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Alle machen mit beim Krippenspiel im Durchgangsheim: der Lette
spielt Herodes, der Russe den Balthasar und der Ghanaer den
Mohren. Doch keiner ahnt, dass auch noch ein Mörder mitspielt.
Der Sohn des Herodes
Von
Karr&Wehner
Nord-Anzeiger, 1. Dezember
Multikulturelles Krippenspiel im Erlengrund
Mit einer Überraschung wartet die sozialpädagogische Betreuerin
Maria P. des Durchgangsheimes im Erlengrund auf: Für den
Heiligen Abend bereitet sie ein Krippenspiel vor, bei dem möglichst
viele Bewohner des Heimes mitmachen sollen. »Alle sind
begeistert!« sagte sie unserem Reporter. »Und am meisten freut
sich mein Sohn David auf seine Rolle aus Jesuskind!«
Tagebuch von Maria P., 3. Dezember:
Dieser Neger will den Mohren nicht spielen! Dabei ist er der einzige
wirklich Schwarze im Heim. Palavert herum, dass er in Ghana
Medizinmann gewesen sei und das mit unserem Christentum »alles
Scheiße« (wörtlich!) sei. Alle anderen sind zur Probe erschienen; ich
habe die Rollen verteilt und die Weihnachtsgeschichte erzählt. Für
den König Herodes kommt eigentlich nur der Lette in Frage. Mit
seiner Säufernase und dem Bart braucht der keine Maske. Bloß
spricht er kein Wort Deutsch. Zum Glück ist sein Sohn, der Juris,
schon sechs Jahre und kann dolmetschen. Ich habe versucht, dem
Blag zu erklären, was sein Vater bei der Aufführung machen soll und
ihm dann gezeigt, wie er als Schatten hinter dem Bettuch das Kind
erstechen soll. David sieht ganz allerliebst aus, wenn er in der
Krippe liegt. Ich habe ihm ein Seidenhemd genäht, mit einem
goldenen Stern auf der Brust.
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Tagebuch von Maria P., 6. Dezember:
Alles muss man kontrollieren! Erste Stellprobe in den Kulissen. Bis
die Polen den Stall aufgebaut hatten, waren sie alle besoffen. Erst
als ich gesagt habe, dass ich ihnen ab sofort ihre Gutscheine von
der ARGE nicht mehr tausche, wenn nicht sofort die Klappe halten,
waren sie ruhig. Vormittags war noch ein Fotograf von der Zeitung
da. Ich habe sofort David geholt und ihn in sein Seidenhemd
gesteckt, aber als ich in den Speisesaal kam, hatte der Schreiberling
schon Bobba, dieses Balg von dem Neger in die Krippe gelegt und
geknipst.
Tagebuch von Maria P., 14. Dezember:
Die Frau von dem Neger zeigt überall die Zeitung mit dem Foto ihrer
plattnasigen Tochter rum! Auf einmal will der Neger doch den
Mohren spielen. Denkt wohl, dass er dann auch in die Zeitung
kommt. Ich habe ihm gesagt, dass er den Mohren geben kann, wenn
er den Letten dazu bringt, den Herodes zu spielen. So muss man
das machen: Teilen und herrschen. Mit David bin ich noch einmal
durchgegangen, wie er in der Krippe liegen muss. Als Belohnung
habe ich ihm von den Süßigkeiten gegeben, die die Caritas für die
Ausländerbrut abgegeben hat. Das Negerblag hat das mitgekriegt
und sofort dem Sohn vom Letten erzählt.
Tagebuch von Maria P., 15. Dezember:
Ich weiß nicht, wie es der Neger geschafft hat, den Letten zu
bequatschen, jedenfalls spielt er den Herodes. Heute Abend werden
wir die Herbergssuche proben. Die Kulissen sind im Speisesaal
aufgebaut. Die Maria ist eine Katastrophe: eine von den
Pakistainifrauen, glotzt nur in die Gegend und behält keinen Text.
Der Joseph ist Armenier und erzählt permanent, dass sie bei sich
Weihnachten eigentlich erst am 6. Januar feiern.
Tagebuch von Maria P., 15. Dezember:
Herodes war während der Probe völlig besoffen, weil der Neger ihn
mit einer Flasche Schnaps dazu gebracht hat, die Rolle zu
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übernehmen. Zum Glück haben die Wolgadeutschen mir geholfen,
ihn rauszuschmeißen. Sein Sohn, der Juris, hat dann draußen
rumkrakeelt, dass ich eine Nazifotze sei, so dass ich David die
ganze Zeit die Ohren zuhalten musste, damit er sich das Wort nicht
merkt. Er liegt noch etwas unruhig in der Krippe. Ich muss ihm noch
beibringen, dass das alles nur ein Spiel ist und der böse Herodes
ihm nichts tut, wenn er mit seinem Messer kommt.
