234 - Die Wahrheit, Frucht der Weisheit und der Liebe...den und sogar besser als vorher – es ist nichts zu machen, sie laufen weg. Und wie viele andere sprechen von der Wahrheit

Die Wahrheit,Frucht der Weisheit

und der Liebe

Aus dem Französischen übersetztOriginaltitel:

La verité, fruit de la sagesseet de l’amour

©1992, Éditions Prosveta S.A., France, ISBN 2-85566-520-5Französische Originalausgabe

© Copyright 2009 by Prosveta Verlag GmbH,Heerstr. 55, 78628 Rottweil.

Alle Rechte für alle Länder vorbehalten. Jeder Nachdruck sowie jedeBearbeitung, Darstellung Bild-, Ton- oder sonstige Ausgabe bedürfen

der Genehmigung des Herausgebers.

ISBN 978-3-89515-075-3

Druck 2009: Interpress, Ungarn

Omraam Mikhaël Aïvanhov

PROSVETA VERLAG

Die Wahrheit, Frucht der Weisheit

und der Liebe

Reihe Izvor – Band 234

INHALT

I Die Suche nach der Wahrheit........................ 7

II Die Wahrheit, Kind der Weisheitund der Liebe .............................................. 16

III Weisheit und Liebeoder Licht und Wärme................................ 22

IV Die Liebe des Schülersdie Weisheit des Meisters .......................... 29

V Der Kern der Wahrheit .............................. 34

VI »Ich bin der Weg, die Wahrheitund das Leben« .......................................... 40

VII Der blaue Strahl der Wahrheit .................... 49

VIII Die wirklich wahre Wahrheit ........................ 57

IX Bleibt der Wahrheit treu ............................ 64

X Über Geschmack lässt sichnicht streiten .............................................. 71

XI Objektive und subjektive Welt .................... 81

XII Die Vorrangstellung dersubjektiven Welt.......................................... 91

XIII Wissenschaftlicher Fortschritt undmoralischer Fortschritt................................ 98

XIV Wahrheit der Wissenschaft undWahrheit des Lebens.............................. 107

XV Wie man lernt, alles so zu sehen,als sei es zum ersten Mal ...................... 121

XVI Traum und Wirklichkeit.......................... 126

XVII Die Wahrheit jenseits vonGut und Böse .......................................... 131

XVIII Die Wahrheit wird euch frei machen...... 142

Da Meister Omraam Mikhaël Aïvanhovseine Lehre ausschließlich mündlich überlieferte,

wurden seine Bücher aus stenografischenMitschriften, Tonband- und Videoaufnahmen

seiner frei gehaltenen Vorträge erstellt.

I

DIE SUCHE NACH DER WAHRHEIT

Wir sagen oft: »Das ist wahr« oder »Das istnicht wahr«. Aber je nachdem bedeutet das Wort»wahr« nicht dasselbe. Man sagt zum Beispiel:»Das ist nicht wahr«, um damit auszudrücken: Dasist ein Irrtum. Aber auch: Das ist eine Lüge. Derje-nige, dem ein Irrtum passiert, kennt im Allgemei-nen die Wahrheit nicht, während der Lügner dieWahrheit kennt, sie aber verbergen will, denn erhat eine nicht ganz koschere Sache im Sinn.

Man kann sagen, dass Wahrheit als Gegenteilvon Irrtum in den Bereich der Wissenschaft ge-hört, und dass Wahrheit als Gegenteil von Lüge inden Bereich der Moral gehört. Aber die Leute sa-gen auch, dass sie die Wahrheit suchen, um damitauszudrücken, dass sie sich über den Sinn desmenschlichen Schicksals im Allgemeinen undüber den Sinn ihrer eigenen Existenz im Besonde-ren Fragen stellen. Diese Wahrheit gehört in denBereich der Philosophie und der Religion, und da-rüber kann uns eine Einweihungslehre aufklären

und uns die Richtung weisen. Vor dem Wort»Wahrheit« haben viele Leute Angst. Sie stellensich die Wahrheit als eine furchtbare Macht vor,die sie daran hindert, zu atmen, zu essen, zu trin-ken und zu lieben. Man kann ihnen lange erklären,dass sie im Gegenteil atmen, essen und lieben wer-den und sogar besser als vorher – es ist nichts zumachen, sie laufen weg. Und wie viele anderesprechen von der Wahrheit als von etwas Unmög-lichem, das man in unendlich weiter Ferne suchenmuss. Man fragt sich, ob die Wahrheit wirklich soschwer zu finden ist... Ist es nicht vielmehr so,dass die Menschen nicht wissen, was sie suchenund wie sie suchen sollen, oder dass sie eineRechtfertigung für all ihre Schwächen haben wol-len? Für denjenigen, der die Wahrheit aufrichtigsucht, ist sie nicht so schwer zu finden. Wie könntees vorstellbar sein, dass der Schöpfer, die kosmi-sche Intelligenz (sein Name spielt keine Rolle),den Menschen in eine Lage gebracht hätte, in derer niemals seinen Weg finden würde? Dass ihm dieabsolute Wahrheit nicht so einfach zufällt, einver-standen. Aber es ist unmöglich, dass er nicht soviel Wahrheit erfährt, wie er für seine Lebensge-staltung braucht.

Viele Menschen sind zu mir gekommen undhaben gesagt, dass sie die Wahrheit suchen! Wäh-rend vieler Jahre habe ich geduldig die Berichteüber diese Erfahrungen angehört. Ich habe sogarso getan, als bewunderte ich sie; denn die Wahrheit

8 Die Wahrheit, Frucht der Weisheit...

zu suchen, das ist doch ruhmreich, nicht wahr?Und dann, nach einigen Jahren, hatte ich endlichgenug. Ich habe beschlossen, all diesen Leuten, dieso stolz darauf waren, die Wahrheit zu suchen undsie nicht zu finden, eine Lektion zu erteilen.

