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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 73. Jahrgang 12 / 10 ISSN 0721-2402 H 54226 Atheismus in der Diskussion „Ich gehör’ nur mir“ Eine Jugendfeier des Humanistischen Verbandes „Alles Leben ist Yoga“ Was bleibt von Sri Aurobindo? Der Himmel ist wieder offen Zur Bedürfnislage der neuen Engelreligion Stichwort: Humanismus Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

73. Jahrgang 10 12 Was bleibt von Sri Aurobindo ... · Was bleibt von Sri Aurobindo? Der Himmel ist wieder offen Zur Bedürfnislage der neuen Engelreligion Stichwort: Humanismus Evangelische

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73. Jahrgang 12/10IS

SN 0

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2402

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4226

Atheismus in der Diskussion

„Ich gehör’ nur mir“Eine Jugendfeier des Humanistischen Verbandes

„Alles Leben ist Yoga“Was bleibt von Sri Aurobindo?

Der Himmel ist wieder offenZur Bedürfnislage der neuen Engelreligion

Stichwort: Humanismus

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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Wolf KrötkeAtheismus in der DiskussionFestvortrag zum 50-jährigen Bestehen der EZW 443

Claudia Knepper„Ich gehör’ nur mir“Eine Jugendfeier des Humanistischen Verbandes 450

Christian Ruch„Alles Leben ist Yoga“Was bleibt von Sri Aurobindo? 456

Oliver DürrDer Himmel ist wieder offenÜber die Logik der Bedürfnisse in der neuen Engelreligion 461

Freigeistige BewegungNeue Mitgliederzahlen 467

EsoterikBärbel Mohr ist tot 469

Humanismus 469

INHALT MATERIALDIENST 12/2010

INFORMATIONENINFORMATIONEN

ZEITGESCHEHENIM BLICKPUNKT

INFORMATIONENBERICHTE

INFORMATIONENSTICHWORT

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Thomas RusterDie neue EngelreligionLichtgestalten – dunkle Mächte 473

Elke HemmingerThe Mergence of SpacesExperiences of Reality in Digital Role-Playing Games 475

Béatrice Acklin Zimmermann, Franz Annen (Hg.)Versöhnt durch den Opfertod Christi?Die christliche Sühnopfertheologie auf der Anklagebank 476

INFORMATIONENBÜCHER

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443MATERIALDIENST DER EZW 12/2010

Ein richtiges Thema für eine „Festrede“ istder Atheismus ja eigentlich nicht. Insbe-sondere im Kreise von Menschen, die sichdie Verantwortung der christlichen Bot-schaft in den weltanschaulichen Orientie-rungen, die unsere Gesellschaft prägen,zur Aufgabe gemacht haben, dürfte esschwer sein, so etwas wie die Diskussionmit dem Atheismus auf die Ebene einesfestlichen Geschehens zu heben – es seidenn, der Theologe macht sich ein Fest daraus, die mehr oder weniger schwa-chen Argumente des neuesten Atheismuszu zerpflücken. Aber das wäre wohl einetwas fades Fest. Denn wie immer sichder Atheismus in Vergangenheit und Ge-genwart, in West und Ost und weltweitdarstellt, erstlich und letztlich handelt essich schlicht um das Phänomen der Got-tesleugnung. Dieses Phänomen aberstimmt niemanden in der Kirche festlich,sondern bestenfalls besorgt und schlimm-stenfalls traurig. Dass unsere Kirche angesichts des in un-seren Landen – und besonders in unserenöstlichen Landen – grassierenden Atheis-mus sich dennoch nicht besorgt und trau-rig in den Winkel ihrer Glaubenswelt zu-rückzieht, sondern das Gespräch mit demAtheismus – mit den Menschen vor allem,die ihn vertreten – sucht, dafür stehtexemplarisch an einem wichtigen Ort inDeutschland die „Evangelische Zentral-stelle für Weltanschauungsfragen“. Dasfestliche Danke, dass wir ihr heute dafürsagen, kann aber nicht ohne Ausblick auf

die Herausforderungen sein, vor denen siesteht. Dazu gehört nicht nur in Berlin,aber doch hier ganz besonders, die He-rausforderung der Kirche durch den Athe-ismus. Ich skizziere sie im Folgenden ingroben Strichen, indem ich erstens vom„Atheismus ohne Diskussion“ und zwei-tens vom „Atheismus in hitziger Diskus-sion“ rede.

Atheismus ohne Diskussion

Wer nach Berlin kommt und sich für dasweltanschauliche Klima in dieser Stadt in-teressiert, stößt sicherlich bald auf ein in-zwischen schon geflügeltes Wort. Er seihier in der „Welthauptstadt des Atheis-mus“, wird man ihm sagen. So hat deramerikanische Soziologe Peter Berger umdie Jahrtausendwende seinen Eindruckvom weltanschaulichen Profil dieses Or-tes auf den Punkt gebracht. Die organi-sierten Atheisten in Berlin verstehen das –wie man ihrem „atheistischen Stadtfüh-rer“ entnehmen kann – als ein Lob für dieVerbreitung ihrer Weltanschauung. Siemarginalisieren dabei aber den nicht nurironischen, sondern auch bedrohlichenUnterton, den dieser soziologische Spe-zialist fürs Religiöse mit dem Begriff„Welthauptstadt“ anklingen ließ. Denn„Welthauptstadt“ ist bekanntermaßeneine Wortschöpfung von Adolf Hitler ausdem Jahre 1942. „Reichshauptstadt“ warfür das Nazireich zu wenig. Das Weltreichder Germanen sollte sein Zentrum in der

IM BLICKPUNKTWolf Krötke, Berlin

Atheismus in der DiskussionFestvortrag zum 50-jährigen Bestehen der EZW1

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„Welthauptstadt Germania“ haben. DerUntergang dieses größenwahnsinnigenProjektes in millionenfachem Tod und inTrümmerwüsten hat die Kennzeichnungeines Ortes als „Welthauptstadt“ imSprachgebrauch von heute deshalb zurAnnonce von etwas ziemlich Gefährli-chem oder mindestens Fragwürdigem undBedenklichem werden lassen. „Welt-hauptstadt des Heroins“ ist das West-Ber-lin der Vorwendezeit genannt worden. Als„Welthauptstadt der Hacker“ gilt heuteShaoxing in China. „Welthauptstädte“sind in der Wahrnehmung der Zeitgenos-sen von heute also offenkundig Orte mitunheilsschwangeren Potenzialen und pro-blematischen Ansprüchen auf Weltgel-tung. Eine „Welthaupthauptstadt des Athe-ismus“ ist davon nicht ausgenommen.Denn als Berger sein Bonmot kreierte, wardie Erinnerung daran noch frisch, dass derKollaps des realsozialistischen östlichenWeltreichs auch das Ende des Atheismusals einer staats- und gesellschaftstragen-den Weltanschauung bedeutete. Die Un-terdrückung der Freiheit der Religionsaus-übung, die Drangsalierung von Menschenmit anderen weltanschaulichen Überzeu-gungen – um von Schlimmerem und Ver-brecherischem zu schweigen – hatte auf-gehört. Der Atheismus – beraubt desMachtapparates und der Propagandain-strumente, die ihn stützten – wurde leise,wurde auf eine der vielen weltanschauli-chen Orientierungen zurückgeschrumpft,die in einer pluralistischen Gesellschaftdas Leben der Menschen bestimmen. Auf diesem Niveau musste ihm aber nichtbloß ein amerikanischer Beobachter eineerstaunliche Vitalität bescheinigen. Wäh-rend die Unterdrücker verschwanden,hatte sich die Mehrzahl der Menschen aneine ihnen verordnete Lebensweise undan einen Lebensstil gewöhnt, der nichtsmit Religion und Kirche, geschweige dennmit Gott, zu tun hat. Da der Kontakt zur

Kirche selbst die berühmten „Nischen“gefährdete, in die sich ein DDR-Menschvor dem Zugriff des Machtstaates zurück-zuziehen pflegte, wurde Religionsabsti-nenz auch in diesen Nischen heimisch.Auf solche Weise kam eine massenhafteEntfremdung vom christlichen Glaubenund von den christlichen Traditionen auchim privaten Leben in Gang, die das Desas-ter des Atheismus auf der Weltbühneüberdauerte. Es entstand ein Gewohn-heitsatheismus, der gewissermaßen die er-folgreichste Hinterlassenschaft des real-existierenden Sozialismus ist und der sichbeständig fortpflanzt. Christlicher Glaubeoder christliche Frömmigkeit kommen inden Familien nicht mehr vor. Schon dieGroßeltern, vielleicht sogar die Urgroßel-tern, waren nicht in der Kirche; die Nach-barn, Freunde und Arbeitskollegen sind esauch nicht. In den Schulen herrscht einatheistisches Grundklima. So ist ein hart-wandiges gesellschaftliches Milieu ge-wachsen, das alles, was ausdrücklich mit„Religion“ zu tun hat, von sich abweist. Dass dieses Milieu eine Herausforderungsondergleichen besonders für die evange-lische Kirche ist, duldet keinen Zweifel. Esstellt nicht nur ihre ererbte Struktur einerüber das ganze Land verbreiteten Religi-onsgemeinschaft in Frage. Es schiebt imgesellschaftlichen Bewusstsein ihre Glau-benswahrheiten unter die Schwelle derKonfliktfähigkeit. Mit der Religion wirdnicht diskutiert. Religion hat man als ab-seitiges Relikt der Vergangenheit hintersich. Die westlichen Pendants dieser Ein-stellung, der immerhin auch rund 25 Pro-zent der Bevölkerung Deutschlands zuzu-rechnen sind, treten zwar zerstreuter inErscheinung. Hier ist ein individuell selbstvertretener Atheismus, der noch kennt,was er verneint, überdies auch verbreite-ter. Dennoch stimmen die Atheismen mitunterschiedlicher Genese durchaus zu-sammen, wenn es gilt, Einfluss und Ver-

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breitung von Kirche und Glauben in derGesellschaft zu verhindern. In einer Stadtwie Berlin kann man das besonders dras-tisch erleben, wie nicht erst beim geschei-terten Pro-Reli-Volksbegehren offenbarwurde. Das alltägliche Abweisen der Reli-gion in den basalen Zusammenhängendes gesellschaftlichen Lebens ist viel auf-dringlicher.Angesichts dessen verwundert es dochsehr, dass die in den letzten Jahren ent-standenen Zukunftspapiere der EKD undder Landeskirchen nur am Rande auf dieFrage eingehen, wie sich Kirchen und Ge-meinden auf das atheistische Milieu ein-lassen können. Das Äußerste, was man indieser Hinsicht im Berlin-Brandenburgi-schen Perspektivpapier „Salz der Erde“ zuhören bekommt, ist, dass auf alles „Auto-ritäre“ zu verzichten ist, um in diesem Mi-lieu „Akzeptanz und Sympathie“ zu errei-chen. Von einem „Atheismus in der Dis-kussion“ kann in der kirchlichen und ge-meindlichen Realität – alle Ausnahmenwie die EZW und einige „missionarische“Aktivitäten zugebilligt – schlechterdingsnicht die Rede sein. Dementsprechendwird der Frage wenig Aufmerksamkeit ge-schenkt, wie das Reden, Leben und Agie-ren der christlichen Gemeinden achtsamauf die Begegnung mit Menschen zu kon-zentrieren ist, die von Gott und vomGlauben gar nichts kennen und dennochvoller Ressentiments gegenüber Gott undGlauben sind.Große Aufmerksamkeit findet in Kircheund Theologie dagegen die unterdessenfast zum Selbstläufer avancierte Rede vonder „Wiederkehr der Religion“ oder – ih-rer bunten Vielfalt wegen – der „Wieder-kehr der Götter“. Sie scheint eine Hoff-nung zu nähren, die schon bei der Verei-nigung der deutschen Kirchen vor 20 Jah-ren eine dann sehr enttäuschende Rollegespielt hat, die Hoffnung nämlich, dasatheistische Milieu würde sich von alleine

auflösen. Der „Gewohnheitsatheismus“begegne schon heute nur noch in „Rudi-menten“, können wir z. B. in einer Mün-chener Dogmatik von 2005 lesen. Das istim Hinblick auf die weltanschaulich-reli-giöse Landschaft, die ich hier vor Augenhabe, schlicht falsch. Dabei ist gar nicht zu bestreiten oderkleinzureden, dass es in Europa ein neuerwachtes Interesse am Religiösen gibtund dass die Religionen – wie auch im-mer – weltweit boomen. Was jene „Wie-derkehr der Götter“ in unseren Breiten be-trifft, so zeichnet sie sich nach der Be-schreibung von Ulrich Beck in seinemBuch „Der eigene Gott“ jedoch dadurchaus, dass Menschen sich aus den unter-schiedlichsten religiösen Traditionen ei-nen individualisierten Glauben „zusam-menbasteln“. Wo religiöse Traditionen imLeben von Menschen allerdings gar nichtmehr vorkommen, da gibt es auch kein„Material“ zum Basteln. Da schweigendie Götter, auch wenn es im atheistischen(wie in religiösen Milieus auch) natürlichPhänomene von Pseudoreligion gibt, d. h.der Überhöhung von Irdischem zu Ge-genständen religionsähnlicher Verehrung.Der Fußball erteilt uns dazu immer wie-der Anschauungsunterricht.In einer Hinsicht partizipiert das atheisti-sche Milieu allerdings am Trend zur Indi-vidualisierung des Religiös-Weltanschau-lichen und damit zum Zusammenbastelnder eigenen Überzeugung. Es kann sichunter keiner einheitlichen Theorie mehrbergen, nachdem sich die marxistisch-le-ninistische Behauptung in Luft ausgelösthat, die Materie entwickle sich in „dialek-tischen Sprüngen“ zielstrebig auf dieMenschheit zu, die diese Zielstrebigkeitgeschichtlich in „Klassenkämpfen“ unterBeweis zu stellen habe. Die Frage nachtragenden Lebenseinstellungen trifft des-halb hier – wie Umfragen und die Erfah-rung zeigen – auf einen Chorus diffuser

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Stimmen. Versatzstücke aus jener Ideolo-gie und Elemente aus der europäischenethischen Tradition sind darin ebenso an-zutreffen wie gemäßigt hedonistische,aber auch existenzialistische und zuwei-len nihilistische Anschauungen. Wohindergleichen das gesellschaftliche Lebenwohl bugsiert, war die besorgte Frage, diein Bergers Bonmot von der „Welthaupt-stadt des Atheismus“ steckte. Sie sollte inder Mitte unseres Jahrzehnts nun ausge-rechnet aus seinem Heimatlande herauseine Antwort angeboten bekommen, alssich sogenannte „Neue Atheisten“ mitdem Absolutheitsanspruch einer universa-listischen atheistischen Theorie zu Wortemeldeten.

Atheismus in hitziger Diskussion

Es ist hier nicht der Ort und die Zeit, dieArgumente en détail darzustellen und kri-tisch zu beleuchten, die nach Sam Harris,Christopher Hitchens, Daniel Dennett, Ri-chard Dawkins und anderen den „NeuenAtheismus“ ausmachen. Unterdessen liegteine ganze Reihe von Analysen ihrerSchriften vor, die die Selbstprofilierungdieses Atheismus als „neu“ im Grundenicht mehr gestatten (vgl. MD 1/2009, 3-16). „Neu“ ist im Vergleich zu der in unse-rem Lande in Nischen der Ruhe gewach-senen Religionsabstinenz, die summasummarum von einer durchaus verträgli-chen Menschlichkeit geprägt ist, allenfallsder hitzige und wilde, religiöse Menschenverächtlich machende Ton, der im Jahre2006/2007 z. B. Richard Dawkins’ Buch„Der Gotteswahn“ an die Spitze von Best-sellerlisten und auf die Titelseiten großerMagazine katapultiert hat. Die Behauptung, dass religiöse Menschenwahnsinnig seien, erinnert dennoch andie schlimmsten Zeiten stalinistischer Re-ligionsverfolgung. Dass Michael Schmidt-Salomon sie in seinem inzwischen in fünf-

ter Auflage erschienenen Buch „Jenseitsvon Gut und Böse“ nicht nur wiederholt,sondern noch fast zu „harmlos“ findet,lässt besorgt fragen, was wohl geschähe,wenn dieser Atheismus die Beherrschungüber den Wertekanon von Regierungenund Gesellschaftsinstitutionen gewönne.Dass der „Humanistische Pressedienst“,der kein Organ des „Humanistischen Ver-bandes“ ist und mit diesem Verband nichtverwechselt werden darf, das Machwerkvon Schmidt-Salomon „Wo bitte geht’s zuGott, fragte das kleine Ferkel“ als „Hei-denspaß“ für Kinder bewirbt, ist ein beun-ruhigendes Zeugnis für den Geist des„Humanismus“, der von diesem „Presse-dienst“ verbreitet wird.Nichtsdestotrotz können die Elaborate der„Neuen Atheisten“, die sich jenseits vonErfahrungen mit einem alles beherrschen-den Atheismus bewegen, dazu dienlichsein, das Bewusstsein der Christen für dieSituation zu schärfen, in der sie sich in ei-nem atheistischen Milieu befinden. Ichbegnüge mich hier mit dem Hinweis aufdrei charakteristische Argumente des„Neuen Atheismus“, die sich dadurchauszeichnen, dass sie ein Christentumaufs Korn nehmen, in dem sich hierzu-lande kaum ein Christenmensch wieder-erkennen kann. Es wiederholt sich hier,was das Gespräch mit dem Atheismusschon immer beschwerlich gemacht hat.Es steht entweder ein Christentum der Ver-gangenheit oder ein simpel biblizistischesChristentum der Gegenwart im Fokus.Das Kinderbuch, das jenem erwähntenMachwerk folgte („Susi Neunmalklug er-klärt die Evolution“), diskreditiert z. B. –offenkundig gegen besseres Wissen – denReligionsunterricht, indem es einen dum-men Religionslehrer lächerlich macht, derdie Kinder kreationistisch unterrichtet.Dieses Verfahren, das auch sonst die janun wirklich schon lange währende undbreite Arbeit der christlichen Theologie an

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der Verantwortung des Glaubens unterden Bedingungen der Neuzeit einfachignoriert, ist für die Atheisten aus Überseeebenso kennzeichnend wie für die in anti-religiösen Ressentiments beheimatetenPartizipanten am atheistischen Milieuhierzulande. Dreierlei kann das schlag-lichtartig verdeutlichen.1. Auslöser des „Neuen Atheismus“ warzweifellos der islamistische Anschlag aufder World-Trade-Center in New York imJahre 2001. Er hat das Thema „Religionund Gewalt“ auf die Tagesordnung einerweltweiten Diskussion gesetzt. Für die„Neuen Atheisten“ ist es ein Zentral-thema. Jede Religion tendiert notwendigzur Gewalt gegenüber Menschen mit ei-nem anderen Glauben oder einer anderenWeltanschauung – lautet der Vorwurf. Ergeht viel weiter als z. B. Jan Assmannshinreichend widerlegte Theorie, nur derMonotheismus sei im Unterschied zumPolytheismus aggressiv und intolerant,weil er im Glauben an nur einen Gott alleanderen Götter und deren Anhängerschaftverneine. Der Grund für die religiöse Ag-gressivität sei vielmehr die Unwissenheit.Religiöser Glaube erfinde, weil Menschenes nicht besser wüssten, absurde Vorstel-lungen über die Welt, die Menschen unddie Vorgänge in Natur, Geschichte und in-dividuellem Leben. Weil er seine unbe-weisbaren Erfindungen für die allein rich-tigen halte, sei er unfähig, sie zu korrigie-ren. „Dummheit, gekoppelt mit ... Über-heblichkeit“ ist nach Christopher Hitchensdas Wesen der Religion. Deshalb verbin-det sich nach seiner Ansicht religiöserGlaube immer mit Hass und Vernich-tungswut gegen andere Menschen, dieebenso unbeweisbare religiöse oder welt-anschauliche Vorstellungen hegen. Wokeine Argumente sind, sprechen eben dieFäuste. Nur der Atheismus garantiere einewesenhaft friedliche Welt, behauptet SamHarris allen Ernstes.

