die Legitimationswirkung losgelöst von einem wirksamen Übertragungsakt.177 Sie kann nichtsdestotrotz nur so weit rei- chen wie widerstreitende Interessen anderer nicht überwie-gen. Wird eine Anteilsübertagung durch vis absoluta herbei-geführt oder war an ihr eine nicht voll geschäftsfähige Person bzw. ein falsus procurator beteiligt, ist eine Zurechenbarkeit zu versagen.178 Die Belange der Rechtssicherheit werden hin- ter denen des Betroffenen zurücktreten müssen.179 Dies ist vor allem dem Ziel des Gesetzgebers geschuldet, Missbräu-chen vorzubeugen und die Gesellschafterstruktur transparent zu gestalten.180 c) Treu und Glauben Auch die Legitimationswirkung steht unter dem allgemeinen Vorbehalt von Treu und Glauben, § 242 BGB.181 Die Beru-fung auf die Gesellschafterliste ist jedoch nicht bereits dann verwehrt, wenn sich der Inhalt im Nachhinein als fehlerhaft erweist.182 Ansonsten würde es zu einer Aushöhlung der Legitimationswirkung kommen, wenn man sie in einem Schwebezustand den Unsicherheiten der materiellen Rechts-lage aussetzt.183 Vielmehr muss die Aufnahme der Liste durch unredliches Verhalten herbeigeführt worden sein.184 Eine Be- schränkung ist insbesondere bei gesetzes-, sitten- oder ver-tragswidrigem Verhalten geboten, wie beispielsweise bei ei- ner Fälschung der Liste oder anderen strafbaren Handlun-gen,185 obwohl dies in den meisten Fällen bereits zum Aus-schluss der Zurechenbarkeit führen wird.186 Jüngst wurde vom BGH erstmalig187 eine derartige Einschränkung ange-nommen, als die Gesellschaft nach Einziehung eines Ge-schäftsanteils eine neue Gesellschafterliste zulasten des Klä-gers eingereicht hatte, obwohl ihr dies durch gerichtliche Unterlassungsverfügung untersagt war.188 Ob ferner die ge-sellschaftliche Treuepflicht die Legitimationswirkung einzu-grenzen vermag, ließ der BGH offen,189 wobei anzunehmen ist, dass dafür wenig Raum bleibt.190

177 OLG Bremen GmbHR 2012, 687. 178 Wicke (Fn. 105), § 16 Rn. 4. 179 Kleindiek, GmbHR 2017, 815 (818); Löbbe, GmbHR 2016, 141 (147). 180 Heidinger (Fn. 14), § 16 Rn. 53. 181 BGH GmbHR 2019, 335 (339 f.). 182 Wachter, DB 2019, 2058 (2067). 183 BGH GmbHR 2019, 335 (339). 184 BGH NJW 2019, 3155 (3159). 185 Wachter, DB 2019, 2058 (2068). 186 Lieder/Becker, GmbHR 2019, 441 (447). 187 Wachter, DB 2019, 2058 (2067). 188 BGH NJW 2019, 3155. 189 BGH GmbHR 2019, 335 (339). 190 Lieder/Becker, GmbHR 2019, 441 (448).

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Grundwissen zum Urheberrecht – Teil 1 Von Wiss. Mitarbeiter Julian Kanert, Wiss. Mitarbeiterin Stefanie Meyer, Chemnitz* Ziel dieses zweiteiligen Aufsatzes ist, einen kompakten Über-blick über das Urheberrecht zu liefern. Er richtet sich an Stu- dierende, die zur Vorbereitung auf die Schwerpunktbereichs-klausur das Maßgebliche zügig erarbeiten möchten, aber auch an Referendare, die in der Referendarausbildung eine konzentrierte Zusammenfassung des materiellen Urheberrechts benötigen. Dabei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit er- hoben. Es handelt sich um eine Kombination aus Basiswissen und Einführung in aktuelle Diskussionen. Zunächst werden der Gegenstand des urheberrechtlichen Schutzes (Werk, I.) und der Berechtigte (Urheber, II.) erläutert, um sodann In-halt (III.) und Schranken (IV.) darzustellen. Zuletzt folgen Fragen der Haftung (V.) und des Vertragsrechts (VI.). I. Das Werk Schutz nach dem Urheberrechtsgesetz (UrhG) genießen die Urheber der Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst, § 1 UrhG. Zwingende Voraussetzung für das Entstehen eines Schutzes ist damit die Einordnung als Werk. 1. Werkbegriff, § 2 Abs. 2 UrhG § 2 Abs. 2 UrhG liefert eine Definition des Werkes im urheberrechtlichen Sinne, nämlich die „persönliche geistige Schöpfung“. Das deckt sich im Wesentlichen auch mit der Judikatur des EuGH1, nach der es sich beim Werk um eine „eigene geistige Schöpfung seines Urhebers“2 handeln muss, in der die Persönlichkeit des Urhebers zum Ausdruck3 kommt.

Durch diese Definition werden die vier Wesenselemente des Werkbegriffes, die kumulativ vorliegen müssen4, bereits umfasst: eine persönliche Schöpfung mit geistigem Gehalt, einer Formgebung und Individualität.

Die Idee zu einer Schöpfung ist noch nicht schutzwürdig. Das gilt insbesondere für wissenschaftliche Erkenntnisse oder Lehren.5 Urheberrechtlicher Schutz besteht erst, wenn die Idee konkret umgesetzt wurde, etwa durch die Niederschrift der wissenschaftlichen Erkenntnis in einem Artikel.

Auf die körperliche Fixierung eines Werkes kommt es bei der Entstehung des Urheberrechtsschutzes nicht an. Im Ge- gensatz zum Werkexemplar (z.B. ein Buch) ist das Werk im Sinne des § 2 Abs. 2 UrhG die vergeistigte Form dessen In- halts.

* Die Autoren sind Wiss. Mitarbeiter an der Technischen Uni- versität Chemnitz, Professur Jura II – Privatrecht und Recht des geistigen Eigentums (Prof. Dr. Gesmann-Nuissl). 1 Näheres zum europäischen Werkbegriff unter I. 3. 2 EuGH GRUR 2012, 156 (160 Rn. 97) – Football Associa-tion Premier League u. Murphy; EuGH GRUR 2019, 73 (74 Rn. 36 m.w.N.) – Levola Hengelo BV/Smilde Foods BV; Be- sprechung Gesmann-Nuissl, InTeR 2019, 31 ff. 3 Erwägungsgrund 16 der RL 2006/116/EG. 4 Vgl. Jänich/Eichelberger, Urheber- und Designrecht, 2012, Rn. 26. 5 BGH GRUR 1991, 130 (132) – Themenkatalog.

Werke im Sinne des Urheberrechts sind auch Übersetzun- gen oder andere Bearbeitungen eines Werkes, die persönliche geistige Schöpfungen des Bearbeiters sind, vgl. § 3 UrhG.

Beispiel: Fan F schreibt zu ihrem Lieblingsroman ein al- ternatives Ende, eine sog. Fanfiction.6

§ 3 UrhG ist im Zusammenhang mit § 23 UrhG zu sehen (dazu mehr unter III. 4.). a) Persönliche Schöpfung Als schutzfähiges Werk kann nur gelten, was das Ergebnis einer menschlich-gestalterischen Tätigkeit7 ist. Schöpfung ist schon begrifflich das Ergebnis eines Denkprozesses.8 Gegen-ständen, die in der Natur gefunden werden (sog. objet trouvé) kommt kein Werkcharakter zu – es sei denn, sie werden in eine schöpferische Gestaltung mit eingebunden.

Beispiel: Die im Wald gefundene Baumwurzel ist kein Werk. Werden mehrere solcher Wurzeln zu einer Skulptur zusammengefügt, kann darin eine persönliche Schöpfung liegen.

Eine Maschine kann selbst kein Werk erschaffen. Sofern diese jedoch maßgeblich vom Willen des Menschen gesteuert wird, kann das Ergebnis des Schaffensprozesses eine persön-liche Schöpfung sein.

Beispiel: Eiskünstler E bedient sich beim Schaffen seiner Eisskulpturen einer elektrischen Säge.

b) Geistiger Gehalt Die Schöpfung muss einen geistigen Gehalt aufweisen. Das Werk muss einen vom Urheber stammenden Gedanken- und Gefühlsinhalt vermitteln, der auf den Betrachter anregend wirkt; dieser kann gedanklicher, emotionaler oder ästheti-scher Art sein.9 c) Formgebung Eine bloße Vorstellung oder ein Geistesblitz ist noch kein Werk, vielmehr muss der Urheber der Idee eine gewisse Form verliehen haben. Mit „Form“ ist hierbei nicht die körperliche Fixierung eines Werkes gemeint. Die Vorstellung des Schöp-fers muss jedoch für Dritte wahrnehmbar zutage treten.

6 Näher zu Fanfictions: Knopp, GRUR 2010, 28 ff. 7 Loewenheim, in: Schricker/Loewenheim, Kommentar zum Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, § 2 Rn. 38. 8 Ahlberg, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Urheber-recht, 28. Ed., Stand: 20.4.2018, § 2 Rn. 52. 9 Schulze, in: Dreier/Schulze, Kommentar zum Urheberrechts- gesetz, 6. Aufl. 2018, § 2 Rn. 12.

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Beispiel: Dichter D trägt vor einer Personengruppe ein Gedicht vor, das ihm spontan in den Kopf kommt.

Irrelevant ist, ob ein Werk dauerhaft besteht und aus welchem Material es gefertigt ist.

Beispiel: Die Eisskulpturen des Eiskünstlers werden nach einiger Zeit schmelzen – dies steht der Schutzfähigkeit als Werk nicht entgegen.

d) Individualität Der Kern des Werkbegriffes10 ist die sog. Individualität des Werkes.

Beispiel:11 Der Song „Loop di Love“ von Musiker M (ein Stück mit jeweils eintaktigem Wechselgesang zwischen Solist und Chor mit Instrumentalbegleitung) weist die Tonfolge „a – h – cis“ auf. Komponist K ist der Meinung, dass sich in „Loop di Love“ Teile seines Titels „Dirlada“ wiederfinden, da er die Tonfolge auch gebrauchte.

Der Schöpfer eines Werkes muss eine individuelle geistige Leistung erbracht haben; der künstlerische Schaffensprozess muss seinen Abschluss in diesem Werk finden.12 Zwangsläu-fig setzt die Individualität voraus, dass ein Gestaltungsspiel-raum auf Seiten des Schöpfers besteht – die Werkeigen- schaft von Gegenständen, deren Gestaltung rein technisch be- dingt ist,13 scheidet aus. Bekannte Gestaltungselemente dür-fen in den Schöpfungsprozess eingebunden werden; wenn durch die Kombination mit anderen Elementen eine besonde-re schöpferische Leistung mit hinreichender Wirkung auf den Betrachter erzielt wird, ist Individualität gegeben.14 Ziel des Merkmals der Individualität ist es, festzustellen, dass sich die Schöpfung von üblicherweise Hervorgebrachtem und All- täglichem unterscheidet. Dieser Grad der Individualität wird Gestaltungshöhe genannt. Entsprechend der Gesetzesbegrün-dung lässt die Rechtsprechung diesbezüglich schon geringen Abstand vom Alltäglichen (sog. kleine Münze) ausreichen, um einen Schutz nach UrhG zu erreichen.15 Unter diesem Gesichtspunkt kann auch eine Tonfolge wie im Beispiel „a-h-cis“ hinreichend individuell sein. 2. Einzelne Werkarten In § 2 Abs. 1 UrhG werden einzelne Werkarten aufgezählt, die Schutz nach dem UrhG genießen. Diese Aufzählung ist jedoch nicht abschließend. Einleitend soll hier auf § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG – die Werke der angewandten Kunst – eingegan-

10 Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, 9. Aufl. 2019, Rn. 189. 11 Nach BGH GRUR 1981, 267 ff. – Dirlada. 12 Bullinger, in: Wandtke/Bullinger, Kommentar zum Urhe-berrecht, 5. Aufl. 2019, § 2 Rn. 21. 13 Schulze (Fn. 9), § 2 Rn. 33. 14 BGH GRUR 1979, 332 (336) – Brombeerleuchte. 15 BT-Drs. IV/270, S. 38; BGH GRUR 1981, 267 (268) – Dirlada.

gen und schließlich die Besonderheiten und Unterschiede des Werkbegriffes bei Computerprogrammen gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG i.V.m. §§ 69a ff. UrhG behandelt werden. Bei den beiden Werkarten tritt der Unterschied zwischen deut-schem und europäischem Werkbegriff auch besonders zutage (siehe I. 3.). a) Werke der angewandten Kunst, § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG Schutzfähig sind gem. § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG Werke der bil- denden und angewandten Kunst. „Ungeachtet der Unmög-lichkeit, Kunst generell zu definieren“16 werden vom Kunst-begriff alle Gegenstände umfasst, die einen ästhetischen Ge- halt ausdrücken, indem Flächen oder Körper gestaltet wer-den.17 Maßgeblich dafür ist die Auffassung derer, die für Kunst empfänglich sind bzw. der Kreise, die mit Kunst- anschauungen vertraut sind.18

Beispiel:19 A ist Spielwarendesignerin und hat Entwürfe für einen Zug aus Holz angefertigt, auf dessen Waggons sich Kerzen und Nummern aufstecken lassen, einen sog. Geburtstagszug.

Von Werken der bildenden Kunst20 unterscheiden sich Werke der angewandten Kunst durch ihren primären Gebrauchs-zweck. Die Gestaltung soll keinen geistigen Gehalt vermit-teln, sondern erfüllt hier lediglich einen dekorativen Zweck.21 Problematisch bei der Bestimmung der Werkeigenschaft im Rahmen der angewandten Kunst ist insbesondere die hinrei-chende Gestaltungshöhe. Bei Werken der Literatur, Musik und der bildenden Kunst wird der Schutz der sog. kleinen Münze anerkannt.22 Im Hinblick auf den vordergründigen Gebrauchszweck der angewandten Kunst wurde der Schutz der kleinen Münze lange verneint und ein deutliches Überra-gen der Durchschnittsgestaltung23 gefordert. Begründet wur-de dies damit, dass die gestalterische Leistung hinreichend durch das Geschmacksmusterrecht und das Lauterkeitsrecht geschützt sei.24 Zwischen dem Urheberrecht und dem Ge-schmacksmusterrecht bestehe nur ein gradueller Unterschied25; 16 Vgl. BVerfG NJW 1987, 2661 (2661). 17 A. Nordemann, in: Fromm/Nordemann, Kommentar zum Urheberrecht, 12. Aufl. 2018, § 2 Rn. 137. 18 BGH GRUR 1983, 377 (378) – Brombeer-Muster. 19 BGH GRUR 2014, 175 ff. – Geburtstagszug. 20 Zum Begriff vgl. BGH GRUR 2011, 803 (805 Rn. 31) – Lernspiele. 21 Jänich/Eichelberger (Fn. 4), Rn. 67; BGH GRUR 1995, 581 (582) – Silberdistel. 22 BGH GRUR 1995, 581 (582) – Silberdistel; BGH GRUR 1968, 321 (324) – Haselnuß; BGH GRUR 1981, 267 (268) – Dirlada. 23 BGH GRUR 1995, 581, (582) – Silberdistel. 24 Vgl. 2012 noch Jänich/Eichelberger (Fn. 4), Rn. 68. 25 „Das abgrenzende Kriterium zu dem bloßen Geschmacks-muster liege somit in dem, von einem Kunstwerk zu fordern-den, ästhetischen Überschuß, der sich aus der erkennbaren Gestaltung eines besonderen künstlerischen Formgedankens ergebe.“, vgl. BGH GRUR 1957, 291 (292) – Europapost.

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Grundwissen zum Urheberrecht – Teil 1 ZIVILRECHT

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das Geschmacksmusterrecht sei als Unterbau des Urheber-rechts26 zu verstehen. Urheberrechtsschutz sei nicht nur durch das bloße Abheben vom Alltäglichen27 zu erlangen, sondern es sei ein deutlich höherer schöpferischer Eigentümlichkeits-grad28 zu verlangen.

Von dieser Ansicht ist der BGH mit der Geburtstagszug-Entscheidung29 nunmehr abgekehrt. An den Urheberrechts-schutz der Werke der angewandten Kunst sind keine höheren Anforderungen mehr zu stellen. Das Geschmackmusterrecht wurde durch das am 1.7.2014 in Kraft getretene DesignG ab- gelöst und neu gefasst. Dies hat zur Folge, dass nunmehr kein Stufenverhältnis30 mehr zwischen Design- und Urheberrechts-schutz besteht. Vielmehr habe der Gesetzgeber mit dem De-signG nun ein eigenständiges gewerbliches Schutzrecht ge-schaffen, sodass kein derart enger Bezug zum UrhG mehr be- steht.31

Im Ergebnis bedeutet dieser Sinneswandel des BGH, dass nunmehr auch die äußere Gestaltung eines „Geburtstags- zu-ges“ schutzwürdig sein kann, sofern sie als „künstlerische Leistung“ betrachtet werden kann.32 Maßgeblich ist jedoch, dass die ästhetische Wirkung nicht allein dem Gebrauchs-zweck geschuldet33 ist. b) Sprachwerke, Computerprogramme, § 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG Sprachwerke stellen den klassischen Gegenstand des Urheber-rechtsschutzes dar. Welchen Inhalt die Sprachwerke haben, ist unerheblich.34 Auch Computerprogramme gelten als Sprachwerke, § 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG.

Beispiel:35 L lädt das Computerspiel „Risen II“ auf eine Tauschbörse hoch, um anderen Nutzer dessen Download und Nutzung zu ermöglichen.

Ergänzend zu beachten sind §§ 69a ff. UrhG. Da diese maß-geblich die Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 der Computerpro-gramm-Richtlinie36 umsetzen, ist der Begriff des Computer-programms daran zu orientieren. Eine gesetzliche Definition

26 Loewenheim (Fn. 7), § 2 Rn. 182. 27 BGH GRUR 1995, 581 (582) – Silberdistel; BGH GRUR 1985, 1041 (1047) – Inkasso-Programm. 28 BGH GRUR 1983, 377 (378) – Brombeermuster; BGH GRUR 1979, 332 (336) – Brombeerleuchte. 29 BGH GRUR 2014, 175 ff. – Geburtstagszug; Besprechung Gesmann-Nuissl, InTeR 2014, 43 ff. 30 Im Sinne dessen, dass das Geschmacksmuster-/Designrecht den Unterbau des Urheberrechts bildet, vgl. Loewenheim (Fn. 7), § 2 Rn. 182 u. 184. 31 BGH GRUR 2014, 175 (178 Rn. 34 u. 35) – Geburtstagszug. 32 BGH GRUR 2014, 175 (177 Rn. 26) – Geburtstagszug. 33 BGH GRUR 2014, 175 (179 Rn. 41) – Geburtstagszug. 34 Loewenheim (Fn. 7), § 2 Rn. 80. 35 Nach LG Köln, Urt. v. 19.4.2018 – 14 O 38/17. 36 Die Richtlinie 91/250/EWG regelte bis zum Erlass der Richtlinie 2009/24/EG den Schutz von Computerprogrammen.

gibt es nicht.37 Eine Orientierung liefert § 1 lit. i der Muster-vorschriften des WIPO38, der Computerprogramme als den „Satz von Anweisungen an ein informationsverarbeitendes Gerät und an den mit diesem Gerät arbeitenden Menschen zur Erzielung eines Ergebnisses“39 definiert. Dies umfasst etwa den Maschinen-, Objekt- und Quellcode und das Entwurfs-material.40

Im Gegensatz zu den anderen Werkarten fordert der Wortlaut des § 69a Abs. 3 S. 1 UrhG ausdrücklich nur, dass das Ergebnis einer eigenen geistigen Schöpfung vorliegen muss, um dem Programm Werkschutz zukommen zu lassen. Durch die Ergänzung in § 69a Abs. 3 S. 2 UrhG, wonach „keine anderen Kriterien, insbesondere nicht qualitative oder ästhetische, anzuwenden“ sind, wird deutlich, dass das Erfor-dernis der Schöpfungshöhe nicht besteht. Als Konsequenz ist somit jedes Computerprogramm mit hinreichender Individua-lität urheberrechtlich geschützt. § 69a Abs. 2 S. 2 UrhG ist jedoch zu beachten – die bloße Idee oder Lösung eines Prob-lems ist nicht schutzfähig. Vielmehr bedarf es der konkreten Umsetzung in einer Software.

Das im Beispiel in einer Tauschbörse angebotene Compu-terspiel umfasst auch Komponenten der Definition des Com-puterprogramms im Sinne des § 69a UrhG. Bei Programmen von nicht unerheblichem Umfang, die mehrere Jahre an Ent-wicklung bedürfen, ist Schutzfähigkeit nach § 69a UrhG an- zunehmen.41 3. Exkurs: Europäischer Werkbegriff Unklar ist, ob der in § 2 UrhG beschriebene deutsche Werk-begriff durch das Europarecht berührt wird. Deutlich wird die unterschiedliche Verwendung des Werkbegriffes insbesonde-re bei Computerprogrammen und Werken der angewandten Kunst.

Art. 1 Abs. 3 S. 1 der ComputerprogrammRL42 normiert das für Computerprogramme essentielle Merkmal für die Ein- ordnung als Werk. Es muss ein individuelles Werk in dem Sinne sein, das das Ergebnis der geistigen Schöpfung dar-stellt; auf „andere Kriterien“ kommt es nicht an, Art. 1 Abs. 3 S. 2 ComputerprogrammRL. Entsprechend hat auch der deut-sche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinienvorgaben in § 69a Abs. 3 UrhG den weiten europäischen Werkbegriff übernommen. Dies hat zur Folge, dass die Anforderungen an den Werkschutz bei Computerprogrammen aus § 69a UrhG geringer sind als die des § 2 Abs. 2 UrhG für alle übrigen Werkarten, da dort eine persönliche geistige Schöpfung ge-fordert wird.

37 Eine solche Definition sei nicht „ratsam, da zu befürchten sei, dass sie alsbald durch die Entwicklung überholt würde“, vgl. BT-Drs. 12/4022, S. 9. 38 Kaboth/Spies, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Ur- heberrecht, Ed. 28, Stand:15.6.2020, § 69a Rn. 2. 39 OLG Hamburg CR 1998, 332 (333 u. 334). 40 Grützmacher, in: Wandtke/Bullinger (Fn. 12), § 69a Rn. 4–11. 41 Dreier, in: Dreier/Schulze (Fn. 9), § 69a Rn. 29 m.w.N. 42 RL 91/250/EWG.

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Der Rechtsprechung des EuGH wird ein einheitliche eu-ropäischer Werkbegriff zugrunde gelegt.43 In der Judikatur wird der Begriff der „Originalität“ gebraucht.44 Originell ist das Werk, wenn es eine eigene geistige Schöpfung des Urhe-bers darstellt.45 Indem dieser freie kreative Entscheidungen trifft, bringt er seine schöpferischen Fähigkeiten zum Aus-druck. Durch den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum ver- leiht er dem Werk seine persönliche Note.46

Der EuGH benennt in seinen Entscheidungen Kriterien zur Bestimmung der Werkqualität des Streitgegenstands. Da- bei stellt er insbesondere die kreativen Gestaltungsräume des Urhebers als maßgeblich heraus – allein technisch und funk-tional notwendige Gestaltungen sind vom Urheberrechtsschutz ausgenommen47; Gleiches gilt, wenn die ästhetische Wirkung rein dem Gebrauchszweck geschuldet ist. Im Gegensatz dazu verweigert der BGH zum UrhG bereits bei technisch beding-ten Formen den Schutz.48 Er betont, dass ein technischer Spielraum allein nicht genügt, sondern zudem eine künstleri-sche Gestaltung gegeben sein muss.49 Der Unterschied der Begrifflichkeiten tritt maßgeblich bei Werken der angewand-ten Kunst im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG zutage.

Da allerdings der EuGH immer wieder betont, dass mit-gliedstaatliche Gerichte die jeweiligen eigenen Rechtssätze anzuwenden haben50, kann der strengere deutsche Werks- begriff weiter Anwendung finden – jedenfalls sofern die vom EuGH aufgestellten Schutzuntergrenzen nicht unterschritten werden.51 II. Der Urheber „Urheber ist der Schöpfer des Werkes“, § 7 UrhG. Dieses Schöpferprinzip gilt im deutschen Urheberrecht ohne Aus-nahme. Urheber kann nur diejenige natürliche Person sein, 43 EuGH GRUR 2019, 73 (74 Rn. 33 m.w.N) – Levola Heng-elo BV/Smilde Foods BV; Besprechung Gesmann-Nuissl, InTeR 2019, 31 ff. 44 Vgl. nur EuGH GRUR 2009, 1041 (1044 Rn. 37) – Info- paq/DDF. 45 EuGH GRUR 2019, 73 (74 Rn. 35 ff.) – Levola Hengelo BV/Smilde Foods BV – mit Hinweis auf EuGH GRUR 2012, 156 (160 Rn. 97 und 163 Rn. 159 m.w.N.) – Football Associ-ation Premier League u. Murphy; Besprechung Gesmann-Nuissl, InTeR 2019, 31 ff.; Bullinger (Fn. 12), § 2 Rn. 14. 46 Bullinger (Fn. 12), § 2 Rn. 14; BGH GRUR 2014, 175 (179 Rn. 41) – Geburtstagszug. 47 Vgl. nur EuGH GRUR 2011, 220 (222 Rn. 49) – BSA/ Kultusministerium –, wo der Begriff der Originalität negativ definiert wird. 48 BGH GRUR 2012, 58 (60 Rn. 20 m.w.N.) – Seilzirkus, wo der Schutz auch verweigert wird, wenn die Gestaltungsmerk- male „zwar aus technischen Gründen verwendet werden, aber frei wählbar und austauschbar sind“. 49 BGH GRUR 2012, 58 (60 Rn. 20) – Seilzirkus. 50 Vgl. nur EuGH GRUR 2009, 1041 (1044 Rn. 48) – Info- paq/DDF; EuGH GRUR 2012, 386 (388 Rn. 43) – Football Dataco/Yahoo. 51 Zu diesem Ergebnis kommt auch Bullinger (Fn. 12), § 2 Rn. 14.

die das Werk im Sinne des § 2 Abs. 2 UrhG geschaffen hat. Das ist auch der Ghostwriter einer Arbeit, selbst wenn er ver- traglich zusichert, seine Urheberschaft nicht geltend zu ma-chen. Juristische Personen können keine Urheber sein52, aller- dings Nutzungsrechte vom Urheber erwerben (siehe VI.).

Aus §§ 7 und 43 UrhG folgt auch, dass der werkschaffen-de Arbeitnehmer Urheber seines Werkes ist, der Arbeitgeber erlangt kein Urheberrecht. Allerdings ist es möglich, dass dem Arbeitgeber die Verwertungsrechte eingeräumt werden; im Falle von Computerprogrammen wird dies in § 69b UrhG sogar schon im Rahmen einer cessio legis vorgesehen. Im Übrigen wird – unter den Gesichtspunkten von Treue- und Fürsorgepflichten im Arbeitsrecht – unter bestimmten Vo-raussetzungen auch eine Anbietungspflicht des Arbeitneh-mers für freie Werke bejaht.53 Auch hier werden jedoch nur vermögensrechtliche und keine urheberpersönlichkeitsrecht-lichen Befugnisse zugesprochen. III. Inhalt des Urheberrechts 1. Monistische Theorie Das Urheberrecht schützt gem. § 11 S. 1 UrhG das Urheber-persönlichkeitsrecht („geistige und persönliche Beziehungen zum Werk“) wie auch vermögensrechtliche Interessen („Nut-zung des Werkes“).

Dabei darf aber nicht der Eindruck entstehen, die einzel-nen Befugnisse aus dem UrhG schützten entweder nur das Urheberpersönlichkeitsrecht oder nur vermögensrechtliche Interessen. Dem deutschen Urheberrecht liegt die monistische Theorie zugrunde, wonach jedes Einzelrecht persönlichkeits-rechtliche und vermögensrechtliche Interessen schützt, nur in jeweils unterschiedlich starker Betonung.54

Dies veranschaulicht Eugen Ulmers Baummetapher.55 Ei-ne Wurzel des Baumes entspricht demnach den persönlich-keitsrechtlichen, eine andere den vermögensrechtlichen Be-fugnissen. Den Stamm bildet das einheitliche Urheberrecht. Äste und Zweige verkörpern die einzelnen Befugnisse, die sich „bald aus beiden, bald ganz oder vorwiegend aus einer der Wurzeln“ speisen.

Dennoch gliedert das UrhG nach Urheberpersönlichkeits-rechten (§§ 12–14 UrhG) und Verwertungsrechten (§§ 15–24 UrhG). Die monistische Theorie bewirkt aber gerade, dass man auch mit Urheberpersönlichkeitsrechten vermögensrecht-liche Interessen verfolgen kann (und umgekehrt).56

Beispiel: Das Veröffentlichungsrecht ist in § 12 UrhG als Urheberpersönlichkeitsrecht verortet. Das „ob und wie“ der Veröffentlichung betrifft vorrangig persönlichkeits-rechtliche Fragen, denn es geht um die sensible Entschei-

52 Vgl. BT-Drs. IV/270, S. 41. 53 Wandtke, in: Wandtke/Bullinger (Fn. 12), § 43 Rn. 31; Rojahn/Frank, in: Schricker/Loewenheim (Fn. 7), § 43 Rn. 100–102; A. Nordemann (Fn. 17), § 43 Rn. 24 und 25. 54 Schulze (Fn. 9), § 11 Rn. 2. 55 Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 3. Aufl. 1980, S. 116. 56 Bullinger (Fn. 12), § 11 Rn. 2; Dietz/Peukert, in: Loewen-heim, Handbuch des Urheberrechts, 2. Aufl. 2010, § 15 Rn. 4.

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dung, ob das Werk vollkommen ist57 und welche Art der Veröffentlichung das Werk und seine Intention angemes-sen zur Geltung bringt. Daneben kann mit einer aufwän-dig inszenierten Erstveröffentlichung auch viel Geld ver-dient werden, z.B. in Form einer Release-Party.

2. Exemplarisch: § 14 UrhG, Schutz vor Entstellung des Werkes Exemplarisch für Rechte mit starker persönlichkeitsrechtlicher Betonung wird § 14 UrhG dargestellt, weil zu diesem Recht jüngst eine maßgebliche Entscheidung erging.58

§ 14 UrhG schützt das Interesse an der Werkintegrität59 und überlässt dem Urheber die alleinige Entscheidung, wie sein Werk gestaltet sein soll. a) Beeinträchtigung § 14 UrhG verbietet Beeinträchtigungen und nennt als deren Unterfall die Entstellung („Entstellung oder eine andere Be-einträchtigung“). § 14 UrhG wird sowohl bei Eingriffen in die Werksubstanz60 (ein Gemälde wird durch Filzstiftzeich-nungen verändert) wie auch durch Präsentation des Werks in einem unvorteilhaften Kontext (Song wird auf einer Wahl-kampfveranstaltung gespielt)61 relevant.

In der BGH-Entscheidung Hhole (for Mannheim)62 ging es um eine gebäudegebundene Kunstinstallation, die im Rah- men eines Umbaus abgerissen wurde, wogegen die Urheberin vorging.

Der BGH hatte zunächst zu entscheiden, ob auch die Zer-störung des Werkes eine Beeinträchtigung gem. § 14 UrhG ist. Eine Auffassung, wonach § 14 UrhG nur den unverfälsch-ten Fortbestand des Werkes, nicht aber dessen Existenz schütze, hatte sich zuvor über lange Zeit gehalten.63

Der BGH stellte überzeugend heraus, dass nach der Rege-lungstechnik des § 14 UrhG die Vernichtung neben der Ent-stellung einen weiteren Unterfall der Beeinträchtigung dar-stellen könne.64 Außerdem sei die Vernichtung ein besonders starker Eingriff in das Urheberpersönlichkeitsrecht, weil „das Fortwirken des Werkes (als Ausdruck der Persönlichkeit des Urhebers) vereitel[t] und erschwer[t]“ werde.65 b) Interessengefährdung und Interessenabwägung Die Schwelle für die Eignung zur Interessengefährdung gem. § 14 UrhG ist gering und wird bei einer Beeinträchtigung

57 KG GRUR 1981, 742 (743) – Totenmaske. 58 BGH GRUR 2019, 609 ff. – Hhole (for Mannheim). 59 Peukert, in: Schricker/Loewenheim (Fn. 7), § 14 Rn. 1. 60 Schulze (Fn. 9), § 14 Rn. 6. 61 OLG Thüringen ZUM-RD 2015, 670 (671). 62 BGH GRUR 2019, 609 ff. – Hhole (for Mannheim). 63 OLG Schleswig ZUM 2006, 426 (427 m.w.N.); nach wie vor Peukert (Fn. 59), § 14 Rn. 20. 64 BGH GRUR 2019, 609 (612 Rn. 31) – Hhole (for Mann-heim). 65 BGH GRUR 2019, 609 (612 Rn. 33) – Hhole (for Mann-heim).

ohne vertragliche oder gesetzliche Erlaubnis vorliegen.66 Allerdings wird gerade bei diesem Sachverhalt offensicht-

lich, dass derjenige, der das Werk beeinträchtigt, hieran eben-falls gesetzlich geschützte Interessen haben kann. Ist etwa ein Werk wie im Fall „Hhole for Mannheim“ an ein Hausgrund-stück gebunden, muss das Interesse des Urhebers an Werk- integrität mit dem Interesse des Eigentümers an der Aus-übung seiner Eigentümerbefugnisse abgewogen werden.67

Bei der Beeinträchtigung gebäudegebundener Werke sei- en das Interesse des Eigentümers an Nutzungsänderungen oder bautechnische Erfordernisse zu berücksichtigen. Seitens des Urhebers werde relevant, ob es Vervielfältigungsstücke des Werkes gebe bzw. ob der Eigentümer ihm vor der Zerstö-rung die Möglichkeit zum Abbau des Werkes und/oder zu dessen Dokumentation eingeräumt habe.68

Im Ergebnis entschied der BGH zugunsten des Eigentü-mers. 3. Verwertungsrechte Die Verwertungsrechte gebühren ausschließlich dem Urheber und betonen seine vermögensrechtlichen Interessen (zu Schranken siehe IV.). Gem. § 15 UrhG sind zwei gesetzgebe-rische Entscheidungen grundlegend:

§ 15 UrhG unterscheidet zwischen körperlichen (Abs. 1) und unkörperlichen (Abs. 2) Verwertungsrechten. Bei den körperlichen Verwertungsrechten ist die Verwertung an ein Werkexemplar gebunden, die unkörperlichen Verwertungs-rechte knüpfen an eine Wiedergabe des Werkes an.

Die in § 15 Abs. 1 und Abs. 2 UrhG benannten Rechte sind nicht abschließend („insbesondere“). Der Gesetzgeber will dadurch unbenannte Verwertungsrechte ermöglichen, da- mit das Urheberrecht nicht von technischen Neuerungen über-holt wird.69

Folgend werden von den körperlichen Verwertungsrech-ten das Vervielfältigungsrecht (a) und das Verbreitungsrecht (b) dargestellt. Anschließend folgt eine Einführung in den Begriff der Öffentlichen Wiedergabe (c). a) Vervielfältigungsrecht, § 16 UrhG § 16 UrhG gibt dem Urheber das Recht, über die Herstellung von Werkexemplaren zu bestimmen.

Vervielfältigung meint dabei jede Fixierung des Werkes auf einem Trägermedium, durch das dieses sinnlich wahr-nehmbar wird.70 Nach § 16 Abs. 1 Hs. 2 UrhG ist das Ver-vielfältigungsrecht technologieneutral,71 auch auf die Dauer-haftigkeit oder die Stückzahl kommt es nicht an.

66 Schulze (Fn. 9), § 14 Rn. 15. 67 BGH GRUR 2019, 609 (612 Rn. 36) – Hhole (for Mann-heim); allgemein BT-Drs. IV/270, S. 45. 68 BGH GRUR 2019, 609 (613 Rn. 39–41 m.w.N.) – Hhole (for Mannheim). 69 BT-Drs. IV/270, S. 45; zum europarechtlichen Kontext Heerma, in: Wandtke/Bullinger (Fn. 12), § 15 Rn. 15. 70 BT-Drs. IV/270, S. 47. 71 Schulze (Fn. 9), § 16 Rn. 7.

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Beispiel: Ein Roman wird auf Papier gedruckt; eine Foto-grafie wird auf einen USB-Stick gespeichert.

Eine Vervielfältigung ist auch nicht davon abhängig, ob das Werk dadurch unmittelbar oder nur mittelbar wahrnehmbar wird.72

Beispiel: Die auf einen USB-Stick gespeicherte Fotogra-fie kann von diesem nicht unmittelbar angesehen werden, der Stick muss an einen PC angeschlossen werden, um den Inhalt von diesem aus zu betrachten. Eine Vervielfäl-tigung gem. § 16 UrhG ist dennoch gegeben.

Für das Vorliegen des Tatbestands einer Vervielfältigung ist deren Zweck irrelevant.73 Dieser kann aber auf Schranken-ebene beachtlich werden, z.B. §§ 44a, 53 UrhG. b) Das Verbreitungsrecht, § 17 UrhG Während § 16 UrhG dem Urheber die Herstellung des Werk-exemplars überlässt, geht es bei § 17 UrhG üblicherweise um den öffentlichen Handel mit Werkexemplaren.74 aa) Handlung mit Öffentlichkeitsbezug Für den Begriff der Öffentlichkeit gilt § 15 Abs. 3 S. 2 UrhG analog.75 Das Urheberrecht kennt noch einen weiteren Öf-fentlichkeitsbegriff (siehe c). Nach § 15 Abs. 3 S. 2 UrhG analog ist die Verbreitung öffentlich, wenn sie gegenüber einer Person vorgenommen wird, zu der der Handelnde keine persönliche Beziehung pflegt.76 bb) Verbreitung im Sinne des § 17 UrhG Ursprünglich verstand man unter Inverkehrbringen gem. § 17 Abs. 1 UrhG jedes Verhalten, durch das ein Werkexemplar aus der internen Sphäre der Öffentlichkeit zugeführt wird.77 Nach dieser Definition wären Eigentums- und Besitzübertra-gungen umfasst.78

Anbieten als Verbreitungshandlung ist im wirtschaftlichen Sinne zu verstehen und dadurch weiter gefasst als bei § 145 BGB.79

§ 17 UrhG dient allerdings der Umsetzung des Art. 4 Abs. 1 InfoSocRL80 und ist richtlinienkonform auszulegen. Zudem wird Vollharmonisierung angenommen; das heißt, die Mitgliedstaaten dürfen über das Verbreitungsrecht nicht mehr

72 BT-Drs. IV/270, S. 47. 73 Kroitzsch/Götting, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Urheberrecht, 28. Ed., Stand: 15.6.2020, § 16 Rn. 3. 74 Loewenheim (Fn. 7), § 17 Rn. 1. 75 Heerma (Fn. 69), § 17 Rn. 19. 76 BGH GRUR 1985, 129 (130) – Elektrodenfabrik; BGH GRUR 1991, 316 (317) – Einzelangebot. 77 Loewenheim (Fn. 7), § 17 Rn. 17. 78 Götting, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Urheber-recht, 28. Ed., Stand: 15.6.2020, § 17 Rn. 8. 79 Heerma (Fn. 69), § 17 Rn. 15. 80 RL 2001/29/EG.

Handlungen schützen, als die Richtlinie vorsieht.81 In diesem Kontext trug die Rechtsprechung des EuGH

zumindest bei manchen Stimmen82 zu einem neuen Verständ- nis des Verbreitungsrechts bei.

In seiner vielfach kritisierten83 Entscheidung Le-Corbu- sier-Möbel84 entschied der EuGH, Verbreitungen im Sinne des Art. 4 Abs. 1 InfoSocRL seien nur bei Verkauf oder Über-eignungen des Werkexemplares anzunehmen.85 Das europäi-sche Urheberrecht kennt auch ein Vermietrecht. Dies ist allerdings ein gegenüber der Verbreitung eigenständiges Recht und in einer gesonderten Richtlinie geregelt.86

Bei Handlungen, die mit einer Eigentumsübertragung am Werkexemplar zusammenhängen, versteht der EuGH das Verbreiten nach Art. 4 Abs. 1 InfoSocRL weit. So subsumier-te er bspw. ein bindendes Kaufangebot, die invitatio ad offe-rendum und Kaufwerbung87 unter Art. 4 Abs. 1 InfoSocRL.

An der Auslegung des Anbietens über § 145 BGB hinaus ändert sich demnach nichts, soweit das Angebot auf Kauf bzw. Eigentumsübertragung gerichtet ist. cc) Erschöpfung, § 17 Abs. 2 UrhG Das Verbreitungsrecht an einem Werkexemplar erschöpft sich gem. § 17 Abs. 2 UrhG nach dessen rechtmäßiger Erstveräu-ßerung. Die weitere Verbreitung des betroffenen Exemplars unterliegt also nicht mehr dem Ausschließlichkeitsrecht des Urhebers. Die Erschöpfung dient dem Interesse an der Ver-kehrsfähigkeit von Werkexemplaren.88

Beispiel: Musikverlag V (vgl. § 1 VerlG) presst die Musik-stücke des M auf CD (§ 16 UrhG) und veräußert diese so-dann an den Einzelhandel (§ 17 Abs.1 UrhG). Bereits in diesem Moment erschöpft sich das Verbreitungsrecht gem. § 17 Abs. 2 UrhG an diesen CDs, sodass Musik-händlerin H sie ohne weitere Erlaubnis an die Endkunden veräußern darf. Auch Endkundin E darf die bei H erwor-bene CD auf dem Flohmarkt veräußern.

81 BGH GRUR 2009, 840 (841 Rn. 19) – Le-Corbusier-Möbel II; v. Ungern-Sternberg, GRUR 2012, 1198 (1204); kritisch Berger, ZUM 2012, 353 (356). 82 Bspw. BGH GRUR 2009, 840 (841 Rn. 21 u. 22) – Le-Corbusier-Möbel II; BGH GRUR 2014, 549 (550 Rn. 18) – Meilensteine der Psychologie; Dustmann, in: Fromm/Norde- mann (Fn. 17), § 17 Rn. 16 und 19; nach wie vor für den ur- sprünglichen Verbreitungsbegriff etwa Schulze (Fn. 9), § 17 Rn. 15. 83 Bspw. v. Welser, GRUR Int. 2008, 596 ff.; Schulze, GRUR 2009, 812 (813); Götting (Fn. 78), § 17 Rn. 8. 84 EuGH GRUR Int. 2008, 593 ff. – Le-Corbusier-Möbel. 85 EuGH GRUR Int. 2008, 593 (596 Rn. 41) – Le Corbusier-Möbel. 86 RL 2006/115/EG; vertiefend Schulze, GRUR 2009, 812 (813). 87 EuGH GRUR 2015, 665 (666 Rn. 27 und 28, 667 Rn. 35) – Marcel-Breuer-Möbel. 88 BT-Drs. IV/270, S. 48; BGH GRUR 2001, 51 (53) – Par-fumflakon.

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Grundwissen zum Urheberrecht – Teil 1 ZIVILRECHT

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Demgegenüber sieht das Urheberrecht beim unkörperlichen Recht der Öffentlichen Wiedergabe (siehe unten c) keine Er- schöpfung vor, Art. 3 Abs. 3 InfoSocRL.89 c) Öffentliche Wiedergabe, § 15 Abs. 2 UrhG Noch deutlicher als beim Verbreitungsrecht zeigt sich die europarechtliche Prägung des Urheberrechts beim Recht der öffentlichen Wiedergabe, § 15 Abs. 2 UrhG, Art. 3 Abs. 1 InfoSocRL.

§ 15 Abs. 2 S. 2 UrhG nennt Verwertungsrechte, die „ins-besondere“ unter das Recht der öffentlichen Wiedergabe fallen (siehe II. 3.). Die öffentliche Wiedergabe i.S.d. Art. 3 Abs. 1 InfoSocRL wird demgegenüber, geprägt durch die Rechtsprechung des EuGH, als „eigenständiges, umfassendes Verwertungsrecht“ interpretiert, bei dem einzelne spezielle Rechte (wie § 15 Abs. 2 Nrn. 1 bis 5 UrhG) an Bedeutung verlieren.90 Der EuGH hat im Laufe der Zeit feste wie optio-nale Kriterien entwickelt, die eine öffentliche Wiedergabe charakterisieren.91 aa) Öffentliche Wiedergabe im UrhG und nach der InfoSocRL Nicht alle Rechte, die § 15 Abs. 2 Nrn. 1 bis 5 UrhG als öf-fentliche Wiedergabe einordnet, fallen auch unter Art. 3 Abs. 1 InfoSocRL. Von diesem seien nur Wiedergaben um-fasst, bei denen das Publikum, dem das Werk wahrnehmbar gemacht wird, nicht an dem Ort anwesend ist, an dem die Wiedergabe ihren Ursprung nimmt.92

Beispiel:93 Musiker führen in einer Zirkusvorstellung ein Musikwerk live auf. Dies ist kein Fall von Art. 3 Abs. 1 InfoSocRL, denn das Publikum ist am Ursprungsort der Wiedergabe (Darbietung im Zirkuszelt) anwesend.

Es ist genaugenommen zwischen dem Ort der Live-Darbie- tung und dem Ort der Wiedergabehandlung zu differenzie-ren.94

Demgegenüber umfassen die §§ 15 Abs. 2 Nr. 1, 19 UrhG Handlungen, die eine unmittelbare Werkwiedergabe voraus-setzen.95 § 19 UrhG kann man sich vorsichtig als „Live-

89 EuGH GRUR 2020, 179 (180 Rn. 33) – NUV ua/Tom Kabinet; Besprechung Gesmann-Nuissl, InTeR 2020, 35 ff.; zu Besonderheiten nach der ComputerprogrammRL siehe EuGH GRUR 2012, 904 (906 Rn. 59–61) – UsedSoft; Be-sprechung Gesmann-Nuissl, InTeR 2013, 51 ff. 90 v. Ungern-Sternberg, GRUR 2012, 1198 (1202). 91 Wiebe, in: Spindler/Schuster (Hrsg.), Kommentar zum Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, UrhG § 15 Rn. 15. 92 EuGH GRUR 2012, 156 (166 Rn. 200) – Football Associa-tion Premier League u. Murphy; EuGH GRUR Int. 2012, 150 (153 Rn. 41) – Circus Globus Bucureşti. 93 EuGH GRUR Int. 2012, 150 ff. – Circus Globus Bucureşti. 94 Dreier (Fn. 41), § 19 Rn. 4. 95 BT-Drs. IV/270, S. 48.

Recht“ vorstellen. Dies ist nicht von Art. 3 Abs. 1 InfoSocRL umfasst.96 bb) Die öffentliche Wiedergabe nach dem EuGH Art. 3 Abs. 1 InfoSocRL erfordert eine Wiedergabehandlung und Öffentlichkeit.97 Beide Voraussetzungen weisen weitere Merkmale auf. (1) Wiedergabehandlung Der Nutzer (so nennt der EuGH die Person, die das Werk wiedergibt) muss dem Publikum in voller Kenntnis der Fol-gen seines Handelns einen Werkzugang gewähren, den es ohne sein Zutun nicht hätte.98 Das Publikum muss seinerseits aufnahmebereit sein und darf nicht bloß zufällig erreicht werden.99 Ein aufnahmebereites Publikum sucht den Werk-genuss und lässt sich darauf ein, anstatt nur damit konfron-tiert zu werden.100

Beispiel:101 Optiker O hört in seinem Ladenlokal Musik, die auch die Kundschaft mithören kann. Hier wäre die Aufnahmebereitschaft des Publikums diskussionswürdig. Die Kunden kommen schließlich zu O, um Brillen zu kaufen, und werden es kaum auf Musikkonsum anle-gen.102

(2) Öffentlichkeit Öffentlichkeit erfordert eine unbestimmte Zahl potentieller Adressaten und recht viele Personen.103

Das Merkmal „unbestimmt“ soll eine Wiedergabe im be-schränkten – nicht zwingend: persönlich verbundenen – Kreis ausklammern.104

Beispiel: Eine geschlossene Seminargruppe an der Uni kann ein beschränkter Personenkreis in diesem Sinne sein, eine Werkwiedergabe wäre nicht öffentlich.

Durch das Merkmal „recht viele Personen“ soll eine „allzu kleine oder gar unbedeutende Mehrzahl“ von Personen nicht als Öffentlichkeit verstanden werden.105 Bei der Sachverhalts-

96 Dreier (Fn. 41), § 19 Rn. 4; Kroitzsch/Götting (Fn 73), § 19 Rn. 1. 97 Bspw. EuGH GRUR 2016, 684 (686 Rn. 37) – Reha Trai-ning/GEMA. 98 EuGH GRUR 2012, 593 (596 Rn. 82) – SCF/Del Corso. 99 EuGH GRUR 2012, 593 (596 Rn. 91) – SCF/Del Corso. 100 Heerma (Fn. 69), § 15 Rn. 24; Handig, ZUM 2013, 273 (276) unterscheidet nach Vordergrund- und Hintergrundmusik. 101 LG Frankfurt am Main ZUM-RD 2005, 242 ff. 102 Das LG Frankfurt am Main (ZUM-RD 2005, 242 ff.) hat, noch von § 15 Abs. 3 UrhG ausgehend, eine Öffentlichkeit bejaht. 103 EuGH GRUR 2016, 684 (686 Rn. 41) – Reha Training/ GEMA. 104 EuGH GRUR 2016, 684 (686 Rn. 42) – Reha Training/ GEMA; Heerma (Fn. 69), § 15 Rn. 22. 105 EuGH GRUR 2012, 593 (596 Rn. 86) – SCF/Del Corso.

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feststellung, wie vielen Personen das Werk wiedergegeben wurde, kommt es darauf an, wie viele „gleichzeitig und nach-einander Zugang zu demselben Werk“ hatten.106

Stand jetzt ist keine fixe Zahl bekannt, ab der mehrere Personen „recht viele“ sind.107

Hinweis: Diese Frage sollte in der Klausur anhand der In-teressen des Urhebers und unter Einbeziehung des Sach-verhalts beantwortet werden. Das Recht der öffentlichen Wiedergabe ist ein Erlaubnis- und Verbotsrecht. Außer-dem muss der Urheber an jeder Nutzung des Werkes an-gemessen beteiligt werden, § 11 S. 2 UrhG. Wird das Werk im Sachverhalt so vielen Personen zugänglich ge-macht, dass das Erlaubnis- und Verbotsrecht greifen muss und auch eine finanzielle Beteiligung des Urhebers ange-zeigt ist? Andersherum: ist die Gruppe quantitativ so irre-levant, dass auf eine finanzielle Beteiligung des Urhebers verzichtet werden kann?108

Daneben reichert der EuGH die Öffentliche Wiedergabe mit weiteren Merkmalen an, deren Bedeutung von Fall zu Fall variiert.109

Hier soll nur auf die Merkmale „neues technisches Ver-fahren“ und „neues Publikum“ eingegangen werden.

Diese beiden Erfordernisse stehen alternativ nebeneinan-der und werden nur relevant, wenn das Werk bereits mit Erlaubnis des Urhebers wiedergegeben wurde (also nicht bei Erstwiedergaben).110

Beispiel:111 Fotograf F erlaubt einem Reisebüro, eine sei-ner Fotografien der Stadt Cordoba auf dessen Internetseite hochzuladen. Schülerin S lädt die Fotografie zur Illustra-tion eines Referats herunter. Das Referat wird anschlie-ßend mitsamt der Fotografie auf die Schulhomepage hochgeladen.

Das Werk wurde bereits mit Erlaubnis des Urhebers auf die Reisebüroseite geladen, hieran knüpft die Wiedergabe der Schule an, ohne sich eines neuen technischen Verfahrens zu bedienen. Hieraus folgt demnach keine weitere erlaubnis- bedürftige Wiedergabe.112 Nun stellt sich die Frage, ob das Werk zwar nicht technisch anders, aber gegenüber einem

106 EuGH GRUR 2016, 684 (686 Rn. 44) – Reha Training/ GEMA. 107 Dustmann (Fn.82), § 15 Rn. 41; Heerma (Fn. 69), § 15 Rn. 21. 108 BGH GRUR 1955, 492 (496) – Grundig Reporter; Hof-mann, UFITA 2018, 334 (351). 109 Wiebe (Fn. 91), § 15 Rn. 15; Dustmann (Fn. 82), § 15 Rn. 40–44. 110 BGH GRUR 2018, 178 (182 Rn. 37) – Vorschaubilder III; Leistner, GRUR 2017, 755 (758); ähnlich Dreier (Fn. 41), § 15 Rn. 39; gegen diese Kriterien Schack (Fn. 10), Rn. 444a. 111 EuGH GRUR 2018, 911 ff. (Cordoba); BGH GRUR 2019, 813 ff. (Cordoba II). 112 EuGH GRUR 2013, 500 (501 Rn. 24 u. 26) – ITV Broad-casting/TVC.

neuen Publikum wiedergegeben wird. Das meint ein Publi-kum, an das der Urheber bei Erlaubnis der Erstwiedergabe nicht dachte.113

Im Beispiel ließe sich darauf abstellen, ein einmal unge-schützt ins Internet gelangtes Werk sei allen Internetnutzern wiedergegeben. Der EuGH argumentierte aber, F habe nur die Wiedergabe für die Besucher der Reisebüroseite, nicht für die der Schulseite erlaubt.114

Dieses Ergebnis wird verständlich, wenn man sich klar macht, dass die Schule mit Hochladen des Werkes eine neue, von der Reisebüroseite unabhängige Quelle geschaffen hat. Ein bloßer Hyperlink zur Reisebüroseite wäre immer vom Bestand der Ursprungswiedergabe abhängig gewesen.115 So wurde aber am Urheber vorbei eine eigenständige weitere Quelle geschaffen, die das Eingreifen seines Rechts legiti-miert.116 4. Bearbeitung und freie Benutzung Auch wenn § 3 UrhG den Urheber einer Bearbeitung schützt, würde bei einer Verwertung der Bearbeitung das Ursprungs-werk ebenfalls vervielfältigt oder verbreitet,117 denn die we-sentlichen Züge des Ursprungswerkes bleiben im neuen Werk erhalten.118 Deshalb sind Veröffentlichung und Verwertung solcher Bearbeitungen gem. § 23 S. 1 UrhG an die Einwilli-gung des Urhebers des Ursprungswerkes gebunden (Ausnah- me: § 23 S. 2 UrhG, der bereits die Herstellung an die Ein-willigung bindet). Anders liegt dies bei der freien Benutzung gem. § 24 UrhG. Hier wird das Ursprungswerk nicht bearbei-tet, sondern dient als Inspiration zu einem neuen Werk.119 Das neue Werk hat sich vom Ursprungswerk so weit losge-löst, dass „angesichts der Eigenart des neuen Werks die ent-lehnten eigenpersönlichen Züge des geschützten älteren Werks verblassen.“120 Deshalb bedarf gem. § 24 Abs. 1 UrhG auch eine Veröffentlichung und Verwertung keiner gesonderten Zustimmung. Die Rechte des Urhebers des Ursprungswerkes sind im Vergleich zu § 23 UrhG kaum betroffen (vertiefend zur freien Benutzung in Teil 2 unter IV. 4.).

113 EuGH GRUR 2018, 911 (912 Rn. 24) – Cordoba. 114 EuGH GRUR 2018, 911 (913 Rn. 35) – Cordoba. 115 EuGH GRUR 2018, 911 (914 Rn. 44) – Cordoba. 116 EuGH GRUR 2018, 911 (913 Rn. 30 und 31) – Cordoba. 117 BT-Drs. IV/270 S. 38 ff. 118 BGH GRUR 1972, 143 (144) – Biografie: „Ein Spiel“; Schack (Fn. 10), Rn. 274. 119 Schack (Fn. 10), Rn. 274. 120 BGH GRUR 1994, 206 (208) – Alcolix.

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ZJS 5/2020 427

Zur Darstellung der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) in der Fallbearbeitung Zugleich Anm. zu BGH, Beschl. v. 26.3.2019 – 4 StR 381/18 = NStZ-RR 2019, 203 Von RiOLG Prof. Dr. Dennis Bock, Kiel* I. Einführung In der universitären Ausbildung ist die Mittäterschaft als eine der drei in § 25 StGB geregelten Täterschaftsformen – typi-scherweise nach der zudem die allgemeine Tatbestandslehre beinhaltenden unmittelbaren Alleintäterschaft – Gegenstand des Pflichtfachstoffs.1 Das sich hierbei bietende Geflecht unterschiedlichster Voraussetzungen der Mittäterschaft i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB führt schon in der Ausbildungsliteratur zu einer gewissen Unübersichtlichkeit. Gleiches gilt für die höchstrichterliche Rechtsprechung, welche – textbaustein- artig wiederkehrend – Elemente von Tatplan und -ausführung kombiniert in eine wertende Gesamtbetrachtung einstellt, Be- strebungen zu einem systematischen und rechtssicheren Prüf-programm somit vermissen lässt. Deshalb soll im Rahmen dieses Beitrags der Versuch einer geordneten Darstellung der inhaltlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 StGB unter-nommen werden, die dem Studenten nicht bloß als gedankli-che Stütze dienen, sondern auch eine prägnante Darstellung von Problemschwerpunkten im Prüfungsfall ermöglichen kann. Dies soll anhand einer jüngeren Entscheidung des BGH erfolgen. II. Sachverhalt Dem Beschluss des 4. Strafsenats des BGH liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

K, S und U beschlossen einige Wochen vor dem 3.11. 2016 ein türkisches Café „anzugehen“, um durch diese Akti-on auf die Situation der kurdischen Bevölkerung in der Tür-kei aufmerksam zu machen. Hierzu versuchten sie weitere Teilnehmer zu mobilisieren.

Der von K, S und U kurz vor dem 3.11.2016 konkret ge-fasste Plan beinhaltete, die Scheiben des Cafés einzuschlagen, es zu betreten und die dort aufgehängten türkische Fahnen abzureißen und sich mit den türkischen Gästen zu prügeln. Zur Tatausführung beschlossen sie, mehrere 200 bis 250 Gramm schwere Metallzylinder, zwei Hämmer, Silvester- raketen und Eisenstangen und von U und C hergestellte „Molotowcocktails“ zu verwenden, letztere sollten hingegen nur zur Erregung von Aufmerksamkeit auf die Straße gewor-fen werden. Am Abend des 4.11.2016 trafen sie sich mit anderen, an der Aktion interessierten – darunter auch A2 – zu einer Gruppe von über elf Personen. K, S und U erläuterten den Anwesenden das Vorhaben. Allen Beteiligten war be-kannt, dass durch das geplante Werfen der Metallzylinder * Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschafts-strafrecht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Direktor des dortigen Instituts für Kriminalwissenschaften sowie Richter am Oberlandesgericht Schleswig. 1 Vgl. etwa Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 49. Aufl. 2019, Rn. 811 ff.; Heinrich, Strafrecht, All-gemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, Rn. 1218 ff. 2 Im Originaltext Ar abgekürzt.

durch die Scheiben des Cafés dort anwesende Gäste erheblich verletzt werden konnten – dies nahmen sie billigend in Kauf.

Während der Tatausführung wurden Metallzylinder gegen die Fensterscheibe und in das Café geworfen, gleiches erfolg-te mit einer Silvesterrakete sowie absprachewidrig mit einem Brandsatz. Zudem wurden einzelne Scheiben mit einem mit-geführten Hammer und einer Eisenstange eingeschlagen, vom Eindringen in das Café nahmen die Beteiligten jedoch auf-grund der Anwesenheit eines großen Hundes Abstand. A lief lediglich in der Gruppe mit und gab dieser so Rückhalt.

Durch die Tat wurden mehrere Fensterscheiben und die Scheiben der Eingangstür des Cafés zerstört. Der Glasscha-den betrug insgesamt etwa 1.800 €. Die im Café anwesenden Personen wurden nicht verletzt.

Später ließ sich A geständig dahingehend ein, den ihr be-kannten Tatplan gebilligt und sich dazu entschlossen zu ha-ben, an dem „Gesamtauftritt der Gruppe“ und dem Angriff auf das Café teilzunehmen. Nach ihrem eigenen Bekunden habe sie hierbei keine fremde Tat fördern wollen, sondern die Tat als eigene gewollt, ihren Tatbeitrag habe sie als psychi-sche Förderung der Tat im Bewusstsein von dessen Wirkung (offensichtlich gegebener Rückhalt, Vergrößerung der Grup-pe) verstanden wissen wollen. III. Voraussetzungen der Mittäterschaft 1. Überblick Die Darstellung der Mittäterschaft i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB erfolgt in Lehrbüchern typischerweise unter den Gliederungs- punkten des gemeinsamen Tatplans und der gemeinsamen Tatausführung, Spezifika werden – sofern die Darstellung nicht im Rahmen der genannten Gliederungsebenen erfolgt – innerhalb der Einleitung oder kumuliert in einem oder mehre-ren Sondergliederungspunkten vorgetragen.3 Dies mag sach-lich seine Berechtigung haben, führt in der Klausurpraxis bei dem durchschnittlichen Studenten hingegen mitunter zu ei-nem unstrukturierten und unübersichtlichen Prüfungsaufbau, der nicht nur die Normanknüpfung vermissen lässt, sondern bei dem zugleich die Zurechnungsfunktion des § 25 Abs. 2 StGB aus dem Blick gerät. Um die aufgezeigten Probleme zu

3 Vgl. etwa Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 811 ff. (Cha-rakteristika und Rechtsfolgen, Subjektiver Tatbestand, Mit- täterexzess, Irrtümer, Sukzessive Mittäterschaft, Sonderkon- stellationen); Heinrich (Fn. 1), Rn. 1218 ff. (Grundlagen, Sonderprobleme); Eisele/Heinrich, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2020, Rn. 782 ff. (Grundlagen, Sonderproble-me); Krey/Esser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2016, Rn. 941 ff. (Ergänzende Hinweise); Frister, Strafrecht, All-gemeiner Teil, 8. Aufl. 2018, Kap. 26 Rn. 1 ff.; Roxin, Straf-recht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, Rn. 188 ff. (Struktur der Mittäterschaft, sukzessive Mittäterschaft, Sonderformen, ab- weichende Konzeptionen).

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vermeiden, soll folgende gedankliche Strukturierung bereits im Rahmen des Prüfungsaufbaus angeboten werden:4

Im Einzelnen: 2. § 25 Abs. 2 StGB als Zurechnungsnorm Die Norm regelt eine Zurechnung arbeitsteiliger Tatanteile; jeder Mittäter wird so behandelt, als habe er auch die Tat- beiträge des anderen selbst erbracht, diese werden ihm also zugerechnet.5 Erforderlich ist eine Prüfung also dann, wenn keine eigenhändige Verwirklichung des Tatbestandes im Raum steht. Dies ist negativ im Rahmen der Prüfung des ersten insofern „kritischen“ Tatbestandsmerkmals festzustellen, um dann den Zurechnungsgegenstand, also die Handlung des potenziellen Mittäters, im Hinblick auf den Deliktstatbestand zu bewerten.

Zwar ist es, v.a. bei Erfolgsdelikten, auch möglich und wird jedenfalls bei Tötungsdelikten auch empfohlen,6 die (Mit-)Täterschaft nicht inzident beim betroffenen Merkmal des jeweiligen Tatbestands zu prüfen, sondern als eigenstän-diger Prüfungspunkt „Täterschaft“. In fortgeschrittenen Fall-bearbeitungen ist dies aber nicht sehr üblich und es kann stilistisch etwas gespreizt wirken, in Mehrpersonen- konstellationen schulmäßig den objektiven Tatbestand nach

4 Vgl. auch Rotsch, ZJS 2012, 680 mit einem vom hiesigen Schema abweichenden Konzept, nach dem die gemeinsame Tatausführung vor dem gemeinsamen Tatentschluss geprüft und die Wesentlichkeit eines Tatbeitrages ex post anhand der Tatausführung bestimmt wird. 5 Kindhäuser/Hilgendorf, Lehr- und Praxiskommentar, Straf-gesetzbuch, 8. Aufl. 2019, § 25 Rn. 47. 6 Siehe etwa Heinrich (Fn. 1), Rn. 1230.

Erfolg, Handlung, Kausalität und Täterschaft zu gliedern (z.B. bei Delikten wie Körperverletzung, Brandstiftung oder Diebstahl). Es empfiehlt sich aus Gründen der Übersichtlich-keit, die in Betracht kommenden Personen getrennt zu prü-fen. 3. Sog. gemeinsamer Tatentschluss/-beschluss/-plan: Tat- und Arbeitsteilungsverabredung Liegt eine das Tatbestandsmerkmal verwirklichende Hand-lung des potentiellen Mittäters vor, ist zunächst bei Anlass auf die Täterqualität des Zurechnungsadressaten einzugehen, um dann in chronologischer Nachzeichnung der Vorgänge zwischen den Beteiligten zu prüfen, ob mindestens zwei Personen eine hier sog. Tat- und Arbeitsteilungsverabredung geschlossen haben. Die gängige Bezeichnung als gemeinsa-mer Tatentschluss7 ist eher unglücklich, da das Missver-ständnis entstehen kann, es handele sich um rein Subjektives (die Verabredung muss nämlich als Kommunikationsakt ob- jektiv vorliegen).

Die Tat- und Arbeitsteilungsverabredung besteht in einem Einigsein über eine gleichberechtigte Partnerschaft und ent-sprechende Rollenverteilung sowie gegenseitige Abhängig-keit im Hinblick auf die Tatbegehung.

Die Verabredung kann ausdrücklich gefasst werden, aber auch konkludent (z.B. durch gegenseitiges Zunicken), dies ist auch nach Tatbeginn noch möglich.8 Abzugrenzen ist dies von bloßer Billigung oder Ausnutzung des Vorgehens eines anderen.9

Befindet sich einer der Beteiligten bereits im Versuchs-stadium, ist die Frage der sog. sukzessiven Mittäterschaft zu erörtern.10 4. Hinreichendes Gewicht des laut Arbeitsteilungsverabredung vom zu Prüfenden zugesagten Tatbeitrags Die vereinbarten Tatbeiträge müssen in „Abgrenzung“ zu § 27 StGB ein gewisses Gewicht erreichen, um eine wechsel-seitige Zurechnung der Tatbeiträge nach § 25 Abs. 2 StGB zu begründen. Welche Anforderungen hieran zu stellen sind, ist umstritten.

7 Siehe nur Kudlich, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’- scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, 45. Ed., Stand: 1.2.2020, § 25 Rn. 49. 8 Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 67. Aufl. 2020, § 25 Rn. 34 f.; aus der Rspr. vgl. BGH, Urt. v. 15.1.1991 – 5 StR 492/90 = BGHSt 37, 289 = NJW 1991, 1068 = NStZ 1991, 280 = StV 1993, 410 (Anm. Roxin, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Allgemeinen Teil des Strafrechts, 1998, Nr. 79; Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2019, § 23 Rn. 10 ff.; Geppert, JK 1991, StGB § 25 II/5; Puppe, NStZ 1991, 571; Roxin, JR 1991, 206; Herzberg, JZ 1991, 856; Erb, JuS 1992, 197; Stein, StV 1993, 411; Hauf, NStZ 1994, 263. 9 Fischer (Fn. 8), § 25 Rn. 34. 10 Hierzu siehe Bock, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2018, S. 202 ff.

I. Objektiver Tatbestand 1. Feststellung, dass keine komplett eigenhändige

Verwirklichung vorliegt → beim ersten insofern „kritischen“ Tatbestands-merkmal inzident festzustellen

2. Feststellung, dass komplettierender Beitrag eines anderen vorliegt

3. Täterqualifikation → nur, wer auch unmittelbarer (Allein-)Täter der

Tat sein kann, d.h. Ausschluss bei eigenhändigen, Sonder- und Pflichtdelikten

4. Sog. gemeinsamer Tatentschluss/-beschluss/-plan: Tat- und Arbeitsteilungsverabredung

5. Hinreichendes Gewicht des laut Arbeitsteilungs-verabredung vom zu Prüfenden zugesagten Tat- beitrags

6. Sog. gemeinsame Tatausführung/wesentlicher Tat- beitrag: Erfüllung der Tat- und Arbeitsteilungs-verabredung durch den zu Prüfenden

7. Hinreichende Kongruenz des Tatbeitrags des Zu-zurechnenden mit der Tat- und Arbeitsteilungs-verabredung

II. Subjektiver Tatbestand

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Zur Darstellung der Mittäterschaft in der Fallbearbeitung STRAFRECHT

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ZJS 5/2020 429

Während die Rechtsprechung mithin den erforderlichen Täterwillen betont und demgegenüber die objektiven Anfor-derungen absenkt, objektive Gesichtspunkte allerdings indi-ziell zur Ermittlung des Täterwillens verwendet, herrscht innerhalb der Lehre Streit darüber, welche zugesagten Tatbei-träge täterschaftsbegründend sein können.11

Nach der sog. strengen Tatherrschaftslehre12 ist die Zusa-ge einer wesentlichen Mitwirkung im Ausführungsstadium notwendig, auch wenn eine Anwesenheit am Tatort nicht erforderlich ist.

Die Rspr. und die h.L.13 verlangen zwar auch einen verab-redeten objektiv wesentlichen Tatbeitrag, halten für einen solchen aber auch eine beträchtliche Mitwirkung im Vorbe-reitungsstadium für ausreichend, welche dann mithin in der Lage ist, ein Beteiligungsminus im Ausführungsstadium funktional auszugleichen. Natürlich schafft gerade der weite Anwendungsbereich mittäterschaftstauglicher Verabredungs-gegenstände Abgrenzungsschwierigkeiten zur milder bestraf-ten Beihilfe nach § 27 StGB.

Laut BGH14 liegt Mittäterschaft dann vor, wenn ein Tat-beteiligter nicht bloß fremdes Tun fördern will, sondern sei-nen Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils will. Ob ein Beteiligter dieses enge Verhältnis zur Tat habe, sei nach den gesamten von seiner Vorstellung umfassten Umständen in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhalts- punkte hierfür könnten gefunden werden im Grad des eige-nen Interesses am Erfolg der Tat, im Umfang der Tatbeteili-gung und in der Tatherrschaft oder wenigstens im Willen zur Tatherrschaft, so dass Durchführung und Ausgang der Tat maßgeblich von seinem Willen abhingen. 5. Sog. gemeinsame Tatausführung/wesentlicher Tatbeitrag: Erfüllung der Tat- und Arbeitsteilungsverabredung durch den zu Prüfenden Die Tat- und Arbeitsteilungsverabredung muss sodann durch den Mittäter in spe nach Maßgabe des Vereinbarten auch tatsächlich umgesetzt werden. Wurde dies bereits im Rahmen der Prüfung eines anderen Tatbestandsmerkmals festgestellt, kann hier inhaltlich auf diese Prüfung verwiesen werden.

Hierbei ist erforderlich, dass der verwirklichte Tatbeitrag hinreichende Kongruenz mit der Arbeitsteilungsverabredung aufweist. Problematisch ist eine Zurechnung dann, wenn ein Tatbeteiligter im Rahmen der Tatausführung die Tat- und Arbeitsteilungsverabredung überschreitet: Der Einzelne haf-tet nur bis zur Grenze des sich in der Verabredung manifes-tierenden Vorsatzes. Bei sog. Exzess des Mittäters haftet nur derjenige für das Übermaß, welcher über das Vereinbarte

11 Zsf. Heinrich (Fn. 1), Rn. 1226 ff. 12 Etwa Puppe (Fn. 8), § 23 Rn. 9; Roxin, JA 1979, 519 (522 f.). 13 Siehe Joecks/Jäger, Studienkommentar, Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 2018, § 25 Rn. 84 f. 14 Zuletzt BGH, Urt. v. 17.4.2019 – 5 StR 685/18 = NStZ 2019, 514 (Anm. Bertlings, jurisPR-StrafR 18/2019 Anm. 5).

hinausgeht.15 Auch wenn der „Mittäter“ eine ganz andere Tat als die geplante begeht, scheidet eine Zurechnung aus.16 An-gesichts der oft offenen und vagen Planung der Tat ist aber nicht jede spontane Aktion des anderen Beteiligten ein Ex-zess: Differenzen, mit denen nach den Umständen des Falles gerechnet werden muss, und solche, bei denen die verabrede-te Tatausführung durch eine in ihrer Schwere und Gefähr-lichkeit gleichwertige ersetzt wird, werden in der Regel vom Willen des Beteiligten umfasst, auch wenn er sie sich nicht so vorgestellt hat; ebenso ist der Beteiligte für jede Ausführungs-art einer von ihm gebilligten Straftat verantwortlich, wenn ihm die Handlungsweise seiner Tatgenossen gleichgültig ist und deswegen auf die Billigung geschlossen werden kann.17 Zu denken ist auch daran, dass noch im Verlauf der Tatbege-hung stets eine spontane – auch konkludente – Ausweitung des ursprünglichen Tatplans möglich ist.18

Problematisch sind zudem Fallkonstellationen, in denen ein Mittäter die zunächst geschlossene Tat- und Arbeits- teilungsverabredung aufkündigt.19 IV. Die Entscheidung des 4. Strafsenats v. 26.3.2019 1. Tatentschluss zur gefährlichen Körperverletzung, §§ 223, 224 Abs. 1 Nrn. 2, 4 StGB Im vorliegenden Fall war u.a.20 über die Strafbarkeit von A wegen versuchter – die im Café anwesenden Gäste wurden nicht verletzt – gefährlicher Körperverletzung zu befinden.

15 Zsf. Heinrich (Fn. 1), Rn. 1224; aus der Rspr. vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 = NStZ 2016, 607 (Anm. Bosch, Jura 2016, 1454; Kudlich, JA 2016, 707; He-cker, JuS 2016, 850; Schneider, RÜ 2016, 513; Kulhanek, NStZ 2016, 609; Krell, ZJS 2017, 115). 16 Siehe Fischer (Fn. 8), § 25 Rn. 37; aus der Rspr. vgl. BGH, Beschl. v. 2.7.2018 – 1 StR 174/08 = NStZ 2009, 25 = StV 2009, 410 (Anm. Geppert, JK 2009, StGB § 25 II/16; Roxin, NStZ 2009, 7. 17 Fischer (Fn. 8), § 25 Rn. 37; aus der Rspr. vgl. BGH, Urt. v. 18.12.2007 – 1 StR 301/07 = NStZ 2008, 280 (Anm. Mur-mann, ZJS 2008, 456; Walter, NStZ 2008, 548; Marxen/ Rösing, famos 12/2008); BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 = NStZ 2016, 607 (Anm. Bosch, Jura 2016, 1454; Kudlich, JA 2016, 707; Hecker, JuS 2016, 850; Schneider, RÜ 2016, 513; Kulhanek, NStZ 2016, 609; Krell, ZJS 2017, 115). 18 Heinrich (Fn. 1), Rn. 1224. 19 Hierzu Küper, JZ 1979, 775; Graul, in: Graul/Maurer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, 2002, S. 89; Renzikowski, JuS 2013, 481; Roxin, in: Freund/Murmann/ Bloy/Perron (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Frisch zum 70. Geburtstag, 2013, 613; aus der Rspr. vgl. BGH, Beschl. v. 11.3.1999 – 4 StR 56/99 = NStZ 1999, 449 = StV 1999, 594 (Anm. Geppert, JK 2000, StGB § 24/29; Otto, JK 2000, StGB § 30/6; Puppe, JR 2000, 72; Heuchemer, JA-R 2001, 18). 20 Der zudem erörterte Landfriedensbruch nach § 125 StGB hat in der Ausbildung geringe Relevanz und soll demnach ausgeklammert werden.

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DIDAKTISCHE BEITRÄGE Dennis Bock

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 430

Ein Tatentschluss zu körperlichen Misshandlungen und Gesundheitsschädigungen kann in der abgesprochenen Vor-gehensweise – dem geplanten Werfen der Metallzylinder durch die Glasscheiben des Cafés – erblickt werden; hierbei war allen Beteiligten bekannt, dass die im Café befindlichen Gäste hierdurch verletzt werden konnten, welches auch A billigend in Kauf nahm. Gleiches betrifft die Eignung der 200–250 Gramm schweren Metallzylindern bei einer Ver-wendung als Wurfgeschoss sowie der angezündeten Silvester-rakete beim Wurf in das Café, erhebliche Verletzungen bei den Cafébesuchern hervorzurufen; zudem lag eine Absprache hinsichtlich eines einverständlichen Zusammenwirkens vor21, so dass ein Tatentschluss der A auch zur Verwendung eines gefährlichen Werkzeuges i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB sowie zur gemeinschaftlichen Tatbegehung i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB gegeben ist. 2. Tatentschluss zur gemeinschaftlichen Tatbegehung, § 25 Abs. 2 StGB Im Rahmen der obigen Ausführungen wurde grundsätzlich angeraten, die Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 StGB dann zu erörtern, wenn es auf seine Zurechnungsfunktion ankommt; da allerdings eine versuchte Tatbegehung Gegenstand der Prüfung ist, und sich die objektive Voraussetzung der §§ 22, 23 StGB in dem unmittelbaren Ansetzen erschöpft, könnte man versucht sein, erst dort die Anforderungen der Mittäter-schaft zu erörtern. Die Täterschaft i.S.d. § 25 StGB ist hinge-gen ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal (dessen Prüfung bei Evidenz freilich nicht niederzuschreiben ist); da der sub-jektive Tatbestand des Versuchs identisch mit dem des Voll-endungsdeliktes ist22, muss bereits hier erörtert werden, ob sich A die körperlichen Misshandlungen und Gesundheits-schädigungen mittels Verwendung gefährlicher Werkzeuge und mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich selbst, durch einen anderen oder mit einem anderen gemeinschaft-lich vorgestellt hat (vgl. § 25 StGB).

