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BERUFSBILDUNG NR. 8/9 EUROPÄISCHE ZEITSCHRIFT CEDEFOP 1 Gründe für das lebenslange Lernen Das lebenslange Lernen (LLL) ist ein at- traktives Thema, wie der Beitrag von Edith Cresson zu dieser Ausgabe und das Weiß- buch „Lehren und Lernen“ bezeugen. Dar- über hinaus wurde im Weißbuch das Jahr 1996 zum Europäischen Jahr für lebens- langes Lernen ausgerufen. Der Grund dafür liegt sicherlich darin, daß eine po- sitive politische Lösung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Europa gefunden werden soll, sowie in dem Problem, daß die kontinuierliche Erweiterung arbeits- bezogenen Wissens nicht nur für einige wenige, sondern für jeden Inhaber eines Arbeitsplatzes zur Pflicht wird. Wie sollte angesichts dessen die Idee des lebenslan- gen Lernens falsch sein? Diese Idee ist jedoch alles andere als neu, und die Praxis des lebenslangen Lernens in den Nachkriegsjahren, wie sie in dem Artikel von Denis Kallen (und beispiels- weise in dem Bericht von Albert Tuijnman über das frühe schwedische Experiment) dokumentiert wird, ist alles andere als eine Erfolgsstory. Die auf harten Fakten basierenden pessimistischen Schlußfolge- rungen von Kallen stehen in einem schar- fen Kontrast zum Weißbuch. Könnte er vielleicht recht haben? Lebenslanges Lernen ist sicherlich kein genau definierter Begriff. Das schwedi- sche Experiment war eher eine Art stän- dige Weiterbildung. Lernen umfaßt jedoch viel mehr als Bildung. Das Experiment mißlang, und dieses Mißlingen zeigt die große Distanz zwischen der Vision und der Durchführung auf. Auch Politiker müssen sich die Zeit nehmen zu lernen, wie sie etwas tun, um ihre Ziele zu errei- chen. Alain d’Iribarne stellt in seiner In- terpretation des Weißbuchs (Artikel in dieser Ausgabe) die Paradigmen und den operationellen Gehalt des Weißbuchs in Frage, insbesondere im Hinblick auf die Vereinbarung wirtschaftlicher Realitäten mit sozialen Ambitionen. Einige wirtschaftliche Fakten Betrachten wir einige der wirtschaftlichen Fakten, die in den Artikeln dieser Ausga- be dokumentiert sind. Besteht Anlaß zu einer positiven Umsetzung der politischen Rhetorik? Einige Fakten sind, daß mit dem Alter a) die individuelle Lernfähigkeit abnimmt und b) die finanziellen Anreize zu lernen ab- nehmen, weil sich Bildungsinvestitionen mit fortschreitendem Alter in kürzerer Zeit rentieren müßten. José Morais und Regine Kolinski heben in ihrem Artikel hervor, daß Lernen ein sequentieller Vorgang sei und einige in- Das Jahr 1996 wurde zum „Europäischen Jahr für lebenslanges Lernen“ ausgeru- fen. Die Idee, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß alle Bürger Zugang zum lebenslangen Lernen haben, ist Bestandteil einer demokratischen Auffassung von der Funktionsweise unserer Gesellschaften. In einer Zeit, in der die Informations- gesellschaft näherrückt und sich der wissenschaftlich-technische Fortschritt be- schleunigt, besteht die Gefahr, daß der Abstand zwischen den „Wissenden“ und den „Unwissenden“ immer größer wird; diese in den Leitlinien des Weißbuches der Europäischen Kommission „Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft“ enthaltene Idee ist daher von höchster Aktualität. Im Laufe der Zeit sind die Grundprinzipien dieser Idee jedoch starken Spannungen ausgesetzt wor- den, insbesondere auf Grund der konjunkturellen und budgetären Sachzwänge, die die berufliche Bildung und Ausbildung belasten und umstrukturieren. Mit dieser Doppelnummer der Europäischen Zeitschrift „Berufsbildung“ wollten wir der Aufforderung nachkommen, die Frau Cresson in ihrer Rede am 2. Februar 1996 in Venedig zum Ausdruck gebracht hat, nämlich im Rahmen des „Europäi- schen Jahres für lebenslanges Lernen“ eine umfassende Debatte über das Weiß- buch zu eröffnen. Frau Cresson wird auch an den Condorcet-Gesprächen in Frank- reich teilnehmen, die auf nationaler Ebene von politischer Bedeutung sind und in denen das Thema lebenslange Bildung und Ausbildung eingehend debattiert wird. Die Entscheidung, die Europäische Zeitschrift „Berufsbildung“ mit diesen Ereignis- sen zu verbinden, liegt darin begründet, daß es sinnvoll ist, Argumente und Fak- ten zugänglich zu machen und dadurch eine Diskussionsgrundlage zu liefern. Wir hoffen, daß die Zeitschrift ihre wichtigste Aufgabe erfüllen kann, die darin be- steht, einen Beitrag zu den Diskussionen über die Berufsbildung in Europa zu liefern, indem wir auf der Grundlage von Analysen sowie belegten und begründe- ten Informationen ein politisches Thema aufgreifen, die Geschichte dieser großzü- gigen Idee nachzeichnen sowie die Formulierung von Prinzipien und die faktische Realität in verschiedenen Staaten miteinander vergleichen. Johan van Rens Direktor des CEDEFOP

