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Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 168. Band (Der neuen Folge 129. Band) herausgegeben von der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg 2020 Verlag W. Kohlhammer Stuttgart

AAR OUGHLIN 7) S. 55; Corpus 75, Turnhout Zeitschrift

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Zeitschrift fuumlr die

Geschichte des Oberrheins

168 Band(Der neuen Folge 129 Band)

herausgegeben

von der

Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

2020

Verlag W Kohlhammer Stuttgart

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 1

groszlige Eckstein von dem es heiszligt sbquoDer Stein den die Bauleute verwarfen dieser ist zum Schluszligstein gewordenlsquo Und unter der Zinne dieses Turms sind viele Raumlume dort hatte Salomon seinen Palastldquo17

In der Uumlberlieferung des Itinerarium Egeriae auch Peregrinatio Aetheriae betitelt (um 400 ) fehlt durch Blattverlust die Beschreibung des Tempels doch kann man aus De locis sanctis von Petrus Diaconus von Montecassino (dagger um 1159) der wohl die Haupthandschrift des Itinerarium Egeriae in der Hand hatte die entsprechende Stelle ergaumlnzen Sie lautet bdquoVom Tempel aber den Salomonerbaute sind nur zwei Zinnen uumlbriggeblieben von denen die eine die bedeutend houmlher ist genau diejenige ist auf der der Herr vom Teufel versucht wurde Das uumlbrige aber ist zerstoumlrtldquo18

Unter dem Namen des Eucherius von Lyon kursierte eine vor 680 entstan-dene19 Schrift De situ Hierusolimae wo es heiszligt20 bdquoDer Tempel aber der imunteren Teil der Stadt in der Naumlhe der Mauer ostwaumlrts gelegen und praumlchtig erbaut war galt einst als ein Wunder von ihm ist in den Ruinen die Zinne einerWand uumlbriggeblieben waumlhrend das restliche vom Fundament auf zerstoumlrt istldquoDer ebenfalls fruumlhmittelalterliche Breviarius quomodo Hierusolima constructa est21 schreibt vom Tempel22 bdquoUnd von dort [der Sophienkirche] kommst du zu jener Tempelzinne wo der Satan unseren Herrn Jesus Christus versuchte Und dort steht eine Basilika in Kreuzformldquo

Ein fuumlnftes spaumltantikfruumlhmittelalterliches Zeugnis fuumlr die Aufmerksamkeitdie die pinna templi damals fand steht bei dem ins VI Jahrhundert datiertenTheodosius De situ terrae sanctae Er erwaumlhnt die Tempelzinne als Ort desMartyriums des Apostels Iacobus (maior) des ersten Bischofs von Jerusa-

17 Ibi est angulus turris excelsissimae ubi dominus ascendit et dixit ei his [=is] qui temptabat eum [hellip] Et ait ei dominus sbquoNon temptabis dominum deum tuum sed illi soli servieslsquo Ibi estlapis angularis magnus de quo dictum est sbquoLapidem quem reprobaverunt aedificantes hic factus est ad capud angulilsquo Et sub pinna turris ipsius sunt cubicula plurima ubi Salomon palatium habebat Itinera Hierosolymitana saeculi IIIIndashVlll hg von Paul GEYER PragWien 1898 S 21 nicht ganz fehlerfrei in Corpus Christianorum Bd 175 Turnhout 1965 S 15

18 De templo vero quem Salomon aedificavit duae tantum pinnae permanent quarum una quaealtior valde est ipsa est in qua dominus temptatus est a diabolo reliqua autem destructa sunt Itinera Hierosolymitana (wie Anm 17) S 108 Corpus Christianorum Bd 175 Turnhout 1965S 95 f

19 Thomas OrsquoLOUGHLIN Dating the De situ Hierusolimaeldquo in Revue Beacuteneacutedictine 105 (1995) S 9ndash19

20 Templum vero in inferiore parte urbis in vicinia muri ab oriente locatum magnificeque extruc-tum quondam miraculum fuit ex qua parietis unius in ruinis quaedam pinna superest reliquis a fundamentis usque distructis Itinera Hierosolymitana (wie Anm 17) S 126 Corpus Christia-norum Bd 175 Turnhout 1965 S 238

21 Vgl DEKKERS GAAR (wie Anm 16) Nr 2327

22 Et inde venis ad illam pinnam templi ubi temptavit satanas dominum nostrum Iesum Christum Et est ibi basilica in cruce posita Itinera Hierosolymitana (wie Anm 17) S 155 CorpusChristianorum Bd 175 Turnhout 1965 S 112

4 Walter Berschin

01 Berschin S1-6 (2 S 4c) qxp_Layout 1 030221 0847 Seite 4

Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 807 Inhalt der Revue drsquoAlsace 2020 811 Bericht der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg fuumlr das Jahr 2019 815 Richtlinien zur Einreichung und Gestaltung von Manuskripten 819

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 12

Buchbesprechungen Autoren bzw Herausgeber der besprochenen Werke 607 1 Gesamtdarstellungen

Alois SCHMID (Hg) Das alte Bayern Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter (Christof Paulus) 609

Horst Wolfgang BOumlHME Claus DOBIAT (Hg) Handbuch der hessischen Geschichte Grundlagen und Anfaumlnge hessischer Geschichte bis 900 (Alfons Zettler) 610

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 5

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Sabine von HEUSINGER Susanne WITTEKIND (Hg) Die materielle Kultur der Stadt in Spaumltmittelalter und Fruumlher Neuzeit (Mark Haumlberlein) 769

Michael ROTHMANN Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt und Geld 5 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte(Andreas Maisch) 770

Mathias KAumlLBLE Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt als Argument 6 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte(Anne Rauner) 773

Roland DEIGENDESCH Christian JOumlRG (Hg) Staumldtebuumlnde und staumldtische Auszligenpolitik ndash Traumlger Instrumentarien und Konflikte waumlhrend des hohen und spaumlten Mittelalters 55 Arbeitstagung des Suumldwestdeutschen Arbeitskreises fuumlr Stadtgeschichtsforschung (Juumlrgen Treffeisen) 776

Gabriel ZEILINGER Verhandelte Stadt Herrschaft und Gemeinde in der fruumlhen Urbanisierung des Oberelsass vom 12 bis 14 Jahrhundert (Juumlrgen Treffeisen) 779

Simon LIENING Das Gesandtschaftswesen der Stadt Straszligburg zu Beginn des 15 Jahrhunderts (Juumlrgen Treffeisen) 781

Franz-Joseph ARLINGHAUS InklusionndashExklusion Funktion und Formen des Rechts in der spaumltmittelalterlichen Stadt Das Beispiel Koumlln (Juumlrgen Treffeisen) 783

Dorothea WELTECKE (Hg) Zu Gast bei Juden Leben in der mittelalterlichen Stadt (Franz-Josef Ziwes) 785

10 Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

Peter KOumlRNER bdquoJetzt ist es mit Dir aushellipldquo 10 November 1938 in AschaffenburgOpfer Taumlter Ahndung und Erinnerung (Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer) 788

Hermann EHMER Helfenberg Geschichte von Burg Schloss und Weiler (Kurt Andermann) 790

Ernst Otto BRAumlUNCHE Frank ENGEHAUSEN Juumlrgen SCHUHLADEN-KRAumlMER (Hg) Aufbruumlche und Krisen Karlsruhe 1918ndash1933 (Michael Kitzing) 791

Peter KALCHTHALER Robert NEISEN Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Nationalsozialismus in Freiburg Begleitbuch zur Ausstellung des Augustinermuseums in Kooperation mit dem Stadtarchiv ndash Peter KALCHTHALER Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Freiburg im Nationalsozialismus (Christoph Kopke) 795

Schwetzingen Geschichte(n) einer Stadt (Harald Stockert) 797

Simon EICHSTETTER Geschichte und Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzingen (17 Jhndash1927) ndash aktualisiert von HenriHeinrich BLOCH

(1928ndash1938) ndash Transkription und Einfuumlhrung Frank-Uwe BETZ

(Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer) 800

Wolfram WETTE (Hg) bdquoHier war doch nichtsldquondash Waldkirch im Nationalsozialismus (Christoph Kopke) 802

Juliane GEIKE Andreas HAASIS-BERNER (Hg) Menschen in Bewegung (Mathias Beer) 804

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 11

Soumlnke LORENZ (dagger) Oliver AUGE Sigrid HIRBODIAN (Hg) Handbuch der Stiftskirchen in Baden-Wuumlrttemberg (Helmut Flachenecker) 612

Sigrid HIRBODIAN Rolf KIESSLING Edwin Ernst WEBER (Hg) Herrschaft Markt und Umwelt Wirtschaft in Oberschwaben 1300 bis 1600 (Kurt Andermann) 614

Marie-Louise VON PLESSEN (Hg) Der Rhein Eine europaumlische Flussbiografie Begleitbuch zur Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Armin Schlechter) 615