So heißt es auch in der Entscheidung: „Mittäterschaft i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB setzt einen gemeinsamen Tatentschluss voraus, auf dessen Grundlage jeder Beteiligte einen objekti-ven Tatbeitrag leisten muss. Bei der Beteiligung mehrerer Personen, von denen nicht jede sämtliche tatbestandsmerk-male verwirklicht, ist Mittäter, wer seinen eigenen Tatbeitrag so in die Tat einfügt, dass dieser als Teil der Handlung eines anderen und umgekehrt dessen Handeln als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheint.“23

Unglücklich hieran ist die Vermengung der inhaltlichen Anforderungen sowohl an die Tat- und Arbeitsteilungsverab-redung als auch an die sog. gemeinschaftliche Tatausführung; zwar muss für eine Strafbarkeit neben dem Einstellen eines gewichtigen Tatbeitrages in die Arbeitsteilungsverabredung die Tat auch gemeinschaftlich ausgeführt, beim Versuch hier-

21 Zu § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB Bock, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 2018, S. 137 ff. 22 Vgl. Bock (Fn. 10), S. 431. 23 BGH, Beschl. v. 26.3.2019 – 4 StR 381/18, Rn. 13 = NStZ-RR 2019, 203 (204).

zu unmittelbar angesetzt werden, eine gemeinsame Prüfung dieser Voraussetzungen verkennt aber, dass bereits das Ein-stellen eines wesentlichen Beitrages in die Tat- und Arbeits-teilungsverabredung die Zurechnung nach § 25 Abs. 2 StGB begründet, ein Abweichen hiervon dann lediglich eine Frage der Rechtsfolgen eines Exzesses bzw. der Aufkündigung der Tatvereinbarung darstellt.24 Denn bereits das Einstellen eines gewichtigen Tatbeitrages in die Arbeitsteilungsverabredung eines Mittäters begründet aufgrund seiner Bedeutung für das Gelingen der Tat einen psychischen Einfluss auf die anderen Mittäter, welcher eine Zurechnung von nicht in eigener Per-son verwirklichten und damit letztlich nicht beherrschten Tatbeiträgen berechtigt25; wenn auch der chronologisch zu-erst geleistete Tatbeitrag eines Mittäters in spe den anderen über § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden soll, kann es hierbei nicht auf die Ausführung ihrer zeitlich nachfolgenden Tatbeiträge, sondern allein auf die Ausgestaltung der Tat- und Arbeitsteilungsverabredung ankommen.26 Freilich ist eine so ausdifferenzierte Arbeitsteilungsverabredung in der Praxis häufig nicht gegeben oder feststellbar aber auch nicht erforderlich, wenn nur die Vornahme von Handlungen zur Tatbestandsverwirklichung insgesamt einverständlich bespro- chen wurde, nur die Zuteilung dieser Beiträge noch offen ist, hierbei aber hinsichtlich der gleichberechtigten Partnerschaft und Rollenverteilung der Mittäter in spe Einigkeit besteht, denn auch hier wirkt die Vereinbarung motivierend für die Ausführung durch einen anderen Beteiligten.

Der oben bereits festgestellte Tatentschluss zur Verwirk-lichung der §§ 223, 224 Abs. 1 Nrn. 2, 4 StGB wurde nicht nur durch A allein, sondern im Rahmen einer gemeinschaftli-chen Verabredung gefasst, die eine Tatbegehung durch meh-rere Beteiligte innerhalb einer Arbeitsteilungsverabredung enthielt, entsprechendes stellte sie sich vor – eine Tatverabre-dung lag also vor. Da die Tatverabredung auch tatsächlich auf dem übereinstimmenden Willen der Beteiligten beruhte, kommt es auf die Kontroverse um die sog. Scheinmittäter-schaft27 – die Frage nach einem Erfordernis einer objektiven Tatverabredung auch i.R.d. §§ 25 Abs. 2, 22 StGB oder dem Ausreichen der bloßen Vorstellung diesbezüglich28 – nicht an.

Der Wurf des Brandsatzes in das Café wurde von den Be-teiligten vorher nicht ausdrücklich besprochen. Einer Erfas-sung dieses Beitrages durch die Tatverabredung nach dem Willen der A steht zudem entgegen, dass diesbezüglich keine vage Planung der Tat vorlag, bei welcher der Wurf des Brandsatzes potentiell der Gefährlichkeit des Wurfes mit den Metallzylindern gleichstünde und damit ebenfalls vom Wil-len der Beteiligten umfasst wäre, sondern eine konkrete Ver-wendungsvereinbarung hinsichtlich des Brandsatzes bestand

24 Vgl. auch Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kom- mentar zum Strafgesetzbuch, 9. Aufl. 2017, § 25 Rn. 119 f. 25 Vgl. Ingelfinger, JZ 1995, 704 (710). 26 So etwa Hoyer (Fn. 24), § 25 Rn. 117. 27 Bock (Fn. 10), S. 455 f. 28 Vgl. hierzu Zaczyk, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 5. Aufl. 2017, § 22 Rn. 66 m.w.N.

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Zur Darstellung der Mittäterschaft in der Fallbearbeitung STRAFRECHT

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ZJS 5/2020 431

– dieser sollte lediglich zur Erregung von Aufmerksamkeit auf die Straße geworfen werden. 3. Hinreichendes Gewicht des laut Arbeitsteilungsverabredung vom zu Prüfenden zugesagten Tatbeitrags Erforderlich für einen Tatentschluss zur Mittäterschaft ist zu- dem, dass A einen Tatbeitrag in die Arbeitsteilungsverabre-dung eingestellt bzw. sich dies vorgestellt hat, welchem ein hinreichendes Gewicht zukommt. Hierzu führt der 4. Senat aus:

„Stets muss sich diese Mitwirkung aber nach der Willens-richtung des sich Beteiligenden als Teil der Tätigkeit aller darstellen. Diese Willensrichtung ist keine einfache innere Tatsache und auch nicht davon abhängig, welchen Sinn der Beteiligte seinem Handeln beilegt; ihre Annahme oder Ab-lehnung ist vielmehr das Ergebnis einer wertenden Gesamt-betrachtung, in die alle festgestellten Umstände einzubezie-hen sind. Wesentliche Anhaltspunkte können dabei der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tat- beteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein, so dass die Durchführung und der Ausgang der Tat maßgeblich auch vom Willen des Beteilig-ten abhängt (st. Rspr. […]).“29 Die subjektivierende Termino-logie ist hierbei der sog. subjektiven Theorie geschuldet, nach der die Rechtsprechung eine Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme vornimmt.30 Aus der Warte der sog. Tatherrschafts-lehre käme es vielmehr auf eine wertende Gesamtbetrachtung der objektiven Umstände des im Rahmen der Tatverabredung vorgestellten Tatgeschehens an.

Ob A sich die Vereinbarung von durch sie zu erbringen-den, über das Mitlaufen hinausgehenden und als wesentlich einzustufenden Tatbeiträgen oder zumindest die gleichbe-rechtigte Partnerschaft und Rollenverteilung im Rahmen der Tatverabredung bei noch offener Aufgabenzuteilung vorge-stellt hat31, ist nicht festgestellt.

Das vorgestellte Mitlaufen erfüllt diese Voraussetzung hingegen nicht, führt der 4. Senat hierzu aus:

„Daran gemessen […] [hat A] nicht als Mittäter[in] ge-handelt. Ihre Tatbeiträge beschränkten sich darauf, an dem ‚Gesamtauftritt der Gruppe‘ teilzunehmen, diese durch ihre Anwesenheit zu vergrößern und den aktiv handelnden Betei-ligten Rückhalt zu geben. Zwar kann eine psychische Bestär-kung ein relevanter Tatbeitrag im Sinne des § 25 II StGB sein; um allein – in Abgrenzung zur psychischen Beihilfe – die Annahme von Mittäterschaft zu tragen, muss ihr dann aber ein erhebliches Gewicht zukommen. Dies ist hier aber nicht der Fall. Die Feststellungen lassen nicht erkennen, dass die Anwesenheit […] [von A] für die Durchführung und den Ausgang der Tat maßgeblich war und damit auch von ihrem Willen abhing. Selbst ein hierauf gerichtetes Wollen ist nicht erkennbar. Auch ist es nicht von maßgeblicher Bedeutung, dass […] [A] angegeben hat, ‚die Tat als eigene‘ gewollt zu haben. Allein der Umstand, dass ein Beteiligter eine Tat als 29 BGH, Beschl. v. 26.3.2019 – 4 StR 381/18, Rn. 13 = NStZ-RR 2019, 203 (204). 30 Vgl. Bock (Fn. 10), S. 198 ff. 31 Zur sog. Scheinmittäterschaft vgl. bereits oben.

gemeinsame ansehen will und seinem Tatbeitrag eine ent-sprechende Bedeutung beimisst, vermag eine Mittäterschaft nicht begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 2017 – 2 StR 220/17, NStZ 2018, 144, 145 mwN).“32

Der Subsumtion des BGH ist auf inhaltlicher Ebene nichts hinzuzuzufügen, nur ist dies – wie bereits dargelegt – nicht erst Problem der Tatausführung, sondern bereits der Tatverabredung; hiernach müsste A einen Beitrag vereinbart bzw. sich die Vereinbarung vorgestellt haben, der sie zu einer gleichberechtigten Partnerin machen würde, um damit die Tatausführung der anderen gleichberechtigt Beteiligten zu motivieren. Diesen Anforderungen genügt das vorgestellte Mitlaufen nicht.

Zudem fällt auf, wie sehr sich die Rechtsprechung formal vom Standpunkt der sog. subjektiven Theorie der sog. Tat-herrschaftslehre angenähert hat: Die „Tat als eigene“ zu wol-len, soll für eine Zurechnung nach § 25 Abs. 2 StGB nicht ausreichen33. V. Bewertung und Ausblick Die vorliegende Entscheidung weist keine Neuerungen auf, sondern fasst eher den derzeitigen Stand der Rechtsprechung zusammen; umso interessanter ist sie aus dem Blinkwinkel des im studentischen juristischen Gutachten auszuführenden Prüfprogramms: Die Mittäterschaft gem. § 25 Abs. 2 StGB ist entsprechend ihrer Zurechnungsfunktion in den Prüfungs-aufbau einzugliedern; hierbei sollte (auch im Hinblick auf die zeitlichen Abläufe) bereits Existenz und Inhalt der Tat- und Arbeitsteilungsverabredung sorgfältig herausgearbeitet wer-den. Hieran ist zu messen, welche Tatbeitrage Ausfluss der Arbeitsteilungsverabredung sind und welche – als sog. „Ex-zess“ – nicht. Auch fällt so die Darstellung der Problematik um die Berücksichtigung von Tatbeiträgen im Vorbereitungs-stadium sowie die Problematik der sukzessiven Mittäterschaft leichter. Das gedankliche Nachvollziehen eines differenzier-ten Prüfungsschemas trägt so dazu bei, eine vermengte Dar-stellung – zu welcher die Rechtsprechung gerade verleitet – zu verhindern. Ist wie im hiesigen Sachverhalt ein Versuchs-delikt zu prüfen, ist eine Darstellung, welche die Gewichtung der Rolle des potentiellen Mittäters anhand der in die Tat- und Arbeitsteilungsverabredung eingestellten Tatbeiträge vor-nimmt, zudem weniger anfällig dafür, die dann notwendige subjektive Formulierung im Rahmen des sog. Tatentschlusses zu verkennen.

32 BGH, Beschl. v. 26.3.2019 – 4 StR 381/18, Rn. 14 = NStZ-RR 2019, 203 (204). 33 Vgl. auch BGH, Beschl. v. 11.7.2017 – 2 StR 220/17 = NStZ 2018, 144 = StV 2018, 409 m.w.N.

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Grundzüge der strafrechtlichen Konkurrenzlehre (§§ 52 ff. StGB) – Teil 2* Von Stud. iur. Jan Bauerkamp, Stud. iur. Jean-Marc Chastenier, Bielefeld** b) Natürliche Handlungseinheit Über die natürliche Handlungseinheit werden mehrere Hand-lungen im natürlichen Sinne aufgrund ihrer „natürlichen“ Zusammengehörigkeit fernab tatbestandlicher Wertungen zu- sammengefasst. Im Schrifttum wird dieses Vorgehen intensiv diskutiert wie kritisiert.1 Den kritischen Stimmen im Schrift-tum ist zumindest zuzugeben, dass einer derartigen Konstruk-tion das Natürliche weitestgehend fremd ist;2 denn die natür-liche Handlungseinheit basiert zwangsläufig auf genuin wer-tenden Gesichtspunkten, mögen diese auch nicht an tatbe-standlichen Wertungen ausgerichtet, sondern aus der Per-spektive eines Dritten zu beurteilen sein: Soweit ein Gesche-hen aus mehreren Handlungen besteht, weist es für sich ge-nommen nicht eine solche Zusammengehörigkeit auf, dass es per se – d.h. ohne einen wertenden Vorgang – einer Hand-lung im natürlichen Sinne gleichstünde. Augenscheinlich wird versucht, Kriterien der natürlichen Handlung zu abstra-hieren und somit über die Einheitlichkeit eines Geschehens zu einer Handlungseinheit zu gelangen. Bereits dieser Pro-zess ist aber wertend, weshalb mit Jäger3 an der insofern verfehlten Terminologie nur aus Gründen der Konvention festzuhalten ist. aa) Grundsätzliches Grundsätzlich wird natürliche Handlungseinheit in Konstella-tionen bejaht, in denen „der Handelnde den auf die Erzielung eines Erfolgs in der Außenwelt gerichteten, einheitlichen Willen durch eine Mehrheit gleichgearteter Akte betätigt und diese einzelnen Betätigungsakte aufgrund ihres räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs objektiv erkennbar derart zusam- mengehören, dass sie nach der Auffassung des Lebens eine

* Fortsetzung von ZJS 2020, 347. ** Die Verf. studieren Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld und sind als stud. Hilfskräfte am dortigen Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie (Prof. Dr. Michael Lindemann) beschäftigt. Sie danken ihm herzlich für die kritische Manuskriptdurchsicht. 1 Bspw. Maiwald, NJW 1978, 300; Rissing-van Saan, in: Cirener/Radtke/Rissing van-Saan (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 2, 13. Aufl. 2019, Vorb. § 52 Rn. 20 f.; v. Heintschel-Heinegg, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, 3. Aufl. 2016, § 52 Rn. 52 f.; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 32/35; Jäger, in: Wolter (Hrsg.), Systemati-scher Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, 9. Aufl. 2016, Vorb. § 52 Rn. 49 ff.; Kindhäuser, JuS 1985, 100; Wessels/ Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 49. Aufl. 2019, Rn. 1254; Swoboda, NZV 1995, 465. 2 So v. Heintschel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 52 f.; Jäger (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 52; Maiwald, JR 1985, 513 (515); Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 33 Rn. 29: „im weiteren Sinne eine tatbestandliche Handlungseinheit […]“. 3 Jäger (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 52.

Handlung bilden“.4 Als kumulativ erforderliche Kriterien las- sen sich somit § gleichgeartete Begehungsakte, § ein unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammen-

hang der einzelnen Teilakte, § ein einheitlicher Wille5 § sowie der erkennbare Anschein eines einheitlichen wie

zusammengehörigen Geschehens § festhalten, wobei die Beurteilung jeweils anhand der ob-

jektiven Lebensauffassung erfolgt.6 Bedeutung wird der natürlichen Handlungseinheit in zwei Konstellationen beigemessen: Einerseits wird versucht, eine aus mehreren natürlichen Handlungen bestehende Verwirkli-chung desselben Tatbestands zu nur einer Gesetzesverletzung zusammenzufassen und hiermit den Konkurrenzen im for-mellen Sinne zu entziehen, indem ihr die die sukzessive und iterative Tatbegehung zugewiesen wird.7 Insofern besteht ein konsensuales Ergebnis – bloß eine Gesetzesverletzung. Um-stritten ist derweil, ob dieses Ergebnis über die Konstruktion einer natürlichen oder tatbestandlichen Handlungseinheit zu erreichen ist.8 Daneben versucht vornehmlich die Rechtspre-chung die Verwirklichung verschiedener Tatbestände unter dem Gesichtspunkt einer wertenden Betrachtung des Gesamt- vorgangs zu einem in natürlicher Handlungseinheit stehenden Geschehen zusammenzufassen, um es gezielt den Rechts- folgen der Tateinheit zu unterwerfen.9 Die Grenzen dieser Praxis sind dürftig bestimmt und erscheinen selbst innerhalb der entwickelten Rechtsprechungskasuistik undurchsichtig.10

4 So schon BGHSt 10, 230 = NJW 1957, 1077 mit Verweis auf RGSt 44, 223 (226 f.); 58, 113 (116). 5 Als einen solchen lässt die Rechtsprechung einen Flucht- willen genügen, vgl. nur BGHSt 22, 67; BGH NStZ-RR 1997, 331 (332); BGH NZV 2001, 265. 6 Vgl. zu den Kriterien auch Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 1253; Jäger (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 54; v. Heintschel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 55; kritisch zum Kriterium des an der natürlichen Lebensanschauung gemessenen Anscheins u.a. Jakobs (Fn. 1), 32/35; v. Heintschel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 54; Maiwald, NJW 1978, 300 (302 f.); Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 710 f. 7 Vgl. Rissing-van Saan (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 21; v. Heint-schel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 53. 8 So Rückert, JA 2014, 826 (828); Seher, JuS 2004, 392 (395 f.); anders Steinberg/Bergmann, Jura 2009, 905 (907); Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 1250; während Kret-schmer, JA 2019, 581 (587) das Resultat über den Streit stellt. 9 Überblick über die Rspr. bei Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 21 Rn. 15 ff. 10 So auch v. Heintschel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 52; Jakobs (Fn. 1), 32/35 a.E., der von einer „vorrechtlichen Typen- bildung“ mit beliebiger Handhabung spricht.

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Grundzüge der strafrechtlichen Konkurrenzlehre (§§ 52 ff. StGB) – Teil 2 STRAFRECHT

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Exemplarisch seien hierfür die sog. Polizeifluchtfälle11 angeführt, in denen ein Täter im Rahmen seiner Flucht unter-schiedliche Delikte (z.B. §§ 113, 142, 315b StGB)12 verwirk-licht. Diese werden einheitlich unter das Fluchtbestreben und -geschehen gestellt und in der Rechtsprechung als unselbst-ständige Teilakte der gesamten (als gleichgerichtete Hand-lungsweise aufgefassten) Fluchthandlung betrachtet. Um das gesamte Geschehen subjektiv zu binden, lässt die Rechtspre-chung als einheitlichen Willen einen außertatbestandlichen Fluchtwillen genügen.13 Hierbei soll es auf eine Zuordnung zu einem einheitlichen Deliktstypus nicht ankommen, womit sich die Frage der anderweitigen Begrenzbarkeit einer sol-chen Betrachtung stellt. Letztlich kann sie nur aus dem un- definierten Maßstab der allgemeinen Lebensanschauung oder aus einer erneuten andersartigen Entschlussfassung des Tä-ters folgen. Jedenfalls für den Fall der Schaffung unterschied-licher Gefahrenlagen ist diese Betrachtungsweise in der Rechtsprechung selbst nicht unwidersprochen geblieben: So hat der 4. Strafsenat des BGH in einem Beschluss aus dem Jahr 1995 – soweit ersichtlich einmalig – darauf hingewiesen, dass ein Entschluss, eine unbestimmte Vielzahl von Straf- taten zu begehen, ein Geschehen mit selbstständig begange-nen Taten nicht einen könne, sofern diese Gefahrenlagen jeweils absichtlich herbeigeführt wurden.14 Diese Einsicht wird jedoch nicht weiter verfolgt, obgleich ein Unterschied zwischen einem durchgehenden Flucht- und einem durch- gehenden deliktischen Willen schwer erkennbar ist. bb) Kritik und Restriktionen des Anwendungsbereichs Die Kritik am Rechtsinstitut der natürlichen Handlungs- einheit setzt bereits an dessen Ursprung an. Eine Zusammen-fassung der Begehung grundsätzlich heteronomer Straftaten allein wegen ihres engen zeitlich-räumlichen Bezuges und einem irgendwie gearteten Willen, der dazu einer normativen Erfassung ermangelt, erscheint nicht zwingend; dem Gesetz ist diese Wertung vielmehr fremd.15 Es zwingt auch keine außertatbestandliche Wertung dazu, Polizeifluchtfälle und ähnliche Sachverhalte zu komprimieren. Zur Legitimation wird zwar auf die Einheitlichkeit des Geschehens aus dem

11 Vgl. nur BGHSt 22, 67 (76); BGH NStZ-RR 1997, 331 (331 f.); BGH NZV 2001, 265; zu weiteren Fundstellen vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 67. Aufl. 2020, Vorb. § 52 Rn. 6a sowie v. Heintschel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 58. 12 BGH, Urt. v. 14.10.1983 – 4 StR 595/83 = VRS 66 (1984), 20; siehe hierzu auch Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2015, § 14 Rn. 82. 13 Exemplarisch BGH HRRS 2016, Nr. 1039, Rn. 5: „wonach in dem einheitlichen Entschluss zu einer Flucht […] eine besondere Sachlage zu sehen ist, die […] die Zusammenfas-sung [...] begründet“. 14 BGH NJW 1995, 1766 (1766 f.); vgl. auch Rissing-van Saan (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 19. 15 So wohl auch Swoboda, NZV 1995, 465 (468): „[…] neben die tatbestandlichen Handlungsumschreibungen tritt und des- halb rechtlich irrelevant ist“.

Blickwinkel der Lebensauffassung verwiesen.16 Exempla-risch an der obig aufgeführten, abweichenden Entscheidung anknüpfend leuchtet es ein, eine Fahrt mit mehreren, vonei-nander selbstständigen Unfällen oder Straßenverkehrsgefähr-dungen nicht zu einer Handlung zusammenfassen, was ange-sichts der mangelnden Trennschärfe der Kasuistik allerdings zur allgemeinen Anwendung wenig beiträgt: Der übergeord-nete Wille in einer strafrechtlich relevanten Art tätig zu wer-den unterscheidet sich nicht hinreichend von dem Willen „irgendwie zu flüchten“ – warum dieser Wille indessen den vom Gesetz implizierten geringeren Unwert beinhaltet er-scheint wenig einsichtig.17 Vielmehr ist in beiden eine Ab-weichungstoleranz insofern vorhanden, als nicht eindeutig determinierte Handlungskomplexe mit einheitlicher Zweck-setzung angegangen werden. Dem Ergebnis ist freilich schon aus Vernunftgründen zuzustimmen; eine hinreichende Trenn-schärfe ergibt sich nicht. Soweit man in der natürlichen Handlungseinheit eine Parallelgestalt zur natürlichen Hand-lung sieht, die sich von dieser nur durch ihren zusammen- fassenden Charakter abhebt, wenn man sie also als eine Art umfassende Handlung bestehend aus verschiedenen grund-sätzlichen Einzelhandlungen sieht, erscheint es nicht schon prinzipiell schädlich, einen Willen genügen zu lassen, der nicht-normative Ziele anvisiert. Dem steht bei der Handlung im natürlichen Sinne der Handlungserfolg gegenüber. Die eigentliche Kritik liegt dagegen in der Uferlosigkeit dieses Vorgehens begründet. Die Kriterien eines engen Zusammen-hangs und die unbestimmte Anknüpfung an eine vermeintli-che Lebensauffassung führen nicht zu einer rechtsstaatlich gebotenen Determinante,18 sind jene Kriterien doch reichlich variabel und eröffnen das Risiko von Einzelfalldefinitionen, die wiederrum den Ursprung einer unüberschaubaren Einzel-fallkasuistik darstellen können.19

Im Gegensatz zur tatbestandlichen Handlungseinheit be-stehen nämlich keine, (etwa mittels Fallgruppen) hinreichend katalogisierfähigen Fallgestaltungen, die eine Zusammen- fassung rechtfertigen. Anders ließe sich die Annahme eines Unterschieds in dogmatischer Hinsicht zwischen Diebstählen innerhalb eines umschlossenen, aber zugänglichen Raumes und einer Reihe von Diebstählen auf offener Straße vermut-lich nicht erzeugen.20 Hier läuft man Gefahr, die Differenzie-rung zwischen autoritärem21 und dogmatischem Argument zu verwischen. Insofern erscheint die Begrenzung dieses Rechts-instituts auf die iterative Tatbegehung wünschenswert, wie

16 Krit. z.B. Jescheck/Weigend (Fn. 6), S. 711; Maiwald, NJW 1978, 300 (300); Jäger (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 48. 17 Diese Erwägung im Ergebnis tragend Swoboda, NZV 1995, 465 (467 f.). 18 Drastisch, aber zutr. Maiwald, NJW 1978, 300 (303): „ein Stück nicht nachprüfbarer richterlicher Intuition“; s.a. v. Heint-schel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 52; Kühl (Fn. 9), § 21 Rn. 17. 19 So scheinen die Ausführungen Maiwalds (NJW 1978, 300 [303]) zu verstehen zu sein; so auch Kühl (Fn. 9), § 21 Rn. 17, der von einer „Warnung“ spricht. 20 So aber BGHSt 43, 233 = NJW 1998, 690; krit. v. Heint-schel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 52. 21 Autoritär im Sinne eines schlichten „der BGH sagt …“.

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auch zumindest solange geboten, wie sich kein hinreichend dogmatisch begrenztes Konzept ergibt.

Beispiel: Auf dem Weg vom Stadion nach Hause begeg-net der A einer Gruppe Fans des Vereins N. Vom schlech-ten Spiel „seiner“ Mannschaft frustriert beschließt er die-se „aufzumischen“. Er schlägt mehrfach auf die nichts- ahnenden Fans ein und verletzt diese allesamt.

Der Fall wirft die vieldiskutierte22 Fragestellung auf, ob einer Zusammenfassung entgegensteht, dass höchstpersönliche Rechtsgüter mehrerer Rechtgutsträger tangiert werden. Wäh-rend die Rechtsprechung eine Zusammenfassung auch dann zulässt, wenn eine Einzelwürdigung der Handlungen aus der Sicht der allgemeinen Lebensauffassung „willkürlich und gekünstelt“ erschiene,23 dies etwa mit Blick auf eine sehr enge zeitliche Aufeinanderfolge, ist dem mit beachtlichen Stimmen im Schrifttum24 entgegenzutreten: Höchstpersönli-che Rechtsgüter als solche sind einer additiven Betrachtungs- weise schlicht nicht zugänglich.25 cc) Iterative Tatbegehung Der wohl klausurrelevanteste Unterfall der juristischen Hand-lungseinheit besteht in der sog. iterativen Tatbegehung. Be-jaht wird die iterative Tatbegehung in Fällen, in denen der Täter denselben Tatbestand wiederholt mittels einer im We-sentlichen gleichartigen Begehungsweise innerhalb einer en- gen zeitlichen Aufeinanderfolge verwirklicht.26 Ihre Voraus-setzungen fußen in der Überlegung, dass der Täter ungeachtet mehrerer Handlungen im natürlichen Sinne einen einheitli-chen Unwert bzw. eine einheitliche Schuld27 verwirklichen kann: Seine Handlungen beruhen auf einem einheitlichen Tatplan und stellen eine nur quantitative Steigerung dessel-ben Unrechts dar.28 Basierend auf der letzten Feststellung, können die verschiedenen Handlungsweisen nicht grundver-schieden sein, sondern müssen von der Begehungs- und Angriffsweise her eine gewisse Identität besitzen. Zudem dürfen sie zeitlich wie örtlich nicht so weit auseinander lie-gen, dass nicht mehr von einem einheitlichen Unrecht die Rede sein kann. 22 Statt vieler Mitsch, JuS 1993, 385 (388); Rissing-van Saan (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 15; Jäger (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 57; s.a. Hilgendorf/Valerius, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2015, § 13 Rn. 14 m.w.N. 23 Vgl. BGH HRRS 2012, Nr. 583, Rn. 7 = NStZ 2012, 562; BGH, Beschl. v. 24.10.2000 – 5 StR 323/00 = HRRS-Datenbank, Rn. 2 = NStZ-RR 2001, 82. 24 Mitsch, JuS 1993, 385 (388); Jäger (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 58; diff. Jakobs (Fn. 1), 32/36; Kühl (Fn. 9), § 21 Rn. 19 f. 25 Vgl. Kühl (Fn. 9), § 21, Rn. 19 f. bezugnehmend auf Mai-wald, NJW 1978, 300 (303). 26 Abweichende Terminologie bei v. Heintschel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 34; so wohl auch Bock, Strafrecht, Allge-meiner Teil, 2018, S. 651. 27 So Jäger (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 22. 28 Statt nahezu aller Rissing-van Saan (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 40.

Beispiel: Fußball-Fan A betritt das Vereinsheim des ver-feindeten Vereins N. Er hat zuvor den Plan gefasst, alles seiner Ansicht nach Wertvolle in seinen Rucksack zu pa-cken und anschließend im Internet zu verkaufen. In Um-setzung seines Plans nimmt der A nacheinander drei Po-kale, zwei wertvolle Trikots und eine Geldkassette mit.

Im Beispiel verwirklicht A den Tatbestand des § 242 Abs. 1 StGB wiederholt bezogen auf mehrere Tatobjekte. Seine Handlungen basieren allerdings auf einem einheitlichen Tat- entschluss, erfolgen in einer unmittelbaren zeitlichen Auf- einanderfolge und betreffen den gleichen Rechtsgutsträger. Es wird immer nur dessen Eigentum als Rechtsgut betroffen und dieses Unrecht grundsätzlich nur quantifiziert. Insofern geht man hier von nur einer Gesetzesverletzung mittels itera-tiver Tatbegehung aus. Die verschiedenen Handlungen wer-den zu einer Einheit zusammengefasst. Klausurökonomisch zweifelhaft wäre es daher, im Beispiel die Prüfung von sechs einzelnen Diebstählen durchzuführen. In eindeutigen Fällen der iterativen Tatbegehung ist deren Vorliegen bereits im Obersatz in der Weise zu verdeutlichen, dass als Tatobjekte sämtliche Gegenstände aufzuzählen sind.

Die nähere dogmatische Begründung der iterativen Tat-begehung ist streitig. In der Literatur wird sie sowohl unter die tatbestandliche29 als auch die natürliche Handlungseinheit eingeordnet.30 Was in Bezug auf Tatbestände mit quantitativ offenen Handlungsformulierungen noch ohne weiteres kon-sistent erscheinen mag – die „körperliche Misshandlung“ i.S.v. § 223 Abs. 1 StGB kann etwa durchaus auch mehrere Handlungen umfassen; eine „Behandlung“ kennt typischer-weise keine Determinierung in quantitativer Hinsicht –, wirft in der klassischen Diebstahlskonstellation zumindest Potenti-al terminologischer Zweifel auf, da der Tatbestand von einer Sache spricht. Insofern erschiene eine Lösung über die natür-liche Handlungseinheit wünschenswert, die zur Zusammen-fassung nicht auf die konkrete Fassung des Tatbestandes an- gewiesen und infolge terminologischer Auslegungsdivergen-zen in ihrer Herleitung nicht erschütterbar ist. Gleichwohl ist für ein solches Vorgehen keine hinreichende dogmatische Begründung ersichtlich. Über die natürliche Handlungs- einheit scheint nur der Schluss begründet, mehrere Handlun-gen mit Hilfe der Verkehrsanschauung zu einer Handlung im juristischen Sinne zu verbinden. Insofern ist mit Mitsch31 der Vergleich zu den Fällen einer Handlung im natürlichen Sinne zu ziehen: Wenn mehrere Verstöße gegen ein Strafgesetz und somit mehrere Eingriffe in den dort vertypten Rechtsgüter-schutz mittels nur einer Handlung zur Tateinheit im Sinne von § 52 StGB führen, ist nicht einzusehen, weshalb dies bei der Annahme von Handlungseinheit anders sein sollte. Die Frage der Gesetzesverletzungen ist denn eine zutiefst norma-tive und hat mit den Ansichten einer natürlichen Lebens-

29 So z.B. Jäger (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 22; Kühl (Fn. 9), § 21 Rn. 18; Steinberg/Bergmann, Jura 2009, 905 (907). 30 So z.B. Rückert, JA 2014, 826 (828); Walter, JA 2004, 572 (572 f.); indessen das Resultat über den dogmatischen Streit stellend Kretschmer, JA 2019, 581, (587). 31 Mitsch, JuS 1993, 385 (388).

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Grundzüge der strafrechtlichen Konkurrenzlehre (§§ 52 ff. StGB) – Teil 2 STRAFRECHT

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anschauung nichts zu tun. Ersichtlich würden somit die natür-lich-wertende Handlungsebene und die normative Gesetzes-ebene vermengt, indem die mehrfache Verwirklichung des-selben Unrechts als nur additive Steigerung der Verletzung desselben Gesetzes empfunden wird.32 Fasst der Tatbestand das Verhalten also nicht – wie im Fall tatbestandlicher Hand-lungseinheit – zu nur einer Verletzung zusammen, verstößt der Schluss von einer Handlung im juristischen Sinne auf eine einzige Verletzung des Tatbestands – soweit es ersicht-lich einer Legitimation dessen ermangelt – schlicht gegen die Systematik des Gesetzes. Diese Annahme wird durch die Wertung des Gesetzes passivlegitimiert, indem es selbst diese Handlungen nicht zu einer Gesetzesverletzung zusammen-fasst. In derartigen Fällen erscheint eine Zusammenfassung nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines effektiven Rechts- güterschutzes zweifelhaft. Mag auch dasselbe Rechtsgut be- troffen sein, so wird mit dem erneuten Eingriff in jenes stets neues, wenn auch gleichartiges Unrecht verwirklicht. Eine reine Addition aber findet nicht auf Ebene der Gesetzes- verletzung, sondern vielmehr in der Verarbeitung auf Ebene der Konkurrenzen im Wege der Tateinheit statt.33 Konse-quenter erscheint es daher, in Fällen, in denen eine Zusam-menfassung nicht durch tatbestandliche Handlungseinheit be- dingt ist, auf eine tateinheitliche Begehung desselben Delikts zu entscheiden.34

Für das Beispiel bedeutet dies, dass eine Zusammenfassung zu nur einer Gesetzesverletzung im Wege einer Handlung nur unter Rückgriff auf die tatbestandliche Handlungseinheit möglich erscheint, der Diebstahlstatbestand insofern eine Zusammenfassung zumindest zulassen müsste. Dem sind al- lein deshalb nicht die obig gegen die Zusammenfassung mit-tels der natürlichen Handlungseinheit angeführten Argumente entgegenzuhalten, weil der Tatbestand normativ die Hand-lungen zu einer Tathandlung und somit auch zu nur einer Gesetzesverletzung zusammenfasst. Das Risiko, dass diffuse Lebensanschauungen zu unbestimmten Wertungen führen, erscheint hier als nicht gegeben. Dass der Tatbestand des Diebstahls die einzelnen Handlungen zusammenfasst, ist entgegen potenzieller terminologischer Bedenken gut be-gründbar, weshalb hier nur eine Gesetzesverletzung anzu-nehmen ist. 3. Sonderfall der Verklammerung Die sog. Verklammerung bildet eine Mischform tatbestandli-cher und natürlicher Handlungseinheit35 und erfasst Sach- verhalte, in denen zwei oder mehr natürliche Handlungen, die nach den vorbenannten Grundsätzen in Handlungsmehrheit zueinander stehen, ungeachtet dessen deshalb zu einer einzi-gen Handlung „verklammert“ werden, weil sie – je für sich –

32 Mitsch, JuS 1993, 385 (388). 33 So auch Mitsch, JuS 1993, 385 (388). 34 Ähnlich Freund/Rostalski, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2019, § 11 Rn. 4, die allein auf normative Gesichts-punkte abstellen wollen. 35 Rückert, JA 2014, 826 (828) m.w.N.

in Handlungseinheit zu derselben dritten bzw. weiteren Handlung stehen.36

Beispiel: A sperrt den B in seinem Keller ein. Am ersten Tag nötigt (§ 240 Abs. 1 StGB), am sechsten verletzt (§ 223 Abs. 1 StGB) und am zehnten beleidigt (§ 185 StGB) er (A) ihn (B).

Nötigung, Körperverletzung und Beleidigung stehen in Hand-lungsmehrheit, denn die Handlungen bilden ersichtlich weder eine Handlung im natürlichen noch im juristischen Sinne. Konstruktiv wird nun trotzdem erwogen, eine Handlungsein-heit zwischen den drei Handlungen anzunehmen, indem man sie als über die jeweils begleitend-handlungseinheitliche Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 1 StGB) als sog. „Klammer-tat“ miteinander verklammert betrachtet.37 Dahinter steht der Gedanke, dass andernfalls die Freiheitsberaubung dreifach als Strafzumessungsfaktor in die Gesamtstrafenbildung einzube-ziehen wäre, was als wertungswidrige Unrechtskumulation be- denklich erscheint.38 Häufig handelt es sich bei den Klammer-taten um Dauer- oder Organisationsdelikte, zwingend ist dies indessen nicht.39

Dieses im Ausgang nachvollziehbare Konstrukt wirft in den Einzelheiten umstrittene Folgefragen auf. Fraglich ist etwa, ob als zusätzliche Voraussetzung zu fordern ist, dass die zu verklammernden Handlungen allesamt oder immerhin zum Teil annähernd denselben Unrechtsgehalt wie die „Klammer-tat“ aufweisen. Während der BGH40 einst gefordert hat, dass sämtliche zu verklammernden Delikte annähernd denselben Unrechtsgehalt wie die Klammertat aufweisen müssen oder gar die Klammertat schwerer zu wiegen hat, soll nunmehr eine Verklammerung auch im Falle einer zu verklammernden Tat in Betracht kommen, die schwerer wiegt als die Klammer-tat, falls neben ihr mindestens eine Tat besteht, die einen ähnlichen oder geringeren Unwert aufweist als die Klammer-tat.41 Hintergrund dieser Sichtweise ist ein Kompromiss: Wie dargelegt soll der Täter zwar über die Klammertat nicht un-billig benachteiligt werden, andererseits soll ihm gerade für

36 Zur Verklammerung vgl. v. Heintschel-Heinegg (Fn. 1), § 54 Rn. 96 ff.; Sternberg-Lieben/Bosch, in: Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 30. Aufl. 2019, § 52 Rn. 14 ff.; Geppert, Jura 1997, 214; Roxin (Fn. 2), § 33 Rn. 101 ff. 37 Weitere Beispiele bei Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2019, § 56 Rn. 65 ff.; Bock (Fn. 26), S. 669 ff. 38 Murmann, Grundkurs Strafrecht, 5. Aufl. 2019, § 31 Rn. 42. 39 Siehe etwa Dorn-Haag, Jura 2020, 322 (328), zu einem Beispiel, dem § 252 StGB als Klammertat zugrunde liegt; zum unerlaubten Waffenbesitz als Klammertat siehe Hein-rich, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 8, 3. Aufl. 2018, § 52 WaffG Rn. 167 ff.; siehe allg. Sternberg-Lieben/Bosch (Fn. 36), § 52 Rn. 15. 40 So etwa BGHSt 29, 388 (291 f.) 41 BGH NStZ 2013, 158; zu § 276 StGB als Klammerdelikt BGH NStZ 2014, 272 (red. Ls.) m. krit. Anm. Becker.

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den Fall, dass die zu verklammernden Taten unrechtsintensi-ver sind als die Klammertat, aus deren (ggf. rein zufälliger) Existenz auch keine unverdiente Privilegierung aus der An-nahme von Tateinheit in strafzumessungsrechtlicher Hinsicht zuteilwerden.42 Daneben wird in der Literatur weiterhin die ursprüngliche Rechtsprechungsauffassung, nach der ohne Einschränkung gelten soll, dass sämtliche Taten annähernd gleich schwer wiegen wie die Klammertat oder jene schwe-rer, vertreten.43 Noch weitreichender ist die prinzipielle Kritik am Rechtsinstitut der Verklammerung, die es bereits als dem Grunde nach unbillig erachtet, dem Täter vor dem Hinter-grund eine günstigere Strafzumessung zuzubilligen, dass eine weitere Tat hinzutritt.44 Ferner stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien der Unwert der Taten miteinander zu ver-gleichen ist. Zum Teil wird auf die abstrakte Strafandrohung abgestellt, etwa indem zwischen Verbrechen und Vergehen (§ 12 StGB) differenziert wird, teils wird die konkrete Straf-erwartung im Einzelfall unter Berücksichtigung etwaiger Straf-schärfungen oder -milderungen herangezogen.45 Der BGH lässt eine Betrachtung der konkreten Straferwartung im Ein-zelfall zu.46 4. Fortgesetzte Handlung Unter einer fortgesetzten Handlung verstand die Rechtspre-chung einst „die von einem Gesamtvorsatz getragene wieder-holte Begehung gleichartiger Straftaten“, die sich über einen längeren Zeitraum gegen das gleiche Rechtsgut richtete, wobei der Zeitraum durchaus mehrere Jahre bis Jahrzehnte umfassen konnte.47

Beispiel: A hinterzieht, wie von Anfang an geplant, über einen Zeitraum von 30 Jahren immer wieder Steuern (strafbar nach § 370 AO).

Nach eingehender Kritik48 aus der Literatur gab der Große Senat für Strafsachen diese Rechtsfigur faktisch auf, indem er deren Voraussetzungen konkretisierte und im Anschluss in keinem Fall mehr bejahte.49 Ihr kommt damit keine prakti-sche Bedeutung mehr zu. 42 Sternberg-Lieben/Bosch (Fn. 36), § 52 Rn. 15; noch wei-tergehend Dorn-Haag, Jura 2020, 322 (329). 43 So etwa Sternberg-Lieben/Bosch (Fn. 36), § 52 Rn. 16; Jescheck/Weigend (Fn. 6), S. 721; tendenziell auch Kindhäu-ser/Zimmermann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2019, § 47 Rn. 18. 44 Siehe Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2018, Kap. 30 Rn. 19 m.w.N. und seiner Gegenkritik; Puppe, JuS 2017, 503 (506); Seher, JuS 2004, 392 (395). 45 Steinberg/Bergmann, Jura 2009, 905 (908); s.a. Rückert, JA 2014, 826 (828) m.w.N. 46 Nachweise bei Rengier (Fn. 7), § 56 Rn. 63. 47 Frister (Fn. 44), Kap. 30 Rn. 28; ausf. Jescheck/Weigend (Fn. 6), S. 714 ff. 48 Skizziert bei Gropp (Fn. 12), § 14 Rn. 88 ff. 49 BGHSt 40, 138 = NStZ 1994, 383; zur Entscheidung und ihren Folgen ausf. Geppert, NStZ 1996, 57 und ders., NStZ 1996, 118; s.a. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 1260 ff.

III. Gesetzeskonkurrenz Nicht in den §§ 52 ff. StGB geregelt ist die Gesetzeskonkur-renz. Sie führt im Ergebnis dazu, dass ein Tatbestand hinter einem anderen zurücktritt und im Schuldspruch nicht mehr auftaucht. Daraus folgt, dass mangels eines Nebeneinanders mehrerer Tatbestandsverwirklichungen nicht mehr im eigent-lichen Sinne eine Konkurrenz vorliegt.50 In Reaktion auf die insofern irreführende Terminologie sind die synonymen Be-zeichnungen „unechte“ und „scheinbare“ Konkurrenz ge-bräuchlich geworden.51 Für die Gesetzeskonkurrenz ist nicht maßgeblich, inwieweit sich selbstständige Delikte gegenüber- stehen und wie sie strafzumessungsrechtlich zu behandeln sind, sondern wesentlich ist vielmehr das grundsätzliche Ver- hältnis der verwirklichten Tatbestände zueinander, wonach ge- danklich vorgelagert zu fragen ist.52 Der Gesetzeskonkurrenz liegt zugrunde, dass sich in unserem Strafrecht Tatbestands-verwirklichungen hinsichtlich des von ihnen erfassten Un-rechtsgehaltes in erheblichem Maße überdecken und ergänzen können,53 obwohl diese Verwirklichungen in ihrer Schnitt-menge nicht sämtlich nebeneinander Bestand haben sollen.54 Die Gesetzeskonkurrenz fragt folgerichtig nach der vollstän-digen Erfassung des Unrechts einer Tat im Verhältnis zu anderen einschlägigen Tatbeständen: Erfasst ein Tatbestand das Unrecht eines anderen bereits oder soll letzterer (u.U. klarstellend) fortgelten?55 Besteht ein gesetzliches Unrechts-rangverhältnis, so konkurrieren die betroffenen Delikte mit Blick auf das Schuldprinzip nicht materiell im Sinne der §§ 52 ff. StGB, sondern sie laufen zusammen.56 Aus dem Umstand, dass sie tatbestandlich unzweifelhaft gegeben sind, ist eine Beteiligung an in Gesetzeskonkurrenz verdrängten Tatbeständen möglich.57 Auch bilden sie weiterhin den An-knüpfungspunkt für sog. Anschlussdelikte (etwa §§ 257, 259 StGB) und leben regelmäßig wieder auf, sofern der Täter vom verdrängenden Delikt zurückgetreten ist.58

Im Bereich der Gesetzeskonkurrenz wird zwischen Hand-lungseinheit und -mehrheit unterschieden. Für den erstge-nannten Fall stehen – in den konkreten Formen teils nicht unumstritten – Subsidiarität, Spezialität sowie Konsumtion zur Verfügung, wohingegen die Fälle der Tatmehrheit mit den Instituten der sog. mitbestraften Vor- oder Nachtat be-wältigt werden. Die Einordnung konkreter Beispiele in diese 50 Zur Berücksichtigungsfähigkeit auf Rechtsfolgenebene s. statt vieler Bock (Fn. 26), S. 653 und Freund/Rostalski (Fn. 34), § 11 Rn. 52. 51 Murmann (Fn. 38), § 31, Rn. 5; Kühl (Fn. 9), § 21 Rn. 5; daneben findet sich der Begriff der Gesetzeseinheit, siehe Frister (Fn. 44), Kap. 31 Rn. 1. 52 Hilgendorf/Valerius (Fn. 22), § 13 Rn. 5; Rissing-van Saan (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 107. 53 Dorn-Haag, Jura 2020, 322 (329) m.w.N. 54 Jakobs (Fn. 1), 31/2. 55 Rissing-van Saan (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 107; Heinrich, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, Rn. 1434. 56 Hergeleitet aus dem Lateinischen, vgl. Seher, JuS 2004, 482 (482). 57 S. Dorn-Haag, Jura 2020, 322 (330). 58 Vgl. hierzu Bock (Fn. 26), S. 653 f.

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Grundzüge der strafrechtlichen Konkurrenzlehre (§§ 52 ff. StGB) – Teil 2 STRAFRECHT

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traditionelle Typisierung ist nicht selten umstritten und ver-steht sich als Vorschlag. Dies beruht nicht zuletzt darauf, dass sämtliche Untergliederungen dem einheitlichen Grundgedan-ken folgen, dass Sonderregelungen unter materiellen Gesichts- punkten der Vorrang eingeräumt werden soll.59 1. Handlungseinheit a) Spezialität Spezialität liegt immer dann vor, wenn ein Tatbestand alle Merkmale eines anderen Tatbestands in sich vereint, diesen also vollständig enthält, und über die Normierung mindestens eines weiteren Merkmals im Unrechtsgehalt noch über diesen hinausgeht. Somit enthält jede Verwirklichung des spezielleren und regelmäßig unrechtsintensiveren Tatbestands gleichsam notwendig die Verwirklichung des generellen Tatbestands.60 Dieser Form der Gesetzeskonkurrenz liegt ein logisches ge-setzliches Rangverhältnis zugrunde,61 aufgrund dessen das spezielle das generelle Delikt verdrängt (lex specialis derogat legi generali).

Spezialität besteht idealtypisch zwischen Qualifikation bzw. Privilegierung und Grundtatbestand, im Verhältnis des erfolgsqualifizierten Deliktes (bei Fahrlässigkeit bzgl. der schweren Folge, § 18 StGB) zum entsprechenden Fahrlässig-keitstatbestand sowie zwischen Vorsatzdelikt und korrespon-dierendem Fahrlässigkeitsdelikt. Richtigerweise kommt da-gegen Strafzumessungsnormen, v.a. Regelbeispielen, unab-hängig von der konkreten Norm kein solches Rangverhältnis zu, da es sich nicht um Tatbestände handelt. In der Klausur-bearbeitung ist regelmäßig nur das spezielle Gesetz zu prüfen und in einem Satz zu erwähnen, dass das im Verhältnis all-gemeinere aufgrund von Spezialität dahinter zurücktritt.62 b) Konsumtion Im Einzelnen wohl am umstrittensten63 ist die Gesetzeskon-kurrenz in Gestalt der Konsumtion. Sie wird in Abgrenzung zur Spezialität dann angenommen, wenn das Unrecht und die Schuld des zurücktretenden Tatbestands zwar nicht denk- notwendig, wohl aber regelmäßig und typischerweise in der Verwirklichung des konsumierenden Tatbestands enthalten ist.64 Dies ist immer dann der Fall, wenn die Verwirklichung mehrerer Tatbestände grundsätzlich zusammentrifft, sie also

59 Freund/Rostalski (Fn. 34), § 11 Rn. 28 u. 48, insoweit erscheint hier vieles vertretbar. 60 Jäger (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 86; Steinberg/Bergmann, Jura 2009, 905 (909); zur Gebotenheit durch das Doppelver-wertungsverbot Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2019, § 33 Rn. 10 und Jakobs (Fn. 1), 31/12. 61 So auch Frister (Fn. 44), Kap. 31 Rn. 5. 62 So die Empfehlung von Gropp (Fn. 12), § 14, Rn. 28 f.; anders nur, wenn ein Fall der Klarstellungsfunktion der Ideal-konkurrenz vorliegt, s.u. 63 Vgl. hierzu nur Grosse-Wilde, HRRS 2019, 160; zur Legi-timation dieses Rechtsinstituts u.a. Frister (Fn. 44), Kap. 31 Rn. 17. 64 v. Heintschel-Heinegg (Fn. 1), § 52 Rn. 14; Heinrich (Fn. 55), Rn. 1441.

im Verhältnis zueinander typische Begleittaten65 bilden. Auch hiernach kann das zurückgetretene Delikt indessen im Rah-men der Strafzumessung Berücksichtigung finden.66

Eine nicht nur für die Examensklausur interessante Frage wurde in jüngerer Vergangenheit durch die Rechtsprechung entschieden: Diskutiert wurde, ob die Beschädigung durch Aufbrechen eines Tankautomaten sowie die eines Ladenlo-kals im Wege der Konsumtion hinter einem Diebstahl im besonders schweren Fall in Form des §§ 242, 243 Abs. 1 S. 2 Nrn. 1, 2 StGB bzw. dessen Versuch zurücktritt.67 Die Be-gründungsansätze beanspruchen aber ebenso Geltung für das Konkurrenzverhältnis zum Hausfriedensbruch68 und tragen zum grundsätzlichen Verständnis der Konsumtion bei.69 Der 1. Strafsenat des BGH formuliert: „Eine Sachbeschädigung ist selbst bei dem Regelbeispiel des „Einbrechens“ (Nr. 1) nicht zwingend.“70 Dem ist zuzustimmen, doch ist diese Er-kenntnis für die Annahme der Konsumtion zunächst ohne Folge: Es geht nicht darum, welche Tat eine zwingende Be-gleittat des jeweilig konsumierenden Delikts ist – wäre dem so, hätte der Gesetzgeber eine derartige Systematik unlängst kennzeichnen können –, sondern welche Tat typischerweise begleitend neben das konsumierende Delikt tritt. Zunächst argumentiert der Senat mit der Rechtsnatur des Regelbei-spiels und dessen Funktion als Bestandteil der Strafzumes-sung; Regelbeispiele könnten Tatbeständen nicht verdrän-gen.71

Diesem Hinweis auf die Rechtsnatur ist mit dem Schluss zu begegnen, dass nicht das Regelbeispiel, sondern der Tat-bestand des Diebstahls in der Begehungsform des Regel- beispiels für eine Konsumtion sorgt.72 Soweit indessen gegen die differenzierte Behandlung nach dem Aspekt des eigenen, über die begleittatspezifische Unterordnung hinausgehenden Unrechts Bestimmtheitsbedenken erhoben werden,73 erschei-nen diese ebenso begründet wie jeder am Schutzzweck aus-gerichteten Argumentation. Die übrigen Argumente des

65 Übersicht zu den Begleittaten bei Kühl (Fn. 9), § 21 Rn. 60 ff. 66 Puppe, JuS 2016, 961 (962). 67 BGH, Urt. v. 7.8.2001 – 1 StR 470/00 = BGH, NJW 2002, 150. 68 So wohl auch Fahl, JR 2019, 108 (115), wenn er konsta-tiert, die Ausführungen gelten bis auf „Salzkörnchen“ auch für dieses Verhältnis. 69 Einen solchen Zusammenhang sehen ebenfalls Jäger, JA 2019, 386 (388); Fahl, JR 2019, 107 (114 ff.). 70 BGH, Urt. v. 7.8.2001 – 1 StR 470/00 = BGH, NJW 2002, 150 = HRRS-Datenbank, Rn. 13. 71 BGH, Urt. v. 7.8.2001 – 1 StR 470/00 = BGH, NJW 2002, 150 = HRRS-Datenbank, Rn. 11. 72 So auch Wessels/Hillenkamp/Schuhr, Strafrecht, Besonde-rer Teil, Bd. 2, 42. Aufl. 2019, Rn. 245; Kindhäuser/Böse, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 10. Aufl. 2019, § 3 Rn. 65; Frister (Fn. 44), Kap. 31 Rn. 17; a.A. Rengier, JuS 2002, 850 (854); Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 5. Aufl. 2019, Rn. 167 a.E. 73 BGH, Urt. v. 7.8.2001 – 1 StR 470/00, HRRS-Datenbank, Rn. 15.

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1. Strafsenats hinsichtlich der versuchten Revidierung eines typischen Zusammenhangs zwischen den genannten Delikten – welche teils vom 2. Strafsenat für die Behandlung von §§ 242 Abs. 1, 244 Abs. 1 Nr. 1 StGB und § 303 Abs. 1 StGB übernommen wurden74 – erscheinen dagegen wenig überzeu-gend, sofern man das herrschende Verständnis des Wesens der Konsumtion als Basis zugrunde legt: Wenn man akzep-tiert, dass §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB nicht notwendig § 303 Abs. 1 StGB enthalten muss, so erscheint zweifelhaft, inwieweit die fortschreitende Entwicklung in-nerhalb der Sicherung von Türen und Fenstern – außerhalb gewerblicher Nutzung scheint wohl die 2001 prognostizierte „fortgeschrittene technische Entwicklung“75 noch nicht in beachtlicher Dimension im Durchschnittshaushalt angekom-men zu sein – oder auch die Möglichkeit ohne Sachbeschädi-gung in ein Haus einzudringen an der Eigenschaft als typi-sche Begleittat etwas ändern sollten.76 Der 1. Strafsenat hat sich hier augenscheinlich nicht auf statistisch fixierte Erfah-rungswerte berufen, sondern musste die Behauptung ohne quantitativen Bezug genügen lassen. Derweil ist ihm im Hin-blick auf die erwähnte teilweise fehlende Identität der Rechtsgutsinhaberschaft77 zuzugeben, dass die Annahme von Konsumtion in diesem Falle unterbleiben muss. Indessen ge-bietet diese Einsicht keineswegs eine gleichzeitige Abkehr von der Eigenschaft als typische Begleittat, sondern ändert an dem grundsätzlichen Geschehensablauf erstmal wenig. Viel-mehr ist diesem Aspekt mit der Annahme eines atypischen Falls und der Notwendigkeit der Annahme von Tateinheit zu begegnen.78 Auch ergibt sich aus der normativen Gleichstel-lung der jeweiligen Begehungsalternativen im Ergebnis nichts anderes. Vielmehr gibt diese über die Häufigkeit und quantitativen Fallzahlen schlicht keine zuverlässige Aus-kunft. Dass der Gesetzgeber diese Begehungsformen un-rechtsmäßig als gleichermaßen missbilligenswert ansieht, lässt über diesen Schluss hinaus keine normative Typisierung zu. Einer tatbestandlichen Vorzeichnung im Sinne einer Notwendigkeit der Begehung des anderen Delikten – z.B. Sachbeschädigung – bedarf es nicht.79 Für den Fall der kon-kurrenzrechtlichen Handhabung der Konstellation mit Regel-beispiel erscheint – vorbehaltlich zulässiger einzelfallbezoge-

74 BGH, HRRS 2018, Nr. 841 = BGH NStZ 2018, 708. 75 BGH, Urt. v. 7.8.2001 – 1 StR 470/00, HRRS-Datenbank, Rn. 15. 76 So auch Wessels/Hillenkamp/Schuhr (Fn. 72), Rn. 245. 77 BGH, Urt. v. 7.8.2001 – 1 StR 470/00, HRRS-Datenbank, Rn. 12. 78 So auch Wessels/Hillenkamp/Schuhr (Fn. 72), Rn. 245; Fahl, JR 2019, 108 (116), der allerdings selbst keine Konse-quenzen in der mangelnden Rechtgutsträgeridentität sieht. 79 Anders scheinbar BGH, HRRS 2018, Nr. 841, Rn. 30 = NStZ 2018, 708, wenn er einen „systematischen Bruch“ kon-statieren will (indessen für den Fall des Konkurrenzverhält-nisses von § 303 StGB und § 244 Abs. 1 Nr. 3 Var. 1 [, Abs. 4] StGB).

ner Abweichungen – die konsumtionsrechtliche Lösung vor-zugswürdig.80

Unterdessen scheint sich die Ansicht zugunsten der Tat-einheit in der BGH-Rechtsprechung auch für die Behandlung der konkurrenzrechtlichen Verhältnisse zwischen dem Woh-nungseinbruchsdiebstahl und der Sachbeschädigung durchge-setzt zu haben, sollte allerdings im Ergebnis ähnlichen Be-denken begegnen.81 c) Subsidiarität Ergibt sich aus einer Strafnorm explizit oder implizit, dass sie nur hilfsweise Geltung beanspruchen soll, also nur für den Fall, dass keine ihr vorrangigen Normen greifen, ist der Be-reich der Subsidiarität angesprochen, bei der der nachrangige Tatbestand vom vorrangigen verdrängt wird (lex primaria derogat legi subsidiariae).82 Subsidiäre Strafnormen erfüllen mithin eine Auffangfunktion. Teils ist eine nachrangige An-wendung – mal generalisiert, mal spezialisiert83 – gesetzlich geregelt, so (v.a.)84 in den §§ 145d Abs. 1, 246 Abs. 1, 248b Abs. 1, 265 Abs. 1, 316 Abs. 1 StGB jew. a.E. (sog. formelle Subsidiarität). Teils ist sie aus Wertungsgesichtspunkten her- zuleiten, die auf dem Gedanken beruhen, dass ein Tatbestand, der ein Rechtsgut bei identischer Schutzrichtung intensiver schützt, indem er höheres Unrecht erfasst, dem allgemeineren vorgeht, wenn nicht schon Spezialität gegeben ist (sog. mate-rielle Subsidiarität).85 Im Kern beruht die Subsidiarität auf dem Gedanken, dass hinsichtlich desselben Rechtsguts quali-tative Unrechtsabstufungen zwischen mehreren Tatbeständen bestehen, sei es im Hinblick auf unterschiedliche Stadien oder bedingt durch unterschiedlich intensive Angriffe.86 Selbst-verständlich ist immerzu Voraussetzung, dass es um dieselbe Person und dasselbe deliktische Verhalten geht. Beispiele, die auf breiten Konsens stoßen, sind etwa:87

Beispiel: Jede Tötung enthält durchgangsweise eine Kör-perverletzung, jede Körperverletzung durchgangsweise eine konkrete Gefährdung und jede konkrete Gefährdung wiederum durchgangsweise eine abstrakte Gefährdung. In

80 Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017, § 243 Rn. 62; Wessels/Hillenkamp/Schuhr (Fn. 72), Rn. 245; Kühl (Fn. 9), § 21 Rn. 60; Dölling, JuS 1986, 688 (693). 81 Vgl. hierzu BGH NStZ 2018, 708, jew. m. zust. Anm. Mitsch, NJW 2019, 1086 (1091), Jäger, JA 2019, 386 (388 ff.), der hiermit indessen die Möglichkeit der Abkehr von diesem Rechtsinstitut verbindet. 82 Jescheck/Weigend (Fn. 6), S. 734. 83 Hierzu Seher, JuS 2004, 482 (482), der ausf. die allgemei-ne und spezielle Subsidiarität gegenüberstellt. 84 Weitere Beispiele formeller Subsidiarität bei Bock (Fn. 26), S. 656. 85 Siehe Kretschmer, JA 2019, 666 (668); synonym: systema-tische Subsidiarität, siehe Heinrich (Fn. 55), Rn. 1438. 86 Rissing- van Saan (Fn. 1), Vorb. §§ 52 ff. Rn. 148. 87 Zu den Standardbeispielen i.F. siehe Frister (Fn. 44), Kap. 31 Rn. 14; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 1268; Kindhäuser/Zimmermann (Fn. 43), § 46 Rn. 10.

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Grundzüge der strafrechtlichen Konkurrenzlehre (§§ 52 ff. StGB) – Teil 2 STRAFRECHT

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jeder Vollendung ist das Entschluss-, Vorbereitungs- und Versuchsstadium mitenthalten. Jeder täterschaftliche Bei-trag umfasst etwaige Beiträge als Teilnehmer. Die Anstif-tung enthält das Unrecht der Beihilfe. Die Vorsatztat ent-hält etwaige Fahrlässigkeitstaten wie auch das positive Tun ein begehungsgleiches Unterlassen.

Ordnet ein Tatbestand mit formeller Subsidiaritätsklausel ohne Konkretisierung ein Zurücktreten hinter „Vorschriften mit schwererer Strafe“ an, ist zunächst diskutabel, ob dies tatsächlich sämtliche Vorschriften mit höherer Strafandro-hung erfassen soll oder nur solche, die dieselbe Schutzrich-tung aufweisen.88 Wohl prominentestes Beispiel ist § 246 Abs. 1 StGB. Ob eine Unterschlagung nur hinter anderen Eigentumsdelikten (v.a. die §§ 242 ff. StGB) oder aber hinter sämtlichen Tatbeständen höheren Strafmaßes (z.B. die §§ 211 ff. StGB) zurücktritt, ist umstritten. Stellvertretend für alle offenen Subsidiaritätsklauseln steht einem auf Art. 103 Abs. 2 GG gestützten, für ein weites Verständnis ins Feld geführten Wortlautargument ein auf den oben skizzierten telos der Subsidiarität gestütztes, schutzrichtungsspezifisches Verständnis entgegen. In einer Klausur sind beide Auffas-sungen vertretbar.

Bedeutend schwieriger sind die in den Feinheiten äußerst umstrittenen Fragen im Bereich der materiellen Subsidiarität, denn es mangelt an festen Kriterien, anhand derer eine mate-rielle Subsidiarität zu ermitteln ist.89 Daher kann eine wer-tungsorientierte Argumentation, je nachdem, ob es im Grund-satz für sinnvoller gehalten wird, jede tatbestandliche Ver-wirklichung in den Tenor oder einzig die wesentlichen auf-zunehmen,90 regelmäßig vertretbar in beide Richtungen ent-schieden werden. In einer Klausur kann nicht mehr als eine knappe Auseinandersetzung verlangt und benotet werden.91

Keine Subsidiarität liegt jedenfalls vor, wenn es der Klar-stellungsfunktion der Idealkonkurrenz bedarf92

Beispiel: A möchte seinen Arbeitskollegen B aus dem Weg räumen und gibt in der Absicht, ihn zu töten, Gift in dessen Kaffee. Wider Erwarten wird B lediglich schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert, überlebt jedoch.

88 Das weite Verständnis vertritt die Rspr., siehe nur BGHSt 43, 237 (zu § 125 StGB); 47, 243 = NStZ 2002, 480 und BGH NStZ-RR 2018, 118 (red. Ls. 3) zu § 246 StGB; zust. Heghmanns, JuS 2003, 954; Kretschmer, JA 2019, 666 (668); Kühl, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2018, § 246 Rn. 14; krit. bis abl. Duttge/Sotelsek, NJW 2002, 3756; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 22. Aufl. 2020, § 5 Rn. 66; Freund/Putz, NStZ 2003, 242; s.a. die Nachweise in Seher, JuS 2014, 482 (483); Walter, JA 2005, 468 (469 f.); Bock (Fn. 26), S. 657 a.E. 89 Frister (Fn. 44), Kap. 31 Rn. 13. 90 Frister (Fn. 44), Kap. 31 Rn. 13. 91 Gropp (Fn. 12), § 14 Rn. 38 rät wohl aus Gründen der Klausurökonomie einen weitgehenden Verzicht auf eine Be- gründung an. 92 BGHSt 44, 196 = NJW 1999, 69.

Im Beispiel könnte man erwägen, die vollendete gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB als von dem versuchten Heimtückemord (§§ 212 Abs. 1, 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB) aus Subsidiaritätsgründen ver-drängt anzusehen. Sieht man dies so, wird aus dem Urteils- tenor nicht hinreichend ersichtlich, dass eine gefährliche Körperverletzung zur Vollendung gelangt ist.93 Der Tenor würde dem Fall entsprechen, dass B den Kaffee erst gar nicht trinkt und nicht verletzt wird. Aus Klarstellungsgründen bleiben daher beide Verwirklichungen nebeneinanderstehen. Dies ist gemeint, wenn von der Klarstellungsfunktion der Tateinheit die Rede ist.94 In unstreitigen Subsidiaritätsfällen (z.B. vollendete Tötung und in ihr enthaltene Körperverlet-zung) bietet sich eine (kurze) Konkurrenzbestimmung auf Tatbestandsebene an. In evidenten Fällen kann auf eine Dar-stellung gänzlich verzichtet werden,95 so muss etwa nicht eigens erwähnt werden, dass das vollendete Delikt den Ver-such mitenthält. 2. Handlungsmehrheit Ist eine Handlungsmehrheit gegeben, kann eine Gesetzes- konkurrenz in Gestalt einer mitbestraften Vortat oder Nachtat vorliegen. Mitbestrafte Vor- bzw. Nachtaten sind Taten, die im zeitlichen Umfeld einer Tat erfolgen, die ihrerseits bei einer Gesamtwürdigung des Lebenssachverhalts das verwirk-lichte Unrecht bereits erschöpfend erfasst, d.h. sie fallen nicht eigens ins Gewicht.96 Mitbestrafte Vortaten sind solche, die entweder notwendiges oder aber zumindest regelmäßiges Mittel zur Begehung einer nachfolgenden Straftat sind und mitbestrafte Nachtaten solche, die der Sicherung, Auswertung oder Verwertung einer vorangegangenen Tat dienen, ohne sich gegen einen anderen als den Rechtsträger der Vortat zu richten und das bereits verwirklichte Unrecht zu vertiefen.97 Es zeigt sich, dass wertungsmäßig den mitbestraften Umfeld- taten die bereits erörterten Grundgedanken der Subsidiarität und Konsumtion zugrunde liegen.98

Beispiele mitbestrafter Vortaten: Unterschlagung eines Autoschlüssels (§ 246 StGB), wenn sie dazu dient, mit diesem einen PKW zu stehlen (§ 242 StGB);99 Diebstahl einer EC-Karte (§ 242 StGB), um mit dieser Geld abzu-heben (§ 263a StGB);100 Vorbereitung einer Geld- bzw. Wertzeichenfälschung (§ 149 StGB) im Verhältnis zur späteren Fälschung (§§ 146, 148 StGB).101 Teilweise auch

93 Kretschmer, JA 2019, 581 (581). 94 Walter, JA 2005, 468 (470); ausf. Abels, Die „Klarstellungs-funktion“ der Idealkonkurrenz, 1991, passim. 95 Allg. Empfehlung, siehe nur Rengier (Fn. 37), § 56 Rn. 39. 96 v. Heintschel-Heinegg (Fn. 1), Vorb. § 52 Rn. 56. 97 Fischer (Fn. 11), Vorb. § 52 Rn. 64 m.w.N. 98 Rengier (Fn. 37), § 56 Rn. 43. 99 Murmann (Fn. 38), § 31 Rn. 68. 100 So etwa Steinberg/Bergmann, Jura 2009, 905 (910); a.A. aber Rückert, JA 2014, 826 (829 f.), sowie der BGH unter Verweis darauf, dass unterschiedliche Rechtsgüter und Rechts- gutsträger betroffen sind, vgl. BGH NJW 2001, 1508. 101 Walther, JA 2005, 468 (469).

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hier verortet: Verabredung zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 2 StGB) oder die Anstiftung zu einer Tat (§ 26 StGB) im Verhältnis zur später tatsächlich begangenen Tat.102 Beispiele mitbestrafter Nachtaten: Sicherungsbetrug (§ 263 StGB), um den Besitz einer gestohlenen Sache (§ 242 StGB) zu erhalten;103 Diebstahl eines Tagebuches (§ 242 StGB), das der Täter aufgrund eines neuen Willensent-schlusses verbrennt (§ 303 StGB);104 Abheben von Geld (§ 263 StGB) durch Vorlage eines gestohlenen Sparbuchs (§ 242 StGB);105 Fälle der sog. doppelten Zueignung im Rahmen des § 246 StGB, sofern man eine solche tatbe-standlich als gegeben ansieht.106

IV. Feststellung von Tateinheit/-mehrheit Liegt eine Gesetzeskonkurrenz nicht vor, so führt die Hand-lungseinheit zu Tateinheit und die Handlungsmehrheit zu Tatmehrheit, was im Gutachten unter Benennung der jeweils einschlägigen Normen kurz festzustellen ist.

102 Kretschmer, JA 2019, 666 (670). 103 Seher, JuS, 482 (484); Puppe, JuS 2016, 961 (965). 104 Siehe Steinberg/Bergmann, Jura 2009, 905 (910); str. 105 Rückert, JA 2014, 826 (830). 106 Krit. Walther, JA 2005, 468 (469).

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Fortgeschrittenenklausur Arbeitsrecht: Trainerwechsel* Von Wiss. Mitarbeiter Johannes Götz, Regensburg** In der Klausur ist die Zulässigkeit der Befristung eines Fuß-balltrainervertrages zu prüfen. Nach dem Urteil des BAG um den ehemaligen Torwart des 1. FSV Mainz 05, Heinz Müller, sei die Befristung eines Profifußballervertrags gerechtfertigt. Doch gilt dies auch für Fußballtrainer? Ein weiterer Schwer- punkt der Klausur liegt auf den examensrelevanten Entschei-dungen des BVerfG und des BAG zum Vorbeschäftigungs- verbot des § 14 Abs. 2 TzBfG. Sachverhalt Fußballtrainer T (58) kehrte 2017 nach langer Tätigkeit als Co-Trainer verschiedener Drittligavereine nach Regensburg zurück, um die zweite Mannschaft (U21) des SC Regensburg e.V. in der Regionalliga Bayern zu trainieren. Bereits 1980 und 1981 spielte T als Fußballprofi für den SCR in der 2. Bundesliga. Von 2005 bis 2009 war er befristet als Trainer im Nachwuchsleistungszentrum des SCR beschäftigt. P, der Präsident des SCR, und T unterschrieben am 1.8.2017 einen Vertrag. Mit der darin enthaltenen Befristung bis 30.6.2019 war T einverstanden, da er danach gegebenenfalls zu einem anderen Verein wechseln wollte. Er sollte monatlich 5.000 € erhalten.

Weil die Mannschaft zum Saisonende 2019 gerade so die Klasse hält, entscheidet sich P, den Vertrag auslaufen zu las- sen. Erst als T am 1.7.2019 zum Training erscheint, eröffnet ihm P, er werde den Vertrag nicht verlängern. T solle nun nach Hause gehen. P rechtfertigt seine Entscheidung damit, dass die junge Mannschaft ein neues Konzept und einen Trainer brauche, der die Spieler wieder motivieren könne. Ohnehin seien befristete Verträge im Fußball üblich. Dadurch ergäben sich wieder neue Karrierechancen für T. Trainern ge- linge es meist nicht langfristig, eine Mannschaft erfolgreich zu führen. T entgegnet, die Spieler blieben sowieso höchstens zwei Jahre in seiner U21 und versuchen dann, in die Profi-mannschaft zu wechseln. Die nachrückenden Spieler könne er wieder zu Spitzenleistungen bewegen. Nachdem P am nächsten Tag in den Urlaub fliegt und sein Stellvertreter denkt, der Vertrag ende erst am 31.7.2019, leitet T weiterhin das Training.

Gerade aus seinem Urlaub zurück, sieht P den T am 26.7.2019 beim Training. P fragt am 31.7.2019 den Justiziar des SCR, ob der Vertrag mit T fortbesteht. Fallfrage In einem umfassenden Gutachten ist die Frage des P zu be-antworten.

* Die Klausur wurde im Sommersemester 2019 in abgewan-delter Form im Rahmen der Online-Vorlesung „Virtuelles In- dividualarbeitsrecht“ der Virtuellen Hochschule Bayern als zweistündige Abschlussklausur an der Universität Regens-burg gestellt. Die Bearbeitungszeit betrug 120 Minuten. ** Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerli-ches Recht und Arbeitsrecht bei Prof. Dr. Frank Maschmann an der Universität Regensburg.

Lösungsvorschlag Der Vertrag zwischen dem SCR und T besteht fort, wenn er nicht durch eine wirksame Befristung mit Ablauf der verein-barten Zeit endete, §§ 15 Abs. 1, 3 Abs. 1 S. 2 Var. 1 TzBfG. I. Anwendbarkeit des TzBfG Nach § 620 Abs. 3 BGB, §§ 1, 3 Abs. 1 TzBfG ist das TzBfG nur auf Arbeitsverträge im Sinne des § 611a BGB anwend-bar. T müsste sich vertraglich zur Leistung von Diensten für den SCR gegen Entgelt in persönlicher Abhängigkeit ver-pflichtet haben, § 611a BGB.

Die Parteien schlossen am 1.8.2017 einen privatrecht- lichen Vertrag. Als eingetragener Verein kann der SCR nach § 21 BGB als rechtsfähige juristische Person Vertragspartner sein. Der SCR wurde nach §§ 164 Abs. 1, 26 Abs. 1 S. 2 BGB wirksam durch seinen Vorstand P vertreten.

T leitet eine Fußballmannschaft als Trainer. Er gestaltet Trainingseinheiten, stellt die Mannschaft zu Spielen auf, bildet die Spieler aus und motiviert sie. Seine Leistungs-pflicht ist nicht auf bestimmte Saisonziele (z.B. Aufstieg oder Klassenerhalt) und damit nicht auf einen Werkerfolg im Sin-ne des § 631 BGB gerichtet. Anders als bei einem Werk- vertrag üblich, liegt der Eintritt der Ziele nicht alleine in der Hand des Trainers. Deswegen macht sich der Trainer einer-seits nicht schadensersatzpflichtig, wenn die Saisonziele ver- fehlt. Andererseits soll der Vertrag gerade nicht bei Errei-chender Saisonziele nach § 362 BGB erlöschen.1 Im Gegen-zug erhält T eine Vergütung von monatlich 5.000 €, § 611a Abs. 2 BGB.2

T müsste seine entgeltliche Dienstleistung in persönlicher Abhängigkeit – d.h. weisungsgebunden und fremdbestimmt – erbringen, § 611a Abs. 1 S. 2–4 BGB, § 106 GewO. Wei-sungsgebunden ist, wer seine Tätigkeit nicht im Wesentlichen frei gestalten kann, § 611a Abs. 1 S. 3 BGB. Er selbst gestal-tet Trainingseinheiten und Spieltaktiken. Damit ist er in fach-licher Hinsicht weitgehend unabhängig. Die Weisungsgebun-denheit muss sich jedoch vor allem bei Arbeitnehmern in Führungspositionen nicht auf alle Bereiche erstrecken.3 Das Traineramt setzt naturgemäß eine gewisse eigenständige Ar- beitsweise voraus. Dennoch ist T weitgehend in das Organi-sationsgefüge des SCR eingebunden. Obwohl er Trainings-termine wohl selbst festlegen darf, hat er im Zweifel zeitliche (z.B. Spieltermine oder andere Vereinstermine) und örtliche

1 Ittner/Schaich, NJOZ 2019, 497 (498). 2 Selbst die Vereinbarung erfolgsabhängiger Prämien würde nicht für einen Werkvertrag sprechen: Als zusätzliche Vergü-tung zum Grundgehalt sollen sie nur das Interesse des Trai-ners am sportlichen Erfolg der Mannschaft wecken, vgl. Ittner/ Schaich, NJOZ 2019, 497 (498). 3 Bruns, NZA 2008, 1269 (1272); Ittner/Schaich, NJOZ 2019, 497 (498); Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeits-recht, 20. Aufl. 2020, BGB § 611a Rn. 39.

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Weisungen des Vereins zu beachten.4 Zudem hat der Verein gegenüber dem Trainer regelmäßig ein disziplinarisches Wei- sungsrecht.

T ist nach der Gesamtschau persönlich abhängig beschäf-tigt und somit Arbeitnehmer.5 Das TzBfG ist anwendbar. II. Präklusion Die Befristung könnte bereits als von Anfang an wirksam gelten, wenn T nicht innerhalb von drei Wochen nach Ver-tragsende mit einer Klage beim Arbeitsgericht ihre Unwirk-samkeit geltend macht, § 17 S. 1, 2 TzBfG i.V.m. § 7 KSchG.

Der Vertrag des T endet nach der vereinbarten Befristung am Sonntag, den 30.6.2019 um 24.00 Uhr. Nach § 187 Abs. 1 BGB beginnt die Ereignisfrist am darauffolgenden Montag, den 1.7.2019 um 00.00 Uhr zu laufen. Sie endet nach § 188 Abs. 2 Var. 1 BGB grundsätzlich am 21.7.2019. Dabei han-delt es sich jedoch um einen Sonntag, sodass § 193 BGB das Fristende auf Montag, den 22.7.2019 um 24.00 Uhr verschiebt. Bis dahin hat T keine Klage beim Arbeitsgericht erhoben; die Wirksamkeit der Befristung wäre präkludiert.

