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21 MZ Freitag, 26. Februar 2010 KULTUR KEIN WITZ Wie kann man den dunklen Bratschen- ton nicht lieben? Im- mer öfter treten jun- ge Bratschisten aus dem Dunstkreis der Bratschenwitze, zei- gen, wie viel sie können – wie viel ihre Bratsche kann: Neben Nils Mönkemeyer und David Carpenter gilt Antoine Tamestit zumal in Frankreich als Brat- schen-Star. Vereint sich der Bratschenton mit Schuberts Musik, scheint das Glück an der Trauer ungebremst. Doch Schu- bert und die Bratsche, das war – wenn überhaupt – eine platoni- sche Liebe. Egal: Antoine Ta- mestit, 2008 in Luzern mit dem Credit Suisse Artist Award ge- ehrt, nimmt den Kollegen ihr Instrument aus der Hand, setzt sich an ihre Stelle: Er spielt mit unheimlicher Intensität die «Ar- peggione Sonate» D 821, be- gleitet schliesslich sanft mitfüh- lend die wunderbare Sopranis- tin Sandrine Piau im «Hirt auf dem Felsen», tritt hier also an die Stelle der vorgesehenen Klarinette. Und dazwischen, da «singt» der Bratschist alsbald innig seufzend Schubertlieder. CHRISTIAN BERZINS Schubert Arpeggione & Lieder, Antoine Tamestit u. a., Naive 2009/Musicora ★★★★★ LÄSSIG Tschaikowskys Roko- ko-Variationen sind eine sichere Bank für Cellisten. Das liebli- che Thema und die nicht minder anspre- chenden Exkurse ha- ben es freilich in sich: Die Varia- tionen hat der Komponist in ei- nem Cellokonzert zu einem Satz verschmolzen, dessen Solopart zum Schwersten zählt, was für das Instrument geschrieben wurde. Deswegen täuscht auch die Lässigkeit, mit der Gautier Capuçon im weissen Hemd auf dem Cover seiner CD auf sein Cello lehnt. Mit dem Orchester des Petersburger Marinski- Theaters unter Valery Gergiev hat der Franzose souverän die Tschaikowsky-Variationen so- wie Sergei Prokofiews eigenwil- lige Sinfonia Concertante auf- genommen. Wird Capuçon bei Tschaikowsky der Virtuosität des Werks gerecht, lässt bei der Sinfonia etwas von der urwüch- sigen Kraft der Komposition vermissen. (DPA/BEZ) Tschaikowsky Rokoko-Variatio- nen, Prokofiew/Sinfonia Con- certante, Gautier Capuçon, Va- lery Gergiev, Virgin Classics 2009/EMI ★★★★✩ KURZES STAR-TRIO Als Kammermusiker, der sich den Zwän- gen eines kleinen Ensembles unterord- net, kann man sich Lang Lang kaum vor- stellen. Der zu gesti- schen Auswüchsen neigende Pianist tritt als Solist oder mit Orchester eher als Ego-Star auf. Umso verwunderlicher ist es, dass sich der Chinese ausge- rechnet in das Spiel der Alpha- Musiker Vadim Repin (Geige) und Mischa Maisky (Cello) ein- fügt. Bei Sergei Rachmaninows «Trio élégiaque Nr.1» und Peter Tschaikowskys «Thema mit Va- riationen» legt sich Lang Lang die Zügel selber an. Seine Part- ner dagegen trüben mit etwas Temperamentüberschuss und mancher Unwucht das Gesamt- ergebnis ein wenig. (DPA/BEZ) Rachmaninow/Tschaikowsky Piano Trios, Lang Lang/Vadim Repin/Mischa Maisky, Deutsche Grammophon ★★★✩✩ cd-klassik Drei Dinge spielen hier mit- einander und ineinander: ein Ort, eine Institution und ein Projekt. Der Ort. Errichtet wurde die alte Sternwarte der ETH Zürich zwischen 1861 und 1864 vom deutschen Architek- ten Gottfried Semper (1803–1879), der mit diesem klassizistischen Bau quasi das Modell der gesamten ETH ent- worfen hat. Damals wurden die Räume der Sternwarte un- terschiedlich genutzt. Der Me- ridian-Saal im Parterre diente als Laboratorium, der Rudolf- Wolf-Saal auf gleicher Höhe war Vorlesungssaal, während die Räume im Obergeschoss als Wohnung des Institutsdi- rektors genutzt wurden. Die architektonische Schnittstelle des Baus ist das Foyer mit sei- nen Vitrinen. DIE INSTITUTION. In der al- ten Sternwarte ist das Colle- gium Helveticum unterge- bracht. Es wurde 1997 von der ETH Zürich als Forum für den