2
'S / 58 58 Sonntag, 18. April IHM) Xr.2ä2 (tVrimuHgata Kr. 100) WOCHENENDE 91cuc ÄJcr Seitimg Chillies Chaplin, der «in )(>;. April arhl7i(i Jaliie all wild, lebl. svll er die Vereinigten Staaten verlassen hat. In der Schweiz. Dus Bild rechts zclijt ihn im Garten seiner Villa bei Vevey. Links Chaplin in der Rolle Hitlers In «The Great Dictator». Die Gabe, auf kindliche Weise zu sehen Zum 80. Geburtstag von Charles Spencer Chaplin am 16. April Von Marlin S ( h 1 a p |>; n o Charlot: Dor kleine schmächtige Mann in der zu weiten Hose, in den zu großen Schuhen; sein Veston zu eng und dennoch zugeknöpft, und darunter noch ein Gilet, aus dem die Krawatte aufsteigt, in einem großen Knoten geschlungen. Auf dem Kopf eine Melone, zu klein auch sie, und in der rechten Hand ein Bambusstöckchen. Das Haar ist lang und gewellt, und auf der Oberlippe sitzt ein Bürstenschnäuzchen. i Charles Chaplin hat die Silhouette der Figur, die ihn, berühmt in aller Welt gemacht hat, nicht erfunden, Aber er hat die Figur zum Typ gestaltet, und das ist es, was zahlt. Weder die Figur noch die Kleidung waren mit einem Mal da. Chaplin hat sie mit dem Instink t des großen Clowns geschaffen. Der Einfluß des tradi- tionellen Repertoires des englischen Music-Hall ist darin. Doch Charlot hat seine Wurzeln nicht nur dort. «Er ist die Synthese vieler Engländer, die ich in London gesehen habe, als ich dort lebte», sagte Chaplin darüber. Jedoch ist Charlot kein Dandy mehr, er ist dessen Parodie, seine Karikatur. Der Dandy als Vagabund, dor Vagabund als Dandy: Das ist, von seiner äußeren Erscheinung her, Charlot. Doch nicht in dieser Karikatur ist die psychologische Bedeutung des Tramps festzu- halten. Das Kostüm sagt mehr aus. «Das Kostüm hilft mir, meine Auffassung vom Mann der Straße auszudrücken», gestand Chaplin einmal von Charlot. «Von fast jedem beliebigen Menschen, von mir selbst. Die Melone, zu klein, ist die Bemühung, würdig aus- zusehen. Der Schnurrbart ist Eitelkeit. Der enge und zugeknöpfte Veston, das Stöckchen und alle seine Manieren wollen den Ein- druck von Galanterie, von Brio und Draufgängertum erwecken. Er gibt sich Mühe, vor der Welt tapfer zu sein, er blufft, und er weiß il.is Er weiß es so gut, daß er sich über sich selber lustig machen und ein wenig sich selbst bemitleiden kann.» Charlot hat die Welt gerührt und lachen gemacht, und sie lacht noch heute, ist noch heute gerührt. Es gibt niemand, der Charlot nicht sogleich verstanden hätte und der ihm mit dem Lachen nicht zugleich auch sein Herz geschenkt hätte. Keiner, der Charlot Je auf der Leinwand gesehen hat, hat ihm seine Sympathie versagt. Nur die geistigen Klcinhauslor haben ihn abgelehnt. Was sollte sie dor kleine schmächtige Kerl nicht ärgern, der von den Tücken der Menschen und dor Hinterlist der Umstände umge- trieben wird und über beide dennoch triumphiert. Charlot ist ein Mythos, der sich ohne intellektuelle Umwege jedermann auf- schließt. Aber die Gestalt Chariots ist vielschichtiger und schwieriger, als diese Sympathie sie versteht. Charlot in seiner Hintergründig- keit und seinen Widersprüchen, in seinem Herkommen aus den Traditionen des Humors und des Geistes und seiner kritischen Be- deutung für die Wirklichkeit unseres Zeitalters zu begreifen, haben sich die besten Köpfe unseres Jahrhunderts angestrengt. B. Shaws bissiges Bonmot, daß Chaplin das einzige Genie sei, das der Film hervorgebracht habe, hat seine Runde gemacht, vor allem bei jenen, für die Film ein Tabu ihrer Bildung ist. Es war als Reverenz vor Chaplin gemeint; als Hieb gegen den Film aber hat es keinen Wert. Denn Chaplin wäre zu dem nicht geworden, was er Ist, hätte