Ruth CONRAD Volker Henning DRECOLL Sigrid HIRBODIAN (Hg) Saumlkulare Prozessionen Zur religioumlsen Grundierung von Umzuumlgen Einzuumlgen und Aufmaumlrschen (Daniela Blum) 617

Klaus HERBERS Andreas NEHRING Karin STEINER (Hg) Sakralitaumlt und Macht (Julia Burkhardt) 620

Erik BECK Eva-Maria BUTZ (Hg) Von Gruppe und Gemeinschaft zu Akteur und Netzwerk Netzwerkforschung in der Landesgeschichte Festschrift fuumlr Alfons Zettler zum 60 Geburtstag (Juumlrgen Treffeisen) 621

Eike WOLGAST Aufsaumltze zur Reformations- und Reichsgeschichte (Norbert Haag) 623

Juumlrgen DENDORFER Birgit STUDT (Hg) Zum Gedenken an Dieter Mertens Ansprachen und Vortraumlge beim Trauergottesdienst in der Liebfrauenkirche zu Guumlnterstal (17 Oktober 2014) und der Akademischen Gedenkfeier an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt (13 November 2015) (Volker Roumldel) 624

Konrad KRIMM Heinz MAAG (dagger) Siegfried RUPP 300 Jahre Kraichgauer Adeliges Damenstift (Harald Stockert) 625

Gerd F HEPP Paul-Ludwig WEINACHT (Hg) Heimat in Bewegung Heimatbewusstsein in Baden im Zeitalter von Mobilitaumlt und Migration (Reinhold Weber) 626

2 Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

Konrad KRIMM Ludger SYREacute (Hg) Herrschaftswissen Bibliotheks- undArchivbauten im Alten Reich (Robert Kretzschmar) 628

Cornel DORA (Hg) Geschichte machen Handschriften erzaumlhlen Vergangenheit (Annika Stello) 630

Thomas JUST Kathrin KININGER Andrea SOMMERLECHNER Herwig WEIGL (Hg) Privilegium maius Autopsie Kontext und Karriere der Faumllschungen Rudolfs IV von Oumlsterreich (Steffen Krieb) 632

Joumlrg W BUSCH Juumlrgen TREFFEISEN (Bearb) Die Urkunden der Stadt Neuenburg am Rhein Bd 3 (Hans-Peter Widmann) 635

Bernhard KREUTZ (Bearb) Reutlinger Urkundenbuch Teil 1 Die Urkunden bis 1399 (Juumlrgen Treffeisen) 636

Die Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgart beschrieben von Armin RENNER unter Mitarbeit von Christian HERRMANN und Eberhard ZWINK (Johannes Mangei) 637

Martin LEHMANN (Hg) Der Globus Mundi Martin Waldseemuumlllers aus dem Jahre 1509 Text ndash Uumlbersetzung ndash Kommentar (Jan Mokre) 639

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 6

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Helmut FRUumlHAUF Barbara KOELGES Armin SCHLECHTER Rheinstrom Deszlig beruumlhmten und herrlichen Flusses eigentliche und wahrhafftige Beschreibung Die Kartensammlung Hellwig im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Rheinische Landesbibliothek Koblenz (Gabriele Wuumlst) 640

3 Mittelalter

Juumlrgen DENDORFER (Hg) Erinnerungsorte des Mittelalters am Oberrhein(Boris Bigott) 641

Heidrun OCHS Gabriel ZEILINGER (Hg) Kaufhaumluser an Mittel- und Oberrhein im Spaumltmittelalter (Juumlrgen Treffeisen) 644

Masaki TAGUCHI Koumlnigliche Gerichtsbarkeit und regionale Konfliktbeilegung im deutschen Spaumltmittelalter Die Regierungszeit Ludwigs des Bayern (1314ndash1347) (Raimund J Weber) 646

Gero SCHREIER Ritterhelden Rittertum Autonomie und Fuumlrstendienst in niederadligen Lebenszeugnissen des 14 bis 16 Jahrhunderts (Thorsten Huthwelker) 649

Michael BUumlHLER Existenz Freiheit und Rang Handlungsmuster des Ortenauer Niederadels am Ende des Mittelalters (Gerhard Fouquet) 650

Johannes HELMRATH Ursula KOCHER Andrea SIEBER (Hg) Maximilians Welt Kaiser Maximilian I im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition (Kurt Andermann) 652

4 Fruumlhe Neuzeit

Martin WALLRAFF Silvana SEIDEL MENCHI Kaspar VON GREYERZ (Hg)Basel 1516 Erasmusrsquo Edition of the New Testament (Matthias DallrsquoAsta) 653

Guumlnter FRANK (Hg) Philipp Melanchthon Der Reformator zwischen Glauben und Wissen Ein Handbuch (Hermann Ehmer) 656

Philipp MELANCHTHON Texte 5011ndash5343 (JanuarndashOktober 1548) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK ndash Philipp MELANCHTHON Texte 5344ndash5642 (November 1548ndashSeptember 1549) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Hermann Ehmer) 659

Philipp MELANCHTHON Texte 5643ndash5969 (Oktober 1549ndashDezember 1550) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Hermann Ehmer) 660

Frank MULLER Images poleacutemiques images dissidentes Art et Reacuteforme agrave Strasbourg (1520ndashvers 1550) (Alexandra C Axtmann) 661

Wolfgang BREUL Kurt ANDERMANN (Hg) Ritterschaft und Reformation (Paul Warmbrunn) 664

Olga WECKENBROCK (Hg) Ritterschaft und Reformation Der niedere Adel im Mitteleuropa des 16 und 17 Jahrhunderts (Kurt Andermann) 666

Tilman G MORITZ Autobiographik als ritterschaftliche Selbstverstaumlndigung Ulrich von Hutten Goumltz von Berlichingen Sigmund von Herberstein (Kurt Andermann) 667

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 7

Dieter LAMMERS Kloster Lorsch ndash die archaumlologischen Untersuchungen der Jahre 2010ndash2016 Zehntscheune und Forstgarten (Andreas Haasis-Berner) 743

Harald DERSCHKA (Bearb) Die Reichenauer Lehenbuumlcher der Aumlbte Friedrich von Zollern (1402ndash1427) und Friedrich von Wartenberg (1428ndash1453) (Barbara Frenk) 745

Ruth WIEDERKEHR Lesen schreiben beten heilen Die Bibliothek des mittelalterlichen Klosters Hermetschwil (Armin Schlechter) 747

Johannes MEYER Das Amptbuch Ed by Sarah Glenn DEMARIS

(Sabine von Heusinger) 749

8 Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

Lars BLOumlCK Die roumlmerzeitliche Besiedlung im rechten suumldlichen Oberrheingebiet(Markus Zimmermann) 749

Francisca FERAUDI-GRUEacuteNAIS Renate LUDWIG Die Heidelberger Roumlmersteine Bildwerke Architekturteile und Inschriften im Kurpfaumllzischen Museum Heidelberg (Markus Zimmermann) 752

Juumlrgen KEDDIGKEIT Stefan ULRICH (Hg) Ausgewaumlhlte Beitraumlge der pfaumllzischen Burgenforschung 2014ndash2018 (Volker Roumldel) 753

Roland WEIS Burgen im Hochschwarzwald (Boris Bigott) 755

Joumlrg KREUTZ Berno MUumlLLER (Hg) Sakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreis (Jutta Dresch) 757

Hans Rudolf SENNHAUSER Hans Rudolf COURVOISIER (dagger) in Zusammenarbeit mit Alfred HIDBER Eckart KUumlHNE Werner PETER Das Basler Muumlnster Die fruumlhen Kathedralen und der Heinrichsdom Ausgrabungen 1966 und 197374 (Matthias Untermann) 759

Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften in den Kreuzgaumlngen des Basler Muumlnsters ndash Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften der Basler Kirchen Bd 2 Muumlnster und Martinskirche (Kurt Andermann) 762

Hans Joachim HILDENBRAND Grabplatten Epitaphien und Gedenktafeln im Konstanzer Muumlnster (Wolfgang Zimmermann) 763

Peter KOHLGRAF Tobias SCHAumlFER Felicitas JANSON (Hg) Der Dom zu Worms Krone der Stadt Festschrift zum 1000-jaumlhrigen Weihejubilaumlum des Doms (Wolfgang Schenkluhn) 764

9 Allgemeine Stadtgeschichte

Gerhard FOUQUET Ferdinand OPLL Sven RABELER Martin SCHEUTZ (Hg)Social Functions of Urban Spaces through the Ages Soziale Funktionenstaumldtischer Raumlume im Wandel (Joachim Kemper) 766

Michel PAULY Martina STERCKEN Stadtentwicklung im vormodernen Europa Beobachtungen zu Kontinuitaumlt und Bruumlchen (Juumlrgen Treffeisen) 767

Guy THEWES Martin UHRMACHER (Hg) Extra muros Vorstaumldtische Raumlume in Spaumltmittelalter und fruumlher Neuzeit Espaces suburbains au bas Moyen Acircge et agrave lrsquoeacutepoque moderne (Joachim Kemper) 768

