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AUFRUF ZUR MITARBEIT Leben im Kaiserreich – Heftbetreuer: Steffen Barth / Dietmar von Reeken Die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs nimmt im Ge- schichtsunterricht noch immer einen prominenten Platz ein, was sich sowohl an dem Stellenwert in den Curricula als auch in den Schulbüchern ablesen lässt. Charakteristisch für die Darstellung des Themas in Schulbüchern und damit in gewisser Hinsicht wohl auch für die Behandlung des Themas im Unterricht ist eine Fo- kussierung auf kanonische Quellen und feste Themenfelder. Bei- spiele hierfür sind etwa Bismarcks Kampf gegen die katholische Kirche und die Sozialdemokratie oder das Thema Militarismus und Nationalismus, die als Standardthemen in vielen Schulbü- chern in sehr ähnlicher Weise abgebildet werden. Zugleich liegt den Kapiteln auch in den aktuellen Schulbüchern häufig eine Ba- siserzählung zugrunde, die das Kaiserreich sehr stark und ein- seitig als Vorgeschichte der scheiternden Weimarer Republik und des Nationalsozialismus präsentiert. Angelehnt ist diese Darstellung an die Sonderwegs-These, die Hans-Ulrich Wehler in den 1970er-Jahren entwickelte. Von Wehler wurde das politisch und gesellschaftlich autoritäre Kaiserreich in erster Linie als Keimzelle der Entwicklung hin zum Faschismus in- terpretiert. Die jüngere Forschung betont im Gegensatz dazu viel stärker die Modernität des Kaiserreiches auf gesellschaftlicher, kultureller und ökonomischer Ebene. Begriffe wie Transformation, Dynamik, Wandel oder Geschwindigkeit werden immer häufiger verwendet, um die Gesellschaft und das Leben im Kaiserreich zu charakterisieren – was die Behandlung im Unterricht, gerade in der Sekundarstufe I, allerdings nicht leichter macht. Die Zielset- zung des Heftes besteht deshalb darin, im Anschluss an die jün- gere Forschung eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs im Geschichtsunterricht zu ermöglichen. Dazu soll der Fokus des Heftes auf dem Leben im Kaiserreich liegen, womit vor allem der Alltag, aber auch kul- turelle, gesellschaftliche, ökonomische und politische Rahmen- bedingungen in den Blick kommen sollen. Didaktische Schwerpunkte Die Beiträge dieses Heftes sollten zum einen neue Aspekte des Lebens und der Gesellschaft im Kaiserreich an anschaulichen Beispielen in den Blick nehmen und zum anderen bekannte As- pekte mit neuen Quellen oder innovativen methodischen Arran- gements für die Unterrichtspraxis erschließen. Das Ziel des Heftes soll darin bestehen, kürzere Beiträge zu versammeln, die sich in erster Linie an die Sekundarstufe I richten. Zum einen wären Beiträge interessant, die einen Blick in die Lebenswelt der Menschen im Kaiserreich ermöglichen, um den Lernenden einen Eindruck vom Denken und Handeln der Men- schen zu verschaffen. Hier wäre in besonderem Maße zu überle- gen, inwiefern zeittypische Medien eingesetzt werden könnten, um dies abzubilden. Ein weiterer Schwerpunkt sollte die Frage nach den Charak- teristika der Gesellschaft im Kaiserreich darstellen. So sollte bei- spielsweise die häufig zu beobachtende Darstellung der Gesell- schaft des Kaiserreichs als starrer Klassengesellschaft, meist prä- sentiert in dreiteiligen Schichtenschemata ohne Dynamik und vertikale Mobilität, mit anschaulichen Quellen einem kritischen Blick unterzogen werden. Außerdem sollten Dynamik und Wan- del im Kaiserreich an Fallbeispielen, wie etwa dem Entstehen von Kaufhäusern und der Herausbildung einer Konsumgesellschaft, abgebildet werden. Bei der Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich bietet sich aber nicht zuletzt auch immer der Vergleich und darüber auch der Gegenwartsbezug an. Auf der einen