er den Film nicht zu seiner Verfügung gehabt. Gewiß, ein großer Clown wäre er auch in der Manege geworden; aber mehr «77ie Goldrush 1925 gedreht, /.sl zu einem de/ berühmtesten Filme Chaplins geworden! Charlot entlarvt, wie alles nach dem Golde drängt. nicht. Und möglicherweise, hätte sein Genio sich zum Schriftsteller gebildet. Aber darüber zu werweißen ist müßig. In seinem Buch «Chaplin e la critica» (1955) hat Glauco Vlozzi weit über tausend Publikationen ro/enslcrt, die bis dahin über ihn erschienen waren. Darunter befinden sich i-ind viorzig Biographien und Monographien. Seither dürfte* die Zahl der Büclior, der Essays, Artikel und Kritiken noch welter angewachsen sein, Es gibt kaum einen anderen Künstler unserer Zeit, der so wio Chaplin die Geister herausgefordert hat, sich mit ihm auseinanderzusetzen und von Ihm das Bild zu entwerfen, das er In ihnen bewirkt hat. Kaum ein Schriftsteller von Rang, in welcher Sprache immer er schreibt, hat auf ein Wort über Chaplin verzichtet. Untor den Großen des Films fehlen wenige, die ihm nicht gehuldigt hätten, und dlo Schar dor Kritiker, dlo in sein Work zu deuten sich auf- gemacht haben, ist seit den Tagen von Louis Delluc schier unüber- blickbar geworden. Ucber Chaplin schreiben, limite über ihn schreiben, ist, mißt man das, was man von ihm sagen kann, an dem, was bereits gesagt worden ist, schwierig. Es scheint, daß alles, was gesagt werden kann, gesagt worden ist. In tiefschürfenden Studien, in denen die Vielfalt der Perspektiven zu Hause ist, die sein Werk eröffnet. Was kann darum der Tag, an dem Chaplin sein achtzig- stes Lebensjahr vollendet, anderes sein als der Anlaß, den Ent- wurf des Menschen, der sein Werk ist, in knappesten Strichen noch einmal zu skizzleren? Dieses Werk, von dem man meint, es sei, weit die Figur dos Charlot und seine Metamorphosen so ein- prägsam sind, so leicht überschaubar. Während es doch so reich und so vieldeutig ist. Chaplin hat sich in seinen Filmen zu unserer Zeit geäußert: zu diesem Jahrhundert der Revolutionen und de r Kriege, der Technik und der Massen, der sozialen Wehen und vor allem der Schuld, die der Mensch dem Menschen angetan hat. Abor scino Filme wurzeln geistig in einem älteren Grund als nur in dor Wirklichkeit unseres Jahrhunderts . Charlot, der Tramp, ist keine Figur nur der ersten Jahrzehnte nach 1900 oder von heute. In ihm setzt sich die Tradition jüdischer Kultur fort. In dieser gründet Chaplin, obgleich er sich lange Jahre hindurch nicht zu seiner Herkunft bekannt hat. In Charlot hat Ahasver, de r irrende Jude, neue. Gestalt angenommen. Der Paria, der jüdische Proletarier Charlot, hat Züge, wie sie aus der jüdi- schen Literatur vertraut sind. Als de r immer eine, de r er ist, wechselt seine Physiognomie ständig. Er ist der Luftmensch, das heißt der Entwurzelte, der sich mit allerlei Handreichungen und oft listig durchs Leben schlagt. Ist Schlehmil, das heißt der Ungeschickte und Unglückliche, der, obgleich er unschuldig ist, alles Uebel auf sich zieht und immer die Schläge erhält. Ist der Schnorrer, der um Barmherzigkeit redet, als wäre sie sein Recht, und mit seinem Witz für sie zahlt. Diese Verflechtung der Persönlichkeit Chariots mit der jüdischen Kultur, mehr noch: mit der jüdischen Existenz, ihre Haltung gegen- über einer dem Judentum feindlichen Welti die Haltung der Demut unJ selbst der Feigheit auf der einen, de r Würde und, oft, der Heftigkeit und Gewalt auf der anderen Seite; die Haltung, die zuletzt zur Resignation führt, wie sie als typisch jüdisch gilt, oder aber zu jenem Optimismus, de r als das Wesen de r jüdi- schen Moral gilt und aus dem Glauben stammt, daß de r Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist: das alles ist schon früh erkannt worden, zuerst von den Franzosen. Jerome und Jean Tharaud wiesen als erste, im Jahre 1927, in «Charlie Chaplin ou l'esprit du ghetto» auf diese Zusammenhänge hin, auf die Identität der Figur Chariots mit den Figuren des östlichen jüdischen Theaters und der Literatur. Der italienische Dichter Giuseppe Ungaretti sah in ihm die Inkarnation aller Lumpensammler der Welt, und Max Jacob den «typischen jüdischen Schneider aus Polen». Chaplin selbst hat diese Sicht bestätigt, als er in «The Great Dictator» aus Charlot einen jüdischen Barbier machte, de r im Ghetto wohnt. Es gibt über Chaplin antisemitisch e Urteile, etwa die üble Polemik von Maurice Bardische und Robert Brasilach, und selbst- verständlich im Deutschland Hitlers. Aber es gibt vor allem doch den hohen Respekt vor der geistigen Welt des Judentums, die in Chaplin eine geniale Inkarnation erfahren hat. Elie Faure ver- folgte, in seinem Buch «L'äme juive» (1934), die Spur jüdischer Moralität und Geistigkeit von Maimonides bis Chaplin. Diesen erkannte er als eingeschlossen in die Einsamkeit und in die Ver- zweiflung und daher als einen Träumer und Idealisten, der über die Revolution nachsinnt, welche die Welt zum Guten verändern soll. Und er stellte ihn so in eine Reihe mit den großen Juden der europäischen Geistesgeschichte, mit Montaigne und Spinoza, Bergson und Marx, Freud und Einstein. Elie Faure hat, wenn nicht als erster und einziger, so doch ' in gültiger Analyse damit die Linien nachgezogen, denen Chaplins Weg gefolgt ist und die seine Position umreißen, von welcher aus er die Gegenwart angreift. Schon früh ist aufgefallen, daß der Humor Chaplins weit weni- ger angelsächsisch ist, als seine Herkunft aus dem englischen Music-Hall vermuten läßt. Mit ler Feindseligkeit de r Welt kon- frontiert, behandelt er diese mit Ironie und Verleugnung) was nicht heißt, daß er, wie manche Franzosen seit Louis Delluc be- haupten, lateinischen Geistes ist. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, Charlot sei nur gut. Er ist gleichzeitig sentimental und gleich- gültig, diebisch und ehrlich, ängstlich und tapfer, schlau und naiv, fröhlich und traurig, trunken und nüchtern. Er hat alle Bösartig- keiten des Schwachen in sich. Im Grunde ist er ein Kind: und zum Kind gehört es, daß es kein Mitleid hat. Eisenstein hat Charlot einen Wolf unter Wölfen geheißen und die Frage gestellt, ob Chaplin ein grausamer Mensch sei. Denn er, der «fünf Sechstel der Erdkugel dazu brachte, über das Schicksal eines verlassenen Kindes zu weinen», hat gesagt, daß er Kinder nicht liebe. «Wer liebt denn Kinder nicht in der Regel?» fragt Eisenstein. «Nur... die Kinder selbst.» Es wundert nicht, daß sich die Psychoanalytiker mit Chaplin beschäftigt haben und bestätigt finden, was ihrer Sicht gemäß ist: das Trauma der schweren Jugend in London, des frühen Verlustes des Vaters, der trunksüchtig war, der Liebesbindung an die Mutter, die in geistige Umnachtung verfiel; die neurotische Haßliebe gegenüber den Kindern, zu denen er selbst immer noch gehören wollte, weil er die harte Arbeit und die bittere Einsam- keit seiner Kindheit vergolten haben wollte; seine Hinneigung zu mütterlichen Frauen, wie sie sich vor allem in Edna Purviance in seinen Filmen wie in seinem Leben inkarnierten, weil er deren Liebe suchte; und zugleich die Hinneigung zu Kindfrauen, denen er sich vorab in seinem privaten Leben für viele Puritaner Skandal genug verband und an denen er sich für seine Ver- zweiflung rachen konnte. Diese psychoanalytische Durchdringung Neue Zürcher Zeitung vom 13.04.1969