»Seit mehr als fünfzig Jahren suche ich dieWahrheit«, sagte mir eines Tages ein alter Mann.»Und Sie haben sie nicht gefunden?« »Nein.«»Und Sie suchen sie immer noch?« »Ja«, antwor-tete er, fest überzeugt von sich selbst, so dass esklar war, dass er dachte, ich würde ihn wegen sei-ner Ausdauer bewundern. Ich schaute ihn lange anund sagte schließlich zu ihm: »Nun, Sie werden sienie finden, denn Sie unternehmen alles, um sienicht zu finden.« »Was? Ich mache...« »Ja, Siesind der Wahrheit schon mehrmals begegnet. Dennsie ist sehr leicht zu finden, sie ist überall, Sie ha-ben sie gesehen, gehört, angefasst, aber Sie habensie niemals akzeptiert, denn Sie haben viele andereSachen im Kopf. Sie suchen ›eine‹ Wahrheit, eine,die Ihnen passt, und wenn Sie der Wahrheit begeg-nen, dann sagen Sie: »Nein, nein, das brauche ichnicht!« und wenden sich ab, da sie nicht IhrenWünschen entspricht. Sie wiederholen: »Ich su-che, ich suche«, aber wenn man das Wort ›suchen‹analysiert, wird man herausfinden, dass Sie nurdas suchen, was Ihre Begierde und Ihren Ehrgeizbefriedigt. Entschuldigen Sie – Sie suchen nichtdie Wahrheit, sondern eine Dienerin, die all IhreLaunen befriedigt. Wenn Sie wirklich die Wahrheit

9Die Suche nach der Wahrheit

hätten finden wollen, so wäre das schon längst ge-schehen. Heute noch können Sie sie finden – abersie wollen nicht.«

Was für eine Unterhaltung, nicht wahr! Ichhatte diese Art der Unterhaltung mit mehreren Per-sonen – aber ich sage euch nicht, was danach ge-schehen ist...

Es genügt, dass einer sagt: »Ich suche dieWahrheit«, und schon reißen die andern ihre Au-gen voller Erstaunen auf, denn sie wissen nicht, inwelche Schublade sie diesen »Sucher« einordnensollen: Jemandem gegenüber zu stehen, der dieWahrheit sucht... das ist wirklich etwas Besonde-res! Sie sind verblüfft. Ja, es ist von großem Vor-teil zu behaupten, man suche die Wahrheit. Sogarmateriell bringt es Vorteile. So gibt es Leute, diedaraus einen Beruf gemacht haben. Unaufhörlichrennen sie hin und her, um von ihren erfolglosenNachforschungen zu sprechen. Sie schreiben Bü-cher, in denen sie ihre Hoffnungen und Enttäu-schungen beschreiben, und wenn diese Bücherveröffentlicht werden, verwöhnt man die Autorenmit großen Ehrungen, man empfängt sie mit einemBüfett, bei dem es alle möglichen Sandwichesgibt, man offeriert ihnen Tee und Champagner.Also, ihr seht die Vorteile! Wieder andere machensich angeblich auf die Suche nach der Wahrheit,weil sie fühlen, dass sie nicht mehr so viel Energieund Dynamik zur Verfügung haben, um die Akti-vitäten ihrer Jugend fortzusetzen. Wenn man ihnen


sagt, dass sie etwas Zeit mit dem Lesen bestimm-ter Bücher, mit Beten, mit Meditieren und mit eini-gen spirituellen Übungen verbringen müssen, da-mit sie auch wirklich etwas finden, dann antwortensie, das sei unmöglich, sie seien zu beschäftigt.Aber trotz alledem: Sie suchen! Sie haben kein hö-heres Ideal, sie wollen nicht verstehen, dass siezuerst einmal die Art, wie sie denken, verändernsollten, aber sie suchen... Nun, unter solchen Be-dingungen zu suchen führt zu nichts.

Die Menschen sind alle auf der Suche nach et-was. Je nachdem nennen sie es Glück, Sinn desLebens, Wahrheit usw. Und warum finden sienicht, was sie suchen? Weil sie es immer in derForm erwarten, die der Vorstellung entspricht, diesie sich selbst davon machen. Selbst die Wahrheitmuss ihren Wünschen entsprechen. Und wenn sieeiner Einweihungslehre folgen, dann geschieht dasin der Hoffnung, darin Theorien und Situationenzu finden, die ihren Vorstellungen entsprechen.Aus diesem Grunde sieht man sie von einer Lehrezur anderen wechseln, ohne sich jemals irgendwofestzulegen. Einmal gefallen ihnen die Leutenicht... oder sie sind nicht gebührend empfangenworden... oder sie haben keine materiellen Vorteilezu erwarten... oder die Lehre ist zu anspruchs-voll... oder der Meister dieser Lehre verspricht ih-nen nicht das, was sie erwarteten...

Die Leute suchen Lügen, Illusionen, Seifenbla-sen – und aus diesem Grunde wenden sie sich von


einem richtigen Meister ab, denn er ist kein Ver-käufer von Illusionen! In seiner Nähe fühlen siesich schikaniert und unglücklich. Nun, das ist derBeweis, dass sie die Wahrheit nicht suchen. DieWahrheit schikaniert niemanden, sie macht nie-manden unglücklich; wenn sie von ihr zermalmtwerden, dann bedeutet es, dass sie sie nicht wirk-lich finden wollten. Wenn sie sie wirklich findenwollten, wären sie derart glücklich! Nein, sie wol-len sie nicht finden, und sie laufen weiter herumund sagen: »Ich suche die Wahrheit.« Ja, es ist fan-tastisch! Sie tragen diesen Satz wie einen Ordenherum.

Von nun an müsste man diesen Orden abneh-men und an seiner Stelle endlich folgende Aussageanbringen: »Ich habe den richtigen Weg gefundenund jetzt geht es los, ich arbeite!« Aber nein, siesuchen weiter und warten darauf, dass der Him-mel, und selbst Gott, sich ihrem Willen beugt, umsie zufrieden zu stellen und sie bleiben so wie siesind, eigensinnig und fordernd. Aber sie könnenlange fordern und Ansprüche stellen, eines Tagesmüssen sie feststellen, dass nichts so geschieht,wie sie es erhofft hatten. Denn die göttliche Weltkann man nicht zwingen: Die Wahrheit offenbartsich nur denjenigen, die die richtige Einstellunggefunden haben.