Seite ist uns das Kaiser- reich als vergangene Epoche fremd, auf der anderen Seite las- sen sich viele Aspekte finden, die unserer Gegenwart durchaus ähnlich sind. Hier wäre beispielsweise an Themen wie Migration, Umgang mit Minderheiten und an Fragen der nationalen Identi- tät zu denken, die gerade in den letzten Jahren wieder an Bedeu- tung gewonnen haben. Darüber hinaus zeigt sich aber auch, dass Phänomene, Probleme und Prozesse, die sich bereits im Kaiser- reich vollzogen haben, heute in ähnlicher Weise zu beobachten sind. Hier wäre etwa an den Wandel technischer und wirtschaft- licher Grundlagen zu denken, die Gesellschaft, das Denken und Handeln der Menschen veränderten. Während für diesen Wandel im 19. Jahrhundert Eisenbahn und Elektrizität maßgeblich waren, sind es heute beispielsweise das Internet oder das Smartphone. Wie erlebten Menschen solche Prozesse? Was bedeutete es für ihr Selbstverständnis, was für ihr Miteinander? Welche Folgen hat technische Entwicklung für die Umwelt? Wie stehen wir als Men- schen dazu? Solche Fragen – Schlüsselprobleme im Sinne Klaf- kis – sind gegenwärtig und angesichts der Globalisierung sowie des technischen Fortschritts auch zukünftig virulent, weshalb ein Blick auf solche Phänomene im Kaiserreich zum besseren Ver- stehen und zur Einordnung von ähnlichen Phänomenen in der Gegenwart führen kann. Mögliche Themen für die Sekundarstufe I Starre Klassengesellschaft – Keine gesellschaftliche Dynamik im Kaiserreich? (kritischer Umgang mit Schichtenschemata) Neurasthenie, ADHS und Burnout – Belastungen in der Mo- derne (medizinische Diagnosen als Zeitdiagnosen – Schwer- punkt auf schriftlichen Quellen) • Urbanisierung und gesellschaftlicher Wandel – Wie verän- dern Architektur und Städtebau Mensch und Gesellschaft? (an einem konkreten lokalen Fallbeispiel) „Fortschritt ruft der Menschengeist …“ – Wahrnehmung von technischen Entwicklungen im Kaiserreich und in der Gegen- wart in vergleichender Perspektive • Der Mensch des 19. Jahrhunderts – Wandel von Lebens- formen, Rollenverständnissen und Identitätskonstruktionen im Spiegel von Quellen (Ego-Dokumente, Werbung, Roma- ne etc.) • Geschlechterverhältnisse im Vergleich mit anderen Ländern (nach der These Ute Planerts war das Kaiserreich bei den Frauenrechten fortschrittlicher als z. B. Frankreich) Untertanen in Uniform (Wehrdiensterfahrungen und Militaris- mus z. B. im Vergleich unterschiedlicher Schichten; Arbeit mit biographischen Beispielen) Stehen alle stramm? Pazifismus im Kaiserreich (Motivationen und Ideen, z. B. anhand des weitgehend in Vergessenheit geratenen Friedensnobelpreisträgers von 1911 Alfred Her- mann Fried) • Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft – Binnenwande- rung, Auswanderung, Rückwanderung (Arbeit mit Statistiken, Karten oder ausgewählten Biographien) Gesellschaft des Kaiserreichs im Spiegel von Karikaturen • Kolonie und Metropole – Wahrnehmung und Wirkung des Kolonialismus in der deutschen Gesellschaft Skandale in der Zeitung als Seismographen politischer Kom- munikation (exemplarisch an einem Skandal) Mögliche Themen für die Sekundarstufe II Die Gesellschaft im Kaiserreich im Schulbuch – Spiegelbild der Moderne oder Grundlage des Nationalsozialismus? (Ana- lyse von Schulbuchkapiteln oder Historikerurteilen) • Das Kaiserreich in der Geschichtskultur (bspw. Film „Das weiße Band“ oder „Majestät brauchen Sonne“) Frist für das Einreichen von Beitrags-Exposés ist der 15. 09. 2019 Bitte berücksichtigen Sie auch die ausführlichere Ausschreibung unter: http://www.geschichte-lernen.de Interessentinnen und Interessenten wenden sich bitte an die Redaktion: Miriam Stude, Tel.: 0511/40004-429, E-Mail: [email protected]