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BERUFSBILDUNG NR. 8/9 EUROPÄISCHE ZEITSCHRIFT

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Gründe für daslebenslange LernenDas lebenslange Lernen (LLL) ist ein at-traktives Thema, wie der Beitrag von EdithCresson zu dieser Ausgabe und das Weiß-buch „Lehren und Lernen“ bezeugen. Dar-über hinaus wurde im Weißbuch das Jahr1996 zum Europäischen Jahr für lebens-langes Lernen ausgerufen. Der Grunddafür liegt sicherlich darin, daß eine po-sitive politische Lösung zur Bekämpfungder Arbeitslosigkeit in Europa gefundenwerden soll, sowie in dem Problem, daßdie kontinuierliche Erweiterung arbeits-bezogenen Wissens nicht nur für einigewenige, sondern für jeden Inhaber einesArbeitsplatzes zur Pflicht wird. Wie sollteangesichts dessen die Idee des lebenslan-gen Lernens falsch sein?

Diese Idee ist jedoch alles andere als neu,und die Praxis des lebenslangen Lernensin den Nachkriegsjahren, wie sie in demArtikel von Denis Kallen (und beispiels-weise in dem Bericht von Albert Tuijnmanüber das frühe schwedische Experiment)dokumentiert wird, ist alles andere alseine Erfolgsstory. Die auf harten Faktenbasierenden pessimistischen Schlußfolge-rungen von Kallen stehen in einem schar-fen Kontrast zum Weißbuch. Könnte ervielleicht recht haben?

Lebenslanges Lernen ist sicherlich keingenau definierter Begriff. Das schwedi-sche Experiment war eher eine Art stän-dige Weiterbildung. Lernen umfaßt jedochviel mehr als Bildung. Das Experimentmißlang, und dieses Mißlingen zeigt diegroße Distanz zwischen der Vision undder Durchführung auf. Auch Politikermüssen sich die Zeit nehmen zu lernen,wie sie etwas tun, um ihre Ziele zu errei-chen. Alain d’Iribarne stellt in seiner In-terpretation des Weißbuchs (Artikel indieser Ausgabe) die Paradigmen und denoperationellen Gehalt des Weißbuchs inFrage, insbesondere im Hinblick auf dieVereinbarung wirtschaftlicher Realitätenmit sozialen Ambitionen.

Einige wirtschaftliche Fakten

Betrachten wir einige der wirtschaftlichenFakten, die in den Artikeln dieser Ausga-

be dokumentiert sind. Besteht Anlaß zueiner positiven Umsetzung der politischenRhetorik?

Einige Fakten sind, daß mit dem Alter

a) die individuelle Lernfähigkeit abnimmt

und

b) die finanziellen Anreize zu lernen ab-nehmen, weil sich Bildungsinvestitionenmit fortschreitendem Alter in kürzerer Zeitrentieren müßten.

