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6. Staatskirchenrecht I. Begriffliche Einordnung 1. Begriff des Staatskirchenrechts/Religionsverfassungsrechts Summe aller Verfassungsnormen, die sich mit Religion und dem Verhältnis von Staat und Kirche befassen Religionsverfassungsrecht versus Staatskirchenrecht Ende des 20. Jh. 2. Abgrenzung zum Kirchenrecht II. Entstehungsgeschichte In der Antike lebte und fühlte der Mensch in einer theopolitischen Einheitswelt. Durch das Christentum, dem die Menschheit die Überzeugung von der Würde der menschlichen Person und ihrer Freiheit und Selbstverantwortlichkeit verdankt, ist aus dieser Einheitswelt eine Zweiseitigkeit geworden: Unterscheidung zwischen „geistlich“ und „weltlich“, „religiös“ und „politisch“ bzw. später zwischen „kirchlich“ und „staatlich“ → symbolisiert in den Machtträgern „Kai- ser“ und „Papst“ („regnum“ bzw. „imperium“ und „sacerdotium“) Investiturstreit (zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts): Konflikt zwischen dem Reform- papsttum und dem englischen, französischen und deutschen Königtum um die Ein- setzung der Bischöfe und Äbte in ihre Ämter → Kampf für die „libertas ecclesiae“ und gegen cäsaropapistische Tendenzen, für die Eigenständigkeit des Bereichs der „temporalia“ (erste Entwicklungsphase der Säkularisierung) Reformation (Martin Luthers Thesen über den Ablass 1517) Entstehung des lan- desherrlichen Kirchenregiments bereits im Spätmittelalter. In der Reformation entfällt die geistliche Jurisdiktion der römisch-katholischen Hierarchie in den evangelisch gewordenen Territorien. Augsburger Religionsfriede (1555) → ius reformandi: cuius regio – eius religio Westfälischer Friede (1648) → Religionsfreiheit – Normaljahr 1624 Säkularisierungstendenzen der Aufklärung (ca. 1720-1785) → Abwendung vom Ab- solutismus, Vernunftrecht - Forderungen nach Freigabe von Religion und Kirchen aus den Fesseln des Staatskirchentums - Forderungen nach einer Begründung des Staates unabhängig von Religion und Kirchen andererseits - Entwicklung des Josephinismus in Österreich → rigides Staatskirchentum unter katholischer Vorherrschaft - Kodifikation des Allgemeinen Landrechts in Preußen → aufklärerisches Gedan- kengut: Grundsätze der Religionsfreiheit, der Toleranz und der Parität

6. Staatskirchenrecht I. Begriffliche Einordnung 1. Begriff des … · 2013. 5. 9. · Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, hrsg. von Axel Frhr. von Campenhau-sen u.a., drei

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6. Staatskirchenrecht I. Begriffliche Einordnung

1. Begriff des Staatskirchenrechts/Religionsverfassungsrechts

Summe aller Verfassungsnormen, die sich mit Religion und dem Verhältnis von Staat und Kirche befassen

Religionsverfassungsrecht versus Staatskirchenrecht Ende des 20. Jh.

2. Abgrenzung zum Kirchenrecht II. Entstehungsgeschichte

In der Antike lebte und fühlte der Mensch in einer theopolitischen Einheitswelt.

Durch das Christentum, dem die Menschheit die Überzeugung von der Würde der menschlichen Person und ihrer Freiheit und Selbstverantwortlichkeit verdankt, ist aus dieser Einheitswelt eine Zweiseitigkeit geworden:

Unterscheidung zwischen „geistlich“ und „weltlich“, „religiös“ und „politisch“ bzw. später zwischen „kirchlich“ und „staatlich“ → symbolisiert in den Machtträgern „Kai-ser“ und „Papst“ („regnum“ bzw. „imperium“ und „sacerdotium“)

Investiturstreit (zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts): Konflikt zwischen dem Reform-

papsttum und dem englischen, französischen und deutschen Königtum um die Ein-setzung der Bischöfe und Äbte in ihre Ämter → Kampf für die „libertas ecclesiae“ und gegen cäsaropapistische Tendenzen, für die Eigenständigkeit des Bereichs der „temporalia“ (erste Entwicklungsphase der Säkularisierung)

Reformation (Martin Luthers Thesen über den Ablass 1517) – Entstehung des lan-

desherrlichen Kirchenregiments bereits im Spätmittelalter. In der Reformation entfällt die geistliche Jurisdiktion der römisch-katholischen Hierarchie in den evangelisch gewordenen Territorien.

Augsburger Religionsfriede (1555) → ius reformandi: cuius regio – eius religio Westfälischer Friede (1648) → Religionsfreiheit – Normaljahr 1624

Säkularisierungstendenzen der Aufklärung (ca. 1720-1785) → Abwendung vom Ab-

solutismus, Vernunftrecht - Forderungen nach Freigabe von Religion und Kirchen aus den Fesseln des

Staatskirchentums - Forderungen nach einer Begründung des Staates unabhängig von Religion und

Kirchen andererseits - Entwicklung des Josephinismus in Österreich → rigides Staatskirchentum unter

katholischer Vorherrschaft - Kodifikation des Allgemeinen Landrechts in Preußen → aufklärerisches Gedan-

kengut: Grundsätze der Religionsfreiheit, der Toleranz und der Parität

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Französische Revolution (1789) → Staat = säkular und religiös-kirchlicher Rechtfer-tigung nicht bedürftig (trotz eines eigenen religionskritisch-missionarischen Selbst-bewusstseins): - Religion gehört in die Privatsphäre - Ihre Freiheit ist ein Unterfall der Meinungsfreiheit - kein öffentl. Status der Kirchen mehr; Unterwerfung unter die Gewalt der „nation“

Reichsdeputationshauptschluss (1803) → Im Anschluss an den Frieden von

Lunéville wurden die weltlichen Fürsten, die die westlich des Rheins gelegenen Ge-biete an Frankreich abtreten mussten, in Deutschland entschädigt. Dies führte zur ...

Säkularisation in Deutschland (1802/1803) → tiefer Einschnitt in die Beziehungen

von Staat und Kirche - Ende der Existenz der Reichskirche - keine geistlichen Territorien mehr mit politischer Herrschaftsgewalt von Bischö-

fen oder Äbten - gewissermaßen Befreiung der Kirche zu sich selbst - Verlust der vermögensrechtlichen Basis der katholischen Kirche - Notwendigkeit einer Neuordnung kirchlicher Organisationsstukturen → Leitprin-

zip der Übereinstimmung von Staats- und Kirchengrenzen Bestätigung des Reichsdeputationshauptschlusses durch den Wiener Kongress

nach der Niederlage Napoleons (1815) Im Zeitalter des Konstitutionalismus (1814-1918), einer Übergangsform vom Absolu-

tismus zur parlamentarischen Monarchie, wird die Staatsgewalt im Rahmen einer Verfassung oder grundlegender Gesetze ausgeübt. - Anerkennung von Religionsfreiheit und Parität als Leitprinzipien - Kirchliche Repräsentanten im Zweikammer-System - Behauptung der staatlichen Staatskirchenhoheit - Die evangelischen Kirchen blieben in Fortführung des summepiskopalen Sys-

tems Staatskirchen, allerdings bei zunehmender Lockerung und Anbahnung der Trennung.

- Die katholische Kirche blieb staatsverbunden und zum Teil vertraglich gesichert. Kulturkampf (1871-1878) → Auseinandersetzung zwischen dem Deutschen Reich

und der katholischen Kirche um die Neu-Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche und den kirchlichen Einfluss insbesondere auf das Bildungswesen und die Ehegesetzgebung. Durch diverse Einzelgesetze (z.Bsp. Kanzelparagraph 1871, Schulaufsichts- und Jesuitengesetz 1872, Maigesetze 1873, Verbannungsgesetz 1874, Zivilehe- und Brotkorbgesetz 1875) wird die Kirche geschwächt.

Untergang der Monarchie und Ende des landesherrlichen Kirchenregiments (1918)

- grundlegender Einschnitt für die evangelische Kirche - Die katholische Kirche, die 1917 mit dem Codex Iuris Canonici ihre rechtlichen

Prinzipien und Strukturen geregelt hatte, musste lediglich den Wechsel von der Monarchie zur Republik verkraften.

