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7.8. Die Regel von l'Hospital Der Marquis de l'Hospital (sprich: lopital) war der erste Autor eines Buches über Infinitesimalrechnung (1696) - allerdings basierte dieses Werk wesentlich auf den Ausführungen des Schweizer Ingenieurs und Mathematikers Johann Bernoulli. Auch die nach de l'Hospital benannte Regel wurde eigentlich von Bernoulli entdeckt. Sie ermöglicht die Berechnung von Grenzwerten der Form 0 0 , , - , 0 , 0 0 , 1 etc. und beruht auf dem verallgemeinerten Mittelwertsatz, der besagte, daß es zu je zwei zwischen a und b differenzierbaren Funktionen f und g einen Punkt u zwischen a und b gibt mit = ( ) u ( ) - ( ) f b ( ) f a ( ) u ( ) - ( ) g b ( ) g a . Im Folgenden können , , abc und d reelle Zahlen, aber auch oder -∞ sein. l'Hospitalsche Regel Sind die Funktionen f und g in einem offenen (eventuell unendlichen) Intervall ] , ab[ differenzierbar und ist dort ( ) x 0, so folgt aus lim - x b ( ) f x = lim - x b ( ) g x = c und lim - x b ( ) f ´ x ( ) x = d auch lim - x b ( ) f x ( ) g x = d , falls c einen der Werte 0, oder -∞ hat. In allen anderen Fällen strebt der Quotient gegen 1! Entsprechendes gilt bei Annäherung an a von rechts. Anschaulich besagt die l'Hospitalsche Regel, daß sich ein Quotient zweier differenzierbarer Funktionen, die beide gegen 0 oder konvergieren, asymptotisch ebenso wie der Quotient der Steigungen verhält.

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7.8. Die Regel von l'HospitalDer Marquis de l'Hospital (sprich: lopital) war der erste Autor eines Buches über Infinitesimalrechnung (1696) - allerdings basierte dieses Werk wesentlich auf den Ausführungen des Schweizer Ingenieurs und Mathematikers Johann Bernoulli. Auch die nach de l'Hospital benannte Regel wurde eigentlich von Bernoulli entdeckt. Sie ermöglicht die Berechnung von Grenzwerten der Form

0

0 ,

∞∞

, − ∞ ∞ , 0∞ , 00 , 1∞ etc.

und beruht auf dem verallgemeinerten Mittelwertsatz , der besagte, daß es zu je zwei zwischen a und b differenzierbaren Funktionen f und g einen Punkt u zwischen a und b gibt mit

= ( )g´ u ( ) − ( )f b ( )f a ( )f´ u ( ) − ( )g b ( )g a .

Im Folgenden können , ,a b c und d reelle Zahlen, aber auch ∞ oder −∞ sein. l'Hospitalsche Regel

Sind die Funktionen f und g in einem offenen (eventuell unendlichen) Intervall ] ,a b[ differenzierbar und ist dort ≠ ( )g´ x 0, so folgt aus lim

→ -x b( )f x = lim

→ -x b( )g x = c und

lim → -x b

( )f ´ x

( )g´ x = d auch

lim → -x b

( )f x

( )g x = d , falls c einen der Werte 0, ∞ oder −∞ hat.

In allen anderen Fällen strebt der Quotient gegen 1! Entsprechendes gilt bei Annäherung an a von rechts.

Anschaulich besagt die l'Hospitalsche Regel, daß sich ein Quotient zweier differenzierbarer Funktionen, die beide gegen 0 oder ∞ konvergieren, asymptotisch ebenso wie der Quotient der Steigungen verhält.

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Vor Anwendung der l'Hospitalschen Regel ist es wichtig zu prüfen, ob die Voraussetzungen wirklich erfüllt sind! Beispiel 1: Ein Fall für l'Hospital?

Wir betrachten die harmlosen Funktionen

= ( )f x − 1 x , = ( )g x ( ) − 1 x 2 mit lim

→ x 0( )f x = lim

→ x 0( )g x = = c 1.

Natürlich sind f und g differenzierbar mit

= ( )f´ x −1 und = ( )g´ x −2 ( ) − 1 x , und es gilt ≠ ( )g x 0 und ≠ ( )g´ x 0 in einer Umgebung von 0.

Dennoch darf man nicht blindlings von

= lim → x 0

( )f´ x

( )g´ x

1

2 auf = lim

→ x 0

( )f x

( )g x

1

2 ?

schließen, denn es ist offensichtlich

= lim → x 0

( )f x

( )g x1.

Grund für den Fehlschlag: c war keiner der Werte 0, ∞, −∞ ! Hingegen ist

lim → x 1

( )f x = lim → x 1

( )g x = = c 0

und tatsächlich

= lim → x 1

( )f x

( )g xlim → x 1

( )f ´ x

( )g´ x = ∞ .