Allerdings könnte sich der Fristbeginn verschieben, wenn das Vertragsverhältnis nach § 15 Abs. 5 TzBfG fortgesetzt wurde, § 17 S. 3 TzBfG. T leitete im Juli weiterhin das Trai-ning und erbrachte damit seine vertragsgemäßen Dienste nach Ablauf der Vertragslaufzeit. P bemerkte dies am 1.7.2019; er wies T ohne schuldhaftes Zögern (unverzüglich, § 121 BGB) auf das Vertragsende hin. P teilte T seine Absicht mit, den Vertrag nicht zu verlängern und widersprach der Fortsetzung. Der Vertrag gilt damit nicht nach § 15 Abs.5 TzBfG als un-befristet verlängert. Eine Präklusion der Wirksamkeit der Be- fristung ist aber dennoch nicht eingetreten: § 17 S. 3 TzBfG verschiebt den Fristbeginn auf den Zugang der schriftlichen Erklärung des Arbeitgebers, dass das Arbeitsverhältnis auf-grund der Befristung beendet sei. P erinnerte den T jedoch nur mündlich an das Vertragsende, sodass die Präklusions-frist noch nicht anlief. Sofern P gegenüber T noch am 31.7. 2019 schriftlich die Beendigung erklärt, könnte T noch bis zum 21.8.2019 die Wirksamkeit der Befristung mit einer Klage beim Arbeitsgericht angreifen.

Die Wirksamkeit der Befristung ist folglich am 31.7.2019 noch nicht nach § 17 S. 1 TzBfG fingiert. III. Wirksame Befristung Der Vertrag des T ist vom 1.8.2017 bis 30.6.2019 kalender-mäßig befristet, § 3 Abs. 1 S. 2 Var. 1 TzBfG. Die Befristung müsste schriftlich vereinbart und als solche zulässig sein, § 14 TzBfG.

4 Unger, Die Freistellung im Profisport am Beispiel des Fuß-balls, 2019, S. 31 f. 5 Zur Arbeitnehmereigenschaft von Trainern vgl. Ittner/ Schaich, NJOZ 2019, 497 (498); Unger (Fn. 4), S. 31 f.; Zindel, Die Befristung von Arbeitsverträgen mit Trainern im Spitzensport, 2006, S. 107.

1. Schriftform P und T unterzeichneten den befristeten Vertrag. Die nach § 14 Abs. 4 TzBfG erforderliche Schriftform (§ 126 Abs. 2 BGB) ist eingehalten. 2. Sachgrundlose Befristung, § 14 Abs. 2 TzBfG Die Befristung ohne Sachgrund könnte bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig sein, § 14 Abs. 2 TzBfG. a) Befristung unter zwei Jahren Die 23-monatige Vertragslaufzeit liegt unter der für eine sachgrundlose Befristung geltenden Höchstbefristungsdauer von zwei Jahren, § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG. b) Zuvor-Beschäftigungsverbot Allerdings ist eine sachgrundlose Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG unzulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber be- reits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat, § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG. Bereits 1980 und 1981 spielte T als Profifußballer für den SCR und war von 2005 bis 2009 in dessen Nachwuchsleistungszentrum als Trainer beschäftigt. In beiden Fällen handelte es sich jeweils um ein Arbeitsverhältnis zwischen T und dem SCR. Die Be- fristung könnte aufgrund des Zuvor-Beschäftigungsverbots des § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG unzulässig sein. Die Vorbeschäf-tigungen liegen jedoch zum Zeitpunkt des neuen Vertrags-schlusses bereits über 35 bzw. acht Jahre zurück. Es handelt sich damit nicht um eine Befristungskette, weshalb das Zu-vor-Beschäftigungsverbot teleologisch zu reduzieren sein könnte. aa) Teleologische Reduktion § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG soll Kettenbefristungen verhindern. Über diesen Gesetzeszweck schießt ein Zuvor-Beschäftigungs- verbot, das jede noch so lange zurückliegende Beschäftigung betrifft, hinaus. Deshalb könnte § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG nur auf Arbeitsverhältnisse anzuwenden sein, die in einem für den Gesetzeszweck relevanten zeitlichen und sachlichen Zu- sammenhang stehen.6

Für eine solche Beschränkung spricht, dass Arbeitgeber aufgrund ihrer Privatautonomie von einer Einstellung abse-hen könnten, wenn eine befristete Beschäftigung wegen § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG nicht möglich ist. Statt einen zuvor bereits beschäftigten Arbeitnehmer unbefristet einzustellen, suchen Arbeitgeber dann nach anderen Bewerbern, deren Verträge sie sachgrundlos befristen können. Das schränkt die Berufs-wahlfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der zuvor bereits beschäftig-ten Arbeitnehmer ein und benachteiligt diese (Art. 3 Abs. 1 GG).7 Als Lösung bietet sich eine teleologische Reduktion des Zuvor-Beschäftigungsverbots auf alle Arbeitsverhältnisse an, die nicht länger als drei Jahre zurückliegen (Wertung der Regelverjährungsfrist, §§ 195, 199 Abs. 1 BGB). Das BAG8 6 Löwisch, BB 2001, 254 (254 f.). 7 Löwisch, BB 2001, 254 (254 f.). 8 BAG NZA 2011, 905 ff.; BAG NZA 2012, 255 ff.; Rudolf, BB 2011, 2808 (2810 f.).

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hatte sich vorübergehend dieser Ansicht angeschlossen: Weil nach diesem Zeitraum keine Befristungsketten mehr drohten, seien alle länger zurückliegenden Arbeitsverhältnisse unbe-achtlich.

Die Befristung wäre demnach ohne Sachgrund zulässig. bb) Lebenslanges Zuvor-Beschäftigungsverbot Vor 2011 ging das BAG9 mit weiten Teilen der Literatur10 von einem „lebenslangen“ Zuvor-Beschäftigungsverbot aus. Eine Vorbeschäftigung sollte unabhängig davon, wie lange sie zurücklag, stets eine erneute sachgrundlose Befristung ausschließen.

Dieser Meinung ist grundsätzlich auch das BVerfG11: Die Beschränkung des Vorbeschäftigungsverbots des § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG auf die dreijährige Regelverjährungsfrist über-schreite die Grenzen vertretbarer Gesetzesauslegung. Obwohl der Wortlaut der Norm weder eingeschränkt noch ausdrück-lich für alle zurückliegenden Arbeitsverhältnisse in aller Vergangenheit geöffnet sei, wollte der Gesetzgeber nach der Entstehungsgeschichte und den Gesetzesmaterialien erkenn-bar gerade nicht dieses Regelungsmodell, sondern ein dauer-haftes Zuvor-Beschäftigungsverbot.12 § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG enthalte die gesetzgeberische Grundentscheidung, dass sach-grundlose Befristungen zwischen denselben Arbeitsvertrags-parteien grundsätzlich nur bei der erstmaligen Einstellung zulässig sein sollten. Damit habe sich der Gesetzgeber gegen eine zeitliche Begrenzung des Verbots entschieden.13 Die richterliche Rechtsfortbildung dürfe den eindeutigen Gesetz-geberwillen nicht übergehen und durch ein eigenes Rege-lungsmodell ersetzen.

Wenn zuvor bereits ein befristetes Arbeitsverhältnis be-stand, beeinträchtige das Verbot sachgrundloser Befristung zwar die Berufswahlfreiheit der Arbeitnehmer (Art. 12 Abs. 1 GG) und die wirtschaftliche und berufliche Betätigungsfrei-heit der Arbeitgeber (Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1GG). Weil es aber der Pflicht des Staates zum Schutz der strukturell unter-legenen Arbeitnehmer (Art. 12 Abs. 1 GG) diene und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG) Rech- nung trage, sei es gerechtfertigt. Das Verbot sei zudem erfor-derlich zur Sicherung des unbefristeten Arbeitsverhältnisses als Regelfall abhängiger Beschäftigung.14

Das Zuvor-Beschäftigungsverbot ist demnach grundsätz-lich nicht zeitlich einzuschränken. Das BAG15 hat sich inzwi-schen dieser Ansicht wieder angeschlossen.

Allerdings verlangt auch das BVerfG eine verfassungs-konforme Auslegung des § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG. Solange 9 BAG NZA 2005, 218. 10 Hromadka, BB 2001, 621 (627); Kliemt, NZA 2001, 296 (299 f.); Richardi/Annuß, BB 2000, 2201 (2204); Müller-Glöge, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 18. Aufl. 2018, TzBfG § 14 Rn. 98 f. m.w.N. 11 BVerfG NZA 2018, 774 ff.; Boemke, JuS 2019, 397. 12 BT-Drs. 14/4374, S. 13 f.; Umkehrschluss aus BT-Drs. 14/ 4625, S. 18 f.; BVerfG NZA 2018, 774 (780 Rn. 82 ff.). 13 BVerfG NZA 2018, 774 (780 Rn. 77). 14 BVerfG NZA 2018, 774 (776 Rn. 40 ff.). 15 BAG NZA 2019, 700; Boemke, JuS 2019, 73.

keine Kettenbefristungen in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten drohen und das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform nicht in Frage gestellt wird, könne das lebenslange Zuvor-Beschäftigungs- verbot ausnahmsweise unzumutbar sein. Das Arbeitgeber- interesse an einer Flexibilisierung könne in einer Abwägung mit dem Schutzzweck des Verbots der sachgrundlosen Be-fristung überwiegen, wenn die Vorbeschäftigung sehr lange zurückliegt, ganz anders geartet oder nur von kurzer Dauer war. Weder das BVerfG noch das BAG haben diese Ausnah- men genauer definiert. Sie sind in einer Einzelfallabwägung festzustellen.16

Die Vorbeschäftigung des T als Spieler 1980 und 1981 lag bei Vertragsschluss 2017 bereits 36 Jahre zurück. Nach dieser langen Zeitspanne drohen keine Kettenbefristungen mehr; der Regelfall der unbefristeten Beschäftigung ist nicht gefährdet.17 Einerseits schuldete T den Einsatz als Spieler, andererseits das Leiten einer Mannschaft als Trainer. Die Tä- tigkeiten unterscheiden sich wesentlich, sodass ganz anders geartete Aufgaben vorliegen. Der Zeitraum von zwei Jahren, in dem T als Profi für den SCR spielte, entspricht der Frist des § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG und geht als Orientierung über die Fristen der §§ 1 Abs. 1 KSchG und § 622 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 BGB hinaus.18 Die Beschäftigung war nur von kurzer Dauer. Die Spielertätigkeit ist damit insgesamt unbeachtlich.

Anders liegt es bei der Vorbeschäftigung des T als Trai-ner. Obwohl T von 2005 bis 2009 im Nachwuchs- und ab 2017 im Herrenbereich arbeitete, beschäftigte der SCR ihn jeweils als Fußballtrainer, sodass keine ganz anders geartete Tätigkeit anzunehmen ist. Seine Zeit als Trainer im Nach-wuchsleistungszentrum endete erst acht Jahre vor der neuen Anstellung und könnte damit nicht lange genug zurückliegen. Kettenbefristungen drohen jedenfalls über diesen Zeitraum nicht mehr. Das unbefristete Dauerarbeitsverhältnis als Re-gelbeschäftigungsform könnte dennoch gefährdet sein. Bei typisierender Betrachtung kann der Arbeitgeber auf die ge-samte Dauer des Arbeitslebens (etwa 40 Jahre) vier zweijäh-rig befristete Anstellungen im Abstand von je acht Jahren aneinanderreihen, sodass sich die sachgrundlose Befristung zum Regelfall entwickelt.19 Der Abstand von acht Jahren reicht nicht aus.

Die Vorbeschäftigung löst das Verbot der sachgrundlosen Befristung aus. c) Zwischenergebnis Die Befristung ist nicht nach § 14 Abs. 2 TzBfG ohne Sach-grund zulässig. 3. Sachgrundlose Befristung, § 14 Abs. 3 TzBfG T hat zwar mit seinen 58 Jahren bereits das 52. Lebensjahr vollendet. Er war jedoch – anders als es § 14 Abs. 3 TzBfG

16 BVerfG NZA 2018, 774 (779 Rn. 62 f.); BAG NZA 2019, 700; krit. Bayreuther, NZA 2018, 905 (908). 17 Vgl. BAG NZA 2019, 700 (702 Rn. 26). 18 Vgl. BAG NZA 2019, 700 (703 Rn. 28). 19 BAG NZA 2019, 700 (702 Rn. 26).

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verlangt – nicht unmittelbar vor seiner Beschäftigung beim SCR vier Monate lang beschäftigungslos, sondern bei ande-ren Vereinen als Co-Trainer beschäftigt. Ein Sachgrund ist nicht nach § 14 Abs. 3 TzBfG entbehrlich. 4. Befristung mit Sachgrund, § 14 Abs. 1 TzBfG Die Befristung ist nach § 14 Abs. 1 S. 1 TzBfG zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Ein solcher könnte sich aus dem nicht abschließenden Katalog des § 14 Abs. 1 S. 2 TzBfG ergeben. a) Gründe in der Person des Arbeitnehmers Die Befristung könnte nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 TzBfG durch in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe ge- rechtfertigt sein. Nr. 6 ist weit gefasst und umfasst eine Viel-zahl von Sachverhalten.20 Es könnte in einem Wunsch des T ein Befristungsgrund zu sehen sein. Immerhin war T mit der Befristung einverstanden, um nach Vertragsende den Verein wechseln zu können.

Ein ausdrückliches Verlangen des Arbeitnehmers nach einer konkreten Befristung kann einen Sachgrund darstellen, wenn sich bei Vertragsschluss aus objektiven Anhaltspunkten ein Arbeitnehmerinteresse an einer befristeten Beschäftigung ergibt. Allein die Annahme eines entsprechenden Angebotes reicht dafür jedoch nicht aus. Der Arbeitnehmer hätte viel-mehr auch bei einem tatsächlich angebotenen unbefristeten Arbeitsverhältnis freiwillig eine Befristung vorziehen müs-sen.21

Der Wunsch des T nach Vertragsende erneut zu einem anderen Verein wechseln und sich sportlich weiterentwickeln zu können, ist aber nicht mit dem Wunsch nach einer Befris-tung gleichzusetzen. T kam es nicht auf die konkrete Befris-tung zum 30.6.2019 an, sondern darauf nach einer bestimm-ten Zeit erneut wechseln zu können. Ein unbefristetes Ar-beitsverhältnis kann der Arbeitnehmer jederzeit ordentlich kündigen.22 Ein Vereinswechsel wäre damit sogar noch fle-xibler abzuwickeln als mit einem befristeten Vertrag. Als Trainer müsste T dazu nicht einmal Transferzeiten23 einhal-ten. Ebenso wenig sollte ihn die bei einer Arbeitnehmer- kündigung relativ kurze vierwöchige Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 1 BGB stören. Die Annahme, mit der Kündigung gehe ein Motivations- und Leistungseinbruch des Arbeitneh-mers einher,24 spricht lediglich für ein Arbeitgeberinteresse, nicht jedoch für einen freiwilligen Arbeitnehmerwunsch und ist wohl angesichts der kurzen Kündigungsfrist zu vernach-lässigen.

20 Müller-Glöge, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Aufl. 2020, TzBfG § 14 Rn. 51 ff. 21 BAG NZA 2017, 849 (852 Rn. 30); Müller-Glöge (Fn. 20), TzBfG § 14 Rn. 61. 22 Eufinger, JA 2017, 343 (347); Ittner/Schaich, NJOZ 2019, 497 (501 f.). 23 Vgl. BAG NZA 2018, 703 (852 Rn. 21); Katzer/Frodl, NZA 2015, 657 (660). 24 Katzer/Frodl, NZA 2015, 657 (660).

T hätte in Kenntnis aller Vor- und Nachteile anstelle des unbefristeten Arbeitsverhältnisses nicht das befristete ge-wählt. § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 TzBfG rechtfertigt die Befris-tung nicht. b) Eigenart der Arbeitsleistung Ein Sachgrund könnte sich aus der Eigenart der Arbeits- leistung ergeben, § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG. Das Gesetz bestimmt die Eigenart der Arbeitsleistung nicht näher. Nach den Gesetzesmaterialien soll Nr. 4 vor allem verfassungs-rechtlichen Besonderheiten der Arbeitsverhältnisse von Rund-funkmitarbeitern und Bühnenkünstlern hinsichtlich der Rund-funk- und Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 1, 3 GG) Rechnung tra- gen.25 Allerdings ergibt sich daraus keine Beschränkung auf derartige verfassungsrechtlich geprägte Arbeitsverhältnisse.26 Die Befristung ist ebenso gerechtfertigt, wenn die Arbeits-leistung insgesamt Besonderheiten mit sich bringt, die auf ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an der befristeten Beschäftigung schließen lassen. Dieses müsste das Interesse des Arbeitnehmers an einem Dauerarbeitsverhältnis und sein Bestandsschutzinteresse überwiegen.27 aa) Abnehmende Leistungsfähigkeit Das TzBfG geht vom Normalfall des unbefristeten Dauer- arbeitsverhältnisses aus, das bis zum Renteneintrittsalter aus- geübt wird. Demnach soll der Arbeitsvertrag eine anhaltende Existenzgrundlage bieten, was eine Befristung verhindern wür- de. Profifußballer können im Gegensatz zu anderen Arbeit-nehmern die von ihnen geforderten Spitzenleistungen nicht bis zum Renteneintritt erbringen, sondern nur bis zu einem bestimmten Alter (etwa bis zum 35. Lebensjahr). Aus diesem Grund überwiegt hier das berechtigte Interesse der Vertrags-parteien Profifußballerverträge zu befristen.28 Für einen Fuß-balltrainer greift diese Argumentation nicht. Seine Tätigkeit verlangt keine besonderen körperlichen Spitzenleistungen, sodass er ihr theoretisch bis ins hohe Alter nachgehen kann.29 bb) Einbindung in Verbandstransfersystem Ebenso spielt eine Einbindung in ein Verbandstransfersystem30 für Trainer keine Rolle: Für sie bestehen im Fußball anders als für die Spieler keine Vorgaben, wann sie den Verein wechseln können.

Tatsächlich schafft die im Profifußball geübte Befristungs-praxis für jeden Spieler und Trainer nach Vertragsende an-derswo wieder freie Stellen.31 Allerdings würde diese Be-gründung Befristungen in allen Arbeitsverträgen rechtferti-

25 BT-Drs. 14/4374, S. 19. 26 BAG NZA 2018, 703 (704 Rn. 15). 27 BAG NZA 2018, 229 (232 Rn. 30 ff.); NZA 2018, 703. 28 BAG NZA 2018, 703 (704 Rn. 18); Boemke, JuS 2019, 73 f. 29 Bsp. bei Ittner/Schaich, NJOZ 2019, 497 (500). 30 BAG NZA 2018, 703 (705 Rn. 21); Koch, RdA 2019, 54 (59 f.). 31 BAG NZA 2018, 703 (705 Rn. 21).

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gen.32 Die sich ergebenden Wechselmöglichkeiten begründen noch kein Interesse, an der Befristungspraxis festzuhalten: Wie alle anderen Arbeitnehmer können Spieler und Trainer ihre Arbeitgeber mittels Kündigungen und Aufhebungs- verträgen wechseln, ohne danach zwangsweise mangels neu-er Beschäftigungsmöglichkeiten vereinslos ohne Vertrag dazu-stehen. Die Befristung lässt sich damit nicht rechtfertigen. cc) Abwechslungsbedürfnis des Publikums Für die Zulässigkeit der Befristung könnte das Abwechslungs-bedürfnis des Publikums sprechen. Angelehnt ist diese Idee an die Befristung von Verträgen mit Schauspielern, deren Unterhaltungswert mit dem einer publikumswirksamen Sport-art verglichen wird.33 Ein vermeintliches Bedürfnis der Zu-schauer nach einem regelmäßigen personellen Wechsel zwin- ge die Vereine dazu, neue Spieler und Trainer zu verpflichten und so ihre sportliche Attraktivität zu erhalten.34 Langfristig gesehen steigern aber vor allem gute Ergebnisse die Beliebt-heit einer Mannschaft bei den Zuschauern. Erst mit schwin-denden Erfolgen werden meist Personalwechsel gefordert.35 Zudem greift im Sport die Kunstfreiheit nicht wie bei Schau-spielern (Art. 5 Abs. 3 S. 1 Var. 1 GG).36 Somit rechtfertigt das Abwechslungsbedürfnis des Publikums die Befristung nicht. dd) Kontinuität und Planbarkeit Der Verein hat vergleichbar wie bei den Spielern37 ein Inte-resse daran, dass der Trainer für eine durch die Befristung vorbestimmte Zeit zur Verfügung steht, ohne dass er durch eine ordentliche Kündigung innerhalb von vier Wochen (§ 622 Abs. 1 BGB) seine Beschäftigung beenden könnte. Der Er-folg der Mannschaft hängt oft mit einem kontinuierlichen Spiel- und Trainingskonzept zusammen. Zu viele Trainer-wechsel innerhalb einer Saison stehen dem Erfolg entgegen. Nach jedem Wechsel dauert es eine gewisse Zeit, bis sich die Mannschaft neu einspielt. Allerdings lassen sich so auch für viele andere Arbeitsverhältnisse Befristungen rechtfertigen, was das Dauerarbeitsverhältnis als Regelfall ohne Not ge-fährden würde. Das Risiko der Arbeitnehmerkündigung trägt naturgemäß der Arbeitgeber. ee) Eigenes wirtschaftliches Befristungsinteresse Spieler haben ein Interesse am sportlichen und dem damit einhergehenden wirtschaftlichen Erfolg des Vereins. Der Er- folg basiert nach dem BAG38 in gewisser Weise darauf, dass der Trainer die Spieler frei einsetzen kann. Dies setzt voraus, schwächere Spieler beizeiten austauschen zu können. Das gleiche gilt für den Trainer: Spielt die Mannschaft schlecht,

32 Boemke, JuS 2019, 73 (73 Fn. 5). 33 LAG Nürnberg SpuRt 2010, 33; Müller-Glöge (Fn. 20), TzBfG § 14 Rn. 47. 34 LAG Nürnberg SpuRt 2010, 33 (34). 35 ArbG Mainz NZA 2015, 684 (687). 36 Vgl. Katzer/Frodl, NZA 2015, 657 (659 f.). 37 BAG NZA 2018, 703 (705 Rn. 20). 38 BAG NZA 2018, 703 (705 Rn. 20).

ist gegebenenfalls ein Wechsel des Trainers erforderlich. Ein- zelne Spieler profitieren deshalb davon, wenn andere leicht austauschbar sind. Im Unterschied dazu hat der Trainer je-doch auf sich bezogen kein entsprechendes Interesse: Als Trainer besetzt er seine Position alleine. Lediglich der Verein hat ein Interesse an der Befristung. Die Argumentation des BAG lässt sich wiederum nicht auf den Trainer übertragen. ff) Motivationsverschleiß Nach dem BAG39 kann die Befristung eines Sporttrainer- vertrages durch einen „Verschleißtatbestand“ gerechtfertigt sein. Dazu müsste im Laufe der Zeit die Fähigkeit des Trai-ners, die Sportler zu motivieren, schwinden. Dann wäre es gerade die Eigenart der Arbeitsleistung als Trainer, dass diese nach einer bestimmten Zeit nicht mehr gleich effektiv erbracht werden kann. Weil der Trainer seine Leistung nach wie vor unvermindert erbringt, sei eine ordentliche Kündigung nicht möglich, obwohl der sportliche Erfolg oft entscheidend vom Motivationsvermögen des Trainers abhängt.40 Zur Rechtferti-gung müsste die Befristung der Verschleißgefahr wirksam vorbeugen. Liegt die typische Verweildauer der Spieler in der Mannschaft unter der Befristungszeit des Trainers, ist dies ausgeschlossen.41 Dann rücken regelmäßig neue Sportler nach, die sich noch nicht an die Trainingsmethoden gewöhnt haben und sich wieder leichter zu Spitzenleistungen motivieren lassen. Tatsächlich liegt die Verweildauer der Spieler, die aus den Jugendmannschaften in die U21 kommen ebenso wie die Befristung bei nur zwei Jahren. Demnach beugt die Befris-tung des Vertrages nicht dem Motivationsverschleiß vor und ist nicht gerechtfertigt.

Die Berechtigung des Verschleißtatbestandes als Befris-tungsgrund für Trainerverträge kann also dahinstehen. Im Übrigen ist der Verschleißtatbestand rein spekulativ.42 Im Zeitpunkt des Vertragsschlusses muss der Befristungsgrund vorhersehbar feststehen, was mit dem Verschleiß meist nicht der Fall ist. Die bloße Vermutung, die Motivationskraft schwinde irgendwann, genügt nicht.43 Durchaus lassen sich Trainer finden, die eine Mannschaft langfristig erfolgreich führen44 – ebenso aber genügend Beispiele, denen dies nicht gelang. Eine sichere Vorhersage ist nicht möglich. Die Be-fristung beugt dem Verschleiß damit nicht zwingend vor.45 Der Verschleißtatbestand als Sachgrund ist deshalb zumindest zweifelhaft.

39 BAG NZA 1999, 646; BAG NZA 2000, 102; Boemke/ Jäger, RdA 2017, 20 (22); Fischinger, NZA 2020, 218 f. m.w.N. auch zur Befristung von Spielerverträgen und Sport-direktorenverträgen. 40 BAG SpuRt 1996, 21 (23). 41 BAG NZA 2000, 102. 42 Im Detail Bruns, NZA 2008, 1269 (1273); Dieterich, NZA 2000, 857; Ittner/Schaich, NJOZ 2019, 497. 43 Ittner/Schaich, NJOZ 2019, 497 (500). 44 Vgl. Ittner/Schaich, NJOZ 2019, 497 (500). 45 Bruns, NZA 2008, 1269 (1273).

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gg) Zwischenergebnis Die Befristung ist nicht durch die Eigenart der Arbeitsleistung nach § 14 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 TzBfG gerechtfertigt. c) Ungeschriebener Sachgrund: Üblichkeit der Befristungen Der Katalog des § 14 Abs. 1 S. 2 TzBfG ist nicht abschlie-ßend („insbesondere“). Die Befristung könnte auch aus unge-schriebenen Sachgründen zulässig sein, wenn diese mit den Wertungen der Regelbeispiele in § 14 Abs. 1 S. 2 TzBfG gleichlaufen.46 Als solcher kommt die Üblichkeit der Befris-tungen im Profifußball in Betracht.47 Wenn die Befristung nach dem Gesetzgeberwillen nicht der Regelfall sein soll, so kann die Branchenüblichkeit sie jedoch nicht als ungeschrie-bener Sachgrund rechtfertigen. Die Üblichkeit müsste viel-mehr selbst auf einem eigenständigen Sachgrund beruhen. Würde ihr über eine Indizwirkung48 hinaus Bedeutung bei-gemessen, könnten große Arbeitgeber oder ein Arbeitgeber-verband eine arbeitsgerichtliche Kontrolle der Befristung ver- hindern, indem sie breitflächige Änderungen einführen.49 Die tatsächliche Handhabe kann nicht entgegen der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung als Gewohnheitsrecht zugleich ihre Rechtmäßigkeit begründen.50 Im Ergebnis ist die Branchen-üblichkeit kein ungeschriebener Sachgrund. d) Zwischenergebnis Die Befristung ist nicht durch einen Sachgrund gerechtfertigt. 5. Zwischenergebnis Die Befristung ist unzulässig. IV. Ergebnis Die Befristung des Vertrags ist unwirksam. Nach § 16 S. 1 TzBfG gilt der Vertrag als auf Dauer geschlossen und ist damit fortzusetzen.

46 BT-Drs. 14/4374, S. 18. 47 Vgl. noch BAG SpuRt 1996, 21 (23). 48 BAG NZA 1999, 646 (648). 49 Dieterich, NZA 2000, 857 (859). 50 ArbG Mainz NZA 2015, 684 (686 f.); Bruns, NZA 2008, 1269 (1274); Ittner/Schaich, NJOZ 2019, 497 (502); Walker, NZA 2016, 657 (659).

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Examensklausur: Staatshaftungsrecht – Folgenreiche Ermittlungsmaßnahmen* Von Prof. Dr. Matthias Friehe, Ref. iur. Aurelia Philine Birne, Wiesbaden** Im Vordergrund dieser Klausur, die zwei BGH-Urteile auf-greift, stehen typische Anspruchsgrundlagen des Staatshaf-tungsrechts. Thematischer Schwerpunkte sind Amtspflichtver-letzungen bei Ermittlungsmaßnahmen sowie damit im Zu-sammenhang stehende Ansprüche aus enteignungsgleichem bzw. enteignendem Eingriff. Dabei geht es insbesondere um die haftungsrechtlichen Folgen rechtswidriger, aber vertret-barer Ermittlungsmaßnahmen. Sachverhalt Teil 1 Nachdem die Klickzahlen seiner „Königsberger Online Pres-se“ immer weiter zurückgegangen sind, sucht der freie Jour-nalist L nach einem neuen Projekt für seine berufliche Betäti-gung. Ab Januar 2019 gibt er das Magazin „Zeitungszeugen“ als neues Printmedium heraus. L geht es dabei darum, mit authentischen Materialien über die Zeit des Nationalsozialis-mus zu informieren. Das neue Magazin besteht aus einem vierseitigen Zeitungsmantel, der kurze historische Abhand-lungen zu verschiedenen Ereignissen aus der NS-Zeit enthält und sich mit der NS-Propaganda aus dieser Zeit auseinander-setzt. In den Zeitungsmantel legt L Faksimileausgaben ein-zelner dazu passender Zeitungsausgaben aus der NS-Zeit und gelegentlich Nachdrucke großformatiger NS-Propaganda-Pla- kate bei. Der Vertrieb erfolgt über die Lars Laber Medien UG (LM-UG), welche die Magazine herstellt und bis zur Veräu-ßerung an die Abnehmer deren Eigentümerin ist.

Aufgrund einer Strafanzeige wird die Staatsanwaltschaft Wiesbaden auf das Magazin aufmerksam und leitet gegen L ein Ermittlungsverfahren wegen Verwendung von Kennzei-chen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB) und Verstößen gegen das Urheberrecht (§§ 106, 109 UrhG) ein. Am 23.1.2019 erlässt das Amtsgericht Wiesbaden einen Be- schlagnahmebeschluss für die Ausgabe 02/2019, die als Bei-lage den „Völkischen Beobachter“ vom 1.3.1933 und das NS-Propagandaplakat „Der Reichstag in Flammen“ enthielt. Auf dem Völkischen Beobachter und dem NS-Propaganda-

* Der erste Teil des Falls ist angelehnt an eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.12.2016 (BGH, Urt. v. 15.12. 2016 – III ZR 387/14; BGHZ 213, 200). Der zweite Teil des Falls ist angelehnt an eine Entscheidung des Bundesgerichts-hofs vom 14.3.2013 (BGH, Urt. v. 14.03.2013 – III ZR 253/12; BGHZ 197, 43). ** Der Autor Friehe hat eine Qualifikationsprofessur für Staats- und Verwaltungsrecht an der EBS Law School in Wiesbaden inne. Die Autorin Birne war dort Wiss. Mitarbei-terin im Examinatorium und ist inzwischen Wiss. Mitarbeite-rin an der Philipps-Universität Marburg, Lehrstuhl Prof. Dr. Sebastian Omlor, LL.M. (NYU), LL.M. Eur. Die Klausur wurde im Juli 2020 im Examensklausurenkurs der EBS Law School gestellt. Im Durchschnitt wurden dabei 6,7 Punkte erreicht; die Prädikatsquote lag bei 13 %, die Nichtbestehens- quote bei 6 %.

plakat waren jeweils Hakenkreuze abgebildet. Die Ausgabe wird komplett beschlagnahmt.

Auf die Beschwerde von L hebt das Landgericht Wies- baden im April 2019 den Beschlagnahmebeschluss des Amts- gerichts wieder auf. Das Landgericht verneint einen erforder-lichen Anfangsverdacht für ein strafbares Verhalten des L. Das Urheberrecht an Zeitung und Propagandaplakat, die kei- nen konkreten Urheber erkennen ließen, sei 70 Jahre nach dem Erscheinen abgelaufen (§ 66 UrhG). Die Verwendung der Hakenkreuze sei jedenfalls nach § 86 Abs. 3 StGB nicht tatbestandsmäßig.

In der Folge werden die Ermittlungen gegen L nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Durch die Beschlagnahme der Ausgabe 02/2019 ist der LM UG ein Schaden in Höhe von 28.744,97 € entstanden. Frage 1 Hat die LM-UG gegen das Land Hessen einen Anspruch auf Ersatz des ihr entstandenen Schadens? Teil 2 L hat seine alte Studentenwohnung in Marburg an G vermie-tet. Am 2.5.2019 stürmt ein Sondereinsatzkommando der Po- lizei morgens um 5:00 Uhr die Wohnung und bricht dafür über das Terrassenfenster in die Wohnung ein. Dabei entsteht ein Sachschaden in Höhe von 802 €. Grundlage der Durchsu-chung war ein Durchsuchungsbeschluss des zuständigen Er- mittlungsrichters im Zuge des gegen G geführten Strafverfah-rens wegen Verstößen gegen das BtMG.

Bereits im Dezember 2018 hatte sich ein Nachbar per E-Mail bei L darüber beschwert, dass es aus der Wohnung „auffällig „nach Gras“ rieche. L hatte sich darum nicht weiter gekümmert. Tatsächlich wird bei G eine Hanfplantage gefun-den. Frage 2 Hat L gegen das Land Hessen einen Anspruch auf Ersatz des an der Wohnung entstandenen Sachschadens? Frage 3 Vor welchem Gericht sind die Ansprüche jeweils geltend zu machen? Die örtliche Zuständigkeit ist nicht zu erörtern. Bearbeitervermerk Es ist davon auszugehen, dass

1. sich L durch die Verbreitung des Magazins Zeitungs-zeugen nicht strafbar gemacht hat,

2. die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme von Druck-schriften allein davon abhängt, ob ein Anfangsverdacht für eine Straftat vorliegt – einzelne StPO-Normen sind insoweit nicht zu prüfen,

3. weder L noch der LM-UG Ansprüche nach dem StrEG zustehen,

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4. die Durchsuchung in der Marburger Wohnung – auch im Hinblick auf die Art ihrer Durchführung – rechtmäßig erfolgte und

5. die im Sachverhalt genannten Schadensbeträge – so-weit Ansprüche bestehen – hinsichtlich aller in Betracht kom- menden Anspruchsgrundlagen in vollem Umfang erstattungs-fähig sind. Lösungsvorschlag zu Frage 1: Ersatzansprüche der LM-UG gegen das Land Hessen wegen der beschlagnahmten Presseartikel I. Anspruch aus Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG) Die LM-UG könnte gegen das Land Hessen einen Schadens-ersatzanspruch aus Amtshaftung gem. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG haben. Voraussetzung ist die Verlet-zung einer drittgerichteten Amtspflicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes.1 1. Handeln in Ausübung eines öffentlichen Amtes Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden müsste in Ausübung eines ihr anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt haben. Ur-sprünglich bezog sich § 839 Abs. 1 BGB nur auf Beamte im statusrechtlichen Sinne. Durch Art. 34 GG wird der Anwen-dungsbereich des Amtshaftungsanspruchs allerdings auf alle Personen ausgeweitet, denen ein öffentliches Amt anvertraut wurde (Beamter im haftungsrechtlichen Sinn).2 Es kommt für einen Anspruch aus Amtshaftung mithin nicht darauf an, ob die handelnde Person Beamter im statusrechtlichen Sinne ist, sondern allein darauf, dass öffentlich-rechtlich gehandelt wurde.3

Ob ein Handeln in Ausübung des öffentlichen Amtes vor-lag, lässt sich in drei gedanklichen Stufen zusammenfassen4: Stets wird in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt, wenn die Handlung in öffentlich-rechtlicher Rechtsform er- folgt. Bei tatsächlichem Handeln ist auf die Zurechnung zum öffentlich-rechtlichen Aufgabenbereich abzustellen und zu fragen, ob die schädigende Handlung in einem äußeren und inneren Zusammenhang zur öffentlich-rechtlichen Aufgaben-erfüllung steht.5

Die Staatsanwaltschaft hat in Ausübung ihres Amtes als Ermittlungsbehörde in einem Ermittlungsverfahren Presse- artikel beschlagnahmt. Dieses Handeln ist schon seiner Form nach öffentlich-rechtlich und erfolgt damit in Ausübung eines öffentlichen Amtes.

1 Ausführlich zum Amtshaftungsanspruch in: Ossenbühl/Cor- nils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 7 ff.; Voßkuhle/ Kaiser, JuS 2015, 1076 ff. 2 Papier/Shirvani, in: Säcker u.a., Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 7, 8. Aufl. 2020, § 839 Rn. 182. 3 Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2020, Rn. 1056. 4 Vgl. hierzu das Prüfschema in Ossenbühl/Cornils (Fn. 1), S. 44. 5 BGHZ 200, 253 (260 Rn. 31); m.w.N. st. Rspr.

2. Verletzung einer drittgerichteten Amtspflicht Die Staatsanwaltschaft müsste zudem die ihr einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt haben. Entschei-dend ist also keine Pflichtverletzung im Außenverhältnis zwi- schen Staat und Bürger. Vielmehr bestehen Amtspflichten im Innenverhältnis zwischen dem Amtsträger und seinem Dienst-herrn.6 Die Amtspflichtverletzung muss allerdings drittbezo-gen sein. Sie muss zumindest auch den Schutz des Dritten (also des Bürgers) bezwecken. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Amtspflichtverletzung mit einer Verletzung subjek-tiver öffentlicher Rechte eines Dritten einhergeht. Grundsätz-lich besteht die allgemeine Amtspflicht, formell und materiell rechtmäßig zu handeln.7 a) Amtspflichtverletzungen bei staatsanwaltschaftlichen Ermittlungshandlungen Zu prüfen ist insoweit, unter welchen Voraussetzungen eine Amtspflichtverletzung bei staatsanwaltschaftlichen Ermitt-lungshandlungen angenommen werden kann. Denn auch hier gilt die allgemeine Amtspflicht, gesetzmäßig und im Ein-klang mit dem objektiven Recht zu handeln.

Nach einer Ansicht kommt es jedoch für die Annahme ei-ner Amtspflichtverletzung bei staatsanwaltschaftlichen Hand-lungen mit Beurteilungsspielraum (z.B. die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nach § 152 Abs. 2 StPO oder eine Durchsuchungs- bzw. Beschlagnahmeanordnung) nur auf die Vertretbarkeit der Maßnahme an.8 Danach sollen nicht bereits rechtswidrige, sondern nur unvertretbare Maßnahmen amts-pflichtwidrig sein. Überprüft wird somit lediglich, ob die vor- genommene Handlung vertretbar war.9 Unvertretbar ist jede Handlung bzw. Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die unter voller Würdigung einer funktionstüchtigen Strafrechts-pflege nicht verständlich ist.10 Dies folgt aus dem der Staats-anwaltschaft zustehenden weiten Beurteilungsspielraum.

Gegen diese Ansicht spricht, dass danach der Bürger rechtswidrige Ermittlungsmaßnahmen entschädigungslos hin- nehmen muss, solange sich die Maßnahme nicht als un- vertretbar herausstellt. Damit wird eine zusätzliche Haftungs-privilegierung der öffentlichen Hand geschaffen, für die es im Gesetz keine unmittelbare Stütze gibt. Im Gegenteil könnte aus dem Umkehrschluss zum Richterspruchprivileg des § 839 Abs. 2 S.1 BGB gerade gefolgert werden, dass außerhalb von dessen Anwendungsbereich weitere Haftungsbeschränkung für Justizhandeln gesetzeswidrig sind.11

Die besseren Argumente sprechen indes für die zuerst ge-nannte Ansicht. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungsmaßnah- men sind typischerweise von Beurteilungs- und Prognose-spielräumen geprägt. Das gilt insbesondere für die Bejahung eines Anfangsverdachts als Grundlage von Ermittlungs- maßnahmen. Zwar ist die Staatsanwaltschaft zu einer Rechts- 6 Detterbeck (Fn. 3), Rn. 1065. 7 Papier/Shirvani (Fn. 2), § 839 Rn. 246 ff. 8 BGHZ 213, 200 (205 f. Rn. 14). 9 BGHZ 213, 200 (205 f. Rn. 14); 138, 247 (252); vgl. für den Zivilrichter BGHZ 187, 286 (292 Rn. 14). 10 BGHZ 213, 200 (205 Rn. 14). 11 Vgl. Ziehm, NJW 2017, 1276 (1277).

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Examensklausur: Folgenreiche Ermittlungsmaßnahmen ÖFFENTLICHES RECHT

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prüfung verpflichtet, gerade um Staatshaftung zu vermeiden.12 Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass insbesondere in einem frühen Stadium der Ermittlung eine Eilbedürftigkeit bestehen kann. Bei komplexen Rechtsfragen ist eine umfas-sende Rechtsprüfung dann oft erst im Nachhinein möglich. Grundlage für einen Anfangsverdacht kann dann bereits eine vorläufige Einschätzung der Rechtslage sein.13 Bestünde diesbezüglich bei bloß „einfachen“ Fehleinschätzungen der Staatsanwaltschaft ein Amtshaftungsrisiko, könnte dies die Ermittlungsbehörden zu einer „übervorsichtigen“ Vorgehens- weise veranlassen. Damit würde die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege beeinträchtigt.14

Entscheidend ist damit nicht, dass der von der Staatsan-waltschaft angenommene Anfangsverdacht vom Landgericht verneint wurde. Es kommt lediglich darauf an, ob die Ent-scheidung der Staatsanwaltschaft zur Beschlagnahme vertret-bar war.15 b) Vertretbarkeit der Beschlagnahme Fraglich ist mithin, ob die Beschlagnahme der Presseartikel durch die Staatsanwaltschaft vertretbar war. Grundvorausset-zung für die Beschlagnahme ist ein Anfangsverdacht für eine Straftat.16 Obwohl hier nach den späteren Feststellungen des Landgerichts kein Anfangsverdacht bestand, müsste dieser wenigstens vertretbar von der Staatsanwaltschaft angenom-men worden sein. Ein Anfangsverdacht meint zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine Straftat begangen wurde.17 Grundvoraussetzung dafür ist stets, dass das Verhal-ten, dessen die Person verdächtigt wird, überhaupt strafbar ist.18

Bei der Prüfung des Anfangsverdachts waren hier weni-ger tatsächliche Umstände als vielmehr deren rechtliche Be-wertung problematisch. Denn der Inhalt des Magazins war der Staatsanwaltschaft bei der Beschlagnahme bekannt; es kam auf dessen rechtliche Bewertung an. Angesichts der Ver- breitung großformatiger NS-Propagandaplakate lagen Straf- taten nach den §§ 86, 86a StGB zunächst nahe. Erst eine vertiefte Rechtsprüfung unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls ergab, dass die Verbreitung des Hefts nach § 86a Abs. 3 StGB i.V.m § 86 Abs. 3 StGB straflos war. Die Frage eines Urheberrechtsverstoßes bedurfte ebenfalls vertiefter Prüfung. Demnach war die Annahme eines Anfangsverdachts Ende Januar 2019, unabhängig davon, dass er tatsächlich nicht bestand, vertretbar. 12 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt (Hrsg.), Strafprozess-ordnung, Kommentar, 63. Aufl. 2020, § 152 Rn. 4c. 13 Vgl. BGHZ 213, 200 (206 f. Rn. 15). 14 Vgl. BGHZ 213, 200 (205 f. Rn. 14). 15 Überblick zur Amtshaftung des Staatsanwalts bei Brocke, in: Knauer/Kudlich/Schneider (Hrsg.), Münchener Kommen-tar zur Strafprozessordnung, Bd. 3/2, 2018, GVG Vorb. § 141 Rn. 15 ff. 16 Ausführlich hierzu: Huber, JuS 2014, 215 f. 17 Peters, in: Knauer/Kudlich/Schneider (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 2, 2016, § 152 Rn. 34. 18 Schmitt (Fn. 12), § 152 Rn. 4c.

Hinweis: Wer der Gegenauffassung folgt und nicht auf die Vertretbarkeit, sondern auf die Rechtmäßigkeit der Er-mittlungsmaßnahme abstellt, muss diese Fragen im Rah-men des Verschuldens diskutieren und den Maßstab für die Fahrlässigkeit entsprechend anpassen. Der BGH be-tont aber ausdrücklich, dass die Vertretbarkeit der Ermitt-lungsmaßnahme bereits die Amtspflichtverletzung aus-schließe.19

3. Ergebnis zum Amtshaftungsanspruch Die LM-UG hat gegen das Land Hessen keinen Schadens- ersatzanspruch aus Amtshaftung gem. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG. II. Polizeirechtliche Ersatzansprüche Für rechtswidriges polizeiliches Handeln sowie für die recht- mäßige Inanspruchnahme als Nichtverantwortlicher bestehen spezielle polizeirechtliche Ersatzansprüche nach § 64 Abs. 1 S. 1 und 2 HSOG. Diese sind einschlägig, soweit der einge-tretene Schaden auf einer Maßnahme beruht, die ihre Rechts-grundlage im Gefahrenabwehrrecht hat.20 Diese speziell nor-mierten Ansprüche sind damit nur anwendbar, wenn die Behörden präventiv zum Zwecke der Gefahrenabwehr tätig geworden sind.21 Hier erfolgte eine Beschlagnahme im Zuge des Ermittlungsverfahrens zum Zwecke der Beweissicherung und nicht als gefahrenabwehrrechtliche Sicherstellung nach § 40 HSOG.22 Es handelt sich um repressives polizeiliches Handeln. Damit sind Ansprüche aus § 64 Abs. 1 und 2 HSOG unanwendbar.

19 BGHZ 213, 200 (207 Rn. 17). 20 Stein, in: Möstl/Bäuerle (Hrsg.), Beck’scher Online-Kom- mentar zum Polizei- und Ordnungsrecht Hessen, 18. Ed., Stand: 1.7.2020, § 64 HSOG Rn. 28. 21 Detterbeck (Fn. 3), Rn. 1294. 22 Bei der Sicherstellung ist die Abgrenzung von präventivem und repressivem polizeilichen Handeln besonders schwierig, weil es dafür sowohl in den Landespolizeigesetzen (in Hes-sen: § 40 HSOG) als auch in § 94 StPO eine Ermächtigungs-grundlage gibt. Es muss auf die Intention des handelnden Be- amten abgestellt werden: Ging es darum, Beweise im Ermitt-lungsverfahren sicherzustellen, oder sollte eine polizeiliche Gefahr bekämpft werden? In der Praxis wird die Sicherstel-lung schriftlich dokumentiert und in den entsprechenden Formularen kann angekreuzt werden, ob die Sicherstellung nach StPO oder nach Landespolizeigesetz erfolgt. In der Klausur muss der Sachverhalt entsprechende Hinweise ent-halten. Geht es um eine im Ermittlungsverfahren angeordnete Sicherstellung, kann grundsätzlich von einer repressiven Maßnahme ausgegangen werden. Umstritten ist, unter wel-chen Voraussetzungen ein Wechsel möglich ist und ursprüng-lich im Ermittlungsverfahren einbehaltene Beweisstücke z.B. bei Wegfall eines Anfangsverdachts aus Gründen der Gefah-renabwehr weiter sichergestellt werden dürfen.

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III. Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff Die LM-UG könnte jedoch gegen das Land Hessen einen Ersatzanspruch aus enteignungsgleichem Eingriff haben. 1. Anspruchsgrundlage des enteignungsgleichen Eingriffs Der Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff setzt einen rechtswidrigen hoheitlichen Eingriff in das Eigentum voraus.23 Dem Geschädigten soll bei rechtswidrigen Eingriffen in das Eigentum ein verschuldensunabhängiger Entschädigungs- anspruch zustehen. Eine ausdrückliche allgemeine gesetz- liche Grundlage hierfür gibt es jedoch nicht. Die frühere Auf- fassung des BGH, wonach der Anspruch aus Art. 14 Abs. 3 GG analog abzuleiten sei, ist seit dem Nassauskiesungs-Beschluss des BVerfG überholt. Betroffene rechtswidriger Eigentumseingriffe dürfen nicht „Dulden und liquidieren“, sondern müssen sich gegen den Eingriff auf Primärebene wehren.24

Der BGH hält jedoch in ständiger Rechtsprechung am enteignungsgleichen Eingriff als ungeschriebenem Haftungs-institut des öffentlichen Rechts fest.25 Abgeleitet wird der Anspruch nicht mehr aus Art. 14 Abs. 3 GG analog, sondern aus dem Rechtsgedanken der §§ 74, 75 Einl PrALR. Es han-delt sich um einen speziellen Aufopferungsanspruch, der Defizite der Haftung für Staatsunrecht ausgleichen soll. Er besteht bei rechtswidrigen Eigentumseingriffen, bei denen der Betroffene Primärrechtsschutz nicht rechtzeitig erlangen konnte.26 2. Anspruchsvoraussetzungen Der Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff setzt voraus, dass auf eine als Eigentum im Sinne des Art. 14 GG ge-schützte Rechtsposition durch eine rechtswidrige hoheitliche Maßnahme unmittelbar eingewirkt wurde. a) Öffentlich-rechtliches Handeln In Wahrnehmung ihrer Ermittlungstätigkeit handelte die Staatsanwaltschaft öffentlich-rechtlich. b) Eigentumseingriff Die Staatsanwaltschaft müsste durch die Beschlagnahme der Presseerzeugnisse in das Eigentum der LM-UG eingegriffen haben. Eigentum im Sinne von Art. 14 GG ist jedes vermö-genswerte Recht jedenfalls des Privatrechts. Unstreitig kein Eigentum im Sinne von Art. 14 GG sind bloße Gewinn- und Erwerbschancen.27 Ein Eingriff in eine Eigentumsposition kann grundsätzlich jeder rechtswidrige Rechts- oder Realakt der öffentlichen Gewalt sein, der unmittelbar die geschützten Rechtspositionen des Art. 14 GG beeinträchtigt. Dazu zählen 23 Detterbeck (Fn. 3), Rn. 1133. 24 Vgl. hierzu BVerfGE 58, 300 (324). 25 Grundlegend BGHZ 90, 17. 26 Ausführlich zur Entwicklung des enteignungsgleichen Ein- griffs: Ossenbühl/Cornils (Fn. 1), S. 259 ff. 27 Zum verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff: Papier/Shir- vani, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, 83. Lfg., Stand: April 2018, Art. 14 Rn. 160.

auch Beeinträchtigungen der Verwendungs- oder Nutzungs-möglichkeit.28 Die Magazine stehen im Sacheigentum der LM-UG und wurden durch die Beschlagnahme der Staats- anwaltschaft öffentlich-rechtlich verstrickt, wodurch der LM-UG für die Zeit der Beschlagnahme jede Verfügungsmöglich- keit über ihr Eigentum genommen wurde. Mit der Beschlag-nahme wurde somit durch einen hoheitlichen Akt in das Ei-gentum der LM-UG im Sinne des Art. 14 GG eingegriffen. Ein Eigentumseingriff liegt vor. c) Unmittelbarkeit Zudem müsste das hoheitliche Handeln unmittelbar die Be-einträchtigung des Eigentums herbeigeführt haben. Dafür müssten die Auswirkungen auf das Eigentum auf den im öffentlich-rechtlichen Handeln angelegten typischen Gefah-ren für das Eigentum beruhen und keine nur zufälligen Be-gleiterscheinungen sein.29 Im vorliegenden Fall ist die Eigen-tumseinwirkung in Form der Wegnahme jedweder Verfü-gungsbefugnis über die Magazine unmittelbare Folge der Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft. d) Rechtswidrigkeit des Eingriffs Die Beschlagnahme der Presseerzeugnisse durch die Staats-anwaltschaft müsste zudem rechtswidrig gewesen sein. Frag-lich ist jedoch, ob für die Maßnahme der Staatsanwaltschaft eine volle Rechtsprüfung erfolgt oder wie beim Amtshaftungs-anspruch eine Vertretbarkeitsprüfung genügt.

Nach einer Ansicht unterscheiden sich die Prüfungs- maßstäbe dergestalt, dass beim enteignungsgleichen Eingriff, anders als beim Amtshaftungsanspruch, nicht bloß auf die Vertretbarkeit, sondern auf die Richtigkeit der Ermittlungs-maßnahme abzustellen ist.30 Hierfür spricht, dass der enteig-nungsgleiche Eingriff als verschuldensunabhängiger Ersatz-anspruch gerade an objektive Kriterien anknüpft. Die Prüfung der Vertretbarkeit einer – im Ergebnis rechtsirrigen – Maß-nahme ähnelt demgegenüber einer Verschuldensprüfung.31 Nach dieser Ansicht wäre eine volle Rechtsprüfung der Maß-nahme der Staatsanwaltschaft durchzuführen; mangels An-fangsverdachts wäre die Beschlagnahme somit rechtswidrig.

Nach der Gegenauffassung ist der für den Amtshaftungs-anspruch entwickelte Grundsatz, dass es für die Amtspflicht-verletzung nur auf die Vertretbarkeit der Maßnahme an-kommt, auch auf die Prüfung von Ansprüchen aus enteig-nungsgleichem Eingriff übertragbar. Wird die Maßnahme der Staatsanwaltschaft innerhalb der Prüfung des Amtshaftungs-anspruchs als vertretbar erachtet, soll auch die Rechtswidrig-keit des Eingriffs als Voraussetzung einer Haftung aus ent-eignungsgleichem Eingriff zu verneinen sein.32 Für diese Auffassung sprechen die gleichen Gründe, die auch für die Beschränkung der Amtspflichtverletzung auf unvertretbare 28 Detterbeck (Fn. 3), Rn. 1113. 29 Vgl. BGHZ 92, 34 (41 f.). 30 OLG München AfP 2015, 151 (157) = BeckRS 2015, 7484 (Rn. 225) – Vorinstanz zu BGHZ 213, 200. 31 So abl. gegenüber gegenteiligen BGH-Auffassung Ziehm, NJW 2017, 1276 (1278). 32 BGHZ 213, 200 (209 f. Rn. 21).

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Ermittlungsmaßnahmen streiten. Die Haftungsbeschränkung im Rahmen des Amtshaftungsanspruchs würde weitgehend obsolet, wenn der Geschädigte über den Anspruch auf ent-eignungsgleichen Eingriff letztlich doch Ersatz erhielte.

Deswegen ist auch beim Anspruch aus enteignungs- gleichem Eingriff lediglich eine Vertretbarkeitsprüfung vor-zunehmen. Die Vertretbarkeit wurde bereits bejaht, sodass es hier an der Rechtswidrigkeit des Eingriffs fehlt. 3. Ergebnis zum enteignungsgleichen Eingriff Damit hat die LM-UG gegen das Land Hessen keinen Ersatz-anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff. IV. Anspruch aus enteignendem Eingriff Die LM-UG könnte jedoch gegen das Land Hessen einen Ersatzanspruch aus enteignendem Eingriff haben. 1. Rechtsgrundlage Der Anspruch aus enteignendem Eingriff soll eine Entschädi-gung bei rechtmäßigen hoheitlichen Eigentumseingriffen ge- währen. Der enteignende Eingriff ist für rechtmäßige Eigen-tumseingriffe einschlägig, bei denen es sich nicht um eine Enteignung handelt und die deswegen nicht auf gesetzlicher Grundlage bereits nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG entschädi-gungspflichtig sind.33 Typischerweise geht es um die Ent-schädigung für unvorhergesehene Nebenfolgen hoheitlichen Handelns (Zufallsschäden). Wie auch beim enteignungsglei-chen Eingriff fehlt es hier an einer ausdrücklichen gesetzli-chen Grundlage, weshalb ebenfalls auf den Aufopferungs- gedanke der §§ 74, 75 Einl PrALR in seiner richterrechtli-chen Ausprägung abgestellt wird.34 2. Anspruchsvoraussetzungen Der Anspruch aus enteignendem Eingriff setzt voraus, dass auf eine als Eigentum im Sinne des Art. 14 GG geschützte Rechtsposition durch eine rechtmäßige hoheitliche Maßnah-me unmittelbar eingewirkt wurde und der Eingriff und seine Folgen ein Sonderopfer für den Eigentümer mit sich bringt. a) Öffentlich-rechtliches Handeln, Eigentumseingriff und Unmittelbarkeit Die Staatsanwaltschaft handelte im Zuge ihrer Aufgabe als Ermittlungsbehörde und mithin öffentlich-rechtlich. Mit der Beschlagnahme der Presseerzeugnisse der Staatsanwaltschaft wurde durch einen hoheitlichen Akt in das Eigentum der LM-UG im Sinne des Art. 14 GG eingegriffen. Ein Eigentums-eingriff liegt vor. Die Eigentumseinwirkung in Form der Wegnahme jedweder Verfügungsbefugnis über die Magazine ist eine unmittelbare Folge der Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft. Die Unmittelbarkeit zwischen Eingriff und den Eingriffsfolgen ist mithin gegeben. 33 Detterbeck (Fn. 3), Rn. 1161. 34 Detterbeck (Fn. 3), Rn. 1163.

b) Rechtmäßigkeit des Eingriffs Der Eigentumseingriff müsste zudem rechtmäßig sein. Grund-sätzlich wäre nach voller Rechtsprüfung der Maßnahme der Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme als rechtswidrig anzu-sehen, da von Anfang an kein Anfangsverdacht gegen L be- stand. Jedoch gelten die im Zusammenhang mit der Über- prüfung von staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Maß-nahmen im Ermittlungsverfahren entwickelten Grundsätzen zur Vertretbarkeit ebenso für den enteignenden Eingriff. Es findet keine volle Rechtsprüfung statt. Im vorliegenden Fall wurde die Vertretbarkeit der Beschlagnahme der Presse- erzeugnisse angenommen und damit einhergehend entfällt ebenfalls die Rechtswidrigkeit des Eingriffs. Aus diesem Grund ist die Maßnahme vorliegend als rechtmäßig zu be-handeln.35 c) Sonderopfer Beim enteignenden Eingriff ist das Sonderopfer anders als beim Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff nicht bereits durch die Rechtswidrigkeit indiziert. Vielmehr muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entschieden werden, ob der rechtmäßige Eingriff im Rechtsstaat die zu-mutbare Schwelle dessen überschreitet, was vom Einzelnen entschädigungslos hinzunehmen ist. Ein Ersatzanspruch ist gegeben, soweit die Einwirkungen die Sozialbindungsschwelle überschreiten, also im Verhältnis zur betroffenen Person eine besondere „Schwere“ aufweist und im Verhältnis zu anderen nicht betroffenen Personen einen Gleichheitsverstoß be-wirkt.36

Ein solches Sonderopfer ist jedenfalls dann zu verneinen, wenn der Betroffene sich freiwillig in eine gefährliche Situa-tion begeben hat. Das gilt etwa, wenn schuldhaft der An-schein einer polizeilichen Gefahr erweckt wurde. In einem solchen Fall besteht kein Anspruch aus enteignendem Ein-griff.37 Denn der Betroffene ist nicht mehr als unbeteiligter Dritter anzusehen, sondern ist für die Sachlage, die eine Pflicht der Polizei zum Handeln begründet hat, selbst verant-wortlich. Es stellt mithin kein Sonderopfer dar, wenn die Folgen einer polizeilichen Maßnahme der Sphäre des Ge-schädigten zuzuordnen sind. Dies gilt selbst bei erlaubtem Verhalten, sobald ein Konflikt zwischen den privaten und öffentlichen Interessen hervorgerufen wird.

Der gleiche Gedanke gilt auch bei der Strafverfolgung. So kann etwa nach dem StrEG eine Entschädigung ebenfalls ver- wehrt werden, wenn der Beschuldigte die Strafverfolgungs-maßnahmen vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat.38 Im vorliegenden Fall wurde das Eingreifen der Staatsanwalt-schaft durch das Verhalten des L und der von ihm geführten LM-UG verursacht. L hat als Herausgeber über die LM-UG die Zeitschrift „Zeitungszeugen“ veröffentlicht, die mit der Wiedergabe des Hakenkreuzes und Beifügung großformati-ger NS-Propagandaplakate „grenzwertige“ Inhalte enthält.

35 Vgl. BGHZ 213, 200 (211 Rn. 25). 36 BGHZ 197, 43 (47 Rn. 8). 37 BGHZ 213, 200 (211 f. Rn. 25). 38 Vgl. §§ 4, 5 Abs. 3 StrEG oder §§ 6 Abs. 1, 3 StrEG.

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ÜBUNGSFÄLLE Matthias Friehe/Aurelia Birne

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Diese Veröffentlichungen begründen, wie bereits ausgeführt, in vertretbarer Weise die Annahme eines Anfangsverdachts für Straftaten. Das Eingreifen der Staatsanwaltschaft ist mit-hin durch das Verhalten des L veranlasst worden. Die LM-UG ist damit keine unbeteiligte Dritte, in deren Rechtssphäre durch die Beschlagnahme eingegriffen worden ist. Das Sonder- opfer ist deshalb zu verneinen.

Hinweis: Andere Ansicht vertretbar, da sich L rechtmäßig verhalten hat. Es ist deshalb schwer einzusehen, warum er damit grob fahrlässig die Gefahr einer Strafverfolgung herbeigeführt haben soll. Die LM-UG wird für recht- mäßiges Verhalten gewissermaßen „bestraft“.

3. Ergebnis zum enteignenden Eingriff Die LM-UG hat gegen das Land Hessen keinen Ersatz- anspruch aus enteignendem Eingriff. V. Allgemeiner Aufopferungsanpruch Der allgemeine Aufopferungsanspruch kommt zur Anwen-dung, wenn ein unmittelbarer hoheitlicher Eingriff in be-stimmte immaterielle Rechtgüter vorliegt.39 Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch um einen Eingriff in das Eigen-tum. Die Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff und enteignendem Eingriff sind spezielle Ausprägungen des all-gemeinen Aufopferungsanspruchs, sodass letzterer bei Eigen-tumseingriffen nicht anwendbar ist.40 VI. Ergebnis zu Frage 1 Die LM-UG hat keine Ersatzansprüche gegen das Land Hes-sen wegen der beschlagnahmten Presseartikel. Lösungsvorschlag zu Frage 2: Hat L gegen das Land Hessen einen Anspruch auf Ersatz des an der Wohnung entstandenen Sachschadens? I. Ansprüche aus Amtshaftung, polizeirechtlichen An-spruchsgrundlagen und enteignungsgleichem Eingriff Ansprüche aus Amtshaftung und enteignungsgleichem Ein-griff kommen nicht in Betracht, da nach dem Bearbeiterver-merk die Durchsuchung einschließlich der Art ihrer Durch-führung rechtmäßig war. Die Durchsuchung erfolgte hier aufgrund eines Durchsuchungsbeschlusses des Ermittlungs-richters im Zuge des Strafverfahrens. Deswegen liegt eine Ermittlungs- und keine Gefahrenabwehrmaßnahme vor, so-dass § 64 Abs. 1 S. 1 und 2 HSOG unanwendbar sind. II. Anspruch aus enteignendem Eingriff L könnte jedoch einen Anspruch aus enteignendem Eingriff gegen das Land Hessen auf Ersatz des an der Wohnung ent-standenen Sachschadens haben.

39 Hierzu ausführlich in Detterbeck (Fn. 3), Rn. 1181 ff.; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, 54. Lfg., Stand: Januar 2009, Art. 34 Rn. 55 ff. 40 Vgl. Papier/Shirvani (Fn. 2), § 839 Rn. 98.

1. Öffentlich-rechtliches Handeln, Eigentumseingriff und Unmittelbarkeit Die durch die Polizei ausgeführte und richterlich angeordnete Durchsuchung der Wohnung stellt eine hoheitliche Handlung dar. Der Eigentumseingriff liegt in der Beschädigung der Wohnung, bei der es sich um geschütztes Sacheigentum handelt. Diese Beschädigung ist unmittelbar auf die Durch- suchung durch die Polizei zurückzuführen. 2. Rechtmäßigkeit des Eingriffs Nach dem Bearbeitervermerk war die Durchsuchung recht-mäßig. 3. Sonderopfer L müsste ein Sonderopfer erlitten haben. Anders als beim enteignungsgleichen Eingriff ist das Sonderopfer beim ent-eignenden Eingriff nicht schon durch die Rechtswidrigkeit des Eingriffs indiziert. Rechtmäßige Eigentumseingriffe unter-liegen regelmäßig einer Duldungspflicht.41 Ein Entschädi-gungsanspruch aus enteignendem Eingriff besteht aber dann, wenn die Einwirkungen eine besondere Schwere aufweisen. Die Grenze des Zumutbaren muss im Einzelfall überschritten sein. Typischerweise handelt es sich hierbei um atypische und unvorhergesehene Nachteile, was aber keine zwingende Voraussetzung ist. Maßgeblich ist, wo nach dem Urteil aller billig und gerecht denkenden die Opfergrenze liegt, die dem Einzelnen im sozialen Rechtsstaat entschädigungslos zuge-mutet wird.42

Allerdings scheidet ein Sonderopfer aus, wenn sich der Geschädigte zuvor freiwillig in Gefahr begeben hat.43 Die Vermietung einer Wohnung ist grundsätzlich ein sozial adä-quates, ja sozial erwünschtes Verhalten. Im Normalfall wird dadurch die Gefahr strafbaren Verhaltens der Bewohner we- der begünstigt noch gar hervorgerufen.44 Deswegen begrün-det die bloße Vermietung zunächst keine freiwillige Gefahr-übernahme durch den Eigentümer. Vielmehr bleibt der Ver-mieter unbeteiligter Dritter und ist für Schäden, die im Zu-sammenhang mit Ermittlungsmaßnahmen gegen den Mieter entstehen, grundsätzlich zu entschädigen. Daran ändert auch eine geringe Schadenshöhe von hier lediglich 802 € nichts. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB ist nicht analog anwendbar, sodass mögliche Schadensersatzansprüche des L gegen G ein Son-deropfer ebenfalls nicht ausschließen.45

Allerdings kann ein Sonderopfer zu verneinen sein, wenn der Vermieter davon erfährt, dass die Wohnung zur Begehung von Straftaten missbraucht wird, er jedoch nicht von seinem Kündigungsrecht Gebrauch macht.46 Die Nutzung einer Woh- nung für eine illegale Drogenplantage begründet ein außer- ordentliches und fristloses Kündigungsrecht gem. § 543 BGB. Im vorliegenden Fall hätte der L auf den eindeutigen Hinweis

41 Vgl. Ossenbühl/Cornils (Fn. 1), S. 347 f. 42 BGHZ 197, 43 (46 f. Rn. 7 f.). 43 BGHZ 197, 43 (48 Rn. 11); 213, 200 (211 f. Rn. 25). 44 BGHZ 197, 43 (49 Rn. 12). 45 BGHZ 197, 43 (50 Rn. 15, 16). 46 BGHZ 197, 43 (49 Rn. 13).

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des Nachbarn jedenfalls weitere Nachforschungen anstellen müssen, was er unterlassen und sich damit selbst und frei- willig in Gefahr begeben hat. Damit ist das Sonderopfer zu verneinen.

Hinweis: Andere Ansicht vertretbar; im Originalfall wur-de zur weiteren Beweisaufnahme zurückverwiesen.

III. Ergebnis zu Frage 2 L hat gegen das Land Hessen keine Ersatzansprüche wegen der Durchsuchung seiner Marburger Wohnung. Lösungsvorschlag zu Frage 3: Vor welchem Gericht sind die Ansprüche jeweils geltend zu machen? Die örtliche Zuständigkeit ist nicht zu erörtern. Amtshaftungsansprüche sind nach Art. 34 S. 3 GG, § 40 Abs. 2 S. 1 Var. 3 VwGO vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen, und zwar streitwertunabhängig vor den Landgerichten (§ 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG).47

Für die Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff sind ebenfalls die ordentlichen Gerichte zuständig (§ 40 Abs. 2 S. 1 Var. 3 VwGO).48 Für Ansprüche aus enteignendem Ein-griff ist die Rechtswegzuständigkeit umstritten.49 Während der BGH an der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte fest- hält, geht das BVerwG davon aus, dass der enteignungs- gleiche Eingriff als Ausgleichsanspruch im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG gemäß § 40 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 VwGO zur Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte gehört.50 Die Fra- ge kann hier offenbleiben, weil sich die Zuständigkeit des Landgerichts, über den Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff mitzuentscheiden, jedenfalls aus § 17 Abs. 2 GVG ergibt.

47 Detterbeck (Fn. 3), Rn. 1098. 48 Detterbeck (Fn. 3), Rn. 1160. 49 Vgl. Reimer, in: Beck’scher Online-Kommentar zur VwGO, 54. Ed., Stand: 1.4.2020, § 40 Rn. 172.1 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rspr. 50 Vgl. BVerwGE 94, 1 (2 ff.), wobei die Entscheidung zu einer landesrechtlichen Spezialvorschrift ergangen ist.

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Fortgeschrittenenhausarbeit: Parteimitglieder im Schützenverein* Von Wiss. Mitarbeiter Thomas Kemper, Ref. jur. Leon Heuschen, Trier** Die Hausarbeit befasst sich im ersten Teil mit dem Widerruf einer waffenrechtlichen Erlaubnis wegen der Mitgliedschaft des Waffenträgers in einer verfassungsfeindlichen Partei. An der Schnittstelle zwischen besonderem Gefahrenabwehrrecht und Parteienprivileg gem. Art. 21 Abs. 2 GG war insbeson-dere umstritten, ob eine Person auch dann als unzuverlässig einzustufen ist, wenn das BVerfG die Partei zwar für verfas-sungsfeindlich, jedoch nicht für verfassungswidrig erklärt hat. Hier ist u.a. zu diskutieren, ob die vom Gesetzgeber mit Wirkung zum 20.2.2020 geschaffene Neufassung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG mehr Rechtssicherheit geschaffen hat. Der zweite Teil befasst sich mit Problemen der Vollstreckung einer waffenrechtlichen Sicherstellungsanordnung. Sachverhalt P ist passionierter Sportschütze. Um seinem Hobby nach- gehen zu können, schaffte er sich im Jahre 2008 ein Repetier- gewehr an, dessen Besitz erlaubnispflichtig im Sinne des Waffengesetzes (WaffG) ist. Die zuständige Ordnungsbehör-de erteilte P antragsgemäß eine Waffenbesitzkarte, in der das Repetiergewehr eingetragen ist. Im März 2020 trat er der N-Partei bei. Diese sympathisiert offen mit dem historischen Nationalsozialismus, leugnet den Holocaust und hat sich zum Ziel gesetzt, einen autoritär geführten Einparteienstaat zu etablieren. Das BVerfG hat die N-Partei für verfassungs-feindlich erklärt, jedoch nicht ihre Verfassungswidrigkeit festgestellt.1

Wenig später teilte die zuständige Ordnungsbehörde P in einem Schreiben mit, dass seine waffenrechtliche Erlaubnis aufgehoben werde. Zur Begründung führte sie aus, Voraus-setzung für die Erteilung einer Waffenbesitzkarte sei die Zu- verlässigkeit des Waffenträgers. Hieran haben bereits wegen seiner Mitgliedschaft in der N-Partei hinreichende Zweifel bestanden. P ist empört. Die bloße Mitgliedschaft in der N-Partei ohne konkreten Nachweis einer verfassungsfeindlichen Gesinnung des P könne doch nicht ausreichen, um seine waffenrechtliche Unzuverlässigkeit zu begründen. Zudem ha- be die Ordnungsbehörde – was zutrifft – keinerlei Verstöße des P gegen das Waffenrecht festgestellt. Im Übrigen stelle es eine nicht zu rechtfertigende Beschränkung der Betätigungs-freiheit der N-Partei dar, P allein wegen seiner Mitgliedschaft in dieser Vereinigung die waffenrechtliche Erlaubnis zu ent-ziehen.

* Der erste Teil ist angelehnt an BVerwG, Urt. v. 19.6.2019 – 6 C 9.18. Die Hausarbeit wurde in leicht abgewandelter Form von Prof. Dr. Henning Tappe im Sommersemester 2020 an der Universität Trier zur Bearbeitung gestellt. ** Thomas Kemper ist Wiss. Mitarbeiter am Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier, Leon Heuschen war Wiss. Hilfskraft am selben Institut. 1 BVerfG NJW 2017, 611 ff.

Abwandlung Am 22.5.2020, nach vorheriger Anhörung, erhielt P ein wei-teres Schreiben der zuständigen Ordnungsbehörde. In dem mit ordnungsgemäßer Begründung versehenen Bescheid wird P verpflichtet, das in der Waffenbesitzkarte eingetragene Re- petiergewehr innerhalb einer Frist von drei Wochen dauerhaft unbrauchbar zu machen oder einem Berechtigten zu überlas-sen (Ziff. 1). Zudem wurde die Anordnung aus Ziff. 1 für sofort vollziehbar erklärt (Ziff. 2). In Ziff. 3 des Bescheids drohte die Behörde schließlich an, die Waffen sicherzustel-len, wenn P der Anordnung aus Ziff. 1 nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkomme. P reagierte in keiner Weise auf das Schreiben. Am 18.6.2020 entschloss sich die Behörde daher, die Anordnung vom 22.5.2020 zu vollstrecken. An der Wohnung des P angekommen, zeigten die Beamten der Ord-nungsbehörde dem verärgerten und protestierenden P eine ordnungsgemäße, vom zuständigen Verwaltungsgericht aus-gestellte Durchsuchungsanordnung zur Sicherstellung des Repetiergewehrs vor. Weil sich P dennoch beharrlich weiger-te, den Beamten das gesuchte Gewehr herauszugeben, drück-ten sie ihn schließlich gewaltsam von seiner Haustüre weg und begannen die Durchsuchung. Schnell entdeckten die Be- amten einen ordnungsgemäß gesicherten Waffenschrank, bra- chen diesen auf und fanden dort die gesuchte Schusswaffe des P vor. Die Beamten nahmen daraufhin das Repetier- gewehr an sich und verließen die Wohnung.

Nach erfolgter Anhörung erhielt P einige Tage später ei-nen Kostenbescheid mit der Verpflichtung, für die Sicher- stellung der Waffen einen Betrag in Höhe von 500 € zu zah-len. Damit ist P nicht einverstanden: Die Behörde habe schon wegen seines Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Woh-nung keinerlei Recht gehabt, ohne seine Einwilligung eine Wohnungsdurchsuchung vorzunehmen. Daher sei es nicht nachzuvollziehen, warum er nun die Kosten für die Sicher-stellung seines Gewehrs zu tragen habe. Bearbeitungsvermerk Prüfen Sie gutachterlich die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der waffenrechtlichen Erlaubnis sowie die Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids. Gehen Sie davon aus, dass der Kosten-bescheid rechnerisch zutreffend war. Lösungsvorschlag zu Teil 1: Aufhebung der Waffenrecht-lichen Erlaubnis Zu prüfen ist, ob die Aufhebung der waffenrechtlichen Er-laubnis formell und materiell rechtmäßig ist. I. Ermächtigungsgrundlage Zunächst stützt die Ordnungsbehörde die Aufhebung der waffenrechtlichen Erlaubnis auf Tatsachen, die erst nach Er- teilung der Waffenbesitzkarte im Jahre 2008 eingetreten sind. Mithin geht es nicht um die Rücknahme, sondern um den Widerruf einer waffenrechtlichen Erlaubnis. Ermächtigungs-

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grundlage ist daher § 45 Abs. 2 S. 1 WaffG, der insoweit lex specialis zu § 49 VwVfG ist.2 II. Formelle Rechtsmäßigkeit Anhaltspunkte, die gegen die formelle Rechtmäßigkeit der Aufhebung der waffenrechtlichen Erlaubnis sprechen, sind nicht ersichtlich. III. Materielle Rechtmäßigkeit Fraglich ist jedoch, ob der Widerruf der waffenrechtlichen Erlaubnis materiell rechtmäßig ist. 1. Anwendungsbereich des WaffG, Vorliegen einer waffen-rechtlichen Erlaubnis Zunächst handelt es sich bei dem Repetiergewehr des P um eine Schusswaffe, die gem. § 1 Abs. 2 Nr. 1 WaffG in den Anwendungsbereich des WaffG fällt. Zudem ist der Besitz des Repetiergewehrs ausweislich des Sachverhalts erlaubnis-pflichtig. Eine solche Erlaubnis hat die zuständige Ordnungs-behörde hier im Jahre 2008 in Form einer Waffenbesitzkarte erteilt.3 2. Tatbestandliche Voraussetzungen der Ermächtigungsgrund-lage Gem. § 45 Abs. 2 S. 1 WaffG ist eine waffenrechtliche Er-laubnis zu widerrufen, wenn nachträglich Tatsachen ein- treten, die zur Versagung hätten führen müssen. Die Voraus-setzungen für die Erteilung einer waffenrechtlichen Erlaubnis ergeben sich aus § 4 Abs. 1 WaffG. Gem. § 4 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 WaffG setzt eine waffenrechtliche Erlaubnis u.a. vo-raus, dass der Antragsteller die erforderliche Zuverlässigkeit besitzt. Diese Anforderung erfüllen nach der Wertung des Gesetzgebers nur solche Personen, „die nach ihrem Verhalten Vertrauen darin verdienen, dass sie mit der Waffe jederzeit und in jeder Hinsicht ordnungsgemäß umgehen.“4 Bei dem Begriff der Zuverlässigkeit handelt es sich, mangels einer gesetzlichen Definition im WaffG, um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung und Auslegung durch die jeweilige Behörde der uneingeschränkten gerichtlichen Über-prüfbarkeit unterliegt. Ein sog. Beurteilungsspielraum besteht nicht.5 Eine Konkretisierung des Zuverlässigkeitsbegriffs fin- det sich jedoch in § 5 WaffG, der persönliche Eigenschaften des Antragstellers umschreibt, die einer Erteilung der waffen-rechtlichen Erlaubnis entgegenstehen.6

2 Gade, Kommentar zum Waffengesetz, 2. Aufl. 2018, § 45 Rn. 4. 3 Vgl. § 10 Abs. 1 S. 1 WaffG i.V.m. Anlage 1 zum WaffG, Abschnitt 2, Ziff. 1 und 2. 4 BT-Drs. 14/7758, S. 54; BVerwG, Urt. v. 13.12.1994 – 1 C 31.92 = NVwZ-RR 1995, 525 (525); Spitzlei/Hautkappe, DÖV 2018, 973 (974). 5 Heinrich, in: Steindorf, Kommentar zum Waffenrecht, 10. Aufl. 2015, § 5 Rn. 3; Spitzlei/Hautkappe, DÖV 2018, 973 (974). 6 Vgl. Waldhoff, JuS 2019, 1230 (1231) und Eifert, JuS 2004, 565 (567).