Dialog zwischen den Wissen- schaften gegründet mit dem Ziel, das gegenseitige Ver- ständnis zwischen den Natur- und Technikwissenschaften wie zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften zu för- dern. Interdisziplinarität und Transdisziplinarität lauten die Stichworte. Zum zweiten Mal organi- siert das Collegium Helveti- cum nun eine fünfjährige Fel- low-Periode. Beteiligt sind je drei Professoren der Uni Zü- rich und der ETH sowie ein Professor der Uni Basel: ein Verkehrsplaner, ein Rechts- wissenschafter, ein Chemi- ker/Biologe, ein Veterinärpa- thologe, ein Psychiater, ein Pharmazeut und ein Mathe- matiker. Das Thema dieser noch bis 2014 dauernden Fel- low-Periode lautet «Reprodu- zierbarkeit». DAS PROJEKT. Es stammt vom Fotografen Hans Danu- ser, der als Gastprofessor vom Collegium Helveticum einge- laden worden ist, ein Jahr lang aus der Sicht des Künstlers am Thema mitzudenken. «Collo- quium der Dinge» nennt er seine künstlerische Interven- tion an diesem denkmalge- schützten Ort, der auch dem Publikum zugänglich ist. Um Schnittstellen geht es auch ihm – allerdings zwischen Kunst und Wissenschaft, aber auch um Grenzüberschreitun- gen und die Vernetzung der Disziplinen. Seine Installation wirft Fragen auf: Wie weit kann Wissenschaft Kunst sein? Was hat die Kunst in der Wissenschaft zu suchen? WER SO FRAGT, sucht. Eine ab- solut gültige Antwort gibt es nicht. Die Suche danach liefert mögliche Antworten. Entspre- chend ist das, was zurzeit im Fo- yer der alten Sternwarte zu se- hen ist, auch Ausdruck dieser of- fenen Haltung: Es ist Bibliothek, Museum, aber auch Werkstatt, denn was hier geschieht, ist «work in progress». Betritt der Besucher das Foy- er, steht er vor Vitrinen. Darin hängen, säuberlich in Sicht- mäppchen gesteckt und durch- nummeriert, die Publikationen der Fellows und leitenden Mitar- beiter des Collegiums. Ergänzt werden die Aufsätze und Disser- tationen mit Gegenständen, die mit der Forschung wie mit der Person des Forschenden etwas zu tun haben – hier ein Valser- wasser-Fläschchen, dort ein Schweineembryo, hier eine höl- zerne Gliederpuppe, dort eine ausgestopfte Labormaus . . . Lesepulte aus Holz stehen vor den Vitrinen und laden zum Lesen der Publikationen oder nur der Statements der Porträ- tierten zu ihren Gegenständen – eben «den Dingen» –, die ins Holz gestanzt sind. Hier wird dem Besucher der Titel der Inter- vention manifest: Die Gegen- stände treten miteinander in ei- nen Dialog. Colloquium der Dinge Sternwarte, ETH Zürich. Zur Ausstellung sind ei- ne DVD und ein Booklet erschienen. «Colloquium der Dinge» nennt der Fotograf Hans Danuser seine Intervention in der Sternwarte der ETH Zürich. Es ist der Versuch, zwei Disziplinen zu vernetzen. MARCO GUETG Wissenschaft kann Kunst sein FOYER DER STERNWARTE Etwas Bibliothek, etwas Museum, aber auch eine Werkstatt. RALPH FEINER Witzeleien über ein Land in fieber- hafter Erwartung von «Mein Kampf, Band 4» verbieten sich eigentlich. In Norwegen drängen sie sich diese Woche allerdings auf, denn der gera- de erschienene vierte Band des Mammutromans mit dem anrüchi- gen Titel von Karl Ove Knausgård (41) beherrscht souverän die Feuille- tons, löst erregte Debatten aus und schlägt alle Auflagenrekorde. 