, , = ( )f x − 1 x = ( )g x ( ) − 1 x 2 = ( )f x

( )g x

1

− 1 x

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Beispiel 2: Grenzwerte für Sinus und Tangens

Die früher mit Hilfe des Einschlußkriteriums gewonnene Beziehung

= lim → x 0

( )sin x

x1

kann man auch nach l'Hospital (Fall " 0

0 ") herleiten, indem man Zähler und Nenner ableitet:

= lim → x 0

( )sin x

xlim → x 0

( )cos x

1 = 1.

Allerdings muß man dazu schon wissen, daß der Cosinus die Ableitung des Sinus ist, und zum Beweis dieser Tatsache benutzt man oft gerade den obigen Limes (aber wie wir sahen, geht es auch anders: mit Potenzreihen).

Ebenso bekommt man

= lim → x 0

( )tan x

xlim → x 0

+ 1 ( )tan x 2

1 = 1.

Wegen

= lim → +x 0

1

x∞ und = lim

→ -x 0

1

x−∞

bzw.

= lim → x ∞

1

x0 und = lim

→ x ( )−∞

1

x0

gehen die obigen Gleichungen bei Ersetzung von x durch 1

x über in

lim → x ∞

x

sin

1

x = lim

→ x ( )−∞x

sin

1

x = 1

sowie

lim → x ∞

x

tan

1

x = lim

→ x ( )−∞x

tan

1

x =1 .

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In der Nähe von 0 zappelt die Funktion x

tan

1

x ziemlich chaotisch herum und hat unendlich

viele Pole (senkrechte Asymptoten), nämlich für alle x-Werte der Form 2

( ) + 2 k 1 π mit

ganzzahligem k.

Manchmal muß man die l'Hospitalsche Regel iterieren (also beide Funktionen mehrfach ableiten), um zum Ziel zu gelangen. Beispiel 3: Was ist unendlich minus unendlich?

Wir versuchen, den Grenzwert

lim → x 0

− 1

( )sin x

1

x

zu ermitteln. Es handelt sich um die Differenz zweier Funktionen, die beide von rechts gegen ∞ laufen, wenn x gegen 0 geht, also um den Fall " − ∞ ∞". Man bringt die Differenz "auf Hauptnenner"

= − 1

( )sin x

1

x

− x ( )sin x

x ( )sin x

und landet bei dem Typ " 0

0 ". Differenzieren von Zähler und Nenner ergibt

− 1 ( )cos x

+ x ( )cos x ( )sin x ,

und leider konvergiert hier sowohl Zähler als auch Nenner mit x wieder gegen 0. Aber nochmaliges Differenzieren von Zähler und Nenner führt zum Ziel:

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( )sin x

− + ( )cos x x ( )sin x ( )cos x

konvergiert gegen 0, da ( )cos x gegen 1 geht. Also erhalten wir

= lim → x 0

− 1

( )sin x

1

x0

im Einklang mit der Skizze.

Bei Grenzprozessen der Form " − ∞ ∞ " kann aber auch jeder andere Wert herauskommen. Zum Beispiel ist für

= ( )f x1

x und = ( )g x −

1

xc

= lim → +x 0

( )f x lim → +x 0

( )g x = ∞

aber der Grenzwert von − ( )f x ( )g x ist natürlich gleich c . Und für

= ( )h x1

x2 ist ebenfalls = lim

→ +x 0( )h x ∞ ,

jedoch

= lim → +x 0

− ( )f x ( )h x lim → +x 0

− x 1

x2 = −∞ .

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Beispiel 4: Stetige Verzinsung à l'Hospital

Wir wissen schon, daß man bei stetiger Verzinsung und ähnlichen Wachstumsprozessen folgenden Grenzwert zu betrachten hat:

lim → x ∞

+ 1

y

x

x

,

einen Ausdruck der Form " 1∞ ". Wegen der Stetigkeit der e-Funktion können wir schreiben:

= lim → x ∞

+ 1

y

x

x

e

lim → x ∞

x

ln + 1

y

x

.

Hier ist der Exponent wegen = lim → x ∞

ln + 1

y

x0 ein Ausdruck der Form " ∞ 0 ". Wir betrachten

= ( )f x

ln + 1

y

x und = ( )g x

1

x

und haben = lim

→ x ∞( )f x 0 , = lim

→ x ∞( )g x 0.

Weiter gilt für die Ableitungen nach x :

= ( )f ´ x −y

x2

+ 1

y

x

, = ( )g´ x −1

x2 .

Die Voraussetzungen zur Anwendung der Regel von l'Hospital sind erfüllt, und wir erhalten

= lim → x ∞

x

ln + 1

y

xlim → x ∞

y

+ 1y

x

= y .

Damit landen wir wieder bei der berühmten Grenzformel

= lim → x ∞

+ 1

y

x

x

ey .

= ( )f ,x y

+ 1

y

x

x

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Wie dieses Bild nahelegt, gilt auch

= lim → x ( )−∞

+ 1

y

x

x

ey.

Das läßt sich mit Hilfe der Gleichung = e( )−y 1

ey sofort bestätigen.