Die Christinnen und Christen, die 1989gemeinsamen mit ihren atheistischen Mit-bürgerinnen und Mitbürgern die Losung„keine Gewalt“ auf die Straßen getragenhaben, können wie unsere ganze von derFriedensbotschaft Jesu Christi bewegteKirche derartig pauschale Behauptungeneinfach nur abseitig finden, obwohl dieGewaltgeschichte des Christentums undaller anderen Religionen nicht zu leug-nen, sondern vielmehr intensiv kritisch zureflektieren ist. So ist denn in Kirche undTheologie längst vor den „Neuen Atheis-ten“ der Verbindung von christlicher Bot-schaft und Gewaltausübung eine eindeu-tige Absage erteilt worden. Nur „sine vi,sed verbo“ (CA 28) kann diese Botschaftzu den Menschen getragen werden. Dasist heute unstrittig. Selbst ein halbwegsehrlicher Atheist kann hier und heutenicht aus Erfahrung bestätigen, dass dasChristentum gewalttätig ist. Ein aktuellerAnlass, Atheist zu werden, ist diese Be-hauptung jedenfalls nicht. Viel eher dürftedie Verständigung darüber, dass weltan-schauliche und religiöse Überzeugungenniemals mit Gewalt vertreten werden dür-fen, die einfachste Ebene der Verständi-gung zwischen Glaubenden und Nicht-glaubenden darstellen. Ja, das ist sie imalltäglichen Leben faktisch schon längst.2. Der zweite Auslöser des „Neuen Athe-ismus“ jenseits des Atlantiks ist der christ-liche Fundamentalismus in den USA, des-sen Wogen freilich auch in manche Ge-genden Deutschlands herüberschwappen.„Fundamentalismus“ ist die Bezeichnungfür ein Verständnis der Bibel, das nicht nurihre Glaubensaussagen, sondern auchihre weltbildhaften Vorstellungen undethischen Überzeugungen für Definitio-nen göttlich offenbarter Wahrheiten hält.An diesem Fundamentalismus bilden sichdie „Neuen Atheisten“ ihr Urteil von der„Dummheit“ oder vom „Wahnsinn“ derReligion. So gut wie unbeachtet bleibt da-

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bei die theologische und kirchliche Kritikan diesem Fundamentalismus. Die Ge-schichte des Verhältnisses der Kirche zuden Naturwissenschaften wird aufs Einsei-tigste auf das Bild von einer prinzipiellenWissenschaftsfeindlichkeit der Kirchebzw. des christlichen Glaubens verkürzt.Friedrich Schleiermachers Forderung nacheinem „ewigen Vertrage zwischen einemlebendigen christlichen Glauben und dernach allen Seiten frei gelassenen wissen-schaftlichen Forschung“, die wir geradeim Jahre des 200-jährigen Bestehens derBerliner Universität ans Licht stellen, er-scheint da als etwas völlig Unverständ-liches.Da dieses Geschichtsbild ein gängigesRessentiment in den östlichen und west-lichen atheistischen Milieus bedient, ist esnötig, den Problemkomplex Schöpfungs-glaube und Naturwissenschaft aus derEcke einer Frage für ein paar Spezialistenherauszuholen. Die Aufgeklärtheit überdieses Verhältnis sollte zur selbstverständ-lichen Ausrüstung eines christlichen Le-bens in der andauernden Begegnung mitMenschen gehören, die sich mit diesemRessentiment Gott und Glaube vom Leibehalten. Meines Erachtens wird an der Ba-sis der Kirche – vor allem in der Arbeit mitKindern und Jugendlichen – viel zu wenigfür eine solche Aufgeklärtheit gesorgt.Viele Texte der „Neuen Atheisten“ könnensogar dafür verwendet werden, die eigeneUrteilsfähigkeit zu entwickeln. Es ist nö-tig, dass viel mehr Menschen in Beruf undAlltag darzustellen vermögen, dass mankein Atheist werden muss, um für die Frei-heit der Wissenschaften einzutreten.3. Als ihr stärkstes Argument betrachtendie „Neuen Atheisten“ die Tatsache, dassmethodisch-atheistische wissenschaftlicheForschung mit ihren Mitteln Gott nicht„beweisen“ kann. Deshalb haben sieauch an den durch Deutschland touren-den „Atheismus-Bus“ den komplizierten

Satz geschrieben: „Gott existiert mit an Si-cherheit grenzender Wahrscheinlichkeitnicht.“ Diese Aussage bedient ein Wirk-lichkeits- und Wahrheitsverständnis, dasnur der objektivierbaren Realität Wirklich-keit und Wahrheit zuspricht bzw. sie aufsie zurückführt. An dieser Stelle kommt die Diskussion mitdem gegenwärtigen Atheismus an ihreneigentlichen Knackpunkt. Sie pflegt des-halb hier – auch vonseiten der etwas zuaufgeregten christlichen Apologetik – be-sonders hitzig zu werden. Es geht dabeium die Bedeutung des Glaubens an Gottfür die Wirklichkeitserfahrung. Die atheis-tische Kritik versteht „Glauben“ als Für-wahrhalten von überirdisch gelenkten Na-turvorgängen. Doch davon kann er alsGlaube gar nichts wissen. Er hütet sich ge-radezu davor, den unverfügbaren Gottdem menschlichen Verfügungswissen wieeine naturgesetzliche Tatsache einzuver-leiben, was Dawkins’ alberner VergleichGottes mit einer im Weltraum herumflie-genden „Teekanne“ bzw. mit einem „Spa-ghettimonster“ unterstellt.Denn Glaube ist das Vertrauen zur Wirk-lichkeit Gottes, das aufgrund personalerBegegnung mit Gott in unserer Existenzund in unserer Geschichte begründetwird. Solcher Glaube ist der grundle-gende Zugang zu Gott. Im Lichte diesesGlaubens deutet die Christenheit allesdas, was wir in wissenschaftlicher Er-kenntnis vom Werden des Universumsund des menschlichen Lebens wissenkönnen. Sie grämt sich dabei keinesfallsdarüber, dass die Erde, auf der wir Men-schen leben, sich nur als winziger Punktin den Weiten des Universums darstellt.Schon der lutherische Theologe und Astro-nom Johannes Kepler, dem wir den ent-scheidenden Durchbruch zur wissen-schaftlichen Erkenntnis des Universumsverdanken, hatte im 17. Jahrhundert dieseTatsache im Lichte der paulinischen

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Rechtfertigungslehre so interpretiert, dassGott das Geringste – er sagt die „Kloake“des Universums – erwählt habe, um seineHerrlichkeit kundzutun. Für den Atheismus der hier beschriebenenArt ist dagegen unsere Fähigkeit, alles Vor-handene und Wissbare mit unserem Be-wusstsein transzendieren zu können, vonder wir im Glauben Gebrauch machen,ein Zufallsprodukt der Evolution. Sieschreibt uns vor, dass und wie wir unsohne den Glauben an Gott bzw. ohne Re-ligion selbst zu verstehen haben. Das Ent-stehen von Religion, das manche Evoluti-onsforscher geradezu als eine Triebkraftder Evolution ansehen, wird dagegen aufdas Konto einer „Fehlfunktion“ der Evolu-tion geschrieben. Diese selbstwider-sprüchliche Aussage verdankt sich offen-kundig auch einer existenziellen Entschei-dung, allerdings einer, die vom Vorurteildes Nichtglaubens geprägt ist. Deshalbspitzt sich die Diskussion auf die Frage zu,an welchem Kriterium zu messen ist, washier richtige Funktion und was „Fehlfunk-tion“ von uns mit Bewusstsein begabtenWesen ist. Dabei ist unstrittig, dass Religion – auch„christliche Religion“ – in ihren vielen Fa-cetten und geschichtlichen Erscheinungs-weisen schon immer auch ein Feld für dasGedeihen von Illusionismus, Aberglaube,Irrtümern und tief problematischen Men-schenbildern war und ist. Anders als reli-gionskritisch können christlicher Glaubeund Theologie nicht für die Überzeugungeintreten, dass der Glaube an Gottes Klar-heit der Liebe – und in dieser Weise alsReligion! – uns menschliche Menschen inunseren großen Möglichkeiten und in un-seren Grenzen werden lässt. Solange vonatheistischer Seite diese Möglichkeit garnicht in Betracht gezogen, sondern nurpolemisch negiert wird, bleibt die vonden „Neuen Atheisten“ ausgelöste Dis-kussion ein bloßer Rumor, dessen wesent-

licher Effekt die gegenseitige Abschre-ckung von Glaubenden und Nichtglau-benden ist.

Verstehensbrücken bauen

Ich wünschte mir dagegen angesichts dereingangs geschilderten Sprachlosigkeit inSachen Religion, die vom atheistischenMilieu ausgeht und auch in unseren Kir-chen waltet, dass die Diskussion mit demAtheismus auf ein Niveau kommt, aufdem sich Menschen mit und ohne Reli-gion bei ihren stärksten Seiten wahrneh-men und würdigen können und über ihreSchwächen und Nöte „sine ira et studio“zu reden vermögen. Wir hatten dieses Niveau ja wenigstens schon einmal ange-zielt. An Dietrich Bonhoeffers theologi-sche Würdigung und Inanspruchnahmeder „Religionslosigkeit“ ist hier ebenso zuerinnern wie an das Großmachen christ-licher Impulse im Atheismus bei ErnstBloch, Milan Machovec und VitezslavGardavsky – um nur einige zu nennen.Wie es aussieht, wird das Zusammenle-ben von nichtreligiösen Menschen, diesich als Atheisten verstehen, und Glau-benden noch lange unser gesellschaftli-ches Leben bestimmen. Theologie undKirche sollten sich deshalb von einem hit-zigen Atheismus nicht dazu verführen las-sen, mit an schalldichten Mauern zwi-schen diesen Menschen zu bauen. Siesollten so viel wie möglich dafür tun, dassSprach- und Verstehensbrücken von hiernach dort und von dort nach hier entste-hen.

1 Der Text beruht auf einem Vortrag, den der Autorbei der Festveranstaltung zum 50-jährigen Bestehender Evangelischen Zentralstelle für Weltanschau-ungsfragen am 12. Juni 2010 in Berlin gehalten hat.Gemeinsam mit weiteren Vorträgen der Veranstal-tung wurde der Beitrag veröffentlicht in: Den eige-nen Glauben kennen – den fremden Glauben ver-stehen (50 Jahre EZW), epd Dokumentation 38/2010.

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Claudia Knepper

„Ich gehör’ nur mir“Eine Jugendfeier des Humanistischen Verbandes

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BERICHTE

Es ist Anfang Juni 2010. Wie andernortszur Konfirmation versammelt sich vordem Friedrichstadtpalast in Berlin eine sä-kulare „Gemeinde“ zu einer Jugendfeierdes Humanistischen Verbandes Deutsch-lands (HVD). Eltern, Großeltern, Ge-schwister, Schulfreunde und Lehrer sindin freudig aufgeregter Stimmung. Langsamschieben sie sich mit ihren Eintrittskartenam Einlasspersonal vorbei durch das Na-delöhr der Eingangstür in das Foyer destraditionsreichen Berliner Revuetheaters.Bis 1992 wurden hier zahlreiche Folgender bekanntesten Unterhaltungsshow desDDR-Fernsehens, „Ein Kessel Buntes“,aufgezeichnet. 1947 wurde im Vorgänger-bau des Friedrichstadtpalastes die Jugend-organisation „Freie Deutsche Jugend“(FDJ) gegründet. Auch durch andere ge-sellschaftliche Großveranstaltungen wardas Haus in der ganzen DDR bekannt.Acht Jugendfeiern des HVD an vier Sams-tagvormittagen fanden in diesem Frühjahrstatt. Laut Pressemeldung des HVD wur-den insgesamt 1650 Vierzehnjährigedurch den HVD geehrt. Pro Jugendfeierwaren etwa 210 Jugendweihlinge und gut1700 Gäste im ausverkauften Haus anwe-send. Für das Jahr 2011 haben sich bereits1800 Jugendliche angemeldet. „Humanis-tische Jugendfeier“ nennt der weltan-schauliche Verband seine Veranstaltun-gen. Nach Auskunft von Margrit Witzke,Abteilungsleiterin Jugend des Landesver-bandes Berlin des HVD, will sich der

HVD damit „vom Weihegedanken lösenund den selbstbestimmt-feierlichen As-pekt dieses Festes stärker in den Vorder-grund stellen“. Auch möchte man sich mitdem neuen Namen von der Jugendweihein der DDR kritisch abgrenzen. Mit demZusatz im Titel „die andere“ bzw. „die hu-manistische Jugendweihe“ stellt sich derHVD bewusst in die mehr als einhundert-jährige Tradition der freireligiösen undfreidenkerischen Jugendweihe.

Der Auftakt

Der im gedämpften Licht liegende Thea-tersaal empfängt seine Gäste ganz in Blau.Wie in einem Amphitheater erheben sichim Halbrund um die Bühne Sitze mit kö-nigsblauen Polstern und dunkler Holzrah-mung. Die nach eigenen Angaben welt-weit größte Theaterbühne liegt hinter ei-nem durchsichtigen, straff gespanntenVorhang, der in seinem tiefen Blau mitweiß verwirbelten Farbflächen an einenBlick in die Weiten des Weltraumes erin-nert.Im Saal ist es recht laut. Aufgeregt wird inden Reihen getuschelt und gelacht, Plätzewerden gesucht, Angehörigen wird ge-winkt. Dann richten sich Scheinwerfer aufdie vier Saaleingänge. Zum Marsch Nr. 1„Pomp and Circumstance“ von Edward El-gar, der als die Einzugshymne von Schul-abgängern an amerikanischen High-schools gilt, und eingeblasenem Nebel

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ziehen unter dem Applaus der Gäste invier Reihen je 50 Mädchen und Jungenein. Ein guter Teil des Publikums erhebtsich dazu. Es wird geklatscht, gepfiffen,gejubelt, gewinkt. Es ist eine mitreißendeStimmung. Flott hüpfen die Jugendlichenin einer Reihe hintereinander die Treppenhinunter. Alles wirkt sicher. Vorab wurdemit den Jugendlichen nicht geprobt, aberzahlreiche Helfer sorgen für einen rei-bungslosen Ablauf. Die gut 90-minütigeShow ist professionell choreographiertund ausgeführt. Die Mitwirkenden sindprofessionelle Schauspieler, Moderatorenund Musiker. Gestaltet wurde die Feierunter der Regie von Axel Poike, Schau-spieler, Regisseur und Autor, der auchschon Revuen für den Friedrichstadtpalastgeschrieben hat, sowie von dem MusikerFrank Odjidja.Während sich die Jugendweihlinge nochin die ersten Sitzreihen einfädeln, geht dasLicht aus. In den Nebel hinein und unterzackiger Musik jagen Laserstrahlen durchden Saal. Der Vorhang hebt sich, das Lichtauf der Bühne geht an. Am linken Seiten-rand spielt die Berliner Band „Right Now“eine gut gelaunte Musik, zu der ältereKinder und Jugendliche fröhlich über dieBühne springen und tanzen. Dazu gesel-len sich eine Sängerin und ein Sänger von„Right Now“ mit dem 2009 in den Chartserfolgreichen Stück „I gotta feeling“ vonden „Black Eyed Peas“ mit dem Refrain„Tonight’s gonna be a good night“. SiebenBreakdancer von einer Berliner Tanz-schule, junge Männer und Frauen in wei-ßen Hosen und Kapuzenshirts, präsentie-ren dazu ihre „Moves“. Nach diesem musikalischen Auftakt betrittder Moderator Urban Luig die Bühne, läs-sig gekleidet in Jeans und hellblauemHemd, die oberen Knöpfe geöffnet. Erwirkt wie ein junger Vater eben der Gene-ration, die heute zu feiern ist. Locker undeinladend begrüßt er die Gäste im Saal. Er

spricht von Träumen, die er als Vierzehn-jähriger hatte. Das „große Drama“, wieetwa Fußballstar werden, habe nicht statt-gefunden, aber viele kleine. Er spricht vonanderen Menschen, die im Leben wichtigsind. „Sie sind jetzt hier im Saal und siesind verdammt stolz auf euch.“ Sodannwird ein Video mit einem Grußwort desVorsitzenden des Landesverbandes desHVD Berlin, Bruno Osuch, eingespielt. Esist eine der wenigen Stellen, an der sichder HVD erkennbar zu Wort meldet.

