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Georg Wolfgang Cernoch WISSEN, TECHNIK, ANPASSUNG. KARL R. POPPERS MIßLUNGENER ÜBERGANG VON DER LOGIK DER FORSCHUNG ZUR EVOLUTIONÄREN ERKENNTNISTHEORIE I. POPPERS PRÄGUNG EINES »GENETISCHEN APRIORI« 1 Ich sehe in der Vorstellung der evolutionären Erkenntnistheorie durch Popper zwei Problemkreise: Erstens die Aufweichung der von ihm in der Logik der Forschung dargestellten erkenntnistheoretischen Methode und zweitens die irreführende und zum Teil falsche Bezugnahme auf Kant. Popper benützte anläßlich eines Diskussionsbeitrages zur Kontroverse von Philosophie und evolutionärer Erkenntnistheorie während eines Symposiums in Wien 1986 die Gelegenheit, um eine Aussage zu treffen, die von grundsätzlichem Wert ist: »Erstens möchte ich mir von niemand vorschreiben lassen, welche Terminologie ich benützen soll. Die Hauptsache ist, daß die Terminologie klar ist.« (B, S. 127) Popper bezog sich dabei auf die Auseinandersetzung um die Verwendung des Begriffes der Apriorität bei Kant und in der evolutionären Erkenntnistheorie: »[Die] Terminologie „genetisch a priori“ ist vollkommen klar, zumindest meiner Meinung nach. Es heißt, daß etwas schon da ist, vor dem a posteriori, vor der Wahrnehmung« (B, S. 127). Popper hat nun in der Exposition seines Diskurses mit Konrad Lorenz auf seine Bemerkung zur Klarheit der Terminologie auf eine Weise Bezug genommen, welche die Schwierigkeit seiner terminologischen Abgrenzung aufzeigen läßt. Poppers Auffassung unterscheidet sich von der Konrad Lorenz darin, daß das »genetische a priori« nicht auf Umwege von Wahrnehmungen gemacht, also auch nicht mittels Wahrnehmungen früherer Generationen »ins Genetische übernommen« worden sei. Zum Unterschied des Gebrauches des Ausdruckes »genetisches a priori« schreibt Popper: 2 »Und zwar ist nicht die Verwendung der Begriffe verschieden, aber meine Theorie ist verschieden. Und Theorien sind hundertmal wichtiger als Begriffe. (Theorien können wahr und falsch sein, Begriffe können bestenfalls adequat und schlimmstenfalls irreführend sein. Begriffe sind nicht wichtig, verglichen mit Theorien).« (B, S. 128) Zwar ist die Unterscheidung von Theorien und Begriffe, die Popper in Klammer gesetzt hat, richtig, da Theorien die Begriffe insofern bestimmen, als daß nur Satzsysteme entscheidbar sind. — Trotzdem gilt auch: Ohne Begriffe keine Sätze und keine Satzsysteme, somit keine Theorien. Popper hat offensichtlich von seiner Untersuchung der uninterpretierten, implizit und explizit interpretierten Universalien (nichts anderes als Begriffe) in der Logik der Forschung, 1 Grundlage der hier diskutierten Problemstellung sind zwei Arbeiten von Karl Raimund Popper: (A) Skizze einer evolutionären Erkenntnistheorie, in: K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, Verlag Hoffmann u. Campe, Hamburg 1973, p. 68 ff., (B) Die erkenntnistheoretische Position der Evolutionären Erkenntnistheorie, in: derselbe, Alles Leben ist Problemlösen, Piper 1994, p. 127 ff.. Diese Arbeiten werden im Zuge des vorliegenden Aufsatzes als A oder B zitiert. 2 (B, p. 128). Hier im 3. Kapitel.

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EUROPA UND ÖSTERREICH Die vorliegende Arbeit hat den kontroversiellen Vortrag von Karl Popper in Wien 1986 zum Anlaß genommen, die Entwicklung Poppers in drei Stationen von der Logik der Forschung, der Arbeit »Objektive Erkenntnis (1973) bis eben zum Wiener Vortrag kritisch zu beleuchten. Ein besonderer Unterzug der Auseinandersetzung betrifft die damitverbundene Interpretation der genetischen Aspekte des Kantschen Apriori im Gegenzug zu Konrad Lorenz.Es wird auch demonstriert, wie die Philosophen der Moderne die Neuprägungen der zentralen Begriffe der klassischen Philosophie für ihre legitimen Zwecke mit der sachgerechten Interpretationen derherangezogenen Autoren verwechseln.Inhalt:I.Poppers Prägung eines »genetischen Apriori«II. Ontogenetik und Phylogenetik im Leibapriori: Wissen und Technik in den BeurteilungsprinzipienIII. Die Selbstständigkeit des logischen Grundes einer TheorieIV. Der »Anthropomorphismus« und die mißlungene Deduktion derevolutionären Erkenntnistheorie

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Georg Wolfgang Cernoch

WISSEN, TECHNIK, ANPASSUNG.KARL R. POPPERS MIßLUNGENER ÜBERGANG VON DER LOGIK DER FORSCHUNG

ZUR EVOLUTIONÄREN ERKENNTNISTHEORIE

I. POPPERS PRÄGUNG EINES »GENETISCHEN APRIORI«1

Ich sehe in der Vorstellung der evolutionären Erkenntnistheorie durch Popper zweiProblemkreise: Erstens die Aufweichung der von ihm in der Logik der Forschungdargestellten erkenntnistheoretischen Methode und zweitens die irreführende und zumTeil falsche Bezugnahme auf Kant. Popper benützte anläßlich eines Diskussionsbeitrageszur Kontroverse von Philosophie und evolutionärer Erkenntnistheorie während einesSymposiums in Wien 1986 die Gelegenheit, um eine Aussage zu treffen, die vongrundsätzlichem Wert ist: »Erstens möchte ich mir von niemand vorschreiben lassen,welche Terminologie ich benützen soll. Die Hauptsache ist, daß die Terminologie klarist.« (B, S. 127) Popper bezog sich dabei auf die Auseinandersetzung um dieVerwendung des Begriffes der Apriorität bei Kant und in der evolutionärenErkenntnistheorie: »[Die] Terminologie „genetisch a priori“ ist vollkommen klar,zumindest meiner Meinung nach. Es heißt, daß etwas schon da ist, vor dem a posteriori,vor der Wahrnehmung« (B, S. 127).