Für den vorliegenden Fall könnten die Unzuverlässigkeits- tatbestände des § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b und Nr. 3 lit. b WaffG n.F. erfüllt sein, die sich beide mit der Mitgliedschaft des Waffenträgers in Parteien und Vereinigungen befassen. a) § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b WaffG Eine waffenrechtliche Unzuverlässigkeit ist gem. § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b WaffG in der Regel anzunehmen, wenn die an-tragstellende Person Mitglied in einer Partei ist, deren Ver-fassungswidrigkeit das BVerfG nach § 46 BVerfGG fest- gestellt hat. Im vorliegenden Fall ist P Mitglied der N-Partei, die das BVerfG für verfassungsfeindlich, jedoch nicht für verfassungswidrig erklärt hat. Folglich ist eine waffenrechtli-che Regelunzuverlässigkeit des P gem. § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b WaffG zu verneinen. b) § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. Jedoch könnte sich eine Unzuverlässigkeit des P aus § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. ergeben. Dies ist der Fall, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Waffenträger in den letzten fünf Jahren Mitglied in einer Vereinigung war, die Bestrebungen verfolgt, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind, § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. i.V.m. § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. a, sublit. aa WaffG n.F. aa) Anwendbarkeit des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. Zunächst ist zu prüfen, ob die Vorschrift des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. für den vorliegenden Fall zur Anwendung kommen kann. Im Lichte der bis zum 19.2.2020 geltenden Rechtslage gingen einige Stimmen in Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass § 5 Abs. 2 Nr. 2 WaffG a.F. alle Sachverhaltskonstellationen abschließend erfasse, in denen es um eine Unzuverlässigkeit des Waffenträgers wegen vereins- oder parteiverbundener Tätigkeiten gehe.7 Allein für solche Fälle, in denen der Waffenträger in einer sonstigen verfas-sungsfeindlichen Vereinigung engagiert ist, sei auf den Tat-bestand des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG a.F. zurückzugreifen.8 Dies wurde u.a. damit begründet, dass sowohl Vereine als auch Parteien eine verfassungsrechtlich herausgehobene Posi- tion innehaben. Aus diesem Grund knüpfe der Tatbestand des § 5 Abs. 2 Nr. 2 WaffG die Unzuverlässigkeit des Waffen- trägers an die Voraussetzung, dass die Partei oder der Verein wegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen verboten worden sei. Ein solches Verbotserfordernis bestehe im Tatbestand des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. a WaffG a.F. (wie auch im neuen § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG) hingegen nicht. Der Vorschrift des § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b WaffG verbliebe also kein nennens- werter Anwendungsbereich mehr, wenn parteiverbundene

7 VGH München, Urt. v. 26.5.2008 – 21 BV 07.586, Rn. 22 (juris); VG Dresden GewArch 2016, 430 (430); Beaucamp, DÖV 2018, 709 (710). 8 Beaucamp, DÖV 2018, 709 (710).

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Aktivitäten des Waffenträgers gleichzeitig auch durch § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. a WaffG a.F. erfasst wären.9

Die wohl herrschende Meinung lehnte ein Spezialitäts-verhältnis zwischen beiden Normen hingegen ab. Dies wurde u.a. mit der systematischen Erwägung begründet, dass § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. a WaffG a.F. nicht lediglich das organisations-bezogene Merkmal der Mitgliedschaft, sondern darüber hin-aus ein dem Waffenträger zurechenbares aktives Verfolgen oder Unterstützen der verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Vereinigung vorausgesetzt habe.10 Eine außenwirksame Unterstützungshandlung bestand u.a. in der Wahrnehmung einer leitenden Funktion oder die (auch erfolglose) Teilnah-me an Wahlen als Bewerber für die verfassungsfeindliche Partei.11

Ein solches tätigkeitsbezogenes Element ist für Mitglieder einer verfassungsfeindlichen Vereinigung mit der zum 20.2. 2020 in Kraft getretenen Neufassung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG jedoch entfallen. Gem. § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. begründet nunmehr bereits die bloße Mitgliedschaft in einer Vereinigung, die verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, eine waffenrechtliche Regelunzuverlässigkeit. Nur für solche Sachverhaltskonstellationen, in denen der Waffen-träger einzeln handelt oder als Nichtmitglied die verfassungs-feindliche Vereinigung von außen unterstützt, fordern die Tatbestände des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. a und c WaffG n.F. noch ein aktives Tätigwerden. Insofern ist die Frage einer mögli-chen parallelen Anwendbarkeit zwischen § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b und Nr. 3 lit. b WaffG n.F. neu zu beurteilen.

Systematische und teleologische Erwägungen sprechen jedoch weiterhin gegen eine Spezialität von § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b WaffG n.F. gegenüber § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F.: Zum einen setzt § 5 Abs. 2 Nr. 2 WaffG eine Wohl- verhaltensphase von zehn Jahren voraus, während § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG n.F., wie bereits § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG a.F., hingegen einen Zeitraum von nur fünf Jahren abdeckt.12 Inso-fern geht der Gesetzgeber weiterhin von unterschiedlich lan- gen Zeiträumen aus, in denen der Waffenträger seine Zu- verlässigkeit wieder „zurückerlangen“ kann. In der Gesetzes-begründung zu § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. heißt es weiterhin, der veränderte Tatbestand solle auch gerade solche Parteien erfassen, die vom BVerfG als verfassungsfeindlich, jedoch nicht für verfassungswidrig i.S.d. Art. 21 Abs. 2 GG erklärt worden seien.13 Bereits eine Mitgliedschaft habe typi-scherweise zur Folge, „dass diese Person nachhaltig die ver-fassungsfeindlichen Ziele der Vereinigung teilt, also die Ab-lehnung der Grundsätze der Verfassungsordnung zum Aus-

9 VGH München, Urt. v. 26.5.2008 – 21 BV 07.586, Rn. 22 (juris); VG Dresden GewArch 2016, 430 (430); Beaucamp, DÖV 2018, 709 (710). 10 BVerwG, Urt. v. 19.6.2019 – 6 C 9.18, Rn. 14 f. (juris); BVerwG, Urt. v. 30.9.2009 – 6 C 29/08, Rn. 14–17; Heinrich (Fn. 5), § 5 Rn. 20; Gade (Fn. 2), § 5 Rn. 29; Spitzlei/Haut- kappe, DÖV 2018, 973 (978); Dau/Mein, JuS 2016, 430 (433). 11 BVerwG, Urt. v. 10.6.2019 – 6 C 9.18, Rn. 29 f. (juris). 12 So bereits BVerwG, Urt. v. 20.9.2009 – 6 C 29/08, Rn. 15 (juris); Spitzlei/Hautkappe, DÖV 2018, 973 (978). 13 BT-Drs. 19/15875, S. 36.

druck bringt.“14 Mehr noch als eine Unterstützungshandlung von außen begründe daher die Mitgliedschaft in einer verfas-sungsfeindlichen Vereinigung hinreichende Zweifel, dass der Waffenträger in der Lage ist, verantwortungsvoll mit Waffen umzugehen.15

Sinn und Zweck der Neufassung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG ist es daher, Schutzlücken zu schließen, die sich bis-her aus dem Umstand ergeben haben, dass die verfassungs-feindliche Partei nicht im Verfahren gem. § 46 BVerfGG ver- boten worden ist (und damit § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b WaffG nicht greift), die zuständige Ordnungsbehörde eine aktive Tä- tigkeit des Waffenträgers in der verfassungsfeindlichen Ver-einigung im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. a WaffG a.F. je-doch nicht nachweisen konnte.16 Es entspricht daher dem Willen des Gesetzgebers, die Tatbestände des § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b WaffG und der § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. parallel zur Anwendung kommen zu lassen, um die „Risiken des Waffenbesitzes auf ein Mindestmaß zu beschränken“17, also Gefahren für Leib und Leben der Allgemeinheit soweit wie möglich zu verringern. Folglich ist § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. für Fälle der Mitgliedschaft in einer verfassungs-feindlichen Partei neben § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b WaffG an-wendbar. bb) Auslegung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. im Lichte des Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG Der Unzuverlässigkeitstatbestand des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. könnte aber im Lichte des Grundsatzes der Betä-tigungsfreiheit der Parteien gem. Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG einschränkend auszulegen sein mit der Konsequenz, dass der Tatbestand für Mitglieder einer als verfassungsfeindlich ein-gestuften Partei nicht zur Anwendung kommen darf. Der Grundsatz der Betätigungsfreiheit der Parteien gilt nicht nur zugunsten der Partei selbst, sondern im Sinne eines Individual-rechts auch für deren Mitglieder.18 Waffenrechtliche Erlaub-nisse sind jedoch für eine Parteimitgliedschaft oder ein partei-politisches Engagement ohne Belang, sodass jedenfalls kein zielgerichteter Eingriff in das Individualrecht der parteilichen Betätigungsfreiheit gem. Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG vorliegt.19

Dennoch ist nicht auszuschließen, dass Waffenträger von einem weiteren parteipolitischen Engagement absehen, wenn zu befürchten ist, dass ihnen die waffenrechtliche Erlaubnis allein aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer Partei entzogen

14 BT-Drs. 19/15875, S. 36. 15 BT-Drs. 19/15875, S. 36. 16 BT-Drs. 19/15875, S. 36. 17 So bereits BVerwG, Urt. v. 19.6.2019 – 6 C 9.18, Rn. 16 (juris) und BVerwG, Urt. v. 28.1.2015 – 6 C 1.14, Rn. 8 (juris). 18 BVerwG, Urt. v. 19.6.2019 – 6 C 9.18, Rn. 17 (juris); Ipsen, in: Sachs, GG-Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 31; Morlok, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 21 Rn. 52 m.w.N. 19 BVerwG, Urt. v. 19.6.2019 – 6 C 9.18, Rn. 18 (juris); OVG Bautzen, Urt. v. 16.3.2018 – 3 A 556/17, Rn. 39 (juris); Spitzlei/Hautkappe, DÖV 2018, 973 (978).

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wird.20 Insofern ist von einem mittelbaren bzw. faktischen Eingriff in Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG auszugehen. Daher ist der Grundsatz der Betätigungsfreiheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG für den vorliegenden Fall mit der kollidieren-den Schutzverpflichtung des Staates aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abzuwägen. Letztere erfordert, dass der Gesetzgeber hin- reichende Maßnahmen ergreift, um mögliche Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung, die von unzuverlässigen Waffenbesitzern ausgehen können, abzuwenden.21 Dabei steht diesem ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum zu.22 Nach den oben dargestellten Wertungen des WaffG begründet schon die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeind-lichen Vereinigung im Regelfall hinreichende Zweifel, dass der Waffenträger künftig ordnungsgemäß mit der Waffe um- gehen wird. Anhaltspunkte dafür, dass diese Erwägungen des Gesetzgebers nicht sachgerecht sein könnten, sind nicht er-sichtlich; im Gegenteil wird das hohe Gefahrenpotenzial, das vom Umgang mit Waffen ausgehen kann, mit dieser Maß-nahme in angemessener Weise berücksichtigt. Eine ein-schränkende Auslegung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. im Lichte des Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG ist daher nicht geboten. cc) Zwischenergebnis Es bleibt festzuhalten, dass § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. für den vorliegenden Fall neben § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b WaffG zur Anwendung kommt. Eine einschränkende Auslegung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG im Lichte des Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG kommt nicht in Betracht. dd) Unzuverlässigkeit des P im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG Zu prüfen ist daher, ob P unzuverlässig im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG ist. Maßgeblich für die Unzuverläs-sigkeit des Waffenträgers ist eine Prognoseentscheidung für die Zukunft.23 Nach den zuvor dargestellten Wertungen des Gesetzgebers begründet die – wenn auch kurzzeitige – Mit-gliedschaft des P in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG hinreichende Zweifel dafür, dass dieser künftig mit seinen Waffen verant-wortungsvoll umgehen wird.

Während § 5 Abs. 1 WaffG absolute Unzuverlässigkeits-gründe festlegt, normiert § 5 Abs. 2 WaffG nur eine Regel-vermutung, die der Waffenträger durch Geltendmachung atypischer Umstände entkräften kann.24 Der beanstandungs-freie Waffenbesitz, wie von P geltend gemacht, ist jedoch bei jedem Waffenbesitzer vorauszusetzen; es handelt sich damit zwar um eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraus-setzung, um die Regelvermutung zu widerlegen.25

20 BVerwG, Urt. v. 19.6.2019 – 6 C 9.18, Rn. 18 (juris). 21 BVerwG, Urt. v. 19.6.2019 – 6 C 9.18, Rn. 19 (juris). 22 BVerwG, Urt. v. 19.6.2019 – 6 C 9.18, Rn. 19 (juris). 23 Vgl. Eifert, JuS 2004, 565 (570). 24 Spitzlei/Hautkappe, DÖV 2018, 973 (974); Eifert, JuS 2004, 565 (567). 25 VGH Kassel, Urt. v. 12.10.2017 – 4 A 626/17, Rn. 49 (juris).

Somit ist eine Unzuverlässigkeit des P gem. § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. b WaffG n.F. anzunehmen. IV. Ergebnis zu Teil 1 Folglich ist der Widerruf der waffenrechtlichen Erlaubnis rechtmäßig erfolgt. Lösungsvorschlag zu Teil 2: Vollstreckung einer waffen-rechtlichen Sicherstellungsanordnung Weiterhin ist zu prüfen, ob der Kostenbescheid formell und materiell rechtmäßig ist. I. Ermächtigungsgrundlage Als belastende Regelung muss sich der Kostenbescheid auf eine Rechtsgrundlage stützen lassen. Ermächtigungsgrund- lage könnte vorliegend sowohl § 83 S. 1 RhPfLVwVG26 als auch § 25 Abs. 3 S. 1 RhPfPOG27 sein. Während § 25 Abs. 3 S. 1 RhPfPOG die Kosten für eine Sicherstellung nach § 22 RhPfPOG28 betrifft, regelt § 83 S. 1 RhPfLVwVG die Kosten der Verwaltungsvollstreckung. Maßgeblich für die Bestim-mung der Ermächtigungsgrundlage für den Erlass des Kosten-bescheids ist daher die Frage, ob die dem Kostenbescheid zugrundeliegenden Maßnahmen – also die Wegnahme des Repetiergewehrs und die Wohnungsdurchsuchung – als poli-zeiliche Standardmaßnahmen oder als Handlungen im Rah-men der Verwaltungsvollstreckung i.S.d. §§ 61 ff. RhPf- LVwVG29 zu qualifizieren sind.

Bei der Sicherstellung i.S.d. § 22 RhPfPOG handelt es sich um ein Verlangen der Ordnungsbehörde an den Störer,

26 Vgl. § 31 Abs. 1 BaWüVwVG; Art. 41 Abs. 1 S. 1 Bay- VwZVG; § 8 Abs. 1 BeVwVfG i.V.m. § 19 Abs. 1 S. 1 BVwVG; § 37 Abs. 1 S. 1 BbgVwVG; § 39 Abs. 1 S. 1 HmbVwVG; § 80 Abs. 1 HessVwVG; § 110 VwVfG M-V i.V.m. §§ 79–100 SOG M-V i.V.m. § 114 SOG M-V; § 73 Abs. 1 NdsVwVG; § 77 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW; § 77 Abs. 1 SVwVG; § 4 Abs. 1 S. 2 SächsVwVG; § 74a Abs. 1 VwVG LSA; § 322 SchlHLVwG i.V.m. § 249 Abs. 1 S. 1 SchlHLVwG; § 56 S. 1 ThürVwZVG. 27 § 23 Abs. 4 BaWüPolG; Art. 28 Abs. 5 S. 1 BayPAG; § 41 Abs. 3 S. 1 BeASOG; § 28 Abs. 3 S. 1 BbgPolG; § 26 Abs. 3 S. 1 BremPolG; § 14 Abs. 3 S. 3 HmbSOG; § 43 Abs. 3 S. 1 HSOG; § 61 Abs. 4 SOG M-V; § 29 Abs. 3 S. 1 NdsSOG; § 46 Abs. 3 S. 1 NRWPolG; § 24 Abs. 3 S. 1 SPolG; § 28 Abs. 4 S. 1 SächsPolG (Kosten der Einziehung); § 48 Abs. 3 S. 1 SOG LSA; § 249 SchlHLVwG i.V.m. § 227a SchlHL-VwG; § 30 Abs. 3 S. 1 ThürPAG. 28 § 33 BaWüPOG (Beschlagnahme); Art. 25 BayPAG; § 38 BeASOG; § 25 BbgPolG; § 23 BremPolG; § 14 HmbSOG; § 40 HSOG; § 61 SOG M-V; § 26 NdsSOG; § 43 NRWPolG; § 21 SPolG; § 27 SächsPolG (Beschlagnahme); § 45 SOG LSA; § 210 SchlHLVwG; § 30 Abs. 3 S. 1 ThürPAG. 29 Vgl. dazu die jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften zur Vollstreckung von Verwaltungsakten, die auf ein Handeln, Dulden oder Unterlassen gerichtet sind.

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ÜBUNGSFÄLLE Thomas Kemper/Leon Heuschen

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eine Sache in amtliche Verwahrung zu geben.30 Im vorlie-genden Fall gab P das Repetiergewehr nicht freiwillig heraus, sondern weigerte sich beharrlich, der Anordnung der Ord-nungsbehörde Folge zu leisten. Die Beamten drückten ihn daraufhin gewaltsam von der Haustüre weg und nahmen schließlich das Repetiergewehr an sich. Sie gingen also im Wege des Verwaltungszwangs vor mit dem Ziel, den entge-genstehenden Willen des P zu brechen. Daher handelt es sich im vorliegenden Fall nicht lediglich um ein bloßes Heraus- gabeverlangen, sondern um eine Maßnahme der Verwaltungs-vollstreckung. Wegen des zeitlichen und sachlichen Zusam-menhangs mit dem Widerruf der waffenrechtlichen Erlaubnis liegt es im Übrigen nahe, dass die Beamten keine gegenüber P mündlich ausgesprochene Grundverfügung i.S.d. § 22 RhPfPOG vollstreckt haben, sondern die waffenrechtliche Anordnung zur Unbrauchbarmachung oder Übergabe an eine berechtigte Person vom 22.5.2020.

Zudem ist fraglich, ob auch die Wohnungsdurchsuchung als Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung zu qualifizieren ist. Es könnte sich hier sowohl um eine polizeiliche Standard- maßnahme im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 2 POG31 (Durch- suchung zur Sicherstellung) als auch um eine Durchsuchung im Rahmen der verwaltungsrechtlichen Vollstreckung gem. § 9 Abs. 1 RhPfLVwVG32 handeln. In beiden Fällen kann die Wohnungsdurchsuchung auch ohne die Einwilligung des Pflichtigen auf Grundlage einer richterlichen Anordnung stattfinden. Hingegen bestehen keine hinreichenden Anhalts-punkte für das Vorliegen einer Gefahr im Verzug, die einen solchen Gerichtsbeschluss entbehrlich machen würde. Für die Einordnung als Vollstreckungsmaßnahme im Sinne des § 9 Abs. 1 RhPfLVwVG spricht, dass die Beamten P hier eine Durchsuchungsordnung des Verwaltungsgerichts vorzeigten, vgl. § 9 Abs. 2 S. 2 RhPfLVwVG.33 Für die Durchsuchung

30 Vgl. OVG Münster NVwZ-RR 1991, 556 (557); Ruthig, ZJS 2011, 63 (68). 31 Art. 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BayPAG; § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BeASOG; § 23 Abs. 1 Nr. 2 BbgPolG; § 16 Abs. 2 Nr. 1 HmbSOG; § 38 Abs. 2 Nr. 1 HSOG; § 59 Abs. 3 Nr. 2 SOG M-V (nur Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte); § 24 Abs. 2 Nr. 2 NdsSOG; § 41 Abs. 1 Nr. 2 NRWPolG; § 19 Abs. 1 Nr. 2 SPolG; § 25 Abs. 2 Nr. 3 SächsPolG; § 43 Abs. 2 Nr. 1 SOG LSA; § 208 Abs. 3 Nr. 2 SchlHLVwG; § 21 Abs. 1 Nr. 2 BremPolG; § 25 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 Thü- PAG; § 31 Abs 2 Nr. 2 BaWüPolG. 32 Vgl. § 6 Abs. 1 S. 1 BaWüVwVG; Art. 37 Abs. 3 S. 1 Bay- VwZVG; § 10 Abs. 4 S. 1 BbgVwVG; § 16 Abs. 2 S. 1 BremVwVG; § 23 Abs. 1 HmbVwVG; § 7 Abs. 1 Hess-VwVG; § 110 VwVfG M-V i.V.m. § 59 Abs. 1 SOG M-V; § 70 Abs. 1 NdsVwVG i.V.m. § 24 NdsPOG; § 14 Abs. 1 VwVG NRW; § 5 Abs. 1 S. 1 SVwVG; § 6 Abs. 1 S. 1 SächsVwVG; § 9 Abs. 1 VwVG LSA; § 275 Abs. 1 S. 1 SchlHLVwG; § 24 Abs. 2 S. 1 ThürVwZVG. 33 So auch § 6 Abs. 2 S. 1 BaWüVwVG; § 16 Abs. 3 S. 2 BremVwVG; § 23 Abs. 3 S. 3 HmbVwVG; § 7 Abs. 3 S. 2 HessVwVG; § 110 VwVfG M-V i.V.m. § 59 Abs. 6 S. 3 SOG M-V; Amtsgericht hingegen: § 10 Abs. 4 S. 3 Bbg- VwVG; § 9 Abs. 2 S. 1 NdsVwVG; § 14 Abs. 4 S. 1 VwVG

zur Sicherstellung wäre hingegen ein Beschluss des zuständi-gen Amtsgerichts erforderlich, vgl. § 21 Abs. 1 S. 2 POG.34 Auch der Gesamtzusammenhang der Maßnahme, also der erfolglose Ablauf der in der Anordnung gesetzten Frist zur Unbrauchbarmachung des Repetiergewehrs oder zur Über- gabe der Schusswaffe an einen Berechtigten, spricht dafür, dass die Wohnungsdurchsuchung vollstreckungsrechtlich ge- prägt war. Aus alledem folgt, dass es sich vorliegend um Maß-nahmen der Verwaltungsvollstreckung gehandelt hat. Er-mächtigungsgrundlage für den Erlass des Kostenbescheids ist mithin § 83 S.1 RhPfLVwVG. II. Formelle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids Der Kostenbescheid müsste weiterhin formell rechtmäßig sein. Zuständig für den Erlass von Kostenbescheiden ist die Voll-streckungsbehörde, also diejenige Behörde, die den voll-streckten Grundverwaltungsakt erlassen hat, vgl. §§ 83 S. 1, 4 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 RhPfLVwVG35. Eine Anhörung des P i.S.d. § 1 Abs. 1 RhPfLVwVfG i.V.m. § 28 Abs. 1 BVwVfG ist erfolgt. Im Übrigen handelt es sich bei einem Kosten- bescheid nicht um eine Maßnahme in der Verwaltungsvollstre-ckung, wie vom Tatbestand des § 28 Abs. 2 Nr. 5 BVwVfG vorausgesetzt, sondern um ein Verwaltungshandeln, das der Vollstreckung nachgelagert ist.36 Daher wäre eine Anhörung auch nicht nach § 28 Abs. 2 Nr. 5 BVwVfG entbehrlich ge-wesen.

Weiterhin sind keine Verstöße gegen Formvorschriften ersichtlich. Somit ist der Kostenbescheid formell rechtmäßig. III. Materielle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids Der Kostenbescheid ist materiell rechtmäßig, wenn die kos-tenauslösende Maßnahme rechtmäßig ist,37 dieser den richti-gen Kostenschuldner benennt und rechnerisch zutreffend ist.

NRW; § 5 Abs. 3 S. 2 SVwVG; § 6 Abs. 2 S. 1 SächsVwVG; § 9 Abs. 2 S. 2 VwVG LSA; § 275 Abs. 4 S. 2 SchlHLVwG; § 24 Abs. 2 S. 2 ThürVwZVG. 34 Vgl. § 31 Abs. 5 BaWüPolG; Art. 24 Abs. 1 BayPAG („durch den Richter“); § 37 Abs. 1 S. 2 BeASOG; § 24 Abs. 1 S. 2 BbgPolG; § 22 Abs. 1 S. 2 BremPolG; § 16a Abs. 1 S. 2 HmbSOG; § 39 Abs. 1 S. 2 HessSOG; § 59 Abs. 6 S. 3 SOG M-V; § 25 Abs. 1 S. 2 NdsSOG; § 42 Abs. 1 S. 2 NRWPolG; § 20 Abs. 1 S. 2 SPolG; § 25 Abs. 5 S. 1 SächsPolG; § 44 Abs. 1 S. 2 SOG LSA; § 208 Abs. 5 S. 1 SchlHLVwG; § 26 Abs. 1 S. 2 ThürPAG. 35 § 4 Abs. 1 BaWüVwVG; Art. 20 Nr. 2 BayVwZVG; § 8 Abs. 1 S. 1 BeVwVfG i.V.m. § 7 Abs. 1 BVwVG; § 26 Abs. 1 Hs. 1 BbgVwVG; § 12 Abs. 1 S. 1 BremVwVG; § 4 Hmb- VwVG i.V.m. Abschnitt I Abs. 1 und II Nr. 1 der Anordnung über Vollstreckungsbehörden v. 1.6.1999; § 68 Abs. 1 Hess-VwVG; § 110 VwVfG M-V i.V.m. § 82 SOG M-V; § 6 Abs. 1 NdsNVwVG; § 56 Abs. 1 NRWVwVG; § 14 Abs. 1 SVwVG; § 4 Abs. 1 Nr. 3 SächsVwVG; § 6 Abs. 1 VwVG LSA; § 231 SchlHLVwG; § 43 Abs. 1 ThürVwZVG. 36 Muckel, JA 2012, 355 (360). 37 Muckel, JA 2012, 355 (359).

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1. Rechtmäßigkeit der Wegnahme des Repetiergewehrs Zu prüfen ist zunächst, ob die Wegnahme des Repetier- gewehrs, verbunden mit dem Wegdrücken des P von seiner Haustür, formell und materiell rechtmäßig erfolgt ist. a) Ermächtigungsgrundlage Wie bereits oben festgestellt, handelt es sich vorliegend um eine Maßnahme zur Vollstreckung der am 22.5.2020 erlasse-nen Grundverfügung zur Unbrauchbarmachung des Repetier-gewehrs bzw. der Weitergabe der Waffe an einen Berechtig-ten. Hierbei handelt es sich um eine waffenrechtliche Stan-dardmaßnahme im Sinne des § 46 Abs. 2 S. 1 WaffG.38 Der Widerruf einer waffenrechtlichen Erlaubnis ist als rechts- gestaltender Verwaltungsakt nicht vollstreckungsfähig. Durch den Erlass einer Anordnung gem. § 46 Abs. 2 S. 1 WaffG kann die Behörde dafür sorgen, dass der Widerruf der waf-fenrechtlichen Erlaubnis nicht wirkungslos bleibt:39 Im Falle des fruchtlosen Fristablaufs ist die Behörde auf Grundlage des § 46 Abs. 2 S. 2 WaffG ermächtigt, die Anordnung zu vollstrecken, indem sie die Waffe sicherstellt.40 Hervorzuhe-ben ist hierbei, dass „Sicherstellung“ in diesem Zusammen-hang also gerade keine polizeiliche Standardmaßnahme meint, sondern eine spezialgesetzlich determinierte Form der Ver-waltungsvollstreckung.

Eine Sicherstellung im Sinne des § 46 Abs. 2 S. 2 WaffG erlaubt der Vollstreckungsbehörde auch die Anwendung un- mittelbaren Zwangs.41 Soweit die bundesrechtliche Vorschrift keine Vorgaben macht, kann die Behörde dabei ergänzend auf die landesrechtlichen Vorschriften der Verwaltungsvoll-streckung zurückgreifen.42 Dies ergibt sich schon daraus, dass die Bundesländer das bundesrechtliche WaffG gem. Art. 83 GG als eigene Angelegenheit ausführen und damit gem. Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG auch das Verwaltungsverfahren selbst regeln. Die Sicherstellung der in Ziff. 1 der Verfügung ge-nannten Waffe sowie die Anwendung unmittelbaren Zwangs gegenüber dem Waffenträger zum Zwecke der Sicherstellung richten sich daher nach § 46 Abs. 2 S. 2 WaffG i.V.m. § 65 RhPfLVwVG43.

38 VG Mainz, Beschl. v. 16.9.2019 – 1 O 723/19.MZ, Rn. 5 (juris). 39 Vgl. VG Mainz, Beschl. v. 16.9.2019 – 1 O 723/19.MZ, Rn. 13 (juris); VG Würzburg, Beschl. v. 23.2.2016 – W 5 X 16.206, Rn. 14 (juris). 40 VG Mainz, Beschl. v. 16.9.2019 – 1 O 723/19.MZ, Rn. 5 (juris); VG Neustadt (Weinstraße), Beschl. v. 8.11.2011 – 5 N 992/11.NW, Rn. 10 (juris); VG Freiburg, Beschl. v. 2.6. 2008 – 1 K 590/08, Rn. 2 (juris). 41 VG Mainz, Beschl. v. 16.9.2019 – 1 O 723/19.MZ, Rn. 5 (juris). 42 VG Mainz, Beschl. v. 16.9.2019 – 1 O 723/19.MZ, Rn. 14 (juris); VG Neustadt (Weinstraße), Beschl. v. 8.11.2011 – 5 N 992/11.NW, Rn. 10 (juris). 43 § 26 BaWüVwVG; Art. 34 BayVwVZG; § 8 Abs. 1 Be-VwVfG i.V.m. § 12 BVwVG; § 35 BbgVwVG; § 16 Brem- VwVG; § 15 Abs. 1 HbgVwVG i.V.m. § 18 HbgSOG; § 52 Abs. 1 HessSOG i.V.m. § 63 Abs. 1 HessSOG; § 110 Vw-

b) Formelle Rechtmäßigkeit der Sicherstellung Die Zuständigkeit der Ordnungsbehörde zur Vollstreckung der Anordnung vom 20.5.2020 ergibt sich aus § 4 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 RhPfLVwVG44, wonach die Behörde, die den Verwal-tungsakt erlassen hat, auch für dessen Vollstreckung zustän-dig ist. Zudem ist gem. § 28 Abs. 2 Nr. 5 BVwVfG eine Anhörung entbehrlich, wenn es sich, wie vorliegend, um Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung handelt. Ob es sich beim unmittelbaren Zwang um einen Verwaltungsakt handelt, kann daher im Ergebnis dahinstehen.45 Schließlich ist auch eine Androhung der Sicherstellung und der damit verbundenen Möglichkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs in Ziff. 3 des Bescheids vom 22.5.2020 erfolgt. c) Materielle Rechtmäßigkeit der Sicherstellung aa) Allgemeine Vollstreckungsvoraussetzungen Zunächst müssten die allgemeinen Voraussetzungen der Ver- waltungsvollstreckung gem. §§ 61 ff. RhPfLVwVG vorlie-gen. Dazu müsste die Grundverfügung einen vollstreckungs-fähigen Inhalt haben, wirksam sowie vollstreckbar im Sinne des § 2 RhPfLVwVG46 sein.

Zunächst stellt die Anordnung vom 22.5.2020 auf ein Handeln des P ab, nämlich die in der Waffenbesitzkarte ein-getragenen Waffen unbrauchbar zu machen oder einem Be-rechtigten zu überlassen (Ziff. 1). Sie hat somit einen voll-streckungsfähigen Inhalt im Sinne des § 61 Abs. 1 RhPfL- VwVG47. Weiterhin bestehen im Sachverhalt keine Anhalts-punkte dafür, dass der Verwaltungsakt nichtig gewesen sein

VfG M-V i.V.m. § 90 SOG M-V; § 70 Abs. 1 NdsVwVG i.V.m. § 69 NdsPOG; § 62 NRWVwVG; § 22 SVwVG; § 25 SächsVwVG; § 71 Abs. 1 VwVG LSA i.V.m. § 58 SOG LSA; § 239 SchlHLVwG; § 51 ThürVwZVG. 44 Vgl. Fn. 35. 45 Beim unmittelbaren Zwang handelt es sich nach überwie-gender Auffassung um einen Realakt, vgl. Erichsen/Rauschen- berg, Jura 1998, 31 (40) m.w.N.; Schoch, JuS 1995, 307 (311); W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO-Kommen- tar, 25. Aufl. 2019, Anh. § 42 Rn. 33 m.w.N.; VG Weimar NVwZ-RR 2000, 478 (478); a.A. noch BVerwGE 26, 161 (164). 46 § 2 BaWüLVwVG; Art. 19 BayVwZVG; § 8 Abs. 1 Be-VwVfG i.V.m. § 6 Abs. 1 BVwVG; § 3 BbgVwVG; § 11 Abs. 1 BremVwVG; § 3 Abs. 3 HmbVwVG; § 2 Hess-VwVG; § 110 VwVfG M-V i.V.m. § 80 SOG M-V; § 70 Abs. 1 Nds.VwVG i.V.m. § 64 Abs. 1 NdsPOG; § 55 Abs. 1 NRWVwVG; § 18 Abs. 1 SVwVG; § 2 SächsVwVG; § 3 VwVG LSA; § 229 Abs. 1 SchlHLVwG; § 19 ThürVwZVG. 47 § 18 BaWüLVwVG; Art. 29 Abs. 1 BayVwZVG; § 8 Abs. 1 BeVwVfG i.V.m. § 6 Abs. 1 BVwVG; § 27 Abs. 1 BbgVwVG; § 11 BremVwVG; § 11 Abs. 1 HamVwVG; § 68 Abs. 1 i.V.m. §§ 64 ff. HessVwVG; § 110 VwVfG M-V i.V.m. § 79 Abs. 1 SOG M-V; § 70 Abs. 1 NdsVwVG i.V.m. § 64 Abs. 1 NdsPOG; § 55 Abs. 1 NRWVwVG; § 19 Sächs-VwVG; § 71 Abs. 1 VwVG LSA i.V.m. § 53 SOG LSA; § 13 Abs. 1 SVwVG; § 228 Abs. 1 SchlHLVwG; § 44 Abs. 1 i.V.m. § 43 Abs. 1 ThürVwZVG.

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ÜBUNGSFÄLLE Thomas Kemper/Leon Heuschen

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könnte. Auch rechtswidrige Verwaltungsakte entfalten Rechts- wirkung, vgl. § 43 Abs. 2 BVwVfG, sodass nicht zu prüfen ist, ob die Anordnung auch rechtmäßig war.

Die Anordnung müsste schließlich vollstreckbar sein. Dies ist gem. § 2 RhPfLVwVG48 der Fall, wenn die Anord-nung unanfechtbar ist, der Rechtsbehelf gegen die Anord-nung keine aufschiebende Wirkung hat oder die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet wurde. Im vorliegenden Fall wurde die Anordnung für sofort vollziehbar erklärt (Ziff. 2). Zudem bestehen im Sachverhalt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell oder materiell rechtswidrig gewesen sein könnte. Somit liegen die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen vor. bb) Besondere Vollstreckungsvoraussetzungen Weiterhin müssten auch die besonderen Vollstreckungs- voraussetzungen im Hinblick auf die Anwendung unmittel- baren Zwangs vorgelegen haben. (1) Subsidiarität des unmittelbaren Zwangs, § 65 Abs. 1 RhPf- LVwVG Aus § 65 Abs. 1 RhPfLVwVG49 geht hervor, dass unmittel-barer Zwang erst dann anzuwenden ist, wenn eine Ersatz- vornahme oder die Verhängung eines Zwangsgeldes untun-lich sind. Die Regelung des § 46 Abs. 2 S. 2 WaffG stellt jedoch eine bundesrechtlich determinierte Form des unmittel- baren Zwangs dar50 und schließt daher andere Zwangsmittel (wie eine Ersatzvornahme oder die Androhung von Zwangs-geld) für alle Fälle waffenrechtsspezifischer Vollstreckungs-handlungen aus.51 Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall das Subsidiaritätserfordernis des § 65 Abs. 1 RhPfLVwVG nicht greift. (2) Verhältnismäßigkeit Zudem ist zu prüfen, ob die Sicherstellung durch Anwendung unmittelbaren Zwangs zulasten des P verhältnismäßig gewe-sen ist. Dies setzt voraus, dass der Maßnahme ein legitimer Zweck zugrunde lag und diese geeignet, erforderlich und angemessen war.

Legitimer Zweck der Maßnahme ist, das Repetiergewehr in staatliche Verwahrung zu nehmen, um Gefahren für die Bevölkerung, die vom unzuverlässigen Waffenträger P aus-gehen, abzuwenden. Diese Maßnahme stellt sich auch als geeignet, also als taugliches Mittel zur Zielerreichung dar. Die Maßnahme müsste auch erforderlich gewesen sein. Dies ist der Fall, wenn kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Verfügung stand. Als milderes Mittel kommt hier eine Frist-verlängerung zur Unbrauchbarmachung oder Überlassung der Waffe an einen Berechtigten in Betracht. Vor dem Hinter-grund, dass P sich beharrlich weigerte, das Gewehr an die

48 Vgl. Fn. 46. 49 Vgl. Fn. 43. 50 VG Neustadt (Weinstraße), Beschl. v. 8.11.2011 – 5 N 992/11.NW, Rn. 10 (juris). 51 VG Neustadt (Weinstraße), Beschl. v. 8.11.2011 – 5 N 992/11.NW, Rn. 14 (juris).

Beamten herauszugeben, erscheint eine Verlängerung der Frist jedoch nicht als zielführend. Die Festsetzung eines Zwangsgelds ist wegen der spezialgesetzlichen Regelung des § 46 Abs. 2 S. 2 WaffG ausgeschlossen und stellt daher kein gleich geeignetes Mittel zur Zielerreichung dar. Somit war die Anwendung unmittelbaren Zwangs auch erforderlich.

Schließlich müsste die Vollstreckungshandlung auch an-gemessen gewesen sein. Angemessen ist eine staatliche Maß-nahme, wenn diese nicht außer Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht. Für den vorliegenden Fall ist zwischen der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und der körperlichen Integrität des P aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sowie seinem Eigentumsrecht an dem Repetiergewehr gem. Art. 14 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG abzuwägen. Zunächst ist nicht ersicht-lich, dass die Beamten in erheblicher Weise in Ps Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingegriffen haben. Es hat lediglich ein Wegdrücken von der Haustür stattgefunden; keine Anhaltspunkte im Sachverhalt bestehen hingegen dafür, dass die Vollstreckungsmaßnahme zu etwaigen Verletzungen der körperlichen Integrität des P geführt haben. Angesichts der erheblichen Gefahren, die von Schusswaffen für die All-gemeinheit ausgehen – insbesondere, wenn sich diese im Besitz von unzuverlässigen Waffenträgern befinden – kann auch das Eigentumsrecht des P nicht gegenüber der Schutz-pflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG überwiegen. Folglich waren die Sicherstellung des Repetiergewehrs und die Anwendung unmittelbaren Zwangs angemessen.

Die Vollstreckungsmaßnahme war somit verhältnismäßig. d) Zwischenergebnis Die Sicherstellung des Repetiergewehrs durch Anwendung unmittelbaren Zwangs gem. § 46 Abs. 2 S. 2 WaffG i.V.m. § 65 RhPfLVwVG ist formell und materiell rechtmäßig er-folgt. 2. Rechtmäßigkeit der Wohnungsdurchsuchung (nebst Auf-brechen des Waffenschranks) Weiterhin ist zu prüfen, ob die Wohnungsdurchsuchung so-wie das Aufbrechen des Waffenschranks formell und materi-ell rechtmäßig erfolgt sind. a) Ermächtigungsgrundlage Wie oben dargelegt, ist die Sicherstellung der Waffen im Sinne einer Vollstreckungsmaßnahme spezialgesetzlich in § 46 Abs. 2 S. 2 WaffG geregelt. Hierfür ist regelmäßig das Betreten und die Durchsuchung der Wohnung des Pflichtigen erforderlich.52 Vor diesem Hintergrund kann die Vollstre-ckungsbehörde, soweit es der Zweck der Vollstreckungs- maßnahme erfordert, gem. § 9 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 RhPf- LVwVG53 auch die Wohnräume des Pflichtigen durchsu-

52 VG Mainz, Beschl. v. 16.9.2019 – 1 O 723/19.MZ, Rn. 4 (juris). 53 Vgl. Fn. 32.

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Fortgeschrittenenhausarbeit: Parteimitglieder im Schützenverein ÖFFENTLICHES RECHT

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ZJS 5/2020 461

chen.54 Unter dem Begriff der Durchsuchung ist dabei das zweck- und zielgerichtete Suchen nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhalts zu verstehen.55 b) Formelle Rechtmäßigkeit der Wohnungsdurchsuchung In formeller Hinsicht setzt eine Wohnungsdurchsuchung ent- weder die Einwilligung des Vollstreckungsschuldners oder eine entsprechende richterliche Anordnung voraus, § 9 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 RhPfLVwVG, Art. 13 Abs. 2 GG. Eine solche richterliche Anordnung hat das zuständige Verwaltungsgericht vorliegend erteilt. Nicht erforderlich war eine vorherige förmliche Zustellung der Durchsuchungsanordnung an P; es genügt hier eine Bekanntgabe anlässlich der Vollstreckung.56 c) Materielle Rechtmäßigkeit der Wohnungsdurchsuchung Weiterhin müssen die allgemeinen und besonderen Vollstre-ckungsvoraussetzungen vorgelegen haben. aa) Tatbestandliche Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 RhPfL- VwVG Im Hinblick auf die allgemeinen Vollstreckungsvorausset-zungen ist auf die Ausführungen zur Sicherstellung zu ver-weisen. In materieller Hinsicht kann die Vollstreckungsbe-hörde die Wohnräume sowie Behältnisse des Vollstreckungs-schuldners durchsuchen, soweit es der Zweck der Vollstre-ckung erfordert, § 9 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 RhPfLVwVG. Hierbei dürfen die Vollstreckungsbeamten auch verschlossene Be-hältnisse öffnen (Hs. 2). Daher war hier nicht nur das Betre-ten der Wohnung, sondern auch das Aufbrechen des Waffen-schranks von der Ermächtigungsgrundlage des § 46 Abs. 2 S. 2 WaffG i.V.m. § 9 Abs. 1 RhPfLVwVG erfasst. bb) Verhältnismäßigkeit Weiterhin ist zu prüfen, ob die Wohnungsdurchsuchung und das Aufbrechen von Ps Waffenschrank verhältnismäßig ge-wesen sind. Im Hinblick auf den legitimen Zweck der Voll-streckungsmaßnahme gilt das oben Gesagte. Die Wohnungs-durchsuchung war im Übrigen geeignet, das Repetiergewehr aufzufinden und sicherzustellen. Es fragt sich jedoch, ob die Maßnahme erforderlich gewesen ist, also keine milderen Mit- tel bei gleicher Eignung vorgelegen haben. Angesichts des vehementen Widerstands des P stellten, wie oben ausgeführt, eine Fristverlängerung und der damit verbundene vorläufige Verzicht auf die Durchführung von Vollstreckungsmaßnah-men kein gleich geeignetes Mittel zur Zielerreichung dar. Die Sicherstellung des Repetiergewehrs setzte vor diesem Hinter-grund zwingend das Betreten von Ps Wohnung voraus, in der dieser die Waffe aufbewahrte.

Im Rahmen der Angemessenheit ist zwischen den durch das WaffG geschützten Rechtsgütern, insbesondere Leib und

54 VG Neustadt (Weinstraße), Beschl. v. 8.11.2011 – 5 N 992/11.NW, Rn. 6 (juris); VG Freiburg, Beschl. v. 2.6.2008 – 1 K 590/08, Rn. 16 (juris). 55 VG Mainz, Beschl. v. 16.9.2019 – 1 O 723/19.MZ, Rn. 4 (juris). 56 OVG Hamburg NJW 1995, 610 (610), Ls. 3.

Leben der Bevölkerung, und Ps Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG sowie seinem Eigen-tumsrecht aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG abzuwägen. Für das Überwiegen der Interessen der Allgemeinheit kann im We-sentlichen auf die Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der Sicherstellung verwiesen werden. Zudem ist anzuführen, dass sich die Beamten nur so lange in der Wohnung des P aufge-halten haben, bis sie die gesuchten Gegenstände gefunden und an sich genommen hatten. Der Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG wurde entsprechend dem Zweck der Maßnahme in seiner Intensität so gering wie möglich gehalten. Folglich ist die Wohnungsdurchsuchung angemessen und im Ergebnis ver-hältnismäßig. d) Zwischenergebnis Somit war auch die Wohnungsdurchsuchung und die hierbei erfolgte Einwirkung auf den Waffenschrank des P gem. § 9 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 RhPfLVwVG formell und materiell recht-mäßig. 3. Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids im Übrigen Neben der formellen und materiellen Rechtmäßigkeit der kostenauslösenden Maßnahme ist weiterhin zu prüfen, ob die Ordnungsbehörde die Kosten der Maßnahme zutreffend be-rechnet hat. Dies ist laut Bearbeitungsvermerk der Fall. Zu-dem ist P als Verpflichteter der Sicherstellung gem. § 46 Abs. 2 S. 2 WaffG richtiger Adressat des Kostenbescheids. IV. Ergebnis zu Teil 2 Der Kostenbescheid ist formell und materiell rechtmäßig. P ist demnach verpflichtet, an den Landkreis L einen Betrag in Höhe von 500 € zu zahlen.

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Fortgeschrittenenklausur: Gemeinde – Staat – Haftung? Von Ass. iur. Justin Friedrich Krahé, LL.B. (UCL), Heidelberg* Der überdurchschnittlich schwierige Fall greift mit der Haf-tung des Staates und seiner Bediensteten für zivilrechtliches Handeln eine in der Ausbildung häufig nicht hinreichend beachtete Querschnittsmaterie zwischen öffentlichem Recht und Zivilrecht auf. Zur Lösung sind solide Grundkenntnisse aus beiden Rechtsgebieten sowie über deren Verbindungen erforderlich, die spätestens für das Referendarexamen unver-zichtbar sind. Daneben werden typische Probleme des Kom-munalrechts aufgegriffen. Für eine gute Bewertung war ins-besondere bedeutsam, die zahlreichen denkbaren Anspruchs-grundlagen sowie deren Verhältnis zueinander zu erkennen. Staatshaftungsrecht – Kommunalrecht – Amtshaftung – Ab-grenzung Privatrecht/Öffentliches Recht – Zurechnung im Staatshaftungsrecht Sachverhalt In der baden-württembergischen Gemeinde G betreibt der Unternehmer U eines der wenigen ortsansässigen Unterneh-men. Um hierfür eine neue Maschine anzuschaffen, möchte dieser bei der Bank B – deren Rechtsfähigkeit und wirksame Vertretung unterstellt werden können – ein Darlehen über 100.000,00 EUR aufnehmen. B möchte für den Kredit Si-cherheiten. Die Beteiligten überlegen, ob man die Gemeinde G dazu bewegen könnte, sich für die Verpflichtungen des U gegenüber B aus dem Darlehen zu verbürgen. U sichere ja schließlich Arbeitsplätze in der Gemeinde.

Die anschließenden Gespräche werden auf Seiten der Ge- meinde vom Beamten D, der die Abteilung für Wirtschafts-förderung leitet, geführt, ohne dass dieser das sonstigen Mit-arbeitern oder insbesondere der Verwaltungsspitze der Ge-meinde mitteilt. D ist bewusst, dass er weder für diesen Ein-zelfall noch generell bevollmächtigt ist, für die Gemeinde Verpflichtungserklärungen abzugeben, und dass er generell keine Vertretung der Gemeinde nach außen wahrnehmen soll. Dennoch entschließt er sich, das Bürgschaftsformular der B, in dem die Gemeinde als Bürgin genannt ist, zu unterschrei-ben. Dabei fügt er ein Dienstsiegel der Gemeinde bei und setzt seiner Unterschrift handschriftlich „i. A. Der Bürger-meister“ hinzu. Daraufhin zahlt B das Guthaben an U aus.

Einige Wochen später kommen bei B Bedenken auf. Auf Nachfrage wird ihr mitgeteilt, dass es sich um die Unter-schrift des D handelt.

Hat B Ansprüche gegen G oder D? Bearbeitungsvermerk Soweit die Bearbeiter zu der Auffassung gelangen, dass eine Genehmigung für die Bürgschaft erforderlich ist, ist zu unter-stellen, dass diese weder erfolgt ist noch erfolgen kann.

* Der Verf. ist Doktorand bei Prof. Dr. Anne Peters, LL.M., Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentli-ches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

Zusatzfrage Unterstellt, B hätte einen staatshaftungsrechtlichen Anspruch gegen G – wo wäre dieser geltend zu machen? Lösungsvorschlag B könnte sowohl gegen G (dazu A.) als auch gegen D (dazu B.) Ansprüche haben. A. Haftung der Gemeinde Es könnten Ansprüche gegen G bestehen, die wegen der stär- keren Vermögenslage der Gemeinde für B attraktiver1 sind als mögliche Ansprüche gegen D. I. Anspruch aus einem Bürgschaftsvertrag auf Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Darlehensvertrag gem. §§ 765 Abs. 1, 488 Abs. 1 S. 2 BGB B könnte gegen G einen Anspruch aus einem Bürgschafts- vertrag gem. §§ 765 Abs. 1, 488 Abs. 1 S. 2 BGB darauf haben, für die Erfüllung der Verbindlichkeit des U auf Zins- und Darlehensrückzahlung einzustehen. Dieser Anspruch setzt einen wirksamen Bürgschaftsvertrag sowie – wegen der Ak-zessorietät der Bürgschaft – einen wirksamen Darlehens- vertrag voraus. 1. Öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Vertrag? Fraglich ist insofern zunächst, ob das Bürgerliche Gesetzbuch direkt oder mit den Abwandlungen der §§ 54 ff. BWVwVfG Anwendung findet (vgl. insoweit § 62 S. 2 BWVwVfG).

Entscheidend dafür ist, ob es sich um einen öffentlich-rechtlichen oder einen privatrechtlichen Vertrag handelt. Bei der Bürgschaft ist insofern nicht maßgeblich, ob die Haupt-forderung öffentlich-rechtlich ist. Die Rechtsnatur des Bürg-schaftsvertrages ist vielmehr gesondert zu betrachten.2 Ob diese öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich ist, richtet sich danach, ob Gegenstand und Zweck des Bürgschaftsvertrages fiskalischer Natur oder aber spezifisch öffentlich-rechtlich sind.3 Für einen öffentlich-rechtlichen Vertrag müssen die mit der Vereinbarung angestrebten Rechtsfolgen nach objek-tiven Kriterien dem öffentlichen Recht zuzurechnen sein,

1 Im Hintergrund stehen hier u.a. § 12 Abs. 1 Nr. 2 InsO und § 45 BWAGGVG, die die Studierenden nicht kennen müs- sen. Nach diesen Normen ist das Insolvenzverfahren über das Vermögen von Körperschaften des öffentlichen Rechts – also auch über das von Gemeinden, vgl. § 1 Abs. 4 BWGemO – nicht zulässig. In insolvenzrechtlicher Hinsicht ist bezüglich D jedoch unter Umständen auch zu berücksichtigen, dass gem. § 302 Nr. 1 InsO Verbindlichkeiten aus einer vorsätz- lich begangenen unerlaubten Handlung im Insolvenzverfah-ren nicht von der Erteilung der Restschuldbefreiung berührt werden. 2 BVerwGE 161, 255. 3 Tegethoff, in: Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz Kommentar, 19. Aufl. 2018, § 54 Rn. 27.

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Fortgeschrittenenklausur: Gemeinde – Staat – Haftung? ÖFFENTLICHES RECHT

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sodass die Rechtsverhältnisse, auf deren Begründung der Ver-trag gerichtet ist, dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind.4 Wenn der Vertragsgegenstand gesetzlich nicht zugeordnet ist, ist der Vertrag öffentlich-rechtlich, „wenn er nach seinem Zweck in enger, unlösbarer Beziehung zur Erfüllung öffentli-cher Aufgaben steht“.5 Angesichts dessen, dass öffentliche Aufgaben häufig auch in Privatrechtsform erfüllt werden können, reichen der bloße Zusammenhang mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben oder das bloße Handeln im öffentli-chen Interesse nicht aus.6 Ein Rechtsgeschäft des bürgerli-chen Rechts liegt daher insbesondere vor, wenn nicht ein Vorgang, der im öffentlichen Recht angesiedelt ist, ausgestal-tet, sondern ein privatrechtliches Rechtsgeschäft zwischen einem Träger des öffentlichen Rechts und einer Privatperson abgeschlossen wird.7

Hier ging es beim Abschluss des Bürgschaftsvertrages um eine Kreditsicherung im Rahmen der Wirtschaftsförderung. Den Bürgschaftsvertrag hätte auch jeder beliebige Private abschließen können. Für die B kam es nur darauf an, dass sie einen solventen Sicherungsgeber erhalten sollte. Dafür war es unerheblich, dass die Gemeinde Körperschaft des öffentli-chen Rechts und nicht etwa eine private Körperschaft mit ähnlich vertrauenswürdiger finanzieller Lage war. Zudem handelte es sich nicht um einen Vorgang, der spezifisch öf-fentlich-rechtlich und schon daher im öffentlichen Recht an- gesiedelt ist. Die Wirtschaftsförderung kann zwar durchaus eine staatliche Aufgabe darstellen; allein das begründet aber keine öffentlich-rechtliche Natur des Bürgschaftsvertrages.8 Im vorliegenden Fall bestand keine enge, unlösbare Bezie-hung zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Gegenstand und Zweck des Vertrages waren vielmehr allein auf das Siche-rungsinteresse der B gerichtet und daher privatrechtlich, so- dass es sich um einen privatrechtlichen Vertrag handelt. 2. Zwischenergebnis Das Bürgerliche Gesetzbuch findet direkte Anwendung auf den Vertrag. 3. Wirksamer Vertragsschluss Ein Anspruch gem. §§ 765 Abs. 1, 488 Abs. 1 S. 2 BGB setzt voraus, dass sich B und G über einen entsprechenden Bürg-schaftsvertrag geeinigt haben. Dazu müssten B und G zwei übereinstimmende Willenserklärungen, Angebot (vgl. § 145 BGB) und Annahme (vgl. § 147 BGB), abgegeben haben. Als juristische Personen können weder B noch G selbst Wil-lenserklärungen abgeben. Sie müssen sich vielmehr vertreten lassen, was sich grundsätzlich nach den §§ 164 ff. BGB rich-tet. Hier könnte die Willenserklärung des D gem. § 164 Abs. 1 S. 1 BGB unmittelbar für und gegen G wirken.

4 Kämmerer, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Verwal-tungsverfahrensgesetz, 48. Ed., Stand: 1.4.2020, § 54 Rn. 41. 5 BVerwGE 161, 255. 6 Kämmerer (Fn. 4), § 54 Rn. 45. 7 BGHZ 90, 187. 8 Kämmerer (Fn. 4), § 54 Rn. 119.

a) Vertretung der Gemeinde gem. § 164 Abs. 1 S. 1 BGB Dazu müsste D diese Willenserklärung innerhalb der ihm zustehenden Vertretungsmacht im Namen der G abgegeben haben.

Das setzt zunächst voraus, dass D zum Ausdruck gebracht hat, dass er im Namen der G handelte, vgl. § 164 Abs. 2 BGB. D hat seiner Unterschrift den Zusatz „i. A. Der Bür-germeister“ und das Dienstsiegel der Gemeinde beigefügt. Zudem war in der Bürgschaftserklärung G als Bürgin ge-nannt. Hinweise auf D selbst als Privatperson finden sich dagegen nicht. Damit trat erkennbar hervor, dass D nicht im eigenen Namen, sondern im Namen der G handeln wollte, sodass D seine Willenserklärung im Namen der G abgegeben hat.

Gem. § 164 Abs. 1 S. 1 BGB hätte D diese Willenserklä-rung auch innerhalb der ihm zustehenden Vertretungsmacht abgeben müssen. D war jedoch weder für diesen Einzelfall noch generell bevollmächtigt, für G Verpflichtungserklärun-gen abzugeben, und sollte generell keine Vertretung der G nach außen wahrnehmen. Eine Vertretungsmacht stand ihm nicht zu, sodass er die Willenserklärung nicht im Sinne des § 164 Abs. 1 S. 1 BGB innerhalb der ihm zustehenden Ver-tretungsmacht abgegeben hat.

Angesichts dessen, dass D als Vertreter auftrat, könnte man erwägen, ob er nicht eine Anscheinsvollmacht hatte. Eine Anscheinsvollmacht setzt voraus, dass jemand wieder-holt und über einen längeren Zeitraum als Vertreter aufgetre-ten ist und der Vertretene das Verhalten nicht kannte, bei der Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt aber hätte erkennen müs-sen und verhindern können.9 Hier ist nicht ersichtlich, dass D wiederholt und über einen längeren Zeitraum als Vertreter aufgetreten wäre. Damit hatte er auch keine Anscheins- vollmacht.

b) Zwischenergebnis Die Voraussetzungen des § 164 Abs. 1 S. 1 BGB liegen nicht vor, sodass die Willenserklärung des D nicht unmittelbar für und gegen G wirkt. c) Anwendbarkeit der §§ 177 ff. BGB Schließt jemand ohne Vertretungsmacht im Namen eines an- deren einen Vertrag ab, so hängt gem. § 177 Abs. 1 BGB die Wirksamkeit des Vertrags für und gegen den Vertretenen grundsätzlich von dessen Genehmigung ab. Fraglich ist hier aber, ob die §§ 177 ff. BGB überhaupt anwendbar sind. Ist das Vertretergeschäft nämlich ohnehin aus anderen Gründen unwirksam oder nichtig, dann sind die Vorschriften über die Vertretung ohne Vertretungsmacht nicht anwendbar.10

9 Schubert, in: Säcker u.a., Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 1, 8. Aufl. 2018, § 167 Rn. 111. 10 Dörner, in: Schulze u.a., BGB Handkommentar, 10. Aufl. 2019, § 177 Rn. 2; Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 78. Aufl. 2019, § 177 Rn. 1.

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Fraglich ist daher, ob das Rechtsgeschäft gem. § 117 Abs. 1 Hs. 1 BWGemO11 unwirksam ist. Nach dieser Vorschrift sind Geschäfte des bürgerlichen Rechtsverkehrs bis zur Erteilung der nach den Vorschriften der §§ 77–117 BWGemO erforder-lichen Genehmigung der Rechtsaufsichtsbehörde unwirksam.

Dann müsste nach den Vorschriften der §§ 77–117 BW- GemO für den Bürgschaftsvertrag eine Genehmigung der Rechtsaufsichtsbehörde erforderlich gewesen sein. In Be-tracht kommt insoweit § 88 Abs. 2 S. 2 BWGemO.12 Nach dieser Vorschrift bedürfen Bürgschaften der Genehmigung der Rechtsaufsichtsbehörde, wenn sie nicht im Rahmen der laufenden Verwaltung abgeschlossen werden.

Maßgeblich ist daher, ob der Bürgschaftsvertrag im Rah-men der laufenden Verwaltung abgeschlossen wurde. Der Begriff der laufenden Verwaltung umfasst nur Geschäfte, die in mehr oder weniger gleichmäßiger Wiederkehr vorkommen und nach Größe, Umfang der Verwaltungstätigkeit und Fi-nanzkraft der beteiligten Gemeinde von sachlich weniger erheblicher Bedeutung sind.13 Hier ist schon nicht ersichtlich, dass diese Geschäfte regelmäßig wiederkehrten. Der Bürg-schaftsvertrag gehört daher nicht zur laufenden Verwaltung.

Hinweis: Insoweit kam es darauf an, zu erkennen, dass der Begriff der „laufenden Verwaltung“ auch zur Abgren-zung von Kompetenzen zwischen Bürgermeister und Ge- meinderat verwendet wird, etwa in § 44 Abs. 2 S. 1 BW- GemO. Die Kenntnis der maßgeblichen Abgrenzungs- kriterien gehört zum kommunalrechtlichen Grundwissen. Hinweis: Grundsätzlich kann auch die Wirtschaftsförde-rung eine gemeindliche Aufgabe sein. In diesem Bereich unterliegt die Gemeinde aber dann den engen Grenzen sowohl des Kommunalrechts, die eine wirtschaftliche Überlastung der Gemeinde verhindern wollen,14 als auch des Wettbewerbsrechts, das vor Wettbewerbsverzerrungen durch staatlichen Einfluss schützen soll.15

Damit bedurfte die Bürgschaft gem. § 88 Abs. 2 S. 2 BW- GemO der Genehmigung der Rechtsaufsichtsbehörde. Diese wurde aber nicht erteilt (und könnte im Übrigen auch nicht erteilt werden, vgl. Bearbeitervermerk).

11 Art. 117 Abs. 2 BayGO; § 111 Abs. 1 BbgKVerf; § 143 Abs. 1 S. 2 HGO; § 176 Abs. 1 S. 1 NKomVG; § 119 Abs. 2 RlPGemO; § 125 Abs. 1 SaarlKSVG; § 120 Abs. 1 Hs. 1 SächsGemO; § 150 Abs. 1 S. 1 KVG LSA; § 118 Abs. 1 GO SH; § 123 Abs. 2 Hs. 1 ThürKO. 12 Art. 72 Abs. 2 S. 2 BayGO; § 75 Abs. 2 S. 2 BbgKVerf; § 104 Abs. 2 S. 2 HGO; § 57 Abs. 3 S. 1 KV M-V; § 121 Abs. 2 S. 2 NKomVG; § 104 Abs. 2 S. 2 RlPGemO; § 93 Abs. 2 S. 2 SarlKSVG; § 83 Abs. 2 S. 2 SächsGemO; § 109 Abs. 2 S. 2 KVG LSA; § 86 Abs. 2 GO SH; § 64 Abs. 2 S. 2 ThürKO. 13 BGHZ 178, 192. 14 BGH VIZ 2001, 221 (222). 15 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, AEUV Art. 107 Rn. 1.

Gem. § 117 Abs. 1 Hs. 1 BGB ist die Bürgschaftsbestel-lung daher auch unabhängig von der fehlenden Vertretungs-macht unwirksam. d) Zwischenergebnis Somit ist das Vertretergeschäft auch aus anderen Gründen als der Vertretung ohne Vertretungsmacht unwirksam. Angesichts der fehlenden Genehmigung der Rechtsaufsichtsbehörde wä- re die Bürgschaftsbestellung selbst bei Genehmigung der Vertretung durch den Bürgermeister nicht wirksam. §§ 177 ff. BGB sind daher nicht anwendbar, sodass auch § 177 Abs. 1 BGB nicht zur Anwendung gelangt. Mangels einer Willens-erklärung, die für und gegen G wirkt, haben B und G keinen wirksamen Bürgschaftsvertrag geschlossen.

B hat gegen G daher keinen Anspruch aus einem Bürg-schaftsvertrag gem. §§ 765 Abs. 1, 488 Abs. 1 S. 2 BGB. II. Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB B könnte gegen G einen Anspruch auf Schadensersatz aus einem vorvertraglichen (ebenfalls privatrechtlichen) Schuld-verhältnis gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB haben.

Dazu müsste ein vorvertragliches Schuldverhältnis zwi-schen G und B entstanden sein, wofür nach § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB auch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen genügt. 1. Zurechnung des Handelns des D analog § 31 BGB G selbst hat mit B keine Vertragsverhandlungen aufgenom-men. Möglicherweise ist ihr jedoch zuzurechnen, dass D mit B verhandelt hat. Insoweit wäre das Handeln des D der G in analoger Anwendung des § 31 BGB zuzurechnen, wenn D als deren verfassungsmäßig berufener Vertreter anzusehen ist. Da für eine Analogie die Interessenlage in der nicht geregel-ten Situation mit der in § 31 BGB geregelten Situation ver-gleichbar sein muss, setzt das voraus, dass D bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der G zur selbständigen, eigenver-antwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, sodass er G auf diese Weise „repräsentiert“.16 D sollte jedoch nach der Auf-gabenzuweisung G nicht nach außen vertreten. Er sollte G gerade nicht repräsentieren. Die Voraussetzungen einer ana-logen Anwendung des § 31 BGB liegen daher nicht vor, sodass das Handeln des D der G nicht analog § 31 BGB zu-gerechnet werden kann. 2. Unmittelbare Anwendung des § 311 Abs. 2 BGB Die Anwendung des § 311 Abs. 2 BGB zulasten der G käme aber auch dann in Betracht, wenn sie sich bei den Verhand-lungen mit B des D bedient hätte. Für eine solche Zurech-nung bleibt allerdings das Verhalten solcher Personen außer Betracht, die ohne Wissen des Geschäftsherren oder gegen dessen Willen handeln.17 G hatte keine Kenntnis von entspre-

16 Ellenberger (Fn. 10), § 31 Rn. 3. 17 Emmerich, in: Säcker u.a., Münchener Kommentar zum BGB Bd. 3, 8. Aufl. 2019, § 311 Rn. 184.

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chenden Verhandlungen über eine Bürgschaft (oder sonstige Absicherung) zwischen D und B. D handelte vielmehr ohne Wissen der G. Damit fehlt es an der Grundlage für eine Zu-rechnung zu G als Geschäftsherrin. § 311 Abs. 2 BGB kann nicht zu Lasten der G angewendet werden. 3. Zwischenergebnis B hat gegen G keinen Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB. III. Anspruch auf Schadensersatz gem. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 S. 1 GG Möglicherweise hat B gegen G einen Anspruch auf Schadens-ersatz aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG.

Das würde voraussetzen, dass D in Ausübung eines ihm anvertrauten, öffentlichen Amtes handelte. Voraussetzung ist daher ein öffentlich-rechtliches Handeln.18 Hier steht aller-dings – s.o. – rein privatrechtliches Handeln in Rede. Art. 34 S. 1 GG findet daher keine Anwendung. Eine Haftungsüber-leitung auf G ist daher ausgeschlossen.

Ein Anspruch der B gegen G aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 S. 1 GG besteht nicht. IV. Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 823 Abs. 1, 31 BGB In Betracht käme ferner ein Anspruch gegen G aus §§ 823 Abs. 1, 31 BGB. Das setzt allerdings voraus, dass D im Sinne des § 31 BGB Repräsentant der G ist, was bereits abgelehnt worden ist. Selbst wenn man dies bejahen würde, müsste für einen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB ein absolutes Recht verletzt worden sein. Das bloße Vermögen der B stellt jedoch kein von § 823 Abs. 1 BGB geschütztes absolutes Recht dar. Damit hat B gegen G keinen Anspruch aus §§ 823 Abs. 1, 31 BGB. V. Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 823 Abs. 2, 31 BGB Denkbar wäre ein Anspruch aus §§ 823 Abs. 2, 31 BGB. Auch dieser setzt aber voraus, dass D Repräsentant der G ist, was zuvor abgelehnt worden ist. Zudem müsste § 88 Abs. 2 S. 2 BWGemO eine Schutznorm im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sein. Dann müsste § 88 Abs. 2 S. 2 BWGemO seinem Zweck nach jedenfalls auch dazu dienen, Vertragspartner der Gemeinde gegen die Verletzung ihrer Vermögensinteressen zu schützen.19 Ein Indiz dafür ist insbesondere, ob die Norm das geschädigte Rechtsgut als Verletzungsobjekt oder als Ob- jekt konkreter Gefährdung nennt.20 Die Vermögensinteressen Dritter sind aber in § 88 Abs. 2 BWGemO nicht genannt. Für diese Interessen spielen auch die in § 88 Abs. 2 BWGemO genannten Kriterien – also die Fragen der Zugehörigkeit zum Aufgabenkreis der Gemeinde bzw. zur laufenden Verwaltung

18 Papier/Shirvani, in: Säcker u.a., Münchener Kommentar zum BGB Bd. 7, 8. Aufl. 2020, § 839 Rn. 195. 19 Teichmann, in: Jauernig, Bürgerliches Gesetzbuch, 17. Aufl. 2018, § 823 Rn. 44. 20 BGHZ 100, 13.

– keine Rolle. Daraus ergibt sich, dass § 88 Abs. 2 S. 2 BWGemO nicht dem Schutz möglicher Vertragspartner, son- dern ausschließlich der Gemeinde selbst (nämlich vor finan-zieller Überlastung) dient. Damit stellt diese Norm kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dar,21 sodass auch kein Anspruch der B gegen G auf Schadensersatz aus §§ 823 Abs. 2, 31 BGB besteht. VI. Anspruch auf Schadensersatz gem. § 831 Abs. 1 BGB B könnte gegen G aber einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 831 Abs. 1 BGB haben.

Das würde zunächst voraussetzen, dass diese Anspruchs-grundlage überhaupt anwendbar ist. Für Handeln in Aus-übung eines öffentlichen Amtes, also öffentlich-rechtliches Handeln, ist insofern § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG spezieller, sodass in diesen Fällen § 831 BGB bei Handeln von Mitgliedern der Gemeindeverwaltung, insbe-sondere von Beamten, nicht eingreift.22 Hier ging es aller-dings um privatrechtliches Handeln der Gemeinde. Damit ist § 831 Abs. 1 BGB grundsätzlich anwendbar.

Überdies müsste D als Verrichtungsgehilfe in Ausführung einer Verrichtung gehandelt haben. Verrichtungsgehilfe ist der- jenige, der mit Wissen und Wollen des Geschäftsherrn wei-sungsabhängig in dessen Interessenkreis tätig wird.23 Maß-geblich ist dafür, dass der Geschäftsherr in der Lage ist, die Tätigkeit dem Handelnden jederzeit zu entziehen, sie zu be- schränken oder nach Zeit und Umfang zu regeln.24 Die Ge-meinde als Dienstherrin hat gegenüber dem D als Beamten jedenfalls eine Direktionsbefugnis. Damit ist D Verrichtungs- gehilfe der Gemeinde.

Zudem müsste das Handeln jedoch „in Ausführung der Verrichtung“ geschehen sein. Bei einer vorsätzlichen Verlet-zung handelt ein Verrichtungsgehilfe nur dann „in Ausfüh-rung der Verrichtung“, wenn die Fürsorge für das verletzte Rechtsgut gerade das Wesen der Verrichtung prägt.25 Anders als im Strafrecht muss sich der Vorsatz im Zivilrecht nur auf die Pflichtverletzung und nicht auf einen Schaden beziehen.26 D wusste, dass er zur Abgabe von Bürgschaftserklärungen gegenüber B nicht ermächtigt war, erteilte aber dennoch die Bürgschaftserklärung. Damit hat er vorsätzlich gehandelt; seine Tätigkeit war aber nicht von der Fürsorge für das Ver-mögen der B geprägt, sodass er nicht „in Ausführung der Verrichtung“ handelte.

B hat gegen G daher keinen Anspruch auf Schadensersatz gem. § 831 Abs. 1 BGB.

21 Siehe zu einer vergleichbaren Argumentation BGHZ 150, 343. 22 Sprau, in: Palandt (Fn. 10), § 831 Rn. 5. 23 Staudinger, in: Schulze (Fn. 10), § 831 Rn. 7. 24 Wagner, in: Säcker u.a. (Fn. 18), § 831 Rn. 14. 25 Teichmann (Fn. 19), § 831 Rn. 8; Förster, in: Hau/Poseck, Beck’scher-Online Kommentar zum BGB, Stand: 1.8.2020, § 831 Rn. 32; BGH NJW-RR 1998, 250 (252). 26 Statt aller: BGH NJW 1965, 962.

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VII. Zwischenergebnis zu den Ansprüchen gegen G Als Zwischenergebnis lässt sich zusammenfassen, dass eine Haftung der G – gleich ob aus Vertrag, vorvertraglichem Schuldverhältnis oder Gesetz – ausscheidet. B hat gegen G keine Ansprüche. B. Haftung des D Möglicherweise bestehen aber Ansprüche der B gegen D. I. Anspruch aus einem Bürgschaftsvertrag gem. §§ 765 Abs. 1, 488 Abs. 1 S. 2 BGB B könnte gegen D einen Anspruch aus einem Bürgschafts- vertrag gem. § 765 Abs. 1 BGB darauf haben, dass D für die Erfüllung der Verbindlichkeit des U aus dem Darlehens- vertrag gem. § 488 Abs. 1 S. 2 BGB einsteht. Das würde allerdings voraussetzen, dass D eine Willenserklärung zum Abschluss eines Bürgschaftsvertrages im eigenen Namen ab- gegeben hat. Wie bereits angesprochen ergab sein Handeln bei verständiger Würdigung nach dem objektiven Empfänger-horizont jedoch, dass er nicht sich, sondern G verpflichten wollte.

B hat gegen D keinen Anspruch aus einem Bürgschafts-vertrag. II. Anspruch aus § 179 Abs. 1 BGB Möglicherweise ist D der B aber gem. § 179 Abs. 1 BGB nach deren Wahl zur Erfüllung oder zum Schadensersatz verpflichtet.

Auch hier gilt jedoch, dass – vgl. oben unter Ziffer A. I. 2. b) – die Regelungen des § 177 ff. BGB nur dann zur Anwen-dung gelangen, wenn der Vertrag – hätte eine ordnungs- gemäße Bevollmächtigung vorgelegen – wirksam gewesen wäre.27 B soll nicht deswegen besser stehen, weil bei einem ohnehin unwirksamen Geschäft D außerdem auch noch au-ßerhalb seiner Vertretungsmacht gehandelt hat, denn dann würde sie im Ergebnis besser stehen, als sie stehen würde, wenn die Vertretungsmacht vorgelegen hätte. Wie gesehen wäre der Vertrag auch bei ordnungsgemäßer Bevollmächti-gung gem. § 117 Abs. 1 BWGemO unwirksam gewesen. Damit ist § 179 Abs. 1 BGB nicht anwendbar.

Ein Anspruch der B gegen D aus § 179 Abs. 1 BGB be-steht nicht. III. Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB B könnte gegen D einen Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB haben.

Zwischen B und D müsste dazu zunächst ein Schuld- verhältnis bestehen. In Betracht kommt auch hier zunächst ein Bürgschaftsvertrag nach § 765 Abs. 1 S. 1 BGB. Mangels Einigung ist ein solcher jedoch nicht zustande gekommen. Zwischen B und D könnte aber ein vorvertragliches Schuld-verhältnis entstanden sein. Ein solches entsteht gem. § 311

27 Dörner (Fn. 10), § 177 Rn. 2; Ellenberger (Fn. 10), § 177 Rn. 1.

Abs. 2 Nr. 2 BGB schon durch die Anbahnung eines Ver-trags. Ebenso wie § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB, ähnliche ge-schäftliche Kontakte, setzt dies aber voraus, dass ein potenzi-eller Vertrag gerade zwischen den Parteien geschlossen wer-den soll.28 Nach den Vorstellungen der Parteien sollte D aber nicht selbst Vertragspartner werden. Damit besteht kein Schuldverhältnis gem. § 311 Abs. 2 BGB zwischen B und D.

B hat daher gegen D keinen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB. IV. Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 3, 241 Abs. 2 BGB Ein Anspruch der B gegen D auf Schadensersatz könnte sich aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 3, 241 Abs. 2 BGB ergeben.

Nach § 311 Abs. 3 S. 1 BGB kann ein Schuldverhältnis auch zu Personen entstehen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen. Für eine solche Eigenhaftung eines Vertreters ist erforderlich, dass der Verhandelnde besonderes persönli-ches Vertrauen in Anspruch nimmt und durch eine von ihm persönlich ausgehende „Gewähr“ für die Erfüllung des Ge-schäfts einstehen wollte.29 Typischerweise sind dafür „Erklä-rungen im Vorfeld einer Garantiezusage“ erforderlich.30 Mangels konkreter Aussagen des D oder einer besonders herausgehobenen Stellung innerhalb der Gemeinde ist nicht ersichtlich, dass D ein solchermaßen gesteigertes persönli-ches Vertrauen in Anspruch genommen hätte. Zwischen B und D ist daher auch nicht aus § 311 Abs. 3 BGB ein Schuld-verhältnis entstanden. Damit besteht kein Schuldverhältnis zwischen B und D, kraft dessen dieser gem. § 280 Abs. 1 BGB zu Schadensersatz verpflichtet wäre. V. Anspruch auf Schadensersatz gem. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB In Betracht kommt allerdings eine Haftung des D aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB. Nach dieser Norm ist ein Beamter, der vorsätzlich oder fahrlässig eine ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt, zum Schadensersatz ver-pflichtet.

Dabei ist zu beachten, dass – s.o. – die gesetzlich ange-ordnete Haftungsübernahme des Art. 34 S. 1 GG nicht ein-greift, wenn es sich um eine Amtspflichtverletzung handelt, die in Wahrnehmung privatrechtlicher Belange des Dienst-herrn begangen wurde.31 Das ist hier der Fall, sodass sich der Anspruch gegen D persönlich richtet. 1. Beamter Zunächst müsste D also Beamter sein. Während es im Rah-men von Ansprüchen aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG wegen der grundgesetzlichen Formulierung „jemand“ einen eigenen, sog. staatshaftungsrechtlichen Be-amtenbegriff gibt, ist im Rahmen eines Anspruchs aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB getreu dem Wortlaut der Norm eine status-

28 Stadler, in: Jauernig (Fn. 19), § 311 Rn. 35. 29 Emmerich (Fn. 17), § 311 Rn. 173. 30 BGHZ 126, 181. 31 Siehe oben sowie Teichmann (Fn. 19), § 839 Rn. 31.