517190-000 Gle190 U2.indd [CrossTalk] · Kirche und die Sozialdemokratie oder das Thema Militarismus und Nationalismus, die als Standardthemen in vielen Schulbü-chern in sehr ähnlicher

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Page 1: 517190-000 Gle190 U2.indd [CrossTalk] · Kirche und die Sozialdemokratie oder das Thema Militarismus und Nationalismus, die als Standardthemen in vielen Schulbü-chern in sehr ähnlicher

A U F R U F Z U R M I T A R B E I T

Leben im Kaiserreich – Heftbetreuer: Steffen Barth / Dietmar von Reeken

Die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs nimmt im Ge-

schichtsunterricht noch immer einen prominenten Platz ein, was

sich sowohl an dem Stellenwert in den Curricula als auch in den

Schulbüchern ablesen lässt. Charakteristisch für die Darstellung

des Themas in Schulbüchern und damit in gewisser Hinsicht wohl

auch für die Behandlung des Themas im Unterricht ist eine Fo-

kussierung auf kanonische Quellen und feste Themenfelder. Bei-

spiele hierfür sind etwa Bismarcks Kampf gegen die katholische

Kirche und die Sozialdemokratie oder das Thema Militarismus

und Nationalismus, die als Standardthemen in vielen Schulbü-

chern in sehr ähnlicher Weise abgebildet werden. Zugleich liegt

den Kapiteln auch in den aktuellen Schulbüchern häufi g eine Ba-

siserzählung zugrunde, die das Kaiserreich sehr stark und ein-

seitig als Vorgeschichte der scheiternden Weimarer Republik und

des Nationalsozialismus präsentiert.

Angelehnt ist diese Darstellung an die Sonderwegs-These, die

Hans-Ulrich Wehler in den 1970er-Jahren entwickelte. Von Wehler

wurde das politisch und gesellschaftlich autoritäre Kaiserreich in

erster Linie als Keimzelle der Entwicklung hin zum Faschismus in-

terpretiert. Die jüngere Forschung betont im Gegensatz dazu viel

stärker die Modernität des Kaiserreiches auf gesellschaftlicher,

kultureller und ökonomischer Ebene. Begriffe wie Transformation,

Dynamik, Wandel oder Geschwindigkeit werden immer häufi ger

verwendet, um die Gesellschaft und das Leben im Kaiserreich zu

charakterisieren – was die Behandlung im Unterricht, gerade in

der Sekundarstufe I, allerdings nicht leichter macht. Die Zielset-

zung des Heftes besteht deshalb darin, im Anschluss an die jün-

gere Forschung eine differenzierte Auseinandersetzung mit der

Geschichte des Deutschen Kaiserreichs im Geschichtsunterricht

zu ermöglichen. Dazu soll der Fokus des Heftes auf dem Leben

im Kaiserreich liegen, womit vor allem der Alltag, aber auch kul-

turelle, gesellschaftliche, ökonomische und politische Rahmen-

bedingungen in den Blick kommen sollen.

Didaktische SchwerpunkteDie Beiträge dieses Heftes sollten zum einen neue Aspekte des

Lebens und der Gesellschaft im Kaiserreich an anschaulichen

Beispielen in den Blick nehmen und zum anderen bekannte As-

pekte mit neuen Quellen oder innovativen methodischen Arran-

gements für die Unterrichtspraxis erschließen. Das Ziel des Heftes

soll darin bestehen, kürzere Beiträge zu versammeln, die sich in

erster Linie an die Sekundarstufe I richten.

Zum einen wären Beiträge interessant, die einen Blick in die

Lebenswelt der Menschen im Kaiserreich ermöglichen, um den

Lernenden einen Eindruck vom Denken und Handeln der Men-

schen zu verschaffen. Hier wäre in besonderem Maße zu überle-

gen, inwiefern zeittypische Medien eingesetzt werden könnten,

um dies abzubilden.

Ein weiterer Schwerpunkt sollte die Frage nach den Charak-

teristika der Gesellschaft im Kaiserreich darstellen. So sollte bei-

spielsweise die häufi g zu beobachtende Darstellung der Gesell-

schaft des Kaiserreichs als starrer Klassengesellschaft, meist prä-

sentiert in dreiteiligen Schichtenschemata ohne Dynamik und

vertikale Mobilität, mit anschaulichen Quellen einem kritischen

Blick unterzogen werden. Außerdem sollten Dynamik und Wan-

del im Kaiserreich an Fallbeispielen, wie etwa dem Entstehen von

Kaufhäusern und der Herausbildung einer Konsumgesellschaft,

abgebildet werden.