Popper hat nun in der Exposition seines Diskurses mit Konrad Lorenz auf seineBemerkung zur Klarheit der Terminologie auf eine Weise Bezug genommen, welche dieSchwierigkeit seiner terminologischen Abgrenzung aufzeigen läßt. Poppers Auffassungunterscheidet sich von der Konrad Lorenz darin, daß das »genetische a priori« nicht aufUmwege von Wahrnehmungen gemacht, also auch nicht mittels Wahrnehmungenfrüherer Generationen »ins Genetische übernommen« worden sei. Zum Unterschied desGebrauches des Ausdruckes »genetisches a priori« schreibt Popper:2 »Und zwar ist nichtdie Verwendung der Begriffe verschieden, aber meine Theorie ist verschieden. UndTheorien sind hundertmal wichtiger als Begriffe. (Theorien können wahr und falsch sein,Begriffe können bestenfalls adequat und schlimmstenfalls irreführend sein. Begriffe sindnicht wichtig, verglichen mit Theorien).« (B, S. 128) Zwar ist die Unterscheidung vonTheorien und Begriffe, die Popper in Klammer gesetzt hat, richtig, da Theorien dieBegriffe insofern bestimmen, als daß nur Satzsysteme entscheidbar sind. — Trotzdem giltauch: Ohne Begriffe keine Sätze und keine Satzsysteme, somit keine Theorien. Popperhat offensichtlich von seiner Untersuchung der uninterpretierten, implizit und explizitinterpretierten Universalien (nichts anderes als Begriffe) in der Logik der Forschung,

1 Grundlage der hier diskutierten Problemstellung sind zwei Arbeiten von Karl Raimund Popper:(A) Skizze einer evolutionären Erkenntnistheorie, in: K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, VerlagHoffmann u. Campe, Hamburg 1973, p. 68 ff., (B) Die erkenntnistheoretische Position derEvolutionären Erkenntnistheorie, in: derselbe, Alles Leben ist Problemlösen, Piper 1994, p. 127 ff..Diese Arbeiten werden im Zuge des vorliegenden Aufsatzes als A oder B zitiert.2 (B, p. 128). Hier im 3. Kapitel.

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deren Status entscheidend ist, welche Art von Theorie das Ergebnis der Interpretation desAxiomensystems ist, bereits Abschied genommen.3

Popper setzt nun fort: »Aber von der „Notwendigkeit“ eines apriorischen Wissens,um das Wahrnehmungswissen zu ermöglichen, darf man nicht auf die „Notwendigkeit“im Sinne einer logischen Modalität schließen. Genau hier weiche ich von Kant ab: Daunser Wahrnehmungswissen hypothetisch ist, darf unser apriorisches Wissen auchhypothetisch sein. Und so ist es in der Tat.« (B, S. 129) Popper dürfte demweitverbreitenden Irrtum aufgesessen sein, der Geltungsanspruch der KantschenKategorien würde sich auch auf die Produkte ihrer Anwendung auf Erfahrungsobjekteerstrecken. In der modallogischen Frage folgt er also doch Konrad Lorenz: »Man mußsich klar darüber sein, daß diese Auffassung des ›Apriorischen‹ als Organ die Zerstörungseines Begriffs bedeutet: Etwas in stammesgeschichtlicher Anpassung an die Gesetze derAußenwelt Entstandenes ist in gewissem Sinne a posteriori entstanden, wenn auch aufeinem durchaus anderen Wege als dem der Abstraktion oder der Deduktion ausvorangegangener Erfahrung«4 Offenbar glaubt Popper in der Tat, daß die Geltung aprioriim Zuge der Kantschen Argumentation darauf beruhe, daß Kant beansprucht hat, auf demUmweg präformierter Kategorien unseres Verstandesgebrauches ontologische Prinzipiender Natur in Stellung gebracht zu haben. Nur so erklärt sich diese Äußerung: Da sich nundie Natur nicht als ein für alle Mal Feststehendes herausgestellt hat, so hätten auch dieErkenntnisprinzipien eines Geschöpfes mit Intellekt und Sinnlichkeit begabt gegenüberden Naturgegenständen kein Anrecht auf unwandelbar apriorische Geltung.

Wenn nun Popper mit seiner Begriffsprägung »genetisches Apriori« bloß aus demscholastischen Verständnis des »a priori« eine Reihenfolge herausheben wollte, wärenichts dagegen einzuwenden. Darüberhinaus sei es aber »notwendig, das Wort „a priori“deshalb weiter zu verwenden, weil es hier eben eine ganz bestimmte Beziehung zumKantianismus gibt. Meiner Meinung nach wird Kant viel verständlicher, wenn man sichdarüber klar wird, daß er, wenigstens sehr oft, „genetisch a priori“ gemeint hat, obzwar ernatürlich immer von „a priori gültig“ gesprochen hat.« (B, S. 127) Es würde zu weit

3 Karl Raimund Popper, Logik der Forschung, Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen 51973, S. 42 ff..Vgl. auch den Anhang X, in welchem die Universalien zum Anlaß für eine allgemeine »Strukturtheorie«werden, die den allgemeinen oberen Sätzen der Naturwissenschaften noch vorausgesetzt werden muß: »Ichgehe aber hier über das in diesen Abschnitten gesagte hinaus, indem ich den eigentümlichenontologischen Status allgemeiner Gesetze betone (etwa dadurch, daß ich von ihrer „Notwendigkeit“ oderihrem „strukturellen Charakter“ spreche), und auch durch die Hervorhebung der Tatsache, daß dermetaphysische Charakter und die Unwiderlegbarkeit der Behauptung, es gebe Naturgesetze, uns nichtdaran zu hindern braucht, diese Behauptung rational — d. h. kritisch — zu diskutieren.« (P. 393). Vgl.dazu G. W. Cernoch, Die Theorie der Theorien als Grundlegung der Methodologie der Erkenntnislogik beiKarl Raimund Popper. Eine kritische Untersuchung der »Logik der Forschung« unter dem Gesichtspunktder Bestimmbarkeit der »logischen Form«von Basissatz und Naturgesetz. in: Jahrbuch der Sir Karl PopperGesellschaft, Frankfurt/Main, Peter Lang Verlag 20014 Konrad Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, in: Blätter fürdeutsche Philosophie 15 (1941), p. 94-125, p. 95 f