Man sucht die Wahrheit, so wie die Männerseit Jahrhunderten eine Frau gesucht haben zumHeiraten: Sie brauchten eine Dienerin, die ihnen


Kinder gebar, kochte, den Haushalt führte, die Wä-sche wusch, die Kleidung ausbesserte und ihreschlechte Laune ertrug. Aber: Die Wahrheit istkeine Dienerin. Der Schüler muss zum dienendenKavalier der Wahrheit werden. Denn die Wahrheitist eine Prinzessin! »Und ich will ein Prinz sein«,sagt ihr. In Ordnung – warum nicht? Aber dannmüsst ihr euch würdig erweisen, indem ihr euchbis zu ihr erhebt und nicht versuchen, sie zu euchhinunterzuziehen. Auf der psychischen Ebene istes wie auf der physischen: Jeder kann in den kö-niglichen Palast hinein, indem er behauptet, erwerde die Prinzessin heiraten, und sich zum Erb-prinzen ausrufen lassen. Ihr habt in den Märchengelesen, wie viele Prüfungen der kühne jungeMann bestehen musste, wenn er vom König dieHand der Prinzessin, seiner Tochter, bekommenwollte! Wenn er nicht imstande war, sein hohesZiel zu erreichen, musste er sterben. Nun, dieseMärchen sind sehr tiefsinnig, und ihr solltet darü-ber nachdenken. Was die Wahrheit betrifft, so istes dasselbe. Sie ist die Tochter Gottes. Wenn ihr zuihr kommt, ohne bereit zu sein, ihr zu dienen, umihr zu zeigen, dass ihr würdig seid, ihre Hand zugewinnen, dann beweist ihr sinnlosen Stolz und siewird euch zurückweisen. Es ist so wie in den Mär-chen: Die Wahrheit ist eine unbeugsame Königs-tochter, sie wird sich niemals anpassen und zueuch herabsteigen. Wenn ihr euch nicht vor ihrverneigt, werdet ihr sie nicht für euch gewinnen,


sondern außerdem auch noch sterben, vom geisti-gen Standpunkt aus gesehen. Ihr meint, die Wahr-heit sei grausam? Ja und nein, alles hängt von eu-rer Haltung ab.

Man wird die Wahrheit erst finden, wenn mansich entschlossen hat, ihr zu dienen. Selbst Spiritu-alisten werden sie niemals finden, wenn sie von ihrverlangen, dass sie ihnen bei der Erfüllung ihrersehr materialistischen Wünsche hilft. Ich habe eseuch gesagt: Sie halten sie für eine Dienerin odersogar für ein Bankkonto, das ihnen Besitztümerbringen wird, Macht, die Mittel, um die Frauen zuverführen, usw.! Aber die Wahrheit ist eine Prin-zessin, und wenn sie sieht, dass ihr sie mit demüti-gen Arbeiten erniedrigen wollt, indem ihr ihr un-dankbare Arbeiten gebt, dann ist sie entrüstet undsagt: »Für wen hält der mich eigentlich?« – und sieschleudert euch mit Verachtung weg. Leider hörtman überall in der Gesellschaft, in den Schulen, inden Familien nur Theorien und man sieht überallnur Leute, die immer Forderungen stellen, die sichaufdrängen, ohne sich klar zu machen, dass dieserespektlose und gewalttätige Einstellung ihnen alleTüren verschließt. Um die Wahrheit zu finden,muss man bescheiden sein. Und bescheiden sein,das heißt zuallererst einmal, weniger anspruchs-voll gegenüber der Natur, den Menschen, demSchöpfer zu sein. »Ja, aber wir haben unsere Be-dürfnisse!« Sehen wir uns diese Bedürfnisse docheinmal genauer an. Wer spricht denn da in euch?


Woher kommt diese Stimme, die nach dem Leich-ten, nach Wohlstand und Vergnügen verlangt undAnstrengungen, Zwänge, Verpflichtungen ab-lehnt? Es ist die Stimme der niederen Natur. Aberseid ihr das wirklich, diese niedere Natur?... Nein.

Die niedere Natur ist ein Teil des Menschen,aber sie ist nicht der Mensch selbst. Sie ist wie einMaterial, das er bearbeiten muss, um seine höhereNatur zu nähren, die unsterblich und ewig ist. Undmit dieser höheren Natur muss man sich identifi-zieren. Solange sich der Mensch mit seiner niede-ren Natur identifiziert, wird er sagen: »Ich willdieses, ich will jenes, ich bin verletzt, ich leide...«und er wird weiterhin überall herumlaufen und sa-gen: »Ich suche die Wahrheit, ich suche, ich su-che...«, und er wird sie nicht finden. Um die Wahr-heit zu erkennen, muss er sich mit dem Licht, demEdelmut und der Unbestechlichkeit der höherenNatur identifizieren.


Die meisten Leute haben eine sonderbare Art zuerzählen, auf welche Weise sie erwarten, die Wahr-heit zu finden. Sie reden von ihr, als würden sie ihreines Tages persönlich begegnen und sie würde zuihnen sagen: »Schau mal, ich bin die Wahrheit. End-lich hast du mich gefunden. Also, hör mir gut zu:Von nun an musst du dieses denken und jenes tun...«Nein, so läuft das ganz sicher nicht.

Um die Frage der Wahrheit richtig zu verstehen,muss man zuerst die psychische Struktur des Men-schen studieren. Sie beruht auf drei wesentlichenFaktoren: dem Intellekt, der es ihm ermöglicht zudenken, dem Herzen, mit dem er Gefühle empfindenkann und dem Willen, durch den er handeln kann.Der Wille handelt niemals ohne Motiv, sonderndurch den Antrieb durch Gedanken und Gefühle.