José Morais und Regine Kolinski hebenin ihrem Artikel hervor, daß Lernen einsequentieller Vorgang sei und einige in-

Das Jahr 1996 wurde zum „Europäischen Jahr für lebenslanges Lernen“ ausgeru-fen. Die Idee, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß alle Bürger Zugang zumlebenslangen Lernen haben, ist Bestandteil einer demokratischen Auffassung vonder Funktionsweise unserer Gesellschaften. In einer Zeit, in der die Informations-gesellschaft näherrückt und sich der wissenschaftlich-technische Fortschritt be-schleunigt, besteht die Gefahr, daß der Abstand zwischen den „Wissenden“ undden „Unwissenden“ immer größer wird; diese in den Leitlinien des Weißbuchesder Europäischen Kommission „Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitivenGesellschaft“ enthaltene Idee ist daher von höchster Aktualität. Im Laufe der Zeitsind die Grundprinzipien dieser Idee jedoch starken Spannungen ausgesetzt wor-den, insbesondere auf Grund der konjunkturellen und budgetären Sachzwänge,die die berufliche Bildung und Ausbildung belasten und umstrukturieren.

Mit dieser Doppelnummer der Europäischen Zeitschrift „Berufsbildung“ wolltenwir der Aufforderung nachkommen, die Frau Cresson in ihrer Rede am 2. Februar1996 in Venedig zum Ausdruck gebracht hat, nämlich im Rahmen des „Europäi-schen Jahres für lebenslanges Lernen“ eine umfassende Debatte über das Weiß-buch zu eröffnen. Frau Cresson wird auch an den Condorcet-Gesprächen in Frank-reich teilnehmen, die auf nationaler Ebene von politischer Bedeutung sind und indenen das Thema lebenslange Bildung und Ausbildung eingehend debattiert wird.

Die Entscheidung, die Europäische Zeitschrift „Berufsbildung“ mit diesen Ereignis-sen zu verbinden, liegt darin begründet, daß es sinnvoll ist, Argumente und Fak-ten zugänglich zu machen und dadurch eine Diskussionsgrundlage zu liefern. Wirhoffen, daß die Zeitschrift ihre wichtigste Aufgabe erfüllen kann, die darin be-steht, einen Beitrag zu den Diskussionen über die Berufsbildung in Europa zuliefern, indem wir auf der Grundlage von Analysen sowie belegten und begründe-ten Informationen ein politisches Thema aufgreifen, die Geschichte dieser großzü-gigen Idee nachzeichnen sowie die Formulierung von Prinzipien und die faktischeRealität in verschiedenen Staaten miteinander vergleichen.

Johan van RensDirektor des CEDEFOP

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tellektuelle Fähigkeiten frühzeitig entwik-kelt werden müßten.

Wenn dies zutrifft, nimmt der wirtschaft-liche Nutzen des lebenslangen Lernensmit zunehmenden Alter ab und entfällt zueinem individuell unterschiedlichen Zeit-punkt im Laufe des Arbeitslebens völlig.Dies gilt zumindest für die große Gruppevon Personen, die zu effizientem Lernennicht in der Lage sind, und dies geht auchaus den Angaben in Norman Davis’ Arti-kel hervor.

Wenn das lebenslange Lernen sinnvollsein sollte, wäre es erforderlich, a) dieOrganisation des Lernens radikal zu ver-bessern und b) das Lernen mit zunehmen-dem Alter finanziell stärker zu unterstüt-zen.

Es sprechen jedoch noch weitere Gründefür das lebenslange Lernen. In den letz-ten Jahren haben Kompetenzen einenständigen „Wertverlust“ erfahren, so daßder Erwerb und Erhalt von Kompetenzenimmer wichtiger wird, um eine Stelle zufinden oder zu behalten. Dieses Problemhat zwei Seiten. Die technologische Ent-wicklung schreitet schnell voran und ver-ändert die Nachfrage nach Kenntnissender Arbeitskräfte. Und auch in anderenLändern lernen die Arbeitnehmer schnell.Um seine Position zu behalten, muß manhinzulernen.