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gehen, an Ort und Stelle einen vollständigen Beweis zu versuchen, doch schon aus derGegenüberstellung von analytischer (transzendentale Deduktion) und von synthetischerMethode (Schematismus, Grundsätze) läßt sich erkennen, daß die Gründe a priori beiKant, sofern sie überhaupt als genetisch verstehbar sein können, nichts mit den Gründendes Werdens im Sinne der Entwicklung einer Gattung zu tun hat. So könnte auch dieBehauptung Kants »genetisch« genannt werden, daß die dritte dynamische Kategorie ausden beiden ersten erst »entspringe«. — Es scheint mit dem Attribut »genetisch«offensichtlich vielerlei gemeint werden zu können, wenn die Zeitbedingung des Vor-seinsdes »a priori« unbestimmt bleibt. Schließlich kommt Popper zu einer Totalaussage: »Ichbehaupte nämlich, daß alles, was wir wissen, genetisch a priori ist. A posteriori ist nur dieAuslese von dem, was wir a priori selbst erfunden haben.« (B, S. 127)

Das hat offensichtlich starke Bezüge zu Kants Auffassung, daß wir nur dasjenige,was wir selbst in die Erfahrung gelegt haben, wieder a priori herausheben können. Das»a posteriori« erschöpft sich bei Kant aber nicht in der Idee der Auslese derWahrnehmung hinsichtlich der Bildung von Kategorien oder einer Theorie, und erschöpftsich auch bei Popper in der Logik der Forschung nicht in der Idee der Auslese derdeduktiv exponierten Theorien anhand der Erfahrung, sondern beide setzen bereitslogische Prinzipien als Leitfaden zur Selektion voraus, die nicht selbst in der Erfahrungder Objekte enthalten sind. Was wir wissen, ist immer a posteriori, wir können nach Kantnur, wenn wir die Erfahrung analysieren und von den in ihr jeweils empirisch-konkretgegebenen Bedingungen absehen, auf die Bedingung ihrer sie erst qualifizierendenMöglichkeit rückschließen. Wir sind gezwungen, für qualifizierte Erfahrung a prioriBedingungen anzunehmen; nur insofern wissen wir auch von diesen Bedingungen. —Popper interpretiert hingegen das apriorische Wissen hier als eines, daß dem Wissenaposteriori vorangehen müsse. Das ist schlechte Metaphysik, die Kant zu überwindengetrachtet hat, und widerspricht dazu dem Falsifikationsansatz aus der Logik derForschung, wonach die Theorien bereits einerseits eine deduktive Form und andererseitsaus den allgemeinen Sätzen der Theorie anhand abgeleiteter Instantialsätze rechtfertigbareempirische Sätze (Basissätze) besitzen müssen, um in der Erfahrung behauptendexponiert und gegebenenfalls auch widerlegt werden zu können:5 Weder die oberstenallgemeinen Sätze einer Naturwissenschaft noch deren Hypothesen sind nun apriorisches

5 »Unsere im folgenden entwickelte Auffassung steht im schärfsten Widerspruch zu alleninduktionslogischen Versuchen; man könnte sie etwa als Lehre von der deduktiven Methodik derNachprüfung kennzeichnen.« (Logik der Forschung, p. 5). »Die universiellen Sätze sind raum-zeitlichnicht beschränkt, auf kein durch Individualien ausgezeichnetes Koordinatensystem bezogen. Damit hängtdie Nichtfalsifizierbarkeit der universiellen Es-gibt-Sätze zusammen — wir können nicht die ganze Weltabsuchen, um zu beweisen, daß es etwas nicht gibt — und ebenso die Nichtverifizierbarkeit der Allsätze:wir müßten gleichfalls (genau so wie vorher) die ganze Welt absuchen, um dann sagen zu können, daßetwas nicht gibt. Dennoch sind sind sowohl die universiellen Es-gibt-Sätze als auch die Allsätze einseitigentscheidbar: Wenn wir feststellen, daß es hier oder dort „etwas gibt“, so kann dadurch ein universiellerEs-gibt-Satz verfiziert bzw. ein Allsatz falsifiziert wird.« (p. 40)

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Wissen, auch kann das nicht von den streng-allgemeinen Sätzen6 einernaturwissenschaftlichen Theorie behauptet werden. Immerhin war Popper in der Logikder Forschung die Sachlage doch noch soweit klar, daß er dort leugnet, daß die Gewißheitauch von gut bewährten Naturgesetzen mit der Gewißheit von mathematischen oderlogischen Gesetzen vergleichbar werden könnten.7 Eher noch kann man von beliebigenAnnahmen ausgehen, wenn nur die logischen Beziehungen zwischen den Sätzen desAussagesystems widerspruchsfrei und die Formulierung der Hypothesen durchErfahrung widerlegbar ist, wenn auch die Bewährung solcher Aussagesysteme wenigerGewicht hat als die Bewährung von Hypothesen durch eine große Anzahl vonverschiedenen daraus abgeleiteten Hypothesen über lange Zeit hinweg schon bewährterAussagesysteme.

II. ONTOGENETIK UND PHYLOGENETIK IM LEIBAPRIORI:WISSEN UND TECHNIK IN DEN BEURTEILUNGSPRINZIPIEN

Was nunmehr unter »Wissen« zu verstehen sein soll, kann man gleich weiter untenentnehmen: Bevor wir aus unseren Wahrnehmungen lernen können, »müssen wir — alsogenetisch a priori —, die Fähigkeit besitzen, unsere Sinneseindrücke zu ordnen und zuinterpretieren«. (B, S. 127) Daran wäre nichts auszusetzen, wäre erstens diese Fähigkeitnicht als Wissen, und zweitens wäre hier unter dem Begriff »genetisch a priori« einfachein materiales a priori des leiblichen Substrates des erkennenden Subjekts zu verstehen,das sowohl ontogenetisch wie phylogenetisch aufzufassen ist. Zweifellos sind auch in derK. r. V. mehrfach Ansätze für die Vorstellung der Entwicklung der Arten zu finden. ImParalogismus in A nimmt Kant Ausblick auf einen Aspekt der transzendentalenAnthropologie: Demnach sollten durch die Kategorien die empirische Bedingung desSubjekts selbst auch evolutionstheoretisch erkennbar werden, indem »alle Gegenstände