Zur Berechnung von

lim → x ∞

x

ln + 1

y

x

kann man auch ausnutzen, daß x genau dann gegen ∞ strebt, wenn = z1

x von rechts gegen 0

geht. Durch Ableiten von Zähler und Nenner nach z bekommen wir

= lim → x ∞

x

ln + 1

y

xlim → +z 0

( )ln + 1 y z

z = lim

→ +z 0

y

+ 1 y z = y .

Einsetzen in die Exponentialfunktion führt auf einen Grenzwert der Form " 1∞ " :

= lim → +z 0

( ) + 1 z y

1

zey .

Lassen wir dagegen z gegen ∞ laufen, so erhalten wir einen Grenzwert der Form " ∞0 " :

= lim → z ∞

( ) + 1 z y

1

ze

lim → z ∞

( )ln + 1 z y

z

= = e

lim → z ∞

y

+ 1 z y

e0 = 1.

= ( )h ,y z ( ) + 1 y z

1

z

, = lim → z 0

( )h ,z y ey = lim → z ∞

( )h ,z y 1

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Reduktion durch Umstürzen von Brüchen

Den allgemeinen Fall " ∞∞

" kann man meist auf den Fall " 0

0 " zurückführen und umgekehrt,

indem man folgende Ersetzung vornimmt:

= ( )f x

( )g x

( )F x

( )G x mit = ( )F x

1

( )g x und = ( )G x

1

( )f x .

Welche der beiden Darstellungen die vorteilhaftere ist, hängt von Fall zu Fall ab. Hätten wir beispielsweise in der obigen Berechnung von

lim → x ∞

x

ln + 1

y

x

die Wahl = ( )F x x , = ( )G x1

ln + 1

y

x

getroffen, so wäre nach einer recht mühseligen

Ableitung die Sache schlimmer statt besser geworden. Beispiel 5: Nochmals die zweidimensionale Exponentialfunktion

= ( )f ,x y xy

und die in diesem Funktrionsgebirge liegende Kurve mit den Werten xx über der Diagonalen = x y :

Die Zeichnung suggeriert die Beziehung

= lim → x 0

xx 1 ,

und das ist wieder ein Fall für l'Hospital, diesmal mit " 00 ".

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= lim → x 0

xx e

( )lim → x 0

x ( )ln x

= e

lim → x 0

( )ln x

x( )−1

= e

lim → x 0

−x2

x

= = e0 1 .

Analysieren wir die Funktion = ( )h x xx etwas genauer! Die Ableitung ist

= ( )h´ x xx ( ) + ( )ln x 1

und da xx gegen 1 strebt, wenn x gegen 0 geht, haben wir

= lim → x 0

( )h´ x −∞

Senkrechte Steigung im Nullpunkt!

Am linken Rand kann wegen der senkrechten Tangente keine Spitze vorliegen!

Wir wollen uns noch die Frage stellen, ob die Funktion = ( )f ,x y xy im Punkt (0,0) stetig durch = ( )f ,0 0 1 ergänzt werden kann. Dazu nähern wir uns auf einigen Kurven ( ,x ( )k x ) dem

Nullpunkt, d.h. wir verlangen = lim

→ x 0( )k x 0.

, = ( )k1 x x = lim → x 0

x( )k

1x

1

, = ( )k2 x x2 = lim → x 0

x( )k

2x

1

, = ( )k3 x − 2x 1 = lim → x 0

x( )k

3x

1

, = ( )k4 x ( )ln + x 1 = lim → x 0

x( )k

4x

1

Es scheint immer zu klappen! Aber jetzt kommt die Überraschung: Für

= ( )kc x( )ln c

( )ln x ist ebenfalls = lim

→ +x 0( )kc x 0,

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aber

= x( )k

cx

e( )ln c

= c.

Also ist eine stetige Ergänzung im Nullpunkt unmöglich, da jeder positive Wert c als Grenzwert vorkommt.

, = ( )k5 x −1

( )ln x = lim

→ x 0x

( )k5

x

e( )-1

Wir tragen die Raumkurven ( ,x ( )kn x ) in unser Flächenbild ein:

Grenzwertberechnung durch Potenzreihen

Viele Fälle für die Regel von Bernoulli - l'Hospital kann man alternativ auch durch Reihenentwicklungen. Beispielsweise sieht man sofort

= lim → x 0

( )sin x

xlim → x 0∑ = k 0

∞( )−1 k x

( )2 k

!( ) + 2 k 1 = 1,

da alle Summanden außer dem ersten rasch gegen 0 gehen. Außerdem liefert der Potenzreihenansatz noch die zusätzliche Information

= ( )sin x

x − + 1

x2

6( )o x3 .

Analog bekommt man (vgl. Beispiel 4):

= lim → x ∞

x

ln + 1

y

xlim → x ∞

x

= k 1

y

x

k

= y ,

da wieder alle Summanden außer dem ersten gegen 0 gehen. Allerdings muß man bei solchen Grenzprozessen schon etwas Vorsicht walten lassen und sich überlegen, daß man die unendliche Summenbildung mit dem Grenzübergang von x nach 0 vertauschen darf.