Tagebuch von Maria P., 19. Dezember, vierter Advent
Durchlaufprobe, kaum Probleme. Selbst Maria hat sich bemüht,
ihren Text zu lernen. Es klingt zwar schaurig, ist aber nicht mehr zu
ändern. Die tamilischen Hirten machen ihre Sache gut. Nur die
Heiligen drei Könige sind schlecht. Der Neger spricht ein
fürchterliches Kauderwelsch. Der Russe, der den Balthasar spielt, ist
auch nicht besser. Die Szene auf Herodes' Schloss muss ich
ändern, weil es da auf den Text ankommt und der Lette kein
Deutsch lernen will. Ich denke, dass ich mich da irgendwie selbst als
Erzählerin einbaue: mit einer Bibel auf dem Schoß auf der rechten
Bühnenseite oder so. Da hätte David aus seiner Krippe auch
Blickkontakt zu mir. Beim Abendessen hat er »Nazifotze« zu mir
gesagt. Juris, der Sohn des Letten, hat ihm das Wort beigebracht.
Ab sofort tausche ich dem Letten keinen einzigen Gutschein mehr.
Tagebuch von Maria P., 20. Dezember
Herodes war wieder besoffen und hat mit dem Messer das ganze
Betttuch aufgeschlitzt. Ich habe ihm gesagt, dass er die Rolle
ordentlich spielen soll. Er hat rumgebrüllt, dass ich eine Betrügerin
wäre, und er es mir schon zeigen würde, wenn er erst einmal die
deutsche Staatsbürgerschaft hätte. Ich hab zurückgebrüllt, dass
Deutsche nicht saufen und ich dafür sorge, dass sie alle nach
Lettland zurückkommen, wenn er seine Rolle nicht ordentlich spielt.
Ich weiß nicht, was Juris ihm übersetzt hat, aber danach war er
jedenfalls ruhig. David saß ganz verschreckt in seiner Krippe und hat
uns nur angestarrt.
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Tagebuch von Maria P., 23. Dezember
Morgen ist die Aufführung. Alle sind aufgeregt. Bei der letzten Probe
war der Lette zwar nüchtern, aber er hat geglotzt, als würde er mir
am liebsten das Messer in den Bauch rammen; sein Sohn, der Juris,
hat ihm das Messer Gottseidank abgenommen, aber dann böse zu
mir gemeint, dass ich mich in Acht nehmen soll!. David ist unruhig.
Lampenfieber, nehme ich an. Ich werde noch einmal mit ihm üben,
dass er ganz ruhig in der Krippe liegt.
Nord-Anzeiger, 24. Dezember
Grauenhafter Mord im Durchgangsheim
In der Nacht zu Heiligabend wurde der dreijährige Sohn der
sozialpädagogischen Betreuerin Maria P. im Durchgangsheim am
Erlengrund gegen 22 Uhr grausam mit vierzehn Messerstichen in
der Krippe ermordet, in der er bei einem Krippenspiel das Jesuskind
spielen sollte (wir berichteten). Wie seine Mutter, die 34jährige
sozialpädagogische Betreuerin Maria P. erklärte, wollte sie ihren
Sohn in der Kulisse des Krippenspiels übernachten lassen, um ihn
an seine Rolle zu gewöhnen.
Ein zunächst der Tat verdächtiger 48jähriger lettischer Aussiedler
wurde nach ersten Befragungen entlastet, da er ein Alibi nachweisen
konnte. Sein sechsjähriger Sohn Juris wird derzeit noch von der
Polizei gesucht als "wichtiger Zeuge" gesucht. Sein Vater erklärte
unserem Reporter: »Juris war so stolz, dass ich die Rolle des
Herodes spielen durfte. Ich bin sehr traurig darüber, was geschehen
ist, denn Juris hat immer gesagt, dass sei kleine David sein bester
Freund sei."
*** E N D E ***
Karr & Wehner, geboren 1955 und 1949 in Saalfeld und Werdohl, leben im Ruhrgebiet und schrieben bisher zahlreiche Storys, Hörspiele und die »Gonzo«-Thriller »Geierfrühling«, »Rattensommer«, »Hühnerherbst« und »Bullenwinter«. 1996 erhielten sie den Friedrich-Glauser-Preis für den besten Krimi des Jahres und 2000 den Literaturpreis Ruhrgebiet. Zuletzt erschien von Ihnen der Jugendkrimi »Schneekönige« (2011).www.karr-wehner.de
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