6 Popper gebraucht im Neuen Anhang, X. (Universalien, Dispositionen und Naturnotwendigkeit) denAusdruck „streng allgemeine Sätze«, um dem terminologischen Problem der verschiedenen Grade anAllgemeinheit aus dem Wege zu gehen. Er bringt das Beispiel des ausgestorbenen neuseeländischenRiesenvogels »Moa«, der zwar nach unseren Erkenntnissen mindestens sechzig Jahre hätte werdenkönnen, aber wegen der Schwächung durch eine chronische Viruserkrankung niemals über fünfzig Jahrealt geworden ist. Da diese Viruserkrankung nur ein zufälliger oder kontingenter Umstand ist, auch wenndie Funde darauf schließen lassen, daß alle Vögel an dieser Erkrankung gelitten haben, zeigt diesesBeispiel, »daß es wahre, streng allgemeine Sätze gibt, die nicht den Charakter wahrer universalerNaturgesetze, sondern einen zufälligen Charakter haben.« (p. 382)7 Logik der Forschung, »Im Vergleich zu logischen Tautologien haben Naturgesetze einenkontingenten, zufälligen Charakter.« Doch aber seien die Naturgesetze gegenüber den selbst »in einemhöheren Grad« kontingenten Einzeltatsachen für notwendig anzusehen. (p. 384) Das setzt sich fort: »Wiein 28 erläutert wurde, gilt für die singulären Sätze, die aus einer Theorie ableitbar sind — die„Instantialsätze“ —, daß sie nicht den Charakter von Basissätzen oder Beobachtungssätzen haben.«,(Fußnote p. 204), aber auch schon auf p. 67.

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[...] in der absoluten Einheit der Apperzeption« gedacht werden müssen.8 Offenbar istunsere Leiblichkeit geeignet, zu allen Gegenständen zu gehören, die das Dasein in derabsoluten Einheit der Apperzeption, mithin die Kategorien durch sich selbst erkennenwürde. Das ist in der K.r.V. durchaus Angelegenheit der Ideenlehre. Im regulativenGebrauch der Ideen: Homogenität, Spezifikation, Kontinuität (B 686/A 656) alsVernunftideen; als Prinzipien ihres Erfahrungsgebrauches: Mannigfaltigkeit,Verwandtschaft, Einheit (B 690/A 662) ist zweifellos der Ansatzpunkt evolutionärerVorstellungen bei Kant zu sehen; als einer der vielen Versuche, Mannigfaltiges aufeinfache Prinzipien zurückzuführen. — Doch sind die Kategorien gerade nicht einProdukt der Ideenlehre und deren Regressus zu einfacheren Prinzipien, sondern beziehensich auf den Erfahrungsgebrauch: »Er [der Regressus] ist also kein Principium derMöglichkeit der Erfahrung und der empirischen Erkenntnis der Gegenstände der Sinne,mithin kein Grundsatz des Verstandes [...].«9

Hingegen liefert die Deduktion der Kategorien manchmal Gründe für die Annahme,daß Kant an die ontogenetische Entwicklung gedacht hat. So sind die von Poppergenannten Fähigkeiten (neben den historischen Bedingungen)10 auch aktuelleempirische Voraussetzung , sich individuell das Problem der Kategorien des Verstandesin der Selbsterfahrung des Ichs überhaupt zu stellen, und so zweifellos ontogenetischerNatur.11 Popper aber behandelt hier einen Begriff von »Wissen«, der weder mit derKantschen Kategorienlehre und deren Deduktionsversuch, noch mitEntwicklungspsychologie zu tun hat, und greift auf das »Wissen« einer Pflanze um denSonnenuntergang zurück. Diese Art von »Wissen« wäre aber phylogenetisch im Sinnedes »genetischen Apriori« erklärbar, als ob das »genetisch apriorische Wissen« in derIdee des Genpools liege, wovon die die einzelnen Arten und Individuuen jeweils bloßeEinschränkungen wären.

8 »Man kann daher von dem denkenden Ich (Seele) das sich als Substanz, einfach, numerisch identischin aller Zeit, und das Correlatum alles Daseins, aus welchem alles andere Dasein geschlossen werdenmuß, denkt, sagen: daß es nicht sowohl sich selbst durch die Kategorien, sondern die Kategorien, unddurch sie alle Gegenstände, in der absoluten Einheit der Apperzeption, mithin durch sich selbst erkennt.«,K.r.V., A 4019 B 537/A 50910 Eine phänomenologische Anthropologie, die letztlich das, was Natur und Geschichte wie auch unserUmgang miteinander aus uns gemacht hat, uns als Substrat unseres Anfangenkönnens mit der Aufklärungvoraussetzt.11 Horst Pfeiffle, Zur Psychogenese des Apriori. Jean Piagets Kritik an Kant., in: Joseph Rupitz,Elisabeth Schönberger, Cornelius Zehetner (Hrsg.), Achtung vor Anthropologie. Interdisziplinäre Studienzum philosophischen Empirismus und zur transzendentalen Anthropologie. Festschrift zum 70.Geburtstag von Michael Benedikt, pp. 381-390. »Mit dem Schema des ursprünglichen Erwerbs geht hierKant konform mit der Position Piagets, weil mit dieser Formel bei Kant bereits die Differenzierung derErfahrung nach den zwei Aspekten Piagets möglich ist. „[...] Erfahrung, die der Beobachter (Psychologe)macht und [...] Erfahrung, die das seine Erkenntnisse konstruierende Subjekt macht“«.(J. Piaget, Weisheitund Illusionen der Philosophie, Frankfurt/Main 1974, p. 74), p. 387