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 10

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Damaris GRIMMSMANN Krieg mit dem Wort Tuumlrkenpredigten des 16 Jahrhunderts im Alten Reich (Wolfgang Zimmermann) 669

Jean-Pierre KINTZ La Conquecircte de lrsquoAlsace Le triomphe de Louis XIV diplomate et guerrier (Volker Roumldel) 671

Oliver FIEG (Hg) Rastatt 1714 und der Traum vom Frieden (Bernd Wunder) 673

Bettina BRAUN Eine Kaiserin und zwei Kaiser Maria Theresia und ihre Mitregenten Franz Stephan und Joseph II (Gabriele Haug-Moritz) 676

5 19 und 20 Jahrhundert

Senta HERKLE Sabine HOLTZ Gert KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP (Hg)1816 ndash Das Jahr ohne Sommer Krisenwahrnehmung und Krisenbewaumlltigungim deutschen Suumldwesten (Ina Ulrike Paul) 677

Hans FENSKE Auf dem Weg zur Demokratie Das Streben nach deutscher Einheit 1792ndash1871 (Christopher Dowe) 681

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Nation im Siegesrausch Wuumlrttemberg und die Gruumlndung des Deutschen Reiches 187071 (Michael Wettengel) 682

Carl PISTER Tagebuch 1914ndash1918 hg von Volker KRONEMAYER (Michael Bock) 684

Walter MUumlHLHAUSEN Friedrich Ebert Sein Leben in Bildern (Martin Furtwaumlngler) 686

Andreas MORGENSTERN (Hg) Revolutionaumlre Jahre auf dem Land Vom Kriegsende 1918 zur Weimarer Republik in Mittel- und Suumldbaden (Michael Kitzing) 687

Bernd BRAUN Ulrike HOumlRSTER-PHILIPPS In jeder Stunde Demokratie Joseph Wirth (1879ndash1956) Ein politisches Portraumlt in Bildern und Dokumenten (Martin Furtwaumlngler) 690

Carola HOEacuteCKER Vom Freischaumlrler zum Parlamentarier Briefe des Reichstagsabgeordneten Marcus Pfluumlger (1824ndash1907) (Martin Furtwaumlngler) 692

Karlheinz LIPP Religioumlser Sozialismus in der Pfalz in der Weimarer Republik Ein Lesebuch (Frank Engehausen) 694

Frank ENGEHAUSEN Sylvia PALETSCHEK Wolfram PYTA (Hg) Die badischen und wuumlrttembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus (Christopher Dowe) 695

Christoph RAICHLE Die Finanzverwaltung in Baden und Wuumlrttemberg im Nationalsozialismus (Martin Stingl) 697

Pia NORDBLOM Walter RUMMEL Barbara SCHUumlTTPELZ (Hg) Josef Buumlrckel Nationalsozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz (Frank Engehausen) 699

Theacuteregravese REYNAUD Georges REYNAUD Henri MOOS Les Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949) (Brigitte und Gerhard Braumlndle) 701

Michael KITZING (Bearb) Die Protokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden Bd 1 Das erste Kabinett Maier 1945ndash1946 (Michael Bock) 703

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 8

Reneacute GILBERT Franz Gurk (Michael Kitzing) 705

Natalie POHL Atomprotest am Oberrhein Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970ndash1985) (Kurt Hochstuhl) 707

6 Bildungs- und WissenschaftsgeschichteMartina BACKES Juumlrgen DENDORFER (Hg) Nationales Interesse undideologischer Missbrauch Mittelalterforschung in der ersten Haumllfte des20 Jahrhunderts ndash Vortraumlge zum 75jaumlhrigen Bestehen der AbteilungLandesgeschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-UniversitaumltFreiburg (Juumlrgen Treffeisen) 707

Wilhelm KUumlHLMANN (Hg) unter Mitarbeit von Ladislaus LUDESCHER und mit einem Vorwort von Hermann WIEGAND Prata Florida Neue Studien anlaumlsslich des dreiszligigjaumlhrigen Bestehens der Heidelberger Sodalitas Neolatina (1988ndash2018) (Heiko Ullrich) 710

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Spaumltrenaissance in Schwaben Wissen ndash Literatur ndash Kunst (Eike Wolgast) 713

Klaus ARNOLD Franz FUCHS (Hg) Johannes Trithemius (1462ndash1516) Abt und Buumlchersammler Humanist und Geschichtsschreiber (Magnus Ulrich Ferber) 717

Joachim KNAPE Thomas WILHELMI (Hg) Sebastian Brant Bibliographie Forschungsliteratur bis 2016 Unter Mitarbeit von Gloria ROumlPKE-MARFURT und mit einem Beitrag von Nikolaus HENKEL (Michael Rupp) 719

Urs B LEU Peter OPITZ (Hg) Conrad Gessner (1516ndash1565) Die Renaissance der Wissenschaften The Renaissance of Learning (Matthias DallrsquoAsta) 721

Sven GUumlTERMANN Matern Hatten Ein Intellektuellenleben zwischen Humanismus und Reformation am Oberrhein (Klaus Buumlmlein) 723

Johann Heinrich ANDREAE Neapolis Nemetum Palatina uumlbersetzt und erlaumlutert von Lenelotte MOumlLLER (Volker Roumldel) 724

Reiner HAEHLING VON LANZENAUER Der badische Jurist Reichlin von Meldegg und seine Zeit (Frank L Schaumlfer) 726

Bernd MARTIN Die Freiburger Pathologie in Kriegs- und Nachkriegszeiten (1906ndash1963) Konstitutionspathologie Wehrpathologie und Menschenversuche bdquoPathologieldquo des Verdraumlngens (Karl-Heinz Leven) 727

Clemens BRODKORB Dominik BURKARD (Hg) Der Kardinal der Einheit Zum 50 Todestag des Jesuiten Exegeten und Oumlkumenikers Augustin Bea (1881ndash1968) (Michael Quisinsky) 730

Pierre FELDER Fuumlr alle Die Basler Volksschule seit ihren Anfaumlngen (Andreas Hoffmann-Ocon) 732

Isabell ARNSTEIN Die Geschichte der Zentralgewerbeschule Buchen (Heiko Ullrich) 737

7 Orden Kloumlster und StifteGabriela SIGNORI (Hg) Inselkloumlster ndash Klosterinseln Topographie und Toponymieeiner monastischen Formation (Julia Becker) 740

Jutta KRIMM-BEUMANN (Bearb) Die Benediktinerabtei St Peter im Schwarzwald (Thomas Zotz) 742

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 9

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Reneacute GILBERT Franz Gurk (Michael Kitzing) 705

Natalie POHL Atomprotest am Oberrhein Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970ndash1985) (Kurt Hochstuhl) 707

6 Bildungs- und WissenschaftsgeschichteMartina BACKES Juumlrgen DENDORFER (Hg) Nationales Interesse undideologischer Missbrauch Mittelalterforschung in der ersten Haumllfte des20 Jahrhunderts ndash Vortraumlge zum 75jaumlhrigen Bestehen der AbteilungLandesgeschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-UniversitaumltFreiburg (Juumlrgen Treffeisen) 707

Wilhelm KUumlHLMANN (Hg) unter Mitarbeit von Ladislaus LUDESCHER und mit einem Vorwort von Hermann WIEGAND Prata Florida Neue Studien anlaumlsslich des dreiszligigjaumlhrigen Bestehens der Heidelberger Sodalitas Neolatina (1988ndash2018) (Heiko Ullrich) 710

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Spaumltrenaissance in Schwaben Wissen ndash Literatur ndash Kunst (Eike Wolgast) 713

Klaus ARNOLD Franz FUCHS (Hg) Johannes Trithemius (1462ndash1516) Abt und Buumlchersammler Humanist und Geschichtsschreiber (Magnus Ulrich Ferber) 717

Joachim KNAPE Thomas WILHELMI (Hg) Sebastian Brant Bibliographie Forschungsliteratur bis 2016 Unter Mitarbeit von Gloria ROumlPKE-MARFURT und mit einem Beitrag von Nikolaus HENKEL (Michael Rupp) 719

Urs B LEU Peter OPITZ (Hg) Conrad Gessner (1516ndash1565) Die Renaissance der Wissenschaften The Renaissance of Learning (Matthias DallrsquoAsta) 721

Sven GUumlTERMANN Matern Hatten Ein Intellektuellenleben zwischen Humanismus und Reformation am Oberrhein (Klaus Buumlmlein) 723

Johann Heinrich ANDREAE Neapolis Nemetum Palatina uumlbersetzt und erlaumlutert von Lenelotte MOumlLLER (Volker Roumldel) 724

Reiner HAEHLING VON LANZENAUER Der badische Jurist Reichlin von Meldegg und seine Zeit (Frank L Schaumlfer) 726

Bernd MARTIN Die Freiburger Pathologie in Kriegs- und Nachkriegszeiten (1906ndash1963) Konstitutionspathologie Wehrpathologie und Menschenversuche bdquoPathologieldquo des Verdraumlngens (Karl-Heinz Leven) 727