Der Festakt

Währenddessen haben sich schon die ers-ten 50 Jugendweihlinge auf der Bühneaufgestellt. In der Hand halten sie dasBuch zur Jugendfeier des HVD „Zwischennicht mehr und noch nicht“, das sie be-reits beim Einzug bei sich hatten. Die Mo-deratorin Birgit Schürmann trägt einenSinnspruch vor. Mit der Überleitung „Dieswünschen wir ...“ liest sie langsam dieNamen der ersten Jugendlichen vor. DieGenannten laufen nacheinander unterdem Applaus der Gäste ein paar Schrittenach vorn, zwischen vier im Trapez aufge-stellten Säulen hindurch, zu einer Frau,die mit Blumen im Arm am Bühnenrandsteht. Der mit den Säulen angedeuteteDurchgang soll wohl das Überschreitender Schwelle zum Erwachsensein symbo-lisieren, das ja der eigentliche Inhalt derJugendweihe ist. Eine Kamera fängt dabeidas Gesicht des vortretenden Jugend-lichen ein, das auf einer Leinwand in derMitte der Bühne gezeigt wird. Die Jugend-lichen bekommen jeweils eine Blumeüberreicht. Ebenfalls vorn stehen einige Tänzer ausdem soeben gebotenen Programm. Sienehmen die Jugendlichen nach demGlückwunsch in Empfang und geleiten siein den Bühnenhintergrund, wo sie sich er-neut in einer Reihe aufstellen. Diese Pro-

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zedur, die zügig und reibungslos abläuft,vollzieht sich insgesamt viermal mit je-weils gut 50 Jugendlichen. Dabei wech-seln sich der Moderator und die Modera-torin mit einer Reihe von je 25 Jugend-weihlingen ab. Sie nennen Spruchweis-heiten, verbunden mit Glückwünschenfür etwa je fünf Mädchen und Jungen. He-rausgesucht haben die Veranstalter u. a.Sätze von Tucholsky, Voltaire, Goethe, deSaint-Exupéry und Tolstoi. Einige Weishei-ten scheinen selbstgemacht oder abgelei-tet, zum Beispiel wenn die Namensnen-nung mit den Worten eingeleitet wird:„Eltern machen Pläne und Kinder tun,was sie für richtig halten, so auch ...“,„Höre auf dein Herz, dann bist Du frei,...“ oder „Eine spannende Zeit zwischenJungsein und Erwachsenwerden wün-schen wir ...“ Sonst schließen sich denSprüchen über Glück, Verantwortung,Freundschaft, Gerechtigkeit und verschie-dene Tugenden Glückwünsche mit denWorten an: „Alles Gute für ...“ oder „Wirgratulieren herzlich ...“ Zwischen den vier rituellen Höhepunktenwird ein buntes Showprogramm geboten.Dramaturgisch ist es schwierig, in einersolchen Veranstaltung die Spannung zuhalten. Der erste – im Programm „Festakt“genannte – Durchgang der eigentlichen„Jugendweihe“ kommt sehr früh und fastüberraschend. In der Mitte des Programmsfängt man an zu zählen, wie viele Jugend-liche noch genannt werden müssen. Zumerken ist der Verlust an Spannung aucham Applaus, der im Laufe der Veranstal-tung bei der Namensnennung immerschwächer wird. Der vierte Festakt mitden letzten gut 50 Jugendlichen findetganz am Ende der Veranstaltung statt. Esgibt keinen Spannungsbogen, die Jugend-feier ist eher ein Hochplateau, bei demschnell Spannung erzeugt und dann aufdiesem Niveau gehalten werden muss.Dazu kommt, dass der eigentliche Akt der

„Jugendweihe“ bzw. „Würdigung“ derMädchen und Jungen selbst nur einensehr flüchtigen Höhepunkt bietet. DerKern des Rituals ist die Namensnennungdes jeweiligen Jugendlichen zusammenmit seinem Vortreten vor laufender Ka-mera, also die Präsentation des jungenMenschen. Gerahmt wird sie durch denvorausgehenden Spruch und den Glück-wunsch und das nachfolgende Überrei-chen einer Blume. Nach dem Selbstverständnis der Veran-stalter scheint die Namensnennung nichtdas Entscheidende an der Jugendweihe zusein. In der Pressemeldung des HVD wirdsie im Nachsatz als „individueller Mo-ment der Würdigung“ der Teilnehmer be-zeichnet. Das darum herum arrangierteProgramm ist von der ersten bis zur letz-ten Minute unterhaltsam und dem Anlassangemessen. Thema ist das Heranwach-sen der Jugendlichen, ihr Herauswachsenaus den Familien hin zur Eigenständigkeit.Dabei werden alle Generationen ange-sprochen.

Das Rahmenprogramm

Nach dem ersten Festakt präsentieren dieBand „Right Now“ und Tänzer von„Samuel’s Crew“ mit dem Titelsong „TheTime of My Life“ aus dem Teenager-Film-hit der 1980er Jahre „Dirty Dancing“ et-was für die Elterngeneration. Es folgt einkurzes Anspiel mit dem Moderatorenpaarin der Elternrolle und Jugendlichen ausder Jugendfeier-Theatergruppe. Angespro-chen werden die Themen Verliebtsein,erster Sex, Konflikte zwischen Eltern undheranwachsenden Kinder, auch Schei-dung von Eltern. Ein eingespielter Film hatdie Jugendweihe zum Thema. Es wird aufdie hundertjährige Tradition verwiesen,ohne dass auch die problematischen Sei-ten der Geschichte der säkularen Feier zurSprache kommen. Gezeigt werden Ju-

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gendliche im freiwilligen Vorbereitungs-programm zur Jugendfeier des HVD, dasdie jungen Menschen „beim Erwachsen-werden begleiten“ möchte. Man sieht dieJungen und Mädchen beim Tanzwork-shop, bei der Mathe-Nachhilfe oder beimBesuch des Radiosenders „Radio Fritz“.Sie erzählen, was ihnen an den Work-shops gefällt und dass für sie Jugendweihebedeute, „in den Kreis der Erwachsenenaufgenommen“ zu werden. Im Vorberei-tungsprogramm haben Jugendliche in ei-ner Theatergruppe an der Gestaltung derJugendfeier selbst mitgewirkt und An-spiele in Szene gesetzt. Auf eine Einlage der Breakdancer von„Samuel’s Crew“ folgt ein Videogruß derKabarettistin Gabi Decker. Nach demzweiten Festakt geht das Sängerpaar von„Right Now“ mit dem Lied „2 Fragen“durch die Zuschauerreihen. Das Stückstammt ursprünglich von der Band „Klee“und fängt den Geist des Fragens und Su-chens Jugendlicher ein: „Ein neuer Tag /ein neues Leben / ein neues Spiel / mitneuen Regeln / ich seh dich an / und kenndich nicht / du siehst mich an / und kennstmich nicht. // Und wenn ich dich zweiFragen fragen würde / wär das: Woranglaubst du / und wofür lebst du? / Undwenn du mich zwei Fragen fragen wür-dest / wär das: Woran denkst du/ und wo-hin gehst du?“ Es folgt ein weiteres kleines Anspiel einerFamilienszene mit den Moderatoren alsEltern, einem Jungen und der charismati-schen Sängerin und Moderatorin BarbaraKellerbauer in einer großmütterlichenRolle. Barbara Kellerbauer hält eine char-mante kleine Ansprache an die Jugend-weihlinge. „Gut seht ihr aus“, sagt sieund: „Man zählt euch jetzt nach der Ju-gendfeier zu den Großen.“ Sie plädiertdafür, in der Familie miteinander zu re-den, statt sich mit Gewalt durchsetzen zuwollen. Sie spricht von Verantwortung

und von Tugenden, die sie den jungenMenschen wünscht. Sie wünscht „dass ihrNiederlagen wegzustecken lernt und nieaufgebt, wenn euch etwas wirklich wich-tig ist“, außerdem „den Mut, Freund undauch Feind die unliebsame Wahrheit zusagen, wenn es nötig ist“, und „das guteGefühl, das man hat, wenn man helfenkonnte“. Sie wünscht „eine Schulzeit, andie ihr euch gern erinnert“ und spätereine „Arbeit, die ihr gern tut“. Sie sprichtvon Ruhe und vom Träumen. „Ich wün-sche euch ein friedliches, ein glücklichesLeben“, schließt sie ihre Rede, bevor siedas Lied „Der war doch eben noch einKind“ mit einem Text von Gisela Stein-eckert anstimmt. Vor dem dritten Festakt wird ein Video-gruß des Musikers Adel Tawil von„Ich&Ich“ eingespielt. Der dritte Pro-grammblock beginnt mit dem Stepptanzeines Tänzers zu „Always Look on theBright Side of Life“ aus dem Film „Life ofBrian“, gefolgt von dem Tanz „In TheRain“ mit vier Männern und Frauen von„Samuel’s Crew“. Jugendliche aus derTheatergruppe zur Jugendfeier tragen zuKlaviermusik aus dem Film „The Hours“und meditativen Landschaftsbildern ihre„größten Wünsche“ vor: z. B. in Spanienleben und arbeiten, eine eigene Familie,Arbeit als Informatiker, ein Buch schrei-ben, das verfilmt wird, Gesundheit für dieFamilie, durch die USA trampen, eineZeitreise, Abitur machen und Millionärwerden, ein Gestüt aufbauen, eine Welt-reise und ein Solokonzert für Querflötespielen. Die Sängerin der Band „RightNow“ singt daraufhin das Lied „Ich gehörnur mir“. In dem Lied aus dem Musical„Elisabeth“ wird der Wille zu Freiheit undUnabhängigkeit besungen: „Und willst dumich binden / verlass ich dein Nest / undtauch wie ein Vogel ins Meer. / Ich warteauf Freunde / und suche Geborgenheit /ich teile die Freude ich teile die Traurig-

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keit / doch verlang nicht mein Leben daskann ich dir nicht geben / denn ich gehörnur mir! / Nur mir!“. Es folgt ein Video-gruß des bekannten Berliner KomikersKurt Krömer. Nachdem den letzten 50 JugendlichenGlückwünsche überbracht wurden, kom-men alle Jugendweihlinge und Mitwirken-den auf die Bühne. Zum eingangs bereitsgehörten Stück „I gotta feeling“ tanzen,winken, klatschen alle gemeinsam. Eingroßer Teil der Gäste erhebt sich undbleibt auch klatschend stehen, währenddie Jugendlichen ausziehen – zu fetzigenKlängen, die an die 1980er Jahre erin-nern. Auf der Bühne tanzen Kinder undJugendliche, die an der Show mitgewirkthaben, weiter. Auf der Leinwand darüberwerden Sponsoren eingeblendet undschließlich das letzte Wort des HVD:„Herzlichen Glückwunsch zur Jugend-FEIER“.

Einschätzung

Am Ende der Feier bleibt ein ambivalenterEindruck. Einerseits wird den Familien,die sich für eine Jugendfeier des HVD imFriedrichstadtpalast entscheiden, eine be-eindruckende Show geboten. Im Mittel-punkt stehen die eigenen heranwachsen-den Kinder. Dabei werden in unterhalten-der Form Fragen angesprochen, die ver-schiedene Generationen in den Familienangesichts des Älterwerdens der Kinderbewegen. Der Theologe Albrecht Döhnertbezeichnet die Jugendweihe in seiner Un-tersuchung zu Recht als ein „Ritual an derFamilie“. Allerdings stellt sich auch einbeklemmendes Gefühl ein, wenn mannach dem Inhalt des Rituals fragt. Jugend-liche werden einer Öffentlichkeit präsen-tiert. Diese Präsentation soll den Über-schritt vom unselbstständigen Kindsein indie erwachsene Mündigkeit symbolisie-ren. Die Jugendlichen treten aus dem

Schutz der Familien heraus und gehenihre eigenen Wege. Wenn hier stellvertre-tend – organisiert von einem (weltan-schaulichen) Verein – eine zufällige Ge-meinschaft von Familien ihre Kinder ent-lässt, dann scheint etwas Entscheidendeszu fehlen: das Wohin, der Rahmen, derdie jungen Menschen aufnimmt. Bei einer Konfirmation bekennen sich dieKonfirmanden zu ihrem christlichen Glau-ben und werden in die Gemeinde aufge-nommen. In der DDR bekannten sich dieJugendlichen in der staatlich organisiertenJugendweihe zum sozialistischen Staatund wurden in die „sozialistische Gesell-schaft“ aufgenommen. Dazu gehörte dieZusage der Gesellschaft, ihre neuen Mit-glieder zu unterstützen. Bei den Jugend-feiern des HVD im Jahr 2010 entlassen, soscheint es, einzelne Familien symbolischihre Kinder in eine Zukunft, in der diesevöllig auf sich selbst gestellt sind. Die El-tern entlassen die Kinder zu sich selbst.Die Zeile „Ich gehör’ nur mir“ aus demwährend der Jugendfeier vorgetragenenLied drängt sich als eine Art Überschriftüber die Veranstaltung auf. Der Anspruchder Selbstbestimmung ist einerseits Aus-druck unserer gesellschaftlichen Wirklich-keit. Er wird vom HVD ganz bewusst zurGeltung gebracht, im Abstandnehmenvom „Weihegedanken“ und einer damitverbundenen Autorität bzw. übergeordne-ten Instanz. Entsprechend geht die Na-mensnennung in einem Glückwunschauf. Auch gibt es keine „Urkunde“ mehr,sondern eine Glückwunschkarte vomHVD mit dem Namen des Jugendlichenund dem Datum der Jugendfeier. Der Veranstalter nimmt sich zurück undübernimmt nur die Funktion, den Weg ineine offene Gesellschaft und ihre zahllo-sen Optionen zu weisen. Erstaunlich istdabei, dass der weltanschauliche An-spruch des HVD mit zurückgenommenscheint. Es sei denn, dieser beinhaltet

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letztlich genau das: die Selbstbestimmt-heit des Einzelnen in einer gänzlich säku-larisierten Gesellschaft. Im Programm zurJugendfeier 2010 schreibt Bruno Osuch:„Letztlich geht es darum, Verantwortungfür das eigene – das einzige – Leben zuübernehmen. Nur dann wird sich auchGlück einstellen. Denn Glück ist oft dasErgebnis von selbstbestimmtem und ver-antwortlichem Handeln.“Der Anspruch der Selbstbestimmung birgtallerdings die Gefahr der Überforderung,wenn keine soziale oder auch gemeinsamgeteilte ideelle „Größe“ da ist, in die dieSelbstständigkeit eingebettet wird. Es warbemerkenswert, dass während der Ju-gendfeier in Berlin in keiner Weise auf dieGesellschaft, auf ein weiter gefasstes so-ziales Engagement im sozialen KontextBezug genommen wurde. Es verwundertbei einem Verband wie dem HVD, dersich für „Humanismus“ und Demokratieausspricht, wenn an dieser Stelle daraufverzichtet wird, an den Gemeinsinn zuappellieren, an das unverzichtbare Ein-bringen der je eigenen Stimme in einendemokratischen Diskurs über die Gestal-tung der Gesellschaft. Verantwortung undGlück werden stattdessen nur für das ei-gene Leben in Anspruch genommen,nicht für die Gesellschaft, die es doch ge-meinsam zu gestalten gilt. Angesichts der ganz auf das Private be-schränkten Inhalte der Feier wäre es ver-ständlich, wenn der symbolische Akt des

Entlassens der eigenen Kinder mit einergewissen Unruhe bei den Eltern verbun-den wäre. Die guten Wünsche, die sie ih-ren Kindern mit auf den Weg geben, dieWünsche nach Freundschaft, guter Part-nerschaft, eigenen Kindern, Arbeit, habenangesichts einer immer unsichereren Zu-kunft auch etwas Hilfloses an sich. Es ist gut denkbar, dass andere Festrednerbei den Feierstunden anderer Jugendwei-heanbieter stärker auf die Gesellschaft Be-zug nehmen und an das gesellschaftlicheEngagement appellieren. Beim HVD hin-gegen scheint gegenwärtig der Inhalt dersäkularen Mündigkeitsfeiern zu sein, dassdie Heranwachsenden von den Erwachse-nen einzig auf sich selbst gewiesen wer-den als entscheidende Instanz des zukünf-tigen Lebensweges. „Wie andere, bistauch du klug. / Manche Leute werden dirvielleicht sagen, was du denken sollst. /Du solltest auch zuhören, weil sie rechthaben könnten. Vielleicht aber haben sieunrecht. / Du musst für dich selbst ent-scheiden, / was wahr und was unwahr ist. / Du hast es nicht eilig. / Du kannst esganz auf deine eigene Art und Weise ma-chen. / Nur du wirst wissen, / wie du fürdich selbst denken kannst.“ So heißt esauf der Glückwunschkarte des HVD.Diese Art der Mündigkeit im Sinne einesselbstverständlichen Allein-auf-sich-Ge-stelltseins scheint dem Charakter einer säkularen individualisierten und plurali-sierten Gesellschaft zu entsprechen.

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Christian Ruch, Chur/Schweiz

„Alles Leben ist Yoga“Was bleibt von Sri Aurobindo?

Am 5. Dezember 2010 jährt sich der To-destag des indischen Philosophen undGurus Sri Aurobindo (1872-1950) zum60. Mal. Angesichts der Schnelllebigkeitder spirituellen Szene ist das fast eineEwigkeit, und so stellt sich die Frage, wasvon seinem Werk und Denken eigentlichbleibt. Sie stellt sich umso mehr, als derscheinbar sichtbarste Ausdruck seiner Phi-losophie, die 1968 Stadt gewordene Uto-pie Auroville in Südindien weit hinterdem zurückgeblieben ist, was ihr einst zu-gedacht war. Statt einer Großstadt ent-stand ein Siedlungskonglomerat, das beinüchterner Betrachtung ziemlich zu sta-gnieren scheint. Statt der einst erwarteten50 000 Bewohner leben derzeit nur etwasmehr als 2000 Menschen in Auroville, dasmanchen Beobachtern wie etwa derSchriftstellerin Ulla Lenze1 bereits als Aus-druck von „kraftlos gewordenen Utopien“erscheint.2 Immerhin wird Auroville wei-terhin von der Unesco unterstützt und seit1988 auch von der indischen Regierunggefördert.3Dabei darf nicht übersehen werden, dassAuroville ein Projekt war, das erst vieleJahre nach Sri Aurobindos Tod von seinerimmer nur „Die Mutter“ genannten spiri-tuellen Gefährtin Mira Richard geb. Al-fassa (1878-1973) vorangetrieben undschließlich realisiert wurde. Sie überlebteSri Aurobindo um immerhin fast 23 Jahre.Es wäre interessant zu untersuchen, obAuroville dem Denken und der IntentionSri Aurobindos überhaupt entspricht. An-geblich soll die Idee noch zu seinen Leb-zeiten entstanden sein4, doch sicher ist

das nicht. Die immer wieder – auch vonSri Aurobindo selbst – postulierte Einheitzwischen ihm und der „Mutter“ dürftediese Frage im Kreis der Anhänger aller-dings ziemlich müßig erscheinen lassen.