- Die SPD favorisierte das Modell der strikten Trennung von Staat und Kirche nach französischen Vorbild.

- Das Zentrum wollte eine größtmögliche kirchliche Freiheit, aber unter Aufrecht-erhaltung tragender Elemente der Verbindung.

- Kompromiss (Weimarer Kirchen und Schulkompromiss): Weimarer Reichsverfassung (1919)

- „System der hinkenden Trennung“ (Ulrich Stutz)

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- „System der vertrags- oder konkordatsgesicherten autonomen Trennungskirche“ (Ulrich Stutz) → kirchenparitätisches Vertragssystem das entscheidende Charak-teristikum des Weimarer Staatskirchenrechts

Abbruch der weiteren Entfaltung des auf einen fairen Ausgleich angelegten Systems

durch das NS-Regime Nach dem Ende des 2. Weltkrieges Entwicklung der staatskirchenrechtlichen Nor-

men des Grundgesetztes: - Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee (1948) → Ausklammerung der institu-

tionellen Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche; Beschränkung auf den Vorschlag einer grundrechtlichen Norm (Art. 6 HchE), aus dem sich später Art. 4 Abs. 1 und 2 GG entwickelt haben

- Frage der Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche → Entwurf für einen Kirchenartikel durch die Fraktion der Deutschen Partei (DP; nicht mehrheitsfähig) → gemeinsamer Antrag von CDU/CSU, Zentrum und DP ((Übernahme we- sentlicher Elemente des vorherigen DP-Vorschlags; Orientierung an der WRV) → SPD-Vertreter neigten zu einer Ablehnung → Kompromiss-Vorschlag der FDP, insbes. des Abgeordneten Dr. Heuß (späterer erster Bundespräsident): Regelungen der WRV sollten auch im Grundgesetz ihren Niederschlag finden → auf dieser Grundlage nach der Ablehnung des gemeinsamen Antrags konkreter Vorschlag des maßgeblichen Abgeordneten der CDU/CSU- Fraktion, Dr. Süsterhenn für einen eigenen Kirchenartikel → die nach einigen kleineren Korrekturen erarbeitete Endfassung wurde schließlich auf Antrag des SPD-Abgeordneten Zinn am 5. Mai 1949 angenommen und als Art. 140 GG beschlossen

(Hollerbach, § 138 Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Handbuch des

Staatsrechts, Band VI, Heidelberg 1989, Rdnr. 6-17 und 22-26) Die Artikel der WRV sind vollgültiges Verfassungsrecht und stehen gegenüber den

anderen Artikeln des Grundgesetzes nicht auf einer Stufe minderen Rangs (BVerf-GE 19, 206 [219)). Sie sind in Zusammenhang mit der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu lesen (BVerfGE 99, 100 [119]) und funktional auf die Inan-spruchnahme und Verwirklichung jenes Grundrechts angelegt (BVerfGE 102, 370 [387]).

Im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (z. B. unter Berufung auf Art. 4 GG) prüft

das BVerfG jeden Verfassungsverstoß, also auch einen gegen Art. 140 GG. Art. 140 selbst kann jedoch nicht mit Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, da kein Grundrecht (vgl. BVerfGE 70, 138 [162]; 99, 100 [119]; 102, 370 [384]).

III. Rechtsquellen 1. Verfassungsrecht 2. Konkordate und Kirchenverträge 3. Einfaches Gesetzesrecht

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Rechtsgrundlagen Grundgesetz Landesverfassung Staatskirchenverträge Gesetze Preußenkonkordat v. 1929 grundlegend: grundlegend: Preuß. Kirchenvertrag v. 1931 Art. 4 und 140 GG Art. 19, 22 (Weitergeltung durch Art. 23 LV) Reichskonkordat v. 1933 Kirchenvertrag v. 1957 ferner: Art. 3 Abs. 3 , 33 Abs. 3 GG (Diskriminierungsverbot, Neutralität) Art. 7 Abs. 3 u. 5 GG (Religionsunterricht, Schulen) Art. 123 GG (Fortgeltung der Konkordate und Kirchenverträge) Diese Rechtsgrundlagen bestimmen das Verhältnis von Staat und Kirche bzw. Staat und Religion und bilden die Grundlage für das Staatskirchenrecht. Hintergrund: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantie-ren kann.“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphi-losophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M. 1991, S. 112.) 4 „Säulen“ des Staatskirchenrechts Art. 4 GG Art. 140 GG Art. 137 Art. 137 Art. 137 Abs. 1 Abs. 3 Abs. 5 WRV WRV WRV Art. 4 und 140 bilden ein organisches Ganzes (BVerfGE 53, 366 (400); 70, 138 (167)) und sind aufeinander abgestimmt zu interpretieren. Sowohl Art. 4 als auch Art. 140 ge-währleisten die kollektive Religionsfreiheit. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV erweitern den Bereich von Art. 4 GG (s. unten). Grenze: sog. Kompetenz - Kompetenz des Staates; Definition des Schutzbereichs ist Aufgabe des Staates, allerdings unter Verwendung rechtsneutraler Begriffe Vertragsstaatskirchenrecht Dies umfasst alle vertraglichen Regelungen zwischen dem Staat und den einzelnen Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften. Während derartige Vereinbarungen mit der evangelischen Kirche als Kirchenverträge bezeichnet werden, heißen vergleichbare Abmachungen mit der römisch-katholischen Kirche Konkordate

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IV. Literaturhinweise Staatskirchenrechtliche Literatur (allgemein) Germann, Michael, Staatskirchenrecht und Kirchenrecht, Textauswahl, Ausgabe für

Bochum, Halle 2009 Kämper, Burkhard/Schilberg, Arno (Hrsg.), Staat und Kirche in Nordrhein-

Westfalen, Rechtsquellensammlung in zwei Bänden, Neuwied 2010 Evangelisches Staatslexikon, hrsg. von Werner Heun u.a., Neuauflage, Stuttgart 4.

Aufl., 2006 (einschlägige Artikel) Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, hrsg. von Axel Frhr. von Campenhau-

sen u.a., drei Bände, Paderborn 2000/2002/2004 von Campenhausen, Axel Frhr./de Wall, Heinrich, Staatskirchenrecht. Eine syste-

matische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa. Ein Studienbuch, 4. Aufl., München 2006

Jeand'Heur, Bernd/Korioth, Stefan, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart u. a. 2000.

Winter, Jörg, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung mit kirchenrechtlichen Exkursen, 2. Aufl., Neuwied 2008

Unruh, Peter, Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden 2009 Heinig, Hans Michael (Hrsg.), Fälle und Lösungen zum Staatskirchenrecht, Stuttgart

u.a. 2005 Listl, Joseph/Pirson, Dietrich (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bun-

desrepublik Deutschkland, zwei Bände, 2. Aufl. Berlin 1994/1995 Schriftenreihen Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, hrsg. von Otto Depenheuer u.a., Berlin

1971 ff. Jus Ecclesiasticum, hrsg. von Axel Frhr. von Campenhausen u.a., Tübingen 1965

ff. Schriften zum Staatskirchenrecht, hrsg. von Axel Frhr. von Campenhausen und

Christoph Link, Frankfurt a.M. u.a. 2000 ff. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, hrsg. von Burkhard Kämper und

Hans-Werner Thönnes, Münster 1969 ff. Zeitschriften Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR) Archiv für katholisches Kirchenrecht (ArchkathKR) Kirche und Recht (KuR). Grundmodelle des Verhältnisses von Staat und Religion Unbeschadet aller Unterschiede ist zumindest den westlichen Ordnungen des Ver-

hältnisses von Staat und Religion gemeinsam, dass im Regelfall dem Grundrecht der Religionsfreiheit entsprochen wird.

Die Staat-Kirche-Ordnungen sind ein Spiegelbild der nationalen Identität der Staa-ten. An keinem Punkt ist die Geschichte einer Nation so lebendig wie in der konkre-ten Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion.