Beobachtet euch: Ihr habt Gedanken und Ge-fühle zu Dingen und Wesen, und deshalb setzt sicheuer Wille in Bewegung oder auch nicht. Es genügtnicht zu denken, arbeiten sei nützlich; damit man

II

DIE WAHRHEIT, KIND DER WEISHEIT UND DER LIEBE

sich entschließt gut zu arbeiten, muss man diese Ar-beit auch lieben. Ihr begegnet einem verletztenMenschen oder einem Menschen in Not. Um euchzu entscheiden ihm zu helfen, genügt es nicht zudenken, dass er Hilfe braucht, ihr müsst für ihn auchSympathie empfinden. Und derjenige, der sich aufseinen Nachbarn wirft, um ihn tot zu schlagen, hatsich nicht damit begnügt zu denken: »Er ist dumm,er ist böse.« Er musste auch Gefühle der Verbitte-rung, des Zornes oder des Hasses haben. Die Bei-spiele sind zahllos. Unser ganzes tägliches Lebenbesteht aus Handlungen, die durch unsere Gedankenund unsere Gefühle beeinflusst sind. Der Faktor Ge-danke und der Faktor Gefühl schält sich mehr oderweniger ein, je nach Sachlage, aber sie schalten sichimmer ein.

Man kann also sagen, dass Handlungen die Kin-der der Gedanken, des Intellektes und der Gefühledes Herzens sind. Je nach der Qualität dieser Gedan-ken und Gefühle sind die Handlungen, die vomWillen ausgeführt werden, gut oder schlecht. Siekönnen nur so gut sein, wie der Intellekt von derWeisheit und das Herz von der Liebe inspiriert ist.Das Ideal des Intellektes ist es, die Weisheit zu ma-nifestieren, das des Herzens ist es, die Liebe zu ma-nifestieren und das Ideal des Willens, der daraus her-vorgeht, ist es, die Wahrheit zu manifestieren. Dasbedeutet, dass ihr in dem Maße zur Wahrheit vor-dringt, wie die Gedanken eures Intellekts zur Weis-

17Die Wahrheit, Kind der Weisheit...

heit und die Gefühle eures Herzens zur Liebe tendie-ren, insofern seid ihr in der Wahrheit. Ja, das ist dasGeheimnis der Wahrheit, es ist einfach.

Man hat der Wahrheit alle möglichen Definitio-nen gegeben, die die Frage nur verkompliziert ha-ben. Es ist unmöglich zu sagen, was Wahrheit ist,denn als solche existiert sie nicht. Es gibt nur Weis-heit und Liebe. Wie viele Leute geben vor, in derWahrheit zu leben! Es ist einfach, einen solchen An-spruch zu haben, aber wenn man sieht, wie sie han-deln – oh je, oh je!... Denn genau das, was sie ihreWahrheit nennen, ist nicht von Weisheit und Liebeinspiriert. Es ist das Verhalten, das offenbart, ob sichein Mensch in der Wahrheit befindet, und nicht inTheorien und Hirngespinsten, die er den anderenvormacht. Es ist unglaublich, dass die Menschen ausder Wahrheit eine Art Abstraktion machen, währendsie sich doch ganz konkret darin zeigt, auf welcheWeise die Menschen Tag für Tag ihr Leben gestalten.

Von nun an sollt ihr aufhören zu erzählen, dassihr die Wahrheit sucht und nicht findet, denn es gibtnichts zu suchen und nichts zu finden, es gilt nur,Fortschritte zu machen was Liebe und Weisheit be-trifft. Und ihr müsst auch damit aufhören, so zu tun,als ob ihr in der Wahrheit wärt. Auch da gibt esnichts zu behaupten: Wenn ihr die Liebe und dieWeisheit besitzt, braucht ihr gar nichts zu sagen, ihrbefindet euch in der Wahrheit und alle werden esspüren. Dieses Bild wird euch vielleicht etwas über-raschen, aber man kann sagen, dass man die Wahr-


heit mit einer Medaille vergleichen kann, deren eineSeite die Liebe und die andere die Weisheit ist. Ihrwerdet die Wahrheit niemals isoliert finden, denn siekann nur in Verbindung mit dem Herzen und demIntellekt begriffen werden. Es sind eure Liebe undeure Weisheit, die euch die Wahrheit zeigen werden.

Wenn es so viele verschiedene und widersprüch-liche »Wahrheiten« in der Welt gibt, dann widerspie-geln sie nur die Deformation von Herz und Intellektder Menschen. Wenn jemand zu euch sagt: »Fürmich sieht die Wahrheit folgendermaßen aus...«,dann ist das seine Wahrheit und diese Wahrheitspricht von seinem Herzen und seinem Intellekt, dieentweder unzulänglich und verbildet oder imGegenteil sehr entwickelt sind. Wenn die Wahrheitunabhängig von der Tätigkeit des Herzens und desIntellekts wäre, hätten alle dasselbe entdecken müs-sen. Aber wie ihr wisst, ist dem nicht so, jeder ent-deckt andere Wahrheiten, außer denen, die die wirk-liche Liebe und die wirkliche Weisheit besitzen.Diese haben die gleiche Wahrheit entdeckt und ausdiesem Grunde sprechen sie alle dieselbe Sprache.

Alles hängt also von der harmonischen Entwick-lung des Herzens und des Intellekts ab und darüberhinaus der Seele und des Geistes. Wenn der Menschnicht wachsam ist, entfernt er sich von der Wahrheit.Er wird Bücher schreiben, um seinen Standpunkt zuverkünden, er wird Menschen mit sich fortreißen, erwird bestimmt aufrichtig sein, aber er wird nicht inder Wahrheit sein. Denn Aufrichtigkeit ist eine Sa-


che und Wahrheit ist eine andere. Ihr könnt aufrich-tig sein und dabei die schlimmsten Fehler machen.Man darf nicht Aufrichtigkeit als Vorwand benutzen,um sich zu rechtfertigen.