Das politische Engagement Sri Aurobindos

Wer nach einer heute noch greifbarenWirkung Sri Aurobindos sucht, muss ent-scheiden, welcher Aspekt seiner viel-schichtigen Persönlichkeit betrachtet wer-den soll: der des Politikers, der des Philo-sophen und Yogis oder der des Dichters.Als Politiker scheint Sri Aurobindo, dersich zwischen 1893 und 1910 äußerst ak-tiv in der indischen Unabhängigkeitsbe-wegung engagierte, bis heute im SchattenGandhis zu stehen – dies auch deshalb,weil Gandhis „ahimsa“, der Weg absolu-ter Gewaltlosigkeit, zum Mythos wurdeund beispielsweise vom Dalai Lama nachwie vor als taugliches politisches Konzeptbetrachtet wird. Sri Aurobindo hat dasIdeal des bedingungslosen „ahimsa“ stetsabgelehnt, nicht nur im Kampf gegen diebritische Kolonialmacht, sondern als poli-tische Maxime generell. Besonders deut-lich wird das in seinen Analysen undKommentaren zur Situation im national-sozialistischen Deutschland und währenddes Zweiten Weltkriegs.5In seiner politisch aktiven Zeit zeigte SriAurobindo wenig Berührungsängste zu ra-dikalen Formen des Widerstands, sodasser nicht umsonst immer wieder in Konfliktmit den britischen Kolonialbehörden ge-riet und schließlich 1910 in die französi-

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sche Kolonie Pondicherry an der indi-schen Ostküste auswich, wo er vor Verfol-gung weitgehend sicher sein konnte, abertrotzdem – sehr zum Leidwesen seinerAnhänger – allen politischen Aktivitätenentsagte. Stattdessen widmete er sich biszum Lebensende seinem spirituellen Pfad,den er als „integralen Yoga“ bezeichnete.

Der „integrale Yoga“

Allerdings sollte man sich hüten, den poli-tischen und den spirituellen Bereichscharf voneinander getrennt zu betrach-ten, denn für Sri Aurobindo war auch poli-tisches Handeln eine Form des Yoga. Eskommt daher nicht von ungefähr, dass erseine wichtigsten Yoga-Erfahrungen mach-te, als er in einer Gefängniszelle der Eng-länder saß. Überhaupt zeichnet sich der„integrale Yoga“ nicht durch eine lebens-ferne Weltabgewandtheit aus, sondernversucht, ähnlich wie der Zen, Spirituali-tät auch in der Profanität des Alltags zuverwirklichen. „Alles Leben ist Yoga“6,lautete Sri Aurobindos Maxime. Insofernentspricht es wohl schon Sri AurobindosAnliegen, wenn in Auroville bis heute ver-sucht wird, eine Art Yoga des Alltäglichenzu praktizieren. Der „integrale Yoga“ ver-zichtet sogar auf spezielle Anleitungenzur spirituellen Praxis wie etwa konkreteMeditationsanleitungen. Gerade das Beispiel Auroville zeigt je-doch auch sehr schön, wie der „integraleYoga“ vor dem Problem steht, dass er dieAufhebung der Grenze zwischen Imma-nenz und Transzendenz schon aufgrundder anthropologischen und gesellschaft-lichen Prämissen und Konstanten nur sehrbedingt zu gewährleisten vermag. Und soist es kein Zufall, dass gerade im Werk SriAurobindos sehr oft eine auffällige Diskre-panz zwischen Anspruch und Lebens-wirklichkeit zutage tritt. Dies liegt vor al-lem daran, dass Sri Aurobindo der Evolu-

tion des Menschen ein Potenzial zutraute,bei dem man sich im Abstand von 60 Jah-ren fragen muss, ob es jemals realistischgewesen ist. Sri Aurobindos Erwartung ei-ner Herabkunft der „Supramental“ ge-nannten ungeahnten Weisheit und Schöp-ferkraft und sein Glaube an eine Mensch-heit, die im Zuge dieser Herabkunft undder Evolution generell ungeahnte und ge-radezu übermenschliche Bewusstseins-ebenen erreichen könne, scheint ange-sichts des doch weitgehend lamentablenZustands der Weltbevölkerung zumindestbisher doch eine ziemliche Illusion zusein. Mit seinem deutschen Bewunderer Karl-heinz Stockhausen, der Sri AurobindoEnde der 1960er Jahre für sich entdeckte,scheint dieser das Schicksal zu teilen, dassdas hohe Niveau des Werks und der da-raus resultierende Anspruch selbst jeneschnell überfordert, die zu folgen durch-aus bereit wären. Die Popularität einesOsho alias Bhagwan Shree Rajneesh oderauch eines Dalai Lama, die im Gegensatzzu Sri Aurobindo nie vor Plattitüden zu-rückschreckten, lag weder für den Meisterdes „integralen Yoga“ noch für „Die Mut-ter“ jemals im Bereich einer realistischenErreichbarkeit. Die Zahl der Anhängerblieb immer vergleichsweise bescheiden.

Sri Aurobindo als politischer Analytiker

Die Dankbarkeit und Wertschätzung, dieInder Sri Aurobindo bis heute erweisen,basiert vor allem auf dem Verdienst, Weg-bereiter der indischen Unabhängigkeit ge-wesen zu sein. Rabindranath Tagore, In-diens großer Dichter, schrieb schon 1907:„Rabindranath, O Aurobindo, bows tothee! O friend, my country’s friend, OVoice incarnate, free, Of India’s soul ...”7

Das mag sehr pathetisch klingen. Dochwer heute Sri Aurobindos Kommentarezur politischen Situation auf dem indi-

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schen Subkontinent liest, stellt fest, dass erdie Sprengkraft der Teilung in ein mehr-heitlich hinduistisches Indien und einmehrheitlich islamisches Pakistan bzw.Bangladesch sowie die Konflikte zwi-schen Muslimen und Hindus generell miteiner so faszinierenden Klarheit erkannthat, dass seine Schriften zu diesem Themaweiterhin und derzeit erst recht hochaktu-ell sind. Dem Islam stand er dabei äußerst kritischgegenüber: Man könne einvernehmlichmit anderen leben, wenn man einer tole-ranten Religion angehöre. Wie aber solleman in Frieden leben, wenn man eine Re-ligion habe (gemeint war der Islam), derenPrinzip es sei, Andersglaubende nicht zutolerieren, fragte er 1923 im Gespräch mitseinen Schülern.8Erstaunlich ist die Prägnanz, mit der SriAurobindo das Potenzial Indiens zur Welt-macht vorhergesehen hat: Das Land habedieses Potenzial aufgrund seiner Ge-schichte und aufgrund der spirituellenKraft, die in ihm vereinigt sei.9 Als Indienschließlich 1947 die Unabhängigkeit er-langte, erklärte Sri Aurobindo, „dass in dieGemeinschaft der Nationen eine neueKraft mit unermesslichen Möglichkeiteneintritt, die eine große Rolle zu spielenhat bei der Bestimmung der politischen,gesellschaftlichen, kulturellen und spiritu-ellen Zukunft der Menschheit“, denn In-dien sei dazu bestimmt, „als Helfer undLenker der ganzen menschlichen Rasseauch für Gott und die Welt zu leben“.10

In dieser Rolle sah Sri Aurobindo Indienübrigens schon deshalb, weil er imAbendland so etwas wie eine spirituelleSchwindsucht wahrnahm. Als Kind vomvöllig anglisierten Vater zur Erziehungnach England geschickt, hatte er den Ein-druck gewonnen, dass die Form des dortpraktizierten Christentums jeglicher spiri-tuellen Kraft entbehre, was der junge indi-sche Nationalist als Symptom für den Ab-

stieg des Westens interpretierte. Bereits1910 attestierte er Europa, auf allen Ge-bieten mit Ausnahme der Wissenschaft,also nota bene auch im religiösen Be-reich, „bankrott“ zu sein.11 Vielleichtmacht ja auch das Sri Aurobindo überra-schend aktuell.

Eine zaghafte Renaissance des Gurus

Die zaghafte Renaissance seines Werks,die momentan zu beobachten ist, dürftejedoch andere Gründe haben. DieSchnelllebigkeit der spirituellen Trendsund Moden, der Begeisterung für Meisterund Gurus sorgt zwar einerseits dafür,dass sie schnell wieder aus der Modesind, die Szene aber andererseits geradedeshalb so etwas wie ein „Guru-Recyc-ling“ betreiben muss, um laufend ver-meintlich Neues zu bieten. Das Osho-Re-vival in den Esoterik-Abteilungen derBuchhandlungen ist das beste Beispiel da-für, zumal nun eine Generation Erleuch-tungshungriger herangewachsen ist, dievon Oshos Eskapaden nichts mehr mitbe-kommen hat und der man ihn nun getrostals etwas „Neues“ verkaufen kann. Vergleichbares dürfte sich im Falle Sri Au-robindos trotz des noch größeren zeit-lichen Abstands nicht ereignen, denn dasverhindert schon das bereits erwähntehohe Niveau des Werks. Dennoch – odergerade deshalb – gibt es durchaus verein-zelte Versuche, Sri Aurobindo sozusagengegenwarts- und damit auch konsumen-tenkompatibel zu machen. Der Psychiater und Homöopath A. S. Da-lal, der bereits mehrere Werke zu Sri Au-robindo und der „Mutter“ herausgebrachthat, veröffentlichte 2008 ein Buch, in demer die spirituellen Konzepte Eckhart Tollesund Sri Aurobindos miteinander ver-gleicht. Seit einigen Monaten liegt diesesWerk nun auch auf Deutsch vor.12 DerAnspruch, „die beiden Meisterdenker und

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Mystiker“ (Umschlagtext) sozusagen mit-einander ins Gespräch zu bringen, schei-tert jedoch insofern, als selbst der Autorimmer wieder zugeben muss, dass zwi-schen beiden Ansätzen große Unter-schiede bestehen. Wer das Buch liest, er-fährt zwar etwas über Tolle und Sri Auro-bindo, die angestrebte Synthese wirktaber doch befremdend, sehr konstruiertund gesucht. Zu unterschiedlich sind of-fenbar die kulturellen Paradigmen zwi-schen den beiden „Meisterdenkern“, so-dass man sich am Schluss des Buchesfragt, was das Ganze eigentlich soll. Wesentlich lesenswerter ist da schon dieneue Sri-Aurobindo-Biografie des Karlsru-her Indologen und Philosophen WilfriedHuchzermeyer, die im Oktober 2010 er-schienen ist.13 Sie schließt eine bedauer-liche Lücke, denn nachdem die ausge-zeichnete, wenngleich wenig distanzierteBildmonografie von Otto Wolff vergriffenwar, gab es auf dem deutschsprachigenBuchmarkt lange keine lieferbare Biogra-fie mehr. Huchzermeyer ist eine ebensogut lesbare wie auf einem intensivenQuellenstudium und großer Sachkenntnisruhende Beschreibung vom Leben undWerk Sri Aurobindos gelungen, die auchdie Zeit nach dem Ableben des Guruskurz streift und darüber hinaus sehr wert-volles Informationsmaterial im Anhangbietet. Insgesamt also ist „Sri Aurobindo –Leben und Werk“ ein sehr empfehlens-wertes Buch, auch wenn es – und das istvielleicht sein einziger Schwachpunkt –einmal mehr eine Biografie ist, die ganzoffenkundig von einem Anhänger verfasstwurde. So bleiben etwa die Konflikte zwi-schen dem Sri-Aurobindo-Ashram in Pon-dicherry und den Bewohnern Aurovillesunerwähnt, und die Vermutung, Sri Auro-bindo habe mittels yogischer Kraft denBriten zum Sieg im Zweiten Weltkriegverholfen, wirkt auf Außenstehende wohleher befremdlich. Doch das sind insge-

samt eher „lässliche Sünden“ eines an-sonsten sehr gelungenen Buchs. Dass das Interesse an Sri Aurobindo wie-der ein wenig erwacht, könnte auch daranliegen, dass sich im Spektrum der Satsang-Bewegung und in anderen Bereichen die„Idee einer fortschreitenden evolutivenBewusstseinsentwicklung“14 ausbreitet,die sich an Sri Aurobindos Denken an-schließen lässt. Zu nennen ist hierbei die „Integrale Theo-rie“ von Ken Wilber, der in seinen Bü-chern immer wieder auf Sri Aurobindoverwiesen hat. Bei genauerer Betrachtungist Sri Aurobindo jedoch offenbar nur ei-ner von zahllosen Ideengebern Wilbers,was natürlich nicht ausschließt, dass Wil-bers Bücher ein gewisses Interesse an SriAurobindo wecken. Außerdem darf mannicht übersehen, dass auch der 2007 ver-storbene Sri Chinmoy, der einen Großteilseiner Jugend im Sri-Aurobindo-Ashram inPondicherry verbrachte15, zur Bekanntheitdes Yogis beigetragen hat. Allerdings ist zu fragen, ob dies in vielenFällen zu einer vertieften Beschäftigungmit Sri Aurobindo führt. Denn im Interesseeines möglichst schnellen Spiritualitäts-konsums erscheint es beispielsweiseschon fast als Zumutung, sich durch dreidickleibige, eng bedruckte Bände wie SriAurobindos „Das göttliche Leben“ zuackern, in denen es noch dazu vor Bezü-gen zur indischen Philosophie nur sowimmelt. Hinzu kommt, dass es in derwestlichen Welt kaum Organisationsstruk-turen gibt, in denen der „integrale Yoga“gepflegt wird. Das ist eigentlich gar nicht so erstaunlich,denn Gurus, die sich wie Sri Aurobindonicht mit wohlfeilen Banalitäten zufriedengeben, sind schlichtweg zu anstrengendund letztendlich trotz aller postulierten In-tegralität unerreichbar – auch und geradefür ihre Anhängerschar. Der SchweizerReligionsexperte Georg Schmid schrieb

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daher völlig zu Recht: „Der Meister unddie Mutter bleiben ... das Maß allerDinge. Was die Schülerschaft leistet, ist imbesten Fall Kopie und Repetition. So wirk-ten und wirken Aurobindo und die Mutternicht nur inspirativ, sondern auch in man-cher Hinsicht normativ. Normierte Schüleraber sind klägliche Vorboten des Über-menschen.“16 Sollte es also tatsächlich so

etwas wie eine Sri-Aurobindo-Renais-sance geben, dürfte sie sich einmal mehrauf ein intellektuelles Publikum beschrän-ken. Eigentlich schade – denn zumindestals politischer Analytiker hätte Sri Auro-bindo auch heute noch vieles zu sagen,was es uns leichter machen würde, In-diens Aufstieg, aber auch seine Konfliktebesser zu verstehen.

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Anmerkungen

1 Ulla Lenzes Roman „Archanu“ (Zürich 2008) beschäftigt sich u. a. mit den in Auroville feststell-baren Entwicklungen.

2 Claudia Knepper, Kraftlos gewordene Utopien. DerRoman „Archanu“ und sein Hintergrund in Auro-ville, in: MD 12/2009, 460-464, 460.

3 Weitere Informationen unter www.auroville.org.4 Dies wird auf der Wikipedia-Seite über Mira Alfassa

erwähnt, siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Mirra_Alfassa.

5 Siehe dazu ausführlicher Christian Ruch, „... eshatte seine Seele gesucht und nur seine Stärke ent-deckt“. Sri Aurobindo über Deutschland, den Na-tionalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, in:MD 5/2005, 175-178.

6 Sri Aurobindo, Die Synthese des Yoga, Gladenbach1972, 17.

7 Zit. nach www.sriaurobindosociety.org.in/sriauro/aurolife.htm (Vor dir, o Aurobindo, neigt Rabindra-nath sich tief! O Freund, Freund meiner Heimat,

aus dem Indiens Seele rief, in dir verkörpert und be-freit ...)

8 Vgl. Sri Aurobindo, India’s Rebirth. A selection fromSri Aurobindo’s writings, talks and speeches, Pa-ris/Mysore 32003, 165.

9 Vgl. ebd., 182.10 Sri Aurobindo, Über sich selbst. Aus Aufzeichnun-

gen und Briefen, Gladenbach 1994, 339f.11 Sri Aurobindo, India’s Rebirth, a.a.O., 79f.12 Eckhart Tolle – Sri Aurobindo. Ein neues Denken –

ein neuer Mensch – eine neue Welt. Texte, Begeg-nungen und Gespräche mit A. S. Dalal, Grafing2010.

13 Wilfried Huchzermeyer, Sri Aurobindo – Leben undWerk, Karlsruhe 2010.

14 Michael Utsch, Evolution des Bewusstseins? Unter-schiede zwischen evolutiver und kontemplativerBewusstseinsentwicklung, in: MD 4/2009, 123.

15 Siehe www.srichinmoy.org/deutsch/sri_chinmoy.16 Zit. nach www.relinfo.ch/aurobindo/info.html.

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In unserer Religionskultur sind die Engel weiter im Aufwind – und das nicht nur zur Advents- und Weihnachtszeit. Die geheimnisvollen Wesen tauchen in Film und Wer-bung auf und sind Thema beliebter Bücher zum Verschenken. Im Kontext moderner Eso-terik erweitert sich das Angebot für Engelerfahrungen beträchtlich. Mittlerweile gibt esVeranstaltungen wie Engelkongresse und Engeltage sowie ein unüberschaubares Sorti-ment an spirituellen Engelratgebern und Engelkarten. Für eine weitere Popularisierungdieses Trends sorgt seit Längerem das zweimonatlich erscheinende „Engelmagazin“ miteiner Auflage von 75 000 Exemplaren (vgl. MD 6/2008, 227ff). Vor kurzem hat der katholische Theologe Thomas Ruster unter dem Titel „Die neue Engelreligion. Lichtge-stalten – dunkle Mächte“ (Kevelaer 2010) eine theologische Analyse zur Thematik vorge-legt (vgl. hierzu die Rezension in diesem Heft, 473ff). Sein Fazit für Theologie und Kirchelautet: „Die Engelreligion kann dem Christentum die verlorene Wirklichkeit des Himmelswieder erschließen!“ (237). Eine andere Sichtweise vertritt hingegen der evangelischeTheologe Oliver Dürr, der sich in seinem Buch „Der Engel Mächte“ (Stuttgart 2009) aussystematisch-theologischer Sicht mit der Angelologie befasst hat. In seinem Beitrag gehter zunächst auf die Thesen Rusters ein, um die von diesem beschriebene Engelreligionals populäre Ausdrucksform zeitgenössischer Säkularität zu charakterisieren.