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Kants Entwurf eines Systems der inneren und äußeren Zweckmäßigkeit desNaturprozesses in der K. d. U., wo sich allein eine Analogie zu einem Begriff der Form,der zwischen dem bestimmenden Beurteilungsprinzip im Verstandesgebrauch und demteleologischen Beurteilungsprinzip anhand der Naturtechnik invariant ist, finden ließe,übersieht Popper also völlig: Kant hat nämlich nicht nur der Doktrin der bestimmendenUrteilskraft als Erkenntnisprinzip der Kategorien noch ein ästhetisches und teleologischesBeurteilungsprinzip zur Seite gestellt, sondern überlegt in der Kritik der teleologischenUrteilskraft die Notwendigkeit, ein dem subjektiven teleologischen Beurteilungsprinzipentsprechendes objektives Naturprinzip geben zu müssen,12 ansonsten jede Erklärung derEntwicklungsprozesse in der Natur völlig ausgeschlossen wäre: »Damit also derNaturforscher nicht auf reinen Verlust arbeite, so muß er in Beurteilung der Dinge, derenBegriff als Naturzwecke unbezweifelt gegründet ist (organisierter Wesen), immer irgendeine ursprüngliche Organisation zum Grunde legen, welche jenen Mechanism selbstbenutzt, um andere organisierte Formen hervorzubringen, oder die seinige zu neuenGestalten (die doch aber immer aus jenem Zwecke und ihm gemäß erfolgen) zuentwickeln.«13 Dazu stellt sich Kant zuerst eine vergleichende Morphologie alsErfahrungsbasis vor: »Es ist rühmlich, vermittelst einer komparativen Anatomie die großeSchöpfung organisierter Naturen durchzugehen, um zu sehen: ob sich daran nicht etwaseinem System Ähnliches, und zwar dem Erzeugungsprinzip nach, vorfinde; ohne daß wires nötig haben, beim bloßen Beurteilungsprinzip (welches für die Einsicht ihrerErzeugung keinen Aufschluß gibt) stehen zu bleiben.«14

Obwohl Kant eine ursprüngliche Organisationsform annimmt, was als Rest einesobjektiven teleologischen Naturprinzips angesehen werden kann,15 wird dasErzeugungsprinzip als Mechanismus interpretiert. Die organisierten Naturwesen selbstbenutzen mechanische Prinzipien, um in der aktuellen Zeit ihrer Existenz gemäß ihrerinneren Zweckmäßigkeit funktionieren zu können. Äußere Zweckmäßigkeit stellt sichimmer erst durch einen Naturmechanismus (Naturtechnik) her:»Die Übereinkunft so vieler Tiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, [...],sondern auch in der Anordnung der übrigen Teile zum Grunde liegen scheint, wo

12 Analog zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften als Seitenstück zurDoktrin der bestimmenden Urteilskraft.13 K.d.U., (§ 80, Von der notwendigen Unterordnung des Prinzips des Mechanisms unter demteleologischen in einer Erklärung eines Dinges als Naturzweck) B 368 f./A 363.14 B 369/A 36415 »Die Befugnis, auf eine bloß mechanische Erklärungsart aller Naturprodukte auszugehen, ist an sichganz unbeschränkt; aber das Vermögen, damit allein auszulangen, ist, nach der Beschaffenheit unserersVerstandes, sofern er es mit Dingen als Naturwesen zu tun hat, nicht allein sehr beschränkt, sondern auchdeutlich begrenzt: nämlich so, daß, nach einem Prinzip der Urteilskraft, durch das erste Verfahren alleinzur Erklärung der letzteren gar nichts ausgerichtet werden könne, mithin die Beurteilung solcher Produktejederzeit von uns zugleich einem teleologischen Prinzip untergeordnet werden müsse.« § 80,(B 367 f./A 362)

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bewundrungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlängerunganderer, durch Einwickelung dieser und durch Auswickelung jener Teile, eine so großeMannigfaltigkeit von Species hat hervorbringen können, läßt einen obgleich schwachenStrahl von Hoffnung ins Gemüt fallen, daß hier wohl etwas mit dem Prinzip desMechanimus der Natur, ohne welches es überhaupt keine Naturwissenschaft geben kann,auszurichten sein möge. Diese Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheiteinem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt dieVermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einergemeinschaftlichen Urmutter, [...] aus welcher und ihren Kräften, nach mechanischenKräften (gleich denen, wornach sie in Kristallerzeugungen wirkt), die ganze Technik derNatur, die uns in organisierten Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderesPrinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen scheint.«16

Dieses andere Prinzip, das zu denken wir glauben, genötigt zu sein, wäre nichtsanderes als das teleologische Prinzip als ein objektives Prinzip der Natur selbst. Kantstellt also zwischen Präformationslehre und Epigenesis anhand der Naturtechnik17 dieMöglichkeit vor, daß die Entwicklung allein aus der Naturtechnik immerhin denkbar wäre,obgleich er gemäß der Untersuchungen in der Antinomie der teleologischen Urteilskraftdergleichen letztlich doch in Übereinstimmung mit der Lehre der Epigenesisausschließt.18 Hier wäre nun der geeignete Ansatzpunkt zu finden, einen Begriff zusituieren, der anhand des Begriffes der Naturtechnik sowohl für Erkenntnisprinzipien desVerstandes wie für das teleologische Beurteilungsprinzip gleichermaßen in Fragekommen könnte. »Zu einem Körper also, der an sich und seiner innern Möglichkeit nachals Naturzweck beurteilt werden soll, wird erfordert, daß die Teile desselben einanderinsgesamt, ihrer Form sowohl als Verbindung nach, wechselseitig, und so ein Ganzes auseigener Kausalität hervorbringen, dessen Begriff wiederum umgekehrt (in einem Wesen,welches die einem solchen Produkt angemessene Kausalität nach Begriffen besäße)Ursache von demselben nach einen Prinzip, folglich die Verknüpfung der wirkendenUrsachen zugleich als Wirkung durch Endursachen beurteilt werden könnte.«19 Kantgelangt hier zu einer sowohl zu den Entwürfen aus der K. r. V.wie aus der K. p. V.alternativen Darstellung des intelligiblen Subjekts aus dem Zweckbegriff der technisch-

16 B 368 f./A 36417 § 81, Von der Beigesellung des Mechanismus zum teleologischen Prinzip in der Erklärung einesNaturzweckes als Naturprodukt (B 378/A 373)18 Vgl. hiezu Stephen Jay Gould, Ever since Darwin. Reflecions in Natural History, AmericanMuseum of Natural History 1973. Obgleich der theoretische Ansatz der Präformisten eher dem dermodernen Genetik entspricht, ist hinsichtlich wissenschaftstheoretischer und methodischer Erfordernissedem epigenetischen Ansatz der Vorzug zu geben, obgleich dieser im Widerspruch zu den Erkenntnissender modernen Genetik Positionen des Lamarckismus nicht ausschließt. pp. 201-206.19 K.d.U., § 65, Dinge, als Naturzweck, sind organisierte Wesen, B 291/A 287

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praktischen Vernunft, das im Naturbegriff gewissermaßen als Naturgeist in der Materieeingesperrt bleibt und für die Form des Naturgegenstandes zu sorgen hat.