58 · 2017. 3. 8. · 'S / 58 58 Sonntag, 18.April IHM) Xr.2ä2 (tVrimuHgata Kr. 100) WOCHENENDE 91cuc ÄJcr Seitimg Chillies Chaplin, der «in)(>;. April arhl7i(i Jaliie all wild,

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 58 · 2017. 3. 8. · 'S / 58 58 Sonntag, 18.April IHM) Xr.2ä2 (tVrimuHgata Kr. 100) WOCHENENDE 91cuc ÄJcr Seitimg Chillies Chaplin, der «in)(>;. April arhl7i(i Jaliie all wild,

'S / 5858 Sonntag, 18. April IHM) Xr.2ä2 (tVrimuHgata Kr. 100) WOCHENENDE 91cuc ÄJcr Seitimg

Chillies Chaplin, der «in )(>;. April arhl7i(i Jaliie all wild, lebl. svll er die Vereinigten Staaten verlassen hat. In der Schweiz. Dus Bild rechts zclijt ihnim Garten seiner Villa bei Vevey. Links Chaplin in der Rolle Hitlers In «The Great Dictator».

Die Gabe, auf kindliche Weise zu sehenZum 80. Geburtstag von Charles Spencer Chaplin am 16. April

Von Marlin S ( h 1 a p |>; n o

Charlot: Dor kleine schmächtige Mann in der zu weiten Hose,

in den zu großen Schuhen; sein Veston zu eng und dennochzugeknöpft, und darunter noch ein Gilet, aus dem die Krawatteaufsteigt, in einem großen Knoten geschlungen. Auf dem Kopf

eine Melone, zu klein auch sie, und in der rechten Hand einBambusstöckchen. Das Haar ist lang und gewellt, und auf derOberlippe sitzt ein Bürstenschnäuzchen.

i Charles Chaplin hat die Silhouette der Figur, die ihn, berühmtin aller Welt gemacht hat, nicht erfunden, Aber er hat die Figur

zum Typ gestaltet, und das ist es, was zahlt. Weder die Figur

noch die Kleidung waren mit einem Mal da. Chaplin hat sie mitdem Instinkt des großen Clowns geschaffen. Der Einfluß des tradi-tionellen Repertoires des englischen Music-Hall ist darin. DochCharlot hat seine Wurzeln nicht nur dort. «Er ist die Synthese

vieler Engländer, die ich in London gesehen habe, als ich dortlebte», sagte Chaplin darüber. Jedoch ist Charlot kein Dandymehr, er ist dessen Parodie, seine Karikatur.

Der Dandy als Vagabund, dor Vagabund als Dandy: Das ist,von seiner äußeren Erscheinung her, Charlot. Doch nicht in dieserKarikatur ist die psychologische Bedeutung des Tramps festzu-halten. Das Kostüm sagt mehr aus. «Das Kostüm hilft mir, meineAuffassung vom Mann der Straße auszudrücken», gestand Chaplin

einmal von Charlot. «Von fast jedem beliebigen Menschen, vonmir selbst. Die Melone, zu klein, ist die Bemühung, würdig aus-zusehen. Der Schnurrbart ist Eitelkeit. Der enge und zugeknöpfteVeston, das Stöckchen und alle seine Manieren wollen den Ein-druck von Galanterie, von Brio und Draufgängertum erwecken.

Er gibt sich Mühe, vor der Welt tapfer zu sein, er blufft, und erweiß il.is Er weiß es so gut, daß er sich über sich selber lustig

machen und ein wenig sich selbst bemitleiden kann.»

Charlot hat die Welt gerührt und lachen gemacht, und sielacht noch heute, ist noch heute gerührt. Es gibt niemand, derCharlot nicht sogleich verstanden hätte und der ihm mit demLachen nicht zugleich auch sein Herz geschenkt hätte. Keiner, derCharlot Je auf der Leinwand gesehen hat, hat ihm seine Sympathieversagt. Nur die geistigen Klcinhauslor haben ihn abgelehnt. Wassollte sie dor kleine schmächtige Kerl nicht ärgern, der von denTücken der Menschen und dor Hinterlist der Umstände umge-

trieben wird und über beide dennoch triumphiert. Charlot ist einMythos, der sich ohne intellektuelle Umwege jedermann auf-schließt.

Aber die Gestalt Chariots ist vielschichtiger und schwieriger,

als diese Sympathie sie versteht. Charlot in seiner Hintergründig-

keit und seinen Widersprüchen, in seinem Herkommen aus denTraditionen des Humors und des Geistes und seiner kritischen Be-deutung für die Wirklichkeit unseres Zeitalters zu begreifen, habensich die besten Köpfe unseres Jahrhunderts angestrengt. B. Shawsbissiges Bonmot, daß Chaplin das einzige Genie sei, das der Filmhervorgebracht habe, hat seine Runde gemacht, vor allem beijenen, für die Film ein Tabu ihrer Bildung ist. Es war als Reverenzvor Chaplin gemeint; als Hieb gegen den Film aber hat es keinenWert. Denn Chaplin wäre zu dem nicht geworden, was er Ist,

hätte er den Film nicht zu seiner Verfügung gehabt. Gewiß, eingroßer Clown wäre er auch in der Manege geworden; aber mehr

«77ie Goldrush 1925 gedreht, /.sl zu einem de/ berühmtesten Filme Chaplins geworden! Charlot entlarvt, wie alles nach dem Golde drängt.

nicht. Und möglicherweise, hätte sein Genio sich zum Schriftstellergebildet. Aber darüber zu werweißen ist müßig.