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rechtliche Betrachtung nach dem Beamtenrecht maßgeblich.32 D ist Beamter, sodass diese Voraussetzung des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB erfüllt ist. 2. Verletzung einer drittschützenden Amtspflicht D müsste sodann eine ihm obliegende Amtspflicht verletzt haben. Zu den Amtspflichten eines Beamten gehört grund-sätzlich auch die Amtspflicht zur Wahrung der eigenen Zu-ständigkeitsgrenzen.33 Für die Unterzeichnung einer Bürg-schaftserklärung, mit der die Gemeinde verpflichtet werden sollte, war D nicht zuständig. Damit hat er diese Amtspflicht verletzt.

Diese Amtspflicht müsste D auch gegenüber einem Drit-ten – hier der B – oblegen haben, sie müsste also drittschüt-zend sein. Dafür ist erforderlich, dass mit der Amtspflicht gerade die Belange eines bestimmten Personenkreises ge-schützt und gefördert werden sollen,34 sodass in qualifizierter und individualisierbarer Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen war.35 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts-hofes verletzt ein Beamter, der seine amtlichen Befugnisse überschreitet und Amtshandlungen vornimmt, für die er nicht zuständig ist, eine ihm gegenüber jedem dadurch geschädig-ten Dritten obliegende Amtspflicht, wenn eine innere Bezie-hung zwischen der unter Zuständigkeitsüberschreitung vor-genommenen, schädigenden Amtshandlung und den durch die zuständige Stelle zu schützenden Belangen des Dritten besteht, d.h. wenn dessen Interessen dadurch konkret berührt werden.36 Zuständigkeitsregelungen wie diejenigen der Ge-meindeordnung haben daher grundsätzlich drittschützende Bedeutung.37 Die von D verletzte Amtspflicht bezweckte daher gerade auch den Schutz der B. 3. Verschulden des D Dabei müsste D auch mindestens fahrlässig gehandelt haben. D wusste, dass er zur Abgabe von Bürgschaftserklärungen gegenüber B nicht ermächtigt war, erteilte aber dennoch die Bürgschaftserklärung. Er wusste daher, dass er seine Pflich-ten verletzte, und nahm dies billigend in Kauf, sodass im Hinblick auf die Pflichtverletzung sowohl ein kognitives („Wissen“) als auch ein voluntatives („Wollen“) Element vorhanden waren. Damit hat er seine Amtspflicht sogar – s.o. – vorsätzlich verletzt.

Hinweis: Während sich die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit an vielen anderen Stellen im

32 Papier/Shirvani (Fn. 18), § 839 Rn. 182; Staudinger (Fn. 23), § 839 Rn. 49; Teichmann (Fn. 19), § 839 Rn. 32. 33 Teichmann (Fn. 19), § 839 Rn. 9. 34 BGHZ 212, 303. 35 Teichmann (Fn. 19), § 839 Rn. 12 – hier liegen in der Rechtsprechung regelmäßig Probleme. 36 BGH NJW 1992, 3229 (3230). 37 Papier/Shirvani (Fn. 18), § 839 Rn. 294.

Zivilrecht nicht auf die Rechtsfolgen auswirkt,38 ist dies im Rahmen des § 839 Abs. 1 BGB anders. Fällt dem Be-amten nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er gem. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB nur dann in Anspruch genommen wer-den, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag. Das bedeutet – grob gesagt und mit ei-ner Reihe von Modifikationen durch die Rechtsprechung –,39 dass in den Fällen, in denen auf Seiten der Geschädig-ten noch ein Anspruch beispielsweise gegen den Dienst-herrn besteht, der Beamte bei bloßer Fahrlässigkeit letzt-lich nicht persönlich in Anspruch genommen werden kann. In diesem Zusammenhang ist der Vollständigkeit halber auch auf § 75 BBG, § 48 BeamtStG hinzuweisen, nach denen bei vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Pflicht- verletzungen eines Beamten, die zu einem Schaden beim Dienstherrn führen, eine Rückgriffmöglichkeit gegen den Beamten besteht.

4. Schadensentstehung Fraglich ist aber, ob B ein Schaden entstanden ist. Die Darle-gungs- und Beweislast hierfür trägt nach allgemeinen Grund- sätzen der Geschädigte.40 Bei Amtshaftungsansprüchen ist dabei regelmäßig zu fragen, wie der Dritte stünde, wenn der Amtsträger rechtmäßig gehandelt hätte. Der Schädiger kann sich dabei – wenn die Auslegung der verletzten Amtspflicht kein gegenteiliges Ergebnis gebietet – auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten berufen. Wenn bei dieser hypothetischen Betrachtung der Dritte auch bei rechtmäßigem Handeln nicht besser stünde, ist dem Dritten bei normativer Betrachtung dann auch kein Schaden entstanden.41

Bei ordnungsgemäßem Verhalten hätte D den Abschluss des Bürgschaftsvertrages mangels Zuständigkeit verweigern müssen und an den Bürgermeister oder dessen Stellvertreter verweisen müssen. Der dafür zuständige Bürgermeister hätte gem. § 88 Abs. 2 S. 2 BWGemO die Genehmigung der Rechtsaufsichtsbehörde einholen müssen, die aber nicht hätte erteilt werden können. Daraus ergibt sich, dass auch bei amts- pflichtgemäßem Verhalten des D kein wirksamer Bürgschafts-vertrag zustande gekommen wäre. Auch bei rechtmäßigem Handeln des D hätte B daher keine Bürgschaft erlangt.

Allerdings hätte sie in diesem Falle die Möglichkeit ge-habt, vom Abschluss des – ungesicherten – Darlehensvertra-ges mit U Abstand zu nehmen. Fraglich ist daher, ob in dem Abschluss des Darlehensvertrages ohne eine wirksame Siche-rung ein Schaden liegt. Dabei ist nach der allgemeinen sog. Differenzhypothese die Differenz zwischen dem hypotheti-schen Vermögenszustand ohne das schädigende Ereignis und dem realen Zustand des tatsächlich gegebenen Vermögens zu vergleichen.42 Bei der Bürgschaft ist insoweit zu beachten, dass deren Wirksamkeit oder Unwirksamkeit wegen § 771 S. 1 BGB für B nur dann von Bedeutung ist, wenn der Siche- 38 Grundmann, in: Säcker u.a., Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 2, 8. Aufl. 2019, § 276 Rn. 150. 39 Vgl. dazu etwa Papier/Shirvani (Fn. 18), § 839 Rn. 365 ff. 40 BGHZ 129, 226. 41 BGHZ 143, 362. 42 Oetker, in: Säcker u.a. (Fn. 38), § 249 Rn. 18.

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rungsfall auch tatsächlich eintritt. Das ist hier noch nicht geschehen, sodass bisher noch kein Schaden eingetreten ist.43 Es ist auch noch nicht absehbar, ob es dazu je kommen wird. Solche künftigen Schäden sind nach allgemeinen Grund- sätzen aber nur dann zu ersetzen, wenn deren Eintritt sicher ist.44 Damit würde in dem bloßen Abschluss des Darlehens-vertrages ohne eine wirksame Sicherung noch kein Schaden liegen.

Gegen dieses Ergebnis spricht jedoch, dass bei bankübli-chen Bewertungsansätzen ungesicherte Darlehensforderungen geringer bewertet werden als gesicherte Darlehensforderun-gen.45 In wirtschaftlicher Hinsicht ist ein ungesichertes Dar-lehen weniger wert als ein gesichertes, weil das Risiko, dass der Gläubiger die Forderung später nicht realisieren kann, höher ist. Angesichts dieses geringeren Wertes könnte man argumentieren, dass schon der Abschluss des Darlehens- vertrages ohne Sicherung einen Schaden darstellt.

Hiergegen wiederum könnte man aber auf Basis des schadensrechtlichen Bereicherungsverbotes, das sich aus dem Normzweck der §§ 249 ff. BGB ergibt,46 argumentieren. Nach dem Grundsatz des § 249 Abs. 1 BGB hat der zum Schadensersatz verpflichtete den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Um-stand nicht eingetreten wäre. Wenn es aber nur darum geht, diesen Zustand herzustellen, dann bedeutet das zugleich, dass ein Schadensersatzanspruch nicht dazu führen soll, dass der Geschädigte hinterher (noch) besser steht, als wenn das schä-digende Ereignis niemals eingetreten wäre. Daher darf auch ein möglicher Schadensersatzanspruch gegen D nicht dazu führen, dass B am Ende wirtschaftlich mehr erhält als die nach dem Darlehensvertrag geschuldeten Leistungen. Wenn der Sicherungsfall nicht eintritt, würde B durch einen Scha-densersatzanspruch, der sich jedenfalls über § 250 S. 2 BGB in einen Anspruch auf Ersatz in Geld verwandeln kann, bes-sergestellt, als sie ohne das schadenstiftende Ereignis stehen würde. Das spricht dafür, die bloße Tatsache, dass die Darle-hensforderung der B ungesichert ist, nicht als Schaden einzu-stufen. B ist damit kein Schaden entstanden, solange nicht feststeht, dass der Sicherungsfall eintreten wird. C. Ergebnis Ein Anspruch gegen G scheidet danach aus. Ein Anspruch gegen D besteht (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) ebenfalls nicht. D. Zusatzfrage Prozessual sind Staatshaftungsansprüche gem. Art. 34 S. 3 GG, § 40 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 VwGO, § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG erstinstanzlich vor den Landgerichten geltend zu machen.

43 So wohl auch BGHZ 142, 51; BGH NVwZ 2001, 116 (118). 44 Dörner (Fn. 10), § 249 Rn. 4. 45 Vgl. dazu aus strafrechtlicher Sicht etwa BGH NStZ 2019, 144. 46 Oetker (Fn. 42), § 249 Rn. 20.

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Anfängerklausur: Die missglückte Cold-Water-Challenge* Von Wiss. Mitarbeiter Ass. iur. Patrick Pörtner, Osnabrück** Es handelt es sich um eine Klausur mit durchschnittlichen Anforderungen. Der Sachverhalt ist für eine Anfängerklausur allerdings ungewöhnlich umfangreich. In rechtlicher Hin-sicht ist der Prüfungsumfang jedoch überschaubar. Es geht insbesondere um typische Fragen des Fahrlässigkeitsdelikts und der Beihilfe. Die Besonderheit dieses Falles ist, dass der Prüfling die vielen Informationen zunächst erfassen muss, um anschließend selektieren zu können, welche Sachverhalts- informationen nur für das Verständnis des Geschehens rele-vant sind und welche Informationen tatsächlich bedeutsam für die rechtliche Begutachtung sind. Dies ist eine nicht zu unterschätzende Prüfungsleistung, welche insbesondere in ei- nigen Examensklausuren erwartet wird und daher schon früh geübt werden sollte. Sachverhalt A vermietet gewerbsmäßig Baumaschinen. 2017 erwarb er einen Teleskopradlader des Herstellers H. Neben dem einfa-chen Anheben der befestigten Schaufel ist auch ein hydrauli-sches Ausschieben des Teleskoparms zur Erzielung größerer Höhen bzw. zum Überbrücken größerer Abstände möglich. Durch H ist genau vorgegeben, welche Traglasten – u.a. in Abhängigkeit vom Hubwinkel – maximal beim Ausschieben des Teleskoparms bewältigt werden können, ohne dass der gesamte Radlader nach vorne kippt. Da die tatsächlich vor-handene Traglast durch den Fahrer nur eingeschränkt ab-schätzbar ist, existiert eine Überlastungswarneinrichtung. Diese Warneinrichtung ist in der Armatur des Führerhauses des Radladers verbaut. Sie zeigt mittels drei grün blinkender LED-Leuchten an, dass der Fahrer in einem gefahrlosen Lastenbereich arbeitet. Wird die Last weiter erhöht, z.B. durch das Ausschieben des Teleskops, blinken alle LEDs rot und es ertönt ein akustisches Signal. Dies soll dem Fahrer signalisieren, dass ein sofortiger Abbruch der Arbeitsvorgän-ge erforderlich ist, da andernfalls ein Nachvornekippen des Fahrzeugs droht. Im Sommer 2019 kam es zu einem Defekt, der dazu führte, dass seitdem die Überlastungswarneinrich-tung nicht mehr funktioniert. Dies erkannte auch der A. Nach einer Rücksprache mit einer Vertragswerkstatt des H ent-schied sich A aufgrund der hohen Kosten gegen eine Repara-tur der Anzeige.

Im April 2020 fragte F den A, ob er sich den Radlader für eine Aktion mit seinem Kegelklub leihen könnte, nachdem der Klub über WhatsApp für die Cold-Water-Challenge1 no-

* Der Fall wurde im Wintersemester 2019/20 an der Univer-sität Osnabrück im Rahmen der Vorlesung Strafrecht I als Wiederholungsklausur gestellt. Von insgesamt 142 Bearbei-tern erzielte einer die Note „vollbefriedigend“ (0,7 %), 15 die Note „befriedigend“ (10,56 %), 62 die Note „ausreichend“ (43,66 %), 60 Arbeiten waren „mangelhaft“ (42,25 %) und vier „ungenügend“ (2,82 %). Der Durchschnitt betrug 3,76 Punkte. Der Ausgangsfall ist angelehnt an AG Bocholt, Urt. v. 2.10.2015 – 3 Ds-30 Js 265/14-83/15 = BeckRS 2015, 19496.

miniert worden war. F plante die Schaufel des Radladers mit ca. 2.000 Liter Wasser zu befüllen, diese über seine elf „Kegelbrüder“ zu heben und dann über diesen abzukippen. Diesen Plan erzählte er auch dem A. A willigte – aufgrund der langen Freundschaft zu F – sofort ein und vermietete ihm den Radlader zu einem Freundschaftspreis. Er übergab F die Zündschlüssel und überließ ihm den Radlader, ohne F darauf hinzuweisen, dass die Überlastungsanzeige defekt ist und bei einem Ausfahren der Schaufel mit dem Inhalt von 2.000 Liter Wasser ein Nachvornekippen des Radladers drohen kann. Am 28.4.2020 hat sich der Kegelklub, wie geplant, auf einem privaten Grundstück an eine Bierzeltgarnitur gesetzt. F steu-erte den Radlader mit der mit Wasser gefüllten Schaufel langsam in Richtung der Kegelgruppe und fuhr, nachdem er vor der Gruppe zum Stehen gekommen war, die gefüllte Schaufel aus. Aufgrund des hierdurch veränderten Schwer-punkts des Fahrzeugs kippte der Radlader nach vorne und die Schaufel stürzte auf das Kegelklubmitglied K. Dieses Ge-schehen war für F, der selbst technisch sehr unerfahren ist und sich mit Radladern nicht auskennt, nicht vorhersehbar. K erlitt hierdurch einen Genickbruch und verstarb noch an der Unfallstelle. Abwandlung Anders als im Ausgangsfall entschied sich A im Sommer 2019 dazu, die Überlastungsanzeige reparieren zu lassen. F weiß, dass der Radlader bei Überlast nach vorne kippt. Er sieht daher in der Cold-Water-Challenge eine günstige Gele-genheit, sich des Mannschaftskapitäns K zu entledigen, an dessen Posten er schon lange interessiert ist. Er ist begeistert von der Idee, dass alles wie ein Unfall aussehen würde. F geht also zu A und bittet ihn um die Überlassung des Rad- laders für die Aktion. Dabei macht er gegenüber A mehrere eindeutige Andeutungen, dass er sich bei der Aktion mit dem Radlader des K entledigen möchte. A weiß daher genau, dass F den Radlader für die Tötung des K verwenden will. Den-noch überlässt er dem F das Fahrzeug, da ihm der Tod des K egal ist und er diesen billigt. Am 28.4.2020 fährt F mit dem Radlader – mit der bewusst mit zu viel Wasser gefüllten Schaufel – auf die Kegelgruppe zu und bleibt genau vor dem K stehen. Er fährt den Teleskoparm aus. Wie geplant kippt

** Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deut-sches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Interna-tionales Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung (Prof. Dr. Prof. h.c. Arndt Sinn) der Universität Osnabrück. 1 Bei dieser Challenge handelt es sich um eine Art Wettbe-werb, bei welchem die Teilnehmer über soziale Netzwerke zur Teilnahme herausgefordert werden, sich mit kaltem Was-ser zu übergießen und hiervon ein Video hochzuladen. Da-nach nominieren die Teilnehmer wiederum andere weitere Teilnehmer. Zumindest ursprünglich steckte hinter dieser Aktion die Idee auf die Nervenkrankheit ALS aufmerksam zu machen.

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der Radlader nach vorne und erschlägt den K, der sofort tot ist. Bearbeitervermerk Prüfen Sie jeweils die Strafbarkeit von A und F nach dem StGB. Die §§ 211, 224 und 303 StGB sind nicht zu prüfen. Ggf. erforderliche Strafanträge sind gestellt. Lösungsvorschlag Ausgangsfall I. Strafbarkeit des F nach § 222 StGB Indem F die mit 2.000 Liter Wasser befüllte Schaufel des Radladers ausfuhr, könnte er sich wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB strafbar gemacht haben.

Hinweis: Der Lösung wurde ein klassischer Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts zugrunde gelegt, der in der Tatbe-standsmäßigkeit nicht zwischen objektiven und subjekti-ven Merkmalen differenziert, sondern nur nach der objek-tiven Sorgfaltspflichtverletzung fragt. Die subjektive Sorg-faltspflichtverletzung wird innerhalb der Schuldhaftigkeit geprüft.2 Ebenso gut vertretbar ist es, einen alternativen Aufbau zu wählen, bei dem zwischen den objektiven und subjektiven Elementen der Tatbestandsmäßigkeit unterschieden wird. Danach wird auf der objektiven Tatseite die objektive Sorgfaltspflichtverletzung geprüft und auf der subjektiven Tatseite die individuelle Vorhersehbarkeit des Gesche-hens und die individuelle Vermeidbarkeit der Gefahr- tragung.3 Die Bearbeiter/-innen müssen aber konsequent bleiben und den einmal gewählten Aufbau jeder Fahrläs-sigkeitsprüfung innerhalb des Gutachtens zugrunde legen. Wie immer gilt, dass Aufbaufragen nicht zu erläutern sind.

1. Tatbestand a) Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges Der tatbestandliche Erfolg des § 222 StGB müsste eingetre-ten sein. K erlag noch an der Unfallstelle seinen Verletzun-gen, sodass der Tod eines Menschen als tatbestandsmäßiger Erfolg des § 222 StGB eingetreten ist. b) Kausalität Das Ausfahren der mit Wasser befüllten Schaufel müsste kausal für den Tod des K gewesen sein. Kausal ist jedes Ver-halten, das nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.4 Ohne das Aus-fahren der mit Wasser befüllten Schaufel wäre der Radlader

2 Einen solchen Aufbau empfiehlt auch Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2020, § 52 Rn. 11 f. 3 Vgl. hierzu z.B. Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2015, § 12 Rn. 190. 4 Roxin/Greco, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 5. Aufl. 2020, § 11 Rn. 6.

nicht nach vorne gekippt und hätte den K nicht erschlagen. F führte den Tatbestandserfolg kausal herbei. c) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorher-sehbarkeit des Erfolges F müsste objektiv sorgfaltspflichtwidrig gehandelt, also die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen haben.5 Eine Sorgfaltspflichtverletzung könnte hier in dem Ausfahren der mit 2.000 Liter Wasser befüllten Schaufel des Radladers über eine Gruppe von Menschen liegen.

Die allgemeinen Sorgfaltsregeln können sich aus geschrie-benen Sondernormen und ungeschrieben Regeln ergeben.6 Fehlen – wie hier – geschriebene Sonderregelungen, so muss auf die ungeschriebenen Sorgfaltsregeln der Verkehrsgepflo-genheiten und insoweit auf die Maßstabsfigur des besonnen- en und gewissenhaften Menschen aus dem Verkehrskreis des Täters abgestellt werden.7 Eine Konkretisierung liefern hier-bei allgemeine Erfahrungssätze und die Verkehrssitte.8 Das Ausfahren der Schaufel eines Radladers mit einem Gewicht von mehr als zwei Tonnen über einer Gruppe von Menschen, die keine entsprechende Schutzkleidung wie z.B. Helme tragen, birgt erhebliche Unfallgefahren. Es entspricht nicht den allgemeinen Verkehrsgepflogenheiten, mit derart schwe-rem Gerät unmittelbar über den ungeschützten Köpfen von Menschen zu agieren, sodass F die im Verkehr erforderliche Sorgfalt verletzt hat. Ferner folgt aus den allgemeinen Regeln der Technik, jedenfalls aber aus allgemeinen Erfahrungs- sätzen eines Menschen aus dem Verkehrskreis des F, dass es beim Ausfahren einer schwer beladenen Schaufel zu einer Schwerpunktverlagerung des Radladers kommen kann, was auch zu einem Umkippen des Fahrzeugs und dadurch zu einem Erschlagen eines sich unter dem Gerät befindenden Menschen führen kann. Folglich war der Erfolg für F auch objektiv vorhersehbar. F handelte somit objektiv sorgfalts-pflichtwidrig.

Hinweis: Hier ist auch eine a.A. gut vertretbar. Der Sach-verhalt enthält hier kaum Angaben zu dem Verkehrskreis des F, sodass hier auf einen „Normalmenschen“ abgestellt werden musste.9 Es ließ sich an dieser Stelle aber auch gut anführen, dass es für einen technisch nicht vorgebilde-ten Menschen objektiv nicht vorhersehbar ist, dass der Radlader hier nach vorne kippen und einen Menschen er-schlagen konnte.

d) Objektive Zurechnung Der tatbestandliche Erfolg muss F auch objektiv zurechenbar sein. Hierfür müsste sich eine durch die Handlung des F

5 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 52 Rn. 15; Roxin/Greco (Fn. 4), § 24 Rn. 8. 6 Rengier (Fn. 2), § 52 Rn. 16. 7 Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 17 Rn. 25; Rengier (Fn. 2), § 52 Rn. 18; Roxin/Greco (Fn. 4), § 24 Rn. 34. 8 Rengier (Fn. 2), § 52 Rn. 18. 9 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 52 Rn. 15.

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gesetzte, rechtlich missbilligte Gefahr in dem konkreten tat-bestandlichen Erfolg verwirklicht haben.10 F hat, indem er die mit Wasser befüllte Schaufel über dem K ausfuhr, eine recht-lich missbilligte Gefahr für das Leben des K geschaffen. Allerdings könnte hier der Zurechnungszusammenhang un-terbrochen worden sein. Dies wäre der Fall, wenn K sich eigenverantwortlich selbst gefährdet hätte.11 In Betracht kommt eine solche Selbstgefährdung dadurch, dass K sich freiwillig an die Bierzeltgarnitur gesetzt hatte und mit der Teilnahme an der Cold-Water-Challenge einverstanden war. Voraussetzung für eine eigenverantwortliche Selbstgefähr-dung ist, dass die Selbstgefährdungsentscheidung autonom, also frei verantwortlich erfolgt ist.12 Die Freiverantwortlich-keit entfällt, wenn der Selbstschädigungsakt, ginge es um des-sen Strafbarkeit, entsprechend den §§ 19, 20, 35 StGB, § 3 JGG entschuldigt wäre oder die Selbstgefährdungsentschei-dung nach Einwilligungsregeln unwirksam wäre.13 Erforder-lich ist jedenfalls, dass das Opfer die Gefahr kennt und sich dieser bewusst aussetzt.14 Dies war hier nicht der Fall. Zwar nahm K freiwillig an der Challenge teil und setzte sich dazu aus freien Stücken an die Bierzeltgarnitur, allerdings kannte er nicht die mit dieser Handlung einhergehende Lebens- gefahr. K wusste nicht, dass er durch diese „Spaßaktion“ sein Leib oder Leben ernsthaft gefährden würde. Mithin ist der Zurechnungszusammenhang nicht aufgrund einer eigenver-antwortlichen Selbstgefährdung des K durchbrochen; viel-mehr hat gerade die von F geschaffene Gefahr sich realisiert und der tatbestandliche Erfolg ist dem F objektiv zurechen-bar. 2. Rechtswidrigkeit F müsste auch rechtswidrig gehandelt haben. Dies ist der Fall, wenn die Handlung des F nicht gerechtfertigt ist.15 Hier kommen keine Rechtfertigungsgründe für das Verhalten des F in Betracht. Insbesondere ist sein Handeln nicht durch eine (mutmaßliche) Einwilligung des K gedeckt. Aus dem Um-kehrschluss aus § 216 StGB ergibt sich, dass das Leben kein disponibles Rechtsgut ist und somit eine Verletzung dieses Rechtsgutes nicht durch die Regeln der Einwilligung gerecht-fertigt werden kann. F handelte mithin rechtswidrig. 3. Schuldhaftigkeit F müsste auch subjektiv sorgfaltspflichtwidrig gehandelt und subjektiv den Erfolg vorausgesehen haben. F ist technisch sehr unerfahren und kennt sich mit Radladern nicht aus. Das

10 Vgl. Kühl (Fn. 7), § 4 Rn. 43; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 67. Aufl. 2020, Vor § 13 Rn. 25 m.w.N. 11 Zu dieser Fallgruppe vgl. nur Frister, Strafrecht, Allgemei-ner Teil, 8. Aufl. 2018, Kap. 10 Rn. 17 ff.; Roxin, NStZ 1984, 410 (411); Otto, Jura, 1984, 541. 12 Frister (Fn. 11), Kap. 10 Rn. 17. 13 Rengier (Fn. 2), § 13 Rn. 80; Kühl (Fn. 7), § 4 Rn. 88; Roxin, NStZ 1984, 410 (412). 14 Kühl (Fn. 7), § 4 Rn. 86. 15 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 17 Rn. 1.

Geschehen, welches zum Tod des K führte, war für ihn nicht voraussehbar und ihm damit auch nicht individuell vorwerf-bar. F handelte also nicht schuldhaft.

Hinweis: Aufgrund der eindeutigen Angaben im Sachver-halt ist an dieser Stelle – anders als bei der objektiven Sorgfaltspflichtwidrigkeit – ein anderes Ergebnis nicht vertretbar.

4. Ergebnis Folglich hat sich F nicht der fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB strafbar gemacht. II. Strafbarkeit des A nach § 222 StGB Indem A dem F den Radlader für die Cold-Water-Challenge zur Verfügung stellte, obwohl er wusste, dass die Überlas-tungsanzeige nicht funktionierte und er den F hierauf nicht hinwies, könnte er sich wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB strafbar gemacht haben. 1. Tatbestand a) Abgrenzung von Tun und Unterlassen Als Anknüpfung für eine Strafbarkeit kommen sowohl das Überlassen des Radladers (= Tun) als auch das Nichthinwei-sen auf die defekte Überlastungswarneinrichtung und die Ge- fahr des Nachvornekippens des Radladers bei Überlast (= Un- terlassen) in Betracht. Hier zeigt sich das ambivalente Ver-halten von Fahrlässigkeitstätern. Denn jede fahrlässige Bege-hung setzt ein Unterlassen der erforderlichen Sorgfaltshand-lung voraus und ist somit durch ein Unterlassungsmoment geprägt.16 Fraglich ist daher, ob für die strafrechtliche Bewer-tung das Tun oder das Unterlassungselement entscheidend ist.17 Die Kriterien für die Abgrenzung sind umstritten.18

Eine in der Literatur verbreitete Ansicht stellt auf das Kri-terium des Energieeinsatzes ab.19 Danach tut jemand etwas, wenn er Energie in eine bestimmte Richtung aufwendet, da- gegen unterlässt derjenige etwas, der keine Energie in eine bestimmte Richtung einsetzt.20 Hier wendet A Energie in Richtung des F auf, als er diesem die Zündschlüssel übergab und ihm den Radlader überließ. Folglich ist nach dieser An-sicht die Strafbarkeit an ein aktives Tun und nicht an ein Unterlassen anzuknüpfen.

Die Rechtsprechung nimmt zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen – unter teilweiser Zustimmung der Literatur21 –

16 Rengier (Fn. 2), § 48 Rn. 13. 17 Weitere Übungsfälle zu dieser Fragestellung: Seier, JuS 1984, 707 ff.; Bühler, Jura 1989, 651 ff. 18 Problemübersicht bei Engisch, in: Lackner u.a. (Hrsg.), Festschrift Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag am 22. Juli 1973, 1973, S. 163 ff. 19 Vgl. als Begründer dieses Kriteriums Engisch (Fn. 18), S. 170; Kühl (Fn. 7), § 18 Rn. 15; Roxin, Strafrecht, Allge-meiner Teil, Bd. 2, 3. Aufl. 2003, § 31 Rn. 78. 20 Kühl (Fn. 7), § 18 Rn. 15. 21 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 48 Rn. 10; Fischer (Fn. 10) § 13 Rn. 5; Bosch, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kom-

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eine wertende Betrachtung vor, die auf den „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ abstellt.22 Danach ist zu fragen, „wo bei normativer Betrachtung und bei Berücksichtigung des sozia-len Handlungssinns der Schwerpunkt des strafrechtlich rele-vanten Verhaltens liegt“.23 A ist bei normativer Betrachtung schwerpunktmäßig vorzuwerfen, dass er dem F die Zünd-schlüssel ausgehändigt und den Radlader mit der defekten Überlastungsanzeige überlassen hat, obwohl dieser keine Arbeitserfahrung mit einem Radlader hat. Hingegen kann ihm nicht in erster Linie vorgeworfen werden, dass er die Reparatur der Anzeige unterlassen hat (hier trifft ihn diesbe-züglich schon keine Reparaturpflicht) oder bei der Überlas-sung des Radladers nicht auf die defekte Anzeige hingewie-sen hatte. Folglich liegt der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens auf dem Überlassen des Radladers, sodass nach dieser Ansicht ebenfalls die Strafbarkeit an ein aktives Tun anzuknüpfen ist.

Eine weitere Ansicht stellt auf das Kriterium der Kausali-tät im Sinne einer gesetzmäßigen Bedingung ab.24 Danach tut etwas, wer die Außenwelt durch eine kausale Einwirkung ver- ändert und unterlässt etwas, wenn er den Dingen seinen Lauf lässt.25 Hier hat A den Dingen nicht einfach seinen Lauf ge-lassen, sondern vielmehr die Außenwelt verändert, indem er F den Radlader überließ und für die Cold-Water-Challenge zur Verfügung stellte. Folglich ist auch nach dieser Ansicht die Strafbarkeit an das Überlassen des Radladers und somit an ein aktives Tun anzuknüpfen. Mithin kommen alle An-sichten zum selben Ergebnis, sodass es hier keiner Stellung-nahme bedarf.

Hinweis: Nur von sehr guten Bearbeiter/-innen ist die Er-örterung dieses Problems in dieser Breite zu erwarten; erwartet werden darf aber, dass erkannt wird, dass mehre-re Verhaltensweisen für eine Anknüpfung der Strafbarkeit in Betracht kommen und eine Abgrenzung zwischen Tun

mentar, 30 Aufl. 2019, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 158a; Wessels/ Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 49. Aufl. 2019, § 19 Rn. 1160; Eschelbach, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, 45. Ed., Stand: 1.2.2020, § 222 Rn. 5; kritisch: Freund, in: Erb/Schä- fer (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2020, § 13 Rn. 5; Kühl (Fn. 7), § 18 Rn. 7; Frister (Fn. 11), Kap. 22 Rn. 12; Gaede, in: Kindhäuser/Neu- mann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017; § 13 Rn. 7; Stoffers, JuS 1993, 23 (27). 22 Vgl. nur BGHSt 6, 46 (59); 51, 165 (173); BGH NStZ 2003, 657; BGH NJW 2010, 1087 (1090, 1092); BGH NJW 2015, 96 (100); Mezger, JZ 1958, 280 (281); Bosch (Fn. 20), Vor-bem. §§ 13 ff. Rn. 158a m.w.N. 23 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 21), § 19, Rn. 1160; Kühl (Fn. 7), §18 Rn. 14. 24 Samson, in: Stratenwerth/Kaufmann/Schreiber (Hrsg.), Fest-schrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag, 1974, S. 579 (595); Stoffers, JuS 1993, 262 ff.; Röhl, JA 1999, 895 (899 f.); Kühl (Fn. 7), § 18 Rn. 15. 25 Vgl. Gropp (Fn. 3), § 11 Rn. 126; Kühl (Fn. 7), §18 Rn. 15.

und Unterlassen vorzunehmen ist. Eine Anknüpfung an ein Unterlassen ist hier nur sehr schwer vertretbar.

b) Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges Der tatbestandsmäßige Erfolg des § 222 StGB ist mit dem Tod des K eingetreten. c) Kausalität Hätte A den Radlader nicht dem F überlassen, hätte dieser ihn nicht bei der Cold-Water-Challenge eingesetzt und dieser wäre nicht auf K gefallen. Folglich ist das Überlassen des Radladers auch kausal für den Tod des K geworden. d) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorher-sehbarkeit des Erfolges A müsste objektiv sorgfaltspflichtwidrig gehandelt, also die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen haben. A könnte sorgfaltspflichtwidrig gehandelt haben, indem er F den Radlader für die Cold-Water-Challenge überließ, obwohl er wusste, dass die Überlastungsanzeige nicht funktionierte und er F nicht hierauf sowie auf die Gefahr des Nach-vorne-Kippens des Radladers bei Überlast hinwies. Fehlen – wie hier – geschriebene Sonderregelungen, so muss auf die unge-schriebenen Sorgfaltsregeln der Verkehrsgepflogenheiten und insoweit auf die Maßstabsfigur des besonnenen und gewis-senhaften Menschen aus dem Verkehrskreis des Täters abge-stellt werden. Bei dem Teleskopradlader handelt es sich um eine abstrakte Gefahrenquelle.26 Unter Zugrundelegung der Maßstabsfigur eines besonnenen und gewissenhaften Men-schen muss an diesen der Anspruch gestellt werden, dass dieser Sorge dafür trägt, dass diese Gefahrenquelle einwand-frei funktioniert, wenn er sie verleiht oder vermietet.27 Zudem entspricht es nicht den Verkehrsgepflogenheiten, ein derart schweres Arbeitsgerät einer Person – hier dem F – zu über-lassen, die nicht über einschlägige Erfahrung oder einen entsprechenden Führerschein hierfür verfügt.28 Folglich hätte A, um die im Verkehr erforderliche Sorgfalt zu wahren, den F zumindest bei der Überlassung des Radladers auf die defekte Überlastungsanzeige hinweisen und sich der Eignung des F zum Führen des Radladers vergewissern müssen. Das gilt ins- besondere auch, da dem A bewusst war, dass F die schwer befüllte Schaufel über Personen heben wollte, um auf diese Weise an der Cold-Water-Challenge teilzunehmen.29 Unter diesen Umständen war der tatbestandliche Erfolg auch objek-tiv vorhersehbar. Folglich handelte A mit der Überlassung des Radladers an F objektiv sorgfaltspflichtwidrig. Eine Täter-schaft des A ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil nicht er, sondern F die unmittelbar zum Tod des K führende Hand-lung vorgenommen hat. Täter im Sinne des § 222 StGB kann

26 Vgl. AG Bocholt BeckRS 2015, 19496. 27 AG Bocholt BeckRS 2015, 19496. 28 Auf diesen Fahrlässigkeitsvorwurf weist auch Rathgeber in seiner Urteilsanmerkung zu AG Bocholt FD-StR 2015, 374566 zutreffend hin. 29 So auch AG Bocholt BeckRS 2015, 19496.

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auch derjenige sein, der gefährliche Gegenstände überlässt oder in den Verkehr bringt.30 e) Objektive Zurechnung Der tatbestandliche Erfolg ist dem A auch objektiv zuzurech-nen. Indem er dem F den defekten Radlader überlassen hat, ohne dessen Eignung als Führer des Geräts zu überprüfen, hat A eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen, welche sich in dem Tod des K realisiert hat. 2. Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit A handelte rechtswidrig. A müsste ferner subjektiv sorgfalts-pflichtwidrig gehandelt haben und der Erfolg müsste für ihn auch subjektiv vorhersehbar gewesen sein. A wusste um die Gefahr des Nachvornekippens des Radladers bei Überlast und um die defekte Überlastanzeige. Zudem war A auch bewusst, wie der unerfahrene F den Radlader einsetzen will, sodass A subjektiv voraussehen konnte, dass bei der Cold-Water-Challenge jemand erheblich zu Schaden kommen könnte. Mithin handelte A auch schuldhaft. 3. Ergebnis A hat sich der fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB strafbar gemacht. Abwandlung I. Strafbarkeit des F nach § 212 Abs. 1 StGB Indem F die mit zu viel Wasser befüllte Schaufel des Rad- laders ausfuhr, könnte er sich wegen Totschlags nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben. 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand aa) Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges K ist tot, sodass der tatbestandliche Erfolg des § 212 Abs. 1 StGB eingetreten ist. bb) Kausalität Das Ausfahren der mit Wasser befüllten Schaufel müsste auch kausal für den Tod des K geworden sein. Ohne das Ausfahren der mit Wasser befüllten Schaufel wäre der Rad-lader nicht nach vorne gekippt und hätte den K nicht erschla-gen, sodass F den Tatbestandserfolg kausal herbeiführte. cc) Objektive Zurechnung Zudem müsste der Erfolg dem F auch objektiv zurechenbar sein. Durch das Ausfahren der schweren Schaufel über dem Kopf des K setzte F eine rechtlich missbilligte Gefahr, wel-che sich in dem Tod des K realisiert hat. Der Taterfolg ist dem F auch objektiv zuzurechnen.

30 AG Bocholt BeckRS 2015, 19496; Fischer (Fn. 10), § 222 Rn. 32; Eschelbach (Fn. 21), § 222 Rn. 34.

b) Subjektiver Tatbestand F müsste vorsätzlich gehandelt haben. Vorsätzlich handelt der Täter, wenn er mit Wissen und Wollen hinsichtlich der Verwirklichung der objektiven Elemente der Tatbestandsmä-ßigkeit handelt.31 F wusste, dass der Radlader beim Ausfah-ren der mit Wasser befüllten Schaufel nach vorne kippen und den K erschlagen würde. Ihm kam es auch genau hierauf an, sodass er mit Absicht (dolus directus 1. Grades)32 handelte. 2. Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit Ein Rechtfertigungsgrund kommt für das Verhalten des F nicht in Betracht, mithin handelte F rechtswidrig. F handelte auch schuldhaft. 3. Ergebnis F hat sich des Totschlags nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Die durch dieselbe Handlung ebenfalls verwirklich-te Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB tritt dahinter im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück.33 II. Strafbarkeit des A nach §§ 212 Abs. 1, 27 Abs. 1 StGB Indem A dem F den Radlader für die Cold-Water-Challenge zur Verfügung stellte, könnte er sich wegen Beihilfe zum Totschlag nach §§ 212 Abs.1, 27 Abs. 1 StGB strafbar ge-macht haben. 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand aa) Vorliegen einer teilnahmefähigen, vorsätzlichen, rechts-widrigen Haupttat Eine teilnahmefähige, rechtswidrige Haupttat liegt mit dem durch F vorsätzlich verwirklichten Totschlag (§ 212 Abs. 1 StGB) vor. bb) Hilfe leisten A könnte F, indem er ihm den Radlader zur Verfügung stellte, zur Begehung des Totschlag Hilfe geleistet haben. Hilfeleis-ten ist jedes Verhalten, welches die Rechtsgutsverletzung des Haupttäters ermöglicht, verstärkt oder die Durchführung der Tat erleichtert.34 Umstritten ist, welche Anforderungen an die konkrete Hilfeleistung zu stellen sind. Nach ständiger Recht-sprechung reicht jede Förderung der Haupttat aus.35 Hinge-gen wird in der Literatur überwiegend gefordert, dass sich die Hilfeleistung auch kausal bei der Begehung der Haupttat

31 Gropp (Fn. 3), § 3 Rn. 116; Roxin/Greco (Fn. 4), § 12 Rn. 4; BGH, Urt. v. 4.11.1988 – 1 StR 262/88 = NJW 1989, 781. 32 Zu dieser Vorsatzform vgl. Gropp (Fn. 3), § 4 Rn. 159. 33 So nach der Einheitstheorie der h.M. vgl. nur Fischer (Fn. 10), § 211 Rn. 106 m.w.N. 34 BGH NStZ 1985, 318; Rengier (Fn. 2), § 45 Rn. 82; Gep-pert, Jura 2007, 589 (590); Kühl (Fn. 7), § 20 Rn. 215. 35 Vgl. nur: BGHSt 42, 135, 136; 46, 107 (109); BGH NStZ 2001, 364; BGH NJW 2007, 384 (388); BGH NStZ 2008, 284; BGH NJW 2017, 498 (499).

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ausgewirkt haben muss.36 Hätte A dem F den Radlader nicht überlassen, hätte dieser den K damit nicht erschlagen können, sodass A die Tat des F auf diese Weise erst ermöglicht hat. Die Hilfeleistung des A hat sich damit auch kausal im Sinne der Äquivalenztheorie bei der Begehung der Haupttat ausge-wirkt. Mithin hat sich das Überlassen des Radladers nach beiden Ansichten hinreichend bei der Begehung der Haupttat ausgewirkt, sodass der Streit dahinstehen kann. A hat dem F bei der Begehung der Haupttat Hilfe geleistet.

Hinweis: Teilweise wird in der Literatur neben37 oder an-stelle38 der Kausalität auch noch eine Risikoerhöhung ver-langt. Auch diese Ansichten kommen hier zum selben Er-gebnis. Für eine gute Bearbeitung genügt es hier jedoch, dass die Bearbeiter nur die Ansicht der Rspr. und h.L. kurz darstellen, da hier kein Klausurschwerpunkt liegt.

b) Subjektiver Tatbestand A müsste mit dem doppelten Teilnehmervorsatz, also mit Vorsatz bzgl. der Haupttat und seiner Hilfeleistung gehandelt gehabt haben.39 aa) Vorsatz bzgl. der Haupttat A wusste aufgrund der eindeutigen Andeutungen des F ge-nau, dass dieser den K bei der Cold-Water-Challenge mit Hilfe des Radladers töten wollte. Dennoch überließ A dem F den Radlader für seine Aktion. Er fand sich dabei mit dem (möglichen) Tod des K ab und akzeptierte diesen, da ihm das Leben des K gleichgültig war. A nahm dabei den Tod des K zumindest billigend in Kauf, sodass er Eventualvorsatz (dolus eventualis) bzgl. der Haupttat hatte. bb) Vorsatz bzgl. des Hilfeleistens A wusste, dass F den Radlader zur Tötung des K verwenden wollte. Trotzdem überließ er diesem freiwillig das Fahrzeug für dessen Zwecke. Mithin hatte A auch Vorsatz bzgl. seiner Hilfeleistung. c) Problem der Beihilfe durch ein unverdächtiges („neutra-les“) Verhalten40

Hinweis: Dieses Problem lässt sich an verschiedenen Stel-len im Aufbau des Gutachtens diskutieren.41 Hier wurde ein Aufbau gewählt, in welchem zunächst geprüft wird, ob man nach den allgemeinen Kriterien überhaupt zu ei-ner Bejahung einer objektiv und subjektiv tatbestandsmä-ßigen Beihilfe kommt, um sodann die Frage aufzuwerfen,

36 Siehe nur Kühl (Fn. 7), § 20 Rn. 214 ff. insb. Rn. 220 m.w.N. 37 So z.B. Roxin (Fn. 20), § 26 Rn. 210 ff. 38 So Schaffstein, in: Festschrift für Richard M. Honig zum 80. Geburtstag, 1970, S. 169. 39 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 45 Rn. 114, 44. 40 Eine gute Übersicht zu diesem Problem z.B. bei Putzke, ZJS 2014, 635 ff. 41 Vgl. dazu auch Rotsch, Jura 2004, 14 ff.

ob sich unter dem Aspekt der „neutralen Beihilfe“ etwas anderes ergibt.42

Das Überlassen des Radladers von A an F stellt ein äußerlich unverdächtiges, berufstypisches („neutrales“)43 Verhalten des A dar. Fraglich ist, ob dies etwas an der strafrechtlichen Be-wertung der Beihilfe ändert. Eine strafrechtliche Privilegie-rung solcher berufstypischer Alltagshandlungen lässt sich zu- mindest im Hinblick auf die von Art. 12 GG besonders ge-schützte Freiheit der Berufswahl und Berufsausübung44 aber auch aufgrund der allgemeinen Handlungsfreiheit erwägen.45

Umstritten ist allerdings, ob die Strafbarkeit bei diesen neutralen berufstypischen Handlungen beschränkt werden sollte und, wenn ja, nach welchen Kriterien.

Nach einer Auffassung kommt in den Fällen von berufs-typischen Handlungen eine Beschränkung der Strafbarkeit generell nicht in Betracht, sondern es seien vielmehr die all- gemeinen Regeln anzuwenden, allerdings mit einer sehr kriti-schen Vorsatzprüfung.46 Hier wusste A, dass F den Radlader für die Tötung des K verwenden würde, wenn er ihm diesen vermietet und überlässt. Auch fand er sich mit dem Tod des K ab, da ihm dieser schlicht egal war. Mithin kommt nach dieser Auffassung eine Beschränkung der Strafbarkeit der Beihilfenhandlung des A nicht in Betracht.

Mehrheitlich besteht jedoch Einigkeit über die Notwen-digkeit der Beschränkung der Strafbarkeit berufsbedingten Verhaltens, allerdings sind die „richtigen“ Kriterien einer Einschränkung umstritten.

Hinweis: Der Meinungsstand zu den „richtigen“ Kriterien einer Einschränkbarkeit ist äußerst umfangreich und be-steht aus einer kaum überblickbaren Fülle von Vorschlä-gen. Für eine gute Bearbeitung genügt es daher an dieser Stelle, wenn die Bearbeiter/-innen die Problematik auf-zeigen und objektive und subjektive Lösungsvorschläge diskutieren.

Objektive Ansätze knüpfen insbesondere an die Lehre der objektiven Zurechnung an und wollen solche berufstypischen Handlungen ausschließen, von denen keine rechtlich missbil-ligte Gefahr ausgeht.47 In diesem Zusammenhang werden verschiedene Kriterien wie das erlaubte Risiko, die „professi-onelle Adäquanz“ und die Sozialadäquanz herangezogen.48 A hat dem F den Radlader für die Cold-Water-Challenge über-lassen. Bei dieser wurde die schwer beladene Schaufel des Radladers über den Köpfen einer Gruppe von Menschen aus- gefahren. Dies ist weder sozialadäquat noch hält es sich in

42 Diesen Aufbau empfiehlt auch Rengier (Fn. 2), § 45 Rn. 113. 43 Zur Eignung des Begriffs der „neutralen Handlung“ vgl. Fischer (Fn. 10), § 27 Rn. 17. 44 Putzke, ZJS 2014, 635 (636); Rengier (Fn. 2), § 45 Rn. 104. 45 Kudlich, JZ 2000, 1178 (1179); Putzke, ZJS 2014, 635 (636). 46 So etwa Beckkemper, Jura 2001, 163 (169); Krey/Esser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2016, Rn. 1086 ff. 47 Rengier (Fn. 2), § 45 Rn. 104. 48 Putzke, ZJS 2014, 635 (636); Rengier (Fn. 2), § 45 Rn. 105.

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Anfängerklausur: Die missglückte Cold-Water-Challenge STRAFRECHT

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den Grenzen des grundsätzlich erlaubten Risikos (vgl. dazu bereits oben), sodass durch das Überlassen des Radladers objektiv eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen wurde. Mithin kommt auch hiernach eine Beschränkung der Straf-barkeit der Beihilfenhandlung des A nicht in Betracht.

Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Abgrenzung eines strafbaren von einem straflosen Verhalten im Wesentli-chen ein Problem des subjektiven Tatbestands.49 Nach dieser Ansicht bedarf es einer bewertenden Betrachtung im Einzel-fall.50 Es wird an das Kriterium eines „deliktischen Sinnbe-zugs“ angeknüpft.51 Eine an sich neutrale berufstypische Hand-lung verliert ihren „Alltagscharakter“, wenn das Handeln des Haupttäters auf die Begehung einer strafbaren Handlung ab- zielt und der Hilfeleistende dies positiv weiß.52 Hält dagegen der Hilfeleistende es lediglich für möglich, dass sein Tun zur Begehung einer Straftat genutzt wird, so liegt hiernach eine Beihilfe nur dann vor, wenn er im Hinblick auf das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens einen objektiv erkenn-bar tatgeneigten Täter unterstützt.53 Hier wusste A im Sinne eines dolus directus 2. Grades genau, dass F den Radlader für die Tötung des K benutzen würde, wenn er ihm diesen über-lässt. Trotzdem hat er dem F den Radlader für dessen Zwecke überlassen. Dies führt hier zu einer Solidarisierung mit dem F und kann nicht mehr als sozialadäquat angesehen werden. Mithin kommt auch nach dieser Auffassung eine Beschrän-kung der Strafbarkeit der Beihilfenhandlung des A nicht in Betracht.

Folglich kommen alle Auffassungen zum selben Ergeb-nis, sodass es hier keiner Stellungnahme bedarf. Es liegt eine strafbare Beihilfenhandlung des A vor.

Hinweis: In der Fallbearbeitung besteht generell ein gro-ßes Risiko, dass das besondere Problem der neutralen Beihilfe übersehen wird, da es häufig – wie auch in die-sem Fall – verhältnismäßig unauffällig auftaucht. Positiv kann daher bereits berücksichtigt werden, wenn die Bear-beiter die Problematik überhaupt erkennen und eigenstän-dig argumentieren.

2. Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit A handelte rechtswidrig und auch schuldhaft. 3. Ergebnis A hat sich der Beihilfe zum Totschlag nach §§ 212 Abs. 1, 27 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

49 Fischer (Fn. 10) § 27 Rn. 18 m.w.N. 50 Fischer (Fn. 10) § 27 Rn. 18. 51Roxin (Fn. 20), § 26 Rn. 218 ff. 52 BGH NStZ 2000, 34; BGH NStZ 2001, 364; BGH NStZ 2004, 41; Fischer (Fn. 10) § 27 Rn. 18a; Kühl (Fn. 7), § 20 Rn. 222a f.; Wohlers, NStZ 2000, 169. 53 Rengier (Fn. 2), § 45 Rn. 111.

Gesamtergebnis A hat sich im Ausgangfall der fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB und in der Abwandlung der Beihilfe zum Tot-schlag nach §§ 212 Abs. 1, 27 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. F ist im Ausgangsfall straflos. In der Abwandlung hat er sich nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

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EuGH, Urt. v. 17.1.2019 – C-310/16 Böse _____________________________________________________________________________________

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E n t s c h e i d u n g s b e s p r e c h u n g

Nationale Beweisverwertungsverbote und unionsrechtli-ches Effektivitätsgebot Art. 325 Abs. 1 AEUV ist im Licht der EU-Grundrechte-Charta dahin auszulegen, dass er nicht – im Hinblick auf den Grundsatz der Wirksamkeit der Strafverfolgung wegen Mehrwertsteuerstraftaten – der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach Beweismittel wie Telefonüberwachungen, die einer vorherigen richter-lichen Anordnung bedürfen, in einem Strafverfahren nicht verwertet werden dürfen, wenn diese Anordnung von einem unzuständigen Gericht erlassen wurde. (Leitsatz des Verf.) Art. 325 AEUV EuGH, Urt. v. 17.1.2019 – C-310/16 (Dzivev u.a.)1 I. Einleitung Im Urteil zum Griechischen Mais-Skandal hatte der EuGH vor dreißig Jahren aus der allgemeinen Loyalitätspflicht (Art. 4 Abs. 3 EUV bzw. vormals Art. 5 EWGV) eine Ver-pflichtung der Mitgliedstaaten abgeleitet, Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu ahnden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht (Gleichbehandlungsgebot bzw. Äquivalenzprinzip), da- bei aber jedenfalls wirksame, verhältnismäßige und abschre-ckende Sanktionen zu verhängen (Effektivitätsgebot).2 Diese Pflichten wurden mit dem Vertrag von Maastricht in das Primärrecht übernommen und finden sich seit dem Lissabon-ner Reformvertrag in Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV. Das Urteil war zugleich Ausgangspunkt für die Entstehung des Übereinkommens über den Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der EU3 (SFI-Übereinkommen) und seiner drei Zusatzprotokolle4, die im Jahr 2017 auf der

1 Die Entscheidung ist online abrufbar unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=F827201A44E0387EDFCA84F62E003893?text=&docid=209925&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=18458331 sowie veröffentlicht in BeckRS 2019, 103 und wistra 2019, 138 (Ls.). 2 EuGH, Urt. v. 21.9.1989 – 68/88 (Griechischer Mais), NJW 1990, 2245 (2246). 3 Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der EU vom 26.7.1995, BGBl. II 1998, S. 2324. 4 Protokoll vom 27.9.1996, BGBl. II 1998, S. 2342; Protokoll vom 29.11.1996 betreffend die Auslegung des Übereinkom-mens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europä-ischen Gemeinschaften durch den Gerichtshof der Europäi-schen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung, BGBl. II 2000, S. 814; Zweites Protokoll vom 19.6.1997 zur Bekämpfung der Geldwäsche, BGBl. II 2002, S. 2723.

Grundlage von Art. 83 Abs. 2 AEUV in eine EU-Richtlinie5 überführt wurden. Der Schwerpunkt des Übereinkommens bzw. der Richtlinie liegt dabei auf der Angleichung des mate-riellen Strafrechts; für das Strafverfahrensrecht ist es hin- gegen im Wesentlichen bei den allgemeinen Vorgaben nach Art. 325 AEUV geblieben.6 Um die Reichweite dieser Vor-gaben und die Folgen, die sich daraus für das nationale Straf-verfahrensrecht ergeben, geht es in der vorliegenden Ent-scheidung. II. Sachverhalt Ausgangspunkt der Entscheidung des EuGH ist ein Straf- verfahren in Bulgarien, das gegen Herrn Dzivev und andere Beschuldigte wegen organisierten Umsatzsteuerbetruges ge- führt wurde und in dem auf Antrag der Strafverfolgungs- behörden eine Telefonüberwachung angeordnet und durch- geführt wurde. In der Hauptverhandlung stellte sich heraus, dass die Überwachungsmaßnahme nicht von dem dafür zu-ständigen spezialisierten Strafgericht, sondern vom vormals zuständigen Stadtgericht Sofia angeordnet worden war; zudem enthielt keine der Anordnungen eine Begründung. Das Straf-gericht hielt die gegen Herrn Dzivev im Rahmen der Telefon- überwachung erlangten Beweismittel aus diesem Grund für unverwertbar und wäre infolgedessen, da dem Angeklagten seine Tatbeteiligung nicht auf andere Weise nachgewiesen werden konnte, zu einem Freispruch gelangt. Das Gericht hatte insoweit allerdings unionsrechtliche Bedenken, da die Annahme eines Verwertungsverbotes und der daraus resultie-rende Freispruch möglicherweise gegen die unionsrechtliche Pflicht zur wirksamen Verfolgung von Straftaten gegen die finanziellen Interessen verstoßen hätte, und legte dem EuGH diese Frage nach Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vor.7 III. Entscheidung Der EuGH stellte zunächst fest, dass die Eigenmittel der Union auch einen festen Anteil am Umsatzsteueraufkommen der Mitgliedstaaten umfassten und die Umsatzsteuerhinter-ziehung damit (auch) gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtet sei, so dass die unionsrechtlichen Pflichten aus Art. 325 AEUV und dem SFI-Übereinkommens Anwen-dung fänden.8 Wenngleich das Unionsrecht für das Straf- verfahrensrecht keine näheren Vorgaben enthalte und es da- mit grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen bleibe, das Strafverfahren einschließlich der Beweiserhebung und -ver- wertung zu regeln (institutionelle und verfahrensrechtliche Autonomie der Mitgliedstaaten), müssten diese doch sicher-stellen, dass das Strafverfahrensrecht eine wirksame Verfol-gung von Straftaten gegen die finanziellen Interessen der

5 Richtlinie 2017/1371/EU vom 5.7.2017 über die strafrecht-liche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug, ABl. EU L 198 vom 28.7.2017, S. 29. 6 Vgl. nunmehr aber die Regelungen zur Verjährung in Art. 12 Richtlinie 2017/1371/EU (Fn. 5). 7 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.9.1989 – 68/88, Rn. 14 ff. 8 EuGH, Urt. v. 21.9.1989 – 68/88, Rn. 25–27.

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Union ermögliche.9 Bestehe aufgrund nationaler Verfahrens-regelungen eine systemische Gefahr, dass solche Straftaten ungeahndet blieben, müsse der nationale Gesetzgeber diese Vorschriften ändern oder die Gerichte müssten diese Vor-schriften notfalls unangewendet lassen, um Art. 325 Abs. 1 AEUV volle Wirkung zu verleihen.10 Allerdings werde das Effektivitätsgebot durch die Grundrechte und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Gesetzmäßigkeit begrenzt und könne daher keine Pflicht begründen, Straftaten unter Miss-achtung der gesetzlichen Grenzen der Strafverfolgung zu ahnden.11 Da eine Telefonüberwachung, die unter Missach-tung der gesetzlichen Voraussetzungen durchgeführt werde, gegen Art. 7 der EU-Grundrechte-Charta (EU-GRC) versto-ße, entspreche ein strafprozessuales Verwertungsverbot für auf diese Weise erlangte Erkenntnisse den unionsrechtlichen Anforderungen an ein Strafverfahren, und das Unionsrecht verpflichte die Mitgliedstaaten nicht, von der Anwendung einer solchen Verfahrensvorschrift abzusehen und das rechts- widrig erlangte Beweismittel zu verwerten.12 Art. 325 Abs. 1 AEUV stehe daher der Anwendung eines strafprozessualen Verwertungsverbotes nicht entgegen. IV. Analyse und kritische Würdigung Dass der EuGH in seiner Entscheidung dem Grundrechts-schutz Vorrang gegenüber dem Interesse an einer effektiven Durchsetzung des Unionsrechts bzw. dem Schutz des Unions-haushalts einräumt, ist keineswegs selbstverständlich, wie die Entwicklung der jüngeren Rechtsprechung zeigt (1.). Die aus- führlich begründeten Schlussanträge des Generalanwalts, de- nen der EuGH – zumindest im Ergebnis – gefolgt ist, geben indes Anlass zur Hoffnung, dass sich mit dem Urteil eine Auslegung des Effektivitätsgebots durchsetzt, die dem Schutz der Grund- und Verfahrensrechte im Strafverfahren angemes-sen Rechnung trägt (2., 3.). 1. Entwicklung der Rechtsprechung Art. 325 Abs. 1 AEUV geht auf das in der allgemeinen Loya-litätspflicht (Art. 4 Abs. 3 EUV) verankerte Effektivitätsge-bot zurück, das der EuGH in anderen Rechtsbereichen, insbe-sondere im Verwaltungsrecht (vgl. Art. 197 AEUV), dahin-gehend konkretisiert hat, das es einer Anwendung von natio-nalen Verfahrensvorschriften entgegensteht, die eine Durch-setzung des Unionsrechts praktisch unmöglich machen, in-dem z.B. die Rückforderung unionsrechtswidrig gewährter Beihilfen ausgeschlossen wird (vgl. § 48 Abs. 2–4 VwVfG).13 Die weitreichenden Konsequenzen, die sich daraus für das Strafverfahrensrecht ergeben, haben sich in der Entscheidung zum Griechischen Maisskandal bereits angedeutet, sind aber 9 EuGH, Urt. v. 21.9.1989 – 68/88, Rn. 29 f. 10 EuGH, Urt. v. 21.9.1989 – 68/88, Rn. 31 f. 11 EuGH, Urt. v. 21.9.1989 – 68/88, Rn. 33–35. 12 EuGH, Urt. v. 21.9.1989 – 68/88, Rn. 36-39. 13 EuGH, Urt. v. 21.9.1983 – 205-213/82 (Deutsche Milch-kontor) = Slg. 1983, 2634 (Rn. 22); EuGH, Urt. v. 20.3.1997 – C-24/95 (Alcan) = Slg. 1997, I-1607 (Rn. 24); näher Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensge-setz, 9. Aufl. 2018, § 48 Rn. 277 ff. m.w.N.

erst in der jüngeren Rechtsprechung zu Art. 325 Abs. 1 AEUV näher beleuchtet worden. Ausgangspunkt der Diskus-sion war die Rechtssache Taricco14, in der im Rahmen eines italienischen Strafverfahrens die Frage aufgeworfen wurde, ob Art. 325 Abs. 1 AEUV den Strafrichter dazu verpflichtet, die nationalen Regelungen zur Verfolgungsverjährung unan-gewendet zu lassen, wenn deren Anwendung dazu führt, dass Betrügereien zum Nachteil der Union (Hinterziehung von Umsatzsteuer) straflos bleiben. Der EuGH hat diese Frage grundsätzlich bejaht und festgestellt, dass die Anforderungen des Art. 325 Abs. 1 AEUV verfehlt würden, wenn die An-wendung der nationalen Verjährungsvorschriften zur Folge habe, dass in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen schwere Betrügereien zum Nachteil des Unionshaushalts nicht straf-rechtlich geahndet werden könnten.15 Zugleich hat er Beden-ken im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 49 Abs. 1 EU-GRC) mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass dieser Grundsatz auf verfahrensrechtliche Verfolgungshindernisse (Verjährung) keine Anwendung finde.16 Zwei Jahre später revidierte der EuGH diese Entscheidung in der Sache M.A.S. auf erneute Vorlage des italienischen Verfassungsgerichtsho-fes mit Blick auf die von diesem vertretene Auffassung, die Verjährungsregelungen seien Bestandteil des materiellen Rechts17, indem er ausführte, die Mitgliedstaaten seien, so-lange die Verjährungsregelungen nicht harmonisiert seien, in deren Ausgestaltung frei und könnten sie damit auch als materiell-rechtliche Regelung dem Gesetzlichkeitsprinzip unterwerfen; die italienischen Strafgerichte seien daher nicht nach Art. 325 Abs. 1 AEUV verpflichtet, die Regelungen zur Verjährung unangewendet zu lassen, wenn dies einen mit dem Gesetzlichkeitsprinzip unvereinbaren Zustand der Rechts-unsicherheit über die Voraussetzungen der Strafverfolgung schaffe.18 Mit dieser Entscheidung begegnete der EuGH der auch im deutschen Schrifttum geäußerten Kritik, wonach die Unanwendbarkeit von Verjährungsregelungen im Strafver-fahren zu erheblicher Rechtsunsicherheit führe und daher un- abhängig vom Anwendungsbereich des Art. 49 GRC rechts-staatlichen Prinzipien (Gesetzesvorbehalt, Gewaltenteilung) zuwiderlaufe.19 Indem er auf den verfassungsrechtlichen Schutzstandard verweist, weicht der EuGH allerdings von seiner bisherigen Rechtsprechung ab, wonach gegenüber unionsrechtlichen Vorgaben nicht der verfassungsrechtliche, sondern (allein) der unionsrechtliche Grundrechtsschutz maß-

14 EuGH, Urt. v. 8.9.2015 – C-105/14 (Taricco) = NZWiSt 2015, 390. 15 EuGH, Urt. v. 8.9.2015 – C-105/14 (Taricco), Rn. 47. 16 EuGH, Urt. v. 8.9.2015 – C-105/14 (Taricco), Rn. 49 ff. 17 Vgl. zur Vorlageentscheidung des italienischen Verfassungs- gerichtshofs: Viganò, EuCLR 2017, 103 (109 ff.). 18 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 5.12.2017 – C-42/17 (M.A.S.) = NJW 2018, 217 (219 f. Rn. 44 ff., 59 f.) – „Taricco II“. 19 Näher Viganò, EuCLR 2017, 103 (107 ff.); vgl. aus dem deutschen Schrifttum Gaede, wistra 2016, 89 ff.

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geblich sei.20 In der Rechtssache Scialdone verneinte der EuGH einen Verstoß gegen das Effektivitätsgebot in Bezug auf eine italienische Regelung, wonach die Nichtabführung der Mehrwertsteuer erst ab einem Betrag von 250.000 Euro mit Freiheitsstrafe bedroht ist: Soweit der Täter seine steuer-lichen Erklärungspflichten ordnungsgemäß erfüllt habe, han-dele es sich nicht um einen Betrug i.S.v. Art. 2 Abs. 1 SFI-Übereinkommen, so dass der dort festgesetzte Schwellen- betrag von 50.000 Euro nicht maßgeblich sei; bei der Fest- setzung von Sanktionen gegen sonstige Unregelmäßigkeiten hätten die Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum, so dass die italienischen Regelungen mit Blick auf den Effek-tivitätsgrundsatz (Art. 325 Abs. 1 AEUV) nicht zu beanstan-den seien.21 Demgegenüber hat der EuGH im Fall Kolev eine Regelung der bulgarischen Strafprozessordnung, wonach das Strafverfahren einzustellen ist, wenn das Ermittlungsverfah-ren nicht innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen wird, als mit Art. 325 Abs. 1 AEUV unvereinbar angesehen, soweit die- se Verfahrensvorschrift die strafrechtliche Verfolgung schwe-rer Betrügereien zum Nachteil der Union ausschließe.22 Mit dem strikten und ohne Rücksicht auf die Komplexität des Falles geltenden Fristenregime werde nämlich eine wirksame Verfolgung schwerer Betrügereien verhindert.23 Wenngleich es in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber obliege, der aus der obligatorischen Einstellung resultierenden systemi-schen Gefahr zu begegnen, dass gegen die finanziellen Inte-ressen der Union gerichtete Straftaten ungeahndet bleiben, seien auch die nationalen Gerichte verpflichtet, die betreffen-den Verfahrensvorschriften im Licht von Art. 325 Abs. 1 AEUV auszulegen und diese, falls eine unionsrechtskonfor-me Auslegung nicht möglich sei, erforderlichenfalls unange-wendet zu lassen, um die einheitliche und effektive Durchset-zung des Unionsrechts zu gewährleisten.24 Dabei müsse das Gericht allerdings zugleich sicherstellen, dass die – nach Maßgabe des Unionsrechts garantierten – Grund- und Ver-fahrensrechte des Beschuldigten (Recht auf Verteidigung und auf eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist) gewahrt werden.25 In der vorliegenden Entscheidung wird nunmehr wieder eine Anwendung nationaler Verfahrensvorschriften zum Schutz der Rechte des Angeklagten für unionsrechtlich zulässig erklärt (siehe oben III.).

20 Vgl die entsprechende Kritik bei D. Burchardt, EuR 2018, 248 (251 ff.), unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-399/11 (Melloni) = NJW 2013, 1215 (Rn. 60). 21 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 2.5.2018 – C-574/15 (Sci-aldone) = BeckRS 2018, 6953 (Rn. 39 f., 44 ff., 51 f.). 22 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 5.6.2018 – C-612/15 (Kolev) = EuGRZ 2018, 649 (Rn. 76; zu den Regelungen der bulgarischen Strafprozessordnung Rn. 19 ff.). 23 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 5.6.2018 – C-612/15 (Kolev), Rn. 59 ff., 63. 24 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 5.6.2018 – C-612/15 (Kolev), Rn. 65 f., 75 f. 25 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 5.6.2018 – C-612/15 (Kolev), Rn. 68 ff.

2. Unionsrechtliches Effektivitätsgebot und Verfahrensauto-nomie der Mitgliedstaaten Auf der Suche nach einem roten Faden in der jüngeren Recht-sprechung stößt man zunächst auf die Unterscheidung zwi-schen harmonisierten und nicht harmonisierten Verfahrens- regelungen. So hat der EuGH in M.A.S. darauf hingewiesen, dass die Verjährungsregelungen zum Zeitpunkt der Entschei-dung noch nicht harmonisiert gewesen seien und der italieni-sche Gesetzgeber daher grundsätzlich frei über deren Ausge-staltung (und Rechtsnatur) habe bestimmen können.26 Wie der Generalanwalt in dem vorliegenden Verfahren ausgeführt hat, besteht ein solcher Gestaltungsraum nicht mehr, soweit das Unionssekundärrecht vorschreibt, wie eine wirksame Durchsetzung des Unionsrechts erfolgen soll (z.B. durch Har- monisierung der Regelungen zur Verfolgungsverjährung27); in diesem Fall ist auch nicht mehr der nationale (verfassungs-rechtliche) Grundrechtsstandard, sondern allein der unions-rechtliche Grundrechtsstandard als Maximalstandard maß-geblich.28 Soweit das Unionssekundärrecht in Bezug auf die Verfolgung von Verstößen gegen das Unionsrecht hingegen keine einheitlichen Anforderungen für bestimmte Aspekte des Straf- und Strafverfahrensrechts festlegt, verfügen die Mitgliedstaaten über einen weiten Gestaltungsspielraum, der unionsrechtlich nur durch das Äquivalenz- und das Effektivi-tätsprinzip einerseits und die Grundrechte-Charta andererseits begrenzt wird; im Unterschied zum harmonisierten Bereich legt letztere nur einen Mindeststandard fest, da die Mitglied-staaten insoweit ein höheres Schutzniveau garantieren kön-nen.29 Dieser Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten kommt in dem Begriff der Verfahrensautonomie zum Ausdruck. Das Effektivitätsprinzip ist dementsprechend nicht im Sinne eines Optimierungsgebots zu verstehen, das jedweder Verfahrens-regelung entgegensteht, die im Ergebnis die Verfolgung von Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Union be-schränkt und nicht durch die Grundrechte-Charta geboten ist.30 Die Grenzen der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaa-ten wird vielmehr erst dann erreicht bzw. überschritten, wenn eine Verfahrensvorschrift in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen zur Straflosigkeit führt (Taricco) bzw. die systemische Gefahr besteht, dass schwere Betrügereien nicht geahndet werden können (Kolev). Dies dürfte dem Verständnis des

26 EuGH, Urt. v. 8.9.2015 – C-105/14, Rn. 44 f. 27 Art. 12 Richtlinie 2017/1371/EU (Fn. 5). 28 Generalanwalt Bobek, Schlussanträge v. 25.7.2018 – C- 310/16, Rn. 77, 87, 93, unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-399/11 (Melloni) = NJW 2013, 1215. Dies entspricht der Unterscheidung zwischen unionsrechtlich de- terminierten und nicht determinierten Bereichen, s. BVerfG NJW 2013, 1499 (1500) m.w.N., wobei das BVerfG allerdings auch im determinierten Bereich über die Identitätskontrolle eine Prüfungskompetenz für sich in Anspruch nimmt, siehe BVerfG NJW 2016, 1149; zur Kritik: Sauer, NJW 2016, 1134 ff. 29 Generalanwalt Bobek, Schlussanträge v. 25.7.2018 – C- 310/16, Rn. 88, 94. 30 Generalanwalt Bobek, Schlussanträge v. 25.7.2018 – C- 310/16, Rn. 122.

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Effektivitätsgebots im Verwaltungsrecht entsprechen (vgl. Art. 197 AEUV), wonach dieses einer Verfahrensvorschrift entgegensteht, welche die Anwendung des Unionsrechts prak-tisch unmöglich macht (siehe oben 1.).31 In Bezug auf ein strafprozessuales Verwertungsverbot für rechtswidrig erlang-te Beweise ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, da grund-sätzlich davon auszugehen ist, dass die Beweise im Strafver-fahren rechtmäßig erhoben werden und deren Unverwertbar-keit damit nur im Ausnahmefall (d.h. bei einem Verfahrens-verstoß) zu einem Freispruch führen kann.32 Daher kam es im vorliegenden Verfahren auf die Frage, ob die Grundrechte-Charta die Verwertung von Erkenntnissen aus einer (grund-) rechtswidrigen Telefonüberwachung verbietet, nicht mehr an; dies erklärt auch die vage Formulierung des EuGH, wonach das nationale Beweisverwertungsverbot den Anforderungen der Charta „entspricht“.33 Der Überblick über die bisherige Rechtsprechung zeigt allerdings, dass es Verfahrensvorschrif-ten gibt, bei denen die Anwendung der vorstehenden Krite-rien nicht ohne Weiteres zu einem eindeutigen Ergebnis führt; damit wird die Frage aufgeworfen, wie eine systemi-sche Gefahr festzustellen ist und ob die Feststellung eines entsprechenden Strafverfolgungsdefizits empirischer Belege bedarf.34 In dieser Frage und den mit den möglichen Antwor-ten einhergehenden Unsicherheiten deuten sich die eigentli-chen Bedenken an, denen eine Suspendierung einer nationa-len Verfahrensvorschrift durch das unionsrechtliche Effekti-vitätsgebot ausgesetzt ist. 3. Effektivitätsgebot und Gesetzesvorbehalt – Strafprozessrecht à la carte? Wie bereits erwähnt, wird das Effektivitätsgebot auf Unions-ebene durch die nach der EU-GRC garantierten Grund- und Verfahrensrechte des Beschuldigten begrenzt. Dieser Schutz ist nicht nur in materieller Hinsicht (Verhältnismäßigkeit von Beschränkungen), sondern auch in formeller Hinsicht zu gewährleisten, wie die Diskussion um die Reichweite des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ (Art. 49 Abs. 1 EU-GRC) und seine Anwendbarkeit auf das Institut der Verjährung in Taricco und M.A.S. gezeigt hat. Der EuGH hat die Bedeutung dieser formellen Komponente zwar im Ergebnis anerkannt, indem er für die Einordnung der Verjäh-rungsregelungen als materielles Recht das italienische Recht als maßgeblich angesehen hat, dabei aber verkannt, dass der Gesetzesvorbehalt nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Strafverfahrensrecht eine grundrechtsschützende Funktion

31 Nachweise in Fn. 13. 32 Generalanwalt Bobek, Schlussanträge v. 25.7.2018 – C- 310/16, Rn. 130 (online abrufbar unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=F827201A44E0387EDFCA84F62E003893?text=&docid=204411&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=18458331). 33 EuGH, Urt. v. 17.1.2019 – C-310/16, Rn. 38. 34 In diesem Sinne Generalanwalt Bobek, Schlussanträge v. 25.7.2018 – C- 310/16, Rn. 131, unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 5.4.2016 – C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Caldararu) = NJW 2016, 1709 (Rn. 89).

hat.35 Es ist daher nur folgerichtig, wenn der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen im vorliegenden Verfahren die Ab- grenzung von materiellem Strafrecht und Strafverfahrens-recht – nicht zuletzt angesichts der damit verbundenen Schwierigkeiten, aber auch aufgrund der Bedeutung schüt-zender Formen im Strafprozess36 – für irrelevant erklärt und dafür plädiert hat, die Änderung oder Aufhebung einer Ver-fahrensvorschrift, die dem Effektivitätsgebot widerspricht, ausschließlich dem nationalen Gesetzgeber zu überlassen.37 Dafür spricht zunächst der Grundsatz der Rechtssicherheit, denn der Angeklagte muss grundsätzlich in die Geltung der gesetzlichen Regelungen über den Ablauf des Strafverfahrens vertrauen können; die selektive Suspendierung nationaler Verfahrensvorschriften nach Maßgabe des Effektivitätsgebots wäre aufgrund der Unsicherheiten der unionsrechtlichen An- forderungen („systemische Gefahr“) und ihrer Feststellung mit erheblichen Unsicherheiten verbunden, so dass das Straf-verfahren in den Worten des Generalanwalts auf eine „Lotte-rie“ hinausliefe.38 Dass es nicht Aufgabe der Strafgerichte ist, über die Suspendierung einer Verfahrensnorm zu entschei-den, sondern allein dem parlamentarischen Gesetzgeber ob-liegt, das nationale Verfahrensrecht an die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 325 Abs. 1 AEUV anzupassen, folgt dar-über hinaus aus der Gewaltenteilung und der Notwendigkeit einer demokratischen Legitimation nicht nur des materiellen Strafrechts, sondern auch des Strafverfahrensrechts.39 Dass die finanziellen Interessen der Union bzw. das Interesse an einer einheitlichen und wirksamen Durchsetzung des Unions-rechts keinen Vorrang gegenüber dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundrechtsschutz beanspruchen können, lässt sich auch daraus ersehen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien zum Nachteil des Einzelnen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH aus-schließt.40 Soweit durch eine Richtlinie also eine Harmonisie-rung des Strafverfahrensrechts erfolgt ist, der Mitgliedstaat aber seiner Umsetzungspflicht nicht nachgekommen ist (z.B. die Verjährungsfristen nicht verlängert hat), wäre es dem Strafgericht verwehrt, anstelle der gesetzlichen Verjährungs-frist das Fristenregime der Richtlinie anzuwenden. Wollte man das nationale Gericht aufgrund des Effektivitätsprinzips zu einer Suspendierung nationalen Verfahrensrechts verpflich-

35 F. Meyer, JZ 2018, 304 (307 f.). 36 Vgl. insoweit bereits Zachariä, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, 1846, S. 85 (93). 37 Generalanwalt Bobek, Schlussanträge v. 25.7.2018 – C- 310/16, Rn. 97 ff., 103. 38 Generalanwalt Bobek, Schlussanträge v. 25.7.2018 – C- 310/16, Rn. 105 f.; ähnlich F. Meyer, JZ 2018, 304 (308). 39 Generalanwalt Bobek, Schlussanträge v. 25.7.2018 – C- 310/16, Rn. 109; Kaiafa-Gbandi, EuCLR 2017, 219 (232); F. Meyer, JZ 2018, 304 (308). 40 EuGH, Urt. v. 26.2.1986 – 152/84 (Marshall) = Slg. 1986, 723 (Rn. 48); EuGH, Urt. v. 7.1.2004 – C-201/02 (Delena Wells) = Slg. 2004, I-723 (Rn. 56); zur Ablehnung einer strafbarkeitsbegründenden Wirkung: EuGH, Urt. v. 3.5.2005 – C-387/02, C-391/02 und C-403/02 (Berlusconi u.a.) = Slg. 2005, I-3624 (Rn. 74).