Bei der Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich bietet sich

aber nicht zuletzt auch immer der Vergleich und darüber auch

der Gegenwartsbezug an. Auf der einen Seite ist uns das Kaiser-

reich als vergangene Epoche fremd, auf der anderen Seite las-

sen sich viele Aspekte fi nden, die unserer Gegenwart durchaus

ähnlich sind. Hier wäre beispielsweise an Themen wie Migration,

Umgang mit Minderheiten und an Fragen der nationalen Identi-

tät zu denken, die gerade in den letzten Jahren wieder an Bedeu-

tung gewonnen haben. Darüber hinaus zeigt sich aber auch, dass

Phänomene, Probleme und Prozesse, die sich bereits im Kaiser-

reich vollzogen haben, heute in ähnlicher Weise zu beobachten

sind. Hier wäre etwa an den Wandel technischer und wirtschaft-

licher Grundlagen zu denken, die Gesellschaft, das Denken und

Handeln der Menschen veränderten. Während für diesen Wandel

im 19. Jahrhundert Eisenbahn und Elektrizität maßgeblich waren,

sind es heute beispielsweise das Internet oder das Smartphone.

Wie erlebten Menschen solche Prozesse? Was bedeutete es für

ihr Selbstverständnis, was für ihr Miteinander? Welche Folgen hat

technische Entwicklung für die Umwelt? Wie stehen wir als Men-

schen dazu? Solche Fragen – Schlüsselprobleme im Sinne Klaf-

kis – sind gegenwärtig und angesichts der Globalisierung sowie

des technischen Fortschritts auch zukünftig virulent, weshalb ein

Blick auf solche Phänomene im Kaiserreich zum besseren Ver-

stehen und zur Einordnung von ähnlichen Phänomenen in der

Gegenwart führen kann.

Mögliche Themen für die Sekundarstufe I• Starre Klassengesellschaft – Keine gesellschaftliche Dynamik

im Kaiserreich? (kritischer Umgang mit Schichtenschemata)

• Neurasthenie, ADHS und Burnout – Belastungen in der Mo-

derne (medizinische Diagnosen als Zeitdiagnosen – Schwer-

punkt auf schriftlichen Quellen)

• Urbanisierung und gesellschaftlicher Wandel – Wie verän-

dern Architektur und Städtebau Mensch und Gesellschaft?

(an einem konkreten lokalen Fallbeispiel)

• „Fortschritt ruft der Menschengeist …“ – Wahrnehmung von

technischen Entwicklungen im Kaiserreich und in der Gegen-

wart in vergleichender Perspektive

• Der Mensch des 19. Jahrhunderts – Wandel von Lebens-

formen, Rollenverständnissen und Identitätskonstruktionen

im Spiegel von Quellen (Ego-Dokumente, Werbung, Roma-

ne etc.)

• Geschlechterverhältnisse im Vergleich mit anderen Ländern

(nach der These Ute Planerts war das Kaiserreich bei den

Frauenrechten fortschrittlicher als z. B. Frankreich)

• Untertanen in Uniform (Wehrdiensterfahrungen und Militaris-

mus z. B. im Vergleich unterschiedlicher Schichten; Arbeit mit

biographischen Beispielen)

• Stehen alle stramm? Pazifi smus im Kaiserreich (Motivationen

und Ideen, z. B. anhand des weitgehend in Vergessenheit

geratenen Friedensnobelpreisträgers von 1911 Alfred Her-

mann Fried)

• Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft – Binnenwande-

rung, Auswanderung, Rückwanderung (Arbeit mit Statistiken,

Karten oder ausgewählten Biographien)

• Gesellschaft des Kaiserreichs im Spiegel von Karikaturen

• Kolonie und Metropole – Wahrnehmung und Wirkung des

Kolonialismus in der deutschen Gesellschaft

• Skandale in der Zeitung als Seismographen politischer Kom-

munikation (exemplarisch an einem Skandal)

Mögliche Themen für die Sekundarstufe II• Die Gesellschaft im Kaiserreich im Schulbuch – Spiegelbild

der Moderne oder Grundlage des Nationalsozialismus? (Ana-

lyse von Schulbuchkapiteln oder Historikerurteilen)

• Das Kaiserreich in der Geschichtskultur (bspw. Film „Das

weiße Band“ oder „Majestät brauchen Sonne“)

Frist für das Einreichen von Beitrags-Exposés ist der 15. 09. 2019

Bitte berücksichtigen Sie auch die ausführlichere Ausschreibung unter: http://www.geschichte-lernen.de

Interessentinnen und Interessenten wenden sich bitte an die Redaktion:

Miriam Stude, Tel.: 0511/40004-429, E-Mail: [email protected]