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I. Staatskirchentümer

Beispiele: Einzelne Kantone der Schweiz, England, Schottland, Länder in Skandi-navien (Ausnahme Schweden: ab 2000 Eigenständigkeit), auch Spanien ab 1978

II. Trennung von Staat und Kirche

Unterschiedliche „Vorzeichen“; Beispiele: USA, Frankreich, Niederlande

III. Kooperationsmodell

Beispiele: Deutschland, Österreich

Das Verhältnis von Staat und Religion in der Bundesrepublik Deutschland Grundsätze Religionsfreiheit keine Selbstbestimmungs- Körperschafts- Staatskirche recht status (einschl. Kirchen- Art. 4 GG Art. 140 GG Art. 140 GG steuer) i.V.m. Art. 137 i.V.m Art. 137 Abs. 1 WRV Abs. 3 WRV Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 u. 6 WRV I. Verbot der Staatskirche

Abschaffung des Staatskirchentums vor 1919: König = Oberhaupt der Kirche Kein Verbot jeglicher institutioneller Verbindung von Staat und Kirche, sondern Ver-

bot der unmittelbaren Eingliederung – aufgrund vielfach gleicher Arbeitsbereiche ergeben sich Überschneidungen und teils auch mögliche Konflikte

Stichwort: gemeinsame Angelegenheiten von Staat und Kirche (res mixtae) Beispiele: Theologische Fakultäten Religionsunterricht in staatlichen Schulen (s. dazu auch Art. 7 GG) kommunale Friedhöfe Seelsorge in öffentl. Krankenhäusern, in Gefängnissen, beim Militär, der Polizei, Kirchensteuerangelegenheiten.

Trennung von Staat und Kirche gebietet gleichermaßen Distanz und Kooperation

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II. Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates Die Verbindung von Glaubensfreiheit und den Gleichheitsrechten ergibt die religiös-

weltanschauliche Neutralität des Staates. Nur der neutrale Staat kann Heimat aller Bürger sein (BVerfGE 19, 206 [216]).

Keine „Intoleranz der Negation“ (Schlaich) Kein Verbot jeglicher institutioneller Verbindung von Staat und Kirche, sondern Ver-

bot der unmittelbaren Eingliederung oder Einführung staatskirchlicher Rechtsformen sowie keine Privilegierung bestimmter Bekenntnisse oder Ausgrenzung Anders-gläubiger (BVerfGE 93, 1 [7]) – aufgrund vielfach gleicher Arbeitsbereiche ergeben sich Überschneidungen und teils auch mögliche Konflikte („gemäßigte Trennung von Staat und Kirche“)

III. Religionsrechtliche Parität Historische Beispiele: 1555 Augsburger Religionsfriede: Gleichbehandlung von Katholiken und Lutheranern 1648 Mit dem Westfälischen Frieden wird das Paritätsgebot auf die Reformierten erweitert. Das Prinzip der Parität verpflichtet den Staat, die Gleichrangigkeit aller Religionsgemeinschaften zu respektieren und sie gleich

zu behandeln, alle Bürger im Hinblick auf die Religion gleich zu behandeln. Rechtsgrundlage: Art. 3 GG Das Gleichheitsgrundrecht wird verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Ver-gleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solchen Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Differenzierungen durch den Staat bei Teilhaben an seinen Leistungen sind zulässig.

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Muslime in Deutschland

- 3,3 Mio. Menschen in Deutschland - Ca. 15 % in Moscheegemeinden

Koordinierungsrat (KRM)

Islamrat für die BRD Zentralrat der Muslime Türk.-Islamische Union Verband islm. 30 Organisation mit 145.000 M. Menschen insb. aus der Anstalt für Religion Kulturzentren Nordafrika, Naher + (DITIB) Dachverband von Köln, ca. 300 Gemeinden Mittlerer Osten, ca. 300 Vereine 880 türk.-islam. Vereinen rd. 24.000 M. ca. 220.000 M türkisch bosnische deutsche u. a. sunnitische und Nähe zum türk. Staat, mitgliederstärkste Org. + Islamische Gemeinschaft schiitische Muslime Anspruch: Repräsentanz von 72 % der Muslime Milli Görüs Islamische Charta 2002

Die Zahlen sind eigene Angaben der o.g. Gruppen.

- Anspruch KRM: Zentraler Ansprechpartner für die Muslime in Deutschland, z.B. bzgl. Religionsunterricht - Vertretung von ca. 280.00 Muslime in Deutschland (Schätzung) - Vorsitz im Koordinierungsrat soll alle sechs Monate wechseln - KMR hat keine Rechtspersönlichkeit, Grundlagen: Vertrag und Geschäftsordnung vom 28.3.2007 - DITIB hat Vetorecht und drei Vertreter, die anderen gruppen zwei Vertreter im KRM. - Die Alevitische Gemeinschaft und die Ahmadiyya werden vom KRM nicht vertreten. - Die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) unterhält 100 Vereine mit ca. 20. Mitgliedern. In Deutschland leben ca. 700.000

bis 1 Mio. Aleviten. Das Alevitentum hat sich aus der islamischen Schia entwickelt. Es hat dazu viele Elemente aus den voris-lamischen Religionen Mesopotamiens sowie aus dem Sufismus (islamische Mystik) in sich vereint. Das synkretistische Alevitentum wird zunehmend als eine eigenständige Religion aufgefasst, die außerhalb des Islam steht. Aleviten beten nicht in

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Moscheen und legen den Koran nicht wörtlich aus. Ein Schwerpunkt bildet ein Mystizismus. Zentrales Element ihrer Glaubens-auffassung ist der in den Mittelpunkt gerückte Mensch. Diese Überzeugung ist besonders durch die Erinnerung an die Massa-ker geprägt, die an den Schiiten und Aleviten während der Alleinherrschaften sunnitischer Machteliten verübt wurden. Aleviten gehen mit religiösen Vorschriften, die für orthodoxe Muslime als Pflicht und Voraussetzung gelten, dialektischer um. Die Aleviten lehnen generell eine dogmatische Religionsauslegung ab; das Ritualgebet nicht in der konventionellen Form der Schiiten oder Sunniten verrichtet. Außerhalb des alevitischen Gottesdienstes benötigt man für das Gebet keinen speziellen Raum oder eine spezielle Zeit. Der heutige Glaube der Aleviten ist stark vom Humanismus und Universalismus bestimmt. Vor allem die Ableh-nung der Scharia, unterscheiden Aleviten von den Sunniten. Darum betrachten viele Sunniten Aleviten meist nicht als Muslime.

- Klage von Islamrat und Zentralrat gegen das Land NRW: OVG Münster: Zusammenschlüsse von Moscheegemeinden sind keine Zusammenschlüsse natürlicher Personen und deshalb keine Religionsgemeinschaft; anders BVerwG: Spitzenverbände auch Religionsgemeinschaft

- EKD-Papier: Klarheit und gute Nachbarschaft (u.a. Fragen nach Verhältnis Muslime und Demokratie, säkularer Staat usw.). - DBK-Arbeitshilfe Nr. 172: Christen und Muslime in Deutschland, Bonn 2003 - Islam-konferenz unter Vorsitz des Innenministers ab September 2006.

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IV. Körperschaftsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften

Grundsätzlich haben alle Religionsgemeinschaften nach Art. 4 und Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV das Recht, sich privatrechtlich zu organisieren und zu handeln. Die Formen des Privatrechts sind großzügig anzuwenden, wenn andernfalls das religiö-se Selbstverständnis tangiert wäre (BVerfGE 83, 341 [356 ff.]). Regelfall ist danach die Rechtsform des Vereins (BVerfGE 105, 313 [321 f.]) zur Entziehung bei vorrangiger Gewichtung wirtschaftlicher Ziele).

Art. 137 Abs. 5 WRV Beibehaltung des Körperschaftsstatus soweit bereits vorhanden (Satz 1)

+

Möglichkeit der Erteilung auf Antrag, wenn nach Verfassung und Mitgliederzahl eine Gewähr auf Dauer besteht (Satz 2)

(1) Die Vereinigung muss die Gewähr für die Dauerhaftigkeit ihres Bestandes bieten.

Dies hängt von ihrer „Verfassung“ im Sinne von tatsächlichem Zustand und von ih-rem Mitgliederbestand ab. Auf eine Organisation als rechtsfähiger Verein o. ä. kommt es nicht an. Auch ein Mindestmaß an „Amtlichkeit“ kann nicht verlangt wer-den, da gerade dies eine Frage des religiösen Selbstverständnisses sein kann.