Die Wahrheit ist nur deshalb immer noch eine soungewisse Sache, weil man sie als etwas Abstraktesbetrachtet. Aber in Wirklichkeit ist die Wahrheit dieWelt, in der wir leben. Wir sind mit ihr verbunden,wir sind eins mit ihr, wir können uns nicht von ihrtrennen. Wir leben in der Wahrheit, wir essen sie,wir atmen sie ein, und man darf nicht mehr glauben,sie käme von außen. Was von außen kommen kann,sind nur die Begegnungen mit Menschen, Gegen-ständen, Büchern, Kunstwerken. Die Berührung mitihnen weckt in uns eine Ahnung von der Wahrheit.Das ist alles. Deshalb zu sagen: »Ich werde dieWahrheit suchen«, ist die Garantie dafür, sie nicht zufinden. Denn auf der Erde können wir sie nicht fin-den. Derjenige irrt sich, der darauf wartet, etwas vonaußen Kommendem zu begegnen, von dem er sagenkann: »Hier ist die Wahrheit«. Man kann sich derWahrheit nur nähern, indem man Liebe und Weisheitstudiert und versucht, beide zu manifestieren.

Wenn ihr mich jetzt verstanden habt, müsst ihreuch analysieren: »Was ist die Natur meiner Ge-fühle? Ist es die wahre Liebe?... Und meine Gedan-ken, wie beurteilen sie die Dinge? Folge ich demWeg der Wahrheit? Hat sich nicht ein Element ein-geschlichen, das mich einen Fehler machen lässt?«Jedes Mal, wenn ihr in eure Gedanken Elemente der


Liebe und der Weisheit aufnehmt, lasst ihr die Wahr-heit Wirklichkeit werden. Somit erreicht ihr jedesMal, wenn ihr einen bestimmten Aspekt berührt,eine bestimmte Stufe der Wahrheit, und dieseAspekte, diese Stufen, sind zahllos. Man muss dieWahrheit gefunden haben und sie gleichzeitig im-mer noch suchen. Das bedeutet, dass man sich fürimmer mit diesen beiden unwiderlegbaren Prinzi-pien der Liebe und der Weisheit verbinden muss.Gleichzeitig muss man immer weiter die passends-ten Formen suchen, um diese beiden Prinzipien an-zuwenden.


Wenn die Weisheit und die Liebe sich vereinen,gebären sie die Wahrheit, das heißt, ein erfüllteres,intensiveres Leben, das wie das Wasser alle Sameneurer Seele begießen wird, um eine Fülle von Blu-men und Früchten, lichtvollen Gedanken und warm-herzigen Gefühlen hervorzubringen.

Die Weisheit steht für das männliche Prinzip, dieLiebe für das weibliche. Die Liebe neigt sich derWeisheit zu, und die Weisheit der Liebe. Weisheitund Weisheit stoßen sich ab, und Liebe und Liebestoßen sich auch ab. Das ist eine Tatsache, die manauch bei den menschlichen Beziehungen beachtenmuss. Manche Bande sind zerrissen, weil die Partnerentweder zu reserviert oder zu entflammt waren. Füreine dauerhafte Beziehung ist es günstig, wenn diePartner sich ergänzende Temperamente haben.

Auf der physischen Ebene werden Weisheit undLiebe durch Licht und Wärme repräsentiert, mit de-nen sie große Ähnlichkeit haben. So wie das Lichthat auch die Weisheit die Fähigkeit, sich auf winzig

III

WEISHEIT UND LIEBEODER LICHT UND WÄRME

kleine Punkte zu konzentrieren, und wie die Wärmekann die Liebe sich im Raum ausdehnen. Ihr begeg-net jemandem zum ersten Mal. Da ihr ihn überhauptnicht kennt, habt ihr keinen Grund, ihn zu lieben. Esist euer Intellekt, der reagiert und anfängt, ihn in al-len Einzelheiten zu betrachten: seine Augen, seineNase, seinen Mund, seine Bewegungen, seinen Be-ruf, sein Einkommen... Bei jemandem, den ihr liebt,wollt ihr dagegen nichts von alledem analysieren;ihr liebt ihn, wie er ist, ihr akzeptiert sein ganzesWesen, ihr schwingt im Einklang mit ihm. Undselbst wenn er etwas Tadelnswertes tut, so vergebtihr ihm, weil ihr ihn liebt; seine Fehler sind Kleinig-keiten, bei denen ihr euch nicht aufhaltet. Aber andem Tag, an dem ihr ihn nicht mehr liebt, wird derkleinste Fehler zur Kenntnis genommen, unterstri-chen und zerpflückt.

Wollt ihr ein Beispiel? Ein Chemiker oder Bio-loge arbeitet in seinem Labor. Er konzentriert sichauf einige Gasmoleküle oder einige Zellen, die einerPflanze oder einem Tier entnommen wurden. Seineganze Aufmerksamkeit ist von winzigen Materie-teilchen in Anspruch genommen. Nun, dieser bedeu-tende Forscher ist verliebt. Wenn er sein Labor amAbend verlässt, denkt er daran, dass er seine Liebstetreffen wird, und so kommt ihm der Sternenhimmel,den er über sich sieht, nicht weit genug vor, umseine Liebe aufzunehmen, alle Blumen sind nichtgenug, um die Schönheit widerzuspiegeln, mit der ersie geschmückt sieht, und er möchte ihr gern alle Pa-

23Weisheit und Liebe oder Licht und Wärme

läste und Schätze der Welt schenken. Aber eines Ta-ges schlägt die Sache um: Mit der Zeit ist das Gefühlabgestumpft und seine Liebste scheint ihm wenigercharmant als zuvor. Und dann konzentrieren sichplötzlich seine Blicke auf ihre kleinsten Gesten undauf alles was sie tut, um sie zu kritisieren: »Du bistzu spät gekommen, du hast mein Hemd nicht gewa-schen, du hast schon wieder meine Manschetten-knöpfe verlegt, du hast die Suppe versalzen, du hastvergessen, die Zeitung zu kaufen...« Man könntemeinen, dass alle Mikroskope seines Labors gegen-wärtig sind, um die unbedeutendsten Einzelheitenhundert- und tausendfach zu vergrößern!

So hat die Wärme, die das Herz ausdehnt, demLicht, das die kleinsten Dinge sichtbar macht, Platzgemacht. Aber welches Licht? Nicht das spirituelleLicht, sondern das gewöhnliche Licht, das mit demelektrischen Strom verbunden ist. Spricht man nicht,bevor ein Streit ausbricht, von einer »geladenenAtmosphäre«? Elektrizität, richtig unter Kontrollegebracht, bringt Licht hervor – aber die Elektrizitätist nicht das Licht.