Clemens BRODKORB Dominik BURKARD (Hg) Der Kardinal der Einheit Zum 50 Todestag des Jesuiten Exegeten und Oumlkumenikers Augustin Bea (1881ndash1968) (Michael Quisinsky) 730

Pierre FELDER Fuumlr alle Die Basler Volksschule seit ihren Anfaumlngen (Andreas Hoffmann-Ocon) 732

Isabell ARNSTEIN Die Geschichte der Zentralgewerbeschule Buchen (Heiko Ullrich) 737

7 Orden Kloumlster und StifteGabriela SIGNORI (Hg) Inselkloumlster ndash Klosterinseln Topographie und Toponymieeiner monastischen Formation (Julia Becker) 740

Jutta KRIMM-BEUMANN (Bearb) Die Benediktinerabtei St Peter im Schwarzwald (Thomas Zotz) 742

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 9

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Dieter LAMMERS Kloster Lorsch ndash die archaumlologischen Untersuchungen der Jahre 2010ndash2016 Zehntscheune und Forstgarten (Andreas Haasis-Berner) 743

Harald DERSCHKA (Bearb) Die Reichenauer Lehenbuumlcher der Aumlbte Friedrich von Zollern (1402ndash1427) und Friedrich von Wartenberg (1428ndash1453) (Barbara Frenk) 745

Ruth WIEDERKEHR Lesen schreiben beten heilen Die Bibliothek des mittelalterlichen Klosters Hermetschwil (Armin Schlechter) 747

Johannes MEYER Das Amptbuch Ed by Sarah Glenn DEMARIS

(Sabine von Heusinger) 749

8 Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

Lars BLOumlCK Die roumlmerzeitliche Besiedlung im rechten suumldlichen Oberrheingebiet(Markus Zimmermann) 749

Francisca FERAUDI-GRUEacuteNAIS Renate LUDWIG Die Heidelberger Roumlmersteine Bildwerke Architekturteile und Inschriften im Kurpfaumllzischen Museum Heidelberg (Markus Zimmermann) 752

Juumlrgen KEDDIGKEIT Stefan ULRICH (Hg) Ausgewaumlhlte Beitraumlge der pfaumllzischen Burgenforschung 2014ndash2018 (Volker Roumldel) 753

Roland WEIS Burgen im Hochschwarzwald (Boris Bigott) 755

Joumlrg KREUTZ Berno MUumlLLER (Hg) Sakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreis (Jutta Dresch) 757

Hans Rudolf SENNHAUSER Hans Rudolf COURVOISIER (dagger) in Zusammenarbeit mit Alfred HIDBER Eckart KUumlHNE Werner PETER Das Basler Muumlnster Die fruumlhen Kathedralen und der Heinrichsdom Ausgrabungen 1966 und 197374 (Matthias Untermann) 759

Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften in den Kreuzgaumlngen des Basler Muumlnsters ndash Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften der Basler Kirchen Bd 2 Muumlnster und Martinskirche (Kurt Andermann) 762

Hans Joachim HILDENBRAND Grabplatten Epitaphien und Gedenktafeln im Konstanzer Muumlnster (Wolfgang Zimmermann) 763

Peter KOHLGRAF Tobias SCHAumlFER Felicitas JANSON (Hg) Der Dom zu Worms Krone der Stadt Festschrift zum 1000-jaumlhrigen Weihejubilaumlum des Doms (Wolfgang Schenkluhn) 764

9 Allgemeine Stadtgeschichte

Gerhard FOUQUET Ferdinand OPLL Sven RABELER Martin SCHEUTZ (Hg)Social Functions of Urban Spaces through the Ages Soziale Funktionenstaumldtischer Raumlume im Wandel (Joachim Kemper) 766

Michel PAULY Martina STERCKEN Stadtentwicklung im vormodernen Europa Beobachtungen zu Kontinuitaumlt und Bruumlchen (Juumlrgen Treffeisen) 767

Guy THEWES Martin UHRMACHER (Hg) Extra muros Vorstaumldtische Raumlume in Spaumltmittelalter und fruumlher Neuzeit Espaces suburbains au bas Moyen Acircge et agrave lrsquoeacutepoque moderne (Joachim Kemper) 768

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 10

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Sabine von HEUSINGER Susanne WITTEKIND (Hg) Die materielle Kultur der Stadt in Spaumltmittelalter und Fruumlher Neuzeit (Mark Haumlberlein) 769

Michael ROTHMANN Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt und Geld 5 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte(Andreas Maisch) 770

Mathias KAumlLBLE Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt als Argument 6 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte(Anne Rauner) 773

Roland DEIGENDESCH Christian JOumlRG (Hg) Staumldtebuumlnde und staumldtische Auszligenpolitik ndash Traumlger Instrumentarien und Konflikte waumlhrend des hohen und spaumlten Mittelalters 55 Arbeitstagung des Suumldwestdeutschen Arbeitskreises fuumlr Stadtgeschichtsforschung (Juumlrgen Treffeisen) 776

Gabriel ZEILINGER Verhandelte Stadt Herrschaft und Gemeinde in der fruumlhen Urbanisierung des Oberelsass vom 12 bis 14 Jahrhundert (Juumlrgen Treffeisen) 779

Simon LIENING Das Gesandtschaftswesen der Stadt Straszligburg zu Beginn des 15 Jahrhunderts (Juumlrgen Treffeisen) 781

Franz-Joseph ARLINGHAUS InklusionndashExklusion Funktion und Formen des Rechts in der spaumltmittelalterlichen Stadt Das Beispiel Koumlln (Juumlrgen Treffeisen) 783

Dorothea WELTECKE (Hg) Zu Gast bei Juden Leben in der mittelalterlichen Stadt (Franz-Josef Ziwes) 785

10 Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

Peter KOumlRNER bdquoJetzt ist es mit Dir aushellipldquo 10 November 1938 in AschaffenburgOpfer Taumlter Ahndung und Erinnerung (Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer) 788

Hermann EHMER Helfenberg Geschichte von Burg Schloss und Weiler (Kurt Andermann) 790

Ernst Otto BRAumlUNCHE Frank ENGEHAUSEN Juumlrgen SCHUHLADEN-KRAumlMER (Hg) Aufbruumlche und Krisen Karlsruhe 1918ndash1933 (Michael Kitzing) 791

Peter KALCHTHALER Robert NEISEN Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Nationalsozialismus in Freiburg Begleitbuch zur Ausstellung des Augustinermuseums in Kooperation mit dem Stadtarchiv ndash Peter KALCHTHALER Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Freiburg im Nationalsozialismus (Christoph Kopke) 795

Schwetzingen Geschichte(n) einer Stadt (Harald Stockert) 797

Simon EICHSTETTER Geschichte und Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzingen (17 Jhndash1927) ndash aktualisiert von HenriHeinrich BLOCH

(1928ndash1938) ndash Transkription und Einfuumlhrung Frank-Uwe BETZ

(Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer) 800

Wolfram WETTE (Hg) bdquoHier war doch nichtsldquondash Waldkirch im Nationalsozialismus (Christoph Kopke) 802

Juliane GEIKE Andreas HAASIS-BERNER (Hg) Menschen in Bewegung (Mathias Beer) 804

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 11

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Andermann Kurt 664 Andreae Johann Heinrich 724 Arlinghaus Franz-Joseph 783 Arnold Klaus 717 Arnstein Isabell 737 Auge Oliver 612 Backes Martina 707 Beck Erik 621 Betz Frank-Uwe 800 Bloch HeinrichHenri 800 Bloumlck Lars 749 Boumlhme Horst Wolfgang 610 Braumlunche Ernst Otto 791 Braun Bernd 690 Braun Bettina 676 Breul Wolfgang 664 Brodkorb Clemens 730 Buumlhler Michael 650 Burkard Dominik 730 Busch Joumlrg W 635 Butz Eva-Maria 621 Conrad Ruth 617 Courvoisier Hans Rudolf dagger 759 DallrsquoAsta Matthias 659 660 Deigendesch Roland 776 DeMaris Sarah Glenn 749 Dendorfer Juumlrgen 624 641 707 Derschka Harald 745 Dobiat Claus 610 Dora Cornel 630 Drecoll Volker Henning 617 Ehmer Hermann 790 Eichstetter Simon 800 Engehausen Frank 695 791 Felder Pierre 732 Fenske Hans 681 Feraudi-Grueacutenais Francisca 752 Fieg Oliver 673 Fouquet Gerhard 766 Frank Guumlnter 656 Fruumlhauf Helmut 640 Fuchs Franz 717