(2) Außerdem muss die Vereinigung zumindest im Grundsatz bereit sein, Recht und Gesetz zu achten, darf nicht die Grundrechte Dritter in einem Maße beeinträchtigen, die zu einem staatlichen Eingreifen berechtigen oder gar verpflichten, und muss schließlich die Gewähr dafür bieten, dass das Verbot einer Staatskirche sowie die Prinzipien von Neutralität und Parität unangetastet bleiben. Dagegen ist weder eine demokratische Binnenstruktur noch eine weiter gehende Loyalität gegenüber dem Staat notwendig (BVerfGE 102, 370 [395 f.]; noch strenger BVerwGE 105, 117 [126]).

Beispiele: Landeskirchen, Bistümer, Kirchengemeinden KöR sind heute mit Rechtsfähigkeit ausgestattete Personenverbände, die unter staatlicher Aufsicht Staatsaufgaben wahrnehmen. beachte: Die Kirchen gehören nicht dazu. Gegenstück! Sicherung der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sowie Bewahrung der originären Kirchengewalt KöR-Status ist Voraussetzung für das Kirchensteuerrecht nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WRV Anerkennung des kirchlichen Anspruchs, auf die Öffentlichkeit zu wirken (Stichwort: Öffentlichkeitsauftrag) KöR-Status nach h.M. nicht erforderlich für die Erteilung von Religionsunterricht Dienstherrnfähigkeit Disziplinargewalt Organisationsgewalt Res sacrae Grundrechtliche Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht I. Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG)

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1. Schutzbereiche

Gewährleistungen des Art. 4 GG

Abs. 1 1 Hs. Abs. 1 2 Hs. Abs. 2 Glaubens- und Bekenntnisfreiheit Religionsausübungs- Gewissensfreiheit freiheit - Sphäre des Denkens - Freiheit der religiösen - Freiheit des religiös und weltanschau- motivierten Handelns lichen Kundmachung Abs. 1 und 2 bilden ein einheitliches Grundrecht der Glaubensfreiheit. Glaubensfreiheit ist eine Ausprägung der Menschenwürde (Art. 1 GG). Glaubensfreiheit als ein wichtiges Element objektiver Ordnung ist eine wertentscheidende Grundsatznorm des Grundge-setzes.

Religionsfreiheit positiv/aktiv negativ/passiv ggf. Spannung Stichwort: praktische Konkordanz

Beispiele: Kruzifix-Streit in Bayern (vgl. Fall 1). Nunmehr besteht eine gesetzliche Rege- lung, die beim Widerspruch einzelner Schüler eine Abnahme des Kreuzes grund- sätzlich ermöglicht. Stichwort hier: Religionsneutralität des Staates. Staatliche christliche Gemeinschaftsschulen (Christentum als „prägender Kultur- und Bildungsfaktor“ – BVerfGE 41, 29 [51 f.]) Verweigerung religiös verbotener Arbeiten Verzicht auf medizinische Hilfe (BVerfGE 32, 98) Verweigerung des Amtseides (BVerfGE 79, 69) Veranstaltung eines freiwilligen, überkonfessionellen Schulgebets außerhalb des Religionsunterrichts ist zulässig, sofern die Schüler, die nicht teilnehmen wollen, in zumutbarer Weise ausweichen können (BVerfGE 52, 223 [235 ff.]) Beachtung religiöser Ernährungsvorschriften (Schächten von Tieren) Unterrichtsbefreiung von einem koedukativ erteilten Sportunterricht (BverwGE 93, 1 [23 f.]) Kopftuch einer muslimischen Lehramtskandidatin im Unterricht - Urteil des Bun- desverwaltungsgerichts: Muslimische Lehrerinnen dürfen im Unterricht kein

Kopftuch tragen. Begründung: Neutralitätspflicht des Staates. Schüler hätten ein Recht darauf, vom Staat nicht dem Einfluss einer fremden Religion ausgesetzt zu werden. Das Kopftuch sei ein deutlich wahrnehmbares religiöses Symbol.

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Voraussetzung in jedem dieser Fälle: Die Betroffenen können wegen ihres Glaubens nicht ohne innere Not von dem betreffenden Handeln absehen, dabei ist auch das Selbstverständnis der betroffenen Religionsgemeinschaft zu beachten, im Zweifels-fall trifft den Betroffenen eine Darlegungslast (BVerwGE 94, 82 [87]).

Träger des Grundrechts Individuum Kollektiv Schutz der institutionellen Kirchenfreiheit - Grundrecht steht auch der Kirche zu

+

- Vereinigungen, die nur partiell religiöses und weltanschau- liches Leben pflegen (z.B. Diakonie und Caritas)

Der Begriff der Religionsfreiheit ist extensiv auszulegen (BVerfGE 24, 236 [246]): Bildung, Bekenntnis und Verbreitung von Glauben (BVerfGE 32, 98 [106 f.]; 69, 1 [33 f.]); kultische Handlungen und religiöse Feiern wie Gottesdienst, Gebete, Sak-ramente, aber auch Mitgliedschaftsrecht, Dienstrecht, kirchliche Kollekten, Glocken-geläute, muslimischer Gebetsruf, Sammlungen, Kranken- und Altenpflege, auch re-ligiöse Erziehung, Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens, eige-ne Organisation, Namenssetzung, ferner Gründung religiöser und weltanschaulicher Vereinigungen, Verwaltung. Nicht geschützt ist primär wirtschaftliches Handeln. Ein rechtswidriger Eingriff bei der Glaubensfreiheit liegt vor, wenn der Staat die o. g. geschützten Tätigkeiten regelt oder faktisch behindert und der Eingriff nicht gerecht-fertigt ist. Grundsätzlich ist die Grundrechtsausübung gegen Störungen Dritter zu schützen (BVerfGE 93, 11 [16]). Es gibt aber keinen Leistungsanspruch (z. B. Mehr-kosten der Sozialhilfe in einem bestimmten weltanschaulich geprägten Altenheim (BVerwG, NJW 1982, S. 2587).

2. Schranken

Voraussetzung: keine schrankenlose Gewährleistung des Grundrechts

aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

Grundsatz der Schrankenspezialität: keine Anleihe bei anderen Grundrechten Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV

- Ablehnung durch die h.M. in Rspr. und Lit.; auch das BVerfG wendet die Normen nicht an

- Eine im Vordringen befindliche Auffassung wendet die Normen als Gesetzesvorbehalt an (vgl. etwa Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 224 ff. m.w.N.)

- Schranken im einzelnen/Beispiele (Straf- und Strafprozessrecht:

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Zeugen- bzw. Eidespflicht; Ordnungs- und Polizeirecht: mögliche Einschränkung von Prozessionen oder Impflicht aus gesundheitli chen Gründen; Schulrecht; Beamtenrecht etc.)

II. Religiöse Vereinigungsfreiheit (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 WRV, Art. 9 GG)

1. Verhältnis von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 WRV zu Art. 9 Abs. 1 sowie Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

BVerfG und h.L.: Art. 137 Abs. 2 WRV ist Bestandteil des Grundrechts der Religionsfreiheit a.A.: Art. 137 Abs. 2 WRV ist lex specialis nicht nur zu Art. 9 Abs. 1,

sondern auch zu Art. 4 GG (Ehlers, in: Sachs [Hrsg.], GG-Komm., Art. 137 WRV Rdnr. 3)

2. Gewährleistungsinhalt

Zusammenschluss auf dem Boden der staatlichen Rechtsordnung

Kein Anspruch auf eine bestimmte Rechtsform Gründungsfreiheit + Kernbestand der Vereinstätigkeit

2001 wurde das so genannte Religionsprivileg aus dem Vereinsrecht gestrichen. Bis dahin wurden Religionsgemeinschaften vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt. Dem Staat werden neue Handlungsmöglichkeiten gegenüber Organisationen einge-räumt, die kriminelle Absichten unter dem Deckmantel religiöser Selbstetikettierung zu verbergen versuchen. Nicht nur einzelne Straftäter können nunmehr verfolgt wer-den, sondern auch Gemeinschaften als solche können ins Visier staatlicher Über-prüfung geraten und ggf. verboten werden. Die Veränderung im Vereinsgesetz dürf-te für die historischen Kirchen wie auch für die Freikirchen keine unmittelbaren Aus-wirkungen haben.

III. Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV)

1. Inhalt und Reichweite

Art. 137 Abs. 3 WRV S. 1 S.2 Ordnen und Verwalten Ämterverleihung ohne Mitwirkung der eigenen Angelegenheiten des Staates selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes

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Geltung für alle Religionsgemeinschaften unabhängig vom Körperschaftsstatus

Anerkennung eines großen Freiraums der Kirchen durch den Staat, weil er

auch darauf vertraut, dass die Kirchen grundlegende Wertentscheidungen der Verfassung (wie z. B. Sozialstaatsprinzip) anerkennen.