Und so wie Elektrizität und Licht zusammen-hängen, ist Magnetismus mit Wärme verbunden.Die Wärme dehnt aus und der Magnetismus ziehtan: Beide manifestieren sich durch eine Entfaltung,eine Ausdehnung des Volumens und der Formen.Das gilt sowohl auf der physischen als auch auf derpsychischen Ebene. Eine warmherzige und magneti-sche Person vermittelt den Eindruck der Ausdeh-


nung und sie übt auf alle, die sie umgeben, eine An-ziehung aus; Licht und Elektrizität in einem Men-schen bringen aber gegenteilige Wirkungen hervor.Die meisten Leute fühlen sich von dem, der Lichtund Wissen besitzt, nicht angezogen, denn sie fühlensich unterlegen, sie haben Angst davor, beurteilt zuwerden, sie ziehen es vor, Abstand zu halten. Undderjenige, der mit zu viel Elektrizität aufgeladen ist,stößt die anderen auf jeden Fall ab.

Jetzt ist es an euch zu verstehen, wie ihr dieLiebe (Wärme und Magnetismus) und die Weisheit(Licht und Elektrizität) verwenden könnt. Die Liebeverbindet und die Weisheit löst. Die Weisheit hilft,das Gute vom Bösen zu unterscheiden und das Bösezurückzustoßen. Aber wenn ihr immer nur die Weis-heit anwendet, werden selbst eure Freunde nichtlange bei euch bleiben. Es stimmt schon, die Weis-heit leuchtet, aber sie ist kalt, und die Leute haltensich nicht gern in der Nähe eines kalten Lichtes auf.Das ist der Grund, warum die Weisen oft Einzelgän-ger sind, wogegen die Leute, die weniger weise,aber warmherzig sind, von Freunden umgeben sind.Also, was ist zu tun? Soll man die Weisheit vernach-lässigen, um nicht allein zu bleiben? Natürlich nicht,denn dann besteht die Gefahr, dass ihr überfallenund gefesselt werdet. Die Schwierigkeit bestehteben darin, zu lernen, wie man die beiden Ströme insich harmonisieren kann. Man muss wissen, wann eswünschenswert ist, die Liebe und wann die Weisheitzu manifestieren.


Ich habe euch bereits erklärt, wie das Wasserdieses Problem gelöst hat. Es steigt unaufhörlichzwischen der Erde und dem Himmel auf und nieder.Es steigt auf, um die Weisheit zu fördern, es steigthinab, um die Liebe zu manifestieren. Es steigt auf,um die Segnungen des Himmels aufzunehmen, essteigt hinab, um diese Segnungen auf der Erdeweiterzugeben. Nehmen und geben, empfangen undweitergeben, das ist die Wahrheit, das ist die Erfül-lung von Gottes Willen.

In den drei ersten Versen des Vaterunsers: »Vaterunser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde DeinName, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wieim Himmel, so auf Erden« findet man die Anwen-dung dessen, was ich euch über die Liebe, die Weis-heit und die Wahrheit erkläre.

»Geheiligt werde Dein Name«: Die Heiligungist eine Handlung, die mit der Weisheit, dem Lichtverbunden ist. Das Licht heiligt und erhellt GottesWerke. Wenn wir das richtige Verständnis haben,heiligen wir alles, dem wir uns nähern. Und warummuss man den Namen Gottes heiligen? Weil derName eine Synthese aller Elemente ist. GottesName beinhaltet und schließt alle Formen, alle Exis-tenzen ein.

»Dein Reich komme«: Gottes Herrschaft, SeinReich ist die vollkommene Liebe. Es gibt kein wirk-liches Reich außerhalb der Liebe. Sie garantiert denZusammenhalt aller Teile. Ein Reich ohne Liebe


zerfällt. Für die Eingeweihten ist die Liebe kein ver-gängliches Gefühl, sondern ein beständiger, un-unterbrochener Bewusstseinszustand, in dem mansich in Harmonie fühlt mit allem, was existiert.

»Dein Wille geschehe«: Derjenige, der dank derWeisheit den Namen Gottes in sich heiligen konnteund dank der Liebe Sein Reich errichtet hat, wirdfolglich Seinen Willen tun. Gottes Willen auszufüh-ren bedeutet, sich in der Wahrheit zu befinden.

Alle Christen beten dieses Gebet, es ist bestimmtdas am meisten gesprochene Gebet, aber sie erfas-sen nicht immer seine Tiefe. Nun, seid wenigstensihr euch dessen bewusst, was ihr sagt, wenn ihr esbetet.

Ich gebe euch sogar eine Übung dafür. Setzteuch ruhig hin und legt eure Hände auf die Knie. At-met sechs Schläge ein und sagt: »Mein Gott, DeinName sei geheiligt in mir.« Haltet dann sechsSchläge den Atem an und sagt: »Dein Reich kommein mir.« Beim Ausatmen (sechs Schläge): »DeinWille geschehe durch mich.« Wiederholt dieseÜbung vier bis fünf Mal pro Tag einige Wochenlang, und ihr werdet feststellen, dass etwas in euchheller wird, weiter, ruhiger. Seit zwanzig Jahrhun-derten haben Millionen, ja Milliarden Christen die-ses Gebet gesprochen – und selbst, wenn sie sichseiner Bedeutung nicht immer bewusst waren, ha-ben sie aus diesem Gebet in der unsichtbaren Welteine lebendige Formel gemacht, ein Kräftereservoir.Wenn ihr nun dieses Gebet bewusst sprecht, verbin-


det ihr euch mit dem großen Reservoir, zieht allewohltuenden Energien an und könnt eure Arbeit bes-ser fortsetzen.

Meditiert über die Weisheit, die sich mit denkleinen Dingen befasst, und über die Liebe, die sichum die größten kümmert. Die Weisheit berührt nurganz kleine Teilchen in uns. Man hat niemals festge-stellt, dass die Weisheit tiefgreifende Veränderungenin einem Menschen bewirkt. Die Liebe dagegen ver-ändert sofort das Verhalten und oft sogar das physi-sche Erscheinungsbild. Die größten Veränderungenin der Welt können nur durch die Liebe geschehen,nicht durch die Weisheit. Die Weisheit ist nur dazuda, die Richtung anzugeben – aber die Liebe ver-wirklicht die Dinge.