Geike Juliane 804 Gilbert Reneacute 705 Greyerz Kaspar von 653 Grimmsmann Damaris 669 Guumltermann Sven 723 Haasis-Berner Andreas 804 Haehling von Lanzenauer Reiner 726 Hartmann Mareike 785 Hein Heidi 659 660 Helmrath Johannes 652 Henkel Nikolaus 719 Hepp Gerd F 626 Herbers Klaus 620 Herkle Senta 677 Herrmann Christian 637 Heusinger Sabine von 769 Hidber Alfred 759 Hildenbrand Hans Joachim 763 Hirbodian Sigrid 612 614 617 Hoeacutecker Carola 692 Houmlrster-Philipps Ulrike 690 Holtz Sabine 677 Janson Felicitas 764 Joumlrg Christian 776 Just Thomas 632 Kaumllble Mathias 773 Kalchthaler Peter 795 Keddigkeit Juumlrgen 753 Kieszligling Rolf 614 Kininger Kathrin 632 Kintz Jean-Pierre 671 Kitzing Michael 703 Knape Joachim 719 Kocher Ursula 652 Koelges Barbara 640 Koumlrner Peter 788 Kohlgraf Peter 764 Kollmer-von Oheimb-Loup Gert 677 Kowark Hannsjoumlrg 637 Kreutz Bernhard 636 Kreutz Joumlrg 757 Krimm Konrad 625 628

607BUCHBESPRECHUNGEN

Index der Autoren bzw Herausgeber der besprochenen Werke

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 607

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Krimm-Beumann Jutta 742 Kronemayer Volker 684 Kuumlhlmann Wilhelm 710 Kuumlhne Eckart 759 Lammers Dieter 743 Lange Axel 656 Lehmann Martin 639 Leu Urs B 721 Liening Simon 781 Lipp Karlheinz 694 Lorenz Soumlnke dagger 612 Ludescher Ladislaus 710 Ludwig Renate 752 Maag Heinz dagger 625 Maumlhrle Wolfgang 682 713 Martin Bernd 727 Melanchthon Philipp 659 660 Meyer Johannes 749 Moumlller Lenelotte 724 Moos Henri 701 Morgenstern Andreas 687 Moritz Tilman G 667 Muumlhlhausen Walter 686 Muumlller Berno 757 Muller Frank 661 Mundhenk Christine 659 660 Nehring Andreas 620 Neisen Robert 795 Nordblom Pia 699 Ochs Heidrun 644 Opitz Peter 721 Opll Ferdinand 766 Paletschek Sylvia 695 Pauly Michel 767 Peter Werner 759 Pister Carl 684 Plessen Marie-Louise von 615 Pohl Natalie 707 Pronay Andreas 762 Pyta Wolfram 695 Rabeler Sven 766 Raichle Christoph 697 Renner Armin 637 Reynaud Georges 701

Reynaud Theacuteregravese 701 Roumlpke-Marfurt Gloria 719 Rothmann Michael 770 Rummel Walter 699 Rupp Siegfried 625 Schaumlfer Tobias 764 Scheutz Martin 766 Schlechter Armin 640 Schmid Alois 609 Schreier Gero 649 Schuumlttpelz Barbara 699 Schuhladen-Kraumlmer Juumlrgen 791 Seidel Menchi Silvana 653 Sennhauser Hans Rudolf 759 Sieber Andrea 652 Signori Gabriela 740 Sommerlechner Andrea 632 Steiner Karin 620 Stercken Martina 767 Stockhausen Tilmann von 795 Studt Birgit 624 Syreacute Ludger 628 Taguchi Masaki 646 Thewes Guy 768 Treffeisen Juumlrgen 635 Uhrmacher Martin 768 Ulrich Stefan 753 Wallraff Martin 653 Weber Edwin Ernst 614 Weckenbrock Olga 666 Weigl Herwig 632 Weinacht Paul-Ludwig 626 Weis Roland 755 Weltecke Dorothea 785 Wette Wolfram 802 Wiegand Hermann 710 Wiederkehr Ruth 747 Wilhelmi Thomas 719 Wittekind Susanne 769 Wittmann Helge 770 773 Wolgast Eike 623 Zeilinger Gabriel 644 779 Zwink Eberhard 637

608 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 608

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Alois SCHMID (Hg) Das alte Bayern Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter (Handbuch der bayerischen Geschichte Bd 11) Muumlnchen Beck 2017 XX 724 S geb EUR 4995 ISBN 978-3-406-68325-1

Wohl fuumlr kein weiteres Bundesland steht einem breiten Publikum eine aumlhnlich groszlige Anzahl an Buumlchern zur Auswahl um sich uumlber die Geschichte gediegen zu informieren wie fuumlr Bayern Ob kurz und kompakt (Wilhelm Volkert) ob als an Studienzwecken orientiertes Nachschlagewerk (Peter Claus Hartmann) ob in den ganz unterschiedlich gearteten Gesamtdarstellungen aus den Federn Benno Hubensteiners von Friedrich Prinz und Andreas Kraus u a m Die landeshistorische Forschung indes griff zunaumlchst stets zum bdquoSpindlerldquo Der Inhaber des Lehrstuhls fuumlr bayerische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universitaumlt Muumlnchen Max Spindler (1894ndash1986) hatte 1967 den ersten Teilband des bdquoHandbuchs der bayerischen Geschichteldquo vorgelegt Bis 1975 gestuumltzt auf ein Team houmlchstkompetenter Autoren konnte das Gesamtwerk ndash vier Baumlnde in sechs Teilbaumlnden ndash publiziert werden Der ungewoumlhnliche Erfolg gab Anlass zu einer Neuauf-lage zunaumlchst unter Herausgeberschaft Spindlers dann von dessen Schuumller Andreas Kraus und wiederum dessen Schuumller Alois Schmid 2007 war ndash mit Einzelbaumlnden zu den bayerischen Regionen Schwaben Oberpfalz und Franken ndash dann auch diese zweite uumlber-arbeitete Neuauflage komplett auf dem Markt Spindlers Unternehmen war zunaumlchst nahezu einzigartig im geteilten Deutschland (etwa gleichzeitig wurde eine Geschichte Thuumlringens in Angriff genommen 1968ndash1984) und beeinflusste vergleichbare Hand-buchprojekte in anderen Bundeslaumlndern die teilweise auch andere Schwerpunkte setzten inhaltlich wie zeitlich zT auch Laumlndergrenzen uumlberschreitend (Rheinische Geschichte [1976ndash1983] Niedersachsen [1977ndash2010] Westfaumllische Geschichte [1982ndash1984] Baden-Wuumlrttemberg [1992ndash2007] oder Rheinland-Pfalz [1977ndash2012])

Seit 2017 liegt nun der bdquoSchmidldquo vor der die Zweitauflage zur altbayerischen Ge-schichte (1981) bis zum Herrschaftsantritt der Wittelsbacher 1180 ersetzt Elf Autorinnen und Autoren ndash bemerkenswerterweise allesamt keine Inhaber landesgeschichtlicher Lehr-stuumlhle bzw Professuren in Bayern ndash haben mitgewirkt die Geschichte von der Fruumlhzeit bis ins Hochmittelalter darzustellen Monographischen Zuschnitt hat die Darstellung zur Roumlmerzeit (Karlheinz DIETZ) Das bdquoMittelalterldquo geteilt haben sich Roman DEUTINGER (Agilolfingerzeit politische Entwicklung bis 1180) und Juumlrgen DENDORFER (innere Ent-wicklung ab 788) auf knapp 300 Seiten ndash und damit an der schon den bdquoSpindlerldquo kenn-zeichnenden Zweiteilung festgehalten Genaue Absprachen halten die Doppelungen in Grenzen die noch in der Erst- und Zweitauflage nicht selten waren und die unterschied-lichen landeshistorischen Schulen spiegelten Die systematischen Beitraumlge stammen aus der Feder von Ludwig HOLZFURTNER (Wissenschaft und Bildung Welt der Juden) Hans und Mechthild POumlRNBACHER (Literatur) Heidrun STEIN-KECKS und David HILEY (Kunst bzw Musik) Den Abschluss bilden Stammtafeln und Bibliographien zur gesamtbayeri-schen Geschichte einschlieszliglich elektronischer Hilfsmittel (Christof PAULUS Selbst- anzeige) Eingeleitet wird der Band mit Ausfuumlhrungen zu den naturraumlumlichen Bedin- gungen (Hansjoumlrg KUumlSTER) sowie zur Geschichte bis zum Ende der Keltenreiche verfasst von der Praumlhistorikerin Amei LANG Insgesamt ist der Band handlicher ausgefallen als sein Vorgaumlnger Die Fuszlignoten erscheinen als Endnoten was zweifellos dem marktorien-tieren Verlagskonzept eines Lesebuchs (zuungunsten des wissenschaftlichen Arbeits-buchs) geschuldet ist

Entscheidend muss die inhaltliche Beurteilung sein Auf erster Ebene mag auffallen dass Kaiser Arnulf von Kaumlrnten nun durchgehend Arnolf die ehedem Luitpoldinger jetzt

609Gesamtdarstellungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 609

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Liutpoldinger heiszligen (so auch Markgraf Liutpold) oder manch Agilolfingerherzog nun die richtigen Lebensdaten hat (die aus dem alten bdquoSpindlerldquo vielfach falsch weitertradiert wurden) Zentraler indes sind die deutlichen inhaltlichen Schwerpunktverlagerungen Transdisziplinaumlr wird die Ethnogenese vorgetragen die Darstellung zur Lex Baioariorum ist juumlngeren Forschungen zu den sogenannten Stammesrechten verpflichtet die Bedeu-tung der Karolingerzeit wird staumlrker konturiert die liutpoldingischen Neuansaumltze sind deutlich markiert die Mittel zur Sichtbarmachung von Herrschaft werden thematisiert Ansaumltze der Neuen Verfassungsgeschichte zu Amt und Rang sind umfaumlnglich beruumlck-sichtigt oder die komparatistische Darstellung des hochmittelalterlichen bayerischen Dynastenadels integriert gekonnt die breite mediaumlvistische Forschung der letzten Jahre Stets ist die groszlige Kennerschaft der Autorinnen und Autoren zu spuumlren denen es gelingt aus eigenen Forschungsfeldern wie aus der Literatur wesentliche Entwicklungslinien herauszuschaumllen und sie zu einem Gesamtbild zu formen und dies auf hochreflektierte Weise und erfreulich oft mit Blick uumlber die Grenzen Bayerns hinaus Der Schwerpunkt wird dabei auf juumlngste Literatur gelegt was einerseits den Angabenapparat verschlankt andererseits einen ndash wie fuumlr Handbuumlcher nicht unuumlblich ndash zum Teil unterschiedlichen Ab-gabetermin der Typoskripte und grundsaumltzlich forschungsgeschichtlich den Blick auch in aumlltere Auflagen des Handbuchs sinnvoll macht

Es ist leicht einem Handbuch Desiderata oder Missverhaumlltnisse vorzuwerfen Ist die Seitenzahl zwischen Roumlmerzeit und den Jahrtausenden davor ausgeglichen Ist die Auf-loumlsung in verschiedene Literaturapparate (Grundliteratur zu den einzelnen Paragraphen Endnoten) nicht unpraktisch Kommt eine Gliederung nach den Dynastien Agilolfinger Karolinger Liutpoldinger Welfen zuletzt auf den Fixpunkt 1180 zulaufend nicht einem remonarchisierenden Geschichtsverstaumlndnis recht nahe Ist ein an modern-staatlichen Grenzen orientiertes Raumverstaumlndnis als Untersuchungsgebiet noch tragfaumlhig Ein Handbuch muss stets Kompromisse eingehen zwischen Tiefenerschlieszligung und Reprauml-sentativitaumlt zwischen Eroumlrterung zentraler Forschungsfragen und Aufzeigen der groszligen Entwicklungslinien Ein Handbuch muss sich auf einen inhaltlichen Schwerpunkt kon-zentrieren den der bdquoSchmidldquo auf die politische Geschichte gelegt hat Dies geht not- gedrungen zu Lasten der Kulturgeschichte mit all ihren verschiedenen Tendenzen und Methoden Eine moderne Kulturgeschichte Bayerns zu schreiben ist demnach in der Viel-zahl der genannten Gesamtdarstellungen ein noch uneingeloumlstes Vorhaben Insgesamt ist das neue Handbuch der bayerischen Geschichte gerade in den Mittelalterteilen die allein der Rezensent beurteilen kann eine vorzuumlgliche Neuerscheinung Dass diese nur durch privates Maumlzenatentum veroumlffentlicht werden konnte liest man mit Erstaunen vor allem aber mit Dankbarkeit

Christof Paulus

Horst Wolfgang BOumlHME Claus DOBIAT (Hg) Handbuch der hessischen Geschichte Grundlagen und Anfaumlnge hessischer Geschichte bis 900 (Veroumlffentlichungen der His-torischen Kommission fuumlr Hessen Bd 635) Marburg Historische Kommission fuumlr Hessen 2018 X 728 S Abb geb EUR 48ndash ISBN 978-3-942225-43-4

Als fuumlnfter Band des sbquoHandbuchs der hessischen Geschichtelsquo ist nun das Grundlagen- und Nachschlagewerk zu den fruumlhen geschichtlichen Epochen auf dem Boden dieses Bundeslandes erschienen ndash fast gar zum Abschluss des Gesamtwerks Von diesem liegen bereits Baumlnde uumlber Hessen im Deutschen Bund und Deutschen Kaiserreich (erschienen 2003) sowie uumlber Bevoumllkerung Wirtschaft und Staat respektive Bildung Kunst und

610 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 610

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Kultur in der Periode von 1806 bis 1945 vor (erschienen 2010) Ein weiterer im Jahr 2014 veroumlffentlichter Teil des Handbuchs betrifft die kleineren nicht-kirchlichen Terri- torialstaaten im Bereich des aktuellen Landes Hessen vom zentralen Mittelalter bis zum Ende des Heiligen Roumlmischen Reiches im Jahre 1806 aber die sbquoGrundlagen und Anfaumlnge hessischer Geschichte bis 900lsquo kommen erst jetzt in dem hier zu besprechenden Band 5 zur Darstellung Dieser auf den ersten Blick etwas verwirrende Umstand ist der Tatsache geschuldet dass die Planungen fuumlr das Handbuch bis in das Jahr 1986 zuruumlckreichen und dass die verantwortliche Historische Kommission fuumlr Hessen ihr urspruumlngliches Kon-zept fuumlr das Werk im Jahr 2010 insgesamt revidierte Seither wird bei der Erstellung des Handbuchs eine offenere Konzeption gefahren die nun eher auch thematisch orien-tierte Kapitel zulaumlsst Auch der vorliegende Band uumlber die Grundlagen und Anfaumlnge der hessischen Geschichte verlaumlsst hie und da die alten Maszliggaben fuumlr das Handbuch und folgt den neuen Maximen indem gelegentlich thematische Schwerpunkte gesetzt und neue Forschungstendenzen aufgegriffen werden Im Ganzen bleibt aber das Prinzip der chronologischen Gliederung im Sinn einer historischen Epochenabfolge gewahrt ebenso erfuumlllt der Band die Anforderungen der traditionellen Auffassung Handbuumlcher haumltten groszlige uumlbergreifende und alle Themenbereiche einer Epoche abdeckende Werke zu sein

Am Anfang der fuumlnf behandelten Zeitabschnitte und Themen steht Hessens Vorge-schichte die der Natur der Sache gemaumlszlig einen sehr langen Zeitraum von zig-Tausenden von Jahren umspannt und von den ersten Spuren menschlicher Existenz in der Steinzeit bis zur (vorroumlmischen) Eisenzeit reicht also etwa bis zum Jahr 50 vor unserer Zeitrech-nung Dieses Kapitel das sachgemaumlszlig ungefaumlhr ein Drittel des Buches einnimmt ndash durch-aus anders als bei vergleichbaren landesgeschichtlichen Handbuumlchern ndash und so seinem groszligen Sujet auch gerecht werden kann ist wiederum sinnvoll und leserfreundlich untergliedert in die Abschnitte bdquoFruumlhzeit ndash Jaumlger und Sammlerldquo bdquoFruumlhe baumluerliche Kul-turentwicklungldquo bdquoMetall veraumlndert die Gesellschaftldquo (Claus DOBIAT S 3) sowie bdquoNeue Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturenldquo in der bdquokeltischenldquo Eisenzeit (Frank VERSE S 157) Eingangs des vorgeschichtlichen Teils wird zudem eindringlich bdquoder Genese eines archaumlologisch-historischen Bewusstseins in Hessenldquo nachgespuumlrt ndash und auch das ist ein besonders hervorzuhebendes Moment gerade dieses Handbuchbandes das sich keineswegs von selbst versteht Andererseits vermisst man eine nennenswerte Einfuumlhrung in bdquoRaum und Umweltldquo zu Beginn wie sie beispielsweise das neue bayerische Handbuch bietet respektive einen naumlheren Einblick in bdquoNaturraumlumliche Grundlagen [hellip]ldquo des Lan-des wie sie auf den ersten Seiten des baden-wuumlrttembergischen Handbuchs thematisiert werden Zum urgeschichtlichen Teil gehoumlrt auszligerdem ein kurzer Abschnitt uumlber bdquoFruumlhe sbquoGermanenlsquo in Hessenldquo ndash ein besonders heikles Thema das der Autor anhand der neue-ren Forschungsergebnisse klug auf den wissenschaftlichen Sachstand reduziert darstellt unter anderem indem er aufzeigt wie die bdquoGermanentheseldquo mit der fruumlher verbreiteten ethnischen Deutung archaumlologischer Befunde zusammenhaumlngt (Michael MEYER S 247) Einen weiteren betraumlchtlichen Teil des Bandes wiederum fast ein Drittel seines Umfangs nimmt die roumlmische Epoche ein in der das Land unter anderem durch die Einrichtung des Limes gepraumlgt wurde (Margot KLEE S 271 hier sind fuumlr die abgekuumlrzten Literatur-angaben andere Konventionen gewaumlhlt worden als sonst) Und die roumlmische Periode wird noch einmal aufgegriffen im Kapitel bdquoHessen in den Jahrhunderten zwischen Spaumltantike und fruumlhem Mittelalterldquo (Horst Wolfgang Boumlhme S 471) Vor solch gewaltiger praumlhis-torisch-protohistorischer Kulisse nimmt sich der Beitrag bdquoHessen im fruumlhen Mittelalterldquo

611Gesamtdarstellungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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der bis zur Formierung des Deutschen Reichs an der Wende des neunten zum zehnten Jahrhundert fuumlhrt und den Band abschlieszligt eher bescheiden aus (Matthias HARDT S 635) Es folgt dann noch das Ortsregister (S 715)

Der fuumlnfte Band des hessischen Handbuchs (im Sinn der Chronologie eigentlich der erste Band) ist von einem durch umfassende Expertise ausgewiesenen Autorenteam mit groszliger Sorgfalt erstellt worden Das Werk mag insbesondere auch von der generellen Uumlberarbeitung des hessischen Handbuchkonzepts im Jahr 2010 profitiert haben als die Ausrichtung und Zielsetzung des Gesamtwerks grundsaumltzliche Veraumlnderungen erfuhren Jedenfalls gibt es wenig Grund die langwierigen und verwickelten Planungen und Ver-zoumlgerungen im Werdegang des Buches (S VI) zu beklagen sie haben sich in diesem Fall so scheint es mir durchaus positiv ausgewirkt Im Mittelpunkt des Buchs steht noch dem urspruumlnglichen Konzept folgend eine chronologisch aufgebaute Darstellung der Anfaumlnge hessischer Geschichte eben der vor- und fruumlhgeschichtlichen Perioden bdquoDie Erkenntnisse uumlber diese lange historische Phase beruhen fast ausschlieszliglich auf archaumlo-logischen Quellen Daher steht die Ereignisgeschichte zugunsten einer Kulturgeschichte zuruumlck die sich insbesondere mit dem Stand der sich permanent entwickelnden mate-riellen Zivilisation befasst und am Ende im buchstaumlblichen Sinne Worte findet und erste Schriftquellen hervorbringtldquo (Claus Dobiat)

Unter solchen Vorzeichen ergab sich die Notwendigkeit und andererseits auch die Chance die herkoumlmmlichen Handbuchkonventionen aufzuweichen und zu neuen Hori-zonten aufzubrechen Beispielsweise gewinnt das Buch ganz erheblich durch den Ent-schluss der Herausgeber ndash beides namhafte Archaumlologen und Kulturwissenschaftler ndash den praumlhistorischen und archaumlologischen Kapiteln wenigstens ein Mindestmaszlig an Kar-tenskizzen und Abbildungen beizugeben Das gilt fuumlr saumlmtliche Teile des Buchs bis auf den fuumlnften und letzten Abschnitt uumlber bdquoHessen im fruumlhen Mittelalterldquo Dafuumlr ist der Leser dankbar und dies mag dem Band der sich streckenweise geradezu spannend liest viel-leicht auch zu einem zahlreicheren Publikum mit Interesse an der fruumlhen Geschichte des Landes Hessen verhelfen Wenn es um die Benutzung und Erschlieszligung des gewichtigen Werks geht so ist zum Schluss ein kleiner Kritikpunkt doch noch anzubringen Das beigegebene Register scheint nur rudimentaumlr ausgebildet es ist ein bloszliges bdquoOrtsregisterldquo (S 715ndash728 von Aachen bis Zwesten) Ein solch knapper Index duumlrfte die Benutzung und Erschlieszligung dieses wichtigen Grundlagenwerks nicht gerade erleichtern Aber dies kann die Freude uumlber das Erscheinen des Bands der auch im Aumluszligeren ansprechend gestaltet und gediegen ausgestattet ist nicht wirklich truumlben

Alfons Zettler

Soumlnke LORENZ (dagger) Oliver AUGE Sigrid HIRBODIAN (Hg) Handbuch der Stiftskirchen in Baden-Wuumlrttemberg Ostfildern Thorbecke 2019 720 S Abb Kt geb EUR 58ndash ISBN 978-3-7995-1154-4

Ein langer Entstehungsweg ist erfolgreich zu Ende gegangen Das Stiftshandbuch fuumlr Baden-Wuumlrttemberg ist nach einer langen Zeit fertiggeworden Die Geschichte der Ent-stehung spiegelt die bedingte Planbarkeit von solchen Mammutunternehmen wider die nicht zuletzt durch den allzu fruumlhen Tod des sbquoAntreiberslsquo Prof Dr Soumlnke Lorenz gelitten hat So ist den beiden anderen Herausgebern sehr zu danken dass sie das Werk trotz aller Widrigkeiten zu Ende gebracht haben Die circa 140 Stiftsartikel die auf dem For-schungsstand um das Jahr 2000 uumlberwiegend rekurrieren zeigen die wissenschaftlichen Staumlrken wie auch Desiderata bei diesen geistlichen Institutionen Die groumlszligten Luumlcken

612 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 612

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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liegen hier wie haumlufig auch in der Klostergeschichtsschreibung in der Fruumlhen Neuzeit Handbuumlcher spiegeln damit den Forschungsstand ziemlich eindeutig wider

In diesem Band sind alle Kanonikerstifte im Raum des heutigen Bundeslandes Baden-Wuumlrttemberg vereinigt von Kanonikern und Kanonissen Saumlkular- und Regularkanoni-kerstiften (Augustinerchorfrauen bzw -herren Praumlmonstratenserinnen und Praumlmonstra- tensern) aber auch von Antonitern und Heiliggeist-Spitalorden Kamillianern und Pia- risten Damit sind viele geistliche Institutionen in das Blickfeld geraten die haumlufig nur in der zweiten oder dritten Reihe der Beobachtung stehen Die Umschreibung bdquoWas ist ein Stiftldquo bleibt eine groszlige Herausforderung sie unterliegt enormen Unterschieden in den jeweiligen Zeitlaumluften Stift und Kloster werden bei der Wortwahl manchmal iden-tisch behandelt der Stiftsbegriff ist demnach sbquoschillerndlsquo Allein schon deshalb ist dieser Band wichtig fuumlr die weitere Stiftskirchenforschung (im Anschluss an Peter Moraw Irene Crusius u a) weil er unterschiedliche lokale wie regionale Zugaumlnge liefert die in kom-pakter Form bisher allenfalls in Ansaumltzen vorliegen Die ausfuumlhrliche Einleitung von Soumlnke LORENZ uumlberarbeitet von Oliver AUGE fuumlhrt intensiv in den bisherigen For-schungsstand zur Stiftskirchenforschung ein Chronologisch gegliedert wird versucht die allgemeinen Entwicklungen mit den regionalen Besonderheiten in Beziehung zu setzen

Die beigefuumlgten Karten zeigen deren Lage im heutigen Bundesland die dabei genutz-ten aktuellen Grenzziehungen helfen nur zur genauen Bestimmung der geographischen Lage geben aber keine Auskunft zur Gruumlndungs- und Schlieszligungszeit bzw zu den fruuml-heren Bistums- und Herrschaftsgrenzen Somit fehlen ndash bis auf Konstanz und dem 1828 gegruumlndeten Rottenburg ndash alle Domkapitel bzw Bistuumlmer die allesamt auszligerhalb des neuen Bundeslandes liegen in den Jahrhunderten vor Saumlkularisation und Mediatisierung jedoch die Geschichte der Stiftskollegien mitbestimmten Eine spezifische bdquosuumldwestdeut-sche Stiftslandschaftldquo kann damit nicht inhaltlich begriffen werden da das historisch Konstituierende fehlt der Stiftslandschaftsbegriff kann daher hier nur metaphorisch benutzt werden auszliger der zufaumllligen Lage im Bundesland hat die Gruppe der Stifte keine Gemeinsamkeit Dieses Manko findet sich in vielen Handbuumlchern die Gruumlnde hierfuumlr sind bekannt So kann die Einbindung der einzelnen Stiftsgeschichten in die allgemeine wie die regionale Geschichte nur am Einzelbeispiel geklaumlrt und eventuell diskutiert wer-den Die einzelnen Artikel sind in ihrem Umfang ein Reflex auf bdquodie Verweildauer des Einzelobjektes in der Geschichteldquo (Soumlnke Lorenz) Eine regionale Sakrallandschaft laumlsst sich allenfalls auf der Reichenau mit seiner Abtei und den fuumlnf benachbarten Stiftskirchen dichter beschreiben In Konstanz gab es neben dem Domstift noch drei weitere Saumlkular-kanonikerstifte eines uumlberdauerte das 12 Jahrhundert nicht (St Mauritius) Die Zusam-menschau der Einzelinstitutionen ergeben veraumlnderte Einsichten So hat die evangelische Reichsstadt Ulm nicht nur mit dem vorgestellten Augustinerchorherrenstift St Michael zu den Wengen eine katholische Enklave sondern mit der Deutschordenskommende eine zweite