Oliver Dürr, Molbergen

Der Himmel ist wieder offenÜber die Logik der Bedürfnisse in der neuen Engelreligion

Über 200 Jahre habe es gedauert, bis sichwieder eine Sicht auf die Welt Bahn bre-chen konnte, die vom Dogma der Er-kenntnis über Nachprüfbares und Bere-chenbares Abstand genommen und sichdem Himmel als Bereich der übermensch-lichen Kräfte und Mächte zugewandt hat.So befindet es der katholische Sozialethi-ker Thomas Ruster, und er begrüßt dieseEntwicklung.1 Denn sie räume mit demunsinnigen Unterfangen der Aufklärungauf, die mythologischen und naturge-schichtlichen Zwänge solcher Mächte zudurchbrechen. Dieses Projekt der Aufklä-rung sei gescheitert, da es die Abhängig-keiten von ihnen eben nicht habe beseiti-gen können. Jene seien nunmehr in derGestalt der alles beherrschenden Markt-und Warengesellschaft wiedergekommen.

Und dieser Umstand erfordere einen reli-giösen Neuanfang, der den Himmel alsunbestimmbaren und nicht beherrschba-ren Teil der Welt neuerlich ins Spielbringe. Gerade die Esoterik mit all ihrenSpielformen tue das. Sie vermöge die Reli-gion als Bezugsgröße zu den Zwängender Markt- und Warenmechanismen ein-zufordern. Sie öffne den Himmel vonNeuem, und sie bringe sich dabei als eineEngelreligion ein.2Weshalb diese Engelreligion aufkommt,kann man klar umschreiben: Die Men-schen fühlen sich den Mechanismen die-ser Welt schlicht ausgeliefert. Sie sind sozusagen systemisch Gefangene ihrerUmstände. Ihre Aufgabe kann daher nursein, sich in ihnen einzurichten, sich dazumit den Kräften, die in den sie beherr-

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schenden Systemen den Ton angeben, zuverbünden oder die Kräfte sogar selbst zubeherrschen. Das gilt gegenüber den lich-ten Mächten genauso wie gegenüber dendunklen. Geisterkultadaptionen, neue Na-turreligiosität, aber auch der Esoterikmarktvon Doreen Virtue3 bis Giulia Siegel4, siealle verbindet, dass es mithilfe der gutenoder bösen Engel möglich sein soll, einbesseres Leben dank eines stabileren Ichaufzubauen. Dieses Bedürfnis wiederumist in ein Gefühl der Verbundenheit vonallem und mit allem eingebettet.5In gewisser Weise gehören sogar die sata-nistischen Strömungen und die martiali-sche Gothic- bzw. Metal-Szene in diesesSzenario, nur dass sie die positiven Ener-gien vernichtet sehen und sich in ihrerSichtweise der Faszination der Todesver-fallenheit der uns beherrschenden Sys-teme hingeben. Das kann bis zu misan-thropischen, rassistischen oder gar neofa-schistischen Gruppenideologien führen,die ihre Verachtung für die Schwäche derMenschheit zu aggressiven Herrschafts-und Herrenmenschen-Modellen mutierenlassen. Thomas Ruster fasst es gut zusam-men, wenn er sagt: „Die Ablehnung einertodverfallenen Kultur führt hier selbst zuHass- und Gewaltfantasien. Oder anders:wenn man Satan als den Herrn der Weltanerkennt, gerät man unter seine Ge-walt.“6

Religion der Bedürfnisse

Befriedigung der Bedürfnisse ist derZweck der Engelreligion. Dafür soll sichder Himmel öffnen. Doreen Virtue kannihrem Engel nachspüren, wenn sie etwaeinen Parkplatz braucht oder den Schlüs-sel verloren hat. Sie nennt es Gottes Füh-rung, und diese Führung hält sich rundum die Uhr bereit, das heißt, man kannsie regelrecht abrufen und benutzen, ebenweil sie sich gerne anbietet. Dabei ist die

Aufnahmekapazität „Gottes“ zeitlos undallumfassend. Dadurch ermöglicht gibt esim Diesseits und bis ins Jenseits hinein einEngelversorgungssystem von Geburts-,Schutz- und Todesengeln.7 Religionsphä-nomenologisch gesprochen geht es da-rum, mithilfe religiöser Bemächtigungs-strategien des Ich die Umwelt voll undganz zu kontrollieren, indem man dieZwischenmächte zu Verbündeten hat oderselbst auf sie okkult oder magisch Einflussnimmt.8 So organisieren Engel sowohl diealltäglichen Dinge als auch die Selbstfin-dung, ja sogar einen spirituellen Kontaktzur Naturgeisterwelt und zuletzt auch denÜbergang zu den letzten Dingen.9 In derLogik der Bedürfnisstruktur ausgesagt gehtes darum, dass durch den Himmel all dasnachgereicht wird, was man mit Geldnicht kaufen kann. So wird die Engelreli-gion die „perfekte Religion der modernenWaren- und Konsumwelt“.10

Religion ohne Gott

Das Besondere an der neuen Engelreli-gion ist, dass sie keinen Glauben an Gottbraucht. Zwar redet sie auch von Gott.Und einige Engelmedien halten aus per-sönlicher Verbundenheit zum Christentumauch den Glauben immer noch für unver-zichtbar.11 Dennoch beruft sich die Engel-religion nicht wirklich auf einen transzen-dent verstandenen Gott, sondern stattdes-sen lieber auf persönliche Erfahrungenund Wahrnehmungen von himmlischenMächten um uns. Engel sind da, Gottnicht ohne Weiteres, da er radikal trans-zendent entzogen und unsichtbar ist. Manbraucht für die Wahrnehmungen vonMächten demnach keine Offenbarung,die von Gott her kommt und Glauben anihn schenkt.12 Höhere Mächte sind ausrei-chend erfahrbar, sogar wohl für alle13

oder wenigstens für Medien.14 Das reicht,um sich in der Welt einzurichten.

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Das hat zur Folge, dass die neue Engelreli-gion keine Offenbarungs- oder Schriftreli-gion ist, sondern eklektisch die gesamteReligionsgeschichte benutzt, um Kontakt-stellen zu anderen Wahrnehmungsszena-rien in Geschichte und Gegenwart ausfin-dig zu machen und um die Engelreligionpolytheistisch auf größere und ältere Tra-ditionen beziehen zu können, wodurchman den Dogmen der vorwiegend christ-lichen Angelologie zu entkommen hofft.15

Diese durchaus bewusst nichtchristlicheNeubestimmung hat es etwa schon in an-throposophischer Lehre gegeben, jedochwar man dort noch dogmatischen Lehrge-bäuden und kirchenähnlichen Organisa-tionen verpflichtet.16 Das entfällt nun völ-lig. Man trifft sich in Workshops und aufEsoterikmessen. Womöglich unterscheidetsich die neue Engelreligion genau durchdieses Merkmal von den neuen religiösenAufbrüchen des 19. Jahrhunderts. Diesehaben ja bis heute kirchliche Hierarchienoder sektiererische Gemeinschaftsstruktu-ren, besitzen eine biblische Schriftgrund-lage und Sonderoffenbarungen und verfü-gen über neue Schriftkanones (z. B. Jeho-vas Zeugen und Mormonen).17

Religion der Niedrigtranszendenz

So schön es nun sein mag, dass die neueEngelreligion den Himmel wieder insSpiel gebracht hat und ihn so neuerlichdem Entmythologisierungsbestreben derAufklärung entreißt, so gefährlich ist dochdie Ungehemmtheit, mit der er als Projek-tionsfläche unserer Bedürfnisstruktur über-vorteilt wird. Schon die anthropozentrischen Himmels-verständnisse und -bilder der gegenauf-klärerischen Bewegungen des 19. Jahr-hunderts, die nochmals eine materialeEbene des Jenseits zu verteidigen suchten,waren der Gefahr ausgesetzt, den Himmelpraktisch zur Verlängerung irdischer Zu-

stände verflachen zu lassen.18 Unlängsthat Johann Evangelist Hafner diese Thea-tralik auch an Emanuel Swedenborg(1688-1772) aufgezeigt, der – noch vomPietismus geprägt und äußerst erfindungs-reich – den Engeln bezüglich bürgerlicherSpießigkeit und lustvoller Übertretungderselben kaum etwas erspart hatte. Wasaber besonders auffällt, sind zwei Zügeder Swedenborg’schen Angelologie, dienoch heute aufhorchen lassen sollten: Sie lässt zum einen den Himmel alsmenschlich vertraute Umgebung erschei-nen, in der Transzendenz und Immanenz,Himmel und Erde, mehr und mehr ver-wischt werden. Beide werden anthropo-zentrisch überlappt und damit zu Phasenin der Lebensgeschichte von Seelen redu-ziert. Das erinnert doch stark an die mo-mentane Verbindung von Seelen und En-geln in der Engelreligion, wo Menschenungeniert Zugriff auf Engel haben und siezu Teilen ihrer Seelengeschichte degene-rieren lassen, auch wenn sich das Modellgenerell vom Jenseitsleben der Seelen indie immanenten Selbstfindungsprozesseverlagert zu haben scheint. Noch wichtiger erscheint jedoch Folgen-des: Dadurch dass die Seelen samt denleicht dahinschwindenden Engeln denHimmel praktisch als himmlische Gesell-schaft bevölkern, um sich dort selbst inwonnigem Dasein zu genügen, wird Gottentbehrlich, sodass dieser weder derHimmlischen bedarf noch die Himmli-schen Gottes bedürfen. „Gott überlässt ingeneröser Indifferenz die himmlischenGesellschaften ihrer gegenseitigen Selbst-entwicklung. Kurz: Die Verflachung derNiedrigtranszendenz führt zur Entfernungder Hochtranszendenz.“19

Religion des „homo saecularis“

Gerade dieser letzte Punkt scheint dertheologisch gewichtigste Kritikpunkt an

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der neuen Engelreligion zu sein. DieHochtranszendenz (Gott) entfällt ja. Da-mit entwickelt sich die Niedrigtranszen-denz – im unseren Falle die Gemeinschaftaus Engeln und engelbenutzenden Men-schen – zu einer echten religiösen Gott-Losigkeit, die auch schon bei Swedenborgbegonnen hat, nun aber in der neuen En-gelreligion die letzten offenbarungstheo-logisch-biblischen Bezugnahmen auf denGott des Jesus von Nazareth auflöst. DieVeränderung ist eklatant. Man könnte diesauch als eine Form des Gewohnheitsathe-ismus beschreiben, die anders als die ausdem Traditionsverlust entstandene Formetwa in der ehemaligen DDR sehr wohlnoch mit religiösem Material „bastelt“,aber eben nicht mehr mit Offenbarungs-wissen operiert.20 Die religionstheoreti-sche Annahme, dass es sich bei der Engel-religion schlicht um eine erneute „Wie-derkehr der Götter“ handelt, scheint hierhinfällig zu sein. Sie arbeitet im Hinter-grund anthropologisch immer noch mitder christlich an der Offenbarungstheolo-gie orientierten These vom „homo religio-sus“, der in den Himmeln dem transzen-denten Gott bzw. dem durch den Glau-ben an ihn seit der Neuzeit umgeformtenWahrheitsbewusstsein begegnen könne.21

Die neue Engelreligion ist dagegen viel-mehr ein Projekt des säkular auf Religionzugreifenden Menschen, der auf einenGottesglauben, dem das Göttliche trans-zendent ist, verzichten kann. Auch ein ausdiesem Glauben umgeformtes Wahrheits-bewusstsein ist ihm peripher – außer espasst ihm in den Baukasten seiner Bedürf-nisstruktur. Ihm reicht es allerdings schon,dass er den „Göttern“ dieser Welt begeg-net und auf sie Zugriff hat. Diese Religionwill Religion des Marktes und der Bedürf-nisse sein, und sie möchte sich keines-wegs darin etwa durch Gebote einerSchriftreligion korrigieren lassen. In die-sem Sinne ist sie säkular, und diese Unter-

scheidung bildet den Unterschied auszwischen der vertrauten Annahme eines„homo religiosus“ gegenüber diesem Typdes „homo saecularis“. Beide haben ei-nen dezidiert anderen Zugriff auf dieMächte des Himmels dieser Welt.22

Religion der Gott-Losigkeit

Man kann beim „homo saecularis“ voneinem Typus sprechen, der Religion alsReligion ohne Hochtranszendenz defi-niert. Seitens christlicher Glaubenslehrehandelt es sich um ein Gott-loses Unter-fangen, Religion zu praktizieren. Dabeigeht es nicht mehr um systemtheoretischeUnterscheidungen von vorwissenschaftli-chen und wissenschaftlichen Teilsystemeneiner Gesellschaft, in der lebensweltlicheund erkenntnisgeleitete Einschlüsse oderAusschlüsse der Gottesfrage verlangt wer-den23, sondern eben überhaupt um dieAufgabe des Bezuges auf eine Hochtrans-zendenz selbst. Das Projekt einer Engelre-ligion ist in diesem Sinne säkular, mankönnte auch sagen nicht theologisch. Ulrich Beck hatte dieses Projekt imGrunde erfasst, als er meinte: „Es gibt inreligiösen Fragen keine Wahrheit außerder persönlichen, die man sich selbst erar-beitet.“24 Dass das nur noch wenig mitder religiösen Praxis traditioneller Religio-nen aller Couleur zu tun hat, ist evident.Kaum ein Buddhist wird sich als Anhängereiner „Bastelreligion“ oder als Vertreter ei-ner „Mixtur religiöser Praktiken und Sym-bole“ verstehen wollen.25 Dass Beck lei-der diesen Typus undifferenziert verallge-meinert und religionssoziologisch als ge-nerellen Gewinn der Säkularisierung inVerfassungsstaaten auszeichnet, zeigt nur,dass auch Rechtssysteme der Bedürfnis-struktur eines solchen „Melangeregime(s)des Religiösen“ unterworfen sind.26 Re-flektiert ist das hier Beschriebene wohlkaum zu nennen.

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Doch genau dies zeichnet nun bekannt-lich den säkularen Typus aus: „Gehe undbete zu dem Gott deiner Wahl!“, so fasstes Beck zusammen; das ist die Direktive,nicht mehr das Harren auf den ewigenGott.27 Diese Religion hat sich daran ge-wöhnt, ihre Einrichtung in der Welt an ih-ren Bedürfnissen zu orientieren. Ihre En-gel und Mächte erwarten keine Scheidungvon Gut und Böse durch das EingreifenGottes. Das Reich Gottes ist keine Optionder ethischen Ausrichtung mehr. Insofernhat Beck diesen Typus dann doch wiederrichtig charakterisiert: dass es ihm umSelbst-Religion gehe, in der der Menschzugleich Glaubender und Gott ist. Und essollte nun nicht mehr verwirren, dassauch der Soziologe sich wünscht, dassüber diese individualisierte Religion hin-aus eine „zweitmoderne Religiosität“ kon-struiert werden müsste, die die Universali-tät des Monotheismus und die Toleranzder Selbst-Religion als gute Grundele-mente beinhalte, jedoch die negativenKonnotationen des Gewaltpotenzials unddes religiösen Analphabetentums dersel-ben ausscheide.28 Die Frage ist nur, ob ge-rade ein solcher säkularer Zugriff auf Reli-gion dem Ziel der „toleranten Anerken-nung religiöser Andersheit“ wirklich nach-kommt. Denn andere Religion soll ja fürein jedes Ich in seiner Selbst-Religionnicht mehr bedrohlich sein.29

Doch muss nicht gerade eine Engelreli-gion, die auf die Beherrschung der sie be-herrschenden Systeme setzt, umso mehrbesorgt sein, dass ihre Bedürfnisse durchdie Freiheit der Andersgläubigen be-schränkt werden? Was ist, wenn Men-schen, die dem traditionellen religiösenTypus entsprechen und sogar an einen of-fenbarten Gott glauben, daraus ethischeKonsequenzen ziehen, die keineswegsideal für Selbst-Religionen sind, sich je-doch dem Bemühen um die Überwin-dung des Bösen durch Frieden und Ge-

rechtigkeit widmen? Was ist, wenn derZugriff auf Marktmechanismen dadurchrestriktiv behandelt wird? Setzt dort un-willkürlich die Rationalität ein? Was bin-det sie dann? Wovon ließe sie sich dennleiten?

Religion der Überforderung

Das eben Gesagte bleibt aber auch in an-derer Hinsicht nicht ohne Folgen. Dennvon nun an muss das ganze Modell einerneuen Engelreligion die Herrschaft überdie Mächte dieser Welt selbst aufrechter-halten, ohne auf die Herrschaft GottesRückgriff nehmen zu können. Die Erlö-sungsgewissheit des christlichen Glau-bens in Kreuz und Auferstehung Christi,wodurch die Mächte dieser Welt samt Todüberwunden sind, entfällt völlig. Dochwer bekämpft das Böse dann? Die Tole-ranzabsprachen unter Selbst-Religionen?Was ist, wenn die guten Energien, dieSelbstfindung, das Wahrnehmen der Na-turgeister alles vermögen, nur dasSchlechte aus der Welt nicht zu tilgen im-stande sind? Destabilisiert das nicht im-merwährend die tolerante Anerkennungreligiöser Andersheit? Hier kommt die Logik der Bedürfnisstruk-tur an ihre Grenze. Weder Konsum desGlückes noch Toleranz verhindern einfachSünde und Tod. Die Befürworter derdunklen Seite einer Engelreligion habendas zumindest immer gewusst, bis hinzum luziferischen Nihilismus Gottes. Die Kompensationsnot des Bösen inner-halb der uns beherrschenden Systemeführt dabei nicht ohne Grund zu Verfor-mungen des Modells selbst, indem es im-mer mehr zu Neuerfindungen etwa vonEngelgestalten usw. kommt. Der religiö-sen Phantastik ist kein Einhalt mehr gebo-ten. Die Engelreligion verwildert geradezuin sich selbst, ohne das Problem des Bö-sen eigentlich in den Griff zu bekommen.

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Denn entweder führt es in den Regress aufimmer neue Ebenen guter Mächte, dieneuerlich hinzugewonnen werden müs-sen, um mit ihnen die Hoffnung der Über-windung des Bösen zu verbinden, oderaber man fügt sich den Übeln dieser Weltund entlarvt in den herrschenden Struktu-ren den Teufel selbst.