Es geschieht oft in der Einsamkeit, dass wir Wis-sen erlangen. Die Lektüre, das Nachdenken, die Me-ditation, alle mentalen Fähigkeiten, erfordern imAllgemeinen weder die Gegenwart noch die Beteili-gung der anderen. Manchmal sind sie sogar ein Hin-dernis. Dagegen bringt uns die Gegenwart der ande-ren dazu, unser Wissen aus uns hervorzuholen,damit wir es ihnen weitergeben können; die Gegen-wart der anderen erweckt in uns den Wunsch, unsmitzuteilen.

Aber der Wunsch, sich mitzuteilen, kann nur un-ter einer Bedingung realisiert werden: Nämlich dassderjenige, dem das Wissen mitgeteilt wird, aufmerk-sam und aufnahmebereit ist, dass er demjenigen Ver-trauen entgegenbringt, der bereit ist, ihn zu lehren.Wie viele Lehrer haben in dem Wunsch, ihr Wissenweiterzugeben, durch die Haltung der Schüler undStudenten einen Dämpfer bekommen! Der Mangelan Aufmerksamkeit der Schüler, ihre kritischenBlicke halten sie vielleicht nicht davon ab, zu unter-

IV

DIE LIEBE DES SCHÜLERS,DIE WEISHEIT DES MEISTERS

richten, aber sie nehmen ihnen die Lust, das Themazu vertiefen und dabei ihr Bestes zu geben. Es kannaber auch passieren, dass nach einer schlaflosenNacht ein müder und sorgenvoller Lehrer mit wenigLust zu unterrichten in das Klassenzimmer kommtund so offene und aufnahmebereite Schüler vorfin-det, dass er sich sogleich belebt, stimuliert und in-spiriert fühlt.

Das sind Erfahrungen, die alle Unterrichtendengemacht haben, sowohl die Lehrer als auch die geis-tigen Meister. Welche guten Voraussetzungen einUnterrichtender auch mitbringen mag, sie stellenimmer nur die Hälfte der Bedingungen dar, die erfülltsein müssen, damit er sein Wissen weitergeben kann.Es ist die Aufgabe der Studenten, der Schüler, die an-dere Hälfte beizutragen, indem sie sich darum küm-mern, aufnahmebereit und warmherzig zu bleiben.

Ihr seht, wie wir wieder mit dem Herzen unddem Intellekt zu tun haben. Das Herz ist der Schüleroder der Jünger, der sich öffnet, um das Wissen desUnterrichtenden, des Intellekts, aufzunehmen. DasHerz ist das Vorzimmer des Intellekts. Es bereitetihn vor, es versetzt ihn in gute Laune und führt unsbei ihm ein, wie es ein Diener bei seinem Herrnmacht. Man muss also erst das Herz gewinnen, umden Intellekt zu berühren. Um eine Unterredung miteiner bedeutenden Persönlichkeit zu bekommen,muss man durch seinen Sekretär eingeführt sein. Ingleicher Weise muss man, um eine Unterredung mit


der Weisheit zu haben, von der Liebe eingeführtwerden! Um sich den großen Geheimnissen nähernzu können, muss man sein Herz öffnen.

Der Intellekt liebt weder Küsse noch Liebkosun-gen, er zieht Diskussionen, Einwände, Streitgesprä-che vor, denn sie zwingen ihn, sich zu entwickeln.Wenn ihr den Intellekt erwärmt, schläft er ein, an-statt sich an die Arbeit zu machen, während Kälte,Überraschungen und zu überwindende Hindernisseihm liegen. Schwierigkeiten und Prüfungen schüt-teln euch durch und zwingen euch zu handeln. IhrNutzen liegt darin, dass sie euch zum Nachdenkenbringen und ihr an Weisheit gewinnt. Was die ange-nehmen Ereignisse anbetrifft, so beeinflussen dieseeuer Herz, indem sie die Voraussetzungen dafürschaffen, großzügig, liebenswürdig, warmherzig zuwerden, denn alles was warm ist, hat die Neigungsich auszudehnen, sich zu öffnen. Es ist wichtig,dass ihr gut gelaunt seid, und das Herz wird euch da-bei helfen. Man muss also die Zustimmung des Her-zens haben, um den Intellekt zu berühren; man musserst Liebe besitzen, um sich der Weisheit zuzuwen-den. Weisheit bekommt man durch die Liebe.

Ein Meister enthüllt seinen Schülern die Tatsa-chen der geistigen Welt, indem er etwas seinerSeele, seinem Leben entreißt, um es ihnen zu geben.Und wenn er bei den Zuhörern nicht Erwartung,Interesse, Achtung oder Begeisterung für diesesWissen, das er ihnen enthüllen will, findet, dann ver-schließt sich etwas in ihm.

31Die Liebe des Schülers...

Die Liebe des Schülers muss sich mit der Weis-heit des Meisters vereinen, und der Vereinigung die-ser Liebe und dieser Weisheit entspringt die Wahr-heit. Der Meister braucht eure Weisheit nicht – undihr könntet sie ihm sowieso nicht geben –, aber erbraucht eure Liebe. Seine Rolle besteht nicht darin,euch zu lieben, sondern euch die Dinge zu erklären,und es obliegt euch, ihm euer Vertrauen, eure Liebezu schenken, denn das sind die besten Voraussetzun-gen, seine Weisheit zu erhalten. Es ist ganz einfach:Der Schüler liebt seinen Meister, und der Meister er-klärt die Dinge seinem Schüler. Wenn ihr das Gegen-teil wollt, werdet ihr lange im Dunkeln bleiben.