In seinem Buch «Chaplin e la critica» (1955) hat Glauco Vlozziweit über tausend Publikationen ro/enslcrt, die bis dahin über ihnerschienen waren. Darunter befinden sich i-ind viorzig Biographien

und Monographien. Seither dürfte* die Zahl der Büclior, der Essays,

Artikel und Kritiken noch welter angewachsen sein, Es gibt kaumeinen anderen Künstler unserer Zeit, der so wio Chaplin dieGeister herausgefordert hat, sich mit ihm auseinanderzusetzenund von Ihm das Bild zu entwerfen, das er In ihnen bewirkt hat.Kaum ein Schriftsteller von Rang, in welcher Sprache immer erschreibt, hat auf ein Wort über Chaplin verzichtet. Untor denGroßen des Films fehlen wenige, die ihm nicht gehuldigt hätten,und dlo Schar dor Kritiker, dlo in sein Work zu deuten sich auf-gemacht haben, ist seit den Tagen von Louis Delluc schier unüber-blickbar geworden.

Ucber Chaplin schreiben, limite über ihn schreiben, ist, mißtman das, was man von ihm sagen kann, an dem, was bereitsgesagt worden ist, schwierig. Es scheint, daß alles, was gesagt

werden kann, gesagt worden ist. In tiefschürfenden Studien, indenen die Vielfalt der Perspektiven zu Hause ist, die sein Werkeröffnet. Was kann darum der Tag, an dem Chaplin sein achtzig-

stes Lebensjahr vollendet, anderes sein als der Anlaß, den Ent-wurf des Menschen, der sein Werk ist, in knappesten Strichennoch einmal zu skizzleren? Dieses Werk, von dem man meint, essei, weit die Figur dos Charlot und seine Metamorphosen so ein-prägsam sind, so leicht überschaubar. Während es doch so reichund so vieldeutig ist. Chaplin hat sich in seinen Filmen zu unsererZeit geäußert: zu diesem Jahrhundert der Revolutionen und d erKriege, der Technik und der Massen, der sozialen Wehen undvor allem der Schuld, die der Mensch dem Menschen angetan hat.Abor scino Filme wurzeln geistig in einem älteren Grund als nurin dor Wirklichkeit unseres Jahrhunderts.

Charlot, der Tramp, ist keine Figur nur der ersten Jahrzehntenach 1900 oder von heute. In ihm setzt sich die Tradition jüdischer

Kultur fort. In dieser gründet Chaplin, obgleich er sich lange Jahrehindurch nicht zu seiner Herkunft bekannt hat. In Charlot hatAhasver, d er irrende Jude, neue. Gestalt angenommen. Der Paria,

der jüdische Proletarier Charlot, hat Züge, wie sie aus der jüdi-schen Literatur vertraut sind. Als d er immer eine, d er er ist,wechselt seine Physiognomie ständig. Er ist der Luftmensch, dasheißt der Entwurzelte, der sich mit allerlei Handreichungen undoft listig durchs Leben schlagt. Ist Schlehmil, das heißt derUngeschickte und Unglückliche, der, obgleich er unschuldig ist,

alles Uebel auf sich zieht und immer die Schläge erhält. Ist derSchnorrer, der um Barmherzigkeit redet, als wäre sie sein Recht,

und mit seinem Witz für sie zahlt.

Diese Verflechtung der Persönlichkeit Chariots mit der jüdischenKultur, mehr noch: mit der jüdischen Existenz, ihre Haltung gegen-

über einer dem Judentum feindlichen Welti die Haltung derDemut unJ selbst der Feigheit auf der einen, d er Würde und, oft,

der Heftigkeit und Gewalt auf der anderen Seite; die Haltung, diezuletzt zur Resignation führt, wie sie als typisch jüdisch

gilt, oder aber zu jenem Optimismus, d er als das Wesen d er jüdi-

schen Moral gilt und aus dem Glauben stammt, daß d er Menschnach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist: das alles ist schon früherkannt worden, zuerst von den Franzosen. Jerome und JeanTharaud wiesen als erste, im Jahre 1927, in «Charlie Chaplin oul'esprit du ghetto» auf diese Zusammenhänge hin, auf die Identitätder Figur Chariots mit den Figuren des östlichen jüdischen Theatersund der Literatur. Der italienische Dichter Giuseppe Ungaretti sah

in ihm die Inkarnation aller Lumpensammler der Welt, und MaxJacob den «typischen jüdischen Schneider aus Polen». Chaplin

selbst hat diese Sicht bestätigt, als er in «The Great Dictator»aus Charlot einen jüdischen Barbier machte, d er im Ghetto wohnt.