200 000 Norweger haben die bis- herigen Folgen des autobiografi- schen Werks erstanden. Umgerech- net auf die Einwohnerzahl würde das in Deutschland einer Auflage von fast 4 Millionen entsprechen. Dabei haben weder das Buch noch die «Knausgård-Manie» («Dagbladet») das Geringste mit Hitlers berüchtig- tem und heute in Deutschland ver- botenem «Mein Kampf» zu tun. Wohl aber, neben der sicher kom- merziell kalkulierten Titelwahl, mit Begeisterung über einen autobiogra- fischen Text von «unwiderstehlicher Kraft, vielfältig, reich, erschütternd» («Aftenposten»), ein «existenzielles Literaturexperiment ohnegleichen» («Klassekampen»), ein «Ausrufezei- chen für die Romankunst» («Vårt Land»). DIESES LOB GILT dem ersten von sechs dicken Bänden über das Leben des Norwegers, der vor einem hal- ben Jahr erschienen ist. Schutzlos, ehrlich und mit unglaublicher sprachlicher Kraft habe der Autor hier sein schwieriges Verhältnis zum Vater und auch zum Bruder geschil- dert und generell über das eigene Le- ben reflektiert, waren sich alle Re- zensenten einig. Diese Begeisterung teilten etliche der im Roman mit wirklichem Namen vorgestellte Ver- wandten, Ex-Lehrer und andere Wegbegleiter Knausgårds nicht. Die fühlten sich völlig «schutzlos» ausge- liefert. 14 VON IHNEN verbreiteten eine ge- meinsame Erklärung, in der sie das Buch als «Judasliteratur voller Belei- digungen, fehlerhafter Personendar- stellungen und Anprangerungen» abkanzelten. Auch Knausgårds hoch geachteter Kollege Jan Kjærstad kri- tisierte Knausgårds schwer durch- schaubare Mischung aus Autobio- grafie und Fiktion. Der Autor, der sich in den Medi- en rarmacht, reagierte so, wie es sich seine Lesergemeinde nicht schöner hätte wünschen können: Er schwieg zur aufgeregten Debatte um Kjærs- tads Kritik, baute aber den bis vor kurzem viel bekannteren Autoren- kollegen einfach in den vierten Band seines Werkes ein. Bis zum Sommer sollen auch die letzten beiden Bände erscheinen. 3000 Seiten über die ers- ten 40 Jahre seines Lebens hat Knaus- gård dann innerhalb von wenig mehr als 12 Monaten vorgelegt. DASS IHM BEI diesem rasenden Tempo am Schreibtisch im schwedi- schen Malmö vielleicht ein bisschen die Puste ausgegangen ist, deutet sich bei der Kritiker-Reaktion auf Band 4 an. Oberflächlich, klischee- haft, hiess es immer wieder in den Rezensionen. Knausgård ist inzwi- schen bei anderen Personen zu fikti- ven Namen übergegangen. Der Fan- gemeinde verspricht er ein Bonbon zum Abschluss: Im 6. Band, also wohl auf den Seiten 2500 bis 3000, sollen die wilden Reaktionen auf die ersten Bände zum Thema gemacht werden. In Deutschland, wo der norwegi- sche Autor seit 2007 mit dem Roman «Alles hat seine Zeit» zu lesen ist, soll das Werk «frühestens 2011» erschei- nen. Luchterhand-Verlagssprecher Karsten Rösel über den Titel: «Wir haben uns noch keine Gedanken ge- macht. Aber sicher nicht ‹Mein Kampf›.» Norwegen liest «Mein Kampf» Die Romanserie «Mein Kampf» sorgt in Norwegen nicht nur wegen des an Hitlers Buch erinnernden Titels für Aufsehen und Auflagerekorde. THOMAS BORCHERT, DPA «Judasliteratur voller Beleidigungen, fehler- hafter Personendar- stellungen und Anprangerungen» Dieses Jahr gestaltet der Inge- nieur Jürg Conzett den Schwei- zer Pavillon bei der Internatio- nalen Architekturausstellung in Venedig, wie das Bundesamt für Kultur mitteilt. Unter dem Titel «Landschaft und Kunst- bauten» unternimmt der in Chur lebende Jürg Conzett zu- sammen mit dem Fotografen Martin Linsi zahlreiche Streifzü- ge durch die Schweiz. Auf die- sen beschäftigt sich Conzett mit den Eingriffen, die Baumeister und Ingenieure in der Land- schaft vorgenommen haben. Im Rahmen der Ausstellung in Venedig stellt Jürg Conzett mit- tels Fotografien, Texten, Plänen und Gegenständen sein per- sönliches Inventar zu diesem Themenkreis vor. Die 12. Aus- gabe der Internationalen Archi- tekturausstellung in Venedig findet im Rahmen der Biennale statt und dauert vom 29. Au- gust bis zum 21. November 2010. (MZ) Korrigendum Artikel zu Christoph Büchel Beim Artikel «Schöne Gunst, gute Kunst» in der Ausgabe vom 25. Februar ist der Redak- tion ein Fehler unterlaufen: Der Autor des Artikels heisst Ale- xander Marzahn. (MZ) aktuell Jürg Conzett in Venedig