Popper geht in B einen anderen Weg, indem er anhand eines über alle Grenzenerweiterten Begriff der Homologie ansetzt, der vor dem »Wissen« der Pflanzen um denSonnenaufgang nicht halt macht (B, S 135), und so das »genetische« Apriori seinesEntwurfs eines Wissensbegriffes zwar versucht, bei Kant theoretisch zu rechtfertigen,aber inhaltlich auf die moderne Genetik seit Gregor Mendel zurückgreift. Wie Poppersich zwischen der rein darwinistischen Auffassung in der Evolutionstheorie zwischenMutation und Selektion und der Auffassung von Konrad Lorenz positioniert, dereinerseits unter dem Oberbegriff der Fulguration auch nicht-genetisch bedingte spontaneÄnderungen des Entwicklungsverlaufes annimmt, andererseits die passiveAnpassungsleistung alleine durch Selektion mit einer vergleichsweise scheinbarzielgerichteten Anpassungsleistung durch Veränderung des Funktionskreises einesOrganes ergänzt, wird weiters noch zu beobachten sein. Das soll im Anschluß an diefolgende Behandlung über den Vergleich von Wissen, Theorie und Anpassungsleistungim Rahmen der Logik der Forschung bis zu seinem Ende verfolgt werden. Entscheidendfür diesen Abschnitt der vorliegenden Arbeit ist aber, daß Popper 1986 einen theoriefreienBegriff von »Wissen« exponiert und daß er die Totalität des Wissens als nichttheoriefähiges Wissen bestimmt, das entgegen Kants Darstellungen in allen relevantenStellen ein angeborenes Wisses qua genetischer Struktur des Individuums sein soll. Ineinem gewissen Sinne soll dieser Begriff des Wissens aber doch auch das Wissenqualifizieren; ich denke, die Unterscheidung Poppers von Apriorität und Aposteriorität alsdie von Phylogenese und Ontogenese zu bezeichnen, trifft noch am Besten seineAuffassung. Das genetische Apriori bezieht sich also auf die Phylogenese, und somit perDefinition nicht mehr auf Erkenntnistheorie oder irgend einem sonstigen ontogentischrelevanten Wissensbegriff. Damit hat Popper in der Frage nach der Bestimmung desKonzepts von »Wissen« (ob Popper nun will oder nicht eine Begriffsbestimmung) nichtnur den gesellschaftlichen Aspekt der Frage nach der Entstehung und Bewährung vonTheorien übersprungen, den er in der Logik der Forschung, wenngleich auch zumeist nurimplizit und insgesamt höchst widersprüchlich, immerhin doch als unverzichtbar bewertethat.20

20 p. 54 f.; vgl. auch Rüdiger Bubner, Dialektik und Wisssenschaft, Suhrkamp 21974: »DieFalsifikation als solche bedeutet ein logisches Verfahren, der Vorgang der Falsifikation einer bestimmtenHypothese oder Theorie durch einen bestimmten, ihr widersprechenden Basissatz spielt sich dagegen imRahmen einer diskutierenden, experimentiell interagierenden und verbindliche Beschlüsse fassendenForschergemeinschaft ab. Ein Basissatz wird als falsifizierende Instanz vorgeschlagen und gilt alsozunächst ebenso hypothetisch wie die Theorie, zu deren Widerlegung er beigebracht wurde.« (p. 137)

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III. DIE SELBSTSTÄNDIGKEIT DES LOGISCHEN GRUNDES EINER THEORIEIch wende mich nun dem anderen vorliegenden Artikel (A) zu. Hier hat Popper dieSchwierigkeit zwischen »materialen«, »empirischen« oder auch »genetischen« Apriori(wobei gerade letztere Ausdrucksweise besonders vieldeutig ist) einerseits und demApriori in der Erkenntnistheorie andererseits weitaus befriedigender skizziert als in seinerspäten Wortmeldung in Wien 1986. Inmitten eines Versuchs einer gleichzeitigevolutionstheoretischen wie erkenntnistheoretischen Darstellung schreibt Popper:»Ist die Anpassung lange genug vor sich gegangen, so wird uns die Schnelligkeit,Feinheit und Komplexität der Anpassung geradezu wunderbar vorkommen. Trotzdemkann man sagen, die Methode des Versuchs und der Irrtumselimination, die zu alldemgeführt hat, sei keine empirische Methode, sondern gehöre zur Logik der Situation . Daserläutert in meinen Augen (vielleicht etwas zu knapp) die logischen oderapriorischen Anteile des Darwinismus.« (A, S. 71) — Eingangs dieser Argumentationschreibt Popper: »Mit anderen Worten: Ein wesentlicher Teil des Darwinismus ist keineempirische Theorie, sondern eine logische Wahrheit « (A, S. 70). Die »Logik derSituation« besitzt also jene Qualitäten und Bedingungen, unter welchen apriorischesWissen zu finden sein soll, aber weder ist alles an dieser »situativen« Logik schon Teileines apriorischen Wissens, noch (und das ist hier entscheidend) ist diese »Logik derSituation« in irgend einem Sinn durch ein »genetisches a priori«, gleich welcherBedeutung, zu vereinnahmen, sondern gehört zur Struktur der Situation und entsprichtinsofern der Raumerfahrung bei Herbart. Herbarts Begriffe von Raum und Zeit sind aberursprüngliche Erwerbungen, haben also nichts mit einem angeborenen genetischenApriori, auch nicht das geringste mit einer phylogenetischen Entwicklungstheorie zu tun,sondern bleiben Angelegenheit der ontogenetischen Argumentation.21

Insofern erscheint die Suche nach der »logischen Wahrheit« in der darwinistischenTheorie (A, S. 70) ein Garant gegen jedweilige Auffassung eines rein »genetischen apriori« im Sinne des Vortrages in Wien 1986 zu sein. Zuerst berichtet Popper davon, daßer schon früh zwischen der »Entstehung der Geschichte der Erkenntnis einerseits undihrer Wahrheit, Gültigkeit und „Rechtfertigung“ andererseits« (A, S. 68) unterschiedenhabe. Als Beleg liefert er ein Selbstzitat aus dem Prager Kongress 1934:

21 Herbart versucht aus den »Gruppierungen« und Arten von »Empfindungen« Formen der Erfahrung

zu finden, die als ursprüngliche Erwerbung die wahren und einzigen Prinzipien der Metaphysikergeben. Dann folgt die Erörterung der Vorstellungen als Produkt der Selbsterhaltung der Seelegegenüber anderen einfachen Qualitäten, die auch eine Ontologie der Realen — einfacher Qualitäten,die unveränderbar sind und von uns nicht rein wahrgenommen werden können — enthält. Da nunanscheinend auch Vorstellungen eine Art von Realen sind, müssen sie, einmal ins Bewußtseinaufgenommen, ebenfalls unveränderlich sein. Ihr wechselseitiger Einfluß aufeinander drückt sich alsHemmung oder Förderung aus. In diesem Entwurf sieht Herbart die Grundlage derMathematisierbarkeit der Psychologie. Vgl. dazu A. Brückmann: Pädagogik und philosophischesDenken bei J.H. Herbart, Zürich 1961: p. 100 ff. wird die Konstruktion des intelligiblen Raumesals ›Form des Zusammenfassens‹ im Denken ausführlich behandelt.

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»Wissenschaftliche Theorien können niemals „gerechtfertigt“, verifiziert werden.Dennoch kann eine Hypothese A unter Umständen mehr leisten als eine Hypothese B... « (Erkenntnis 5, 1935, S. 170 ff. oder Logik der Forschung, S. 253; hier A, S. 68) —Offensichtlich verbindet Popper die Entstehung und die Geschichte der Erkenntnis mitdemjenigen Kriterium, welches die »Leistung« von Hypothesen zu beurteilen hilft; dieFeststellung, daß keine Theorie verifiziert werden kann, aber mit dem Problem derWahrheit, also mit der Gültigkeit und Rechtfertigung der Erkenntnis. »Ich betonte sogarschon sehr früh, daß Fragen der Wahrheit oder Gültigkeit einschließlich der logischenRechtfertigung der Bevorzugung einer Theorie vor einer anderen (der einzigen Art von„Rechtfertigung“, die ich für möglich halte) von allen genetischen , historischen undpsychologischen Fragen scharf unterschieden werden müssen.« (A, S. 68)Popper hält also die logische Rechtfertigung für rein abhebbar von allen sonstigenkontingenten Fragen nach den Erkenntnisbedingungen. So bleibt hier nichts als die»logische Wahrheit«, die garantiert nicht eine Angelegenheit von »genetischen,historischen und psychologischen Fragen« werden kann. — Folgen wir der in Agegebenen Selbstdarstellung Poppers weiter: »Doch schon bei der Abfassung meinerLogik der Forschung kam ich zu dem Schluß, daß wir Erkenntnistheoretiker den Vorrangvor den Historikern beanspruchen können: Logische Untersuchungen der Gültigkeit undAnnäherung an die Wahrheit könne für genetische und historische, ja sogar fürpsychologische Untersuchungen von größter Wichtigkeit sein. Sie sind diesen jedenfallslogisch vorgeordnet, obwohl wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen demErkenntnislogiker viele interessante Probleme liefern können.« (A, S. 68) Ich entnehmedaraus, daß, obwohl die »logische Rechtfertigung« von allen »genetischen, historischenund psychologischen Fragen scharf unterschieden« werden muß, eben dieselbe allendiesen Fragen vorausgesetzt ist; aber ich entnehme dem Gesagten auch, das genetische,historische und psychologische Fragen mit erkenntnistheoretischen Fragen in einenvorgegebenen Zusammenhang stehen. Die Schwierigkeit »logischer Rechtfertigung«besteht also sowohl für die eigentlich zu untersuchenden naturwissenschaftlichenTheorien, wie auch für jene Teile der erkenntnistheoretischen Untersuchungen, die zurBeurteilung der »Leistung« einer solchen Theorie in genetischer, historischer undpsychologischer Hinsicht zu unternehmen sind.

IV. DER »ANTHROPOMORPHISMUS« UND DIE MIßLUNGENE DEDUKTION DEREVOLUTIONÄREN ERKENNTNISTHEORIE

Popper vermag auch in der früheren Arbeit (A) das fragliche, und von Vertretern derevolutionären Erkenntnistheorie behauptete innere Verhältnis von Erkenntnistheorie undEvolutionstheorie nicht befriedigend zu skizzieren, allerdings ist Popper im Text A biszuletzt noch um Ausgewogenheit bemüht: »Die evolutionäre Erkenntnistheorie ermöglichtalso ein besseres Verständnis beider, der Evolution und der Erkenntnistheorie, soweit sie

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mit der wissenschaftlichen Methode zusammenfallen. Sie ermöglicht ein besseresVerständnis auf logischer Grundlage.« (A, S. 71) Im späteren Text B wird dieErkenntnistheorie in die Evolutionstheorie nahezu aufgelöst. Allerdings bleibt es einePoppersche evolutionäre Erkenntnistheorie: Der »Anthropomorphismus« im als immerschon für eine bestimmte Epoche der Umwelt angepaßtes »Urwesen«, das insofern immerschon »allgemein« um diese Umwelt »weiß« oder diese antizipiert (B, S. 134), führt dazu,daß Popper zunächst ausdrücklich nur das individuelle Überleben ins Zentrum derEvolutionstheorie stellt. Damit glaubt Popper eine gegenüber alle anderen Positionen derEvolutionstheorie unabhängige Partei (mit eigener nicht weiter diskutierbarerTerminologie) gründen zu können. Das Konzept eines »Urwesens« als Träger einestheoriefreien »Wissens« vertritt zunächst wohl soviel wie die allgemeinste Gestalt einesIndividuums, wozu man sich die »Logik der Situation« aus dem Text A ergänzend als»Struktur« einer jedweiligen a priori passenden Umwelt denken muß. Dasevolutionstheoretische Kriterium der »Angepaßtheit« besitzt also überraschenderweiseden Versuch einer metaphysischen Deduktion in dieser gleichursprünglichvorauszusetzenden »Angepaßtheit« von »Urwesen« und der »Logik der Situation«. Setztman in B allein die »Methode von Versuch und Irrtum« als apriorisches Wissen in dieVorstellung einer »Logik der Situation« aus A ein, dann geht es in der Tat bei Popperwieder um die ursprüngliche Affinität von Subjekt und Objekt.