Das lebenslange Lernen muß einfach zueinem brauchbaren Instrument werden,damit es nicht immer mehr sogenanntefunktionale Analphabeten gibt, d.h. Ar-beiter, die zwar mit großer Mühe lesen,schreiben und kommunizieren können,jedoch nicht gut genug, um zu angemes-senen Löhnen beschäftigt werden zu kön-nen. Dies ist eine harte, aber konstrukti-ve Bemerkung. Gibt es neue „Bildungs-technologie“, mit der dies erreicht wer-den kann, oder finanzielle Beihilfen oderGesetze?

Wer profitiert von Bildung?

Zunächst ist zu bemerken, daß da, woprivate Rationalität herrscht, Bildungs-maßnahmen auf Kosten des Arbeitgebersoder auf eigene Kosten denen zugutekommen, die ohnehin schon gebildet undbegabt sind. Um zu einem privatwirt-schaftlich lohnenden Empfänger von

Bildungs- und Ausbildungsmaßnahmenam Arbeitsplatz zu werden, muß mandaher die Fähigkeit unter Beweis stellen,effizient zu lernen (rezeptive Kompetenz).Ein Kriterium dafür ist, daß man seineLernfähigkeit schon früher unter Beweisgestellt hat. Ungebildete Arbeiter im mitt-leren Alter ohne oder mit nur geringerErfahrung mit Bildungsmaßnahmen amArbeitsplatz sind daher für Bildungs-investitionen oft schlecht geeignet. Diesist in der Praxis der Arbeitgeber zu beob-achten (siehe z.B. den Artikel von Hillageoder jenen von Planas), und dieses Ver-halten der Unternehmer ist völlig ratio-nal, allerdings gelangen durch diese Pra-xis nicht alle in den Genuß von Bildungs-chancen am Arbeitsplatz.

Die kumulative Natur des Lernens

Unmittelbar nützliches Humankapitalwurde zumeist am Arbeitsplatz erworben.Dies wird in einer Reihe neuerer Studiendeutlich, und auch Jordi Planas belegt diesin seinem Artikel. Die Lernfähigkeit amArbeitsplatz ist ausschlaggebend für dieLeistungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarktund hängt entscheidend von der frühenErfahrung in der Schule ab. Lernen ist einkumulativer Prozeß, und mit fortschrei-tendem Alter wird es für den einzelnenund für die Gesellschaft immer kostspie-liger, schlechte Lernerfahrungen in derfrühen Schulzeit zu korrigieren, wodurchdas lebenslange Lernen für jene, die esam meisten benötigen, immer unwirt-schaftlicher wird, wie Hillage in seinemArtikel bemerkt. Ich meine nicht akade-mische Fähigkeiten, die in der Schuleentwickelt wurden, sondern eine breitangelegte und aktive Schulerfahrung, dieden einzelnen in die Lage versetzt, Initia-tiven zu ergreifen, auf disziplinierte undorganisierte Weise zu arbeiten und amArbeitsplatz zu lernen (siehe z.B. denArtikel von Laestadius in Ausgabe 6/95dieser Zeitschrift über hochkompetenteArbeiter mit sehr geringer formaler Aus-bildung). Allerdings werden akademischeKompetenzen immer stärker benötigt, umzu lernen und an modernen Arbeitsplät-zen effizient zu kommunizieren. Die wich-tigste Grundlage für die Fortbildung amArbeitsplatz wird somit bereits in derSchule gelegt, so daß der Sinn des lebens-langen Lernens stark von der effizientenOrganisation der frühen Schulzeit ab-hängt. Davon abgesehen, daß der Fami-

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lienhintergrund für die Schulleistungeneine größere Rolle spielt, als wir zuzuge-ben bereit sind, muß die Verbesserung inder Bildungspraxis, die erforderlich ist, umdas lebenslange Lernen zu dem Erfolg zumachen, der im Weißbuch gefordert wird,im frühen Schulalter beginnen.

Entscheidend ist die individuelle An-strengung

Wir haben es offenbar mit einem zweifa-chen Arbeitsmarktproblem zu tun: den Ju-gendlichen, die die richtigen Lerngewohn-heiten entwickeln müssen, und den Älte-ren, die den Anschluß an die Lernchancenverpaßt haben, die in praktisch allen rei-chen Industrieländern großzügig gebotenwerden.