21 K U L T U R W issenschaft kann K unst sein cd-klassik · u n h e im lich e r In te n sit t d ie ÇA r-p e g g io n e S o n a te È D 8 2 1 , b e - g le ite t sch lie sslich sa

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Page 1: 21 K U L T U R W issenschaft kann K unst sein cd-klassik · u n h e im lich e r In te n sit t d ie ÇA r-p e g g io n e S o n a te È D 8 2 1 , b e - g le ite t sch lie sslich sa

21 MZ Freitag, 26. Februar 2010 KULTUR

KEIN WITZWie kann man dendunklen Bratschen-ton nicht lieben? Im-mer öfter treten jun-ge Bratschisten ausdem Dunstkreis derBratschenwitze, zei-

gen, wie viel sie können – wieviel ihre Bratsche kann: NebenNils Mönkemeyer und DavidCarpenter gilt Antoine Tamestitzumal in Frankreich als Brat-schen-Star. Vereint sich derBratschenton mit SchubertsMusik, scheint das Glück an derTrauer ungebremst. Doch Schu-bert und die Bratsche, das war –wenn überhaupt – eine platoni-sche Liebe. Egal: Antoine Ta-mestit, 2008 in Luzern mit demCredit Suisse Artist Award ge-ehrt, nimmt den Kollegen ihrInstrument aus der Hand, setztsich an ihre Stelle: Er spielt mitunheimlicher Intensität die «Ar-peggione Sonate» D 821, be-gleitet schliesslich sanft mitfüh-lend die wunderbare Sopranis-tin Sandrine Piau im «Hirt aufdem Felsen», tritt hier also andie Stelle der vorgesehenenKlarinette. Und dazwischen, da«singt» der Bratschist alsbaldinnig seufzend Schubertlieder.

CHRISTIAN BERZINS

Schubert Arpeggione & Lieder,Antoine Tamestit u. a., Naive2009/Musicora !!!!!