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ten, so liefe dies der hinter dieser Rechtsprechung stehenden Wertung zuwider und würde dem Vertrauen des Bürgers in die geltenden Gesetze ausgerechnet in den Fällen den Schutz versagen, in denen das Unionsrecht nur sehr vage und allge-meine Anforderungen an das nationale Verfahrensrecht auf-stellt.41 V. Schluss Mit seinem Urteil setzt der EuGH dem Effektivitätsgebot im Straf- und Strafverfahrensrecht Grenzen, und die Schluss- anträge des Generalanwalts geben Anlass zur Hoffnung, dass Art. 325 Abs. 1 AEUV in Zukunft nicht mehr von Straf- gerichten als Grundlage herangezogen wird, um die Geltung von Verfahrensbestimmungen, welche die Strafverfolgung einschränken, zu suspendieren. Auf den ersten Blick wider-spricht dieses strikte Verständnis dem Umgang des EuGH mit dem nationalen Verwaltungsverfahrensrecht. Ein solcher Widerspruch besteht jedoch nicht mehr, wenn man die Re- striktion von Verfahrensvorschriften zum Vertrauensschutz (§ 48 Abs. 2–4 VwVfG) in der Gesetzesauslegung verankert, indem man die unionsrechtlichen Vorgaben als unionsrechtli-che Überformung und inhaltliche Prägung des Vertrauens- tatbestands und nicht als einen durch das Effektivitätsgebot vorgegebenen Ausschluss von Vertrauensschutzregelungen be- greift.42 Unabhängig davon spricht vor allem aber die beson-dere Eingriffsintensität strafrechtlicher Sanktionen dafür, dass den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetz-lichkeit im Strafverfahren eine besondere Bedeutung zu-kommt und daher die für das Verwaltungsrecht geltenden Grundsätze nicht ohne Weiteres auf den Strafprozess über- tragen werden können.43 Daraus folgt keineswegs, dass das Effektivitätsgebot keine Handhabe gegenüber Strafverfol-gungsdefiziten in den Mitgliedstaaten bietet, denn der natio-nale Gesetzgeber bleibt in der Pflicht, solchen Defiziten durch Gesetzesänderungen abzuhelfen. Wird er dieser Auf-gabe nicht gerecht, so ist – und damit schließt sich der Kreis – das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) das ge- eignete Instrument, um einer „systemischen Gefahr“ der Straflosigkeit (wie im Griechischen Maisskandal) zu begeg-nen.44

Prof. Dr. Martin Böse, Bonn

41 Vgl. auch Viganò, EuCLR 2017, 103 (115 f.). 42 Dazu H. Sauer, Folgen hoheitlicher Rechtsverletzungen, Kap. 8 C.III.1.c) bb) (1) (b) (im Erscheinen). 43 F. Meyer, JZ 2018, 304 (308). 44 Vgl. auch Generalanwalt Bobek, Schlussanträge v. 25.7. 2018 – C- 310/16, Rn. 103.

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BGH, Urt. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20 Rotsch _____________________________________________________________________________________

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ZJS 5/2020 481

E n t s c h e i d u n g s b e s p r e c h u n g

Versuchsbeginn beim Diebstahl einer mit Schutzmecha-nismen gesicherten Sache 1. Der Beginn des Einbrechens reicht regelmäßig aus, um einen Versuchsbeginn annehmen zu können. 2. Nicht erforderlich für das unmittelbare Ansetzen zur geplanten Wegnahme ist, dass der angegriffene Schutz-mechanismus auch erfolgreich überwunden wird. 3. Verhüllt der Täter einen Zigarettenautomaten mit ei- nem Handtuch und einer Plane, um die Geräusche seines Tuns zu dämpfen, ist der Beginn des Einbrechens im o.g. Sinne auch dann zu bejahen, wenn das ursprünglich zur Tatbegehung vorgesehene Werkzeug nicht eingesetzt wer- den kann und weiteres Aufbruchswerkzeug lediglich zum Einsatz bereitgelegt wird. (Leitsätze des Verf.) StGB §§ 242, 243, 22 BGH, Urt. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/201 I. Sachverhalt2 Nach den Feststellungen des Landgerichts wollte der Ange-klagte einen Zigarettenautomaten aufbrechen, um Zigaretten und Bargeld zu entwenden. Er legte am Automaten verschie-denes Einbruchswerkzeug ab (Kuhfuß3, Trennschleifer mit Trennscheiben, Hammer, Schraubenzieher, Kabeltrommel). Mit einem Handtuch und einer Plane verhüllte er den Auto-maten, um die Geräusche seines Tuns zu dämpfen. Er ging davon aus, in unmittelbarer Nähe einen Stromanschluss zu finden, und legte deshalb mit der Kabeltrommel über die Straße zu einem Schuppen hin eine Stromleitung. Weder dort noch anderswo fand er allerdings in erreichbarer Nähe eine Steckdose. Er erkannte, dass er den Zigarettenautomaten mit dem Trennschleifer nicht würde öffnen können. Zwar hatte er von vornherein auch alternative Möglichkeiten des Auf-bruchs des Automaten in Betracht gezogen und deshalb auch anderes Werkzeug davor deponiert. Dazu kam er aber nicht mehr. Da er sich – zutreffend – entdeckt wähnte und die Alarmierung der Polizei fürchtete, verließ er unter Zurück- lassen der Aufbruchswerkzeuge fluchtartig den Tatort. II. Vorbemerkungen Der Beschluss des 5. Strafsenats des BGH gibt zunächst Anlass zu einigen grundlegenden Vorbemerkungen, die zum einen die Methodik der Entscheidungsfindung durch das Ge- richt (ausführlich unter 1.), zum anderen die bisherige Be- * Ich danke meinem Wiss. Mitarbeiter, Herrn Dennis Klein, für wertvolle Hinweise, Anregungen und Kritik. 1 BGH NJW 2020, 2570 = HRRS 2020 Nr. 597 = BeckRS 2020, 9020. Die Entscheidung ist außerdem für die Veröf-fentlichung in der amtlichen Sammlung BGHSt vorgesehen. 2 Wörtlich nach BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 2. 3 = Brechstange/Nageleisen/Brecheisen.

handlung des Beschlusses in der didaktischen Ausbildungs- literatur (ganz knapp unter 2.) betreffen. Beides ist in höchs-tem Maße besorgniserregend und stellt durchaus ein Symp-tom für den schwierigen Zustand des Strafrechts4 dar. Erst anschließend (unter III., IV.) soll auf den Beschluss und seine an sich offensichtliche, bislang freilich von niemandem mo-nierte dogmatische Unrichtigkeit inhaltlich eingegangen wer- den. Vor der heute in Mode gekommenen oberflächlichen Lektüre dieser Besprechung oder gar nur der oben formulier-ten Leitsätze kann dabei nicht deutlich genug gewarnt wer-den. Nicht nur macht der Senat es dem Leser seines Be-schlusses alles andere als leicht, die entscheidenden – und den Sachverhalt treffenden – Aussagen herauszufiltern. Die vom BGH getroffenen und oben als Leitsätze zusammen- gefassten Kernaussagen sind nämlich nach hier vertretener Meinung jedenfalls im Hinblick auf den ersten und dritten Leitsatz evident unzutreffend. 1. Die Entscheidungsfindung durch den BGH Mit seinem Beschluss vom 28.4.2020 bestätigt der BGH das tatgerichtliche Urteil des LG Flensburg vom 13.9.20195 und verwirft die mit der nicht näher ausgeführten Sachrüge be-gründete Revision des Angeklagten.6 Das geschieht freilich schon methodisch auf eine Art und Weise, die nicht unkom-mentiert bleiben kann, zumal wenn sie in der Ausbildungs- literatur kritiklos als „gleichsam schulmäßig“ bezeichnet wird; behauptet wird, „die prägnanten wie klar formulierten Aussa-gen [könnten] in der Prüfungssituation wortgleich übernom-men werden […]“ und schließlich lapidar zusammengefasst wird: „Der […] für Ausbildungszwecke perfekt formulierten Entscheidung ist zuzustimmen.“7

Die Wahrheit sieht leider ganz anders aus. Sehen wir uns zunächst die Vorgehensweise des BGH an, die angeblich so vorbildlich ist. Zu Beginn gibt der Senat den Sachverhalt wieder, wie er sich ihm nach den Urteilsfeststellungen der Erstinstanz8 darstellt.9 Auch wenn es an sich eine Selbstver-ständlichkeit darstellt, kann nicht genug betont werden: Der Sachverhalt ist – in der richterlichen Entscheidung wie in der

4 Vgl. noch unten II. 2. Siehe hierzu auch den kontrovers aufgenommenen Beitrag von Kuhlen, ZIS 2020, 327, sowie in der Folge die Beiträge in der Oktoberausgabe der ZIS von Ambos, Greco, Hörnle, Rotsch und Schünemann. 5 LG Flensburg, Urt. v. 13.9.2019 – 115 Js 4881/19 II KLs. 6 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 1. 7 Sämtliche Aussagen finden sich bei v. Heintschel-Heinegg, JA 2020, 550 f. Ähnlich freilich die ebenfalls affirmative Anmerkung von Eisele, JuS 2020, 798 (799: „ganz schulmä-ßig“). 8 Das Revisionsgericht übernimmt die Beweiswürdigung des Tatgerichts. Gem. § 337 Abs. 1 StPO kann die Revision „nur darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe“. Nach Abs. 2 ist das Gesetz nur dann verletzt, wenn eine „Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist“ (näher hierzu Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 55 Rn. 10, 17 ff.). 9 Vgl. oben I.

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BGH, Urt. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20 Rotsch _____________________________________________________________________________________

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Klausur – die Grundlage der Subsumtion.10 Ohne die Klärung bzw. das Verständnis der tatsächlichen Geschehnisse muss eine Subsumtion – die ja im Grundsatz nichts anderes dar-stellt als den nach bestimmten Regeln erfolgenden Abgleich des tatsächlichen Geschehens mit den Voraussetzungen der in Betracht kommenden Rechtsnorm11 – zwingend scheitern.12 Die Lösung des unbekannten Falles mit Hilfe des abstrakten Gesetzes und auf der Grundlage der erlernten Dogmatik ist die hohe Kunst der Juristerei; sie misslingt freilich auch in der Examensklausur den meisten Studenten und – wie der Beschluss zeigt – auch den gestandenen Richterinnen und Richtern des 5. Strafsenats in der vorliegenden Entscheidung. Der vom BGH mitgeteilte Sachverhalt stellt nun durchaus an sich eine taugliche Grundlage für die erfolgreiche Arbeit am und mit dem Strafgesetz dar. Mit einer „schulmäßigen“ Sub-sumtion hat die folgende „Begründung“ des BGH aber leider gar nichts gemein:

Nach der Behauptung, die auf rechtsfehlerfreier Beweis-würdigung beruhenden Feststellungen (des Landgerichts) trü- gen die Annahme, der Angeklagte habe einen strafbaren Diebstahlsversuch begangen,13 und dem – grundsätzlich zu-treffenden14 – Rekurs auf § 22 StGB15 folgt ein der ständigen Rechtsprechung entnommener Textbaustein zur Definition des unmittelbaren Ansetzens im Sinne ebendieses § 22 StGB:16

„Nach der Formel der höchstrichterlichen Rechtsprechung muss der Täter dafür aus seiner Sicht die Schwelle zum ‚jetzt geht’s los‘ überschreiten. Das ist der Fall, wenn er eine Handlung vornimmt, die nach dem Tatplan in unge-störtem Fortgang ohne Zwischenschritte unmittelbar in die Tatbestandsverwirklichung einmünden oder in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen soll;17 dies kann schon gegeben sein, bevor

10 Hierzu und zum Folgenden Rotsch, Strafrechtliche Klau-surenlehre, 3. Aufl. 2020 (erscheint demnächst), 1. Teil, 1. Kap., Rn. 118 ff. (lesen!). 11 Vgl. zum Syllogismus Rotsch (Fn. 10), 1. Teil, 1. Kap., Rn. 119 ff. 12 Rotsch (Fn. 10), 1. Teil, 1. Kap., Rn. 11 ff. Daran ändert die grundsätzlich unterschiedliche Darstellungsweise in der richterlichen Entscheidung einerseits („Urteilsstil“) und der studentischen Falllösung andererseits („Gutachtenstil“) nicht das Mindeste. 13 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/50, Rn. 3. 14 Vgl. aber noch Fn. 28. 15 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/50, Rn. 4. 16 Schon dabei bleibt der genaue Anknüpfungspunkt für die Prüfung des Versuchsbeginns unklar, siehe dazu noch unten III. 2. (im Text bei Fn. 83). 17 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/50, Rn. 4. Ebenso z.B. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2019, Rn. 948; Murmann, Grundkurs Strafrecht, 5. Aufl. 2019, § 28 Rn. 66. Abweichend etwa Maier, Die Objektivierung des Versuchsunrechts, 2005, S. 209 ff.

der Täter eine der Beschreibung des gesetzlichen Tatbe-standes entsprechende Handlung vornimmt [...“18].

Abgesehen davon, dass der Senat hier keine einzige Litera-turstimme der entsprechenden herrschenden Lehre19 in Bezug nimmt, steht am Beginn der Ausführungen zu Recht die De-finition desjenigen Tatbestandsmerkmals, dem der konkrete Sachverhaltsausschnitt subsumiert werden soll.20 Die Defini-tion selbst vermag freilich nicht zu überzeugen. Denn zum einen wird bei der Erläuterung des unmittelbaren Ansetzens zwei Mal das Adjektiv „unmittelbar“ wiederholt; ein zu defi-nierender Begriff darf aber in der Definition nicht erneut auftauchen, weil der Begriff andernfalls nur wiederholt, aber eben gerade nicht definiert (erläutert) wird.21 In Wahrheit kommt es denn auch bei dem ersten Satzteil auf das Wort „unmittelbar“ gar nicht mehr an, da die Definition des „Un-mittelbarkeitsbegriffs“ bereits mit der Wendung „in ungestör-tem Fortgang ohne Zwischenschritte“ erfolgt ist. Auch der zweite Satzteil trägt tautologische Züge, da auf einen „unmit-telbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang“ abge-stellt wird; gemeint ist wohl tatsächlich ein „enger“ räumli-cher und zeitlicher Zusammenhang. Zum anderen ist die Aus- sage, das unmittelbare Ansetzen könne schon gegeben sein, bevor der Täter eine der Beschreibung des gesetzlichen Tat-bestandes entsprechende Handlung vornimmt, missverständ-lich, weil sie impliziert, dass ein Versuchsbeginn bei sämtli-chen Deliktsarten auch dann vorliegen könne, wenn der Täter die im Tatbestand normierte Handlung ausführt. Das ist aber jedenfalls für die Tätigkeitsdelikte22 nicht richtig. Hat der Täter in diesem Fall die tatbestandsmäßige Handlung voll-ständig ausgeführt, liegt kein Versuch (mehr), sondern bereits Vollendung vor. Das Gesetz verlangt für die Bejahung des Versuchs eben ein „unmittelbares Ansetzen“ zur Tatbestands- verwirklichung; besteht diese aber allein in der Vornahme einer Handlung, setzt das unmittelbare Ansetzen zwingend voraus, dass es vor der Vornahme der Tathandlung erfolgt. Die Aussage ist damit zwar nicht falsch, sie hilft aber auch nicht weiter, weil sie für die Beantwortung der Frage nach dem Versuchsbeginn nichts hergibt.

18 Hier folgen in einem Klammerzusatz die Nachweise zur „ständigen Rechtsprechung“: BGH, Urt. v. 26.10.1978 – 4 StR 429/78 = BGHSt 28, 162 (163); BGH, Urt. v. 9.3.2006 – 3 StR 28/06 = BGHR StGB § 22 Ansetzen 34; BGH, Beschl. v. 14.3.2001 – 3 StR 48/01 = BGHR StGB § 22 Ansetzen 29; BGH, Beschl. v. 7.8.2014 – 3 StR 105/14 = NStZ 2015, 207; BGH, Beschl. v. 20.9.2016 – 2 StR 43/16 = NStZ 2017, 86. 19 Vgl. die Angaben in Fn. 17. 20 Vgl. Rotsch (Fn. 10), 1. Teil, 1. Kap., Rn. 119 ff. (143). 21 Rotsch (Fn. 10), 1. Teil, 1. Kap., Rn. 167 mit Fn. 86. 22 So man – wie die ganz h.M. – die Deliktskategorie der Tätigkeitsdelikte denn anerkennt; a.A. Rotsch, „Einheitstäter-schaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 437 ff.; Walter, in: Fahl/ Müller/Satzger/Swoboda (Hrsg.), Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, 2015, S. 327 ff.; ders., Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 16 ff.; Freund, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2020, Vor § 13 Rn. 227 ff.

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ZJS 5/2020 483

Der Senat fährt dann – erneut allein unter Verweis auf die Rechtsprechung des BGH23 – fort:

„Der Annahme unmittelbaren Ansetzens stehen Zwischen-akte nicht entgegen, die keinen tatbestandsfremden Zwe-cken dienen, sondern wegen ihrer notwendigen Zusam-mengehörigkeit mit der Tathandlung nach dem Plan des Täters als deren Bestandteil erscheinen, weil sie an diese zeitlich und räumlich angrenzen und mit ihr eine natürli-che Einheit bilden.“24

Abgesehen davon, dass der Leser sich auch hier zunächst selbst die Frage stellen muss, um welche der möglichen Zwi-schenakte es dem Senat denn geht,25 weil er diese bislang nicht genannt hat, ist mit einer Definition, die verlangt, dass Zwischenakte an die Tathandlung „zeitlich und räumlich angrenzen und mit ihr im Falle der Ausführung eine natürli-che Einheit bilden“ müssen, natürlich wenig gewonnen. Sie bleibt hochgradig unbestimmt, verzichtet in Wahrheit auf das Erfordernis der Unmittelbarkeit und setzt sich letztlich in Widerspruch zu der gerade zuvor in Bezug genommenen „Formel der höchstrichterlichen Rechtsprechung“.26

Nun folgt eine floskelhafte Selbstverständlichkeit: „Das vom Täter zur Verwirklichung seines Vorhabens Unternommene muss stets zu dem in Betracht kommen-den Straftatbestand in Beziehung gesetzt werden.“27

Steht – wie hier – ein Diebstahlsversuch in Rede, muss der Täter selbstverständlich zur Verwirklichung des Tatbestandes des Diebstahls – wozu sonst? – unmittelbar angesetzt haben. Das hatte der Senat zu Beginn seiner Ausführungen in grund-sätzlich zutreffender Anknüpfung an § 22 StGB ja auch be-reits gesagt: „Versucht ist eine Tat [gemeint ist die materiell-rechtliche Straftat, vgl. den Wortlaut des § 22 StGB], wenn der Täter nach seiner Vorstellung [hier fehlt: von der Tat] unmittelbar zur Tat ansetzt (§ 22 StGB).“28 Wenn das unmit-telbare Ansetzen i.S.d. § 22 StGB nur das „vom Täter zur 23 Zitiert am Ende des sogleich oben im Text wiedergegebe-nen Absatzes: BGH, Urt. v. 30.4.1980 – 3 StR 108/80 = NJW 1980, 1759; BGH, Urt. v. 12.12.2001 – 3 StR 303/01 = NJW 2002, 1057 (1058); BGH, Urt. v. 9.3.2006 – 3 StR 28/06 = NStZ 2006, 331; BGH, Urt. v. 20.3.2014 – 3 StR 424/13 = BGHR StGB § 22 Ansetzen 38; BGH, Beschl. v. 24.5.1991 – 5 StR 4/91 = BGHR StGB Ansetzen 14; BGH, Beschl. v. 16.7. 2015 – 4 StR 219/15. 24 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 4. 25 Vgl. dazu unten den Text bei Fn. 82. 26 Siehe den Text vor Fn. 18. 27 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 5. 28 Siehe bereits oben Fn. 15. Auch diese Bezugnahme ist frei- lich nicht fehlerfrei. Denn es kommt nicht darauf an, dass der Täter „nach seiner Vorstellung [also subjektiv] unmittelbar zur Tat ansetzt“ (so der BGH), sondern dass der Täter „nach seiner [subjektiven] Vorstellung von der Tat zur Verwirkli-chung des Tatbestandes [objektiv] unmittelbar ansetzt“ (so das Gesetz). Das ist nicht dasselbe.

Verwirklichung seines Vorhabens Unternommene“ sein kann, dann ist die besondere Erwähnung von dessen Verknüpfung mit dem „in Betracht kommenden Straftatbestand“ schlicht überflüssig. In einer studentischen Falllösung haben solche floskelhaften Allgemeinplätze denn auch nichts verloren und wenn der BGH schon nicht auf sie verzichten mag, sollte wenigstens die didaktische Ausbildungsliteratur bei den stu-dentischen Lesern nicht den Eindruck erwecken, hierbei han- dele es sich um eine schulmäßige Subsumtion.

Wenn der Senat in seinen Darlegungen auch noch im Fol-genden eine abstrakte Aussage an die andere reiht und diese gerade auch nicht im Ansatz im Hinblick auf den hier in Rede stehenden Diebstahl gem. § 242 StGB konkretisiert,29 so ist das – nicht in concreto, aber grundsätzlich – fehlerträchtig. Das zeigt die folgende Aussage:

„Ob er [der Täter] zu der in diesem Sinne ‚entscheiden-den‘ Rechtsverletzung angesetzt hat oder sich noch im Stadium der Vorbereitung befindet, hängt von seiner Vor-stellung über das ‚unmittelbare Einmünden‘ seiner Hand-lungen in die Erfolgsverwirklichung ab.“30

So sagt der BGH schon nicht, was denn bei § 242 StGB die „entscheidende Rechtsverletzung“ sein soll (das ist bekannt-lich umstritten31). Auch entspricht es – wie bereits gezeigt32 – nicht dem Gesetz, wenn der BGH behauptet, es komme für die Unmittelbarkeit des Ansetzens auf die Vorstellung des Täters an. Richtig ist vielmehr, dass auf der Grundlage der (subjektiven) Vorstellung des Täters von der Tat dieser (ob-jektiv) unmittelbar angesetzt haben muss.33 Und schließlich ist die Aussage, es komme auf das „unmittelbare Einmünden“

29 Für ein solches Vorgehen spricht freilich das System des deutschen StGB, das bekanntlich grundsätzlich für sämtliche Deliktstatbestände des Besonderen Teils generell geltende Regeln im Allgemeinen Teil „vor die Klammer gezogen“ hat; zur Kritik knapp Rotsch, in: Momsen/Grützner (Hrsg.), Wirt-schafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2020, 1. Kap. B. Rn. 35. 30 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 5. 31 So wird kontrovers diskutiert, ob Eigentum, Gewahrsam oder gar beides geschützte Rechtsgüter des § 242 StGB sind. Zum Streitstand siehe nur Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 3. Aufl. 2017, § 242 Rn. 4 ff.; Mitsch, Strafrecht, Besonderer Teil 2, 3. Aufl. 2015, S. 4 jeweils m.w.N. Zur Auffassung der Recht-sprechung vgl. z.B. BGHSt 10, 400 (401: „Es ist richtig, dass § 242 StGB nicht nur das Eigentum, sondern auch den Ge-wahrsam schützt.“); BGH NStZ 2001, 316 („Auch der bloße Gewahrsamsinhaber ist aber Verletzter i.S. des Diebstahls- tatbestandes.“). 32 Siehe Fn. 28. 33 Vgl. Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2019, § 15 Rn. 77 f. Deutlich und richtig auch Bosch, Jura 2011, 909. Zur Entwicklungsgeschichte der unterschiedlichen Versuchs-theorien siehe Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 29 Rn. 25 ff.; Zaczyk, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, § 22 Rn. 8 ff. m.w.N.

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der Handlungen des Täters in die Erfolgsverwirklichung an – nach heute h.A.34 – zwar für § 242 StGB, nicht aber ohne Weiteres in ihrer vom BGH zum Ausdruck gebrachten All-gemeinheit richtig. Denn auch wenn der Versuch des Tätig-keitsdelikts35 regelmäßig nicht mit Strafe bedroht ist, so stellt sich eben auch bei manchen „Tätigkeitsdelikten“ die Frage nach dem unmittelbaren Ansetzen i.S.d. § 22 StGB. So ist etwa der Versuch des Meineids gem. § 154 Abs. 1 StGB strafbar; auf ein unmittelbares Einmünden der Handlungen des Täters in die Erfolgsverwirklichung kann es dabei aber nach ganz h.M. deshalb nicht ankommen, weil es eine solche Erfolgsverwirklichung bei diesem Delikt nach ganz überwie-gender Meinung gar nicht gibt.36

Auch der nächste Satz bleibt allgemein und hängt daher in der Luft:

„Gegen ein Überschreiten der Schwelle zum Versuch spricht es deshalb im Allgemeinen, wenn es zur Herbei-führung des vom Gesetz vorausgesetzten Erfolgs noch ei-nes weiteren – neuen – Willensimpulses bedarf [...37].“38

Auch hier erfolgt eine Inbezugnahme des konkreten Sachver-halts nicht. Maßstäbe dafür, wann von diesem Grundsatz eine Ausnahme zu machen sein soll, werden nicht genannt. Erneut erfolgt – trotz der Allgemeinheit der Behauptung – eine Ver-engung auf Erfolgsdelikte, siehe oben. Und schlimmer noch: Der Senat nimmt offensichtlich seine eigenen Ausführungen nicht ernst, sonst hätte er an dieser Stelle innegehalten und sich Klarheit über die verschiedenen „Willensimpulse“ ver-schafft, die in concreto der Bejahung des unmittelbaren An-setzens selbst nach dieser Ansicht in Wahrheit entgegenste-hen.39

Der nächste Satz lässt sodann nicht nur dogmatische Sen-sibilität vermissen; die mit ihm getroffene Aussage ist so auch nicht richtig:

„Wesentliches Kriterium für die Abgrenzung zwischen Vorbereitungs- und Versuchsstadium ist das aus der Sicht des Täters erreichte Maß konkreter Gefährdung des ge-schützten Rechtsguts.“

34 Man ist sich heute in der Sache zu Recht einig darin, dass § 242 StGB ein Erfolgsdelikt ist, da es sich bei der Wegnah-me trotz der vermeintlichen Formulierung als bloße Tathand-lung um einen Gewahrsamsverschiebungsvorgang handelt, an dessen Ende der tatbestandsmäßige Erfolg des (beim Täter oder einem Dritten) neu begründeten Gewahrsams steht, vgl. Rotsch (Fn. 10), 1. Teil, 2. Kap., Rn. 24; Schmitz (Fn. 31), § 242 Rn. 20. 35 Beachte Fn. 22. 36 Zum Versuch des Tätigkeitsdelikts vgl. Hölzel, Gibt es „Tätigkeitsdelikte“?, 2016, S. 169 ff. 37 Es folgt der Verweis auf BGHSt 31, 178 (182) = NJW 1983, 1130; BGH NStZ-RR 2011, 367; BGH NStZ 2015, 207. 38 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 5. 39 Dazu unten der Text bei Fn. 83.

Auch dieser Satz ist mehr als missverständlich. Dass es für den Versuchsbeginn auf die konkrete Gefährdung des Rechts- guts ankommen soll, ist zwar vertretbar, aber in hohem Maße erläuterungsbedürftig.40 Und die Behauptung, die konkrete Gefährdung des Rechtsguts bestimme sich beim Versuch nach der Vorstellung des Täters, ist so, wie der BGH sie macht, ebenso unzutreffend, wie die weiter oben getroffene Aussage, das unmittelbare Ansetzen beurteile sich (subjektiv) nach der Vorstellung des Täters.41

Auch der nächste Satz lässt den Leser einigermaßen ratlos zurück:

„In der Regel kommt es bei Qualifikationen und Regel-beispielen auf den Versuchsbeginn hinsichtlich des Grund-delikts an [...42].“43

Tatsächlich kommt es hierauf nicht in der Regel, sondern stets und ausschließlich an; daran ändert es auch nichts, dass im Einzelfall mit dem unmittelbaren Ansetzen etwa zum Regelbeispiel des § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB auch das unmittelbare Ansetzen zur Wegnahme i.S.d. Grundtatbestands des § 242 StGB gegeben sein kann. Denn ausschlaggebend für die Bejahung des Versuchsbeginns ist stets nur das un- mittelbare Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung;44 Tatbe-stand in diesem Sinne ist aber weder § 243 noch § 244 StGB, sondern allein § 242 StGB.

Der Senat wiederholt in der folgenden Randnummer zu-nächst konsequent den i.R.d. allgemeinen Ausführungen45 gemachten Fehler:

„Bei Diebstahlsdelikten ist demgemäß darauf abzustellen, ob aus Tätersicht die konkrete Gefahr eines ungehinderten Zugriffs auf das in Aussicht genommene Stehlgut be-steht.“46

Auch die folgenden Ausführungen machen nachdenklich:

„Ist [der Gewahrsam durch Schutzmechanismen gesichert], reicht für den Versuchsbeginn der erste Angriff auf einen solchen Schutzmechanismus regelmäßig aus, wenn sich der Täter bei dessen Überwindung nach dem Tatplan oh-ne tatbestandsfremde Zwischenschritte, zeitliche Zäsur

40 Vgl. Kühl (Fn. 33), § 15 Rn. 81 ff. 41 Siehe Fn. 28. 42 Hier wird dann erstmals tatsächlich nicht nur die eigene und obergerichtliche Rechtsprechung (BGH NJW 2017, 1189 = NStZ 2017, 86; BGH NStZ 2015, 207; OLG Hamburg NStZ-RR 2017, 72) zitiert, sondern auch (Anmerkungs-) Literatur in Bezug genommen (nämlich Engländer, NStZ 2017, 87; Kudlich, JA 2015, 152; Eser/Bosch, in: Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 30. Aufl. 2019, § 22 Rn. 58 m.w.N.). Dort findet sich freilich die sogleich im Text monierte Aussage gerade nicht. 43 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 5. 44 Eisele, JuS 2020, 798. 45 Siehe Fn. 41. 46 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 6.

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oder weitere eigenständige Willensbildung einen unge-hinderten Zugriff auf die erwartete Beute vorstellt.“47

Was unter einem Angriff auf den Schutzmechanismus zu ver- stehen sein soll, erklärt der Senat in der gesamten Entschei-dung nicht. Hätte er dies getan, wäre ihm sicher klargewor-den, dass es an einem solchen bei der Verhüllung eines Ziga-rettenautomaten mit einem Handtuch und einer Plane durch den Täter zur Dämpfung der Geräusche seines Tuns fehlt.48 Inhaltlich sagt der BGH damit im Übrigen – unter Inbezug-nahme der Rechtsprechung des Reichsgerichts49 –, dass jeder nach der Vorstellung des Täters erforderliche tatbestands-fremde Zwischenschritt, jede zeitliche Zäsur oder jede weite-re eigenständige Willensbildung vor dem ungehinderten Zu- griff auf die Beute die Annahme unmittelbaren Ansetzens hindert. Wir kommen darauf zurück.50

Es folgen zwei Sätze, die mit dem konkreten Sachverhalt in keinerlei Zusammenhang stehen:

„Sollen mehrere gewahrsamssichernde Schutzmechanis-men hintereinander überwunden werden, ist schon beim Angriff auf den ersten davon in der Regel von einem un-mittelbaren Ansetzen zur Wegnahme auszugehen, wenn die Überwindung aller Schutzmechanismen in unmittelba-rem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit para-ten Mitteln erfolgen soll (vgl. auch BGH, Beschluss vom 8. Februar 2018 – 1 StR 228/17, NStZ-RR 2018, 203: Einbruch in ein Bürogebäude, um anschließend in einzel-ne Büros einzubrechen). Wird der Schutz des Gewahr-sams durch eine hierzu bereite Person gewährleistet, liegt Versuch vor, wenn auf diese (durch Täuschung oder Dro-hung) mit dem Ziel einer Gewahrsamslockerung einge-wirkt wird und die Wegnahme in unmittelbarem zeitli-chen und räumlichen Zusammenhang damit erfolgen soll (vgl. BGH, Urteile vom 16. September 2015 – 2 StR 71/15, BGHR StGB § 22 Ansetzen 39, und vom 10. Au-gust 2016, 2 StR 493/15, StV 2017, 441, jeweils mwN: Begehren um Einlass beim Trickdiebstahl aus der Woh-nung).“51

Beide Fälle liegen erkennbar nicht vor.

Zumindest inhaltlich richtig ist die nun folgende Aussage: „Nicht erforderlich für das unmittelbare Ansetzen zur ge-planten Wegnahme ist, dass der angegriffene Schutzme-chanismus auch erfolgreich überwunden wird (...52).“53

47 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 6. 48 Dazu unten IV. (im Text bei Fn. 90). 49 Der BGH (Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 6) zieht einen Vergleich zu RGSt 53, 217 (218); RGSt 54, 35. 50 Und zwar unten im Text bei Fn. 83. 51 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 6. 52 Es folgen Verweise auf: BGH, Urt. v. 7.2.1952 – 5 StR 12/52 = BGHSt 2, 380; BGH, Beschl. v. 18.11.1985 – 3 StR 291/85 = BGHSt 33, 370; BGH, Beschl. v. 27.11.2018 – 2 StR 481/17 = BGHSt 63, 253 (254); OLG Hamm MDR 1976, 155. 53 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 7.

Unzutreffend ist dann freilich wieder die folgende Verknüp-fung:

„Deshalb reicht der Beginn des Einbrechens, Einsteigens oder Eindringens im Sinne von § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB regelmäßig aus, um einen Versuchs-beginn anzunehmen (...54).“55

Der „Beginn des Einbrechens, Einsteigens oder Eindringens“ reicht für die Annahme des Versuchsbeginns nicht deshalb aus, weil es nicht darauf ankommt, dass der betreffende Schutzmechanismus erfolgreich überwunden wurde, sondern sofern mit der Überwindung des Schutzmechanismus zu-gleich zur Wegnahme unmittelbar angesetzt ist.56 Das ist Tat- frage und kann nur für jeden Einzelfall konkret beantwortet werden.

In der nächsten – zweitlängsten – Randnummer des Be-schlusses legt der Senat nun dar, wann ein Diebstahlsversuch noch nicht gegeben ist. Sie führt den Leser nun vollends in die Irre, glaubt dieser sich nun doch bestätigt in seiner Über-zeugung, (auch) im vorliegenden Fall könne ein unmittelba-res Ansetzen nicht bejaht werden:

„Demnach liegt ein versuchter Diebstahl noch nicht vor, wenn der Täter lediglich einen gewahrsamssichernden Schutzmechanismus anleuchtet, um ihn zu untersuchen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2016 – 2 StR 43/16, aaO; Rollo; HansOLG, StV 2013, 216: Türgriff ei-nes Pkw), wenn er in der Nähe des Tatorts eintrifft, aber noch nicht sogleich mit der Benutzung des bereitgelegten Einbruchswerkzeugs beginnen will (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juli 1989 – 2 StR 342/89, NStZ 1989, 473), er sich lediglich mit Mittätern zur Rückseite des Gebäudes begibt, in das eingebrochen werden soll (vgl. BGH, Be-schluss vom 2. April 2019 – 5 StR 121/19), wenn mit zeitlicher Verzögerung erst noch umfangreiches Werk-zeug herbeigeschafft werden muss, um einen Bankauto-maten aufbrechen zu können (vgl. BGH, Beschluss vom 7. August 2014 – 3 StR 105/14, aaO), oder wenn lediglich das Treppenhaus betreten und noch nicht auf den Woh-nungsinhaber mit dem Ziel eingewirkt wird, den von ihm geschützten Gewahrsam anzugreifen (BGH, Urteil vom 10. August 2016 – 2 StR 493/15, StV 2017, 441). Beim Übersteigen eines Gartenzauns oder -tors mit der Absicht, in ein dahinter liegendes Haus einzubrechen, kommt es darauf an, ob Zaun oder Tor schon eine gewahrsams- sichernde Funktion zukommt (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2016 – 2 StR 43/16, aaO, einerseits und BGH, Beschluss vom 14. Juni 2017 – 2 StR 14/17, NStZ-RR 2017, 340 andererseits; OLG Frankfurt am Main, Be-schluss vom 17. November 1988 – 1 Ws 202/88).“57

54 Der BGH weist hin auf BGH, Urt. v. 8.2.1984 – 3 StR 414/83 = NStZ 1984, 262 m.w.N. 55 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 7. 56 Vgl. oben vor Fn. 44. 57 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 8.

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Der Eindruck des Lesers wird durch den abschließenden Satz der Randnummer noch verfestigt (weil es in casu an dem dort Vorausgesetzten gerade fehlt):

„Ein unmittelbares Ansetzen zum Diebstahl ist hingegen zu bejahen, wenn der Täter das Einbruchswerkzeug be-reits angesetzt hat, um damit einen Schutzmechanismus zu überwinden und anschließend in ein Gebäude zum Stehlen einzudringen (BGH, Urteil vom 7. Februar 1952 – 5 StR 12/52, BGHSt 2, 380).“58

In einer studentischen Falllösung würden der Rn. 8 des Be-schlusses entsprechende Ausführungen entweder gnadenlos durch- bzw. angestrichen oder zumindest mit der berüchtig-ten Anmerkung „Fallrelevanz?“ (an der es nämlich fehlt) ver-sehen. Solche lehrbuchartigen Ausführungen bringen aber nicht nur die gutachterliche Falllösung nicht voran.59 Sie sind auch in einer höchstrichterlichen Entscheidung gefährlich, weil das Gericht sich nurmehr auf einen präjudiziellen Ab-gleich beschränkt und sich so von jeglicher gesetzmäßigen Subsumtionsarbeit enthoben sieht.60 Wozu das im Ergebnis führen kann, zeigt der Beschluss des 5. Strafsenats eindring-lich. Mit „schulmäßiger“ Subsumtion hat all dies jedenfalls nichts zu tun.

Schließlich meint der Senat, „nach diesen Maßstäben“ sei die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte habe zur Ver-wirklichung des Diebstahls bereits unmittelbar angesetzt, revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.61 Wer nun auf eine Begründung oder zumindest eine Auseinandersetzung mit seinen Bedenken hofft, wird enttäuscht:

„Die Verhüllung bedeutete den ersten Schritt hin zum Aufbruch des Automaten. Dieser war damit dem Blick anderer entzogen und dem Zugriff des Angekl. in beson-derem Maße ausgesetzt. Nach dessen Vorstellung sollte der Einsatz des Trennschleifers oder anderer Aufbruchs-mittel unmittelbar folgen. Für den Fall, dass der Trenn-schleifer nicht zum Einsatz kommen konnte, hatte sich der Angekl. weitere Werkzeuge bereit gelegt62. Die frem-den Sachen, die durch den Zigarettenautomaten vor Weg-nahme besonders geschützt waren, waren damit bereits konkret gefährdet.“63

Bei der mit dem ersten Satz getroffenen Aussage handelt es sich um eine bloße Behauptung, eine Begründung hierfür er- folgt auch nicht im Ansatz. Warum es darauf ankommen soll, dass der Automat dem Blick anderer entzogen wurde (worauf

58 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 8. 59 Zu diesem typischen Fehler in der Klausur siehe Rotsch (Fn. 10), 1. Teil, 1. Kap., Rn. 168. 60 Zum Unterschied zwischen dem Präzedenzsystem des Common Law und der kontinentaleuropäischen Rechtstradi-tion vgl. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 71 I. V. (S. 562 ff., 567 ff.). 61 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 9. 62 Rechtschreibfehler im Original. 63 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 10.

es dem Täter nach dem Sachverhalt nicht ankam) und dem Zugriff des Täters in besonderem Maße (?) ausgesetzt war, wird nicht erläutert.64 Der dritte Satz widerspricht der Fest-stellung des Sachverhalts durch den Senat, man lese noch-mals oben I. Das bloße Bereitlegen weiterer Werkzeuge, das im Übrigen einen anderen Anknüpfungspunkt darstellt als das Verhüllen des Automaten, liegt gerade zwischen dem vom BGH beispielhaft angeführten Herbeischaffen – kein unmit-telbares Ansetzen65 – und dem Ansetzen zur Benutzung – Bejahung des unmittelbaren Ansetzens66 – und ist daher sehr wohl begründungsbedürftig. Die knappen Ausführungen schließen dann im letzten Satz erneut mit einer bloßen Be-hauptung. 2. Die Besprechung der Entscheidung in der Ausbildungslite-ratur Wenn einer schon in der Form so angreifbaren Entscheidung des höchsten deutschen Strafgerichts bislang nicht nur kritik-los zugestimmt, sondern sie auch noch zum leuchtenden Vor- bild für das Erlernen des juristischen Handwerkzeugs durch den juristischen Nachwuchs erklärt wird,67 so hat das viele Gründe, die an dieser Stelle nicht verschwiegen werden sol-len, hier aber nur angedeutet werden können. Sie haben vor allem zu tun mit einer besorgniserregenden Entwicklung des juristischen Studiums, das längst kaum mehr in der Lage ist, einen immer komplexer und komplizierter werdenden Rechts-stoff auch nur noch einigermaßen angemessen differenziert zu vermitteln. Wenn (nicht nur) juristische Ausbildungszeit-schriften auf den modernen Zeitgeist reagieren, indem sie immer kürzere Texthäppchen durch immer mehr (Zwischen-) Überschriften trennen und sie überdies mit dem Text voran-gestellten Randnummern versehen, weil sie ihren Lesern auch die Lektüre des schon zurechtgekürzten Textes nicht mehr in Gänze meinen zumuten zu können, dann spiegelt dies nicht nur ein problematisches Selbst- und Fremdver-ständnis wider; es hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Qualität der juristischen Ausbildung. Wenn nicht wenige „Entscheidungsanmerkungen“ sich darin erschöpfen, den Entscheidungstext lediglich zu übernehmen und ihn allenfalls mit wenigen einleitenden und zusammenfassenden Sätzen zu garnieren, dann führt das nicht nur das ohnehin jedermann kostenlos zugängliche Online-Angebot des BGH68 ad absur-dum, sondern ist auch unter didaktischen Gesichtspunkten mehr als fragwürdig. Nicht nur bietet es kaum Mehrgewinn, es hält auch nicht selten von der so wichtigen Lektüre der Originalfundstelle ab. Es ist daher an uns, den Lehrenden, wie auch den Lernenden, einer solchen Entwicklung kritisch gegenüberzustehen und ihr, wenn notwendig, auch einmal

64 Auch wenn einem dazu durchaus einiges einfallen kann, vgl. unten III. 2. 65 Siehe den Text vor Fn. 57. 66 Siehe den Text vor Fn. 57. 67 So in der Sache v. Heintschel-Heinegg, JA 2020, 550. 68 Abrufbar unter: https://www.bundesgerichtshof.de/DE/Ent-scheidungen/entscheidungen_node.html.

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deutlich entgegenzutreten.69 Der Beschluss des 5. Strafsenats vom 28.4.2020 bietet dazu nur den (überfälligen) Anlass.

Schauen wir uns vor diesem Hintergrund den Beschluss des BGH nun auch inhaltlich noch etwas genauer an. III. Zum Inhalt der Entscheidung Der BGH sieht im Verhalten des Angeklagten ein strafbares unmittelbares Ansetzen zum Diebstahl gem. §§ 242 Abs. 1, Abs. 2, 22 StGB und bestätigt damit die Entscheidung der Vorinstanz. Der Beschluss kann freilich auch inhaltlich we-der in der Begründung noch im Ergebnis überzeugen.70 1. Versuchsbeginn bei besonders schwerem (§ 243 StGB) oder qualifiziertem Diebstahl (§ 244 StGB) Die Entscheidungsgründe beginnen mit einer umfangreichen Darlegung der höchstrichterlichen Interpretation des Ver-suchs, insbesondere betreffend den Diebstahlstatbestand.71 Unter anderem wirft der 5. Strafsenat in diesem Rahmen die Ketten ab, mit denen er sich zuvor selbst gefesselt hatte: Im August 2019 hieß es noch, dass derjenige, der mit Tatent-schluss zur Begehung eines Diebstahls den Holzrahmen einer Terrassentür durchbohrt, noch nicht unmittelbar zum Woh-nungseinbruchsdiebstahl gem. §§ 244 Abs. 4, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB ansetzt, sofern noch ein „Türöffnungshebel“ be- dient werden muss, um in das Gebäude zu gelangen.72 Statt-dessen soll nunmehr richtig sein, dass auch der Beginn des Einbrechens, Einsteigens oder Eindringens i.S.v. §§ 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB „regelmäßig“ (!) für einen Versuchsbeginn des Diebstahls ausreicht.73 Besondere Erwähnung verdient das deshalb, weil die unrechtsbegrün-dende Tathandlung des besonders schweren (§ 243 StGB) wie auch des qualifizierten Diebstahls (§ 244 StGB) in der Wegnahme (einer fremden beweglichen Sache) und damit in der Vornahme der Tathandlung des Grundtatbestandes74 liegt. Das setzt nach h.M. den Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams voraus75 – und eben nicht nur ein zu diesem Zwecke durchgeführtes Einbrechen, Einsteigen usw. (diese Verhaltensweisen werden ggf. von den §§ 303, 123 69 Im Strafrecht hat über dessen schwierigen Zustand bereits durchaus eine breitere streitige Diskussion eingesetzt, vgl. z.B. Rotsch, ZIS 2008, 1 („Hypertrophie“); Replik von Puppe, ZIS 2008, 67 („strafrechtswissenschaftliche Bußpredigt“); Ambos, GA 2016, 177; Schünemann, ZIS 2016, 654; Vogel, JZ 2012, 25; Weigend, GA 2020, 139. Jüngst Kuhlen, ZIS 2020, 327; und in der Folge die Oktoberausgabe der ZIS (siehe bereits Fn. 4). 70 Anders aber Eisele, JuS 2020, 798 (799); v. Heintschel-Heinegg, JA 2020, 550 (551). 71 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 4–8. 72 BGH, Beschl. v. 1.8.2019 – 5 StR 185/19 = NStZ 2019, 716 = BeckRS 2019, 21906 mit Anm. Kudlich, NStZ 2020, 34. 73 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 7. 74 Siehe bereits oben im Text bei Fn. 44. 75 Siehe statt vieler Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 42), § 242 Rn. 22; kritisch zum vorherrschenden Verständnis aber grdl. Rotsch, GA 2008, 65.

StGB erfasst). Das unmittelbare Ansetzen i.S.d. § 22 StGB setzt daher stets das unmittelbare Ansetzen zur Wegnahme gem. § 242 StGB voraus; dass es im Einzelfall mit dem Be-ginn des Einbrechens etc. gegeben sein kann, ändert daran nichts.76

Es darf bezweifelt werden, dass der BGH hiermit eine bewusste Vorverlagerung der Versuchsstrafbarkeit bezweckt. Er gibt mit einer solchen Argumentation aber den Tatgerich-ten – und hierin liegt eine Gefahr des Beschlusses – die Mög-lichkeit hierzu. Vor solchen Tendenzen kann nicht eindring-lich genug gewarnt werden. 2. Die Lösung des BGH Während die Grundsätze über den Versuchsbeginn (nicht nur) beim Diebstahl in den Entscheidungsgründen umfas-send, wenn auch leider alles andere als „schulmäßig“ ausge-breitet werden, fällt die Textpassage, die eigentlich die Sub-sumtion des Sachverhalts unter das Gesetz durch den BGH darstellen soll77, erschreckend kurz und inhaltlich dürr aus. Den Anfang macht eine außerordentlich fragwürdige Deu-tung des Tatverhaltens des Angeklagten:

„Die Verhüllung bedeutete den ersten Schritt hin zum Aufbruch des Automaten. Dieser war damit dem Blick anderer entzogen und dem Zugriff des Angeklagten in be-sonderem Maße ausgesetzt.“ 78

Nachvollziehbar ist das nicht. Wenn der BGH meint, dass die Verhüllung des Zigarettenautomaten dafür sorgte, dass er „dem Blick anderer entzogen“ worden und deshalb „dem Zugriff des Angeklagten in besonderem Maße ausgesetzt“ sei, so fragt sich, weshalb dies einen „Angriff auf den Schutz- mechanismus“79 darstellen soll. Es ist ja keineswegs so, dass der Angeklagte den Zigarettenautomaten unter dem Handtuch und der Plane wie David Copperfield hat kurzzeitig „ver-schwinden“ lassen. Die Verhüllung dürfte – auch nach der Vorstellung des Angeklagten – sogar für ein deutlich auffäl-ligeres Erscheinungsbild gesorgt haben. Das wird vermutlich auch einer der Gründe für die Entdeckung und Alarmierung der Polizei gewesen sein. Der Zigarettenautomat wurde damit gerade nicht dem Blick anderer „entzogen“; vielmehr wurde er so präpariert, dass er den Blick anderer „anzog“.

Davon abgesehen ergibt eine adäquate Interpretation des Täterverhaltens, dass es dem Angeklagten überhaupt nicht darum ging, den Blick auf die Oberfläche des Automaten zu verdecken. Welchen Sinn sollte das auch haben? Der BGH verwechselt die hier relevante Fallkonstellation wohl mit sol- chen Diebstahlstaten, bei denen bspw. die Schaufenster eines Ladens von innen oder außen abgedeckt werden, um den Blick in den Innenraum zu verdecken. In diesem Fall können selbst Passanten nicht erkennen, dass im Innenraum gerade ein Diebstahl stattfindet. Für den Angeklagten dienten Hand-tuch und Plane jedoch lediglich dazu, den mit dem geplanten

76 Siehe bereits oben im Text bei Fn. 44. 77 Siehe oben nach Fn. 61 vor 2. 78 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 10. 79 Vgl. oben im Text vor Fn. 47.

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BGH, Urt. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20 Rotsch _____________________________________________________________________________________

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Aufbrechen des Automaten notwendigerweise verbundenen Lärm zu dämpfen – so deutet der BGH das Verhalten des Angeklagten in seiner Sachverhaltsschilderung sogar selbst.80 Weshalb das Gericht bei seiner „Subsumtion“ nun plötzlich eine andere Handlungsdeutung zugrunde legt, erschließt sich schlichtweg nicht.

Die in den Entscheidungsgründen darauffolgenden Sätze sind sogar noch weitaus inhaltsärmer:

„Nach dessen Vorstellung sollte der Einsatz des Trenn-schleifers oder anderer Aufbruchsmittel unmittelbar fol-gen. Für den Fall, dass der Trennschleifer nicht zum Ein-satz kommen konnte, hatte sich der Angeklagte weitere Werkzeuge bereitgelegt. Die fremden Sachen, die durch den Zigarettenautomaten vor Wegnahme besonders ge-schützt waren, waren damit bereits konkret gefährdet.“81

Diese Ausführungen leiden zunächst unter einem doppelten Mangel. Zum einen erschöpfen sie sich in der bloßen Darstel-lung des (subjektiven) Tatplans. § 22 StGB verlangt aber auf dem Boden der mit ihm Gesetz gewordenen gemischt subjek-tiv-objektiven Versuchstheorie die Begründung des Versuchs-beginns; mit der bloßen Darlegung der Tätervorstellung ist es nicht getan.82 Zum anderen ist die Deutung der Tätervorstel-lung auch erkennbar falsch. Nach der Vorstellung des Ange-klagten sollte der Einsatz des Trennschleifers nämlich gerade nicht ohne „tatbestandsfremden Zwischenschritt“, „zeitliche Zäsur“ oder „eigenständige Willensbildung“83 stattfinden; tat- sächlich war es dem Angeklagten noch nicht einmal gelun-gen, den Trennschleifer mit Strom zu versorgen. Hierzu hatte er mit einer Kabeltrommel über die Straße zu einem Schup-pen eine Stromleitung gelegt und sich also von dem Zigaret-tenautomaten entfernt. Wie der Senat auf der Grundlage dieses Sachverhalts davon sprechen kann, der Einsatz des Trennschleifers sollte unmittelbar folgen, bleibt schlicht un- erfindlich. Durch eine „schulmäßige“ Subsumtion wäre ein solcher Fehler vermieden worden.

Verschlimmert wird das Ganze darüber hinaus nun noch dadurch, dass der BGH nun plötzlich auch das Bereitlegen weiterer Werkzeuge in die Betrachtung miteinbezieht – ohne erkennbaren Anlass, in Widerspruch zu seiner vorherigen Aussage und überdies, ohne dass dies an der Beurteilung des Falles etwas änderte. Denn das bloße Zurechtlegen der Tat-werkzeuge genügt für die Annahme des Versuchsbeginns dann nicht, wenn sie nicht unmittelbar danach zum Einsatz kommen sollen.84 So liegt es aber hier: Der Angeklagte such-te zunächst noch vergeblich nach einer Steckdose für den Trennschleifer, was auch insoweit eine tatplangemäße Zäsur darstellt. Auch die Suche als solche ist noch keine Einwir-kung auf den Schutzmechanismus „Zigarettenautomat“, son-dern eine Vorbereitungshandlung im wahrsten Sinne des

80 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 2, s.o. I. 81 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 10. 82 Vgl. bereits oben bei Fn. 33. 83 Vgl. Fn. 50. 84 BGH NStZ 1989, 473 (474); siehe auch Eisele, JuS 2020, 798 (799).

Wortes. Es stellt daher keinen Selbstzweck dar, wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, wie wichtig es ist, den tat-sächlichen Anknüpfungspunkt (= Sachverhaltsausschnitt) der Subsumtion klarzustellen85 – als unabdingbare Grundlage einer gelungenen Subsumtion, aber auch zur Versicherung des eigenen Vorgehens in der stressigen Examensklausuren-situation und – wie der Beschluss zeigt – eben auch der höchstrichterlichen Entscheidung.

Nach alledem ist auch der Schluss auf die konkrete Ge-fährdung der im Zigarettenautomaten befindlichen fremden Sachen verfehlt. Dass diese zudem auf dem Boden der (sub-jektiven) Vorstellung des Täters von der Tat objektiv gegeben sein müsste, wurde bereits mehrfach gesagt.86 IV. Der inhaltliche Fehler und seine Quelle Zu der richtigen Entscheidung – mit gegenteiligem Ergebnis – wäre der BGH gelangt, wenn er bei seiner anfänglichen – und einzig sinnvollen – Handlungsdeutung geblieben wäre: Das Verhüllen des Zigarettenautomaten dient der Dämpfung der Geräusche, die mit dessen Aufbruch verbunden sind. Auf dieser Grundlage lässt sich für diese potentielle Tathandlung nun prüfen, ob durch deren Vornahme auf der Grundlage des Tatplans objektiv87 „bereits eine konkrete Gefahr eines unge-hinderten Zugriffs auf das in Aussicht genommene Stehlgut besteht“.88

In Fallkonstellationen, in denen die fremde bewegliche Sache i.S.d. § 242 Abs. 1 StGB durch einen Schutzmecha-nismus gesichert ist, ist nach Auffassung des BGH ein unmit-telbares Ansetzen bereits dann gegeben, wenn der Täter eine erste Handlung vornimmt, die der Überwindung dieses Me-chanismus‘ dient. Dabei ist es gleichgültig, wenn dieser Handlung kein Erfolg beschieden ist.89

Das ist richtig, hilft aber nicht weiter. Denn ab wann trotz Erfolglosigkeit des Angriffs auf den Schutzmechanismus das unmittelbare Ansetzen zu bejahen ist, ist damit nicht gesagt. Diese Frage ist vielmehr konkret sachverhaltsbezogen zu beantworten: Ist das Abdecken des Zigarettenautomaten mit einem Handtuch und einer Plane also bereits eine Handlung, die der Überwindung eines gewahrsamssichernden Schutz-mechanismus‘ dient? Unter Berücksichtigung der korrekten Handlungsdeutung ist diese Frage zu verneinen. Wenn die Verhüllung des Zigarettenautomaten sinnvollerweise nur als Mittel zur Lärmreduktion zu verstehen ist, dann liegt der Zweck allein darin, das Aufschrecken potentieller Tatzeugen

85 Rotsch (Fn. 10), 1. Teil, 1. Kap., Rn. 152; 2. Teil, insbes. Fall 9, Fall 24 86 Siehe oben bei Fn. 28, 41. 87 Siehe oben bei Fn. 28, 41, 86. 88 Insoweit BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 10. Hiervon ist das Bereitlegen weiterer Aufbruchwerkzeuge zu trennen (das gilt auch und erst recht in einer studentischen Falllösung). Dass diese Handlung nicht ausreicht, um ein un- mittelbares Ansetzen zu bejahen, wurde bereits gesagt, siehe oben im Text vor Fn. 84. 89 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 7.

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BGH, Urt. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20 Rotsch _____________________________________________________________________________________

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ZJS 5/2020 489

zu vermeiden, die gegebenenfalls die Polizei alarmieren.90 Damit ist ersichtlich, dass die Verhüllung mit Handtuch und Plane nicht den gewahrsamssichernden Schutzmechanismus in der Form des stählernen Zigarettenautomaten überwinden sollte und diesen auch objektiv nicht angreift. Denn eine konkrete Bedrohung des Gewahrsams des Berechtigten war damit gerade nicht verbunden.91 Allenfalls sollte die mit der geplanten Tat verbundene Entdeckungsgefahr ausgeschaltet werden, die durch diejenigen Personen bedingt ist, die sich räumlich im Umkreis des Zigarettenautomaten befinden, in dem der mit dessen Aufbruch verbundene Lärm hörbar wäre. Die Notwendigkeit der konkreten Rechtsgutsbezogenheit der Tathandlung – an der es fehlt – unberücksichtigt gelassen zu haben, ist der wesentliche inhaltliche Fehler der Entschei-dung.

Der BGH hätte also darlegen müssen, weshalb bereits ei-ne Handlung zur Eindämmung der Entdeckungsgefahr einen Gewahrsams- und/oder Eigentumsangriff92 darstellt und des-halb für ein unmittelbares Ansetzen zum Diebstahl ausreicht. Gelungen wäre ihm das nicht. Zwar kommen als „gewahr-samssichernde Schutzmechanismen“ auch Menschen in Fra-ge. Allerdings verlangt das Gericht selbst, dass „auf diese (durch Täuschung oder Drohung) mit dem Ziel einer Ge-wahrsamslockerung eingewirkt wird und die Wegnahme in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang damit erfolgen soll“.93 Daran fehlt es hier aber. Ein unmittelbares Ansetzen zum Diebstahl hätte der BGH also nicht bejahen dürfen. V. Fazit Aus dieser Entscheidung lässt sich viel lernen. Schulmäßiges Subsumieren gehört nicht dazu. Der Beschluss zeigt aber, dass auch gestandene Juristinnen und Juristen Fehler machen und diese Fehler bei sorgfältigem Arbeiten vermeidbar sind.

Dabei lassen sich für die Vorgehensweise des BGH, na-mentlich seine abstrahierenden, vom konkreten Fall gelösten Ausführungen, die Verwendung von Pleonasmen, Paraphra-sen, etc., durchaus nachvollziehbare Gründe anführen. Die höchstrichterliche Entscheidung ist keine studentische „Fall-lösung“, wie sie in der Klausur verlangt wird, sondern ver-folgt die unterschiedlichsten Zwecke.94 Der hier besprochene

90 Statt „Verhüllung“ (vgl. den Text bei Fn. 78) müsste es deshalb eher „Dämpfung“ (so der BGH selbst in seiner Sach-verhaltsschilderung, a.a.O., Rn. 2) heißen, denn es geht um die Dämpfung des Schalls und gerade nicht um eine Verhül-lung des Automaten vor den Augen möglicher Zeugen. 91 So ließe sich etwa der Angriff auf den Schutzmechanismus präzisieren, vgl. bereits oben bei Fn. 48. 92 Beachte Fn. 31. 93 BGH, Beschl. v. 28.4.2020 – 5 StR 15/20, Rn. 6; siehe außerdem Bosch, Jura 2011, 909 (911). 94 Zur Funktion der höchstrichterlichen Rspr. Knauer, NStZ 2016, 1 (6 ff.); ders./Kudlich, in: Knauer/Kudlich/Schneider (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 3/1, Vor § 333 Rn. 66 ff. Zum (Begründungs-) Stil höchst-richterlicher Entscheidungen Lübbe-Wolff, in: Schürmann/ v. Plato (Hrsg.), Rechtsästhetik in rechtsphilosophischer Ab-

Beschluss stellt aber einen eindringlichen Beleg dafür dar, wie problematisch es ist, wenn die Praxis sich von den Grund-sätzen „schulmäßiger Subsumtion“ gar zu weit entfernt.

Als Blaupause für eine studentische Falllösung taugen solche Entscheidungen jedenfalls nicht. Daher kann den bis-herigen Einschätzungen des Beschlusses durch die didakti-sche Ausbildungsliteratur nicht vehement genug widerspro-chen werden.

Umso wichtiger erscheint es, bei der Auswahl der Studien-literatur, bei der Lektüre von Rechtsprechung und Literatur (das gilt auch für diese Entscheidungsbesprechung!), aber auch bei dem Austausch mit Kommilitonen, Dozenten und Praktikern kritisch zu bleiben und an der Ausbildung einer mit gesundem Selbstbewusstsein vorgetragenen eigenen Mei- nung zu arbeiten. Das gilt dann nicht nur für die Falllösung in der Examensklausur, sondern insbesondere auch für die mündliche Prüfung. Denn eines ist absehbar: Trotz oder ge-rade wegen der missglückten Behandlung eines nicht alltägli-chen und durchaus originellen Sachverhalts durch den BGH wird die Entscheidung schnell zum beliebten Prüfungsgegen-stand avancieren. Darauf sollten Sie sich – sorgfältig – vorbe-reiten.

Prof. Dr. Thomas Rotsch, Gießen

sicht, 2020, S. 17; Kötz, RabelsZ 1973, 245 (insbes. 257 ff.); krit. auch J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 184 ff.

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BGH, Urt. v. 13.3.2020 – V ZR 33/19 Bielefeld _____________________________________________________________________________________

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 490

E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g Ende der fiktiven Schadensberechnung? An den VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs wird ge-mäß § 132 Abs. 3 GVG folgende Anfrage gerichtet: a) Wird an der in dem Urteil vom 22.2.2018 (VII ZR 46/17, BGHZ 218, 1 Rn. 31 ff.) vertretenen Rechtsauffas-sung festgehalten, wonach der „kleine“ Schadensersatz statt der Leistung gemäß §§ 280, 281 Abs. 1 BGB nicht anhand der voraussichtlichen erforderlichen, aber (noch) nicht aufgewendeten („fiktiven“) Mängelbeseitigungskos-ten bemessen werden darf? b) Wird ferner daran festgehalten, dass sich ein Scha-densersatzanspruch des allgemeinen Leistungsstörungs-rechts auf Vorfinanzierung „in Form der vorherigen Zahlung eines zweckgebundenen und abzurechnenden Betrags“ richten kann (Urteil vom 22.2.2018 – VII ZR 46/17, aaO Rn. 67)? (Amtliche Leitsätze) BGB §§ 280, 281 GVG § 132 BGH, Urt. v. 13.3.2020 – V ZR 33/19 (OLG Düsseldorf, LG Krefeld)1 I. Einführung in die Problematik und Kontext der Diver-genzanfrage Der Käufer einer mangelhaften Sache kann Schadensersatz statt der Leistung verlangen, wenn er dem Verkäufer erfolg-los eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt hat, dieser die Nach-erfüllung ernsthaft und endgültig verweigert oder einer der Fälle des § 440 S. 1 BGB vorliegt, §§ 437 Nr. 3, 440, 280 Abs. 1, 3, 281 Abs. 1 S. 1 BGB. Dieses Recht steht gem. §§ 634 Nr. 4 Var. 1, 636 BGB auch dem Besteller eines mangelhaften Werks zu. Will der Käufer bzw. Besteller die mangelhafte Sache behalten, kann er „kleinen“ Schadens- ersatz statt der Leistung verlangen: Er ist dann gem. § 281 Abs. 1 S. 1 BGB zu entschädigen, soweit der Verkäufer bzw. Unternehmer die Leistung nicht wie geschuldet erbracht hat.2

Nach bisheriger Rechtsprechung durfte der Besteller da-bei den Betrag verlangen, der zur Beseitigung des Mangels er- forderlich war („fiktive Mängelbeseitigungskosten“).3 Der für das Werkvertragsrecht zuständige VII. Zivilsenat des BGH hat unter Aufgabe dieser Rechtsprechung im Frühjahr 2018 entschieden, dass der Besteller, der das Werk behält und nicht reparieren lässt, seinen Schaden im Rahmen des „kleinen“ Schadensersatzes statt der Leistung nicht mehr nach den fik-

1 Die Entscheidung ist online abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&az=V%20ZR%2033/19&nr=105864 (19.9.2020) und abgedruckt in ZIP 2020, 1073. 2 Zur Schadensberechnung anhand fiktiver Kosten jüngst auch Abt/Lutzenberger, ZJS 2020, 242. 3 BGHZ 173, 83 (86) = NJW 2007, 2695 (2696).

tiven Mängelbeseitigungskosten bemessen darf.4 Solange der Besteller keine Aufwendungen zur Mängelbeseitigung getä-tigt habe, sei diesem kein Schaden in entsprechender Höhe entstanden.5 Eine striktere Orientierung an den tatsächlich ge- tätigten Aufwendungen des Bestellers sei zudem geboten, um der Gefahr der Überkompensation entgegenzuwirken: Da die Bemessung der fiktiven Mängelbeseitigungskosten von ver-schiedenen Faktoren abhänge und die so ermittelten Kosten die vereinbarte Vergütung im Einzelfall deutlich übersteigen könnten, führe diese Art der Schadensermittlung bisweilen zu einer nicht gerechtfertigten Bereicherung des Bestellers.6

Diese Entscheidung hat in der Literatur ein geteiltes Echo hervorgerufen.7 Insbesondere wird diskutiert, ob die Schadens-berechnung nach den fiktiven Mängelbeseitigungskosten auch in anderen Fällen, namentlich im Kauf-8 und im Mietrecht9, aufgegeben werden sollte. So liegen bereits vereinzelte Ent-scheidungen vor, in denen diese Berechnungsmethode auch dem Käufer versagt wird.10 Der für das Kaufrecht zuständige V. Zivilsenat des BGH hat nunmehr zu erkennen gegeben, dass er dem Käufer auch weiterhin gestatten möchte, seinen Schaden nach den fiktiven Mängelbeseitigungskosten zu be- ziffern.11 In dem zu entscheidenden Fall hatten die Parteien des Kaufvertrags über eine Eigentumswohnung vereinbart, dass der Verkäufer etwaig auftretende Feuchtigkeitsschäden im Schlafzimmer der Wohnung auf eigene Kosten beseitigen muss. Nach Eintritt des Schadensfalls verweigerte der Ver-käufer die Mängelbeseitigung, woraufhin die Käufer Klage auf Zahlung der voraussichtlichen Mängelbeseitigungskosten ohne Umsatzsteuer erhoben. Der V. Zivilsenat hält diese Berechnungsmethode für zulässig, weicht damit nach eigener Auffassung jedoch von der Rechtsprechung des VII. Zivil- senats ab, sodass nach § 132 Abs. 3 S. 1 GVG zunächst eine Divergenzanfrage an diesen Senat zu richten war. Sollte der VII. Zivilsenat an seiner Rechtsauffassung festhalten, wird der Große Senat für Zivilsachen die Rechtsfrage entscheiden müssen, § 132 Abs. 2 GVG. II. Darstellung und Analyse Der ausführlich begründete Beschluss berührt wichtige Fra-gen des allgemeinen und besonderen Schuldrechts.

4 BGHZ 218, 1 = NJW 2018, 1463; bestätigt in BGH NJW-RR 2020, 404. 5 BGHZ 218, 1 (10) = NJW 2018, 1463 (1465). 6 BGHZ 218, 1 (11) = NJW 2018, 1463 (1465 f.). 7 Zustimmend Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 634 Rn. 46; Mäsch, JuS 2018, 907 (908 f.); ablehnend jedoch Peters, JR 2019, 331 (340); Riehm, NZM 2019, 273 (281). 8 Hierzu Heinemeyer, NJW 2018, 2441 ff. 9 Dagegen Riehm, NZM 2019, 273 (276 ff.). 10 OLG Frankfurt a.M. ZIP 2019, 1127; zu weiteren Nach-weisen BGH ZIP 2020, 1073 (1077). 11 BGH ZIP 2020, 1073 (1077 ff.).

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BGH, Urt. v. 13.3.2020 – V ZR 33/19 Bielefeld _____________________________________________________________________________________

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ZJS 5/2020 491

1. Rechtsgrundlage der Bemessung des Schadensersatzes statt der Leistung Der anfragende Senat holt weit aus und widmet sich zunächst der Frage, auf welcher Rechtsgrundlage der „kleine“ Scha-densersatz statt der Leistung zu bemessen ist. Hierzu bestün-den im Ausgangspunkt drei Möglichkeiten: erstens die §§ 249 ff. BGB, zweitens die Vorschriften des besonderen Schuldrechts, also des jeweilig einschlägigen Vertragstyps, und drittens das allgemeine Leistungsstörungsrecht der §§ 280 ff. BGB.12 In großer Ausführlichkeit wird dargelegt, warum die §§ 249 ff. BGB nach Ansicht des V. Zivilsenats ungeeignet sind, um der Problematik Herr zu werden. So passe schon der Primat der Naturalrestitution, den § 249 Abs. 1 BGB grundsätzlich anordne, nicht zum Schadensersatz statt der Leistung: § 281 Abs. 4 BGB schließe den Anspruch auf die Leistung und damit auch die Naturalrestitution aus, wes-wegen der Anspruch aus § 281 Abs. 1 BGB von vornherein auf Geldersatz gerichtet sei.13 Aus diesem Grund könne auch nicht auf § 251 Abs. 1 BGB abgestellt werden – die Natural-restitution sei nicht, wie es die Norm voraussetzt, „nicht mög- lich“, sie sei schlicht nicht mehr geschuldet.14

Auch die Normen des besonderen Schuldrechts – § 437 BGB für den Kauf-, § 634 BGB für den Werkvertrag – kön-nen nach Auffassung des V. Zivilsenats nicht herangezogen werden: Es handele sich um bloße „Servicenormen“, die sich darauf beschränkten, die Rechte des Käufers bzw. Bestellers im Gewährleistungsfall aufzulisten.15 Nur vordergründig stüt- ze sich auch der VII. Zivilsenat auf die Normen des Werk- vertrages;16 entscheidend komme es auf die §§ 280 ff. BGB an.17 Aus diesem Grund könne die vom VII. Zivilsenat voll-zogene Rechtsprechungsänderung auch nicht auf das Werk-vertragsrecht beschränkt werden, denn es gehe gerade nicht um Besonderheiten des Werkvertragsrechts, sondern um die für alle Vertragstypen maßgebliche Auslegung des allgemei-nen Leistungsstörungsrechts. Auch der Gesetzgeber sei im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung bestrebt gewesen, ei- nen Gleichlauf zwischen Kauf- und Werkvertragsrecht herzu-stellen,18 zumal die Unterscheidung zwischen Werkvertrag, Kaufvertrag mit Montageverpflichtung und Werklieferungs-vertrag häufig schwierig sei.19 Dass dem Besteller des Wer-kes, anders als dem Käufer, nach § 637 BGB ein Selbst- vornahmerecht samt Vorschussanspruch zustehe, sei unbe-achtlich, da auch der VII. Zivilsenat den Vorfinanzierungs- anspruch des Bestellers, der Schadensersatz verlange und den

12 BGH ZIP 2020, 1073 (1075 f.). 13 BGH ZIP 2020, 1073 (1075). 14 BGH ZIP 2020, 1073 (1075); anders allerdings die ganz herrschende Auffassung im Schrifttum, nach der § 251 Abs. 1 BGB auch den Fall des § 281 Abs. 4 BGB erfasse, vgl. Mohr, Jura 2010, 808 (812); Oetker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 251 Rn. 6; Wietfeld, AcP 215 (2015), 716 (724). 15 BGH ZIP 2020, 1073 (1076). 16 BGH ZIP 2020, 1073 (1075). 17 BGH ZIP 2020, 1073 (1075 f.). 18 Vgl. hierzu BT-Drs. 14/6040, S. 94 f., 260 f. 19 BGH ZIP 2020, 1073 (1077).

Mangel tatsächlich beseitigen lassen möchte, nicht aus § 637 BGB, sondern aus dem allgemeinen Schadensersatzrecht her- leite.20 Insoweit gibt der V. Zivilsenat die Argumentation des VII. Zivilsenats indes etwas verkürzt wieder. Der VII. Zivil- senat entnimmt § 637 BGB offenbar einen beschränkt verall-gemeinerungsfähigen Rechtsgedanken, wonach der Besteller (nur) im Werkvertragsrecht von den Risiken der Vorfinanzie-rung der Mängelbeseitigung freizustellen sei;21 insoweit stützt er sich also nicht auf die §§ 280 ff. BGB.22 Allerdings bedarf es dieser Konstruktion überhaupt nur, wenn der Be-steller nicht auf Basis der fiktiven Mängelbeseitigungskosten abrechnen darf und deshalb nicht bereits über den Schadens-ersatzanspruch die Mittel erhält, die er zur Instandsetzung benötigt – maßgebliches Argument für die Aufgabe dieser Berechnungsmethode bleibt die Verhütung einer möglichen Überkompensation aufseiten des Bestellers. Dieses Problem stellt sich jedoch nicht bloß im Werkvertragsrecht, weswegen schon der VII. Zivilsenat eine Divergenzanfrage hätte stellen müssen.23 2. Bereicherungsverbot und Erfüllungsinteresse Das zentrale Problem der Bemessung des Schadensersatzes nach den fiktiven Mängelbeseitigungskosten liegt somit nicht in der Unvereinbarkeit mit Leitgedanken des Werkvertrags-rechts, sondern in einem Konflikt mit dem schadensrechtli-chen Bereicherungsverbot, das eine Überkompensation des Schadensersatzgläubigers gerade verhindern will: Dieser soll über den Schadensersatzanspruch keinen Gewinn erzielen.24 Nach der herrschenden, aus § 249 Abs. 1 BGB abgeleiteten Differenzhypothese besteht der ersatzfähige Schaden des Gläubigers in der Differenz zwischen seinem gegenwärtigen Vermögensstand und dem hypothetischen Vermögensstand ohne das schädigende Ereignis.25 Hat nun die mangelhafte Sache einen Wert von 8.000 € und kostet die Mängelbeseiti-gung 2.500 €, scheint der Käufer um 500 € bereichert, wenn der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand 10.000 € beträgt und der Käufer unter Ansatz der fiktiven Mängelbeseitigungs-kosten „kleinen“ Schadensersatz statt der Leistung verlangt, ohne die Sache im Anschluss reparieren zu lassen, denn dann befinden sich sowohl der Wert der mangelhaften Sache (8.000 €) als auch der Wert der Leistungen, die zur Mängel-beseitigung erforderlich sind (2.500 €) in seinem Vermögen (in Summe also 10.500 €). Bei ordnungsgemäßer (Nach-)Er- füllung stünde der Käufer objektiv betrachtet folglich um 500 € schlechter, denn dann verbliebe ihm allein der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand (10.000 €). Erst wenn der Käufer sich tatsächlich zur Mängelbeseitigung entscheidet,

20 Unter Verweis auf BGHZ 218, 1 (20) = NJW 2018, 1463 (1468). 21 BGHZ 218, 1 (20) = NJW 2018, 1463 (1468). 22 Ebenso bereits Looschelders, LMK 2020, 430873. 23 Heinemeyer, NJW 2018, 2441 (2444); Mäsch, JuS 2018, 907 (909); Peters, JR 2019, 331 (342). 24 Mäsch, JuS 2018, 907 (908); Schiemann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2017, Vor §§ 249–254 Rn. 2. 25 Oetker (Fn. 14), § 249 Rn. 18.

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BGH, Urt. v. 13.3.2020 – V ZR 33/19 Bielefeld _____________________________________________________________________________________

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entsteht ihm ein Schaden, der nach der Differenzhypothese beachtlich ist.

a) Die Position des VII. Zivilsenats Der Begriff der Überkompensation, wie ihn der VII. Zivil- senat verwendet, ist weiter: Zwar beruft er sich auch auf das schadensrechtliche Bereicherungsverbot und stellt maßgeb-lich darauf ab, dass beim Besteller vor der Mängelbeseitigung keine Vermögensminderung in Höhe der hierzu erforderli-chen Kosten zu verzeichnen sei;26 eine Überkompensation liegt nach Ansicht dieses Senats jedoch bereits dann vor, wenn die fiktiven Mängelbeseitigungskosten die vereinbarte Vergütung erheblich übersteigen.27 Damit geht der Senat noch über das Bereicherungsverbot, bei dem es allein auf die Vermögenssituation des Geschädigten ankommt, hinaus. Das ist wenig überzeugend, soll doch der Gläubiger die tatsäch-lich aufgewendeten Mängelbeseitigungskosten, stets, also auch dann, wenn sie die vereinbarte Vergütung deutlich über-steigen, verlangen können, denn dann liege auch ein entspre-chender Schaden vor.

Davon abgesehen steht die Lösung des VII. Zivilsenats je-denfalls mit dem Bereicherungsverbot in Einklang. Über-spitzt gesagt muss der Besteller sich nach diesem Ansatz also zunächst selbst schädigen, indem er den Mangel beseitigen lässt, bevor er den hierzu erforderlichen Betrag verlangen kann. Der VII. Zivilsenat versucht dies zu kompensieren, in- dem er dem Besteller, der den Mangel tatsächlich beseitigen lassen möchte, Ansprüche auf Befreiung von den zu diesem Zweck eingegangenen Verbindlichkeiten und Vorschuss- ansprüche einräumt.28 b) Die Position des V. Zivilsenats – subjektiver Schadens- einschlag beim Schadensersatz statt der Leistung? Der V. Zivilsenat hält die Schadensbemessung nach den fikti-ven Mängelbeseitigungskosten dagegen für zulässig. Dafür spräche einerseits der Aspekt der Praktikabilität, da sich die voraussichtlich erforderlichen Mängelbeseitigungskosten leich-ter ermitteln ließen als der mangelbedingte Minderwert,29 andererseits aber auch die Dogmatik der vertraglichen Scha-densersatzansprüche: Habe etwa der Käufer den PKW nicht in der bestellten, besonders schrillen Farbe, sondern in einer verkehrsüblicheren Farbe erhalten, könne der Marktwert des PKW dadurch möglicherweise sogar steigen,30 sodass nach der Differenzhypothese zunächst überhaupt kein Schaden vorläge, wenn man die gegenwärtige Vermögenslage des Käufers mit der Vermögenslage bei hypothetisch ordnungs-gemäßer Erfüllung vergleichen würde. Folgerichtig müsste bei unterbliebener Nacherfüllung auch ein Schadensersatz- anspruch des Käufers ausscheiden. Damit werde das Leis-tungsinteresse des Käufers an der Neulackierung indes nicht ausreichend abgebildet, sodass er durch Zahlung des für die 26 BGHZ 218, 1 (10 f.) = NJW 2018, 1463 (1465). 27 BGHZ 218, 1 (11) = NJW 2018, 1463 (1465); ebenso Mäsch, JuS 2018, 907 (908). 28 BGHZ 218, 1 (15) = NJW 2018, 1463 (1467). 29 BGH ZIP 2020, 1073 (1079). 30 BGH ZIP 2020, 1073 (1078).