Wegweiser christliche Angelologie

In der christlichen Engellehre gibt es keine„generöse Indifferenz“ Gottes gegenüberseinen himmlischen Gesellschaften. Werglaubt, dass Gott der Herr ist, der Himmelund Erde gemacht hat, hat eine eschatolo-gische Erwartung, dass der Fürst dieserWelt auch am Ende aller Tage besiegt seinwird.30 Er weiß aber darüber hinaus, dassder Herrschaftsanspruch Gottes in JesusChristus gegen Sünde und Tod schon jetztsoteriologischen Anspruch auf unser Le-ben hat. Dieser Anspruch offenbart undvergegenwärtigt sich als Herrschaftsbewe-gung Gottes zu den Menschen als Ziel ih-rer Erlösung. Die Engel sind dazu da, umdiese Botschaft in das Leben der Men-schen zu bringen und Gott dafür zu lobenund zu danken. Sie sind dadurch ein inhä-rentes Geschehen dieser Bewegung undsomit niemals selbstständig ohne Gott tä-tig und schon gar nicht zu Wesen mutier-bar, die von Menschen billig benutzt wer-den könnten. Stattdessen würden sie alsgefallene Mächte systemisch vielmehr dieMenschen versuchen.31

Dieser kurze Umriss christlicher Engel-lehre macht Folgendes deutlich: Engelsind nur wirklich Engel, wenn sie EngelGottes bzw. Jesu Christi sind.32 Überhaupterst dadurch, dass Gott sie in seiner Herr-schaftsbewegung sein lässt oder be-kämpft, macht er sie nämlich als gute oderböse Mächte sichtbar. Denn von alleinwerden sie sich nicht einfach als gut oderböse identifizieren lassen. Das ist die urei-

genste Ansicht biblischen Engelglaubens,dass man ihrer selbst niemals habhaftwerden kann. Sie sind als Mächte derNiedrigtranszendenz unbestimmt und un-beherrschbar. Mit ihnen kann man sowohlauf Gutes als auch auf Böses treffen. Un-sere Erfahrungen und Wahrnehmungenals solche bleiben indifferent. Mächte sinduns in ihrer anonymen Weise weit überle-gen und als uns beherrschende Systemedieser Welt unbezwingbar, wenn wir vonihnen einfach verlangten, sie sollten nurunsere Bedürfnisse befriedigen. Wer dasdenkt, unterschätzt die Wirklichkeit dieserWelt, die nicht ohne Grund nach Gerech-tigkeit dürstet – im Gegenteil, er machtdie Gefahren in ihr erst wahrhaft stark. Wenn demnach im Diskurs mit der neuenEngelreligion etwas der Theologie obliegt,dann, dass sie die Geister, die die Engelre-ligion als Religion des säkularen Men-schentypus zu benutzen weiß, als allermenschlichen Verfügbarkeit überlegenausweist und damit auf die Notwendigkeitder Anbindung der Engelmächte an Gottals den souveränen Herrscher der Himmelund der Erde hinweist. Erst von hier ausfinden Menschen Erlösung von den Mäch-ten dieser Welt durch die Macht, die Gottselbst ist. Erst hierdurch öffnen sich dieHimmel in ihrer ganzen Fülle aus derGüte Gottes.33

Anmerkungen

1 Thomas Ruster, Die neue Engelreligion. Lichtgestal-ten – dunkle Mächte, Kevelaer 2010.

2 Ebd., 48-50.3 Doreen Virtue, Neue Engel-Gespräche, Berlin

2004.4 Giulia Siegel, Engel, Güllesheim 2008.5 Kurt Tepperwein, Leben in der Gegenwart der En-

gel. Himmlische Kraft und heilende Worte für jedeLebenslage, München 2008, 7.

6 Thomas Ruster, Die neue Engelreligion, a.a.O.,39ff, hier 41.

7 Doreen Virtue, Himmlische Führung. Kommunika-tion mit der geistigen Welt, Burgrain 2008, 21ff.

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8 Werner Thiede, Esoterik – die postmoderne Dauer-welle. Theologische Betrachtungen und Analysen(R.A.T.6), Neukirchen-Vluyn 1995, 20.

9 Vgl. Jana Haas, Engel und die neue Zeit. Heilwer-den mit lichten Helfern, Berlin 2008.

10 Thomas Ruster, Die neue Engelreligion, a.a.O., 26. 11 Matthias Pöhlmann, Beruf: Engel-Dolmetscherin.

Alexa Kriele und ihr „Haus der Christosophie“, in:Michael N. Ebertz / Richard Faber (Hg.), Engel unteruns. Soziologische und theologische Miniaturen,Würzburg 2008, 59-66.

12 Giulia Siegel, Engel, a.a.O., 7f.13 Jana Haas, Engel und die neue Zeit, a.a.O., 22.14 Robert C. Smith, Schutzengel und Heilengel. Das

wunderbare Wirken unsichtbarer Helfer, München31997, 15, 32f.

15 Vgl. etwa schon Alfons Rosenberg, Engel und Dä-monen. Gestaltwandel eines Urbildes, München21986.

16 Paul Schwarzenau, Die himmlischen Hierarchiendes Dionysios Areopagita und die Engellehre RudolfSteiners, in: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau /Udo Tworuschka (Hg.), Religionen im Gespräch(RIG 2). Engel, Elemente, Energien, Balve 1992,197-237.

17 Helmut Obst, Dialog mit neuen Propheten, in:Reinhard Hempelmann (Hg.), Religionsdifferenzenund Religionsdialoge. Festschrift – 50 Jahre EZW,EZW-Texte 210, Berlin 2010, 253-257.

18 Bernhard Lang / Colleen McDannell, Der Himmel.Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Frankfurta. M., 428-469.

19 Johann Evangelist Hafner, Gegenwärtig GlaubenDenken. Systematische Theologie, Bd. 9. Angelolo-gie, Paderborn u. a. 2010, 95-103, hier 103.

20 Wolf Krötke, „Wiederkehr der Götter“ – Einkehr desFriedens in die Welt? Ulrich Becks soziologischeTheorie des „eigenen Gottes“ in theologischer Per-spektive, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Religi-onsdifferenzen und Religionsdialoge. Festschrift –50 Jahre EZW, EZW-Texte 210, Berlin 2010, 13-25.

21 So etwa noch bei Friedrich Wilhelm Graf, Wieder-kehr der Götter. Religion in der modernen Kultur,München 2007.

22 Vgl. dazu auch Thomas Rusters Kritik gegen F. W.Graf: Thomas Ruster, Die neue Engelreligion,a.a.O., 246, Anm. 77.

23 Matthias Petzoldt, Differenzen über Religion in aus-differenzierten Gesellschaften, in: Reinhard Hem-pelmann (Hg.), Religionsdifferenzen und Religions-dialoge. Festschrift – 50 Jahre EZW, EZW-Texte210, Berlin 2010, bes. 34-39.

24 Ulrich Beck, Der eigene Gott. Friedensfähigkeit undGewaltpotential der Religionen, Frankfurt a. M. /Leipzig 2008, 119. Vgl. gut zusammengefasst: WolfKrötke, „Wiederkehr der Götter“, a.a.O., 16-18.

25 Ulrich Beck, Der eigene Gott, a.a.O., 113, 175.26 Ebd., 114, 165.27 Ebd., 107.28 Ebd., 174.29 Ebd., 96f.

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30 Paul Althaus, Die christliche Wahrheit. Lehrbuchder Dogmatik, Bd. 2, Gütersloh 1948, 67-70, 155-160; Karl Heim, Der evangelische Glaube und dasDenken der Gegenwart. Grundzüge einer christ-lichen Lebensanschauung, Bd. 3: Jesus der Welt-vollender, Berlin 1937, 87-97.

31 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von derSchöpfung, III/3 §§ 48-51, Studienausgabe 17 und18, Zürich 1992, 426ff.

32 Regin Prenter, Schöpfung und Erlösung. Dogmatik,Göttingen 1960, 228.

33 Thomas Zeilinger, Zwischen-Räume – Theologieder Mächte und Gewalten, Stuttgart 1999, 313f;Oliver Dürr, Der Engel Mächte. Systematisch-theo-logische Untersuchung: Angelologie, Stuttgart2009, 228-241, 250-269, 274-282.

INFORMATIONENFREIGEISTIGE BEWEGUNG

Neue Mitgliederzahlen. (Letzter Bericht:11/2010, 420f) Die weitergehende Plura-lisierung der religiösen Landschaft wirftdie Frage auf, ob sich signifikante Verän-derungen bei den Mitgliederzahlen frei-denkerischer / atheistischer Organisatio-nen ergeben haben. Die letzte Erhebungzu diesem Thema durch die EZW erfolgtevor knapp zehn Jahren im Zuge meinerVorarbeiten zum EZW-Text 162 „Freiden-ker – Freigeister – Freireligiöse. Kirchen-kritische Organisationen in Deutschlandseit 1989“ (Berlin 2002). Ich habe nun diewichtigsten Organisationen erneut umAuskunft gebeten. Der Deutsche Freidenker-Verband (DFV)teilte mit, er habe bundesweit rund 3000Mitglieder; der Humanistische VerbandDeutschlands (HVD) nennt eine Zahl vonbundesweit 19 000 Mitgliedern (5200 inBerlin); der Internationale Bund der Kon-fessionslosen und Atheisten (IBKA) gibt alsaktuelle Zahl 869 Personen an (größterLandesverband ist NRW mit 211, kleinsterThüringen mit lediglich 5 Mitgliedern);die Giordano Bruno Stiftung (GBS) zähltzurzeit 2400 Fördermitglieder, und der

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Dachverband Freier Weltanschauungsge-meinschaften (DFW) teilte mit, dass er ca.35 000 Personen in Deutschland vertritt. Diese Angaben sind erklärungsbedürftig.Beim Deutschen Freidenker-Verband gibtes seit vielen Jahren Hinweise darauf, dassder Altersdurchschnitt extrem hoch ist undes kaum gelingt, neue Mitglieder zu ge-winnen. Es würde mich nicht wundern,wenn die tatsächliche Zahl der DFV-Frei-denker deutlich unter den genannten3000 liegt. Der HVD nennt eine Zahl, diesehr optimistisch erscheint; die Angabe zuBerlin würde eine nennenswerte Steige-rung in den letzten acht Jahren bedeuten.Andererseits liegt die Zahl um ca. 7000Personen unter der vor einigen Jahrenselbst genannten Zahl im „Oeckl. Ta-schenbuch des öffentlichen Lebens“. Der IBKA berichtet, dass die Mitglieder-zahl in den letzten Jahren kontinuierlichsteigt, was hier durchaus plausibel er-scheint. Die Giordano Bruno Stiftungspricht von einer stetigen Zunahme anFördermitgliedern, was in Anbetracht derattraktiven und geschickten Öffentlich-keitsarbeit ebenso nachvollziehbar wäre.Man muss jedoch beachten, dass es sichsowohl bei der Giordano Bruno Stiftungals auch beim IBKA nicht um Weltan-schauungsgemeinschaften, sondern umeine weltanschaulich geprägte Initiativebzw. um eine atheistische Bürgerorganisa-tion handelt. Das Engagement in einersolchen Initiative verlangt weniger Ver-bindlichkeit und kommt damit der weitverbreiteten Unverbindlichkeit in der Ge-sellschaft entgegen. Auch kann man situa-tionsbezogen mitarbeiten und sich dannschon bald wieder abwenden. Die Frageist daher, welche Nachhaltigkeit diesesEngagement hat und welche Dauer diebundesweit entstehenden GBS-Regional-gruppen entwickeln werden. Schließlich teilt der DFW eine Zahl mit,die deutlich unter der im EZW-Text 162

genannten liegt. Auch das erscheint ein-leuchtend, zumal die (vielfach überalter-ten) Freireligiösen eine große Gruppe imDFW darstellen und folglich ein gewisserMitgliederrückgang zu erwarten war. EineGesamtbewertung der Mitgliederzahl desDFW unter dem Aspekt des Atheismus istnicht ganz einfach, da man die Freireligiö-sen dieser Gesinnung nicht einfach zu-rechnen kann. Die Angaben der befragten Organisatio-nen sind aber auch interpretationsbedürf-tig. Zunächst ist festzuhalten: Die freiden-kerischen / atheistischen Organisationenhaben nach wie vor kaum Mitglieder.Selbst bei großzügiger Betrachtung wirdman bundesweit höchstens ca. 20 000zählen – weniger als ein Tausendstel derMitgliederzahl evangelischer Kirchen. DieZahl wird noch bescheidener, wenn manberücksichtigt, dass viele engagierte Athe-isten in mehreren Organisationen gezähltwerden und z. B. als Mitglied des HVDdie GBS unterstützen. Solche Mehrfach-zählungen gibt es häufiger. Es sind also nicht die abstrakten Mitglie-derzahlen säkularer Organisationen, dieden Kirchen Sorgen bereiten müssten. Be-sorgnis könnte vielmehr hervorrufen, dassimmer mehr Menschen sich innerlich vonden Kirchen abwenden. Nach einer Um-frage des Instituts für Demoskopie Allens-bach bezeichnen sich nur noch 53 Pro-zent der evangelischen Kirchenmitgliederals religiös, 47 Prozent sind also unreli-giös. Diese weit verbreitete Beliebigkeit inreligiösen Fragen dürfte ein Grund dafürsein, dass Religion längst kein Themamehr ist, an dem man sich reibt. Religionscheint in einigen Bereichen unserer Ge-sellschaft derart beliebig geworden zusein, dass atheistische Organisationen garkein Gegenüber mehr finden. So erklärtsich, warum die eingangs genannten Or-ganisationen kaum Mitglieder oder Sym-pathisanten im Bereich der östlichen Bun-

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desländer haben. Nirgends sind die athe-istischen Organisationen so schwach wieda, wo auch die Kirchen schwach sind.Unter den atheistischen Organisationenhaben im Osten Deutschlands (ohne Ber-lin und den sogenannten Speckgürtel) oh-nehin nur die Jugendweiheverbände nen-nenswerte Mitgliederzahlen. Leider sahsich der Bundesverband Jugendweihenicht in der Lage, mir genauere Auskunftüber seine Mitgliedsverbände zu geben.Klar ist jedoch, dass diese weltanschau-lich als blass bis beliebig beschriebenwerden können. Die bescheidenen Mitgliederzahlen säku-larer Verbände in Deutschland sind nurauf den ersten und zweiten Blick einegute Nachricht für die Kirchen; bei ge-nauer Betrachtung sind sie auch ein Spie-gelbild wachsender Bedeutungslosigkeitvon Kirche und Religion.

Andreas Fincke, Berlin

ESOTERIK

Bärbel Mohr ist tot. Am 29. Oktober2010 ist die Bestsellerautorin im Alter von46 Jahren nach schwerer Krankheit gestor-ben. Die gelernte Betriebswirtin, frühereFotoreporterin, Fotoredakteurin und Grafi-kerin begann 1995 mit dem Schreiben,das sie zunächst als Hobby betrieb. IhrBuch „Bestellungen beim Universum“avancierte schon bald zum Bestseller (vgl.MD 12/2002, 353f). Nach Mitteilung desVerlags konnten davon rund 2 MillionenExemplare verkauft werden. Bärbel Mohrwar Verfasserin weiterer populärer Titelwie „Der kosmische Bestellservice – EineAnleitung zur Reaktivierung von Wun-dern“, „Universum & Co – KosmischeKicks für mehr Spaß im Beruf“ oder „DerWunschfängerengel“. Einzelne Bücherwurden mittlerweile in 20 Sprachen über-setzt. Weitere Titel befassten sich mit dem

Thema Heilung; daneben schrieb BärbelMohr Kinderbücher und Beziehungsratge-ber. Zuletzt popularisierte sie den neuen„Trend vom ‚Hoppen’ nach dem alten ha-waiianischen Ho’oponopono“. Im Jahr2000 produzierte sie die Video-Dokumen-tation „Herzenswünsche selbst erfüllen“.2008 erschien ihre Filmdokumentation„Bärbel Mohr’s Cosmic Ordering“. Seit1995 trat die Esoterik-Autorin, die mitEhemann und ihren beiden neunjährigenZwillingen in der Nähe von Münchenwohnte, mit Seminaren und Vorträgen andie Öffentlichkeit. Die Kernaussagen ihrerfroh gestimmten Wunscherfüllungslitera-tur beruhen auf der Vorstellung, wonachdas Bewusstsein das Sein bestimme. Dieinnere Einstellung des Menschen könnedemzufolge äußere Ereignisse wie mit ei-nem Magneten „anziehen“.

Matthias Pöhlmann

STICHWORTHumanismus

Der Begriff Humanismus umfasst ver-schiedene Bedeutungen und lässt sich u. a. bestimmen: als Renaissance-Huma-nismus bzw. Epochenbezeichnung, derdie Zeit von der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts bis gegen Ende des 16. Jahr-hunderts umfasst; als auf den Pädagogenund Philosophen Friedrich ImmanuelNiethammer zurückgehender und 1908eingeführter Fachbegriff für das Bildungs-programm des am klassischen Altertumorientierten Gymnasiums mit der Pflegeder griechischen und lateinischen Litera-tur und Sprache; als Bezeichnung ver-schiedener weltanschaulicher Strömun-gen, die auswählend Anliegen eines histo-risch orientierten Humanismusbegriffs

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aufnehmen und zum christlichen Glau-ben bzw. zur Religion teils zustimmende,teils dezidiert ablehnende Verhältnisbe-stimmungen vornehmen. In der europäischen Kulturgeschichtestellt der Humanismus ein prägendes Phä-nomen dar, mit Auswirkungen auf Wissen-schaft, Philosophie, Politik, Kunst und Re-ligion. In einem erweiterten Sinn wird mitHumanismus heute die Hochschätzungder Menschenwürde und der humanenWerte bezeichnet, deren Begründung undKonkretion im Kontext des weltanschau-lichen Pluralismus sehr unterschiedlichund strittig ist. Unter dem Gesichtspunkteiner allgemein zustimmungsfähigenWerteorientierung nimmt die Präambeldes europäischen Verfassungsentwurfs Be-zug auf die „humanistischen Überliefe-rungen Europas“.