Für die Jugendlichen wird es in Zukunftkaum Entschuldigungen geben, wenn siezu funktionalen Analphabeten werden.Der individuelle Lernerfolg hängt von ih-rer individuellen Anstrengung ab. Könnenwir diese Verantwortung auf die Jugend-lichen übertragen und diese Anstrengungvon ihnen verlangen? Oder ist vielleichtdie Organisation des formalen Schul-wesens und der Berufsausbildung soschlecht, daß die individuelle Verantwor-tung und Anstrengung nicht helfen?

Eines der dringlichsten sozialen Problemeist die Schaffung neuer, effizienter Lern-chancen für jene, die die erste Chanceverpaßt haben. Dies wird von EdithCresson wie auch vom Weißbuch hervor-gehoben. Das Bildungswesen ist jedocheine riesige, kostspielige, geschützte undvom Staat betriebene Industrie mit einerlangen Unterrichtstradition und der enor-men Aufgabe, fähige Individuen hervor-zubringen. Wird die staatlich betriebeneOrganisation des lebenslangen Lernens inihrer alten oder in einer neuen Form inder Lage sein, diese Dienstleistungen zuerbringen? Es wäre reines Wunschdenken,Ergebnisse in Form von verwertbarem Wis-sen zu erwarten, ohne wesentlich härtereAnforderungen an die Individuen zu stel-len. Mehr von Individuen zu erwarten, diesich in Not befinden, oder innovativesVerhalten von staatlichen Schulen undBerufbildungszentren zu erwarten, wirdjedoch nicht gerne gehört. Eher werdenVorschläge gemacht, um die Verantwortungauf andere abzuwälzen, beispielsweise dieUnternehmen bezahlen zu lassen.

Die Unternehmen bezahlen lassen

Dies ist ein Standardargument von Gewerk-schaften und von Regierungen, die mitHaushaltsproblemen zu kämpfen haben.Die Lage könnte sich allerdings noch wei-ter verschlimmern, wenn die Unternehmenfür die Ausbildung verantwortlich wären.Lernleistung ist jedoch etwas völlig ande-res als Bildungsinvestitionen. Es geht umdie Initiative und Anstrengungen von ler-nenden Individuen und um die Leistungs-fähigkeit der Bildungsorganisation. Einesolche Verantwortung auf Institutionenabzuwälzen, die von Natur aus nicht dar-an interessiert sind, die Probleme von be-nachteiligten Gruppen zu lösen, ist keineempfehlenswerte Vorgehensweise. Firmensind daran interessiert, den Zusammenhaltdes Unternehmens und kompetente Team-arbeit zu fördern. Wie François Germe undFrançois Pottier aufzeigen, investieren Fir-men die Mittel, die sie für eine gute Unter-nehmensleistung für erforderlich halten, injene Individuen, die sie für willens undfähig halten, sich in (für das Unternehmen)nützlichen Dingen fortzubilden. Sie erwar-ten vom Staat, daß er die Verantwortungfür Benachteiligte und Arbeitslose über-nimmt. Wäre die Weiterbildung von derInitiative der Arbeitgeber abhängig, sowürde nicht nur die Passivität der Arbeit-nehmer gefördert, sondern auch eine un-gerechte und unausgewogene Lage ge-schaffen, aus der einzelne Nutzen ziehenkönnten.

Die Notwendigkeit des lebenslangenLernens

Worin besteht eigentlich das Problem?Können die reichen Industrieländer nichtso weitermachen wie bisher und den Be-nachteiligten die Möglichkeit geben, sichauf ihrer sozialen Sicherheit auszuruhen,wenn mit fortschreitendem Lebensalterihre Lernfähigkeit abnimmt und auchweniger Anreize zu lernen geboten wer-den?

Nein, das können sie nicht, und zwar ausdrei Gründen:

Erstens wandelt sich die industrielle Tech-nologie immer schneller und zwingt Fir-men, die nicht mithalten können, inFinanznot oder in den Konkurs.