LÄSSIGTschaikowskys Roko-ko-Variationen sindeine sichere Bank fürCellisten. Das liebli-che Thema und dienicht minder anspre-chenden Exkurse ha-

ben es freilich in sich: Die Varia-tionen hat der Komponist in ei-nem Cellokonzert zu einem Satzverschmolzen, dessen Solopartzum Schwersten zählt, was fürdas Instrument geschriebenwurde. Deswegen täuscht auchdie Lässigkeit, mit der GautierCapuçon im weissen Hemd aufdem Cover seiner CD auf seinCello lehnt. Mit dem Orchesterdes Petersburger Marinski-Theaters unter Valery Gergievhat der Franzose souverän dieTschaikowsky-Variationen so-wie Sergei Prokofiews eigenwil-lige Sinfonia Concertante auf-genommen. Wird Capuçon beiTschaikowsky der Virtuositätdes Werks gerecht, lässt bei derSinfonia etwas von der urwüch-sigen Kraft der Kompositionvermissen. (DPA/BEZ)

Tschaikowsky Rokoko-Variatio-nen, Prokofiew/Sinfonia Con-certante, Gautier Capuçon, Va-lery Gergiev, Virgin Classics2009/EMI !!!!"

KURZES STAR-TRIOAls Kammermusiker,der sich den Zwän-gen eines kleinenEnsembles unterord-net, kann man sichLang Lang kaum vor-stellen. Der zu gesti-

schen Auswüchsen neigendePianist tritt als Solist oder mitOrchester eher als Ego-Star auf.Umso verwunderlicher ist es,dass sich der Chinese ausge-rechnet in das Spiel der Alpha-Musiker Vadim Repin (Geige)und Mischa Maisky (Cello) ein-fügt. Bei Sergei Rachmaninows«Trio élégiaque Nr.1» und PeterTschaikowskys «Thema mit Va-riationen» legt sich Lang Langdie Zügel selber an. Seine Part-ner dagegen trüben mit etwasTemperamentüberschuss undmancher Unwucht das Gesamt-ergebnis ein wenig. (DPA/BEZ)

Rachmaninow/TschaikowskyPiano Trios, Lang Lang/VadimRepin/Mischa Maisky, DeutscheGrammophon !!!""

cd-klassik

Drei Dinge spielen hier mit-einander und ineinander: einOrt, eine Institution und einProjekt.

Der Ort. Errichtet wurdedie alte Sternwarte der ETHZürich zwischen 1861 und1864 vom deutschen Architek-ten Gottfried Semper(1803–1879), der mit diesemklassizistischen Bau quasi dasModell der gesamten ETH ent-worfen hat. Damals wurdendie Räume der Sternwarte un-terschiedlich genutzt. Der Me-ridian-Saal im Parterre dienteals Laboratorium, der Rudolf-Wolf-Saal auf gleicher Höhewar Vorlesungssaal, währenddie Räume im Obergeschossals Wohnung des Institutsdi-rektors genutzt wurden. Diearchitektonische Schnittstelledes Baus ist das Foyer mit sei-nen Vitrinen.

DIE INSTITUTION. In der al-ten Sternwarte ist das Colle-gium Helveticum unterge-bracht. Es wurde 1997 von derETH Zürich als Forum für denDialog zwischen den Wissen-schaften gegründet mit demZiel, das gegenseitige Ver-ständnis zwischen den Natur-und Technikwissenschaftenwie zwischen den Geistes- undSozialwissenschaften zu för-dern. Interdisziplinarität undTransdisziplinarität lautendie Stichworte.

Zum zweiten Mal organi-siert das Collegium Helveti-cum nun eine fünfjährige Fel-low-Periode. Beteiligt sind jedrei Professoren der Uni Zü-rich und der ETH sowie einProfessor der Uni Basel: einVerkehrsplaner, ein Rechts-wissenschafter, ein Chemi-ker/Biologe, ein Veterinärpa-

thologe, ein Psychiater, einPharmazeut und ein Mathe-matiker. Das Thema diesernoch bis 2014 dauernden Fel-low-Periode lautet «Reprodu-zierbarkeit».