Es gibt über Chaplin antisemitische Urteile, etwa die üblePolemik von Maurice Bardische und Robert Brasilach, und selbst-verständlich im Deutschland Hitlers. Aber es gibt vor allem dochden hohen Respekt vor der geistigen Welt des Judentums, die inChaplin eine geniale Inkarnation erfahren hat. Elie Faure ver-folgte, in seinem Buch «L'äme juive» (1934), die Spur jüdischer

Moralität und Geistigkeit von Maimonides bis Chaplin. Diesenerkannte er als eingeschlossen in die Einsamkeit und in die Ver-zweiflung und daher als einen Träumer und Idealisten, der überdie Revolution nachsinnt, welche die Welt zum Guten verändernsoll. Und er stellte ihn so in eine Reihe mit den großen Juden dereuropäischen Geistesgeschichte, mit Montaigne und Spinoza,Bergson und Marx, Freud und Einstein. Elie Faure hat, wenn nichtals erster und einziger, so doch ' in gültiger Analyse damit dieLinien nachgezogen, denen Chaplins Weg gefolgt ist und die seinePosition umreißen, von welcher aus er die Gegenwart angreift.

Schon früh ist aufgefallen, daß der Humor Chaplins weit weni-ger angelsächsisch ist, als seine Herkunft aus dem englischen

Music-Hall vermuten läßt. Mit ler Feindseligkeit d er Welt kon-frontiert, behandelt er diese mit Ironie und Verleugnung) wasnicht heißt, daß er, wie manche Franzosen seit Louis Delluc be-haupten, lateinischen Geistes ist. Es wäre ein Irrtum anzunehmen,

Charlot sei nur gut. Er ist gleichzeitig sentimental und gleich-gültig, diebisch und ehrlich, ängstlich und tapfer, schlau und naiv,

fröhlich und traurig, trunken und nüchtern. Er hat alle Bösartig-

keiten des Schwachen in sich. Im Grunde ist er ein Kind: und zumKind gehört es, daß es kein Mitleid hat. Eisenstein hat Charloteinen Wolf unter Wölfen geheißen und die Frage gestellt, obChaplin ein grausamer Mensch sei. Denn er, der «fünf Sechstelder Erdkugel dazu brachte, über das Schicksal eines verlassenenKindes zu weinen», hat gesagt, daß er Kinder nicht liebe. «Werliebt denn Kinder nicht in der Regel?» fragt Eisenstein. «Nur...die Kinder selbst.»

Es wundert nicht, daß sich die Psychoanalytiker mit Chaplinbeschäftigt haben und bestätigt finden, was ihrer Sicht gemäß

ist: das Trauma der schweren Jugend in London, des frühenVerlustes des Vaters, der trunksüchtig war, der Liebesbindung andie Mutter, die in geistige Umnachtung verfiel; die neurotischeHaßliebe gegenüber den Kindern, zu denen er selbst immer nochgehören wollte, weil er die harte Arbeit und die bittere Einsam-keit seiner Kindheit vergolten haben wollte; seine Hinneigung zumütterlichen Frauen, wie sie sich vor allem in Edna Purviance inseinen Filmen wie in seinem Leben inkarnierten, weil er derenLiebe suchte; und zugleich die Hinneigung zu Kindfrauen, denener sich vorab in seinem privaten Leben für viele PuritanerSkandal genug verband und an denen er sich für seine Ver-zweiflung rachen konnte. Diese psychoanalytische Durchdringung

Neue Zürcher Zeitung vom 13.04.1969

Page 2: 58 · 2017. 3. 8. · 'S / 58 58 Sonntag, 18.April IHM) Xr.2ä2 (tVrimuHgata Kr. 100) WOCHENENDE 91cuc ÄJcr Seitimg Chillies Chaplin, der «in)(>;. April arhl7i(i Jaliie all wild,

5leite <;3iird)er 3dtung

<;H) p)tlLCO iL-ßi / o9

WOCHENENDE Bonntfte, 13. April 1060 Nr. 223 (FcrnauHRftbo Nr. 100) 59

seines Werks und seiner Person greift hinter jenes auf diese undstellt Einsichten bereit, die sich auch sonst aus dem Werk ableitenlassen, ohne daß man dabei die Diskretion verletzen müßte.