Zweitens nimmt der Wettbewerb aus är-meren Teilen der Welt zu, insbesondere

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gegenüber der einfachen und intellektu-ell anspruchslosen Produktion in den rei-chen Ländern. Jeder muß sich weiterbil-den, um seine Kompetenzen zu erweiternund um seine Position zu bewahren.

Eine Folge davon ist, daß Arbeitnehmernicht mehr erwarten können, ihren Ar-beitsplatz ihr ganzes Arbeitsleben lang zubehalten. Sie täten besser daran, sich dar-auf einzustellen, ein- oder zweimal wäh-rend ihres Arbeitslebens auf dem Arbeits-markt zu sein und eine neue Stelle su-chen zu müssen, für die dann im übrigenauch mehr Kenntnisse erforderlich wären,denn sie laufen Gefahr, ihren Arbeitsplatzschon früh zu verlieren, wenn sie dieserSituation nicht dadurch begegnen, daß sieeffizient lebenslang lernen, und dadurch,daß sie sich eine bessere Stelle suchen,bevor sie entlassen werden. Die effizielleVerteilung von Kompetenzen in einer fort-geschrittenen Gesellschaft hängt darüberhinaus von der aktiven individuellen Su-che nach neuen Beschäftigungsmöglich-keiten ab, die den Fähigkeiten des Indi-viduums entsprechen. Eine neue Stelle mitauch nur einigermaßen vergleichbarerBezahlung finden zu wollen, wenn manarbeitslos geworden ist, ist aussichtslos,wenn man nicht von der frühen Schulzeitan lebenslanges Lernen betrieben hat.Ingrid Drexel (Artikel in dieser Ausgabe)sorgt sich zu Recht über die Erosion desherkömmlichen Berufsbildungs- undArbeitsmarktmodells in Deutschland, dasauf den legitimen Interessen und Prakti-ken einer Industriestruktur beruht, die derVergangenheit angehört. Diese Besorgnisgilt aus den gleichen Gründen auch fürdie meisten anderen europäischen Staa-ten.

Drittens gehören Lösungen aus dem Be-reich der sozialen Sicherheit zum Aus-gleich dieser Risiken der Vergangenheit

an. Die Staatshaushalte der westeuropäi-schen Länder sind nicht mehr in der Lage,so großzügig Finanzmittel zu verteilen wiein der Vergangenheit, und zwar aus Grün-den, die an dieser Stelle nicht erörtert zuwerden brauchen.

Die Artikel in der vorliegenden Ausgabeheben diese entscheidenden Verbindun-gen zwischen effizientem und verwertba-rem Lernen und dem Funktionieren desArbeitsmarktes oder des Kompetenz-marktes nicht sehr deutlich hervor. Aller-dings sind diese Aspekte schon in frühe-ren Ausgaben der Zeitschrift erörtert wor-den (siehe z.B. meinen Artikel in Ausga-be 2/94), und leider ist es aufgrund desFormats der Zeitschrift kaum möglich, dengesamten Komplex zusammenhängend zubehandeln.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daßanhaltend hohe Arbeitslosenquoten inEuropa, zunehmende Einkommensunter-schiede und eine Zunahme der Zahl vonfunktionalen Analphabeten und nicht be-schäftigungsfähigen Arbeitskräften nurdurch ein effizientes System des lebens-langen Lernens vermieden werden kön-nen. Aber kein solches System wird funk-tionieren, wenn es nicht durch ein effizi-entes Primar- und Sekundarschulsystem– das in den meisten europäischen Län-dern fast zu 100 % in der Zuständigkeitdes Staates liegt, der hier eine Monopol-stellung einnimmt –, durch die Initiativeund wesentlich verstärkte Lernanstren-gungen durch die Individuen selbst so-wie durch einen neuorganisierten Arbeits-markt unterstützt wird, der die Menschendazu bewegt, nach besseren Chancen zusuchen und auf diesem Wege zu lernen.Diese Schritte liegen in der grundlegen-den Verantwortung des Staates und sindausschlaggebend zur Lösung des Pro-blems des lebenslangen Lernens.

Gunnar Eliasson