Zum Renaissance-Humanismus

Der Renaissance-Humanismus beginntmit Francesco Petrarca (1304-1374), dem„Vater des Humanismus“, und seinemFreund und Schüler Giovanni Boccaccio(1313-1375) und ist eine Bewegung vonGelehrten, die sich vom Italien des 14.Jahrhunderts ausgehend über Europa er-streckt und der es um die „Wiedergeburt“und Belebung der griechischen und römi-schen Antike als Bildungsgut geht. Insbe-sondere der philologische Anteil der Re-naissance wird Humanismus genannt, daer die „Bemühungen um das Menschsein“(studia humanitatis) in den Mittelpunktstellt und in einem relativ konstanten Fä-cherkanon die klassische Literatur behan-delt (Grammatik, Rhetorik, Poetik, Moral-philosophie, Geschichte). Sein besonde-res Gepräge erhält der Humanismusdurch seine Distanz zur mittelalterlichenScholastik mit ihren spitzfindigen und dia-lektischen Erörterungen; ebenso durch dieLoslösung von bisherigen Autoritäten wie

Kirche, Feudalgesellschaft, Mönchtum.Zentrale Anliegen sind: die Erneuerungdes antiken Bildungsideals, das Eintretenfür eine freie Entfaltung des Menschen mitdem Ziel der Vervollkommnung, die Ver-ehrung antiker Lebensweisen. „Die Re-naissance-Humanisten waren, was dieBildung des Menschen betrifft, im allge-meinen optimistisch und hatten zu seinerRationalität, mindestens in den oberenSchichten der Gesellschaft, hohes Zu-trauen“ (L. W. Spitz). Der klassische Humanismus ist vor allem Bildungspro-gramm, konzentriert auf das Studium anti-ker Literatur und darauf ausgerichtet,durch die systematisch gesammelten undedierten Werke und Quellen ästhetischeund ethische Orientierung zu vermitteln.Da er Bildung nicht als Privileg von Kleri-kern ansieht, fördert er die Aufwertung derLaien. Ein einheitliches philosophischesAnliegen oder ein alle Vertreter verbin-dendes Verständnis von Mensch und Weltfehlt ihm. Die nichtchristlichen bzw. vor-christlichen Schriften der Antike werdenals Zeugnis der einen von Gott kommen-den Wahrheit verstanden. Besonders durch die Konzile von Kon-stanz (1414-1418) und Basel (1431-1449)erfolgte die Ausbreitung des Humanismusnach Frankreich, Spanien, England undDeutschland. Ende des 15. Jahrhundertshatte er zahlreiche Vertreter in verschiede-nen Ländern gefunden; Anfang des 16.Jahrhunderts konnte er an UniversitätenEuropas Fuß fassen. In Deutschland er-langte Johannes Reuchlin (1455-1522) be-sondere Bedeutung als gelehrter Kennerder klassischen Sprachen, einschließlichder hebräischen („homo trilinguis“). AnRuhm übertroffen wurde er allerdings vondem Moralphilosophen, Philologen, geist-lichen und politischen Schriftsteller Eras-mus von Rotterdam (1469-1536), der dieüberragende Figur des Humanismus („Kö-nig der Humanisten“) darstellt und in sei-

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nem Denken antike Weisheit und Ethikdes Christentums in einer Synthese ver-bindet.

Humanismus – Reformation – Neuhumanismus

Zwischen Humanismus und Reformationbestehen vielfältige Wechselwirkungen.Durch philologische Methoden, Kenntnisder Sprachen, kritische Behandlung derQuellen und Kritik an zeitgenössischenInstitutionen bahnt der Humanismus derReformation den Weg und bleibt auch imkonfessionell gespaltenen Abendland zeit-weilig ein einigendes Band. Der Huma-nismus übt bedeutenden Einfluss auf zahl-reiche Reformatoren aus (u. a. Melan-chthon, Bucer, Zwingli, Calvin). Die zu-nehmende Resonanz, die die reformatori-sche Lehre erfährt, trägt gleichzeitig zumhistorischen Ende des Humanismus bei,nachdem im Streit über die menschlicheWillensfreiheit zwischen Luther und Eras-mus tiefgreifende und nicht überbrück-bare Differenzen deutlich werden. LuthersAnthropologie, die er im Zusammenhangseiner Schriftauslegung und Rechtferti-gungslehre entfaltet, bleibt Erasmusfremd. Melanchthon dagegen vertritt eineenge Verknüpfung von Humanismus undReformation und begründet eine ge-schichtlich überaus wirksame Richtung,die das evangelische Bildungswesen unddie Kulturbedeutung der Reformationmaßgeblich beeinflusst. Der Humanismuswirkt auf alle christlichen Konfessionenein, insbesondere mit seinen pädagogi-schen und philologischen Leistungen. Niethammer gehört mit Wilhelm vonHumboldt und anderen zum philosophi-schen und bildungspolitischen Neuhuma-nismus, dem es um die am Verständnisdes Menschen im klassischen Altertumorientierte Bildung am Gymnasium geht.Die Forderung einer stärker mathema-

tisch-naturwissenschaftlich und ausbil-dungsorientierten Gestaltung wird zu-rückgewiesen, der Bildungswert der altenSprachen verteidigt. Die Hochschätzungund Begeisterung für die Antike verbindetsich mit zeitgenössischer Philosophie(Fichte, Hegel, Schelling) und klassischerDichtung (Herder, Goethe, Schiller). Er-ziehungsideale sind Freiheit und Selbstbe-stimmung, auch im Gegenüber zu kirch-lichem Dogmatismus und staatlicher In-strumentalisierung des Einzelnen. Die Bil-dung des Individuums steht im Zentrumdes neuhumanistischen Verständnissesdes Menschen, das auf preußische undbayerische Schulprogramme besonderenEinfluss gewinnt.

Humanismus in der Moderne

Die philosophische, weltanschauliche undtheologische Diskussion zum Humanis-mus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts steht in nur lockerer Verbindungzum Renaissance-Humanismus, der welt-anschaulich nicht festgelegt ist und dessenVertreter die Hinwendung zur „heidni-schen“ Antike mit einem christlichenSelbstverständnis verbinden. Im Zentrumeiner Vielzahl moderner Humanismen da-gegen steht die philosophische und welt-anschauliche Grundeinstellung, die denMenschen als autonomes Subjekt begreift,sich u. a. auf die Aufklärung beruft undauch religionskritische Impulse aufgreift.Ludwig Feuerbach entwickelt eine von re-ligiösen Grundlagen unabhängige Anthro-pologie, nach der der Mensch für denMenschen das höchste Wesen ist. KarlMarx versteht sein kommunistisches Pro-gramm als Naturalismus und Humanis-mus. Nachwirkungen dieser Sicht findensich im Neomarxismus des 20. Jahrhun-derts (Herbert Marcuse, Leszek Kola-kowski). Martin Heidegger wendet sichgegen alle bisherigen Humanismen, die er

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als Ausdruck eines zu überwindendenmetaphysischen Denkens ansieht, undfordert einen neuen, dem Seinsdenken ge-mäßen Humanismus. Jean-Paul Satre istVertreter einer existenzialistischen Welt-auffassung, der gemäß der Mensch zurSelbstkonstitution und Freiheit verurteiltist. Gegen jede vorausgesetzte Deutungdes Menschen wenden sich auch AlbertCamus und Maurice Merleau-Ponty, diedem Humanismus zugleich ein politisch-soziales Fundament geben. Darüber hinaus werden auch naturwis-senschaftlich-pragmatistische Einstellun-gen als Humanismus bezeichnet (Ferdi-nand C. S. Schiller, William James). Theo-rien einer humanistischen Psychologie (u. a. Abraham Maslow, Carl Rogers) ori-entieren sich am Selbstverwirklichungs-streben des Menschen. Gleichzeitig artikuliert sich Humanismus-kritik als ein bereits im 19. Jahrhunderteinsetzendes Phänomen, das im 20. Jahr-hundert eng mit ideologiekritischen Im-pulsen verbunden ist. Anthropologie, Dia-lektische Theologie, Existenzphilosophieund Soziologie kritisieren den Optimis-mus, Idealismus, die individualistischeEngführung und den elitären Charakterhumanistischer Strömungen. Humanis-muskritik wird auch aus der Perspektiveeines technizistischen Utilitarismus vorge-tragen. Postmoderne Konzeptionen wen-den sich gegen die „großen Erzählungen“,die die Vollendung und Einheit derMenschheit im Blick haben, und kritisie-ren die Universalismen von Humanismusund Aufklärung. Zugleich gibt es Bemü-hungen, Humanismus und Religion zuverbinden; so wird ein jüdischer Huma-nismus aus der mitmenschlichen Begeg-nung begründet (Martin Buber, EmmanuelLevinas). Vor allem in Frankreich entwi-ckelt sich ein Humanismus katholischerPrägung (Henri Bergson, Maurice Blon-del, Henri de Lubac).

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird derBegriff Humanismus für zahlreiche kultur-und gesellschaftspolitische Programme inAnspruch genommen. Im Namen einessäkularen Humanismus (secular huma-nism) werden vor allem religions-, kir-chen- und christentumskritische Konzep-tionen vorgetragen, so z. B. von Freiden-kern und Atheisten (u. a. Deutscher Frei-denker Verband, Humanistischer VerbandDeutschlands, Internationaler Bund derKonfessionslosen und Atheisten, Verein Ju-gendweihe Deutschland, Giordano BrunoStiftung, Humanistische AkademieDeutschland). Bemerkenswert ist, mitwelcher Zurückhaltung der Atheismusbe-griff verwendet wird. Humanistisch wirdmit vieldeutigen Begrifflichkeiten assozi-iert wie säkular, weltanschaulich unge-bunden, aufgeklärt, autonom, konfessi-onsfrei. Im Namen der Wissenschaftmöchten manche Humanisten eine natu-ralistische und atheistische Weltanschau-ung zur Norm erheben. Die Berufung aufdie humanistische Tradition in atheisti-schen und freidenkerischen Milieus wirddem prägenden Phänomen Humanismusund seiner Bedeutungsgeschichte durch-weg nicht gerecht.

Einschätzung

Moderne Reflexionen spiegeln Vielfaltund Gleichzeitigkeit religiös-weltan-schaulicher Orientierungen wider. Wasunter Humanismus in den jeweiligen Zu-sammenhängen verstanden wird, entziehtsich einer geschlossenen Beurteilung undmuss differenzierend wahrgenommenwerden. Im modernen Diskurs hat derHumanismusbegriff durch inflationärenGebrauch und durch Instrumentalisierungseine Eindeutigkeit eingebüßt. Ebensozeigt sich, dass der Versuch, Menschen-würde und Menschenrechte unter Abse-hung von religiös-weltanschaulichen

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Überzeugungen zu begründen, offen-sichtlich nicht durchführbar ist. EthischeOrientierungen bleiben auf bestimmteWeltdeutungen bezogen. Weltanschauli-che Überzeugungssysteme „sind nicht et-was, was im Leben auftreten oder ausblei-ben könnte, sondern eines seiner wesent-lichen, faktisch niemals fehlenden Mo-mente“ (E. Herms). Auch in säkularisiertenund durch weltanschaulichen Pluralismusgeprägten Gesellschaften, in denen christ-liche Traditionen und Lebensorientierun-gen ihre Selbstverständlichkeit einbüßen,setzt menschliches Handeln und Lebenimplizite oder explizite Gewissheiten undÜberzeugungen voraus. Kriterien für einen aus christlicher Per-spektive sich verstehenden Humanismussind die Berücksichtigung der theonomenund personalen Grundstruktur desMenschseins, seiner Freiheit, Endlichkeitund Verantwortungsfähigkeit. ChristlicherGlaube versteht den Menschen als Eben-bild Gottes, das zur Freiheit und Verant-wortung berufen ist. Angemessen wird daschristliche Verständnis des Humanendann zum Ausdruck gebracht, wenn dieGottesbeziehung des Menschen im Hori-zont von Schöpfung, Versöhnung undVollendung interpretiert wird.

Literatur

Art. Humanismus / Humanität, in: Historisches Wör-terbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Ba-sel / Stuttgart 31974, 1217-1230

Buck, August, Humanismus. Seine europäische Ent-wicklung in Dokumenten und Darstellungen, Frei-burg i. Br. 1987

Hauschild, Wolf-Dieter, Lutherische Reformation undHumanismus, in: ders., Lehrbuch der Kirchen- undDogmengeschichte, Gütersloh 21999

Herms, Eilert, Zusammenleben im Widerstreit derWeltanschauungen. Beiträge zur Sozialethik, Tü-bingen 2007

Schwan, Alexander, Humanismus und Christentum,in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft(CGG), Bd. 19, 1981, 5-63

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Southern, Richard W., Scholastic Humanism and theUnification of Europe, Vol. I, Oxford u. a. 1995

Spitz, Lewis W., Artikel Humanismus / Humanismus-forschung, in: TRE, Bd. 15, Berlin / New York 1986,639-661 (Lit.)

Reinhard Hempelmann

Thomas Ruster, Die neue Engelreligion.Lichtgestalten – dunkle Mächte, Butzon& Bercker, Kevelaer 2010, 264 Seiten,17,90 Euro.

„Die Engelreligion schickt sich an, die Re-ligion der Zukunft zu werden“ (9). Bei al-ler Mehrdeutigkeit des Religionsbegriffesund auch wenn beileibe nicht alles, wastagtäglich zum Thema „Engel“ auf denSchreibtisch und ins Beratungsgesprächwandert, sich substanziell als „Religion“qualifizieren lässt, trifft diese Aussagedurchaus zu. Eine ganze Menge religiöserAspekte findet sich in der stetig zuneh-menden esoterischen Engelgläubigkeit al-lemal. Thomas Ruster, Professor für Syste-matische Theologie (katholisch) an derUniversität Dortmund, legt nun den Ver-such einer zeitgemäßen Hermeneutik die-ses Engelglaubens in der aktuellen Religi-onskultur vor. Er regt an, dass sich dasChristentum vom zeitgenössischen Engel-boom inspirieren lasse, dabei aber das un-terscheidend Christliche ins Spiel bringe –und dass sich Engelgläubige „dem christ-lichen Glauben öffnen“ (10).Zunächst bietet das Buch einen kenntnis-reichen Durchgang durch Namen, Pro-grammatiken und Versprechungen der En-gelszene (11-27). Auch die „dunklenKräfte“, Gewalt, Zerstörung und Todes-sehnsucht, deren Ausdruck der Autor vorallem in der Heavy-Metal- und der Gothic-Szene findet, werden nicht ausge-spart (12-48).

BÜCHER

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Betrachtet man die Liebe, Leben und Heilversprechenden Offerten der Engelreli-gion, scheint die positive und optimisti-sche Variante des Engelglaubens bedürf-nisorientiert und im Handlungsmodus derPostmoderne die besten Elemente aus ver-schiedensten Religionen, auch des Chris-tentums, adaptiert zu haben (50-55).Doch wie kann sich eine Religion, diesich inhaltlich stark aus den Bedürfnissenihrer Anhänger speist, vor den negativenFolgen einer bloßen Bedürfnisbefriedi-gung bewahren (28ff und 45ff)? Unverse-hens findet man sich bei Rusters Beschrei-bung der Engelreligion in einer spannen-den Kritik von Kapitalismus und maßlo-sem Selbsterhaltungsstreben. Die neueEngelreligion bleibt in ihrer Bedürfniser-füllung jedenfalls privatistisch: „Warumhören wir nie etwas von Engeln, die zumÖffentlichen Nahverkehr raten? Oder zurTreue in der Partnerschaft?“, fragt der Au-tor (47). Trotz der Ambivalenz scheintRuster jedoch vor allem die Chance indieser Entwicklung zu sehen: Es könnewieder mythologisch gedacht werden. Im systematischen Teil versucht der Autorzunächst zu klären, was Christen überden Himmel denken: Der Gott der Chris-ten, der Gott Israels, transzendiere denvon ihm geschaffenen Himmel sowie des-sen Bewohner (Himmelswesen) und Ele-mente (Sonne, Sterne). Sein Wohnort seigleichzeitig in und über den Himmelnund in der Welt. Er sei deshalb der Gottder Freiheit und des Lebens, was ihn vonden Göttern im Himmel und den Mächtender Welt unterscheide – erster Aspekt derDifferenzierung zur „lichten Seite der Engelreligion“ wie zur „dunklen Seite“(45-48, 64-72). Nach einem vergnüglich zu lesendenDurchgang durch zeitgenössische, alt-kirchliche und mittelalterliche Angelolo-gie (109-153) präsentiert Ruster dann sei-nen eigenen Entwurf: Auch im 21. Jahr-

hundert, in dem eine hierarchische undständische Gesellschaftsordnung keinadäquates hermeneutisches Modell mehrsein kann, soll der Himmel verstandenwerden. Unter Rückgriff auf dynamischeHimmelsvorstellungen nach Hildegardvon Bingen sowie auf den Gedanken von„Schutz- oder Folgegeistern“, den er auchbei Romano Guardini findet, legt er einvon der Systemtheorie Niklas Luhmannsinspiriertes Modell des Engelglaubens vor:Engel, ob „gute“ oder „böse“, könnten –ganz knapp gesagt – als (beg)leitende undvor allem verstärkende Kräfte in Systemenund Prozessen, die sich positiv oder nega-tiv entwickeln, begriffen werden. „GuteEngel“ und „Schutzengel“ stellt der Autorals Prinzipien der maßvollen Selbsterhal-tung im System vor (154-176). Angesichtsder Gefahr, dass Selbsterhaltung auch inZerstörung anderer und aller mündenkann (als Beispiele führt er u. a. Umwelt-zerstörung und destruktive wirtschaftlicheProzesse an), müssen sich christliche En-gel jedoch von diesen rein selbsterhalten-den Kräften unterscheiden. Doch auf wel-che Weise? Engel tauchen in den Schriftender Bibel und des frühen Judentums vorallem dann auf, wenn das Gesetz der Toraim einzelnen Menschen wie im Volk zurUmsetzung gebracht werden soll. Nichtmehr Selbsterhaltung, sondern die gött-liche Rechtsordnung ist die „Codierungdes Systems“ der Engel der Bibel. Diesezielt als erstes und höchstes auf die Liebedes Menschen zu Gott und kann so gegendie exzessiven selbsterhaltenden Tenden-zen des Menschen das Leben bewahrenund fördern. Die Engel der Bibel – so ein zweiter As-pekt der Differenzierung – motivieren undstärken zum Befolgen der Gebote und zurEntscheidung für das Leben (177-213). Eindritter Aspekt lautet: Auch nach demChristusereignis haben Engel nicht ein-fach „ausgedient“. Christus ist die „leib-

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haftige Gestalt der Tora“ (221), der dieMacht des Bösen und des Todes besiegte.Jetzt sei die Tora an Jesus zu lesen (223),den die Engel verkündigen, den sie lob-preisen, dessen Auftrag sie dienen. „OhneGlauben an Gott kann es keine Rettungvor der Macht des Bösen geben“ (240). Als Weltanschauungsbeauftragte bin ichan manchen Stellen über den theologi-schen Vertrauensvorschuss verwundert,den einzelne Angebote beim Autor genie-ßen. Ich hätte mir einen noch kritischerenBlick auf Protagonisten und manches sichkonflikthaft auswirkende Angebot ge-wünscht. Hilfreich für die eigene Positio-nierung hätte ich auch eine noch deut-lichere Einordnung gefunden: Was wärevon dem, was wir auf dem Engelmarkt er-leben, als eine Form ernst zu nehmenderReligiosität wahrzunehmen? Was würdein den Bereich einer rein psychologischenDeutung gehören? Was sollte gar in denBereich der „theologischen Scharlatane-rie“ verbannt werden? Eine solche Einord-nung hätte möglicherweise aber dem kon-struktiven Wahrnehmungsinteresse desAutors widersprochen und war vielleichtauch nicht sein Anliegen. Als Theologin freue ich mich jedoch vorallem über den produktiven Umgang mitdem Thema. Das Buch nimmt einen Trendder zeitgenössischen Religionskultur alsrelevant für Systematische Theologiewahr. Es stellt m. E. einen originellen undnachdenkenswerten Versuch dar, die Vor-stellungen über Sein und Wirken von En-geln in Texten der Heiligen Schrift, derGeschichte und Tradition und im Lebenengelgläubiger Menschen zueinander zuvermitteln. Das Wirken der biblischen En-gel im Horizont der göttlichen Rechtsord-nung zu deuten, ist ein neues und hilfrei-ches Element, zeitgenössischen Engel-boom und christliche Rede über Engelvoneinander zu unterscheiden. Die sys-temtheoretische Hermeneutik überzeugt

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hier dadurch, dass sie Verstehenshilfe so-wohl für negative wie für positive Dyna-miken bietet. Man wünscht sich, dass die-ser Entwurf das systematische Denkenüber Engel weiter anregt. Dazu hat derAutor ein aktuelles, an vielen Stellenüberzeugendes und zur Diskussion anre-gendes Verstehenskonzept dargelegt. DieLektüre des Buches ist spannend und pa-ckend!