Betrachtet man Chariots Verhältnis zur Frau, so zeigen sichMustor, die nicht allein in der Autobiographie Chaplins wurzeln,die ebensosehr In geistigen Traditionen angelegt sind und dasBiographische typisch und exemplarisch machen. Charlot ist auchDon QuijDti) insofern er nämlich einem Idealbild der Fraunachjagt, ständig und vergeblich) einer Frau, die ihn mütterlichschützt und die or zugleich ritterlich und platonisch umwirbt, beiihr die Sicherheit suchend, die er ihr selbst zu goben verspricht,

aber nicht geben kann. Edna Purviance war in den frühen FilmenChaplins Jenen, die die Figur des Charlot kreiert haben dieseFrau. Für sie ist er dos Leben zu opfern bereit, bereit, jedes andereOpfer zu biingen, wenn sich diese Liebe als unmöglich heraus-stellt! in «City Lights», in «Monsieur Verdoux», in «Limelight»bringt er diese Opfer.

Charlot ist aber nicht nur Don Quijote, er ist auch Don Juan:nicht durch Schönheit allerdings verführt er, sondern durch Seele.Verführerisch ist seine chevalereske Art, seine selbst heroischeArt, die freilich die des Ritters von der traurigen Gestalt ist, mitder er aber die Kindfrauen umgarnt. Diese Frauen tauchen in seinemWerk selbst Indessen erst spät auf, zum erstenmal in «MonsieurVerdoux». Alle diese Kindfrauen haben ihn (in seinem persön-

lichen Leben) betrogen, enttäuscht (ausgenommen PauletteGoddard und Oona O'Neill). Doshalb wird Don Juan zum Barbe-Bleue. Verdoux, In dem Chaplin zum erstenmal sein natürlichesGesicht, ohne die Maske Chariots, zeigt, ist also nicht, wie mangemeint hat, eine neue Figur. Vielmehr ist er eine Aussonderung

des teuflischen Doubles von Charlot, das, wie der Jüngste Inter-pret Chaplins, Marcel Martin, richtig anmerkt, schon in seinentruhen Filmen aufscheint, verborgen zwar, aber doch greifbar inden Velleitdten der Zerstörung und der Mordlust, die Charlotimmer wieder begleiten. Verdoux, historisch eine Metapher fürLandru, autobiographisch eine Befreiung, ist künstlerisch keines-wegs also die Absage un Charlot, sondern dessen Krönung, gerade

weil das Kostüm endgültig fällt.

Auch Hitler, den Chaplin in «The Great Dictator» parodierthat, ist also nicht wesensfremd für Charlot: das Satanische steckteimmer in diesem. Hitler, vier Tage nach Chaplin geboren, wiedieser einmal anzüglich bemerkte, hat er höhnisch als seine Kopiedenunziert, natürlich nicht nur wegen des Fliegenbarts unter derNase. Als einziger Film, als einziges Kunstwerk, dessen Schöpfer

es sich leisten konnte, Hitler dem Gespött und dem Lachen aus-

zuliefern so wie Chaplin in «Shoulder Arms» als einziger denKrieg hatte dem Lachen preisgeben können , bildet «The GreatDictator» aus dem Grund eine Ausnahme, als hier die GestaltChariots verdoppelt Ist, In den Guten, welcher d er jüdische Bar-bier, und den Bösen, d er Hitler ist.

Charlot hat Indessen noch eine andere Figur in sich aufgesogen,richtiger: seine Figur ist, wie Marcel Martin überzeugend argu-mentiert, parallel entstanden zu Schwejk. Eisenstein seinerseitshat diesen Vergleich zwar nicht gezogen. Aber er formulierte fürCharlot die gleiche Haltung, als er als Chaplins ureigene Gabe diekindliche Weise zu sehen nannte und dazu setzte, daß In allenseinen Filmen Chaplins Partner die Wirklichkeit Ist, die als solchedem ersten Clown in d er Manege, dem «Weißen», gleicht. Das

heißt: Sie Ist klug und logisch, überlegen und umsichtig, doch

letzten Endes wird sie hereingelegt und ausgelacht. Charlot locht«gedankenlos, ohne gewahr zu werden, daß er sie gerade mitseinem Lachen bestraft». Das ist natürlich auch Schwejk, und

dieser Schwejk ist der Gesellschaftskritiker in Chaplin.