Kern und Mittelpunkt des deutschen staatskirchenrechtlichen Systems Geltung unabhängig von der Rechtstellung als KöR, Verein oder GbR Erweiterung der Geltungsbereiche von Art. 4 GG, da bestimmte Bereiche

(wie z. B. Grundstücksverwaltung) nicht vom Schutzbereich erfasst – „notwendige, wenngleich rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsge- meinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerlässliche Frei- heit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung“ (BVerfG) hinzufügt.

Gegenstand des Selbstbestimmungsrechtes: Dazu zählt alles, was zur Er- füllung des kirchlichen Auftrags und für den Vollzug dieses Dienstes nach dem Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgesellschaft unentbehrlich ist. Lehre und Kultus Kirchenverfassung und Organisation Erziehung und Ausbildung der Geistlichen Rechte und Pflichten der Mitglieder (u. a. Mitgliedschaftsrecht) Kirchliches Dienstrecht Kirchliches Arbeitsrecht Vermögensverwaltung karitative Tätigkeit Rechtsprechung kirchliche Friedhöfe

2. Schranken Ein „für alle geltendes Gesetz“, also ein die kirchliche Selbstbestimmung

beschränkendes Gesetz, wird man dann annehmen, wenn ein Gesetz zwin-genden Erfordernissen des friedlichen Zusammenlebens von Staat und Kir-che in einem religiös und weltanschaulich neutralen politischen Gemeinwe-sen entspricht. (Hollerbach als Weiterentwicklung der Heckelschen Formel von 1932).

Sonderproblem: Grundrechte in der Kirche Grundsätzlich keine allgemeine Geltung der Grundrechte in der Kirche (herr- schende Meinung). Ausnahme: Kirchen werden kraft ihrer ihnen vom Staate verliehenen Gewalt tätig (z.B. Kirchensteuerrecht, weltlich-rechtliche Seite im Kirchenbeamtenverhältnis)

3. Verhältnis zur Religionsfreiheit otwendige Eränzung (Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts,

in: Handbuch des Staatsrechts, Band VI, Heidelberg 1989, § 138 Rdnr. 114)

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Einzelfelder des Verhältnisses von Staat und Religion I. Religion in Schule und Bildung

Bildung und Kultur sind traditionelle Bereiche kirchlicher Präsenz. Für den modernen freiheitlichen Kulturstaat ist es selbstverständlich, dieser Prä- senz Raum zu lassen. Dies geschieht entweder durch die Kirchen selbst als Träger von Bildungsein- richtungen oder durch die Berücksichtigung kirchlicher Faktoren in staatlichen Einrichtungen.

1. Religionsunterricht

a) Grundsatz (Art. 7 Abs. 3 GG)

ordentliches Lehrfach, d.h. den einfachen Gesetzgeber bindende institutio-nelle Garantie; Folgen: - Staat ist Veranstalter - angemessene Wochenstundenzahl - Versetzungserheblichkeit

In öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen Erteilung in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemein-

schaften; Folgen: - Religionsunterricht ist bekenntnisgebunden, d.h.: - keine Wahlfreiheit, sondern Anknüpfung an die Konfession der Schüler

Abmeldemöglichkeit; Probklematik des Eratzfachs Mitwirkung bei Lehrplänen Zulassung von Lehrbüchern Missio canonica bzw. Vokation der Lehrerinnen und Lehrer Problem: LER – Schulfach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde

(→ siehe dazu Fall 7)

b) Ausnahme (Art. 141 GG) Keine Anwendung des Art. 7 Abs. 3 GG in einem Land, in dem am

1.1.1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand (sog. Bremer Klausel)

c) Exkurs: islamischer Religionsunterricht

Religionsunterricht kein Privileg der christlichen Kirchen steht auch anderen Religionsgemeinschaften zu Körperschaftsstatus nicht erforderlich Bisher scheitert die verbindliche einrichtung islamischen Religionsunter-

richts daran, dass auf islamischer Seite keine nach innen und außen legiti-mierte Instanz besteht, die verbindlich und authentisch die nach Art. 7 Abs. 3 GG erforderlichen „Grundsätze“ vorgeben kann.

2. Privatschulgarantie

a) Grundsatz (Art. 7 Abs. 4 GG)

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Ergänzung durch Landesverfassungen (vgl. z.Bsp. Art. 8 Abs. 4 LVerf. NRW) Anspruch auf staatliche Zuschüsse b) grundrechtliche und institutionelle Gewährleistung

Garantie der Existenz und Funktionsfähigkeit

c) Grundrechtsträger: Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst, aber auch

sonstige religiöse Zusammenschlüsse d) Reichweite staatlicher Aufsichtsbefugnisse

Art. 7 Abs. 1 GG: Aufsicht des Staates über das gesamte Schulwesen Art. 7 Abs. 4 Sätze 2 und 3 GG: Genehmigungsbedürftigkeit privater Schu-

len; grundsätzlicher Anspruch auf Genehmigung .

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Die Privatschulfreiheit (Art. 7 Abs. 4 und 5 GG)

Ersatzschulen Ergänzungsschulen Def.: Solche Privatschule, die nach dem mit ihrer Errichtung verfolgten Für sie bestehen in der Regel keine Gesamtzweck als Ersatz für eine in dem Land vorhandene oder grundsätzlich vergleichbaren öffentlichen Schulen; vorgesehene öffentliche Schulen dienen sollen (BVerfGE 27, 195 [201]). in ihnen kann der Schulpflicht nicht genügt werden (z. B. Sprachschulen, = gebundener Genehmigungsvorbehalt: Musikschulen, Sportschulen und Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG: Genehmigungsbedürftigkeit diverse Fachschulen). Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG: Rechtsanspruch auf die Genehmigung bei Gleichwertigkeit private Volksschulen zusätzliche Genehmigungsvoraussetzungen durch Art. 7 Abs. 5 GG: Anerkennung eines besonderen pädagogischen Interesses durch die Unterrichtsverwaltung (z. B. Schulen in Erholungsheimen oder Versuchsschulen) o d e r auf Antrag von Erziehungsberechtigten - sofern eine öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht - bei beabsichtigter Errichtung als Gemeinschaftsschule Bekenntnisschule Weltanschauungsschule (Def. dieser Schultypen in Art. 12. Abs. 6 LVerf NW)

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4. Theologische Fakultäten

Theologische Fakultäten bestehen in NRW in Bochum, Bonn und Münster. Der

Reigen der Fakultäten wäre unvollständig ohne die Theologie. Die Kulturver-antwortung des Staates macht die Pflege der Theologie als Wissenschaft auch zur staatlichen Aufgabe.

a) keine Bestandsgarantie im Grundgesetz

nur in einigen Landesverfassungen sowie in Konkordaten und Kirchenver-

trägen (z.Bsp. Art. 19 RK, Art. 12 PreußK, Art. 11 PreußKirchV)

b) Inanspruchnahme der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG möglich

c) notwendiges Zuzsammenwirken von Staat und Kirchen („res mixta“); Folge: Doppelstatus, nämlch zum einen staatliche Institutionen und zugleich ande-rerseits Verankerung im kirchlichen Recht (Differenzierung zw. ev. und kath. Kirche)

d) Status der Theologieprofessoren

Rechtsinstitut des konfessions- bzw. kirchengebundenen Staatsamtes In den Staatskirchenverträgen/Konkordaten ist vorgesehen, dass die Kir-

chenleitungen/Bischöfe bei der Berufung von Theologieprofessorinnen und -professoren beteiligt werden. Das zuständige Ministerium hat anzufragen, ob gegen Lehre und Lebenswandel Einwendungen erhoben werden

Voraussetzung des „nihil obstat“ durch den zuständigen Diözesanbischof

e) Entzug der Lehrbefugnis (=Widerruf des Nihil obstat) möglich

Voraussetzung: Beanstandung wegen eines schwerwiegenden Verstoßes gegen die Erfordernisse der Lehre oder des Lebenswandels

Ein Beanstandungsrecht nach Ernennung ist in den Konkordaten, aber nicht in den Kirchenverträgen vorgesehen. In Niedersachsen ging das OVG Lüneburg jedoch von einer Gleichbehandlung der röm.-kath. und der ev. Kirchen aus.