Marianne Brandl, München

Elke Hemminger, The Mergence of Spa-ces. Experiences of Reality in DigitalRole-Playing Games, edition sigma, Berlin2009, 170 Seiten, 36,90 Euro.

Dass Aufklärung in Mythos umschlagenkann, weiß man seit der „Dialektik derAufklärung” von Horkheimer und Adorno.Leider ist diese Erkenntnis nicht vorhan-den, wenn es um virtuelle Welten undComputerspiele geht. Allzu wohlfeil fallenhier Schlagworte wie „Sucht”, „Vereinsa-mung” und – natürlich – auch „Gewaltbe-reitschaft”. Ereignet sich dann noch einAmoklauf, ist der Mythos vom schäd-lichen Einfluss digitaler Spielwelten sehrschnell zur Hand. Doch hier gilt – wie aufdem Gebiet neuer Medien generell (sieheFacebook!) –, dass oft diejenigen, die amwenigsten Ahnung haben, oft besondersentschieden auftreten.Elke Hemminger gehört nicht zu diesenvoreiligen Mahnern und Warnern, dennsie weiß sehr genau, wovon sie spricht.Und wohl gerade deshalb kommt ihrekleine Studie über die Szene der digitalenFantasy-Rollenspiele ausgesprochen nüch-tern und unaufgeregt daher. Vorgelegtwurde eine sozialwissenschaftliche Unter-suchung, zu der auch Interviews mit denjungen Nutzern digitaler Fantasy-Rollen-spiele gehören. Elke Hemminger kommtzu Ergebnissen, die landläufigen Vorurtei-

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Gebiet der Moral – thematisieren. Virtuali-tät wird so gleichsam zu einer Art Test-labor der und für die Realität.Die Autorin schließt mit dem Appell, dasses Zeit werde, die Bedeutung der Online-Räume für ihre Nutzer anzuerkennen undzu akzeptieren, dass viele Leute den On-line-Raum in ihre Alltagsrealität einbezie-hen (143). Dem ist zuzustimmen, und indiesem Sinne ist der Untersuchung einemöglichst weite Verbreitung zu wün-schen, wobei es gut wäre, wenn sie auchauf Deutsch vorliegen würde. Sie ist näm-lich ein wichtiger „Entwarnungsbeitrag”in einer so oft von Alarmismus wie auchvon Unkenntnis geprägten Debatte.

Christian Ruch, Chur/Schweiz

len doch deutlich widersprechen. DasProblempotenzial wird zwar durchausnicht ausgeblendet, sondern angespro-chen, dabei aber auf ein wohltuend un-dramatisches Maß reduziert. Für die Nut-zer solcher Spiele sind sie ein Hobby,keine in welcher Art auch immer gearteteTherapie. Für die Gefahren haben die Fan-tasy-Rollenspieler trotzdem durchaus einSensorium. Die Unterstellung eines Sucht-verhaltens und der Vereinsamung verhin-dert offenbar nicht, dass viele Nutzer ihrVerhalten durchaus selbstkritisch reflektie-ren können. Allerdings ärgern sie die Vor-urteile, und wer Elke Hemmingers Innen-aufnahme dieser Szenen liest, verstehtauch warum. Denn die Autorin zeigt aufsehr überzeugende Weise, dass das Fan-tasy-Genre jungen Menschen die Mög-lichkeit bietet, jenseits der Begrenzungenund oft auch der Zwänge des Alltags „einkohärentes System von Sinn und morali-schen Werten” zu erleben, das ihnen hilft,ihr Gespür für Sinn und Moral im wirk-lichen Leben weiterzuentwickeln (141).Damit können digitale Fantasy-Rollen-spiele sogar stark zur Identitätsfindungbeitragen. Sie sind „eine sichere und sinn-volle Simulation gesellschaftlicher Anfor-derungen” (141), also im Gegensatz zu somanchem geäußerten Verdacht durchausan soziale Systeme diesseits der Digitalitätanschlussfähig. Wer Elke Hemmingers Studie liest, der be-greift, dass Realität und Virtualität auf demGebiet der Fantasy-Rollenspiele ein Ver-hältnis haben, das jenem zwischen Mo-derne und Postmoderne entspricht, zumaldas Fantasy-Genre von der Ästhetik derPostmoderne nicht zu trennen ist: So wiedie Postmoderne auf eine spielerisch-dis-tanzierte Weise durchaus immer noch Teilder Moderne ist, sind die virtuellen Wel-ten der Fantasy-Rollenspiele ein spiele-risch-distanzierter Teil der Realität, indemsie deren Systemregulative – etwa auf dem

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Béatrice Acklin Zimmermann, Franz An-nen (Hg.), Versöhnt durch den OpfertodChristi? Die christliche Sühnopfertheolo-gie auf der Anklagebank, TVZ Verlag, Zü-rich 2009, 198 Seiten, 24,00 Euro.

Der Band veröffentlicht Vorträge vonAdrian Schenker, Franz Mali, Otto Her-mann Pesch, Christof Gestrich, Bernd Jo-chen Hilberath, Jacob Nordhofen, PierreBühler, Gunda Schneider-Flume und Tho-mas Schlag, die sich auf einer Tagung mitder gegenwärtigen Kritik an der Sühnop-fertheologie auseinandersetzten. Die He-rausgeberin und der Herausgeber schrei-ben in der Einleitung: „Die Vorstellungvom ... stellvertretenden Opfertod Christibereitet heutigen Menschen zunehmendSchwierigkeiten. Mehr oder weniger diffe-renziert wird regelmäßig vorgebracht,dass die Deutung des Todes Jesu als Sühn-opfer für die Sünden der Menschheit nichtnur eine ... Verstehensbarriere darstelle,sondern dass sie auch zur theologischenLegitimation von Leiderfahrung und Un-terdrückung missbraucht werde und De-struktion und Gewalt fördere. Einem

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gänzlichen Verzicht auf die Rede vomSühnopfer Christi scheint jedoch nicht nurder biblische Befund entgegenzustehen.Es fragt sich auch, ob Kriterien wie ‚unzu-mutbar’, ‚überholt’ oder ‚fremd’ ausrei-chen, um überlieferte theologische Vor-stellungen wie die des SühnopfertodesJesu Christi auszuhebeln. Außerdem istkeineswegs ausgemacht, dass das Bildvon Gott durch die Deutung des TodesJesu als Sühnopfer ins Zwielicht geratenmuss“: Als sei er ein grausamer Rachegott, der so ein Sühnopfer von Jesus verlangt,um uns vergeben zu können. Ein solchesMissverständnis des Sühnopfers Jesuwurde sicher durch seine schiefe Deutungbei Anselm von Canterbury und in der tra-ditionellen anselmistischen Theologie derlateinischen Kirche ausgelöst, ein Kon-zept, das nach Mali schon die alte Kirchekannte und das mit Recht von Gestrich,Hilberath und Schneider-Flume infragegestellt wird. Dabei geht es nicht nur um„Fehlverständnisse“ des Anselm’schenKonzepts, wie Pesch meint, der eine „Eh-renrettung“ Anselms startet, die kaumüberzeugt.Was meint Anselm? Gott wird von ihmwie ein mittelalterlicher König vorgestellt,der einen Staat beherrscht. Sünde ist da-her Majestätsbeleidigung und Verletzungder Ehre Gottes, die unbedingt wiederher-gestellt werden muss, sei es durch Strafeoder durch Sühne. Gott ist es sich schul-dig, seine Ehrverletzung zu bestrafen odersühnen zu lassen. Würde er sie straflosund ungesühnt vergeben, dann würde erals König sein Gesicht verlieren. Jesusnimmt die Strafe auf sich und sühnt stell-vertretend für die Menschheit durch seinSühnopfer, das er Gott darbringt.Diese irreführende Lehre Anselms hatteeine verhängnisvolle Wirkungsgeschichtebis hinein in unser Liedgut. Man denke andas Lied „Du großer Schmerzensmann,vom Vater so geschlagen ...“ (EG 87).

Nach dem Neuen Testament wird nichtGott versöhnt, sondern er versöhnt uns, inJesus Christus (1. Kor 5,19). Er ist kein lei-densunfähiger Gott, wie der Gott An-selms, er leidet selbst am Kreuz, in seinemSohn, in dem er Mensch wird; nicht Gottwird ein Opfer dargebracht, Gott opfertsich selbst und stellt so die ganze Opfer-theologie auf den Kopf.Hilberath, Schneider-Flume und Gestrichargumentieren so oder ähnlich. Nach Hil-berath ist Gott „Subjekt der Versöhnung“,nicht ihr Objekt wie im Anselmismus.Nach Schneider-Flume trifft der feministi-sche Vorwurf gegen die Sühnopfertheorie,sie gehe von einem gewalttätigen undgrausamen Gott aus, der ein Opferbraucht, um sich versöhnen zu lassen, ander Sache vorbei. „Am Kreuz Jesu Christigeht Gott selbst in die Mitte menschlicherGewalt und Macht – ohnmächtig.“ Gottist nicht gewalttätig und grausam, er istdas Opfer der Gewalttätigkeit und Grau-samkeit. Gott stirbt selbst am Kreuz, in Je-sus Christus, und lässt nicht ihn für sichsterben. „Gott selbst war im Tod“ und„ging nicht unsterblich an ihm vorüber“,„Gott musste leiden“, er lässt nicht Jesusleiden. Auch Gestrich wehrt sich gegen den An-selmismus; das Kreuz dürfe nicht gedeutetwerden als „Opfer für Gott, um ... des Va-ters Zorn zu versöhnen“. Gott ist nichtObjekt, sondern Subjekt der Versöhnung.Gestrich wagt sich dabei weit vor: „Lassteuch jetzt, bitte, mit Gott versöhnen!“,sagt Paulus (2. Kor. 5,20). „Steht hinterdieser Bitte gar der nicht nur revolutio-näre, sondern anstößige Gedanke ‚Gottbekunde, dass ER, der Schöpfer, dieMenschheit in eine schlechte Lage ge-bracht, aber diese ganze Situation nun mitBedauern zurücknehme, ja, sie bereits be-seitigt habe? Entschuldigt Gott sich? BittetGott ... die Menschen tatkräftig, d. h. nichtmit leeren Händen, um Verzeihung? Be-

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kundet ER – sich selbst Leiden ... auferle-gend –, er übernehme selbst die Verant-wortung dafür, dass die Menschen sündi-gen, ... er heile nun ... das ‚von Jugend anböse menschliche Herz’ (vgl. Gen. 8,21)?... Darf man die im Alten Testament ... er-wähnte ‚Reue’ Gottes auch in der soebengenannten Weise verstehen?“ Gott selbstleidet am Kreuz. „In diesem zur Sünde ge-machten Jesus Christus (2. Kor. 5,21) war... Gott selbst (2. Kor. 5,19)“. „Jesus hängtam Kreuz ... stellvertretend für Gott.“„Gott wollte verlieren, damit der Menschgewinne (Karl Barth). Was bisher als gött-liche ‚Verwerfung des Menschen’, desSünders, bekannt war, das nimmt Gott‚auf sich selbst’ mit allen Folgen – dieganze Schande!“ Es geht nicht um GottesEhre, wie bei Anselm, er nimmt unsereSchande auf sich. Paulus scheint – so Gestrich – auch anderes zur Versöhnungzu sagen, aber es steht nicht „auf derHöhe der von Paulus ... angesagten Ver-söhnung“, dass Gott selbst die Strafe aufsich nimmt, die wir verdient haben, in Je-sus Christus, dass Gott selbst die Verwer-fung auf sich nimmt, die uns gebührt, dassGott selbst die Versöhnung bewirkt, diewir bewirken sollen (2. Kor. 5,19). Ge-strichs Beitrag in diesem Band ist nichtnur der originellste, sondern m. E. auchder überzeugendste.Deutet man den Kreuzestod von der Mittedes Neuen Testaments her – „Gott ist dieLiebe“ (1. Joh 4,8) –, dann wird die ganzeOpfertheorie ad absurdum geführt: DennGott opfert sich selbst in seinem Sohn,ihm wird nicht geopfert. Er kann nicht ver-söhnt werden, denn er ist die Versöhnung.Er geht aus Liebe zu uns in den Tod undschickt nicht seinen Sohn in den Tod. Gottist die Liebe. Er hat nicht nur Liebe oderauch nicht, wie wir Menschen. Er ist dieLiebe, er kann nicht anders.

Horst Georg Pöhlmann, Wallenhorst

AUTORENMarianne Brandl, geb. 1969, Diplom-Theo-login, M.A. phil., Theologische Referentin imFachbereich Sekten- und Weltanschauungs-fragen der Erzdiözese München und Freising.

Dr. theol. Oliver Dürr, geb. 1969, Pfarrer inMolbergen und Aussiedlerbeauftragter derEvang.-Luth. Kirche in Oldenburg.

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, von1992 bis 2007 EZW-Referent für christlicheSondergemeinschaften und Beauftragter fürSekten- und Weltanschauungsfragen derEvang. Kirche in Mitteldeutschland. Pfarrerder Evang. Kirche Berlin-Brandenburg-schle-sische Oberlausitz.

Dr. theol. Reinhard Hempelmann, geb.1953, Pfarrer, Leiter der EZW, zuständig fürGrundsatzfragen, Strömungen des säkularenund religiösen Zeitgeistes, pfingstlerischeund charismatische Gruppen.

Claudia Knepper, geb. 1973, evangelischeTheologin, wissenschaftliche Mitarbeiterinder EZW.

Prof. D. Dr. theol. Wolf Krötke, geb.1938,em. Professor für Systematische Theologie ander Humboldt-Universität zu Berlin.

Prof. Dr. Dr. h.c. Horst Georg Pöhlmann,geb. 1933, em. Professor für SystematischeTheologie an der Universität Osnabrück.Lebt in Wallenhorst bei Osnabrück.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963,Pfarrer, EZW-Referent für Esoterik, Okkultis-mus, Spiritismus, Satanismus.

Dr. phil. Christian Ruch, geb. 1968, Histori-ker, Mitglied der Katholischen Arbeitsgruppe„Neue religiöse Bewegungen“, wohnt inChur/Schweiz.

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Einzelheft: 5,55 Euro (inkl. Versand). Bestellungen und Anfragen an: GEP-Vertrieb,Postfach 50 05 50, 60394 Frankfurt, Tel. (069) 58 098-191, Fax: (069) 58 098-226,E-Mail: [email protected].

Frankfurt am Main � 21. September 2010 www.epd.de Nr. 38

50 Jahre EZW

Den eigenen Glauben kennen –den fremden Glauben verstehenDie Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen(EZW) in Berlin hat im Juni an ihre Anfänge vor 50 Jahren erin-nert. Die Vorträge der Festveranstaltung am 12. Juni in Berlinsind in dieser Ausgabe wiedergegeben. Die EZW wird in denMedien oft als »Fahndungsstelle« für Religion und »Spürnase«der Kirche auf dem Markt der Religionen und Weltanschauun-gen beschrieben. Ihre Tätigkeit lasse sich als »religiöse Aufklä-rung im doppelten Sinn beschreiben: als Aufklärung über denfremden und den eigenen Glauben«, stellt EZW-Leiter Rein-hard Hempelmann in einem weiteren hier dokumentierten Bei-trag zum Wirken der Zentralstelle fest.

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Matthias Pöhlmann, Ulrike LiebauE-Mail: [email protected]

Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Heraus-geber wieder.

Verlag: EKD Verlag, Herrenhäuser Straße 12,30419 Hannover, Telefon (0511) 2796-0,EKK, Konto 660000, BLZ 25060701.

Anzeigen und Werbebeilagen: AnzeigengemeinschaftSüd, Augustenstraße 124, 70197 Stuttgart,Postfach 100253, 70002 Stuttgart, Telefon (0711) 60100-66, Telefax (07 11) 60100-76. Verantwortl. für den Anzeigenteil: Wolfgang Schmoll. Es gilt die Preisliste Nr.24 vom 1.1.2010.

Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

Bei Abonnementwunsch, Adressenänderungen, Abbestellungen wenden Sie sich bitte an die EZW.

Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

IMPRESSUM

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MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

73. Jahrgang 12/10

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Atheismus in der Diskussion

„Ich gehör’ nur mir“Eine Jugendfeier des Humanistischen Verbandes

„Alles Leben ist Yoga“Was bleibt von Sri Aurobindo?

Der Himmel ist wieder offenZur Bedürfnislage der neuen Engelreligion

Stichwort: Humanismus

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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