Neulackierung erforderlichen Betrags in die Lage zu verset-zen sei, den vertragsgemäßen Zustand selbst herzustellen.31 Maßgeblicher Anknüpfungspunkt des § 281 BGB ist damit nach Auffassung des V. Zivilsenats der Nacherfüllungs- anspruch des Käufers (und nicht der ursprüngliche Anspruch auf mangelfreie Verschaffung der Sache aus § 433 Abs. 1 S. 2 BGB).32 Da § 281 Abs. 4 BGB die Nacherfüllung durch den Verkäufer ausschließe und der Käufer nunmehr selbst für die Beseitigung des Mangels sorgen müsse, sei der hierzu erfor-derliche Geldbetrag zu entrichten.33

Der Käufer erhält also Ersatz für die ausgebliebene Nach-erfüllungshandlung. Auch in Fällen, in denen die mangelhafte Sache nicht, wie im Fallbeispiel des BGH, von höherem Wert ist als die mangelfreie Sache, kann dies, wie oben gezeigt,34 unter Zugrundelegung der Differenzhypothese zu einer Be-reicherung des Käufers führen, weil der Wert der Nacherfül-lungshandlung (mit der der vertragsgemäße Zustand herbei-geführt wird) den Wert des Nacherfüllungserfolgs (Wertstei-gerung der zuvor mangelhaften Kaufsache) übersteigen kann. Der Verkäufer schuldet im Rahmen der Nacherfüllung jedoch nur einen bestimmten Erfolg, nämlich die Reparatur der Sa-che, weshalb die Wertdifferenz zwischen Nacherfüllungs-handlung und -erfolg für den Käufer zunächst keinen Nutzen hat. Über den „kleinen“ Schadensersatz kann der Käufer den Nacherfüllungsanspruch allerdings aus dem Zusammenhang mit dem primären Erfüllungsanspruch reißen: Dadurch, dass er nun ohne Zweckbindung den für die Herstellung des ver-tragsgemäßen Zustands erforderlichen Geldbetrag verlangen kann, kann der Käufer den vollen Marktwert der Nacherfül-lungshandlung – im eingangs gewählten Rechenbeispiel 2.500 € – liquidieren, was ihm nicht möglich ist, wenn der Verkäufer ordnungsgemäß nacherfüllt, da dem Käufer dann allein der Wert der mangelfreien Sache verbleibt.

Damit steht der Käufer besser als bei ordnungsgemäßer (Nach-)Erfüllung. Diese Besserstellung kann zwar wieder entfallen, wenn der Käufer tatsächlich zur Reparatur schrei-tet. Für die Frage, ob der Schadensersatzgläubiger bereichert ist, kann es jedoch nicht darauf ankommen, ob er die Ersatz-zahlung gewinn- oder verlustbringend einsetzt. Der V. Zivil- senat stellt den Käufer wirtschaftlich nicht so, wie er bei ordnungsgemäßer Erfüllung durch den Verkäufer stünde, sondern fragt, welchen Betrag der Käufer noch aufwenden müsste, um den vertragsgemäßen Zustand zu erreichen. Diese Vorgehensweise ist mit dem Bereicherungsverbot unverein-bar.35 Im PKW-Beispiel des entscheidenden Senats geht es dem Käufer jedoch gerade um den Erhalt einer objektiv min-derwertigen Leistung. Dass diese Leistung ausbleibt, ist bei objektiv-wirtschaftlicher Betrachtung unschädlich, für den Käufer aber möglicherweise entscheidend.36 Unweigerlich fühlt man sich an die strafrechtliche Figur des persönlichen

31 BGH ZIP 2020, 1073 (1077 f.). 32 BGH ZIP 2020, 1073 (1077). 33 BGH ZIP 2020, 1073 (1077 f.). 34 Oben II. 35 Mäsch, JuS 2018, 907 (908). 36 Darauf abstellend bereits Peters, JR 2019, 331 (340).

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BGH, Urt. v. 13.3.2020 – V ZR 33/19 Bielefeld _____________________________________________________________________________________

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ZJS 5/2020 493

Schadenseinschlags erinnert,37 wenn das subjektive Interesse des Käufers am Erhalt der vereinbarten Leistung vom V. Zivilsenat in den Mittelpunkt gerückt wird. Seine Recht-fertigung findet dieser Bruch mit dem Bereicherungsverbot und dem objektiv-wirtschaftlichen Ansatz der Differenzhypo-these in einer wertenden Betrachtung der Interessenlage der Vertragsparteien. c) Bewertung Für eine solche Schadensberechnung im Rahmen des An-spruchs auf Schadensersatz statt der Leistung streitet, dass schon der Nacherfüllungsanspruch als modifizierter Erfül-lungsanspruch38 darauf angelegt ist, den Käufer doch noch in den Genuss der vertragsgemäßen Leistung zu bringen und der Verkäufer hierfür regelmäßig Aufwendungen tätigen muss, die den Wertzuwachs, den die Sache durch die Reparatur er- fährt, übersteigen. Erst bei unverhältnismäßigen Kosten kann er die Nacherfüllung gemäß § 439 Abs. 4 S. 1 BGB verwei-gern.39 Selbiges gilt nach § 635 Abs. 3 BGB für den Unter-nehmer. Diese Aufwendungen kommen dem Käufer zugute, mögen sie sich auch nicht wertsteigernd auswirken. Müsste der Käufer sich im Rahmen des „kleinen“ Schadensersatzes nunmehr mit dem mangelbedingten Minderwert zufriedenge-ben oder die Mängelbeseitigung zumindest vorfinanzieren, wäre dies gegenüber dem Nacherfüllungsanspruch eine spür-bare Verschlechterung seiner Position, was vor dem Hinter-grund, dass der Schadensersatzanspruch sogar Vertretenmüs-sen des Schuldners voraussetzt und gegenüber der Nacherfül-lung subsidiär ist,40 durchaus fragwürdig erscheint. Demge-genüber bestünde für den Verkäufer ein Anreiz, die möglich-erweise kostspielige Nacherfüllung zu verweigern und darauf zu spekulieren, dass der Käufer die Sache nach Geltend- machung des Schadensersatzanspruchs nicht selbst reparieren lässt, denn dann müsste er nur den mangelbedingten Minder-wert ersetzen.41 Für die Lösung des V. Zivilsenats spricht ins- besondere, dass die Bereicherung, die dem Käufer jedenfalls bis zur Reparatur zufließt, nicht zu einer Belastung des Ver-käufers führt, die dieser nicht ohnehin zu erdulden hätte: Schließlich liegt selbst nach Ansicht des VII. Zivilsenats ein ersatzfähiger Schaden vor, wenn der Besteller die Sache tat- sächlich in den vertragsgemäßen Zustand versetzen lässt.42 Welches schutzwürdige Interesse könnte aber der Unterneh-mer bzw. Verkäufer daran haben, dass die Mängelbeseiti-gungskosten nicht seinem Vertragspartner, sondern einem Dritten, der die Sache in den vertragsgemäßen Zustand ver-setzt, zufließen? Vor diesem Hintergrund wiegt der Umstand, dass dem Käufer bzw. Besteller, der die Sache in mangel-

37 Zu dieser Rechtsfigur BGH NStZ-RR 2018, 283; Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 30. Aufl. 2019, § 263 Rn. 119 ff. 38 BGHZ 195, 135 (142) = NJW 2013, 220 (222); BT-Drs. 14/ 6040, S. 221. 39 Näher Westermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 439 Rn. 28. 40 Westermann (Fn. 39), § 437 Rn. 1 f. 41 BGH ZIP 2020, 1073 (1078). 42 BGHZ 218, 1 (14) = NJW 2018, 1463 (1466 f.).

haftem Zustand belässt, eine Bereicherung verbleibt, nicht schwer. Im Gegenteil ist es nur konsequent, wenn der V. Zivil- senat dem Käufer sogleich den Betrag zuspricht, der zur Her- stellung des vertragsgemäßen Zustands erforderlich wäre.43

Wenig überzeugungskräftig ist demgegenüber die Beru-fung auf die Kontinuität der Rechtsprechung. So meint der erkennende Senat, dass von einer gefestigten Rechtsprechung nur abgewichen werden dürfe, wenn deutlich überwiegende oder sogar schlechthin zwingende Gründe dafür sprächen.44 Diese Formulierung ist bestenfalls irreführend: Liegt eine von der bisherigen Rechtsprechung abweichende Auslegung einer Rechtsnorm näher, darf das Gericht schon aufgrund von Art. 20 Abs. 3 GG nicht an einer Rechtsprechungstradition festhalten, die es nunmehr für unzutreffend hält. Solche Fälle besserer Rechtserkenntnis stellen deshalb immer „schlechthin zwingende Gründe“ für die Aufgabe einer ständigen, aber fal- schen Rechtsprechung dar. Kontinuität der Rechtsprechung ist, anders als der V. Zivilsenat suggeriert, kein Selbstwert.45 Der Verlust jeglicher Rechtssicherheit ist deshalb jedoch nicht zu befürchten, schließlich hat eine gewachsene Recht-sprechung nicht selten die besseren Argumente für sich – das belegt auch der vorliegende Fall. III. Fazit und Ausblick Für die Ansicht des VII. Zivilsenats streitet vor allem das nahezu einhellig anerkannte46 schadensrechtliche Bereiche-rungsverbot: Im Einzelfall kann die Abrechnung auf Basis der fiktiven Mängelbeseitigungskosten dazu führen, dass der Gläubiger wirtschaftlich besser steht als bei ordnungsgemä-ßer Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen. Die besse-ren Argumente sprechen gleichwohl für die Position des V. Zivilsenats, zumal die im Einzelfall mögliche Bereiche-rung des Käufers bzw. Bestellers nicht zu einer Mehrbelas-tung des Verkäufers bzw. Unternehmers führt. Da seitens des VII. Zivilsenats mit einer Aufgabe der erst kürzlich geänder-ten, vor Kurzem erneut bestätigten Rechtsprechung wohl nicht zu rechnen ist, wird die aufgeworfene Frage mittelfris-tig den Großen Senat für Zivilsachen beschäftigen. Ihre prak-tische Bedeutung liegt auf der Hand. Auch als Prüfungs- gegenstand ist sie gut geeignet, kann die Schadensberechnung anhand der fiktiven Mängelbeseitigungskosten doch problem-los in einen werk- oder kaufvertraglichen Sachverhalt einge-woben werden.

Wiss. Mitarbeiter Benedikt Bielefeld, Bochum

43 Im Ergebnis ebenso Peters, JR 2019, 331 (341); tendenziell auch Looschelders, LMK 2020, 430873. 44 BGH ZIP 2020, 1073 (1077). 45 Dazu eingehend Kähler, NZM 2020, 95 (98 ff.). 46 Kritisch etwa Wagner, AcP 206 (2006), 352 (470).

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OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20 Heghmanns _____________________________________________________________________________________

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 494

E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Kontaktloses Bezahlen mit EC-Karte ohne PIN-Abfrage 1. Löst ein Nichtberechtigter mit einer EC-Karte kontakt-los einen elektronischen Zahlungsvorgang aus und fragt das kartenemittierende Kreditinstitut im Zuge der Ab-wicklung des Zahlungsvorgangs im „Point-of-sale-Ver- fahren“ die zu der Karte gehörende Geheimnummer (PIN) nicht ab, verwirklicht dieses Verhalten mangels Täuschung nicht den Betrugstatbestand gemäß § 263 Abs. 1 StGB. 2. Ein solches Verhalten verwirklicht auch nicht – man-gels Betrugsähnlichkeit – die Tatbestände des Computer-betruges gemäß § 263a Abs. 1 StGB und – mangels Vor-liegens einer „Datenurkunde“ – der Fälschung beweis- erheblicher Daten gemäß §§ 269 Abs. 1, 270 StGB. 3. Ein solches Verhalten kann aber als Urkundenunter-drückung gemäß § 274 Abs. 1 Nr. 2 StGB sowie nach- rangig als Datenveränderung gemäß § 303a Abs. 1 StGB strafbar sein. Insbesondere für die Verwirklichung des § 274 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist allerdings in subjektiver Hin-sicht zumindest eine laienhafte Vorstellung von den tech-nischen Abläufen einer kontaktlosen Zahlung im POS-Verfahren erforderlich. (Amtliche Leitsätze) StGB §§ 263, 263a, 269, 270, 274 ZAG § 55 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20 (LG Pader-born)1 I. Einführung Kontaktloses Bezahlen an der Supermarktkasse ist in Zeiten gesteigerter Infektionsgefahren nicht nur bequem, sondern auch erwünscht. Technisch geschieht dies mittels des NFC-Verfahrens2 per elektromagnetischer Induktion auf die kurze Entfernung von wenigen Zentimetern zwischen EC-Karte und Lesegerät.3 Hierbei identifiziert das Lesegerät die vorgehalte-ne EC-Karte, um sodann zu überprüfen, ob für diese Karte eine Sperre eingetragen oder der Verfügungsrahmen über-schritten wird.4 Ist das nicht der Fall, kann der Bezahlvorgang erfolgen. Zur Steigerung der Bequemlichkeit sind die karten-

1 Die Entscheidung ist abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/nrwe/olgs/hamm/j2020/4_RVs_12_20_Beschluss_20200407.html (27.8.2020) und veröffentlicht in BeckRS 2020, 9059. 2 NFC = near field communication; das Verfahren basiert auf der sog. RFID-Technologie (RFID = radio-frequency identi-fication). 3 Technisch ähnlich verhält es sich, wenn ein Smartphone zur Bezahlung eingesetzt wird. In diesem Fall ist jedoch durch das Einloggen in das Betriebssystem des Mobilgerätes die Berechtigung des Vorlegenden letztlich besser gewährleistet als in dem hier praktizierten Verfahren des Vorhaltens einer EC-Karte. 4 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 24.

ausgebenden Institute zudem dazu übergegangen, auf die bis dahin erforderliche Kontrolle der Berechtigung der karten-vorlegenden Person qua Abfrage einer (gewöhnlich nur dem Berechtigten bekannten) PIN5 zu verzichten, sofern der Zah-lungsvorgang unter der Schwelle von 25,- € bleibt. Miss-brauchsmöglichkeiten durch unberechtigte Kartenbesitzer (Diebe, Hehler oder wie hier den Finder einer verloren ge-gangenen EC-Karte), die fremde Karten ohne weiteres zur Be- zahlung kleinerer Einkäufe nutzen können, solange der Be-rechtigte die Karte noch nicht hat sperren lassen, liegen auf der Hand. Die strafrechtliche Erfassung solcher unberechtigt initiierter Bezahlvorgänge bereitet offenbar Schwierigkeiten, wie die hier zu besprechende Entscheidung des OLG Hamm aufdeckt, die auf der Basis einer sorgfältigen Durchsicht und Erörterung der in Betracht kommenden Strafvorschriften zu einem überraschenden (und angreifbaren) Schuldspruch wegen Urkundenunterdrückung gelangt. Das Ergebnis muss man nicht teilen, aber die Entscheidung bleibt in jedem Fall lehr-reich und für eine fundierte Examensvorbereitung lesenswert. II. Sachverhalt Nach den vom Senat nicht beanstandeten Feststellungen der Berufungsstrafkammer (kleine Strafkammer) des Landgerichts war der Angeklagte durch seine Freundin K in den Besitz einer am 15.12.2018 gegen 11.00 Uhr von dem Eigentümer A verlorenen Geldbörse gelangt, in welcher sich u.a. die EC-Karte einer Sparkasse befand. Im Bewusstsein fehlender Berechtigung nutzte der Angeklagte am selben Tag zwischen 12.59 Uhr und 13.07 Uhr die besagte Karte zur Bezahlung von vier Einkäufen in einem Supermarkt und einem zugehö-rigen Getränkemarkt. Da die Rechnungsbeträge jeweils unter 25,- € lagen, konnte der Angeklagte die fremde EC-Karte auf das Kartenlesegerät auflegen und so ohne weitere Abfrage einer PIN den Bezahlungsvorgang zu Lasten der Sparkasse und zu Gunsten des Marktes auslösen, wodurch der Markt einen einredefreien Zahlungsanspruch in Höhe des Rech-nungsbetrages gegen die Sparkasse erlangt hat.6 III. Die Entscheidung des Senats Im Hinblick auf dieses geschilderte Geschehen war der An-geklagte vom Strafrichter in Paderborn wegen Computer- betruges in vier Fällen (§§ 263a, 248a, 53 StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Auf seine Berufung hin hatte die kleine Strafkammer des Landgerichts Paderborn den Schuldspruch abgeändert und ihn wegen Betruges in vier Fällen (§§ 263, 248a, 53 StGB) schuldig gesprochen, es aber bei der ausgeurteilten Gesamt-freiheitsstrafe belassen. Auf die Revision des Angeklagten hin änderte der Senat unter Verwerfung der weitergehenden Revision den Schuldspruch ein weiteres Mal, und zwar jetzt in einen solchen wegen Urkundenunterdrückung in vier Fäl-len (§§ 274 Abs. 1 Nr. 2, 53 StGB). Erneut blieb es bei der ausgeurteilten Gesamtfreiheitsstrafe. In seiner Begründung geht der Senat in einer Tour d’Horizon durch nahezu das gesamte Computerstrafrecht, hält jedoch neben § 274 Abs. 1 5 PIN = Persönliche Identifikations-Nummer. 6 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 9–13.

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OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20 Heghmanns _____________________________________________________________________________________

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Nr. 2 StGB lediglich § 303a StGB für verwirklicht, der aber als subsidiär zurücktrete. 1. Betrug Der Senat beginnt damit, den vom Strafrichter angenomme-nen Betrug (§§ 263 Abs. 1 und 4, 248a StGB) zu verneinen.7 Im Kern geht es dabei um die Frage, ob das Personal des Marktes irrt, wenn ein Unberechtigter mittels einer ihm nicht zustehenden EC-Karte seine Einkäufe bezahlt. Möglicher-weise kann dabei noch von einer konkludenten Täuschung über die Berechtigung zur Nutzung der EC-Karte ausgegangen werden. Denn kaum ein Täter wird sich (zutreffende) Gedan-ken über die zivilrechtlichen Hintergründe des angestrebten Zahlungsvorganges machen und im Zweifel vielmehr anneh- men, es sei notwendig, die fehlende Berechtigung zu verber-gen. Tatsächlich bleibt die fehlende Berechtigung jedoch, wie der Senat ausführt, ohne Belang dafür, weil der Markt unab-hängig von diesem Umstand einen garantierten Zahlungs- anspruch gegen das kartenausgebende Institut erlangt.8

Hintergrund ist das komplexe Regelungssystem für kon-taktlose Zahlungsvorgänge. An sich wäre nach § 55 Abs. 1 ZAG9 der Zahlungsdienstleister (hier die Sparkasse) verpflich-tet, beim Auslösen eines elektronischen Zahlungsvorganges eine sog. „starke Kundenauthentifizierung“ zu verlangen. Das kann nach § 1 Abs. 24 ZAG beispielsweise durch die Kom-bination der Abfrage von Wissen, über welches an sich nur der berechtigte Nutzer verfügen kann (etwa die PIN), und dem Einsatz von etwas, das nur der berechtigte Nutzer besit-zen dürfte (etwa die EC-Karte) geschehen. Eine solche Kom-bination wird z.B. an Geldautomaten zur Authentifizierung des berechtigten Kunden eingesetzt. Ausnahmen von der Pflicht zur starken Kundenauthentifizierung gestattet § 55 Abs. 5 ZAG durch Verweis auf den delegierten Rechtsakt nach Art. 98 der Richtlinie (EU) 2015/2366 in Gestalt der VO (EU) 2018/389 v. 27.11.2017.10 Art. 11 der VO (EU) 2018/ 389 erlaubt nämlich ein solches Absehen von der starken Kundenauthentifizierung, sofern der einzelne Zahlungsvorgang 50,- € nicht überschreitet, seit der letzten starken Kunden- authentifizierung nicht mehr als fünf kontaktlose Zahlungs-vorgänge ausgelöst wurden und deren Gesamtvolumen 150,- € zudem nicht überstiegen hat. Von dieser Ermächtigung hat die deutsche Kreditwirtschaft Gebrauch gemacht, dabei je-doch den einzelnen Zahlungsvorgang zusätzlich auf 25,- € begrenzt.11 Die Kundenauthentifizierung ist dann keine „star-

7 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 20–27. 8 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 22. 9 Gesetz über die Beaufsichtigung von Zahlungsdiensten (Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz) v. 17.7.2017 (BGBl. I 2017, S. 2446). 10 Delegierte Verordnung (EU) 2018/389 der Kommission v. 27.11.2017 zur Ergänzung der Richtlinie (EU) 2015/2366 des Europäischen Parlaments und des Rates durch technische Regulierungsstandards für eine starke Kundenauthentifizie-rung und für sichere offene Standards für die Kommunikation (ABl. EU 2018 Nr. L 69/23). 11 Nr. 8 der Bedingungen für die Teilnahme am electronic cash-System der deutschen Kreditwirtschaft, gültig ab 9.6.2016

ke“ mehr, weil statt zweier nur noch eine Komponente durch den Zahlungsdienstleister geprüft wird, nämlich der Besitz einer gültigen EC-Karte. Wenn dies geschieht und die Zah-lung sodann durch den Zahlungsdienstleister autorisiert wird, erlangt der Markt unmittelbar eine einredefreie Forderung gegen die Sparkasse in Höhe des autorisierten Betrages.12 Die Haftung des Zahlungsdienstleisters entfällt lediglich bei vor-sätzlich kollusivem Zusammenwirken mit dem Kunden, d.h. bei positiver Kenntnis der Nichtberechtigung.13 Es besteht aber keinerlei Pflicht (und folglich auch keinerlei Interesse), die Berechtigung des kartenvorlegenden Kunden seitens des Marktes zu prüfen, womit auch kein Irrtum des Kassenperso-nals angenommen werden kann und ein Betrug ausscheidet.14 2. Computerbetrug Angesichts des weitgehend automatisch verlaufenden Vor-ganges widmet der Senat ebenfalls eingehendere Überlegun-gen dem vom Berufungsgericht bejahten Computerbetrug (§§ 263a Abs. 1 und 2, 263 Abs. 4, 248a StGB), der im Er-gebnis jedoch genauso wenig vorlag.15 Bemerkenswert ist da- bei die Klarheit, mit welcher der Senat die unbefugte Daten-verwendung als einzige ernsthaft in Betracht kommende Tat- variante verwirft. Verwendet werden die auf der EC-Karte gespeicherten Daten, die beim kontaktlosen Bezahlen dem Lesegerät zur Identifikation der Karte und damit des karten-ausgebenden Instituts sowie des bezogenen Kontos zugäng-lich gemacht, also zur Identifikation seitens des Bezahlenden benutzt werden. Über das Merkmal „unbefugt“ in § 263a Abs. 1 StGB herrscht bekanntlich Streit, den der Senat nur streift, um – insoweit fest auf dem Boden der Rspr. stehend16 – sodann die vorzugswürdige17 betrugsäquivalente Deutung anzuwenden.18

Bemerkenswert ist dabei die präzise Zuspitzung der Sub-sumtionsfrage: „Um die Vergleichbarkeit sicherzustellen, ist für die Täuschungsäquivalenz dabei nicht auf einen fiktiven Bankangestellten abzustellen, der die Interessen der Bank im Autorisierungsverfahren einer EC-Zahlung umfassend wahrzu- nehmen hat, sondern auf das Vorstellungsbild eines Schalter-angestellten, der sich nur mit den Fragen befasst, die auch der Computer prüft bzw. für die sich auch im Computer- programm Ansätze zur Kontrolle finden.“19 Nur mit dieser

(https://www.einfachzahlen.de/uploads/haendlerbedingungen.pdf, 27.8.2020) 12 Casper, in: Säcker u.a. (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 6., 8. Aufl. 2020, § 675c Rn. 131, 133. 13 Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 9. Aufl. 2019, § 263 Rn. 79. 14 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 26 f. 15 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 29–36. 16 BGH NJW 2014, 711 (712); BGH NJW 2013, 2608 (2610); BGH NJW 2002, 905 (906). 17 Zur Darstellung des Streitstandes siehe Heghmanns, ZJS 2014, 323 (326 f.). 18 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 33. 19 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 34.

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OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20 Heghmanns _____________________________________________________________________________________

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Einschränkung, die selbst der BGH nicht stets beachtet,20 ge- langt man zu einer tatsächlich betrugsäquivalenten Bestim-mung der Grenzen des Computerbetruges. Bei der gedankli-chen Ersetzung des Computers durch einen Menschen darf man also nicht gleichzeitig die überlegenen Prüfungsmöglich-keiten (oder -interessen) des Menschen hinzudenken. Viel-mehr muss man sich den ersatzweise hinzugedachten Men-schen als eine Person vorstellen, die sich nur für über diejeni-gen Aspekte des Handelns ihres Gegenübers Gedanken macht (und sodann u.U. darüber irren kann), mit denen sich auch der Computer befassen (und seine Reaktion entsprechend dif- ferenzieren) kann. Verzichtet hingegen das Datenverarbei-tungssystem auf die Überprüfung bestimmter Aspekte einer Dateneingabe, so entspricht dieses „Verhalten“ dem Verhal-ten desjenigen Menschen, dem in gleicher Weise bestimmte Aspekte des Handelns seines Gegenübers völlig gleichgültig sind, etwa bei der Kreditkartenvorlage die Deckung des Kun-denkontos bei dem kartenausgebenden Kreditinstitut. Ebenso wenig, wie der Mensch hierüber i.S.v. § 263 StGB irrt, darf bei betrugsäquivalenter Auslegung ein Computerbetrug an-genommen werden; der Datenverwender „beeinflusst“ durch diesen Aspekt seiner Dateneingabe dann nicht das Ergebnis des Datenverarbeitungsvorganges. Andernfalls würde näm-lich § 263a StGB zu einer Strafbarkeitsausdehnung führen und sich nicht auf seine Rolle beschränken, allein diejenigen Strafbarkeitslücken zu schließen, die durch die Digitalisie-rung von Geschäftsabläufen zwangsläufig (und nicht infolge anderer Kontrollverzichtsentscheidungen) entstehen. Folge-richtig führt der Senat aus, der allenfalls täuschungsfähige Umstand, nämlich die fehlende Berechtigung des Angeklag-ten, die Karte in eigener Person zu verwenden, werde vom Datenverarbeitungssystem nicht überprüft, weil dieses ledig-lich eine etwaige Kartensperre sowie eine Überschreitung der Betrags- und Häufigkeitsgrenzen kontaktlosen Zahlungs- verkehrs überprüfe, nicht dagegen die Berechtigung des die Karte Vorlegenden.21 Technisch wäre das selbstverständlich möglich gewesen; man bräuchte nur die PIN-Eingabe zu ver- langen. Das aber soll zwecks größtmöglicher Attraktivität der kontaktlosen Zahlungsweise gerade nicht geschehen. Folge-richtig liegt nichts vor, was einem Irren i.S.v. § 263 StGB entspräche, und der Datenverarbeitungsvorgang wird i.S.v. § 263a StGB nicht durch die unbefugte Datenverwendung beeinflusst: Ob nun der legitime Karteninhaber oder der Un-berechtigte die Karte verwendet – die Zahlung an den karten-annehmenden Markt wird in den oben genannten Grenzen des kontaktlosen Zahlungsverkehrs garantiert. Die damit gänzlich unnötig und nur der Kundenbequemlichkeit halber eröffneten Missbrauchsmöglichkeiten könnte man geradezu als eigenverantwortliche Selbstgefährdung der kartenausge-benden Institute verstehen; ein Grund mehr, keine Ausdeh-nung des Strafrechtsschutzes unter Verletzung systematischer Auslegungsgrundsätze vorzunehmen. Der Senat ist – an die-ser Stelle – mit seiner präzisen Vorgehensweise einer solchen

20 Vgl. etwa BGH NJW 2014, 711 (712), wo dieser Aspekt nicht bedacht wurde; demgegenüber zutreffend aber BGH NJW 2013, 2608 (2610); BGH NJW 2002, 905 (906). 21 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 35.

Versuchung entgangen und hat einen Computerbetrug zu Recht abgelehnt.22 3. Datenfälschung (§ 269 StGB) Interessanterweise befasst sich der Senat im Anschluss mit einer Fälschung beweiserheblicher Daten (§ 269 Abs. 1 StGB), die er im Ergebnis zwar zutreffend ablehnt, dies jedoch mit einer nicht ganz überzeugenden Begründung.23 Der Tatbe-stand setzt in der hier denkbaren Variante voraus, Daten so zu speichern, dass bei ihrer Wahrnehmung eine unechte Urkunde vorläge. Als fragliche Daten begreift der Senat zutreffend die Transaktionsdaten (Konto- und Kartendaten, weiterhin wohl auch Zeitpunkt der Vorlage sowie Höhe des Zahlbetrages).24 Er verneint dann aber die hypothetische Urkundenqualität des gespeicherten Datensatzes, weil er mangels Identifikation des Eingebenden keinen hypothetischen Urkundenaussteller aus- weise. Denn nur, wenn man per PIN-Abfrage gewährleiste, dass die Eingabe allein durch den berechtigten Kartenbesitzer erfolgt sei, könne man diesen als (vorgeblichen) Urheber des Datensatzes bezeichnen, was dann zu einer hypothetischen Urkundenqualität führe.25 Diese Argumentation erscheint nicht unbedingt schlüssig. Wenn das Vorhalten der EC-Karte der Herstellungsakt des Datensatzes sein sollte (dazu sogleich mehr), so ist die Nutzung von EC-Karten durch Unberechtig-te trotz des Verzichts auf eine Identitätskontrolle vermutlich (und glücklicherweise) die große Ausnahme. Die Eingabe ließe sich daher dem Anschein nach (und nur auf diesen kä-me es dann ja an) dem legitimen Kartenbesitzer zuordnen; damit gelangte man im Falle des Missbrauchs zu einem Aus-einanderfallen von vorgeblichem und tatsächlich Speichern-dem und mithin zur Unechtheit einer entsprechenden hypo-thetischen Urkunde. Von seinem Ausgangspunkt her hätte der Senat daher auch zur Bejahung von § 269 StGB gelangen können. Aus einer anderen Überlegung heraus bleibt sein Ergebnis gleichwohl richtig. Diese Erwägung setzt ebenfalls an der Frage an, wem denn die Datenspeicherung nach außen hin als Urheber zuzuordnen ist, tut dies aber in grundsätzli-cherer Weise. Denn der gespeicherte Datensatz wird ja min-destens teilweise nicht durch Daten erzeugt, welche der Kar-tennutzer gezielt eingibt. Zwar verwendet er die eigentlichen Kartendaten, aber Zeitpunkt und Betragshöhe übernimmt das System von der Kasse. Der anschließende Datensatz beruht also auf mehreren Inputquellen und wird zudem inhaltlich weitgehend vom Datenverarbeitungssystem vorgegeben. Der Speichervorgang selbst stellt also keine einseitige Angele-genheit dar, wie sie § 269 StGB idealtypisch zu Grunde legt. Vielmehr liest das Lesegerät die ihm angebotenen Daten aus; welche das im Einzelnen sind, bestimmt aber keineswegs der Kartennutzer, sondern derjenige, der die Datenverarbeitungs-anlage gestaltet hat. Im Ergebnis enthält die Speicherung als hypothetische Urkunde sodann die Erklärung, mit der Karte Nr. X sei am Datum Y zur Uhrzeit Z im Markt A an der Kas-se Z ein Rechnungsbetrag in Höhe von n € kontaktlos zur

22 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 36. 23 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 38–43. 24 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 41. 25 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 42 f.

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Zahlung angewiesen worden. Diesen komplexen Datensatz, der auch nur in dieser Kombination beweisgeeignet ist, wird man kaum demjenigen zuordnen können, der mit einer Hand-bewegung seine Erzeugung ausgelöst, ihn inhaltlich aber in keiner Weise gesteuert hat. Er erscheint vielmehr als Produkt des Betreibers der Datenverarbeitungsanlage. Die Situation ähnelt derjenigen eines Parkplatznutzers, der durch Eingabe von Münzen an einem Parkscheinautomaten die Herstellung eines Parkscheines auslöst und diesen sogar inhaltlich mit beeinflusst, weil die ausgedruckten Angaben von der jeweili-gen Geldmenge und dem Zeitpunkt des Einwurfs abhängen. Gleichwohl wird die entstandene Urkunde dem Systembe-treiber als Aussteller zugeordnet.26 Entsprechend muss bei hypothetischen Urkunden verfahren werden. Der Betreiber der Datenverarbeitungsanlage wirkt daher als geistiger Urhe-ber und ist folgerichtig als erkennbarer Aussteller der hypo-thetischen Urkunde anzusehen.27 Im Ergebnis wird also tat-sächlich eine hypothetische Urkunde erzeugt; sie ist jedoch echt und § 269 StGB schied aus diesem Grunde aus. 4. Datenunterdrückung (§ 274 Abs. 1 Nr. 2 StGB) Nach kurzen Bemerkungen, warum weder § 266b StGB28 noch § 202a Abs. 1 StGB29 erfüllt sind, erörtert (und bejaht) der Senat ein Vergehen nach § 274 Abs. 1 Nr. 2 StGB.30 Die zu unterdrückenden, beweiserheblichen Daten sieht er dabei in den Informationen über die Höhe des Verfügungsrahmens, die Anzahl kontaktloser Einsätze der Karte seit der letzten PIN-Abfrage und die Geldbeträge, über welche jeweils ver-fügt wurde, die allesamt im Autorisierungssystem des karten-ausgebenden Instituts gespeichert werden.31 Diese nicht dem Angeklagten gehörenden Daten seien nun „überschrieben, also gelöscht, bzw. verändert im Sinne der Norm“ worden.32 Schon diese Annahme erscheint fraglich, weil bei lebens- naher Betrachtung wohl keine der bestehenden Speicherun-gen verändert, sondern diese um einen weiteren Datensatz ergänzt worden sein dürften. Es wäre lebensfremd anzuneh-men, der Systembetreiber würde Daten über einen vorherigen Karteneinsatz überschreiben und damit löschen, weil selbst-verständlich ein erhebliches Interesse daran besteht, jede Benutzung der EC-Karte dauerhaft zu dokumentieren, und zwar schon aus Gründen der Abrechnung gegenüber dem Kontoinhaber. Gleichwohl könnte man im Hinblick auf die hinzukommenden Daten noch eine Veränderung i.S.v. § 274

26 OLG Köln NJW 2002, 527 f.; Hoyer (Fn. 13), § 267 Rn. 18 ff. 27 Vgl. dazu Heine/Schuster, in: Schönke/Schröder, Strafge-setzbuch, Kommentar, 30. Aufl. 2019, § 269 Rn. 12; Erb, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 5, 3. Aufl. 2019, § 269 Rn. 31. 28 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 45 (Angekl. ist nicht der berechtigte Kartenbesitzer). 29 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 47 f. (keine besondere Zugangssicherung der Daten, weil ohne weiteres auslesbar). 30 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 50–60. 31 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 52. 32 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 56.

Abs. 1 Nr. 2 StGB annehmen, wenn man auf den gesamten Datenbestand abstellt.

Ernsthafte Schwierigkeiten bereitet anschließend aber die Nachteilszufügungsabsicht, für die nach h.M. sicheres Wissen um den Nachteilseintritt i.S.v. dolus directus zweiten Grades genügt.33 Im Hinblick auf das Schutzgut der Beweisführungs- befugnis besteht der vorherzusehende Nachteil jedenfalls aus einem Verlust bzw. einer Verschlechterung von Beweismög-lichkeiten wegen der erfolgten Veränderung der Daten.34 An dieser Stelle bleibt die Entscheidung auffällig abstrakt; der Senat sieht, ohne dies jedoch näher auszuführen, den fragli-chen Nachteil beim berechtigten Karteninhaber, der nun kei- nen Beweis (mit dem veränderten Datensatz) mehr führen könne.35 Welcher Verlust an Beweismöglichkeiten sollte ihm aber tatsächlich drohen? Die zusätzlich dokumentierte Karten-nutzung erlaubt dem berechtigten Karteninhaber vielmehr, gegenüber dem kartenausgebenden Institut darzulegen, nicht selbst die entsprechende Verfügung vorgenommen zu haben (und damit eine Rückbuchung der Kontobelastung zu errei-chen). Sähe man den Nachteil hingegen in dem „Aufbrau-chen“ der begrenzten Zahl von kontaktlosen Zahlungsakten ohne PIN-Abfrage, wie es in der Entscheidung ebenfalls an- klingt,36 so wäre das zwar ein potenzieller Nachteil, der aber nur dann eintreten könnte, wenn die benutzte Karte erneut dem Berechtigten zugänglich würde und dieser sie nun we-gen Erschöpfung des Rahmens zur Nutzung ohne PIN-Ab- frage erst einmal nicht mehr in dieser nutzerfreundlichen Weise einsetzen könnte. Allerdings wird der Täter üblicher-weise die Karte behalten, wegwerfen oder vernichten, nicht jedoch dem Berechtigten zurückgeben wollen, womit der be- schriebene Nachteil von ihm zum Zeitpunkt des Einsatzes auch nicht vorhergesehen wird; § 274 Abs. 1 Nr. 2 StGB könnte daher allenfalls später, nämlich bei einem etwaigen Vernichtungsakt, verwirklicht werden, jedoch kaum bei den verfahrensgegenständlichen Geschehen an den Kassen des Marktes. 5. Datenveränderung (§ 303a StGB) Konsequent musste der Senat nach seinem zur Datenunter-drückung erzielten Ergebnis zugleich eine Datenveränderung nach § 303a Abs. 1 StGB bejahen,37 deren Merkmale voll-ständig in § 274 Abs. 1 Nr. 2 StGB enthalten sind, welcher deshalb insoweit eine Qualifikation bildet und § 303a Abs. 1 StGB folgerichtig verdrängt. Da sich dessen Tatbestand auf die Veränderung von (fremden) Daten beschränkt und keine überschießenden subjektiven Merkmale aufweist, mag seine Annahme auf den ersten Blick auch durchaus plausibel er-

33 BGH NJW 1953, 1924; Heine/Schuster (Fn. 27), § 274 Rn. 15; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kom-mentar, 67. Aufl. 2020, § 274 Rn. 9a; a.A. Hoyer (Fn. 13), § 274 Rn. 17 (dolus directus ersten Grades). 34 Freund, in: Joecks/Miebach (Fn. 27), § 274 Rn. 53; Fi-scher (Fn. 33), § 274 Rn. 9a; BGHSt 29, 192 (196); BGH NStZ 2010, 332 (333). 35 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 57 f. 36 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 54. 37 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 62–64.

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scheinen. Als Parallele zur Sachbeschädigung in der virtuel-len Welt genügt aber für § 303a StGB nicht jedwede Verän-derung von Daten, sondern diese muss in irgendeiner Form schädigend für den berechtigten Datenbesitzer wirken, indem sie den ursprünglichen Verwendungszweck des Datensatzes beeinträchtigt.38 Das wiederum ist, wie oben (4.) gezeigt, jedoch nicht der Fall; Kartenbesitzer und kartenausgebendes Institut werden die Dokumentation der missbräuchlichen Kartennutzung vielmehr gerade nicht als nachteilig werten, sondern von einer zweckentsprechenden Datenergänzung aus- gehen, die daher den Tatbestand von § 303a Abs. 1 StGB ebenfalls nicht zu erfüllen vermag. 6. Leistungserschleichung (§ 265a StGB) Nicht angesprochen wird in der Entscheidung ein Vergehen der Leistungserschleichung, was aus Sicht des Senats wegen der Subsidiaritätsklausel in § 265a Abs. 1 StGB allerdings konsequent war. Im Falle anderweitiger Straflosigkeit könnte man jedoch auf die Idee kommen, der Angeklagte habe als Leistung des „Bezahlautomaten“ die Freigabe der gekauften Waren durch die unberechtigte Vorlage der fremden EC-Karte erschlichen. Aber selbst diese Strafvorschrift greift bei näherem Hinsehen nicht ein, weil das Kartenlesegerät zwar das Recht auf die gekauften Waren, aber eben nicht diese selbst vermittelt,39 denn sie werden dem Kunden vom Kassen-personal nach Erhalt der Mitteilung über die erfolgte Bezah-lung übergeben. Dann aber fehlt es an der Entgeltlichkeit der Leistung, die § 265a StGB voraussetzt. Entgelt schuldet der Kunde nämlich allein für die eingekauften Dinge und nicht für die Benutzung des Kartenlesegerätes, das damit nicht zu den tatbestandlich erfassten Automaten zählt. 7. Schuldspruchberichtigung ohne Aufhebung des Straf-ausspruchs? Ein letzter Aspekt der Entscheidung verdient noch kritische Erwähnung. Der Senat nimmt eine Berichtigung des Schuld-spruchs im Sinne der von ihm für richtig erachteten Lösung vor, was als solches zur Vereinfachung des weiteren Verfah-rens sinnvoll und anerkannt ist.40 Allerdings belässt es der Senat zugleich bei dem Strafausspruch der Strafkammer, ob- schon infolge der Auswechselung des abgeurteilten Delikts (§ 274 StGB statt § 263a StGB) nunmehr ein Nichtvermögens-delikt an die Stelle eines Vermögensdeliktes getreten ist. Zwar kann sich der Senat auf die Identität der Strafrahmen berufen,41 aber die strafzumessungsrelevanten Tatsachen sind dann doch unterschiedlich. Bei § 263a StGB spielen auf der Ebene des Tatschuldgehaltes die Höhe des Schadens und das Raffinement der Vorgehensweise maßgebende Rollen, wäh- 38 BGH NStZ 2018, 401 (403); Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 27), § 303a Rn. 8; Fischer (Fn. 33), § 303a Rn. 12; Bericht des Rechtsausschusses zum 2. WiKG, BT-Drs. 10/5058, S. 35. 39 Vgl. dazu Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 27), § 265a Rn. 4; Fischer (Fn. 33), § 265a Rn. 14. 40 Wohlers, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 7, 5. Aufl. 2018, § 354 Rn. 21 f.; BVerfG (Kammer) NJW 1996, 116. 41 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 71.

rend § 274 StGB die Relevanz der unterdrückten Datei als Beweismittel für den Berechtigten in den Vordergrund rückt. Dazu verhält sich die Entscheidung nicht weiter, sondern verweist auf die (identischen, aber eben nur für § 263a StGB auch tatbestandlichen) finanziellen Auswirkungen der Tat. Zugleich betont der Senat die von der Strafkammer angeführ-ten Vorbelastungen des Angeklagten, die freilich nur für den Computerbetrug, nicht aber für das nunmehr zu Grunde zu legende Urkundendelikt auch einschlägig sind. Das überspielt der Senat mit dem Hinweis, die Strafkammer habe ihr Haupt-augenmerk auf den Umstand bereits verbüßter Strafhaft und die Rückfallgeschwindigkeit gelegt.42 In der Gesamtschau er- weckt das nicht nur den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit des Schuldspruchs sowie einer tendenziellen Abkehr vom Tat- zum Täterstrafrecht, sondern auch eines revisionsgerichtli-chen Einbruchs in die Strafzumessungsentscheidung als klas-sische Domäne des Tatrichters. Eine Aufhebung des Straf-ausspruchs und Zurückverweisung der Sache zur neuen Straf- bemessung, die ohnehin von § 354 Abs. 2 S. 1 StPO als nor-mativer Regelfall vorgesehen ist, wäre von daher die sachge-rechtere Vorgehensweise gewesen. IV. Ergebnis und Ausblick Nach eingangs richtiger Verneinung der §§ 263 f., 269 StGB begibt sich die Entscheidung des Senats also auf Abwege und gelangt zu einem insgesamt wenig überzeugenden Ergebnis. Materiellrechtlich müsste dieses schon bei oberflächlicher Betrachtung stutzen lassen: Immerhin ging es um eine rechts- widrige Bereicherung, die der Täter angestrebt und erreicht hatte, und deren Bewertung als Urkundenunterdrückung ver- fehlt geradezu offenkundig den Kern des potenziellen Tatun-rechts. Richtigerweise hatte der Angeklagte jedoch bei dem Karteneinsatz überhaupt kein strafbares Unrecht verwirklicht; ob dies zuvor der Fall war – man könnte immerhin an Hehle-rei oder Unterschlagung anlässlich der Erlangung der EC-Karte denken –, war offensichtlich nicht (mehr) Gegenstand dieses Verfahrens. War es nun die Sorge vor drohender Straf-losigkeit, die den Senat geleitet hat, oder hat er sich schlicht in der nicht ganz einfachen Welt der Datendelikte verheddert?

Die richtigerweise anzunehmende Straflosigkeit miss-bräuchlichen Einsatzes fremder EC-Karten beim kontaktlosen Bezahlen ohne PIN-Abfrage könnte nun freilich zu Überle-gungen verleiten, ob es nicht eines korrigierenden Eingriffs seitens des Gesetzgebers bedürfte. Dem ist mit Nachdruck entgegen zu treten: Wenn die Kreditwirtschaft der Bequem-lichkeit ihrer Kunden zuliebe ohne jede Not auf mögliche Sicherungen verzichtet, hier in Gestalt der völlig unaufwen-digen und daher allen Beteiligten zumutbaren PIN-Abfrage, so begibt sie sich sehenden Auges in Gefahr. Das Strafrecht ist nicht dazu da, vor derartigen Selbstgefährdungen zu schützen, zumal die drohenden Schäden angesichts der für einen derartigen Karteneinsatz gezogenen Betragsgrenzen überschaubar bleiben.

Prof. Dr. Michael Heghmanns, Münster

42 OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20, Rn. 72.

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BGH, Beschl. v. 14.4.2020 – 5 StR 10/20 Rennicke _____________________________________________________________________________________

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Gewahrsam an zurückgelassenen Sachen An Sachen, die an einem öffentlichen, mithin für jede Person zugänglichen Ort zurückgelassen werden, besteht auch dann kein Gewahrsam, wenn der ortsabwesende Geschädigte zwar weiß wo sich die Sache befindet, aber nicht in der Lage ist, auf die Sache einzuwirken und so die Sachherrschaft gemäß seinem Willen auszuüben. (Leitsatz des Verf.) StGB § 242 BGH, Beschl. v. 14.4.2020 – 5 StR 10/20 (LG Dresden)1 I. Einleitung Die Wegnahmedelikte gehören wohl zu denjenigen Tatbe-ständen des StGB, die am häufigsten Gegenstand strafrechtli-cher Fallbearbeitungen sind. Fragen des Gewahrsams spielen daher vom strafrechtlichen Grundstudium bis zu den Exami-na eine hervorgehobene Rolle und stellen unverzichtbares Prüfungswissen dar. Der Beschluss des BGH zeigt nun ein-mal mehr, dass sich Gewahrsamsprobleme nicht nur in der Klausursituation stellen, sondern ebenso in der Praxis von Bedeutung sind. Die Entscheidung lädt dazu ein, sich (erst-mals oder erneut) mit den Grundlagen des Gewahrsams zu befassen. Ihre Prüfungsrelevanz ist als durchaus hoch einzu-schätzen, weil sie – so viel sei vorweggenommen – mit der klassischen Differenzierung zwischen verlorenen und verges-senen Sachen bricht. II. Sachverhalt (verkürzt) Kurz nach Mitternacht suchte B den A auf offener Straße auf, um von ihm Betäubungsmittel zu erwerben. Dabei kam es aus nicht näher geklärten Gründen zu einem Gerangel, bei dem aber niemand verletzt wurde. B floh schließlich vor die- ser Auseinandersetzung, wobei ihm sein Mobiltelefon aus der Tasche fiel, was er zwar nicht sofort, aber noch während der Flucht bemerkte. Schon zu diesem Zeitpunkt fasste er den Entschluss, später zurückzukehren, um sein Hab und Gut wiederzuerlangen. A verließ zunächst ebenfalls den Ort des Geschehens, kehrte aber später dorthin zurück, fand das Mobiltelefon des B und nahm es an sich, um es für sich zu behalten. Das LG verurteilte A wegen Diebstahls. III. Einführung in die Problematik Entscheidungserheblich dafür, ob A wegen Diebstahls oder „nur“ wegen Unterschlagung belangt werden konnte, war die Frage, ob B zu dem Zeitpunkt, als A das Mobiltelefon an sich

1 Die Entscheidung ist online abrufbar unter https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=63ba12e25597955aaa29881dc64ef32b&nr=105975&pos=0&anz=1&Blank=1.pdf (14.9.2020) sowie veröffentlicht in NStZ 2020, 483.

nahm, noch Gewahrsam daran hatte. Nur dann kommt ein Gewahrsamsbruch i.S.d. § 242 Abs. 1 StGB durch A in Be-tracht. Zweifel am fortbestehenden Gewahrsam des B sind hier deswegen angezeigt, weil das Mobiltelefon des B unbe-merkt aus dessen Tasche gefallen war und dieser daher zu dem Zeitpunkt, als A das Mobiltelefon an sich nahm, keine physische Herrschaft über die Sache ausüben konnte. Ange-sprochen ist damit das Problem des Gewahrsams an verlore-nen und vergessenen Sachen.

Gewahrsam ist, so die geläufige Definition, die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sach-herrschaft.2 Ob diese Sachherrschaft vorliegt, bestimmt sich nicht allein nach dem tatsächlichen physischen Zugriff oder der Möglichkeit, sofort auf die Sache einwirken zu können, sondern wesentlich nach der Verkehrsanschauung.3 Danach liegt tatsächliche Sachherrschaft schon immer dann vor, wenn unter normalen Umständen auf die Sache eingewirkt werden könnte und einer Herrschaftsausübung keine Hinder-nisse entgegenstehen.4 Durch diese Erweiterung über die aktuelle physische Sachherrschaft hinaus kann der Anwen-dungsbereich des Diebstahls beträchtlich vergrößert werden. So hebt räumliche Entfernung allein den Gewahrsam nicht auf. Deutlich wird dies am etwas antiquiert anmutenden, aber von Rechtsprechung und Literatur oft bemühten Beispiel eines Landwirts, der die Sachherrschaft über einen auf dem Feld abgestellten Pflug auch dann behält, wenn er sich auf seinem weit entfernten Hof befindet.5 Hier kommt es ledig-lich zu einer Gewahrsamslockerung, die keine Auswirkungen auf das Bestehen des Gewahrsams und damit die Diebstahls-strafbarkeit hat.6 Weiterhin ermöglicht die Verkehrsanschau-ung die Konstruktion sog. Gewahrsamssphären.7 Dabei han-delt es sich um räumliche Machtbereiche, die einer Person derart zugeordnet sind, dass es gerechtfertigt ist, ihr auch dann die Herrschaft über darin befindliche Sachen zuzuspre-chen, wenn sie selbst gar nicht anwesend ist. Typische Bei-spiele sind Wohnungen und Geschäftsräume, es kommen insoweit aber alle räumlich abgrenzbaren Bereiche in Be-tracht. Aus diesem Grund bleibt ein Diebstahl aus einer Wohnung auch dann ein Diebstahl, wenn der Wohnungs-

2 BGH NStZ 2019, 726 (727); Bosch, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2019, § 242 Rn. 23; Wittig, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, 46. Ed., Stand: 1.5.2020, § 242 Rn. 11. 3 BGHSt 41, 198 (205); Küper/Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, 9. Aufl. 2015, Rn. 751. 4 Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 22. Aufl. 2020, § 2 Rn. 27. 5 BGHSt 16, 271 (273); Bosch (Fn. 2), § 242 Rn. 26; Rönnau, JuS 2009, 1088 (1089). 6 Vogel, in: Laufhütte/Tiedemann/Rissing-van-Saan (Hrsg.) Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 8, 12. Aufl. 2010, § 242 Rn. 64. 7 Vgl. etwa Joecks/Jäger, Studienkommentar, Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 2018, § 242 Rn. 29; Rengier (Fn. 4), § 2 Rn. 29; Kindhäuser/Böse, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 10. Aufl. 2019, § 2 Rn. 36.

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BGH, Beschl. v. 14.4.2020 – 5 StR 10/20 Rennicke _____________________________________________________________________________________

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inhaber z.B. verreist ist. Schließlich heben nach der Verkehrs-anschauung auch Schlaf oder Bewusstlosigkeit den Gewahr-sam nicht auf.8 Auf eine aktuelle oder auch nur sofort aktuali-sierbare Sachherrschaft kommt es nach der Verkehrsanschau- ung also nicht an.

Wegen dieser erheblichen Erweiterungen des Gewahrsams- begriffs über die physische Herrschaft hinaus, halten Teile der Literatur die hergebrachte sog. faktische Definition für veraltet.9 Nach der stattdessen vertretenen normativ-sozialen Definition sei unter Gewahrsam nicht die tatsächliche Sach-herrschaft, sondern die normativ-soziale Zuordnung der Sa-che zu einer Person zu verstehen.10 Begrifflich kann man dies als Umkehrung der faktischen Definition verstehen, weil es nicht auf die Sachherrschaft unter Berücksichtigung der Ver-kehrsanschauung ankommt, sondern in erster Linie auf die Verkehrsanschauung, für die die Sachherrschaft aber natür-lich eine gewichtige Rolle spielt. Im praktischen Ergebnis unterscheidet sich diese Ansicht allerdings nicht von der fak- tischen Definition, weil diese, wie gezeigt wurde, durch die Einbeziehung der Verkehrsanschauung zu einem sehr weiten Verständnis von Sachherrschaft und damit Gewahrsam ge-langt. Dennoch sollte an der faktischen Definition festgehal-ten werden. Zwar stellt die normativ-soziale Definition die enorme Bedeutung der Verkehrsanschauung deutlicher heraus. Jedoch stellen die tatsächliche Sachherrschaft oder die Mög-lichkeit jederzeitigen Zugriffs regelmäßig die Grundlage für die Verkehrsanschauung dar. Wer eine Sache unmittelbar be- herrscht hat in der Regel Gewahrsam und es bedarf einiger Begründung um behaupten zu können, dass er keinen habe.11 Auf dieser Linie liegt es, dass das Zivilrecht den unmittelba-ren Besitz, die tatsächliche Sachherrschaft also, zum Rechts-scheinträger für das Eigentum und damit für die rechtliche Zuordnung gemacht hat, etwa in §§ 1006 Abs. 1, 932 BGB.12

Darüber hinaus spricht auch § 252 StGB mit seinem Kri-terium der Besitzerhaltungsabsicht für diese Auffassung. Sie macht die Einschätzung des Gesetzgebers deutlich, dass mit dem Wegnahmeerfolg regelmäßig Besitz des Diebes eintritt, den dieser dann womöglich räuberisch verteidigen wird. Da der Wegnahmeerfolg die Begründung neuen Gewahrsams ist, spricht dies dafür, dass der Gesetzgeber die Begriffe Gewahr-sam und Besitz als wenigstens verwandt angesehen hat. Der Standardfall des Besitzes ist aber, wie § 854 Abs. 1 BGB er-

8 BGH NJW 1985, 1911; Schmidt, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2020, § 242 Rn. 14. 9 Vgl. Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom- mentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 3. Aufl. 2017, § 242 Rn. 51 ff. 10 Schmitz (Fn. 9), § 242 Rn. 55. 11 So z.B. in den Fällen des übergeordneten Gewahrsams, in denen z.T. vertreten wird, dass die untergeordnete Person auf Grund des Über-/Unterordnungsverhältnisses keinen Gewahr-sam habe, Rengier (Fn. 4) § 2 Rn. 33. 12 Vgl. zur Publizitätsfunktion des Besitzes Oechsler, in: Säcker u.a. (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 7, 7. Aufl. 2017, § 932 Rn. 5 f.; Wellenhofer, Sachenrecht, 34. Aufl. 2019, § 2 Rn. 6; Omlor/Gies, JuS 2013, 12 (13).

klärt, die tatsächliche Gewalt über eine Sache.13 Zwar haben die Vorschriften von BGB und StGB unterschiedliche Funk-tionen, weshalb die Wegnahme i.S.d. StGB und damit der Gewahrsamsbegriff strafrechtsautonom bestimmt werden müssen.14 Die Verwendung eines identischen Begriffs im BGB und § 252 StGB legt es aber nahe, dass der Gesetzgeber bei beiden zumindest von einem ähnlichen Wortverständnis geleitet wurde.

Aus diesen Gründen kann nicht die normativ-soziale Zu-ordnung, sondern muss die tatsächliche Sachherrschaft den Kern des Gewahrsamsbegriffs darstellen. Sie wird durch die Berücksichtigung der Verkehrsanschauung erweitert, aber nicht bestimmt.

Mit der Verkehrsauffassung (oder der normativ-sozialen Zuordnung) wird auch die Frage entschieden, ob an verlore-nen und vergessenen Sachen noch Gewahrsam besteht, denn eine unmittelbare physische Herrschaft besteht in beiden Fällen nicht. Nach dieser Terminologie sind verlorene Sachen solche, von denen der Geschädigte nicht genau weiß, wo er sie zurückgelassen hat und wo sie sich nun befinden. Bei bloß vergessenen Sachen ist ihm der Aufenthaltsort dagegen be-kannt. Die Literatur differenziert regelmäßig zwischen diesen Fallgruppen.15 Dabei soll an bloß vergessenen Sachen Ge-wahrsam fortbestehen, soweit einer Wiederbeschaffung keine äußeren Hindernisse entgegenstehen, weil die Kenntnis des Aufenthaltsortes noch eine hinreichende (potentielle) Sach-herrschaft vermitteln könne. An verlorenen Sachen besteht dagegen kein Gewahrsam des Geschädigten mehr, weil er auch nicht hypothetisch in der Lage wäre, auf die Sache zu-zugreifen oder mit ihr entsprechend seinem Willen zu verfah-ren.

Diese Differenzierung wirkt sich allerdings im Ergebnis regelmäßig nur dann aus, wenn die Sache in der Öffentlich-keit verloren gegangen ist. Findet der Verlust dagegen in einer fremden Gewahrsamssphäre statt, erlangt deren Inhaber meist Gewahrsam an der Sache, sobald der Geschädigte sei-nen Gewahrsam verliert. Begründet wird das mit einem gene-rellen Herrschaftswillen des Inhabers der Gewahrsamssphäre, der sich auf alle Gegenstände erstreckt, die sich in der Ge-wahrsamssphäre befinden.16 Da es sich um einen generellen, keinen spezifischen Herrschaftswillen handelt, kommt es hier-für nicht darauf an, ob der Inhaber der Gewahrsamssphäre etwas von dem verlorenen Gegenstand weiß. Verliert also beispielsweise jemand einen Geldschein in einem Supermarkt oder einer fremden Wohnung, wird der Geldschein nicht gewahrsamslos, sondern geht sofort in den Gewahrsam des Supermarktbetreibers oder Wohnungsinhabers über. Nimmt nun ein Dritter den Geldschein an sich, handelt es sich um eine Wegnahme. Umstritten ist dagegen das Schicksal von

13 Wellenhofer (Fn. 12), § 2 Rn. 1. 14 Wittig (Fn. 2), § 242 Rn. 11. 15 Siehe nur Bosch (Fn. 2), § 242 Rn. 28; Wittig (Fn. 2), § 242 Rn. 17; Rengier (Fn. 4) § 2 Rn. 39; Eisele, Strafrecht, Beson-derer Teil, Bd. 2, 5. Aufl. 2019, Rn. 37; Zopfs, ZJS 2009, 506 (514). 16 OLG Düsseldorf NJW 1988, 1335 (1336); Vogel (Fn. 6), § 242 Rn. 71; Zopfs, ZJS 2009, 506 (514).

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BGH, Beschl. v. 14.4.2020 – 5 StR 10/20 Rennicke _____________________________________________________________________________________

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ZJS 5/2020 501

Gegenständen, die in einer fremden Herrschaftssphäre nur vergessen werden. Teilweise wird davon ausgegangen, dass der Geschädigte Alleingewahrsam behält.17 Andere vertreten, dass es zu Mitgewahrsam zwischen dem Geschädigten und dem Inhaber der Gewahrsamssphäre komme.18 In jedem Fall besteht aber noch Gewahrsam an der Sache.

Vor diesem Hintergrund muss nun geklärt werden, ob das Mobiltelefon im hier zu besprechenden Sachverhalt eine ver- lorene oder bloß eine vergessene Sache war. Die Tatsache, dass B zunächst nicht bemerkt hat, dass ihm das Mobiltelefon aus der Tasche gefallen ist, könnte für eine verlorene Sache sprechen. Allerdings wird der Geschädigte auch bei verges-senen Sachen nicht sofort bemerken, dass er sie nicht mehr bei sich trägt. Anderenfalls würde er sie sofort wieder an sich nehmen. Entscheidend ist vielmehr, ob der Geschädigte sich, sobald ihm der Verlust auffällt, darüber im Klaren ist, wo er die Sache zurückgelassen hat. So liegt es hier. B erinnerte sich daran, wo er sein Hab und Gut zurückgelassen hatte und hatte darüber hinaus schon den Willen gefasst, später zurück-zukehren um sein Eigentum zu sichern. Bis zu dem Zeit-punkt, als A das Mobiltelefon an sich genommen hat, standen der Wiedererlangung durch B auch keine äußeren Hindernis-se entgegen. Nach der zuvor erörterten Differenzierung han-delt es sich bei dem Mobiltelefon also um eine vergessene Sache, an der weiterhin Gewahrsam des B besteht.19 IV. Die Entscheidung des BGH Der BGH hat dieser Differenzierung jedoch eine Absage er- teilt, indem er davon ausgeht, dass B keinen Gewahrsam mehr an dem zurückgelassenen Mobiltelefon hatte, obwohl er sich bewusst war, Hab und Gut am Tatort zurückgelassen zu haben und dieses später zurückholen wollte. Damit konnte A nicht wegen Diebstahls, sondern nur wegen Unterschlagung verurteilt werden. In den Urteilsgründen nimmt der BGH zu der eben erläuterten Differenzierung keine ausführliche Stel-lung. Er führt, unter Verweis auf das Beispiel des Landwirts, lediglich aus, dass räumliche Distanz für sich genommen den Gewahrsam nicht aufhebe, sondern nur lockere. Liegt die Sache jedoch in einem öffentlichen, d.h. für jede Person zu-gänglichen Bereich und ist der Geschädigte nicht mehr in der Lage, auf die Sache einzuwirken und die Sachherrschaft entsprechend seinem Willen auszuüben, sei der Gewahrsam beendet. V. Bewertung Angesichts der bislang üblichen Differenzierung zwischen verlorenen und vergessenen Sachen hätte die Begründung des BGH durchaus ausführlicher ausfallen können. Dennoch ist die Entscheidung im Ergebnis zu begrüßen. Sie lenkt den in der Literatur bisweilen etwas entgrenzten Gewahrsamsbegriff wieder zurück in Richtung seines Kerngehalts: der tatsächli- 17 Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 5. Aufl. 2017, § 242 Rn. 40. 18 Wittig (Fn. 2), § 242 Rn. 17; Eisele (Fn. 15), Rn. 37. 19 Vgl. dazu das ähnlich gelagerte Beispiel bei Rengier (Fn. 4) § 2 Rn. 40.

chen Sachherrschaft. Wenn ein kleiner, leicht transportabler Gegenstand wie ein Mobiltelefon im öffentlichen Raum zu-rückgelassen wird, steht er jedermanns Zugriff offen, ohne dass der abwesende frühere Gewahrsamsinhaber hiergegen etwas unternehmen könnte. Dieser Zustand faktischer Macht-losigkeit über das Schicksal einer Sache lässt sich schwerlich als Herrschaft bezeichnen. Das gilt unabhängig davon, ob der Geschädigte weiß, wo er die Sache zurückgelassen hat, oder ob seinem Zugriff auf die Sache über die Entfernung hinaus-gehende Hindernisse entgegenstehen. Daran ändert auch die Verkehrsanschauung nichts mehr. Im Beispiel des Landwirts oder auch beim Abstellen von Kraftfahrzeugen und Fahr- rädern in der Öffentlichkeit kann ein objektiver Beobachter etwa durch die Lage im Raum (auf dem Feld, vor der Haus-tür, etc.) oder durch angebrachte Sicherheitsvorkehrungen (Schloss) die Sache einer bestimmten (wenn auch nicht indi-viduell bekannten) Person zuordnen. Darüber hinaus kann bei derartigen Sachen auch dann, wenn sie ungesichert sind, vernünftigerweise nicht davon ausgegangen werden, dass sie verloren wurden. Wenn dagegen, wie im vorliegenden Fall, eine Sache einfach auf der Straße oder sonst in der Öffent-lichkeit herumliegt, hat ein objektiver Beobachter keinen Anhaltspunkt dafür, die Sache einer bestimmten Person und deren Gewahrsam zuzuordnen.

Für Fälle dieser Art sollte daher die Unterscheidung zwi-schen verlorenen und vergessenen Sachen aufgegeben und einheitlich von fehlendem Gewahrsam ausgegangen werden. Damit würde sich auch eine schwierige und undurchsichtige Abgrenzungsfrage erledigen, auf die, soweit ersichtlich, in der Literatur kaum eingegangen wird. Kommt es für fortbe-stehenden Gewahrsam nämlich darauf an, dass der Geschä-digte weiß, wo sich die Sache befindet, wäre als Folge zu klären, wie konkret dieses Wissen sein muss. Muss er sich den Aufenthaltsort der Sache verbildlichen können oder ge-nügt es, wenn er weiß, auf welchem Platz, auf welcher Stra-ße, gar in welchem Stadtteil er die Sache zurückgelassen hat? Diese Frage wird sich kaum präzise klären lassen. Schließlich passt die einheitliche Annahme fehlenden Gewahrsams und damit die einheitliche Annahme einer Unterschlagung auch besser zum Unrechtsgehalt der Tat. Das äußere Tatbild bei der Mitnahme verlorener Sachen unterscheidet sich nicht von der Mitnahme vergessener Sachen, aus Sicht eines objektiven Beobachters bricht der Täter in beiden Fällen nicht die Herr-schaft eines anderen über die Sache. Auch die innere Tatseite macht die Mitnahme vergessener Sachen schon deshalb nicht verwerflicher, weil für den Täter in der Regel gar nicht er-sichtlich ist (und oft auch keine Rolle spielt), ob die Sache vergessen oder verloren ist. Aufgrund dieser Erwägungen ist dem BGH beizupflichten.

Wiss. Mitarbeiter Jan Rennicke, Göttingen*

* Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie (Prof. Dr. Katrin Höffler) an der Georg-August-Universität Göttingen. Er dankt Frau stud. iur. Julia-ne Greschenz für wertvolle Unterstützung.

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Wörlen/Schindler/Balleis, Anleitung zur Lösung von Zivilrechtsfällen Wünsche _____________________________________________________________________________________

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 502

B u c h r e z e n s i o n

Wörlen, Rainer/Schindler, Sven/Balleis, Kristina, Anleitung zur Lösung von Zivilrechtsfällen, 10. Aufl., Verlag Vahlen, München 2020, 227 S., 21,80 €. Über 10 Jahre sind – bedingt durch den viel zu frühen Tod von Rainer Wörlen – seit der letzten Auflage der Anleitung zur Lösung von Zivilrechtsfällen vergangen. Wie die das Werk nun fortführende Autorin Kristina Balleis im Vorwort zutreffend bemerkt, ist das Anliegen des Buches „nach wie vor hoch aktuell“. Zwischen den zahlreichen, zum Teil her-vorragenden Fallsammlungen auf dem Markt zeichnet sich dieses Werk dadurch aus, dass nicht nur 22 Musterklausuren und Lösungen präsentiert werden, sondern auch methodische Hinweise zur Lösung jeweils unmittelbar zu den Fällen abge-druckt sind. Auf diese Weise wird dem Bearbeiter des Falles insbesondere klar, warum gerade der jeweilige Prüfungsschritt vorgenommen wird. Erleichtert wird der Umgang mit dem Buch dadurch, dass die aus den Vorauflagen bewährte synop-tische Darstellung beibehalten wurde. So findet sich jeweils auf der rechten Seite der Sachverhalt und die gutachtliche Lösung. Auf der linken Seite sind die Erläuterungen zur Fall-lösung abgedruckt.

Das Werk ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil („Ein-führung“) gibt einen Überblick über die Bedeutung der Ge-setzeslektüre und über die Fachliteratur, bevor über 19 Seiten die Methodik der Fallbearbeitung vorgestellt wird. Im zwei-ten Teil („Formalien“) wird auf 23 Seiten über die äußere Ge- staltung und Form von Klausuren und Hausarbeiten infor-miert. Das Kernstück, die „Fälle und Lösungen mit methodi-schen Hinweisen“, bildet dann der dritte Teil, der mit 179 Sei- ten der umfangreichste ist. Hier ist jedem Leser zu empfeh-len, der Verlockung zu widerstehen, direkt mit Fall 1 zu be-ginnen. Vielmehr sollten die Überlegungen zum Gutachten-stil, bei denen der Leser gleichsam „an die Hand genommen“ wird, konsequent durchgearbeitet werden.

Thematisch decken die 22 Musterklausuren weitestgehend ab (wenn auch nicht in jeder Facette), was typischerweise in den ersten 1–2 Semestern behandelt wird, z.T. gehen sie da- rüber hinaus (Handels-, Arbeitsrecht). Auch wenn die Lösun-gen und Hinweise aus sich heraus verständlich sind, erfährt derjenige Leser den größten Nutzen, der sich bereits mit der Materie beschäftigt hat. Und wie bei allen Fallsammlungen gilt: Der Lerneffekt ist am größten, wenn die Klausur zu-nächst ohne Hilfsmittel (außer dem Gesetz) gelöst wird und erst danach ein Blick in die Lösung und in die methodischen Hinweise erfolgt, worauf Balleis zutreffend hinweist.

Art und Umfang der methodischen Hinweise sind unter-schiedlich: In den meisten Fällen (1–15, 20) beginnen die Vorüberlegungen mit der nicht überschätzbaren Frage „Wer will von wem was warum woraus?“, um dem Leser das Auf-finden der Anspruchsgrundlage zu erläutern. Gelegentlich wer- den weiterführende Hinweise zum Thema und zu typischen Klausurfehlern gegeben. Streitstände werden vereinzelt dar-gestellt, auch wenn sie in der Klausurlösung nicht (ausführ-lich) angesprochen werden. Damit trägt Balleis dem Umstand Rechnung, dass sich die Anforderungen in juristischen Klau-

suren durchaus unterscheiden. Dass die methodischen Hin-weise den einzelnen Gliederungspunkten der Lösung zuge- ordnet sind, erleichtert den Überblick. Positiv fällt auch die Variabilität der Sprache bei gleichen Themen in den Gutach-ten auf, so dass der Bearbeiter nicht auf eine Formulierung festgelegt ist und sich statt des Textes die Strukturen ein- prägen wird.

Allerdings gelingt die Trennung zwischen Gutachten und Hinweisen nicht immer exakt. So enthält die Lösung zu Fall 3 bei der Frage der Form eines Widerrufes bei einem Fern- absatzvertrag die Information, dass die Rücksendung der Ware nicht mehr genüge – obwohl sich aus dem Sachverhalt ein wörtlicher Widerruf ergibt. Bei der Abwandlung zu Fall 8 wird zudem aus der Verweigerung, einen Vertrag zu erfüllen, eine konkludente Anfechtungserklärung geschlussfolgert. Hier ist zu empfehlen, zukünftig im Sachverhalt deutlich zu ma-chen, weshalb die Erfüllung verweigert wird. Bei Fall 9 ist eine Erweiterung der Fallfrage anzuregen: Hier wird bisher, nachdem im Sachverhalt ein Beherbergungsvertrag durch- geführt wurde, nach der (bejahten) Anfechtbarkeit gefragt. In der Klausurpraxis dürfte es dem Regelfall entsprechen, dass daneben auch nach Rückabwicklungsansprüchen gefragt wird (Stichwort: Wertersatz).

Dies ändert aber nichts an einer uneingeschränkten Emp-fehlung. Das Buch ist eine ideale Hilfestellung für Studierende an allen Einrichtungen (Universitäten, Hochschulen, Berufs- akademien), deren Prüfungsleistung in der Bearbeitung eines Falles liegen wird. Denn unabhängig davon, ob dort die Fall-lösung im Gutachten verlangt wird oder nicht – das Erlernen der Gutachtentechnik ist der Schlüssel zur Lösung eines je-den Falles.

Prof. Dr. Kai E. Wünsche, Meißen

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Engländer, Examens-Repetitorium Strafprozessrecht Harden _____________________________________________________________________________________

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ZJS 5/2020 503

B u c h r e z e n s i o n

Engländer, Armin, Examens-Repetitorium Strafprozessrecht, 10. Aufl., C.F. Müller GmbH, Heidelberg 2020, 135 S., 18,- €. Das erstmals 2004 erschienene und sich in die Reihe „Unirep Jura“ eingliedernde Buch des Münchener Hochschullehrers Armin Engländer, der auch den von Klaus Volk seit der 8. Auflage 2013 übernommenen „Grundkurs StPO“1 verfasst, liegt nun bereits in zehnter Auflage vor.2

Anspruch des Verf. ist es ausweislich des Vorwortes zur Erstauflage, solides Basiswissen zum Strafprozessrecht kon-zentriert zu vermitteln, um die Studierenden in die Lage zu versetzen, die in Strafrechtsklausuren in der Ersten Juristi-schen Staatsprüfung nicht ganz selten vorkommenden straf-prozessualen Zusatzfragen sowie strafprozessuale Elemente der mündlichen Prüfung zu bewältigen. Ausgehend von der Annahme, dass dabei „in der Regel nicht Detailwissen, son-dern lediglich die Kenntnis der wichtigsten Vorschriften und der Grundstrukturen“ verlangt werden, soll das Buch der „konzentrierten Vermittlung und Wiederholung“ dieses Stof-fes dienen. In bewusster Beschränkung auf das Wesentliche, die auch die Nachweise von Rechtsprechung und Literatur erfasst, wird von der Form der Präsentation des Stoffes, wie sie vom klassischen StPO-Lehrbuch her bekannt ist, zuguns-ten einer sehr gedrängten Darstellung abgewichen.

Der inhaltliche Aufbau ist indes durchaus klassisch: Nach einem kurzen Überblick über Ziele, Quellen und Gang des Strafverfahrens (§ 1) werden in den §§ 2 und 3 knapp die Prozessvoraussetzungen und etwas breiter die Prozessmaxi-men vorgestellt. Im Anschluss an die Präsentation der Ge-richtszuständigkeit und -organisation in § 4, bei der erfreuli-cherweise auch der EGMR kurz erwähnt wird, werden die einzelnen Verfahrensbeteiligten vorgestellt (§ 5). Auf dieser Grundlage aufbauend folgen dann entsprechend dem chrono-logischen Ablauf des Strafverfahrens Kapitel zum Ermitt-lungsverfahren, zu den Zwangsmitteln, zum Zwischen- und Hauptverfahren, zum Beweisrecht, zum Urteil sowie zu den Rechtsmitteln und außerordentlichen Rechtsbehelfen. Das letzte, kaum mehr als zwei Seiten umfassende Kapitel (§ 13 Besondere Verfahren) ist sehr komprimierten Ausführungen zu dem Strafbefehlsverfahren, dem beschleunigten Verfah-ren, dem Privatklageverfahren, der Nebenklage und dem Ad- häsionsverfahren gewidmet.

Die 123 leicht verständlich geschriebenen Textseiten sind prall gefüllt, u.a. mit 92 didaktisch gut ausgewählten, an ak- tuellen Entscheidungen orientierten Fällen. Sie werden durch neun Schaubilder aufgelockert. Hinzu kommen 150 Wieder- holungsfragen zur Selbstkontrolle, die einem so oder in ähn-licher Form durchaus in der mündlichen Prüfung begegnen können (z.B.: Wer gilt als Beschuldigter im Strafverfahren? Was versteht man unter einer Quellen-TKÜ? Welche Ent-

1 Volk/Engländer, Grundkurs StPO, 9. Aufl. 2018. 2 Die 6. Aufl. 2013 wurde in dieser Zeitschrift besprochen von Engel, ZJS 2014, 227 f., die 3. Aufl. 2007 von Rohnfel-der, Archiv für Kriminologie, 2008, 62, und die 2. Aufl. 2006 von Saliger, GA 2006, 662.

scheidungsmöglichkeiten hat das Revisionsgericht?). Der bei jeder Frage angebrachte Verweis auf die den jeweiligen Themenausschnitt behandelnde Randnummer ermöglicht eine gezielte Schließung festgestellter Wissenslücken.