Folgen für die Fakultät: weil der Beanstandete die kirchl. Autorisierung ver-loren hat, gehört er nicht mehr zur Fakultät; der Staat muss für Ersatz sor-gen.

Für den Beanstandeten: Unterbringung in einer anderen Fakultät oder Ein-räumung eines „status extra facultates“

Über die theologischen Fakultäten an staatlichen Hochschulen hinaus existie-ren eine Reihe von kirchlichen Hoch- und Fachhochschulen.

II. Kirchliches Dienst- und Arbeitsrecht Der kirchliche Dienst gehört zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen und Reli-

gionsgemeinschaften i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV.

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Daraus folgt die Autonomie zur Regelung eines eigenständigen Dienst- und Arbeits-

rechts. Diese Autonomie kommt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfas-

sungsgerichts nicht nur den verfassten Kirchen und ihren rechtlich selbständigen regionalen Untergliederungen zu. Von ihr sind insbesondere auch die die kirchli-chen Wohlfahrtsverbände – Caritas und Diakonie – und die ihnen angeschlossenen Einrichtungen erfasst.

Nicht vom Arbeitsrecht erfasst sind die kirchlichen Amtsträger und Kirchenbeamten:

- Für die kath. Kirche ist das Klerikerdienstverhältnis im CIC geregelt. - In der ev. Kirche besteht ein eigenes Pfarrerdienstrecht. - Aus ihrem Körperschaftsstatus folgt die Dienstherrnfähigkeit der Kirchen, von

der in unterschiedlichem Ausmaß Gebrauch gemacht worden ist. Unterscheidung Dienst- und Arbeitsrecht

Arbeitgeber

Öffentlicher Dienst Wirtschaft Beamte Angestellte Angestellte und Arbeiter und Arbeiter - öffentl.-rechtl., gesetzl. - Angestellte sind Arbeitnehmer geregeltes Dienst und mit einer kaufm., büromäßigen Treueverhältnis gegenüber o.ä. Tätigkeit (Außensicht ent- Staat, Gemeinde oder jur. scheidend) Personen des öffentl. Rechts - Anstellung durch Arbeitsvertrag - Begründung durch Aushän- - Geltung des BAT im öffentl. Dienst digung einer Urkunde - Geltung des Arbeitsrechts - Wahrnehmung von Hoheits- Unterscheidung aufgaben u.ä. - Regelung im Beamtentrecht individuelles Arbeitsrecht Kollektives Arbeitsrecht - Geltung des BGB (Mindesturlaub) - Kündigungsschutzgesetz Tarifrecht Mitarbeiter- - LohnfortzahlungsG vertretungsR - Mindesturlaub

Die Kirchen in NRW schließen In Rheinland, Westfalen und keine Tarifverträge auf Grund- Lippe gilt das Mitarbeiterver- lage des staatl. Tarifvertrags- tretungsgesetz der EKD, das gesetzes ab. Art. 9 Abs. 3 GG die betriebliche Mitwirkung ist offen für andere Gestaltungs- Mitarbeitenden bei betriebli- wege. Die Kirchen setzen nicht chen Angelegenheiten aber eindeutig Recht für die Mit- auch bei Einstellungen und arbeitenden (Erster Weg). Da Kündigungen regelt. Die Re- aber auch die Grundsätzlich- gelung ist möglich aufgrund keit mit Streik und Aussper- des kirchlichen Selbstbestim-

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rung im Rahmen des Tarifrechts mungsrechts nach Art. 140 (Zweiter Weg) für die Kirchen GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 nicht angemessen ist, gehen WRV. Dies berücksichtigend sie einen sog. Dritten Weg. Im gibt es Freistellungsregelun- Arbeitsrechtsregelungsgesetz gen in § 118 Abs. 2 BetrVG Rheinland, Westfalen, Lippe u. § 11 Abs. 2 BpersVG. wird bestimmt, dass eine pari- tätisch besetzte sog. Arbeits- rechtliche Kommission für Kirche und Diakonie kollektives Arbeits- recht setzt, u. a. dem BAT - kirchlicher Fassung (Vergütung, Arbeitszeit usw.

1. Individualarbeitsrecht

a) Grundsatz: Im Fall privatrechtlicher Arbeitsverhältnisse sind die Mitarbei-tenden Arbeitnehmer des Arbeitgebers „Kirche“, d.h. auf diese Arbeitsver-hältnisse findet das staatliche Arbeitsrecht grundsätzlich Anwendung.

b) Diese Arbeitnehmer sind aber zugleich kirchliche Bedienstete und nehmen

– in unterschiedlicher Ausprägung – am kirchlichen Auftrag teil. Daraus folgt unter Zugrundelegung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts die Kompetenz der Kirchen, die Eigenart des kirchlichen Dienstes, das sog. kirchliche Proprium, bei der konkreten Ausgestaltung der Arbeitsverhält-nisse zu berücksichtigen.

c) Dem wird das orientierende Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft

gerecht, mit dessen Hilfe spezifische Obliegenheiten kirchlicher Arbeit-nehmer formuliert und verbindlich gemacht werden.

d) Die Entscheidung darüber, ob und ggf. wie für die im kirchlichen Dienst

Beschäftigten eine Begründung von Loyalitätspflichte (mit eventuellen Ab-stufungen) eingreifen soll, ist grundsätzlich eine dem kirchlichen Selbstbe-stimmungsrecht unterliegende Angelegenheit:

In der katholischen Kirche gilt seit dem 1. Januar 1994 die „Grundordnung

des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“. Sie gilt verbindlich insbesondere für alle Rechtsträger der verfassten Kirche und der Caritas. Allen übrigen Trägern wird ihre Anwendung empfohlen.

In der evangelischen Kirche ist zum 1. September 2005 eine Richtlinie des

Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „über die Anforde-rungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der EKD und des Dia-konischen Werkes der EKD" in Kraft getreten, deren Umsetzung den Gliedkirchen und Diakonischen Werken empfohlen wird.

In beiden Regelungen geht es insbesondere um die Einstellungsvorausset-

zungen (vor allem die Zugehörigkeit zur jeweiligen Kirche) und um die we-sentlichen Loyalitätsanforderungen sowie die Folgen von Verstößen dage-gen.

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e) Die weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten der Kirchen finden ihre Grenzen in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes, z.Bsp. im Kündigungsschutzgesetz oder auch in den Arbeitsschutzgesetzen.

f) In konkreten Arbeitsrechtsfällen geht es im Regelfall

nicht um die Geltung staatlichen Arbeitsrechts an sich (z.Bsp. §§ 626 BGB,

1 KSchG), sondern um die Möglichkeit der Berücksichtigung der Besonderheiten des kirchli-

chen Dienstes,

konkret darum, ob die Verletzung besonderer Loyalitätspflichten eine Kün-digung rechtfertigt.

2. Kollektives Arbeitsrecht

a) Auch im kollektiven Arbeitsrecht gilt das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, d.h. die staatlichen Regelungen über die Arbeitnehmer-Mitbestimmung fin-den keine Anwendung.

vgl. §§ 118 Abs. 2 BetrVG, 1 Abs. 4 Satz 2 MitbestG, 112 BPersVG

keine Betriebsratswahl in einem kirchlichen Krankenhaus: Goch-Entschei-

dung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 46, S. 73 ff.) b) Gleichwohl sollen Arbeitnehmer im kirchlichen Dienst in mitbestimmungs-

rechtlicher Hinsicht nicht schlechter gestellt werden. Den Kirchen ist die Möglichkeit eröffnet, diesen Bereich eigenständig zu

regeln.

In der evangelischen Kirche gilt das Mitarbeitervertretungsgesetz (MVG).