DAS PROJEKT. Es stammtvom Fotografen Hans Danu-ser, der als Gastprofessor vomCollegium Helveticum einge-laden worden ist, ein Jahr langaus der Sicht des Künstlers am

Thema mitzudenken. «Collo-quium der Dinge» nennt erseine künstlerische Interven-tion an diesem denkmalge-schützten Ort, der auch demPublikum zugänglich ist. Um

Schnittstellen geht es auchihm – allerdings zwischenKunst und Wissenschaft, aberauch um Grenzüberschreitun-gen und die Vernetzung derDisziplinen. Seine Installationwirft Fragen auf: Wie weitkann Wissenschaft Kunstsein? Was hat die Kunst in derWissenschaft zu suchen?

WER SO FRAGT, sucht. Eine ab-solut gültige Antwort gibt esnicht. Die Suche danach liefertmögliche Antworten. Entspre-chend ist das, was zurzeit im Fo-yer der alten Sternwarte zu se-hen ist, auch Ausdruck dieser of-fenen Haltung: Es ist Bibliothek,Museum, aber auch Werkstatt,denn was hier geschieht, ist«work in progress».

Betritt der Besucher das Foy-er, steht er vor Vitrinen. Darinhängen, säuberlich in Sicht-mäppchen gesteckt und durch-nummeriert, die Publikationender Fellows und leitenden Mitar-beiter des Collegiums. Ergänztwerden die Aufsätze und Disser-tationen mit Gegenständen, diemit der Forschung wie mit derPerson des Forschenden etwaszu tun haben – hier ein Valser-wasser-Fläschchen, dort einSchweineembryo, hier eine höl-zerne Gliederpuppe, dort eineausgestopfte Labormaus . . .

Lesepulte aus Holz stehenvor den Vitrinen und laden zumLesen der Publikationen odernur der Statements der Porträ-tierten zu ihren Gegenständen –eben «den Dingen» –, die insHolz gestanzt sind. Hier wirddem Besucher der Titel der Inter-vention manifest: Die Gegen-stände treten miteinander in ei-nen Dialog.

Colloquium der Dinge Sternwarte,ETH Zürich. Zur Ausstellung sind ei-ne DVD und ein Booklet erschienen.

«Colloquium der Dinge» nennt der Fotograf Hans Danuser seine Intervention inder Sternwarte der ETH Zürich. Es ist der Versuch, zwei Disziplinen zu vernetzen.

MARCO GUETG

Wissenschaft kann Kunst sein

FOYER DER STERNWARTE Etwas Bibliothek, etwas Museum, aber auch eine Werkstatt. RALPH FEINER

Witzeleien über ein Land in fieber-hafter Erwartung von «Mein Kampf,Band 4» verbieten sich eigentlich. InNorwegen drängen sie sich dieseWoche allerdings auf, denn der gera-de erschienene vierte Band desMammutromans mit dem anrüchi-gen Titel von Karl Ove Knausgård(41) beherrscht souverän die Feuille-tons, löst erregte Debatten aus undschlägt alle Auflagenrekorde.

200 000 Norweger haben die bis-herigen Folgen des autobiografi-schen Werks erstanden. Umgerech-net auf die Einwohnerzahl würdedas in Deutschland einer Auflagevon fast 4 Millionen entsprechen.Dabei haben weder das Buch nochdie «Knausgård-Manie» («Dagbladet»)das Geringste mit Hitlers berüchtig-tem und heute in Deutschland ver-botenem «Mein Kampf» zu tun.Wohl aber, neben der sicher kom-merziell kalkulierten Titelwahl, mitBegeisterung über einen autobiogra-fischen Text von «unwiderstehlicherKraft, vielfältig, reich, erschütternd»(«Aftenposten»), ein «existenziellesLiteraturexperiment ohnegleichen»(«Klassekampen»), ein «Ausrufezei-chen für die Romankunst» («VårtLand»).

DIESES LOB GILT dem ersten vonsechs dicken Bänden über das Lebendes Norwegers, der vor einem hal-

ben Jahr erschienen ist. Schutzlos,ehrlich und mit unglaublichersprachlicher Kraft habe der Autorhier sein schwieriges Verhältnis zumVater und auch zum Bruder geschil-dert und generell über das eigene Le-ben reflektiert, waren sich alle Re-

zensenten einig. Diese Begeisterungteilten etliche der im Roman mitwirklichem Namen vorgestellte Ver-wandten, Ex-Lehrer und andereWegbegleiter Knausgårds nicht. Diefühlten sich völlig «schutzlos» ausge-liefert.