In die 10. Auflage eingearbeitet sind das „Gesetz zur Stär- kung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung“ vom 17.12.20183, das „Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 im Strafverfahren sowie zur Anpassung datenschutzrechtlicher Bestimmungen an die Ver- ordnung (EU) 2016/679“ vom 20.11.20194 und das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens“ vom 10.12.20195. Auch die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungs- gerichts zur Sicherstellung von Unterlagen aus unternehmens-internen Untersuchungen6 ist berücksichtigt. In der sicher zu erwartende Folgeauflage sollte bei der Darstellung des Klage- erzwingungsverfahrens (Rn. 114 ff.) das von vielen Ober- landesgerichten und der herrschenden Lehre befürwortete Institut der Ermittlungserzwingung7 zumindest kurz erwähnt und auf die sich seit 2014 entwickelnde Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum für bestimmte Fallkonstella-tionen anerkannten Anspruch auf effektive Strafverfolgung8 hingewiesen werden, deren Auswirkungen auf das Klage- erzwingungsverfahren noch gar nicht vollständig absehbar sind9, die aber absehbar prüfungsrelevant werden können. Eingearbeitet sind ferner die Entscheidungen des Bundes- gerichtshofs zum Versenden „stiller SMS“ zur Ermittlung von Standortdaten,10 zur Widerspruchsobliegenheit bei Beweis-verwertungsverboten, die aus Fehlern bei der Durchsuchung resultieren,11 zur Nichtanwendbarkeit der Widerspruchslösung bei Verwertungsverboten im Ermittlungsverfahren,12 zur Ver- wertbarkeit von Angaben des Beschuldigten im Falle eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus § 136 Abs. 1 Nr. 5 StPO,13 zum Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz bei dem Mithören von selbstbelastenden Äußerungen im Rahmen

3 BGBl. I 2018, S. 2571. 4 BGBl. I 2019, S. 1724. 5 BGBl. I 2019, S. 2121. 6 BVerfG NJW 2018, 2385 = NStZ 2019, 159 m. Anm. Knauer. 7 Umfassende Nachweise bei Moldenhauer, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 175 Rn. 3. 8 Nachweise bei BVerfG NJW 2020, 675 (676 Rn. 34 ff.). 9 Vgl. nur die Anmerkungen von Hörnle und Gärditz in JZ 2015, 890 ff. zu BVerfG NJW 2015, 3500 (Kunduz); OLG Bremen StV 2018, 268 m. Anm. Zöller; BVerfG NJW 2020, 675 m. Anm. Gärditz, JZ 2020, 362 und Muckel, JA 2020, 399. 10 BGHSt 63, 82 = NJW 2018, 2809 m. Anm. Puschke = JR 2019, 297 m. Anm. Ruppert = MMR 2018, 824 m. Anm. Bär. 11 BGH NJW 2018, 2279 m. Anm. Meyer-Mews = NStZ 2018, 737 m. Anm. Börner = JA 2018, 711 m. Bespr. Jäger = StV 2018, 772 m. Anm. Schäuble. 12 BGHSt 64, 89 = BGH NJW 2019, 262 m. Anm. Gierhake = NStZ 2019, 539 m. Anm. Kulhanek = JuS 2019, 1030 m. Bespr. Jahn = JR 2020, 81 m. Anm. Kudlich. 13 BGH NStZ 2018, 671 m. Anm. Jäger = JA 2018, 792 m. Bespr. Kudlich = StV 2019, 159 m. Anm. Ransiek.

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Engländer, Examens-Repetitorium Strafprozessrecht Harden _____________________________________________________________________________________

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 504

einer ärztlichen Untersuchung14 und zum Erfordernis einer expliziten und nicht bloß konkludenten Zustimmung des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft bei der Verständi-gung.15

Das gut lesbare Buch bietet einen strukturierten – aber auch sehr gedrängten – Überblick über die examensrelevan-ten Teile des Strafverfahrensrechts. Als echter Grundkurs zum Einstieg soll das Buch nicht dienen, vielmehr setzt es ein solides Grundwissen bereits voraus. Gerade wenn es um den „letzten Schliff“ vor der Ersten Juristischen Staatsprüfung geht oder wenn erst kurz vor der Prüfung der – zutreffende – Gedanke aufkommen sollte, es sei nicht klug, im Strafverfah-rensrecht gänzlich „auf Lücke zu setzen“, bietet das Exa-mens-Repetitorium einen kompakten „Crash-Kurs“, der den im Titel und im Vorwort beschriebenen Anspruch, als Repeti-torium die „Kenntnis der wichtigsten Vorschriften und der Grundstrukturen“ aufzufrischen, bei einem vertretbaren Preis-Leistungsverhältnis gerade aufgrund seiner Aktualität gut er- füllt, und zwar insbesondere dann, wenn man sich mit den 92 Fällen näher befasst und die 150 Wiederholungsfragen zur ehrlichen Selbstkontrolle nutzt. Wer eher einen soliden Grund-riss sucht sowie größere Detailtreue der Darstellung, argu-mentative Vertiefung des Stoffes und umfassendere Nach-weise zum Meinungsbild in Rechtsprechung und Schrifttum schätzt, um sich anhand der wichtigsten Leitfälle punktuell gründlicher mit Einzelfragen zu befassen, wird zu erwägen haben, ob er nicht besser gleich etwas mehr investiert und zu einem der eingeführten und vergleichsweise günstig angebo-tenen Lehrbücher wie etwa von Beulke/Swoboda16, Roxin/ Schünemann17 oder Volk/Engländer18 greift.

Generalstaatsanwalt Thomas Harden, Köln*

14 BGH NStZ 2019, 36 m. Anm. Vogler = NJW 2018, 1986 m. Anm. Jahn = StV 2018, 762 m. Anm. Eisenberg. 15 BGH NStZ 2019, 688 m. Anm. Kudlich. 16 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018 (460 S., 24,99 €). Für Oktober 2020 angekündigt ist die 15. Aufl. 2020 (ca. 497 S., 26,- €). 17 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017 (576 S., 29,80 €). 18 Volk/Engländer (Fn. 1): 401 S., 26,90 €. * Der Autor leitet die Generalstaatsanwaltschaft Köln und ist Lehrbeauftragter für Strafverfahrensrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

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Roxin/Greco, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1 Lorenz _____________________________________________________________________________________

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ZJS 5/2020 505

B u c h r e z e n s i o n

Roxin, Claus/Greco, Luís, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, Grundlagen, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 5. Aufl., C.H. Beck, München 2020, 1249 S., 79,- €. I. Vierzehn Jahre können eine lange Zeit sein. In jedem Fall sind sie es für gewöhnlich in der Welt der rechtswissenschaft-lichen Lehrbücher. Die Gesetzeslage kann sich wandeln, auch die Rechtsprechung entwickelt sich fort. Deshalb achten Studierende bei der Auswahl ihrer Studienliteratur gerade auf die Aktualität der Werke. Sie wollen für die Klausuren auf dem aktuellen Stand sein. Viele Lehrbuchautoren sind daher mittlerweile dazu übergegangen, alle ein bis zwei Jahre eine Neuauflage zu veröffentlichen. Man könnte daher meinen, dass die im Jahr 2006 erschienene vierte Auflage des ersten Bandes zum Allgemeinen Teil des Strafrechts von Roxin heute gänzlich aus der Zeit gefallen ist. Dem ist aber nicht so. Die Materie des Lehrbuchs, die Vorschriften des Allgemei-nen Teils, haben sich jedenfalls in den besonders studienrele-vanten ersten zwei Abschnitten (§§ 1–37 StGB) nicht wesent-lich geändert. Zudem konnte Roxin wichtige, bis heute fort-geltende Grundlinien der Rechtsprechung seinerzeit schon detailliert nachzeichnen. Allerdings ist zuzugeben, dass man Studierenden das Buch nicht mehr uneingeschränkt empfeh-len konnte. Der Zahn der Zeit hat auch vor diesem großen Werk nicht Halt gemacht. Die zusätzliche Anschaffung eines aktuellen Lehrbuchs war zur Ergänzung stets anzuraten – bis jetzt. Und damit sind wir beim hier zu rezensierenden Werk: Die von Greco fortgeführte fünfte Auflage des ersten Bandes von Roxins Lehrbuch.

II. Mit Blick auf den überwiegenden Teil der Leserschaft – die Studierenden – und die Ausrichtung der Zeitschrift für das juristische Studium sind Fokus und Inhalt der Rezension vorgezeichnet: Keine umfangreiche Darstellung der inhaltli-chen Neuerungen des Lehrbuchs soll hier erfolgen. Das wäre schon angesichts des gewachsenen Umfangs um mehr als 100 Seiten bei gleichzeitiger Verkleinerung der Schrift in adäqua-tem Umfang nicht zu leisten. Zudem können die am Lehr-buch Interessierten versichert sein, dass mit Greco einer der profiliertesten Strafrechtsdogmatiker unserer Zeit am Werke war. Die inhaltliche Qualität der Neuauflage steht außer Fra-ge. Dabei profitiert das Werk nicht nur von der umfang- reichen Einarbeitung fremdsprachiger Literatur durch Greco und seiner beeindruckenden, dem Fußnotenapparat zuträgli-chen Auswertung der Literatur zu den behandelten Themen. Vielmehr ist es ihm gelungen, das bewährte und geschätzte Konzept des Lehrbuchs beizubehalten, die Entwicklungen in der Literatur darzustellen, neue Rechtsprechung durch scharf-sinnige Analyse der einzelnen Judikate (z.B. des „Berliner Raserfalls“) einzuordnen und trotzdem keine reine „Aktuali-sierungsauflage“ (Vorwort S. VI) vorzulegen. Denn Greco führt in das Werk auch neue Ideen und Überlegungen ein und ergänzt damit – stets extra gekennzeichnet – die ohnehin in der Tiefe bereits beispiellose Vorauflage.

III. In dieser Rezension soll allerdings der Frage nachge-gangen werden, welchen Beitrag das Lehrbuch für die juristi-sche Ausbildung leisten kann und, ob eine Anschaffung für

Studierende zu empfehlen ist. Die Lerninhalte des Studiums der Rechtswissenschaften sind umfangreich – Tendenz stei-gend. Dabei werden die drei großen Säulen aus Zivilrecht, öffentlichem Recht und Strafrecht in verschiedene kleinere Teilgebiete untergliedert. Das spiegelt sich auch in der Kon-zeption der Studienliteratur wider: Während manch altge-dienter Professor das gesamte Strafrecht noch aus einem Guss und auf knapp sechshundert Seiten mithilfe des im Jahr 1969 in letzter Auflage erschienenen Lehrbuchs von Welzel („Das deutsche Strafrecht“) erlernt hat, stellt sich die Situati-on für Studierende heute gänzlich anders dar. Jedenfalls der Allgemeine und der Besondere Teil werden inzwischen nahe-zu durchweg getrennt behandelt; in der Regel wird letzterer nochmal in Vermögens- und Nichtvermögensdelikte unter-teilt. Auch der Umfang ist deutlich angestiegen. Die bekannte und beliebte Wessels-Reihe aus dem Hause C.F. Müller um-fasst aktuell in toto mehr als tausendvierhundert Seiten. Das kann die Studierenden schnell einschüchtern, die sich zudem früh und naturgemäß unerfahren entscheiden müssen, mit welchen Werken sie den zu erlernenden Rechtsstoff abdecken und welchen Autoren sie ihr Vertrauen schenken wollen. Die Situation stellt sich im Zivilrecht und im öffentlichen Recht nicht weniger schwierig dar. Es ist daher kaum verwunder-lich, dass in den letzten Jahren ein Trend hin zur Komprimie-rung und Vereinfachung des Lernstoffs zu beobachten ist. Ein Blick in die rechtswissenschaftlichen Universitätsbibliothe-ken offenbart vielerorts, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Studierenden bereits ab dem ersten Semester mit Kurz- skripten und Karteikarten unterschiedlicher Anbieter lernt. Die Anschaffung selbst von Kurzlehrbüchern, die zunehmend auf den Markt gebracht werden, unterbleibt im Zuge dessen. Im weiteren Studienverlauf und gerade mit Blick auf das Repetitorium für das erste Staatsexamen verstärkt sich dieser Trend. Der Pflichtfachstoff aus den drei Säulen ist im Um-fang für viele zu erdrückend geworden, um ihn in wissen-schaftlicher Tiefe zu durchdringen. Die häufig resignierende Kritik von Professor*innen lautet daher, das Studium verliere seinen wissenschaftlichen Anspruch, es finde eine Verschu-lung statt, an deren Ende nicht mehr als eine „handwerkliche“ Ausbildung von Juristinnen und Juristen stehe. Vor dem Hintergrund dieser tatsächlichen Umstände drängt sich die Frage auf, inwieweit das hier zu rezensierende Werk noch in die heutige Realität der Studierenden passt. Mit seinem ge-waltigen Umfang von 1249 Seiten deckt dieser erste Teilband zwar die Grundlagen, Begrifflichkeiten, Tatbestand, Rechts-widrigkeit, Schuld, sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen und die Fahrlässigkeit ab. Alle übrigen Fragen des Allgemei-nen Teils werden allerdings erst auf den fast 900 Seiten des zweiten, allein von Roxin verfassten Teilbandes als „Beson-dere Erscheinungsformen der Straftat“ (Täterschaft und Teil-nahme, Unterlassungsstrafbarkeit etc.) thematisiert. Sind die Anschaffung und die Arbeit mit einer derart gründlichen, detaillierten und über zweitausendseitigen Darstellung nur des Allgemeinen Teils für Studierende ratsam?

IV. Der Rezensent plädiert nachdrücklich dafür. Dabei soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass dies nicht uneinge-schränkt gilt. Wer einer wissenschaftlichen Durchdringung des Rechtsstoffs insgesamt ablehnend gegenübersteht, ist mit

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diesem Großlehrbuch schlecht beraten. Diese Einstellung ist jedoch problematisch und zu überdenken. Natürlich müssen nicht jedes Problem und jeder Meinungsstreit mit dem Tief-gang eines Aufsatzes verinnerlicht werden. Verkürzung und Vereinfachungen sind angesichts der geschilderten Fülle an Lernstoff erforderlich. Allerdings dürfen diese nicht dazu führen, dass Prämissen ausgeklammert und Ansichten oder Argumente dadurch sinnentstellt werden. Beispielhaft sei hier auf den Streit um die Notwendigkeit eines subjektiven Recht-fertigungselements hingewiesen. In unglücklich verknappten Skripten oder Lehrbüchern kann man z.B. erfahren, dass bei der Notwehr eine Verteidigungsabsicht schon wegen des Wortlauts von § 32 Abs. 2 StGB erforderlich ist („Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegen- wärtigen rechtswidrigen Angriff […] abzuwenden.“). Dieses Argument ist offensichtlich unzutreffend, wird mit diesem „um-zu“-Satz doch die Verteidigungshandlung näher um-schrieben und nicht, wie bei anderen Sätzen solcher Art, etwa in § 259 Abs. 1 StGB, eine vom Gesetz geforderte Intention.1 Fällt es nun weg, ist weder die Notwendigkeit des Vorliegens einer – gegenüber der reinen Kenntnis von der Notwehrlage restriktiveren – Verteidigungsabsicht noch überhaupt eines subjektiven Rechtfertigungselements begründet. Wieso der Verzicht auf ein solches unter Berufung auf die sog. objekti-ve Unrechtslehre nicht ebenso gut vorstellbar sein soll, bleibt dann offen. Erst mit der Prämisse der personalen Unrechts-lehre wird dem Studierenden ein durchgreifender Einwand gegen diese Sichtweise an die Hand gegeben. Durch das Strukturdenken von Erfolgs- und Handlungsunwert und deren spiegelbildlicher Kompensation auf Rechtfertigungsebene lässt sich der sonst intrikat anmutende Streitstand gut nach-vollziehen und die Parallele zwischen Erlaubnistatumstands- irrtum und fehlendem subjektivem Rechtfertigungselement (auch sog. umgekehrter Erlaubnistatumstandsirrtum) erken-nen. All das (und mehr) liefert die Darstellung im hier rezen-sierten Werk. Dabei sollte Studierende nicht abschrecken, dass die einzelnen Ausführungen mitunter deutlich länger sind als in anderen Lehrbüchern. Die umfassende Wieder- gabe der Gedankengänge vereinfacht das Nachvollziehen der komplexen Probleme. Die anderenorts oft anzutreffende Verschlagwortung und Verknappung von Argumenten zwingt Studierende häufig zum stumpfen Auswendiglernen, ohne dass wirkliches Verständnis erreicht wird. Die Korrektur- praxis von Klausuren (beunruhigenderweise auch von Haus-arbeiten) bestätigt das. Das kann zum einen dazu führen, dass Argumente stumpf aneinandergereiht werden und eine dis-kursive Gegenüberstellung von Argument und Gegenargument unterbleibt. Am Ende fällt die Entscheidung dann für die Ansicht mit den rechnerisch meisten und dem zuletzt genann-ten Argument aus. Große Überzeugungskraft können solche Lösungen nicht entfalten. Zum anderen kann es zwar durch-aus auch zu einer, auf den ersten Blick ansprechenden Art choreographierten Ringens um die überzeugende Lösung im Widerstreit der vertretenen Ansichten kommen. Unglücklich wirkt diese Form der Darbietung auswendig gelernten Wis-

1 Roxin/Greco, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 5. Aufl. 2020, § 14 Rn. 100.

sens allerdings dann, wenn die Erinnerung die Studierenden trügt, sie Begriffe durcheinanderwerfen, Argumente in ihr Gegenteil verkehren oder nicht fallgegenständliche Streit-stände mangels echten Verständnisses in ihren Lösungen deplatzieren. Dies alles lässt sich weitgehend vermeiden, wenn Studierende dazu bereit sind, den sinnbildlichen „ent-scheidenden Meter mehr“ zu gehen und sich der Aufgabe des Verstehens von Problemen und ihren Lösungen zu stellen. Die dabei zu erlernenden Kernkompetenzen wie Rhetorik, Argumentationsfähigkeit und systematisches Verständnis ma- chen gute Jurist*innen aus – nicht stumpf auswendig gelern-tes Wissen. Mit dem Erscheinen des hier rezensierten Lehr-buchs haben Studierende nunmehr die Möglichkeit, diese Kompetenzen und den behandelten Rechtsstoff in aktualisier-ter Form vom wohl bedeutendsten Strafrechtler des 20. Jahr-hunderts, Roxin, und seinem ebenfalls international angese-henen und weiter aufstrebendem Schüler Greco im wahr- sten Sinne des Wortes gelehrt zu bekommen. Es kann Studie-renden empfohlen werden, diese Möglichkeit wahrzunehmen.

Wiss. Mitarbeiter Henning Lorenz, M.mel., Halle-Witten- berg

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Evidenzbasierte Examensvorbereitung Zivilrechtliche Lösungsskizzen „auf Distanz“ gelesen Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Dr. Hanjo Hamann, J.S.M. (Stanford), Bonn/Berlin* I. Die schwierige Suche nach dem Examensstoff* Was muss ich für die Klausur wissen, was kann ich auf Lü-cke lernen? Die Frage ist so alt wie das Klausurwesen, sie treibt jeden Lernenden um und die meisten Lehrenden ir-gendwann in die Verzweiflung. Es gibt darauf eine einfache und eine richtige Antwort.

Die einfache lautet: Examenskandidaten müssen alles wis- sen, was das Prüfungsrecht vorschreibt. Sie sollten also § 5 DRiG zusammen mit dem Juristenausbildungsgesetz ihres Landes und der Prüfungsordnung ihrer Universität lesen. Nehmen wir probehalber das nordrhein-westfälische Gesetz über die juristischen Prüfungen (JAG) zur Hand: Nach dessen § 11 Abs. 2 Nr. 1 gehören zum Pflichtfachstoff in der Ersten Juristischen Staatsprüfung die beiden ersten Bücher des BGB, letzteres im „Abschnitt 8 ohne die Titel 2, 11, 15, 18 und 25“. Ausgenommen sind vom Schuldrecht also Teilzeit-Wohnrechte, Auslobung, Einbringung, Leibrente und Vorle-gung – ganze 25 der ersten 1059 BGB-Paragraphen. Von den letzten drei Büchern gehören dann zwar „nur“ noch 42 % der Paragraphen zum Pflichtstoff. Das ergibt aber immer noch ein Lernpensum von mindestens 1641 BGB-Paragraphen, die laut Prüfungsrecht im Examen beherrscht werden müssen.1

Tatsächlich sind es wohl noch mehr. Denn wie alle Vor-schriften werfen auch diejenigen des Prüfungsrechts Ausle-gungsfragen auf: Wenn § 11 Abs. 2 Nr. 1 JAG NRW im Erb- recht „die Annahme und Ausschlagung der Erbschaft“ zum Pflichtfachstoff erklärt, meint das dann nur § 1943 BGB (An- nahme und Ausschlagung der Erbschaft) oder alle 25 zu-sammengehörigen Paragraphen des Titels über die „Annahme und Ausschlagung der Erbschaft, Fürsorge des Nachlassge-richts“? Wenn im Sachenrecht „aus dem Abschnitt 7 das Recht der Grundschuld“ zum Pflichtfachstoff gehört, ist dann das im selben Abschnitt enthaltene Hypothekenrecht im Um-kehrschluss ausgenommen? Oder kommt es durch die Hinter-tür des § 1192 Abs. 1 BGB – der beide Rechtsinstitute nicht umsonst eng verschränkt – doch wieder in den Pflichtfach-stoff mit hinein? Zudem nennt das Prüfungsrecht neben den BGB-Vorschriften auch noch Nebengesetze und Rechtsgebie-

* Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter (Senior Research Fellow) am Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter in Bonn und externer Habilitand an der Freien Universität (FU) Berlin. Er dankt Alexander Morell, Julian Nyarko, Jan-Erik Schirmer, Laura Schmitt und den Teilnehmern des Lehrstuhlkolloqui-ums von Andreas Engert für konstruktive Rückmeldungen, sowie Britta Padberg, Marc Schalenberg und den Mitarbei-tern des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) für den inspirierenden Aufenthalt in Bielefeld, der diesen Text am weitesten vorangebracht hat. 1 Die Examensvorbereitung wird selbstredend nicht nach Paragraphen strukturiert, aber letztlich besteht das Examen eben aus Auslegung, Zusammenspiel und Lückenfüllung einzelner Vorschriften, deshalb schadet es nicht, über den Lernaufwand einmal in Paragraphen nachzudenken.

te, die zumeist „im Überblick“ beherrscht werden müssen (in NRW wären das ProdHaftG, StVG, EGBGB, HGB, GmbHG, Zivilverfahrens- und Arbeitsrecht), wobei wiederum unklar ist, wieviel Überblick verlangt wird.

Ignorieren wir diese Auslegungsfragen, dann bleibt von der einfachen Antwort: Ganz oder zum Teil auf Lücke kann gelernt werden, was nicht souverän beherrscht werden muss – also im Zivilrecht alles bis auf 1641 BGB-Paragraphen. Selbst dieses Pensum entspricht jedoch über 40.000 Seiten im Staudinger.2 Niemand beherrscht so viel Stoff souverän.

Die richtige Antwort muss deshalb lauten: Examenskan-didaten können gar nicht anders, als durchweg jeden Paragra-phen teilweise „auf Lücke“ zu lernen. Für den Examensstoff gilt genau das, was Adam Sagan kürzlich über die Gesetzge-bung sagte: Sie ist kein „System mit Lücken“, sondern ein „System von Lücken“.3 Kluge Examensvorbereitung nach dem Dauner-Liebschen Prinzip „Work smarter not harder“ vermeidet das Lückenlernen also nicht,4 sondern setzt gezielt und geschickt die richtigen Lücken.

Hierin liegt aber die Krux: Wie lassen sich Lücken ge-schickt wählen, wie setze ich die richtigen Schwerpunkte für meine beschränkten Ressourcen? Dazu gibt der vorliegende Text einen Impuls. Er schlägt eine Methode vor, um das Lernpensum in der Examensvorbereitung „evidenzbasiert“, also anhand von Daten, zu gewichten – angeregt durch die im juristischen Schrifttum bisher noch fast unbekannten „digita-len Geisteswissenschaften“ (digital humanities). Digitale Me- thodenkompetenz gehört zunehmend zum Kernbestand juris-tischer Fähigkeiten5 – warum nicht in der eigenen Examens-vorbereitung damit anfangen?

Der eilige Leser, dessen Examen vielleicht vor der Tür steht, mag direkt zum Hauptteil (Abschnitt III.4) springen, dessen Hauptergebnisse in Abb. 2 (S. 511), Abb. 4 (S. 514) und Abb. 5 (S. 516) visualisiert sind. Wer sich dagegen auch für Methodenfragen interessiert und Anregungen für eine „digitale Rechtsdidaktik“ sucht, wie Kersten sie vor einigen Jahren in einer (lesenswerten) theoretischen Vorarbeit vor-schlug,6 wird eher in Abschnitt II. zu Grundlagen des distant reading und in Abschnitt IV. zu den Grenzen der vorgeschla-genen Methodik fündig. Letztere sollten freilich auch eilige Studierende nicht ganz außer Acht lassen.

2 Grob geschätzt: 1641 sind 67 % der 2440 BGB-Para- graphen; der Staudinger umfasst laut Verlag „über 70.000 Seiten in 109 Bänden“ (www.staudinger-bgb.de); 67 % da-von wären 47.000 (alle Zahlen Stand 17.2.2020). 3 Sagan, zit. in Hamann, JZ 2020, 84 (85). 4 So wohl aber Sanders/Dauner-Lieb, JuS 2013, 380 (382). 5 Dazu beispielsweise aus Hamburg und Harvard: v. Fallois, Programmieren statt Paragraphen, Bucerius Law School Website (9.3.2020); Gowder, Teaching Data Science for Lawyers pp., Library Innovation Lab Blog (9.7.2019). 6 Kersten, JuS 2015, 481.

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VARIA Hanjo Hamann

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II. Lesen auf Distanz – „Distant Reading“ 40.000 Staudinger-Seiten sind gewaltig viel Lesestoff. Zum Glück stehen juristische Studierende mit einer solchen Her-kulesaufgabe nicht allein: Der italienische Literaturtheoreti-ker Franco Moretti beispielsweise bemerkte zu Beginn des Jahrtausends, dass inzwischen zwar große Teile der Weltlite-ratur mit wenigen Mausklicks öffentlich verfügbar sind, dass Literaturwissenschaftler aber trotzdem nur einen „minimalen Bruchteil“ ihres Fachgebiets überblicken. Selbst eine auf den englischen Roman im 19. Jahrhundert spezialisierte Forsche-rin müsse eigentlich einen Kanon von mindestens 200 Wer-ken beherrschen.7 200 Romane von je etwa 200 Seiten, das wären: 40.000 Seiten. Selbst das genügte Moretti allerdings nicht: Auch der englische Roman im 19. Jahrhundert bestehe schließlich nicht nur aus dem Kanon (der kaum ein Prozent der Literatur ausmache), sondern aus “the novels that were actually published: twenty thousand, thirty, more, no one really knows”.8 Verglichen damit haben es juristische Exa-minanden dank des Prüfungsrechts noch leicht.

Wie also gehen andere Text- und Geisteswissenschaften mit der Überforderung durch solche Textmengen um? Darauf schlug Moretti damals eine Antwort vor, die seit Jahren die Methodik und Grundlagen vieler Geisteswissenschaften er-schüttert: Er stellte der traditionellen Textlektüre, die er als „close reading“ bezeichnete, eine neue Art des Lesens gegen-über, für die er im Jahr 2000 den Begriff „distant reading“ einführte.9 Damit meinte er den Versuch, eine große Menge von Texten ohne vertiefte Lektüre zu erschließen, zu syste-matisieren und vorzustrukturieren – also einen

“process of deliberate reduction and abstraction […] where distance is […] not an obstacle, but a specific form of knowledge: fewer elements, hence a sharper sense of their overall interconnection. Shapes, relations, structures.”10

Nichtlesen als Erkenntnisgewinn also. Als Möglichkeit, Strukturen zu erkennen, wo vorher nur Worte waren. Als ein in die digitale Welt übertragenes Abrücken von den Bäumen, um wieder den Wald zu sehen. Durch die Extraktion quanti-tativer Daten aus einem großen Textkorpus, so Morettis Ver-sprechen, lasse sich etwas über die Textgesamtheit lernen – gewissermaßen aus der Vogelperspektive –, das uns bei tradi-tioneller, „enger“ Lektüre entgangen wäre.

Es war nicht der erste und jedenfalls nicht der einzige Versuch, Texte mittels digitaler Werkzeuge zu verdichten („verdaten“). Morettis Begriffsschöpfung „distant reading“ ist eingängig und einprägsam, fand aber erst vor kurzem Ein- zug in die US-amerikanische Rechtsliteratur,11 und die deut-

7 Moretti, Graphs, Maps, Trees: Abstract Models for Literary History, 2005, S. 3 f. 8 Moretti (Fn. 7), S. 4. 9 Moretti (Fn. 7), S. 1 mit Verw. auf eine Vorarbeit von 2000. 10 Moretti (Fn. 7), S. 1 (Hervorhebung im Original). 11 Mocsari, Duke Law J. Online 2018, 41 Fn. 3, (abrufbar unter dlj.law.duke.edu/2018/09/s [28.9.2020]); inzwischen auch Livermore/Rockmore (Fn. 16), S. 3–19.

sche Rechtswissenschaft.12 Ähnliche Ansätze konkurrieren (in unterschiedlichen Graden von Automatisierung) unter den Bezeichnungen „Big Data Legal Scholarship“,13 „Law and Corpus Linguistics“,14 „Computer Assisted Legal Linguis-tics“,15 „Law as Data“16 und vielen weiteren. Hier soll es uns aber nicht um Begriffsprioritäten und methodische Hegemo-nien gehen, sondern um die grundlegende Idee, Texte auf Kennzahlen einzudampfen, um den „Sinn für größere Zusam- menhänge zu schärfen“, wie Moretti formulierte.17

Diese Grundidee ist beileibe nicht jeder juristischen Frage angemessen und kann hergebrachte Methoden nicht ersetzen – das gilt in der Rechts- genau wie in der Literaturwissen-schaft.18 Es gibt aber Anwendungsfälle, in denen ein solches Vorgehen sinnvoll sein kann – in der Rechtswissenschaft19 ebenso wie in der juristischen Ausbildung. III. Distanzlesen für die Examensvorbereitung Wie jedes Werkzeug lässt sich auch Distanzlesen ganz unter-schiedlich einsetzen. So kann es in der Literaturwissenschaft thematische Gemeinsamkeiten von Texten erkennen helfen, die Lesern vielleicht entgangen wären (etwa durch sog. topic modelling). Die folgende Studie soll Grundprinzipien des computergestützten Distanzlesens auf juristische Texte an-wenden und dessen Potential für die Rechtsdidaktik ausloten. 1. Auswahl des Textmaterials Auf den ersten Blick erscheint es vielleicht reizvoll, das Dis-tanzlesen direkt an den schon erwähnten 40.000 Textseiten des „Staudinger“ oder an Lehrbuchtexten zu erproben. Unge-achtet der Frage, wie sinnvoll das für die Examensvorberei-tung wäre, scheitert dies zumeist an den beteiligten Verlagen: Obwohl viele Kommentar- und Lehrwerke digital vorliegen und obwohl § 60d Abs. 1 S. 1 UrhG es gestattet, zu wissen-schaftlichen Zwecken „daraus insbesondere durch Normali-sierung, Strukturierung und Kategorisierung ein auszuwer-tendes Korpus zu erstellen“, erschweren Verlage die digitale

12 Beiläufig (und skeptisch) etwa Kersten, JuS 2015, 481 (486): „Wir müssen insbesondere lernen, mit den digitalen Methoden des ‚non-reading of legal texts‘ [hier Fn. 52 mit Verweis auf distant reading] kritisch umzugehen“. 13 Fagan, Virginia J. of Law & Technology 20 (2016), S. 2. 14 Mouritsen, International J. of Language & Law 6 (2017), S. 67, abrufbar unter doi.org/10.14762/jll.2017.067 (28.9.2020). 15 Vogel/Hamann/Gauer, Law & Social Inquiry 43 (2018), S. 1340, abrufbar unter doi.org/10.1111/lsi.12305 (28.9.2020). 16 Livermore/Rockmore (Hrsg.), Law As Data: Computation, Text, and the Future of Legal Analysis, 2019. 17 Moretti (Fn. 7), S. 1, zitiert oben bei Fn. 10. 18 Auf einige unvermeidliche methodische Beschränkungen wird unter IV. noch einzugehen sein. 19 Der interessierte Leser findet vielfältige Anregungen etwa in den Publikationen und laufenden Projekten von Jens Fran-kenreiter (Columbia), Julian Nyarko (Stanford) und Friede-mann Vogel (Siegen).

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Evidenzbasierte Examensvorbereitung ZIVILRECHT

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Textauswertung zunehmend – nicht nur für eigene Texte, sondern sogar für gemeinfreie amtliche Werke (§ 5 UrhG) wie das Bundesgesetzblatt oder die deutsche Rechtsprechung. Darin liegt derzeit die größte Herausforderung für den Ein-satz digitaler Werkzeuge im deutschen Recht.20

Die evidenzbasierte Examensvorbereitung kann diesem Problem mit einer gewissen Gelassenheit begegnen, denn ihr bestes Rohmaterial ist ohnehin nicht die kommerziell verlegte Rechtsliteratur. Die beste Vorbereitung auf das Examen sind immer noch: Examensklausuren.21 Diese sind zum Teil frei online abrufbar – so etwa für die Zweite Staatsprüfung dank des Berliner Internet-Klausurenkurses.22 Für das vorliegende Pilotprojekt ließ sich glücklicherweise ein (noch größerer) Bestand von Originalklausuren für die Erste Staatsprüfung nutzen. Es handelt sich um alle zivilrechtlichen Examens-klausuren, die in einem großen Bundesland zwischen 2009 und Mitte 2019 gestellt wurden, samt jeweiliger Lösungs-skizzen. Bei je drei Zivilrechtsklausuren pro Examenstermin und zwei Examensterminen pro Jahr waren das insgesamt 63 Klausuren, die digital im pdf-Format vorlagen, mit 1.166 A4-Seiten Lösungsskizzen (also im Schnitt 18 ½ Seiten Lösungs-skizze pro Klausur). Studierende könnten dieses konkrete Material wohl allenfalls per IFG-Anfrage erhalten, aber die im Folgenden vorgeführten Methoden sollten sich auch auf andere Textsammlungen übertragen lassen. 2. Vorbereitung des Textkorpus Wird in der Computerlinguistik eine größere Anzahl von Texten zur systematischen Auswertung zusammengestellt, spricht man von einem Korpus – wie schon einst Kaiser Jus-tinian,23 und nun auch der oben zitierte § 60d UrhG.24 Com-puterlinguisten interessieren sich für sprachliche Metastruktu-ren (Syntaktik, Semantik, etc.), deshalb bereiten sie ihre Kor-pora im ersten Schritt immer mit Blick auf dieses Erkenntnis-interesse auf. Beispielsweise lassen sie von einem Computer-programm zunächst alle Wortarten im Text identifizieren (sog. „part-of-speech tagging“, PoS). Für die Examensvorbe-reitung würde uns die Aufbereitung der in einer Klausurlö-sung verwendeten Wortarten natürlich wenig helfen. Statt-dessen greifen wir auf eine andere Form der Textauszeich-nung zurück, die juristischen Gutachten stets innewohnt:

Wo immer eine juristische Frage auftaucht, steht im Gut-achten ein Paragraphenzeichen; wo immer juristische Zu-sammenhänge erörtert werden, häufen sich die Paragraphen-zeichen. Zugleich werden Fragen und Zusammenhänge durch 20 Nicht umsonst stammen drei der vier oben zitierten Metho-deninnovationen (Fn. 13–16) aus den USA. 21 So für seine „Anforderungsanalyse“ bereits Kuhn, JuS 2011, 1066 (1071 f.). 22 Abrufbar unter berlin.de/gerichte/kammergericht/karriere/ rechtsreferendariat/vorbereitungsdienst/zusatzangebote# INTNTKLKU (1.10.2020). 23 Anspielung darauf bei Vogel/Hamann, Jahrbuch 2014 der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 2015, S. 275. 24 § 60d UrhG ist die erste Vorschrift des deutschen Bundes-rechts, die mit „Korpus“ kein handgefertigtes Werkstück meint (so etwa § 1 Abs. 2 Nr. 22 HoblMstrV).

die zitierte Paragraphennummer eindeutig inhaltlich bezeich-net. Mit einem Computerprogramm sollten sich also jene Stellen auffinden lassen, die durch ein Paragraphenzeichen markiert sind, und jene Paragraphennummern extrahieren lassen, die den Inhalt des Problems näher benennen.25

Dazu wurden die Lösungsskizzen in mehreren Umwand-lungsschritten in ein auswertbares Paragraphenkorpus ver-wandelt: Zunächst wurden die 1.166 Textseiten aus dem pdf-Format in unformatierten Fließtext konvertiert. Daraus wur-den im nächsten Schritt alle Paragraphenzitate computerge-stützt extrahiert.26 Dabei stellten sich teils unvorhergesehene Schwierigkeiten – etwa dass in einer Lösungsskizze Paragra-phen durchweg ohne Gesetzesangabe zitiert wurden oder dass etliche Lösungsskizzen Kommentarstellen oder Lehrbücher zitierten, deren Kapitelzählung ebenfalls durch Paragraphen erfolgt. Der Extraktions-Algorithmus wurde wiederholt über-arbeitet, bis in der Kontrollansicht keine systematischen Feh-ler mehr erkennbar waren: Abb. 1: Kontrollansicht für die Paragraphen-Extraktion

Gänzlich ausschließen lassen sich Fehler in der Paragraphen- extraktion nicht – schon weil zum Teil das Datenmaterial nicht fehlerfrei war.27 Nach stichprobenartiger Durchsicht dürften allerdings kaum mehr als 2–3 % der Paragraphen- zitate dem Extraktionsalgorithmus entgangen sein (falsch-negativ), ebenso wie von den erkannten Paragraphenzitaten kaum mehr als 2–3 % zu Unrecht (falsch-positiv) erfasst worden sein dürften. 3. Beschreibung des Datenmaterials Nach dem beschriebenen, computergestützten Verfahren, konnten aus dem Textmaterial zuletzt 11.993 Paragraphenzi-tate extrahiert werden, also im Schnitt 190 Paragraphenzitate

25 Dabei geht es also (wie schon oben in Fn. 1 erläutert) nicht darum, einzelne Paragraphen zu finden und in der Examens-vorbereitung gezielt zu pauken, sondern darum, mittels Para-graphen und ihres Zusammenspiels ein Gesamtbild der didak-tischen Problemstrukturen zu erhalten, das sich auch bei ver- tiefter Lektüre von über 1.000 Seiten Lösungsskizzen nicht ohne Weiteres erschließen würde. 26 Durch sog. reguläre Ausdrücke, ein Standardwerkzeug der meisten Programmiersprachen. (Für das vorliegende Projekt kam Anaconda/Python 3.6.4 zum Einsatz.) 27 Dazu nur ein Beispiel: In einer Lösungsskizze war § 128 BGB zitiert, wo dem Sinn nach (den ein Computer natürlich nicht versteht) nur § 128 HGB gemeint gewesen sein kann.

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pro Lösungsskizze, oder ein Paragraphenzitat auf 230–250 Zeichen Text. (Das entspricht der Länge des vorigen Satzes.) Da viele Paragraphen mehrfach zitiert werden, sagt die An-zahl der Paragraphenzitate natürlich nichts über die Anzahl der zitierten Paragraphen aus. Aggregiert man alle Mehrfach-zitationen, so ergibt sich vielmehr, dass über alle Lösungs-skizzen hinweg lediglich 1.051 verschiedene Paragraphen zitiert worden waren, davon über die Hälfte (52 %) nur in je einer einzigen Lösungsskizze, und von diesen noch fast drei Viertel (73 %) weniger als drei Mal. Damit verbleiben also nur 655 Paragraphen, die mindestens drei Mal oder in min-destens zwei verschiedenen Lösungsskizzen auftauchten.

Dieser Wert beträgt nur knapp zwei Fünftel der Paragra-phenzahl (1.641), die allein im BGB zum prüfungsrechtlichen Pflichtstoff gehören. Das evidenzbasierte Vorgehen ermög-licht also schon eine erhebliche Eingrenzung, die sich durch weitere Auswertungen nun noch schärfer konturieren lässt. 4. Datenauswertung: Drei Beispiele Für die Datenauswertung wollen wir Werkzeuge, die in den digitalen Geisteswissenschaften etabliert sind, im Kontext unserer Examenslösungen erproben. Dazu nutzen wir beispiel- haft drei aufeinander aufbauende Werkzeuge, deren zuneh-mende Komplexität auch den damit möglichen Erkenntnis-gewinn erhöht. Da diese Werkzeuge für andere Einsatzzwe-cke entwickelt wurden (worauf noch einzugehen ist), kann es hier nur um die Übernahme ihrer jeweiligen Grundprinzipien gehen. In dieser angepassten Version bilden die vorliegenden Auswertungen aber hoffentlich recht anschauliche Illustratio-nen des Vorgehens zur Frequenzanalyse (a), Kookkurrenz- analyse (b) und Textvektorisierung (c). a) Frequenzanalyse Als Frequenzanalyse könnte man die Auswertung bezeich-nen, wie häufig welche Paragraphenzitate vorkommen.28 Zunächst wollen wir fragen, welche der oben erwähnten 655 Paragraphen am häufigsten zitiert wurden. Diese Frage lässt sich durch statistische Tabellierung rasch beantworten: Die folgende Tabelle führt die 21 häufigsten Paragraphen (d.h. alle, die insgesamt über achtzig Mal erwähnt wurden) in allen untersuchten Klausurlösungen auf.

Sie belegt zunächst (wenig überraschend), dass die vier Grundnormen des allgemeinen Schuld-, Delikts-, Kauf- und Kondiktionsrechts mit Abstand am häufigsten (je über 150 Mal) zitiert wurden. Auch dass 19 der 21 meistzitierten Vor-schriften aus dem BGB stammen, passt zu den prüfungsrecht-lichen Vorgaben, die die Beherrschung von Nebengesetzen nur „im Überblick“ erwarten. Umso überraschender dann allerdings die hohen Rangplätze (Zeilen 8 und 14) zweier HGB-Normen. Auch § 179 BGB (Haftung des Vertreters ohne Vertretungsmacht) gehört unter den zwanzig meistzi-tierten Paragraphen wohl zu den Überraschungskandidaten, zumal seine Häufigkeit dem für seine inflationäre Verwen-

28 Man spricht auch von „beschreibender“ (deskriptiver) Sta- tistik, dazu ausf. Hamann, Evidenzbasierte Jurisprudenz, 2014, S. 74 ff.

dung berüchtigten § 242 BGB kaum nachsteht. Nur 15 der 21 meistzitierten Paragraphen (nebst neun im weiteren Verfol-gerfeld29) wurden öfter als in jeder vierten Klausur relevant. Tab. 1: Häufigste 21 Paragraphen in Examenslösungen

§ Gesetz Zitate Lösungen Zitate /

Lösung abs. rel. abs. rel. 280 BGB 478 4,0 % 38 60,3 % 12,6 823 BGB 279 2,3 % 36 57,1 % 7,8 433 BGB 178 1,5 % 31 49,2 % 5,7 812 BGB 163 1,4 % 31 49,2 % 5,3 346 BGB 139 1,2 % 17 27,0 % 8,2 323 BGB 135 1,1 % 21 33,3 % 6,4 241 BGB 129 1,1 % 27 42,9 % 4,8 128 HGB 124 1,0 % 13 20,6 % 9,5 929 BGB 122 1,0 % 22 34,9 % 5,5 275 BGB 122 1,0 % 24 38,1 % 5,1 437 BGB 114 1,0 % 17 27,0 % 6,7 816 BGB 103 0,9 % 10 15,9 % 10,3 281 BGB 101 0,8 % 16 25,4 % 6,3 161 HGB 100 0,8 % 9 14,3 % 11,1 311 BGB 99 0,8 % 25 39,7 % 4,0 985 BGB 97 0,8 % 20 31,7 % 4,8 818 BGB 96 0,8 % 10 15,9 % 9,6 242 BGB 90 0,8 % 32 50,8 % 2,8 249 BGB 82 0,7 % 28 44,4 % 2,9 179 BGB 82 0,7 % 7 11,1 % 11,7 932 BGB 82 0,7 % 15 23,8 % 5,5 Anm.: abs. („absolut“) steht für die gezählte Häufigkeit, rel. („relativ“) für denselben Wert in % der jeweiligen Grundge-samtheit (= 11.993 Paragraphenzitate in 63 Lösungsskizzen). Schon der Beginn dieser Tabelle lässt erahnen, wie solche Daten die Schwerpunktsetzung in der Examensvorbereitung erleichtern könnten: Taucht § 433 BGB doppelt so häufig auf (1,5 %) wie § 932 BGB (0,7 %), ließe sich der Vorbereitungs- aufwand entsprechend skalieren. Nun wäre es etwas um-ständlich, die Liste von Rang 22 bis Rang 655 fortzusetzen und Zeile für Zeile in Zeitaufwand umzurechnen. (Wer sich daran probieren möchte: Den Rest der Tabelle stelle ich onli-ne zur Verfügung.30) Deshalb empfiehlt sich ein anderes Darstellungsformat aller in den Lösungsskizzen zitierten Paragraphen: Das folgende Kacheldiagramm übersetzt die Häufigkeit jedes Paragraphen in Flächeneinheiten und stellt diese als verschachtelte Rechtecke dar.

29 §§ 278, 157, 133, 164, 254, 398, 276, 166 und 158 BGB. 30 Abrufbar unter hanjo.1hamann.de/research/zjs2020-tab1.csv (1.10.2020).

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Abb. 2: Gewichtsanteile aller zitierten Paragraphen über alle Examenslösungen hinweg

Anm.: Kacheldiagramm (tree map) erstellt mit dem treemap-Befehl des Python-Moduls Plotly Express. Links oben sehen wir abermals die fünf häufigsten Paragra-phen aus der vorigen Liste, die alle zu Buch 2 (Schuldrecht) des BGB gehören. Daneben zeigt das Kacheldiagramm aber auch, dass Buch 2 des BGB generell fast die Hälfte der zitier-ten Paragraphen stellt – und deshalb in der Examensvorberei-tung (wie üblich) den größten Aufwand rechtfertigt. Zudem zeigt das Diagramm, dass nur ein Sechstel (16,7 %) der zi-tierten Paragraphen aus Nebengesetzen stammen (in grau), und von diesen wiederum die meisten aus ZPO, HGB und StGB. Entlegenere Gesetze wie das StVG und die GBO sind im Diagramm kaum noch sichtbar.

Damit bestätigt unsere Auswertung also den für einzelne Examensklausuren schon zuvor festgestellten Befund: Detail- wissen zu exotischen Paragraphen ist „an keiner Stelle erfor-derlich […] – eine beruhigende Erkenntnis für jeden Exa-menskandidaten.“31 Wie das obige Kacheldiagramm illus-triert, wird im Zivilrechtsexamen vor allem Grundlagen- und Zusammenhangswissen abgeprüft – nicht die von manchen Studierenden gefürchteten Exoten.32

31 Kuhn, JuS 2011, 1066 (1071 f.). 32 Medizinstudierende sprechen hier übrigens von „Kolibris“. Ich danke Alexandra Hartmann für diesen Hinweis.

b) Kookkurrenzanalyse Die eben aufgestellte These über das Zusammenhangswissen lässt sich leider allein durch Frequenzanalyse gar nicht erhär-ten. Die absolute Häufigkeit einzelner Paragraphen sagt schließlich nichts über deren Zusammenhänge. Dafür benöti-gen wir den Zitationskontext, etwa von § 280 BGB. Diese Norm dürfte schon aufgrund ihrer Verweisungsstruktur prak-tisch nie allein auftauchen. Erst ihr Kontext verleiht dem Normzitat seine spezifische Bedeutung, die für die Examens-vorbereitung relevant ist. Ähnliches gilt für die bisher unaus-gesprochen gebliebene Aggregation von Paragraphenteilen: Die obige Beschreibung lässt noch nicht erkennen, wie oft in § 823 BGB der erste Absatz (absolute Rechtsgüter) und wie oft der zweite Absatz (Schutzgesetze) angesprochen war. Kurzum: Wir benötigen zusätzliches Kontextwissen.

Zur Untersuchung sprachlicher Gebrauchskontexte behel-fen sich digitale Geisteswissenschaften mit sog. Kookkurren-zen bzw. n-grams. Das sind wiederkehrende Verbindungen aus mehreren („n“) sprachlichen Einheiten („tokens“), die zu- sammen auftreten („ko-okkurieren“), also festgefügte Mehr-worteinheiten und formelhafte Sprachmuster bilden. Diese prägen gerade die Rechtssprache auffällig stark, wie Sprach-wissenschaftler bei der quantitativen Erforschung der Rechts-sprache (Rechtskorpuslinguistik) feststellen:

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„Rekurrente Sprachmuster [können …] Hinweise auf Se-dimente juristischer Dogmatik sein. Die Rechtssprache ist, so scheint es, voll von derartigen dogmatischen Ver-härtungen, die […] die juristische Arbeit orientieren. Man denke etwa an […] feststehende Phrasen wie men-schenwürdiges Existenzminimum (mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG), Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (beide mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 GG) […].“33

Wo die rechtslinguistische Forschung also dogmatische Se-dimente identifiziert, indem sie wiederkehrende Wortverbin-dungen computergestützt aufspürt, lässt sich das zwanglos auf die Kontextualisierung von Paragraphenzitaten übertra-gen: Was in der natürlichen Sprache als 3-gram erscheint (d.h. als festgefügte Verbindung aus drei Spracheinheiten) mit den Bestandteilen „culpa“, „in“ und „contrahendo“ (oder auch „Verschulden“, „bei“ und „Vertragsschluss“), ist als Normzitat ebenso ein 3-gram (d.h. eine festgefügte Dreier-Paragraphenkette) aus den Normen § 280 Abs. 1 BGB, § 241 Abs. 2 BGB und § 311 Abs. 2 BGB. Die Forschungslogik der digitalen Geisteswissenschaften passt also zur hiesigen Frage, wenn wir Paragraphenketten34 als gewissermaßen „sedimen-tierte“ Einheiten mehrerer in einem bestimmten Kontext zusammengehöriger Paragraphen verstehen. Wer solches Se- diment findet, lernt etwas über den Kontext, ohne den Text genau lesen zu müssen – so die Annahme der linguistischen Kookkurrenzanalyse. Stimmt das auch für Paragraphenzitate?

Schauen wir uns deren Kookkurrenzen (d.h. Paragraphen- ketten) näher an, so stellen wir zunächst fest, dass Quasi-„Mehrworteinheiten“ knapp ein Fünftel aller Paragraphenzi-tate ausmachen. 79,6 % der Paragraphenzitate in unserem Korpus bestehen aus einem Paragraphen, 14,5 % aus zweien, 4,4 % aus dreien, die verbleibenden 1,5 % aus mindestens vier Paragraphen. Die längste Kette verband sieben Paragra-phenteile: §§ 280 Abs. 1, 3, 281 Abs. 1, 433, 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 437 Nr. 3, 453 Abs. 1 BGB. Das Zusammenspiel die-ser Normen sollte also beherrscht werden, um Ketten dieser Länge verstehen und in der Klausursituation nötigenfalls nachbilden zu können.

Für effizientes Lernen kommt es allerdings wiederum weniger darauf an, die längsten Paragraphenketten zu beherr-schen als die üblichsten. Fragen wir deshalb nach den am häufigsten anzutreffenden Paragraphenketten. 18 solcher Ket- ten waren in je mindestens fünf Examenslösungen zu finden – mit vier Ausnahmen alles Zweierketten, wie die folgende Tabelle zeigt.

33 Vogel/Christensen/Pötters, Richterrecht der Arbeit, 2015, S. 90 (im Abschnitt „Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler“ – Hervorhebungen im Original). 34 Als Paragraphenkette wurde jede nicht durch Worte unter-brochene Aneinanderreihung von Paragraphen behandelt, egal ob verbunden durch Kommata, „und“ oder „i.V.m.“.

Tab. 2: Häufigste 18 Paragraphenketten in Examenslösungen

Paragraphenkette Lösungen abs. rel. §§ 133, 157 BGB 27 49 2,6 % §§ 280 I, 241 II, 311 II BGB 14 41 2,2 % §§ 989, 990 BGB 11 41 2,2 % §§ 929 S. 1, 932 BGB 10 38 2,0 % §§ 23 Nr. 1, 71 I GVG 10 10 0,5 % §§ 280 I, 241 II BGB 9 23 1,2 % §§ 873 I, 925 I BGB 8 18 0,9 % §§ 670, 677, 683 S. 1 BGB 8 14 0,7 % §§ 280 I, III, 283 BGB 7 16 0,8 % §§ 929 S. 1, 930 BGB 7 12 0,6 % §§ 280 I, 437 Nr. 3 BGB 7 10 0,5 % §§ 161 II, 128 HGB 5 29 1,5 % §§ 280 I, 280 III, 281 BGB 5 18 0,9 % §§ 437 Nr. 1, 439 I BGB 5 12 0,6 % §§ 823 II BGB, 263 StGB 5 9 0,5 % §§ 134, 138 BGB 5 8 0,4 % §§ 195, 199 BGB 5 7 0,4 % §§ 12, 13 ZPO 5 6 0,3 % Anm.: abs. („absolut“) steht für die gezählte Häufigkeit, rel. („relativ“) für denselben Wert in % der Grundgesamtheit (= 1.905 verwendete Paragraphenketten). Wenn Paragraphen wie die in der Tabelle genannten sich häufig mit anderen verbinden, wie oft trifft man sie dann überhaupt „allein“ und wie oft „in Gesellschaft“ an? Dafür können wir in Anlehnung an den obigen (rechtslinguisti-schen) Sprachgebrauch eine Metrik entwickeln: den Sedimen-tierungsgrad eines Paragraphen. Kommt ein Paragraph über-haupt nur in Paragraphenketten vor, so beträgt sein Sedimen-tierungsgrad 100 (Prozent); beteiligt er sich nie an Ketten, so liegt der Sedimentierungsgrad bei null. Die Grafik auf der folgenden Seite (Abb. 3) trägt den Sedimentierungsgrad aller 2338 zitierten Paragraphenteile gegen ihre absolute Häufig-keit ab. Sie zeigt beispielsweise, dass § 280 Abs. 1 BGB nicht nur der meistzitierte, sondern auch einer der am stärks-ten (nämlich in gut vier von fünf Fällen) sedimentierten Para-graphen ist, noch übertroffen etwa von § 437 Nr. 3 BGB, der fast nur in Ketten vorkommt.

Unter der Grafik findet sich sodann eine detaillierte Auf-listung (Tab. 3), die im Tabellenkopf die fünf meistzitierten Paragraphenteile aufführt (alle, die mindestens 100 Mal auf-traten) und darunter in absteigender Reihenfolge ihre häufigs-ten Kookkurrenzpartner, d.h. jene Paragraphen, mit denen sie besonders oft gemeinsame Ketten bilden. Dieses Darstellungs- format erlaubt es, für die Examensvorbereitung die kontextu-elle Einbettung jedes Paragraphen nachzuvollziehen und eine Norm wie § 823 Abs. 1 BGB anhand ihrer üblichen Ge-brauchskontexte (bspw. der Organhaftung nach § 31 BGB oder dem Schadensrecht der §§ 249 ff. BGB) zu verstehen.

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Abb. 3: Häufigkeit und Sedimentierungsgrad aller 1.980 zitierten Paragraphenteile

Anm.: Die horizontale Achse trägt absolute Häufigkeit (Anzahl) ab, die vertikale den Sedimentierungsgrad (in %). Jeder Punkt ist ein Paragraphenteil, benannte traten mindestens 50 Mal auf. Erstellt mit dem twoway-Befehl von Stata 16.0. Tab. 3: Zehn häufigste Kookkurrenzen der fünf häufigsten Paragraphenteile. § 280 I BGB § 241 II BGB § 823 I BGB § 161 II BGB § 128 HGB 1 § 241 II BGB § 280 I BGB § 31 BGB § 128 HGB § 161 II HGB

2 §§ 280 III, 283 BGB §§ 280 I, 311 II BGB §§ 249 I, 251 I BGB § 124 HGB §§ 161 II, 171, 172 HGB

3 §§ 241 II, 311 II BGB §§ 280 I, 311 II Nr. 1 BGB

§§ 249 II, 253 II BGB § 125 I HGB §§ 130, 161 II, 171, 172, 173 HGB

4 § 437 Nr. 3 BGB § 280 BGB § 398 BGB §§ 128, 171, 172 HGB §§ 110, 161 II HGB

5 §§ 280 III, 281 BGB §§ 280 I, 311 III BGB § 249 I BGB §§ 128, 130, 171, 172, 173 HGB

§§ 130, 161 II HGB

6 §§ 241 II, 311 II Nr. 1 BGB

§§ 253 II, 280 I BGB § 253 II BGB §§ 15 I, 160 I, 171 I, 172 I HGB, 433 II BGB

§§ 161 II HGB, 426 II BGB

7 §§ 280 II, 286 BGB § 311 II BGB §§ 1007 I, II, 861 BGB §§ 110, 128 HGB § 488 BGB

8 §§ 241 II, 311 III BGB §§ 280 I, 311 BGB §§ 249, 253 II BGB §§ 124 HGB, 311 III 1 BGB

§§ 130, 161 II HGB

9 §§ 241 II, 253 II BGB §§ 280 I, 535 I BGB §§ 280, 611 BGB §§ 124 HGB, 812 I 1 Alt. 1 BGB

§ 129 HGB

10 § 433 BGB §§ 280 I, III, 282 BGB §§ 989, 990 BGB §§ 124 HGB, 831 BGB

§ 130 HGB

Anm.: Die erste Spalte benennt den Rangplatz (1 = am häufigsten).

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Abb. 4: Netzwerk der Kookkurrenzen von wiederholt in Lösungsskizzen relevanten Paragraphen

Anm.: Netzwerkdarstellung erstellt mit yEd 3.20 (tree balloon layout). Abgebildet sind Teilnetze ab drei Kookurrenzpartnern. Beide Darstellungen auf der vorigen Seite haben freilich eine Schwäche: Sowohl die Elemente einer Paragraphenkette als auch deren Zitationsreihenfolge sind oft „Geschmacksfra-gen“. Deshalb erprobt Abb. 4 ein weiteres Darstellungsfor-mat, um die Einbettung von Paragraphen in Gebrauchskon-texte zu visualisieren: Als Netzwerkdarstellung zeigt sie alle Paragraphen („Knoten“), die mindestens drei Mal oder in mindestens zwei verschiedenen Lösungsskizzen auftraten, und verbindet diejenigen, die dabei Paragraphenketten bilde-ten. Dargestellt sind alle Teilnetze mit mindestens drei Kno-ten; sie sind zum Teil unverbunden, weil im konkreten Kor-pus keine Kookkurrenzen zwischen manchen Paragraphen bestanden. In einem größeren Textkorpus könnten sich durchaus neue Verknüpfungen („Kanten“) ergeben, was unter Umständen aber die Übersichtlichkeit beeinträchtigen kann.35

In der Netzwerkdarstellung gruppieren sich viele bekann-te Kookkurrenzen in sog. Clustern: Rechts unten beispiels-weise ein Handelsrechtscluster, links daneben ein Mobiliar-sachenrechtscluster, usw. Das größte und am stärksten inte-grierte Teilnetz hingegen clustert um § 280 Abs. 1 BGB her- um, der nicht umsonst als „zentrale Anspruchsgrundlage“ des Leistungsstörungsrechts gilt.36 In der Netzwerkdarstellung bekommt diese müde Metapher eine real sichtbare Gestalt. Examenskandidaten sollten jede der Querverbindungen ver-stehen, die von § 280 BGB ausgehen und sich in die Veräste-lungen seines Netzwerks fortsetzen.

35 Weil in großen Netzwerken oft jeder mit jedem verbunden ist, gerät deren Visualisierung leicht zum „Haarknäuel“, sog. „network hairball“. 36 Plate, Das gesamte examensrelevante Zivilrecht, 6. Aufl. 2016, S. 639; Lorenz, in Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Stand: 1.2.2020, § 280 Rn. 1.

c) Textvektorisierung Dass in der Netzwerkdarstellung Cluster um bestimmte Para-graphen entstehen, darf niemanden überraschen: Diese Para-graphen wurden vom Autor der Klausurlösung bewusst zu-sammen zitiert und in einer Kette aufgeführt. Die Kookkur-renzanalyse macht also nur sicht- und überschaubar, was ein verständiger Leser des Textes mit etwas Mühe auch von Hand rekonstruieren könnte. Für die dritte Auswertung wid-men wir uns deshalb einer Frage, die sich manuell kaum noch mit vertretbarem Aufwand beantworten ließe und deshalb das volle Potential des „Distanzlesens“ erkennen lässt: Welche Vorschriften haben außerhalb von Paragraphenketten das größte Näheverhältnis zueinander?

Dafür bauen wir auf einer Methodik auf, die in den digita-len Geisteswissenschaften seit gut zehn Jahren besondere Aufmerksamkeit erfährt, aber im Prinzip nur die eben vorge-führte Kookkurrenzanalyse konsequent weiterentwickelt und stärker automatisiert: Textvektorisierung. Das bedeutet, nicht nur die gezielte gemeinsame Verwendung von Worten (hier Paragraphen) zu analysieren, sondern gewissermaßen mit dem Blick eines außerirdischen Anthropologen die Bezie-hung jedes Wortes (bzw. jedes Paragraphen) zu jedem ande-ren im selben Text auszumessen. Das Korpus wird dazu in eine Matrix verwandelt, die für jedes Wort sein Vorkommen an jeder Position des Textes als 0 oder 1 kodiert. Dann kön-nen Texte oder Textteile als Vektoren („word vector“) für mathematische Berechnungen genutzt werden, zum Beispiel in Einbettungsmodellen (sog. word embeddings). Letztere kommen etwa in den heute zunehmend diskutierten und für zahlreiche Anwendungen (nicht zuletzt dem Suchalgorithmus von Google, oder für IBM Watson) genutzten Technologien zur Verarbeitung natürlicher Sprache („natural language processing“) zum Einsatz.

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Bilden wir ein einfaches Beispiel, um das Vorgehen Schritt für Schritt zu illustrieren. Nehmen wir zunächst einen Satz, wie er genau so in einer Klausurlösung stehen könnte:

„Der Eigentumserwerb nach §§ 873, 925 BGB war nicht rechtsgrundlos i.S.v. § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB, wenn der Käufer darauf einen Anspruch aus § 433 I 1 BGB hatte.“

Herkömmliche Textvektorisierung würde zunächst die nicht sinntragenden Worte wie „der“ oder „einen“ (sog. stop words) sowie Zahlen und Sonderzeichen tilgen, um den Rechenauf-wand auf Inhaltsworte wie „Eigentumserwerb“ und „rechts-grundlos“ zu beschränken. Dass dadurch die syntaktische Einbettung dieser Worte verloren geht und aus dem bewusst strukturierten Satz gewissermaßen ein „Sack“ von Worten wird (wörtl. „bag of words“), ist dabei gewollt: Gerade dieser Vereinfachungsschritt ermöglicht den „spezifischen Erkennt-nisgewinn“, den Moretti eingangs anpries.

Das weitere Vorgehen ähnelt der Kookkurrenzanalyse: Je häufiger zwei Worte im selben „Sack“ (Satz/Absatz/etc.) landen, desto mehr haben sie miteinander zu tun. Aber auch wenn zwei Worte nie im selben Sack landen, dafür aber stets gemeinsam mit denselben anderen Worten, lässt sich eine Relation zwischen ihnen ermitteln (z.B. eine synonymische). Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Nehmen wir aus dem Sack für das Wort „Richter“ alles heraus, was auch im Sack „Gericht“ steckt, und fügen dann alles hinzu, was im Sack „Kanzlei“ enthalten ist. Welchem Sack ähnelt das Re-sultat am meisten? Vielleicht demjenigen für das Wort „An-walt“? oder „Partner“? oder „Sozius“? Was als mathemati-sches Hütchenspiel beginnt, endet nicht selten in scheinbar intelligenter Analogiebildung, die von derjenigen eines den-kenden Menschen nur schwer zu unterscheiden ist – daher spricht man bei solchen statistischen Auswertungen oft von „künstlicher Intelligenz“ („artificial intelligence“).

Wir wollen uns hier mit bescheideneren Zielen begnügen und anhand der Paragraphenzitate nur das Grundprinzip de-monstrieren. Dafür bedarf es freilich einer entscheidenden Abwandlung: Statt Zahlen und Sonderzeichen zu tilgen, müs-sen wir diese vielmehr behalten und den Rest entfernen – jene Worte zwischen den Paragraphen, die für unsere Auswertung bloß Füllmaterial darstellen. Auch dieses Füllmaterial birgt jedoch eine wertvolle Information, die wir nicht verlieren soll-ten: Je mehr Füllmaterial zwischen zwei Paragraphen liegt, desto weniger haben sie wahrscheinlich miteinander zu tun.

Deshalb gehen wir in folgenden Schritten vor: Zunächst vereinheitlichen wir im obigen Beispielsatz die Zitierweisen („Abs. 1“ und „I“ werden beide zu „°1“, „§§“ wird zu „§“, etc.). Das geht in einem so kurzen Satz wie dem oben zitier-ten noch von Hand, bei längeren Texten erlauben sog. regulä-re Ausdrücke eine Automatisierung dieses Schrittes. Zu Il-lustrationszwecken zählen wir die Zeichen jeder Zeile auch gleich fortlaufend durch: Der Eigentumserwerb nach § 873, 925 BGB 1234567890123456789012345678901234567890 war nicht rechtsgrundlos i.S.v. § 812 °1

1234567890123456789012345678901234567890 *1 |1 BGB, wenn der Käufer darauf einen 1234567890123456789012345678901234567890 Anspruch aus § 433 °1 *1 BGB hatte. 123456789012345678901234567890123456 Dieser Text lässt sich nun mithilfe der durchnummerierten Zeichenzählung in Vektoren konvertieren, die jedes enthalte-ne Paragraphenzitat an jeder Position des Textes mit 0 (für abwesend) oder 1 (für anwesend) kodieren. Da der Text vier Paragraphen und 156 Zeichen umfasst, besteht die Matrix aus vier Vektoren (Spalten) und 156 Zeilen, von denen hier nur zehn wiedergegeben werden sollen: Position § 873 § 925 § 812 § 433 … 24 0 0 0 0 25 0 0 0 0 26 1 0 0 0 27 0 0 0 0 28 0 0 0 0 29 0 0 0 0 30 0 0 0 0 31 0 0 0 0 32 0 0 0 0 33 0 1 0 0 34 0 0 0 0 … Wir sehen sofort das Problem an dieser Darstellung: Fast die komplette Matrix besteht aus Nullen (sog. sparse matrix) und die Datenmenge explodiert auf das Vierfache, weil jeder Para- graph an jeder Textstelle nur einmal auftauchen kann und ansonsten durchweg Nullen aufweist. Je mehr Paragraphen im Text zitiert sind (und je öfter dieselben), desto größer die Aufblähung, deshalb besteht die größte technische Heraus-forderung für die Textvektorisierung darin, diese Matrix so zu komprimieren, dass die Datenmenge sich noch für Be-rechnungen eignet und zugleich möglichst wenig Information verloren geht („dimensionality reduction“). Hier liegen die großen technischen Herausforderungen des Verfahrens, die leicht eine informatische Doktorarbeit füllen. Wir wollen uns damit nicht näher befassen, sondern die naheliegende Form der Komprimierung verwenden: Wir extrahieren jedes Para-graphenzitat mit seiner jeweiligen Startposition im Text, die über die Menge des Füllmaterials Auskunft gibt: § Normteil Gesetz Startposition 873 BGB 26 925 BGB 33 812 °1 *1 |1 BGB 73 433 °1 *1 BGB 135

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Mit dieser komprimierten Vektorisierung können wir nun rechnen: Wie weit liegen je zwei Paragraphen im Text ausei-nander? Vier Paragraphen ergeben fünf paarweise Distanzen: 433 812 873 925 433 0 -62 -109 -102 812 62 0 -47 -40 873 109 47 0 7 925 102 40 -7 0 Die Diagonale können wir ignorieren, da ein Zitat zu sich selbst immer eine Distanz von null aufweist. Auch die rechte obere Hälfte ist ausgegraut, weil sie nur die linke untere Hälf-te spiegelt. Diese nicht ausgegrauten Zahlen hingegen sagen uns, wie „nah“ sich zwei Paragraphen stehen, auch wenn sie gar nicht in einer Paragraphenkette (Kookkurenz) auftauchen. Vorzeichen ignorieren wir, weil sie nur von der Sortierung der Matrix abhängen. In unserem Beispiel stehen sich § 873 BGB und § 925 BGB also mit einem Abstand 7 am nächsten. Man könnte ihren Abstand sogar als null definieren – sie also als ein und dasselbe Normzitat behandeln – weil es ohnehin meist vom Zufall abhängt, welche Vorschrift einer Kette vorn und welche hinten zitiert wird. (Deutlicheres Beispiel: Wa-rum sollten § 280 BGB und § 437 BGB im Normzitat „§§ 280 Abs. 1, 433 Abs. 1, 434 Abs. 1, 437 Nr. 3 BGB“ einen größeren Abstand haben als im Normzitat „§§ 433

Abs. 1, 434 Abs. 1, 437 Nr. 3, 280 Abs. 1 BGB“?) Jedenfalls zeigen die paarweisen Distanzen, dass § 812 BGB dem § 433 BGB um 47 Einheiten nähersteht als § 873 BGB. Das war in diesem Fall zwar Zufall, weil der Satz auch andersherum hätte formuliert sein können. Aber genau deshalb wollen wir systematisch alle Paragraphen in allen Lösungsskizzen unter-suchen, um strukturelle Näheverhältnisse zu entdecken, die nicht durch Zufälligkeiten einzelner Lösungsskizzen beein-flusst sind – darin liegt just der Sinn des Distanzlesens.

Lassen wir den Computer also das eben für einen einzel-nen Satz Vorgeführte für jede Klausurlösung in unserem Kor-pus wiederholen. Das dauert selbst auf einem fünf Jahre alten Einsteigerlaptop nur etwa fünf Minuten. Um anschließend die systematischen Nähebeziehungen der Paragraphen darzustel-len, beschränken wir uns auf solche, die pro Lösungsskizze mindestens fünf Mal und in wenigstens zwei Lösungsskizzen oder drei Mal gemeinsam vorkamen (ohne Paragraphenketten, denen wir uns bereits gewidmet haben). Die folgende Grafik zeigt die 200 Paragraphenpaare (91 Einzelparagraphen) mit der geringsten durchschnittlichen Textdistanz, also gewisser-maßen der engsten wechselseitigen „Verschaltung“.

Wer diesen Schaltplan eine Weile studiert, mag auf-schlussreiche Verknüpfungen etwa zwischen § 241 BGB und ganz unterschiedlichen Schuldrechtsnormen, sowie rechts oben die wohl wichtigsten HGB-Klausurnormen entdecken – oder links oben den Beleg für die eingangs vermutete Pflicht-stoffrelevanz des Hypothekenrechts vermittels § 1192 BGB.

Abb. 5: Schaltplan der 91 am nächsten zueinander genannten Paragraphen in allen Lösungsskizzen

Anm.: Verbindungen stehen für die 200 geringsten mittleren Textdistanzen; erstellt mit yEd 3.20 (orthogonal compact layout).

Page 109:  · 2020. 7. 4.  · Inhalt DIDAKTISCHE BEITRÄGE Zivilrecht Die Legitimationswirkung der Gesellschafterliste – Teil 1 Von Stud. iur. Nabil Ismail, Bremen 412 Grundwissen zum Urheberrecht

Evidenzbasierte Examensvorbereitung ZIVILRECHT

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ZJS 5/2020 517

Obwohl der Schaltplan auf der vorigen Seite (Abb. 5) zahlrei-che plausible Normbeziehungen veranschaulicht, ist er frei von jeder juristischen Wertung oder dogmatischen Theorie entstanden – allein aus gemessenen Textabständen. Anders gewendet: Auch ein Forscher aus einer fernen Galaxie hätte durch „Distanz“-Lesen diesen Schaltplan erstellen können, obwohl er von unserem Recht überhaupt nichts und von un-serer Schriftkultur nur so viel versteht, dass Texte aus Zei-chen bestehen und Zeichen nach einem „§“-Symbol irgend-wie besonders sind. Dieses Gedankenexperiment verdeutlicht das analytische Potential datengestützter Textauswertung, das momentan unter dem etwas großspurigen Schlagwort „Legal Tech“ die Frage aufwirft, welchen Sinn und (möglicherweise ganz neuen?) Zweck die Juristenausbildung noch haben kann. Aber das steht auf einem anderen Blatt.37

Für die Zwecke des vorliegenden Pilotversuchs mag es Examenskandidaten helfen, den obigen Schaltplan zu studie-ren und sich zu fragen, ob sie das Zusammenspiel aller „ver-schalteten“ Paragraphen verstehen und in einer Klausur intel-ligent darstellen könnten. Mehr sollte es für vier Punkte ei-gentlich nicht brauchen. Weniger aber auch nicht. IV. Kritik und Ausblick Die berichteten Auswertungen sind primär ein Pilotversuch, wie Distanzlesen im Recht funktionieren könnte. Wer darauf seine Examensvorbereitung stützen möchte, muss sich drin-gend auch deren Beschränkungen bewusst machen:

1. Lösungsskizzen mögen zwar für die „Anforderungs-analyse“ hilfreich sein,38 sind aber nicht autoritativ. Der Klausurersteller schlägt eine Lösung (von vielen denkbaren) vor, und schon die Korrektoren mögen andere Systemver-ständnisse vertreten. Mehr als dass das in der Lösungsskizze zugrundegelegte Normensystem „vertretbar“ ist, darf man also nicht erwarten. Es gibt keine Richtigkeitsgewähr.

2. Lösungsskizzen zielen auf ein bestimmtes Publikum –und das sind nicht Studierende. Sie richten sich an Korrekto-ren, sind deshalb als „Lösungshinweise“ überschrieben und ausweislich der stets vorweggeschickten Anmerkung „nicht als Musterlösung zu verstehen“. Diese Vorbemerkung endet traditionell mit den Worten: „Von den Kandidatinnen und Kandidaten kann eine Darstellung in der Tiefe der Lösungs-hinweise nicht erwartet werden.“ Deshalb mögen auch einige der darin zitierten Paragraphen und ihre Querverbindungen, auf denen unsere Auswertungen beruhten, nicht zum erwarte-ten Klausurwissen gehören. Allerdings konnten wir oben ohnehin nur die jeweils prominentesten Paragraphen und Zusammenhänge vorstellen (Paragraphen, die mindestens drei Mal oder in mindestens zwei Klausurlösungen relevant wurden, etc.) und würden uns auf der sicheren Seite irren, wenn wir den Inhalt von Lösungsskizzen als bare Münze für die Examensanforderungen nähmen.

3. Eine folgenreiche Beschränkung ergibt sich daraus, dass Lösungsskizzen kein einheitliches Format haben, son-dern von Klausurerstellern mit unterschiedlichen Sorgfalts- 37 Sehr zugänglich etwa der Essay von Dyevre, The Future of Legal Theory and the Law School of the Future, 2015. 38 Kuhn, JuS 2011, 1066 (1071 f.), vgl. oben Fn. 21.

maßstäben und Textverarbeitungsfähigkeiten in Word getippt und dann vom Justizprüfungsamt im pdf-Format ausgegeben werden. Manche enthalten Gliederungen und/oder Zwischen-überschriften, die gewisse Paragraphen als Prüfungspunkte hervorheben und damit überrepräsentieren (weil derselbe Pa- ragraph in Gliederung, Überschrift und Text zitiert wird, also drei Mal so häufig wie in anderen Lösungsskizzen, die ihn vielleicht nur im Text erwähnt hätten). Manche Lösungsskiz-zen enthalten Fußnoten und/oder Literaturnachweise mit Paragraphenzitaten, die sich nicht vollständig automatisiert entfernen lassen. Zum Teil berufen sich Klausurersteller auch auf die Anforderungen der Prüfungsordnung, weshalb die JAPrO als eines der wiederholt zitierten Gesetze erfasst wird, obwohl sie in studentischen Klausuren natürlich nichts zu suchen hat. In Einzelfällen missachten Klausurersteller sogar die anerkannten Zitierregeln und führen Vorschriften bei-spielsweise konsequent ohne Angabe des Gesetzes an – was die spätere Verarbeitung natürlich enorm erschwert. Solange also Prüfungsämter keine formal und inhaltlich einheitliche Gestaltung von Lösungsskizzen sicherstellen (idealerweise in strukturierten Formaten wie XML), werden Techniken des Distanzlesens zwangsläufig fehleranfällig bleiben – wenn-gleich zu hoffen ist, dass dieselben Fehler wenigstens nicht systematisch alle Lösungsskizzen durchziehen.

4. Schließlich stellt sich auch die Frage, was frühere Klausurlösungen über künftige Klausuren aussagen. Das vor- liegend ausgewertete Material deckt eben nur die vergange-nen zehn Jahre ab, während Klausurersteller bekanntlich gern aktuelle „Aufhänger“ und neue Rechtsfragen suchen. Da Lösungsskizzen erst einige Zeit nach Abschluss der Exa-mensklausuren freigegeben werden, wird das Material zur Zeit seiner Auswertung immer schon veraltet sein. Zugleich gibt es freilich keinen Automatismus, dass vergangener Prü-fungsstoff nicht erneut abgeprüft werden könnte, und es gilt das oben zum Struktur- und Zusammenhangswissen Gesagte: Detailwissen exotischer Normen wird auch in Zukunft nicht erforderlich sein. Das belegt auch der folgende empirische Test: Hätten wir nur zwei Drittel (also die 42 ältesten) unse-rer Lösungsskizzen ausgewertet, so hätte jede weitere Skizze im Schnitt weniger als neun neue Paragraphen eingeführt und in gut zwei Drittel der Fälle (15 von 21) das Lernpensum um weniger als 1 % erhöht. Anders gewendet waren 98,2 % der in den neuesten drei Lösungsskizzen enthaltenen Paragraphen bereits in den vorangegangenen 60 aufgetaucht. Statt einer Kristallkugel genügt für künftige Klausuren also ein solider Überblick über schon mal Dagewesenes.

Letztlich kann Distanzlesen natürlich weder die gründli-che Lektüre juristischer Methodenliteratur noch die Übung an konkreten Fällen ersetzen. Wohl aber vorstrukturieren. Damit sind jene Studierenden im Vorteil, die sich frühzeitig Pro-grammierkenntnisse aneignen und ihren Horizont über die klassische Textexegese der letzten zweitausend Jahre hinaus erweitern. Die so erworbenen Fähigkeiten werden ihnen auch in allen juristischen Berufen bald von Nutzen sein.