Ihr werdet erwidern, dass man immer die Liebeder spirituellen Meister erwähnt, wenn man von ih-nen spricht. Ja, natürlich, denn wenn man den Men-schen helfen und sie unterrichten will, muss man sielieben. Aber die Liebe des Meisters ist anders. Es isteine Liebe, die von der Weisheit erleuchtet wird.Das versteht der Schüler übrigens oft nicht. Ermöchte gern, dass ihn sein Meister immerfort anlä-chelt und ihm angenehme Worte sagt. Und wenn derMeister sich zum Wohl seines Schülers streng zei-gen und ihn durchrütteln muss, dann wird diesertraurig, lehnt sich auf und denkt, sein Meister liebeihn nicht; er versteht nicht, dass die Liebe des Meis-ters mit einer gewissen Strenge einhergehen muss.

Einen wirklichen Meister zu treffen und seinSchüler zu werden, ist ein Segen im Leben einesMenschen – aber nur, wenn man die richtige Hal-


tung einnimmt und weiß, wie man ihn lieben soll.Denn durch seine Liebe beeinflusst der Schüler sei-nen Meister. Aber ja! Alle Wesen sind verbundenund beeinflussen sich gegenseitig. Der Meister be-einflusst den Schüler, aber der Schüler beeinflusstauch seinen Meister. Die aufrichtige und selbstloseLiebe des Schülers trägt zum Wachstum der Weis-heit des Meisters bei.

In jeder beliebigen Schule sind für den Lehrerdie Schüler leichter zu unterrichten, die großenLerneifer zeigen. Natürlich kümmert er sich um alle,aber die aufmerksamen, lernbegierigen Schüler in-spirieren ihn mehr und er fühlt sich durch sie stimu-liert. Überall gilt das gleiche Gesetz: Durch dieLiebe wird die Weisheit geboren, und die Weisheitinspiriert die Liebe. Es gibt eine Wechselseitigkeit.Beide sind nötig, um die Wahrheit zu erlangen.

33Die Liebe des Schülers...

Vom selben AutorReihe Gesamtwerke

1 Das geistige Erwachen 4 Das Senfkorn - Symbole im

Neuen Testament5 Die Kräfte des Leben6 Die Harmonie7 Die Reinheit, Grundlage geistiger Kraft

(früherer Titel: Die Mysterien von Jesod)9 »Im Anfang war das Wort«

Kommentare zu den Evangelien10 Sonnen-Yoga (Surya-Yoga)

Die Herrlichkeit von Tiphereth11 Der Schlüssel zur Lösung der

Lebensprobleme12 Die Gesetze der kosmischen Moral13 Die neue Erde 16 Alchimie und Magie der Ernährung –

Hrani-Yoga27 Die Pädagogik in der Einweihungslehre32 Die Früchte des Lebensbaums 14/15 Liebe und Sexualität (Doppelband)17/18 Erkenne Dich selbst – Jnani Yoga (Doppelb.)23/24 Eine neue Religion (Doppelband)25/26 Der Wassermann und das

Goldene Zeitalter (Doppelband)

Taschenbuchreihe IZVOR200 Hommage an Meister Peter Deunov201 Auf dem Weg zur Sonnenkultur202 Der Mensch erobert sein Schicksal203 Die Erziehung beginnt vor der Geburt204 Yoga der Ernährung205 Die Sexualkraft206 Eine universelle Philosophie207 Was ist ein geistiger Meister?208 Das Egregore der Taube o. das Reich des Friedens209 Weihnachten und Ostern in der Einweihungslehre210 Die Antwort auf das Böse211 Die Freiheit, Sieg des Geistes212 Das Licht, lebendiger Geist213 Die menschliche und göttliche Natur in uns214 Liebe, Zeugung und Schwangerschaft215 Die wahre Lehre Christi216 Geheimnisse aus dem Buch der Natur217 Ein neues Licht auf das Evangelium218 Die geometrischen Figuren und ihre Sprache219 Geheimnis Mensch. Seine feinst. Körper u. Zentren220 Der Tierkreis, Schlüssel zu Mensch und Kosmos221 Alchimistische Arbeit und Vollkommenheit222 Die Psyche des Menschen223 Geistiges und künstlerisches Schaffen224 Die Kraft der Gedanken225 Harmonie und Gesundheit226 Das Buch der göttlichen Magie227 Goldene Regeln für den Alltag228 Einblick in die unsichtbare Welt229 Der Weg der Stille230 Die Himmlische Stadt231 Saaten des Glücks232 Feuer und Wasser - Wunderkräfte der Schöpfung233 Eine Zukunft für die Jugend234 Die Wahrheit, Frucht der Weisheit und der Liebe235 Im Geist und in der Wahrheit - Wie finde ich zu Gott236 Weisheit aus der Kabbala237 Das kosmische Gleichgewicht - Die Zahl 2238 Der Glaube versetzt Berge239 Die Liebe ist größer als der Glaube241 Der Stein der Weisen242 Unerschöpfliche Quellen der Freude

Vom selben AutorReihe Broschüren

301 Das neue Jahr302 Die Meditation303 Die Atmung304 Der Tod und das Leben im Jenseits305 Das Gebet306 Musik und Gesang im spirituellen Leben307 Das hohe Ideal309 Die Aura311 Wie Gedanken sich in der Materie

verwirklichen312 Die Reinkarnation313 Das Vaterunser315 Die Quelle des Lebens318 Die wesentliche Aufgabe der Mutter

während der Schwangerschaft319 Die Seele, Instrument des Geistes320 Menschliches und göttliches Wort321 Weihnachten und das Mysterium der

Geburt Christi322 Die spirituellen Grundlagen der Medizin323 Meditationen beim Sonnenaufgang

Reihe Gesamtwerke

Diese Bücher enthalten in jedem Kapitel einen Vortragvon Omraam Mikhael Aivanhov (außer Band 13 und23/24).

Reihe Izvor

Jedes Kapitel enthält Auszüge aus den VorträgenOmraam Mikhael Aivanhovs. Die Texte der ReiheIzvor sind stellenweise in den Büchern der ReiheGesamtwerke enthalten.

Reihe Broschüren

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234 - Die Wahrheit, Frucht der Weisheit und der Liebe...den und sogar besser als vorher – es ist nichts zu machen, sie laufen weg. Und wie viele andere sprechen von der Wahrheit