Zwar wird im Abschnitt »Homologie, Wissen und Anpassung« anhand der»Homologie« ein Wissensbegriff demonstriert, der zumindest allen höheren Säugernzugemutet werden soll; in weiterem Sinn womöglich sogar allen in Konkurrenz stehendenbeweglichen Arten. Doch schon die Anwendung des Konzepts der »Homologie« auf das»Wissen« der Pflanzen des Wechsels von Tag und Nacht (B, S. 135), zeigt wiederschonungslos die Grenzen solcher Versuche auf: Der Gebrauch des Wortes »Wissen« isthier bestenfalls äußerst metaphorisch, in Wirklichkeit steckt dieses »Wissen« in derStruktur der Pflanze. Popper geht darauf einmal ein, erkennt aber nicht die Schwierigkeit,hier von »Wissen« zu sprechen, wenn er sagt: »Das bedeutet nicht, daß sie [die Pflanzen]einen Verstand haben, das bedeutet nur, daß sie entsprechend angepaßt sind. Daß dasüber Expansionen und Kontraktionen von Geweben geht, ist selbstverständlich. Aberjedenfalls sind die Gewebe so gebaut, daß sie dem angepaßt sind: Sie setzenRegelmäßigkeit voraus.« (B, S. 135 f.) Von Antizipation keine Spur, sondern wiederumeine ursprünglich vorausgesetzte Angepaßtheit. — Die Methode von Versuch und Irrtumaber sei die Strategie alles Lebens (B, S. 140), sie ist aber auch gerade im ursprünglichenSinn eine Strategie des Handelns eines Subjekts, das mehrere Möglichkeiten zu Handelnüberhaupt besitzt und als solche eben der Idee eines Anthropomophismus, den Poppermit seinem Begriff der Homologie angesprochen hat (B, S. 134), entspricht. Kann aberdem »Urwesen« als Vertreter der ersten ursprünglichen Gattung der entsprechendeFreiheitsgrad zugemutet werden, um hier auch nur eine Analogie dieser Strategie finden

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zu können? Eingedenk der Pawlowschen wie Lorenzschen Unterscheidung in angeboreneund erworbene Instinkte offenbar nicht. — Poppers Abstraktionen führen nunmehrsoweit, daß er nicht nur nicht zwischen Wissen und Angepaßtheit oder zwischenHomologie und Analogie,22 sondern auch nicht mehr zwischen angeborene underworbene Reflexe zu unterscheiden vermag. Popper hält dergleichen offenbar fürphilosophisch.

Bei näherer Betrachtung der Überlegungen Poppers stellt sich über allen bislangerörtereten inneren Widersprüchen eben heraus, daß ein solches Urwesen bereits »dasLeben« selbst ist, das Versuche mit verschiedenen »Bauplänen« anstellt. Das was geradeeinem Individuum der ersten einfachsten Gattungen nicht möglich ist, nämlich seinerfolgloses Verhalten zu ändern, das soll der »Natur« selbst gelingen. Diese Strategiemündet also in eine Vorstellung, die um nichts weniger metaphysisch ist, als die schlichteVoraussetzung eines jeweilig für die gegebene Umwelt ursprünglich passenden»Lebensatoms«, das in concreto bestimmt ist (das genetisch apriorische Wissen) und inindividuo nach der Methode von Versuch und Irrtum vorgeht; und zwar in die begründetbezweifelte Vorstellung davon, daß die »Natur« selbst imstand ist, nach der Methode vonVersuch und Irrtum vorzugehen, denn welches Substrat sollte da noch imstand sein,Irrtum als solchen zu erfahren? Auch Kant bemerkt offenbar den Abgrund zwischen denAnfangsgründen der Evolution des Lebendigen und den geregelten Fortgang derEntwicklung nach Prinzipien der Naturmechanik. Kant übersieht dabei nicht dieSchwierigkeit, daß hier das Prinzip der Entwicklung des Lebendigen (Prinzip derErzeugung gegenüber dem Prinzip der Beurteilung) keinerlei abstrakt eindeutig zumachende Erfahrungsgrundlage im transzendentalen Subjekt besitzt. Das Prinzip derErzeugung, das für eine Evolutionstheorie des Lebens in Frage kommen kann, wird alsoweder der Erfahrung auf sinnlicher Grundlage, noch den Vernunftprinzipien überhauptwidersprechen können.23 Popper aber hat nun versucht, unter Mißachtung aller Grenzen,das Prinzip der Erfahrung des Menschen als intelligibles Wesen mit sinnlicher

22 Daß formal gleiche Organfunktionen (Verhalten) aus verschiedenen Organen (Motive, Triebe) beiverschiedenen Arten in einem ähnlichen Funktionszusammenhang entwickelt werden können, wobei dielogische Identifizierung zunächst nicht vom Begriffsinhalt abhängt, ist ein bekannter Umstand, und wirdAnalogie genannt. Formal gleiches Verhalten (gleiche Organe) aus gleichen Gründen, die im gleichenfunktionalen Zusammenhang entsteht, heißt homolog, wobei die logische Identifizierung insofern vomBegriffsinhalt abhängt, als daß damit eine entscheidbare Definition verbunden ist.23 »Er kann den Mutterschoß der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsamals ein großes Tier), anfänglich Geschöpfe von minder-zweckmäßiger Form, diese wiederum andere,welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse unter einander sich ausbildeten,gebären lassen; bis diese Gebärmutter selbst, erststarrt, sich verknöchert, ihre Geburten auf bestimmte,fernerhin nicht ausartende Spezies eingeschränkt hätte, und die Mannigfaltigkeit so bliebe, wie sie amEnde der Operation jener fruchtbaren Bildungskraft ausgefallen war. — Allein er muß gleichwohl zu demEnde dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Orgnisation beilegen;widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreiches ihrer Möglichkeit nach gar nichtzu denken ist.« (K.d.U., § 80, B 370/A 366)

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Anschauung auf dieses Urwesen zu erweitern und gerät derart mitten in dieAuseinandersetzung um den problematischen Idealismus.