In der katholischen Kirche gilt die Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO).

c) Grundsätzlich gilt auch im kirchlichen Dienst die Koalitions- und die gewerk-schaftliche Betätigungsfreiheit der Mitarbeitenden nach Art. 9 Abs. 3 GG, al-lerdings mit folgenden Einschränkungen:

kein Zutrittsrecht der Gewerkschaften zu kirchlichen Einrichtungen: Vol-

marstein-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 57, S. 220 ff.)

kein Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen (streitig): Nach dem Selbstver-

ständnis der Kirchen ist es mit ihrem Auftrag nicht vereinbar, Glaubensver-kündigung und den Dienst am Nächsten durch die Möglichkeit eines Ar-beitskampfes zu relativieren.

d) Auch wenn Art. 9 Abs. 3 GG die sog. Tarifautonomie garantiert, kann da-

raus keine Verpflichtung der Kirchen zum Abschluss von Tarifverträgen ab-

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geleitet werden. Auch hier kommt wieder das kirchliche Selbstbestim-mungsrecht zur Anwendung:

Vermieden wird sowohl eine einseitige Festlegung der Arbeitsbedingungen

durch die Kirchenleitungen („Erster Weg“) als auch – von wenigen Aus-nahmen abgesehen – der ansonsten übliche Weg über Tarifverträge („Zweiter Weg“).

Das von den Kirchen – im wesentlichen übereinstimmend entwickelte –

Arbeitsrechtsregelungsverfahren, der sog. „Dritte Weg“, ermöglicht eine pa-ritätische Beteiligung von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen.

III. Kirchenfinanzierung Die Art der Kirchenfinanzierung hängt maßgebend von der Art des Verhältnisses

von Staat und Religion bzw. Kirche ab. Vor allem in den klassischen Trennungsländern wird vornehmlich das Kollekten-

und Spendensystem praktiziert. In Ländern mit einem System freiheitlicher Kooperation findet das Kirchenbeitrags-

und das Kirchensteuersystem Anwendung.

1. Kirchensteuer

Bedeutung: Einnahme der Kirchen bis zu 90 % aus Kirchensteuer Das Kirchensteuersystem ist gekennzeichnet durch eine Zusammenarbeit

von Staat und Kirche bei gleichzeitiger voller Wahrung gegenseitiger Unab-hängigkeit.

Es hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Sein Ziel

war die Eigenfinanzierung der Kirchen durch ihre Mitglieder anstelle einer Fremdfinanzierung aus dem Staatshaushalt. Historische Grundlagen waren die Abnahme des kirchl. Vermögens und der ständigen Einnahmen durch Maßnahmen des Staates und Bevölkerungsentwicklung.

: Ausgangspunkt war eine Initiative des Staates, die durch die Kirchen akzep-

tiert wurde. Nach dem 1. Weltkrieg erfolgte die allgemeine Einführung, dann auch auf Wunsch der Kirchen.

a) Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt ist Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6

WRV. Danach bestehen folgende Voraussetzungen: Religionsgesellschaften mit Körperschaftsstatus Steuererhebung: Die Kirchensteuer ist eine echte staatl. Steuer im Sinne

vom § 3 Abs. 1 Abgabenordnung (AO), d.h. eine öffentliche Abgabe ohne Gegenleistung zur Erzielung von Einnahmen

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Auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten: Da diese ehemaligen amtlichen Zu-sammenstellungen schon lange nicht mehr geführt werden, hat der Staat das verfassungsrechtlich begründete subjektiv-öffentliche Recht der Kirchen auf staatliche Informationshilfe bei der Kirchensteuererhebung durch geeignete Alternativen zu kompensieren. Diesem Anspruch wird der Staat dadurch ge-recht, dass er in den Meldegesetzen des Bundes und der Länder die Weiter-gabe von Meldedaten geregelt hat.

Nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen = Kirchensteuergeset-

ze der Länder

b) Gläubiger der Kirchensteuer sind im Normalfall die Landeskirchen bzw. Diö-zesen (Ortskirchensteuer nur noch in sehr begrenztem Umfang). Schuldner sind die Kirchenmitglieder, d.h. die Mitglieder der betreffenden Religions-gemeinschaften. Hier ergeben sich drei Problemfelder:

konfessionsverschiedene Ehen: Die Eheleute gehören unterschiedlichen

steuererhebenden Religionsgemeinschaften an → Halbteilungs- und Haf-tungsgrundsatz, d.h. Zurechnung von jeweils der Hälfte des zu versteuern-den Einkommens zu jedem der beiden Ehegatten

glaubensverschiedene Ehen: nur ein Ehegatte gehört einer steuererheben-

den Religionsgemeinschaft an → nach dem Prinzip der uneingeschränkten Individualbesteuerung wird nur der kirchenangehörige Ehegatte nach der in seiner Person gegebenen Bemessungsgrundlage zur Kirchensteuer heran-gezogen → dies wird nicht als sachgerecht empfunden → daher wird einer-seits unter Bezugnahme auf den aus Art. 6 GG folgenden Grundsatz der Ehe als u.a. Leistungsfähigkeitsgemeinschaft die Anwendung des Halbteilungs-grundsatzes auch auf die glaubensverschiedenen Ehen gefordert oder in diesen Fällen ein besonderes „Kirchgeld“ erhoben (insbesondere dann, wenn der verdienende Ehepartner keiner Kirche angehört)

Beendigung der Kirchensteuerschuld durch sog. modifizierten Kirchenaustritt

(Fall Zapp) möglich? Der VGH Mannheim hält dies nach den insoweit ein-deutigen Kirchenaustrittsgesetzen der Länder (= kein Kirchenaustritt möglich mit Zusätzen, Bedingungen o.ä.) nicht für zulässig.

c) Die beiden großen Kirchen haben sich für die Kircheneinkommensteuer ent-

schieden. Der Steuersatz, d.h. der konkrete Prozentsatz von der Einkom-mensteuerschuld, liegt je nach Bundesland bei 8 bzw. (u.a. in NRW) bei 9 %.

Exkurs: Um insbesondere sog. Besserverdienenden entgegenzukommen,

besteht die – nicht ganz systemadäquate – Möglichkeit, die strenge Akzesso-rietät der Kirchensteuer als Zuschlagsteuer zur Einkommensteuer durch die Festsetzung von Höchstbeträgen (sog. „Kappungen“) zu modifizieren.

d) Obwohl die Verwaltung der Kirchensteuer den Kirchen selbst zusteht, sind

– mit Ausnahme von Bayern (hier gibt es sog. Kirchensteuerämter) – die staatlichen Finanzämter gegen ein angemessenes Entgelt damit beauftragt worden.

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e) Im sog. Clearing-Verfahren findet ein Ausgleich der Diözesen bzw. Landes-kirchen untereinander statt. Hintergrund: Die Kirchensteuer ist vom Kir-chenmitglied an seinem Wohnsitz zu zahlen, der Arbeitgeber führt es aber am Ort der Betriebsstätte ab.

f) Dass mit den Arbeitgebern Private zur Einbehaltung und Abführung der Kir-

chensteuer herangezogen werden, wird – auch vom Bundesverfassungsge-richt – als zulässige Indienstnahme für öffentliche Aufgaben gewertet.

g) Die Verwendung der Kirchensteuer erfolgt nach Maßgabe der Prioritäten-

setzungen in den Landeskirchenämtern bzw. Generalvikariaten, die ihrer-seits durch mehrheitlich demokratisch legitimierte Gremien überwacht wer-den.

h) Durch die Ankopplung an die Einkommensteuer ist die Kirchensteuer ab-

hängig von der staatlichen Steuerpolitik und der Konjunktur. Auch wenn ihre Einnahmeseite damit nicht unerheblichen Schwankungen unterliegt, wird sich die Kirche insbesondere solchen staatlichen Steuerentlastungen nicht widersetzen, die den Familien zugute kommen.

2. Staatsleistungen

Rechtsgrundlage: Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 Abs. 1 WRV a) Staatsleistungen sind positive Geld- und Naturalleistungen als Ausgleich für

die Säkularisierung des Kirchengutes in der Reformationszeit und zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Reichsdeputationshauptschluss 1803; preuß. „Edikt über die Einziehung sämtlicher geistlicher Güter in der Monarchie“ 1810).

b) Ablösung wäre die einseitige Aufhebung der Leistungsbeziehungen gegen

eine angemessene Entschädigung.

Ablösung entweder durch die Landesgesetzgebung (Satz 1) oder auf der Grundlage von für die Ablösung aufgestellten Grundsätzen des Bun-

des (Satz 2) Abzulösende Staatsleistungen benötigen ein Rechtsgrundlage-Gesetz, Ver-

trag, besondere Rechtstitel (Gerichtsentscheidungen, landesherrliche Erlas-se usw.)