14 VON IHNEN verbreiteten eine ge-meinsame Erklärung, in der sie dasBuch als «Judasliteratur voller Belei-digungen, fehlerhafter Personendar-stellungen und Anprangerungen»abkanzelten. Auch Knausgårds hochgeachteter Kollege Jan Kjærstad kri-tisierte Knausgårds schwer durch-schaubare Mischung aus Autobio-grafie und Fiktion.

Der Autor, der sich in den Medi-en rarmacht, reagierte so, wie es sichseine Lesergemeinde nicht schöner

hätte wünschen können: Er schwiegzur aufgeregten Debatte um Kjærs-tads Kritik, baute aber den bis vorkurzem viel bekannteren Autoren-kollegen einfach in den vierten Bandseines Werkes ein. Bis zum Sommersollen auch die letzten beiden Bändeerscheinen. 3000 Seiten über die ers-ten 40 Jahre seines Lebens hat Knaus-gård dann innerhalb von wenigmehr als 12 Monaten vorgelegt.

DASS IHM BEI diesem rasendenTempo am Schreibtisch im schwedi-schen Malmö vielleicht ein bisschendie Puste ausgegangen ist, deutetsich bei der Kritiker-Reaktion aufBand 4 an. Oberflächlich, klischee-haft, hiess es immer wieder in denRezensionen. Knausgård ist inzwi-schen bei anderen Personen zu fikti-ven Namen übergegangen. Der Fan-gemeinde verspricht er ein Bonbonzum Abschluss: Im 6. Band, alsowohl auf den Seiten 2500 bis 3000,sollen die wilden Reaktionen auf dieersten Bände zum Thema gemachtwerden.

In Deutschland, wo der norwegi-sche Autor seit 2007 mit dem Roman«Alles hat seine Zeit» zu lesen ist, solldas Werk «frühestens 2011» erschei-nen. Luchterhand-VerlagssprecherKarsten Rösel über den Titel: «Wirhaben uns noch keine Gedanken ge-macht. Aber sicher nicht ‹MeinKampf›.»

Norwegen liest «Mein Kampf»Die Romanserie «Mein Kampf» sorgt in Norwegen nicht nur wegen des anHitlers Buch erinnernden Titels für Aufsehen und Auflagerekorde.

THOMAS BORCHERT, DPA

«Judasliteratur vollerBeleidigungen, fehler-hafter Personendar-stellungen undAnprangerungen»

Dieses Jahr gestaltet der Inge-nieur Jürg Conzett den Schwei-zer Pavillon bei der Internatio-nalen Architekturausstellung inVenedig, wie das Bundesamtfür Kultur mitteilt. Unter demTitel «Landschaft und Kunst-bauten» unternimmt der inChur lebende Jürg Conzett zu-sammen mit dem FotografenMartin Linsi zahlreiche Streifzü-ge durch die Schweiz. Auf die-sen beschäftigt sich Conzett mitden Eingriffen, die Baumeisterund Ingenieure in der Land-schaft vorgenommen haben.Im Rahmen der Ausstellung inVenedig stellt Jürg Conzett mit-tels Fotografien, Texten, Plänenund Gegenständen sein per-sönliches Inventar zu diesemThemenkreis vor. Die 12. Aus-gabe der Internationalen Archi-tekturausstellung in Venedigfindet im Rahmen der Biennalestatt und dauert vom 29. Au-gust bis zum 21. November2010. (MZ)

Korrigendum Artikelzu Christoph BüchelBeim Artikel «Schöne Gunst,gute Kunst» in der Ausgabevom 25. Februar ist der Redak-tion ein Fehler unterlaufen: DerAutor des Artikels heisst Ale-xander Marzahn. (MZ)

aktuell

Jürg Conzettin Venedig