Die Gesellschaftskritik erscheint im Werk Chaplins mannig-faltig, und immer wird sie in satirischem Ton vorgetragen. «Gold-rush», «Modern Times» und «Monsieur Verdoux», aber auch «AKtng In New York» sind sichtbarste Marksteine dieser Kritik an

einer Gesollschaft, wie sie in den Augen Chaplins durch Kapitalis-

mus, Industrieherrschaft und Krieg geprägt worden ist. Chaplins

Kritik ist nicht so sehr die eines Sozialisten, als welchen man ihnauch hat interpretieren wollen, sie ist fundamental die eines

Moralisten von individualanarchistischer Statur. Eines Moralistenallerdings, der, charakterisiert man Charlot in seinem sozialenStatus, ein Arbeiter ist. Zwar ist Charlot meistens arbeitslos, stets

aber sucht er eine Arbeit. Diese Ist, nicht nur in «Modern Times»,

ein zentrales Thema in Chaplins Werk (man hat ausgerechnet,

daß 57 Prozent der Filme Chaplins Probleme der Arbeit zum

Thema haben). Charlot also ist nicht so sehr der Vagabund, oder:

die Figur des Vagabunden ist kein Widerspruch zu der Figur desArbeiters, d er höchstens insoweit ein Vagabund ist, als er ständig

nach Arbeit unterwegs ist.

Arbeit ist unvermeidbar, wenn d er Mensch leben will: aber sie

ist die Verdammnis des Menschen, der sein Paradies verloren hat

und der auf dem Wege ins verheißene Land ist. Chaplin hatmanchen seiner Filme so enden lassen: Charlot unterwegs in derHoffnung. Doch wäre es ein Irrtum, Chaplins Haltung deshalb als

eine religiöse zu deuten. Chaplin ist, das geht aus seinen Filmenhervor, ein Agnostiker. Er hat sich dagegen gewehrt, ein Atheistzu sein; aber er sieht die Religion, oder wenigstens deren Aus-übung, unter dem Aspekt des Sozialen, das heißt er sieht sie alsbürgerliche Hypokrisie (man denke an «The Pilgrim»).

Seine Haltung schwingt aus in die Gebärde des Sozialrevolu-tionärs und impliziert ein dauerndes Interesse an allen zeit-genössischen Experimenten der revolutionären Veränderung der

Gesellschaft. Sie hat ihm irrtümlich den Ruf eingetragen, ein

Kommunist zu sein. Während er doch im wesentlichen nur ein

Kritiker des «american way of life» war, d er seine Lebens-

umstande bestimmte. Die, die ihm das nicht verziehen haben,

sind Legion, und nicht nur in den Vereinigten Staaten.

Gewiß ist: sein Werk gehört nicht Hollywood, obgleich, analy-

siert man seinen künstlerischen Stil, Hollywood daran entschei-

dend mitgeformt hat: vor allem an dem, was manche seiner Kri-tiker als «unfilmisch» an seinen Filmen bezeichnen. In der Tat

fehlt Chaplins Filmen das, was die Russen als das Filmisrhe an

sich bezeichnet haben, die Montage. Chaplin ist, wie d er amerika-nische Film insgesamt sieht man von David Wark Griffith ab ,

einen anderen Weg gegangen. Für ihn stand stets die Pantomime

im Mittelpunkt auch sie ein Erbe jüdischer Kultur, d er Spiele

zum Purim, die mit der Commedia deH'arte verwandt sind. AlleKunst s-äiner Darstellung ist im Kern pantomimisch geblieben:

der Film Ist für ihn das Gefäß. Er hütete sich also, die Bewegung

der Pantomime durch die Bewegung der Montage zu verdoppeln

und sie so zu vernichten. Diese Konsequenz ist die Größe seinerFilme, nicht ihre Schwäche.

i*******

In «Modern Times», 1938 entstanden. Chaplins erstem Ton/lim, setzt sich Chatlot kritisch mit der den Menschen steh selbst entfremdenden Industrie-gesellschall auseinander.

^Shoulder Arms», am Ende des Ersten Weltkriegs produziert, zeigt Charlot als Soldaten. Chaplin gibt den Krieg dem Gelächter preis.

Dog'3 Lile: 1918 gedreht, hl eine der bittersten Anklagen, d ie Chaplin lormulieti hat: Charlot als der Parla.

Neue Zürcher Zeitung vom 13.04.1969