3. Steuer- und Gebührenbefreiungen

a) Steuerbefreiungen

Körperschaftssteuer: Wenn öff.-rechtl. Religionsgemeinschaften Betriebe unterhalten, die über-

wiegend kirchl. Zwecken i.S.d. § 54 Abs. 2 AO dienen, unterliegen die erziel-ten Einnahmen nach § 4 Abs. 5 KStG nicht der Steuer (Beispiele: Bildungs-einrichtungen, Einrichtungen der Caritas; Gegenbeispiele: Betriebe gewerbli-cher Art, z.Bsp. entgeltliche Kirchturmbesteigung, Reataurationsbetriebe). Erbschafts- und Schenkungssteuer:

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Bei unentgeltlichen Zuwendungen von Todes wegen oder unter Lebenden besteht eine Befreiung von der Steuer gem. § 13 Abs. 1 Nr. 16 Buchst. a ErbStG.

Grundsteuer:

Grundbesitz öff.-rechtl. Religionsgemeinschaften ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 GrStG steuerbefreit, soweit er für kirchliche Zwecke benutzt wird (Beispiele: Kirchengebäude, Friedhöfe).

Umsatzsteuer:

Grundsätzlich unterliegen die Kirchen nur im Rahmen ihrer Betriebe gewerb-licher Art der Umsatzsteuer. Dabei besteht gem. § 12 Abs. 2 Nr. 8 UStG ein um die Hälfte ermäßigter Steuersatz bei sog. Zweckbetrieben (= Tätigkeiten, die unmittelbar oder ausschließlich gemeinnützigen oder kirchlichen Zwe-cken dienen). Für Umsätze im Wohlfahrtsbereich besteht nach § 4 Nr. 16 Buchst. a UStG Steuerfreiheit.

Für alle einzelgesetzlich normierten Befreiungstatbestände gelten besondere gesetzliche Erfordernisse zur Erfüllung gemeinnütziger, mildtätiger und kirchlicher Zwecke, die in den §§ 51 bis 68 AO näher bezeichnet werden.

b) Gebührenbefreiungen Gerichtskosten: Im Einklang mit dem Gerichtskostengesetz (GKG) des Bun-

des besteht in Nordrhein-Westfalen nach dem Gesetz über Gebührenbefrei-ung, Stundung und Erlass von Kosten die Möglichkeit im Bereich der ordentl. Gerichtsbarkeit. Davon sind etwa die freiwillige Gerichtsbarkeit sowie Beur-kundungs- und Beglaubigungsgebühren erfasst. Nicht erfasst sind die Ar-beits- und die Finanzgerichtsbarkeit; umstritten ist insoweit die Verwaltungs-gerichtsbarkeit.

Verwaltungsgebühren: Bei Notarkosten besteht ab einem bestimmten Ge-

schäftswert eine progressiv gestaffelte Gebührenermäßigung. Eine Gebüh-renbefreiung besteht gem. § 8 Abs. 1 Nr. 5 GebG NRW, wenn eine ansons-ten gebührenpflichtige Amtshandlung der Erfüllung kirchlicher, gemeinnützi-ger oder mildtätiger Aufgaben dient.

Europäische Dimension der Rechtsbeziehungen von Staat und Religion

I. Religionsfreiheit in Europa

Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK):

„Artikel 9 - Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (1) Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung

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einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottes-dienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.

(2) Die Religions- und Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom

Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Ge-sellschaft notwendige Massnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.“

Die Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in

Straßburg zeigt eine Zurückhaltung, die Religionsfreiheit von individualrechtlich-privatisierender Akzentuierung zu einer auch institutionell offenen Gewährleis-tung, also der Gewährleistung kooperativer Religionsfreiheit zu entwickeln.

Charta der Grundrechte der Europäischen Union:

„Art. 10 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfrei-heit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. (2) Das Recht auf Wehrdienstverweisung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.“

Erläuterung: Das in Absatz 1 garantierte Recht entspricht Art. 9 EMRK und hat

nach Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta die gleiche Bedeutung und die glei-che Tragweite wie dieses. Bei Einschränkungen muss daher Art. 9 Abs. 2 EMRK gewahrt werden. Das in Absatz 2 garantierte Recht entspricht den ein-zelstaatlichen verfassungsrechtlichen Traditionen und der Entwicklung der ein-zelnen Gesetzgebungen in diesem Punkt.

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„Die fortschreitende Integration der zur Europäischen Union gehören-den Staaten fordert dazu heraus, die Rolle der Kirchen in diesem Prozess genauer zu bestimmen. Dabei bringen die Kirchen Vorstellungen und Erfahrungen, die ihr Verhältnis zum Staat betreffen, aus ihrem jeweiligen nationalen Kontext ein und versuchen, diese für die Lösung anstehender Probleme fruchtbar zu machen bzw. ihre Position zu klären und im europäischen Dialog zur Geltung zu bringen.“ (Beginn der Gemeinsamen Stellungnahme der Kirchenamtes der EKD und des Sekretariates der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen des Europäischen Eini-gungsprozesses vom Januar 1995)

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Damit sind zwei Dimensionen angesprochen:

II. Auswirkungen der europäischen Einigung auf das deutsche Staatskirchen-

recht

Das Gemeinschaftsrecht als Grundlage der EU hat in vielen Bereichen Aus-

wirkungen auf das deutsche Recht, auch im Bereich von Religion und Kirche.

Ebensowenig wie das „Prinzip der begrenzten Ermächtigung“ (Art. 3 b Abs. 1 EGV) verhindert das Subsidiaritätsprinzip (Art. 3 b Abs. 2 EGV) Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts in Bereichen, die unstreitig in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verblieben sind. Es gibt keine gemeinschaftsrechtsfesten Ma-terien.

Die durch den Unionsvertrag von Maastricht eingeführte Kulturkompetenz der

EG (Art. 128 EGV) schützt das Staatskirchenrecht der Mitgliedstaaten. Die potentiell stärksten Auswirkungen auf das deutsche Staatskirchenrecht er-

geben sich aus den Bestimmungen über den freien Personenverkehr (Freizü-gigkeit, Niederlassungsfreiheit) und die europarechtlichen Vorgaben für das Arbeitsrecht.

Weitere Auswirkungen sind möglich insbesondere für die kirchlichen Wohl-

fahrtsverbände bei einer Vereinheitlichung des Vereinsrechts (Problem: Weg-fall der Gemeinnützigkeit).

Die Kirchensteuer ist unmittelbar nicht betroffen. Wegen ihrer Abhängigkeit von

der Einkommensteuer könnten sich aber bei Harmonisierungen im Steuerrecht mittelbare Auswirkungen ergeben. Eine zusätzliche Problematik ergibt sich ak-tuell aus dem Fall Wasmuth vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen-rechte.

III. Staat-Kirche-Verhältnis in der Europäischen Union

Es geht um das Verhältnis von Staat und Kirche in Europa, nicht um ein euro-päisches Staatskirchenrecht.

In allen europäischen Verfassungssystemen ist die Religionsfreiheit gewähr-leistet. Die Grundproblematik in Europa besteht in ihrer konkreten Ausgestal-tung (Grundorientierung auf die Entfaltung der einzelnen oder stärkere institu-tionell-öffentliche Tradition).

Die bestehenden Unterschiede sind Ausdruck der Europa prägenden kulturel-len Vielfalt. Daher sollten die jeweiligen mitgliedstaatlichen Staat-Kirche-Verhältnisse mit ihren grundsätzlich positiven Bewertungen der Rolle von Reli-gion und Kirchen geachtet werden. Jede erzwungene Harmonisierung ist ge-meinschaftsrechtlich nicht geboten und eher schädlich.

Dem trägt die „Kirchenerklärung der Europäischen Union“ Rechnung: Die Ver-

handlungen von „Maastricht II“ haben zum Vertrag von Amsterdam vom 2.

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Oktober 1997 geführt. Er enthält eine Erklärung zur Schlussakte, mit der die Kirchen und Religionsgemeinschaften erstmals ausdrücklich im Recht der EU berücksichtigt worden sind:

„Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Ge-meinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften ge-nießen und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.“

Durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 (in Kraft getreten am 1. Dezember 2009) ist ein neuer Artikel 16c in den Vertrag über die Euro-päische Union eingefügt worden:

Artikel 16 c

(1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigun-gen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvor-schriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. (2) Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschauli-che Gemeinschaften nach den einzelnen Rechtsvorschriften genießen. (3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Aner-kennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrages einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“