Das Schema der Artikel ist an Vorbildern wie der Germania Sacra Helvetia Sacra und anderen Klosterhandbuumlchern angelehnt und erlaubt daher eine gewisse Vergleich-barkeit Wichtig und fuumlr die Forschung weiterfuumlhrend sind die Hinweise auf Ansichten Plaumlne Archivalien und eine Auswahlbibliographie Die Patrozinienangaben geben Fin-gerzeige auf die Heiligenverehrungen und deren Verbreitungen Fuumlr die Sphragistik geist-licher Institutionen wertvoll sind die Angaben bzw Abbildungen von Siegeln Natuumlrlich waumlre eine Online-Version des Handbuches sehr wuumlnschenswert diese Forderung wird

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Konrad KRIMM Ludger SYREacute (Hg) Herrschaftswissen Bibliotheks- und Archivbauten im Alten Reich (Oberrheinische Studien Bd 37) Ostfildern Thorbecke 2018 272 S Abb geb EUR 34ndash ISBN 978-3-7995-7839-4

Obwohl die Geschichte des Archivierens und der Institution bdquoArchivldquo nun schon einige Zeit verstaumlrkt das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat und insbesondere die Kultur- und Medienwissenschaften das Thema entdeckt haben ist jenseits von Publikationen zu einzelnen Gebaumluden die zumeist anlaumlsslich von bdquoArchivjubilaumlenldquo oder Fertigstellungen von Neubauten entstanden sind wenig aus uumlbergreifender Sicht zur Unterbringung von Archiven publiziert worden Markus Friedrich hat in seinem kultur-wissenschaftlich ausgerichteten Buch uumlber die bdquoGeburt des Archivsldquo (Muumlnchen 2013) zu Recht auf die bdquobisher fehlende Architekturgeschichte der Archiveldquo hingewiesen (S 160) und ndash ohne die Absicht eine solche vorzulegen ndash fuumlr die Fruumlhe Neuzeit unter den Stichworten bdquoArchive als Raumstrukturenldquo bdquoArchivraumlume Schutzhuumlllen fuumlr fragile Beschreibstoffeldquo bdquodas wohlgeordnete Archiv als Raumidealldquo bdquoArchive als Teile von Gebaumludenldquo bdquoArchivmoumlbelldquo und bdquoArchivmobilitaumltldquo wichtige Beobachtungen angestellt (vgl ebd S 159ndash191)

Waumlhrend Friedrich mit vielen Beispielen aus der weiteren europaumlischen Perspektive spezifische Phaumlnomene der Unterbringung von Archiven beschrieben hat werden in dem hier zu besprechenden Band sowohl einzelne Bibliotheks- als auch Archivbauten im Alten Reich in den Blick genommen ebenfalls aus kulturwissenschaftlicher Sicht jedoch fokussiert auf einen bestimmten Aspekt wie schon der Obertitel anzeigt Denn Ziel dabei war bdquoauf die Zeichenhaftigkeit auch von Gebaumluden zu achtenldquo und bdquoBauprogramme zu sbquolesenlsquoldquo um die bdquoarchitektonische Huumllle von Buumlchern und Archivalienldquo als Repraumlsen- tanz von bdquoHerrschaft im weitesten Sinneldquo zu verstehen so Konrad KRIMM im Vorwort (vgl S 8)

Erwachsen ist die Publikation aus einer Tagung die 2015 gemeinsam von der Arbeits-gemeinschaft fuumlr geschichtliche Landeskunde am Oberrhein und der Badischen Biblio-theksgesellschaft im Schloss Altdorf veranstaltet wurde Vereint sind darin die folgenden elf Aufsaumltze von denen sieben auf Vortraumlge in Altdorf zuruumlckgehen und vier zusaumltzlich aufgenommen wurden Erich FRANZ Der Altdorfer Bibliotheksbau und das Werk Pierre Michel drsquoIxnards Julian HANSCHKE Archiv- und Schreibraumlume Kunstkammern und Bibliotheken auf dem Heidelberger Schloss Ludger SYREacute Kurpfaumllzische Pracht und badische Bescheidenheit Die Hofbibliotheken in Mannheim und Karlsruhe Hans-Otto MUumlHLEISEN Voneinander gelernt Ein vergleichender Blick auf die Bildprogramme der Klosterbibliotheken von Wiblingen St Peter auf dem Schwarzwald Bad Schussenried und ein Exkurs zu Weissenau Wolfgang WIESE bdquoWissen ist Machtldquo ndash Buumlcherschraumlnke als Herrschaftssymbole Konrad Krimm Klosterarchive Versuch einer Typologie Lea DIRKS Der Archivraum im Schloss Weikersheim Andreas WILTS bdquoEin solid- und von anderen abgesondertes Gebaumluldquo Das Fuumlrstlich Fuumlrstenbergische Archiv in Donaueschin-gen als wegweisender Archivbau des 18 Jahrhunderts Rouven PONS Sicherheit in schwerer Zeit Der Bau des Dillenburger Archivs 1764ndash1766 Joachim KEMPER bdquoder stat briefe mit laden zu ordenenldquo Beispiele reichsstaumldtischer Archivbauten und Archivein-richtungen Walter LIEHNER Pfennigturm am Rathaus und Stadtkanzlei Zwei Archiv-bauten aus reichsstaumldtischer Zeit in Uumlberlingen

Der uumlbergreifende und damit auch vergleichende Blick auf die beiden verwandten und historisch im Einzelfall sogar oft unmittelbar verbundenen Sphaumlren der Bibliotheken und Archive hat sich ndash wie der Band anschaulich zeigt ndash als uumlberaus tragfaumlhig erwiesen Denn

628 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

bei allen anderen entsprechenden Handbuumlchern ebenfalls immer wieder erhoben Dabei soll und darf man nicht vergessen dass der Informationsreichtum der in einem solchen stattlichen Band geboten wird unschaumltzbar groszlig ist und es soll auch noch Benutzerinnen bzw Benutzer geben die gerne ein Buch zur Hand nehmen und sich von scheinbar Nebensaumlchlichen inspirieren lassen Diese vielen Einzelinformationen erfolgreich zusammenbekommen zu haben vor dieser Leistung der Autorinnen und Autoren bzw Herausgeber sollte jede Leserin jeder Leser den Hut ziehen Damit waumlren wir wieder am Beginn der kurzen Besprechung Nicht nur dieser Band macht deutlich wie unendlich muumlhsam Grundlagenforschung und deren Koordinierung sein kann aber auch wie not-wendig und kostbar

Helmut Flachenecker

Sigrid HIRBODIAN Rolf KIESSLING Edwin Ernst WEBER (Hg) Herrschaft Markt und Umwelt Wirtschaft in Oberschwaben 1300 bis 1600 (Oberschwaben Forschungen zu Landschaft Geschichte und Kultur Bd 3) Stuttgart Kohlhammer 2019 384 S Abb geb EUR 29ndash ISBN 978-3-17-037333-4

Als Ertrag einer im Oktober 2015 in Bad Waldsee veranstalteten Tagung legt die Ge-sellschaft Oberschwaben fuumlr Geschichte und Kultur ein sowohl physisch als auch inhalt-lich gewichtiges uumlberdies musterguumlltig ausgestattetes Buch vor dessen redaktionelle Betreuung in den bewaumlhrten Haumlnden des Sigmaringer Kreisarchivars und Kulturreferen-ten Edwin Ernst Weber lag Unter dem Titel Umwelt und Bevoumllkerunglsquo geht es im ersten Themenblock mit Beitraumlgen von Josef MERKT Peter RUumlCKERT und Wolfgang SCHEFF-KNECHT gewissermaszligen um die natur- und kulturlandschaftlichen Voraussetzungen von Leben und Wirken in Oberschwaben insbesondere um Schwankungen im Klima und ihre Folgen fuumlr den Menschen und seine Gesundheit fuumlr die Konjunkturen der Wirtschaft fuumlr die Siedlungsentwicklung und fuumlr das Erscheinungsbild der Landschaft insgesamt Die folgenden Beitraumlge widmen sich den die derart aufgeschlagene Buumlhne bespielenden Akteuren aus Geistlichkeit Adel Stadtbuumlrgertum Bauerntum und Judenschaft Katherin BRUN stellt das Kloster Salem als bedeutende Wirtschaftsmacht im Bodenseeraum vor Edwin Ernst Weber und Manfred WASSNER tragen am Beispiel der Grafen von Zimmern und der ritteradligen Speth von Zwiefalten zur Revision herkoumlmmlicher Vorstellungen von adligem Wirtschaften und seinen Bedingungen bei Stefan SONDEREGGER thematisiert den Austausch zwischen einer stark spezialisierten Landwirtschaft in der Ostschweiz und dem hauptsaumlchlich Getreide produzierenden Ackerbau in Oberschwaben Martin ZUumlRN skizziert am Exempel der Gemeinde Unlingen in der Herrschaft Bussen baumluerliche Hand-lungsfelder zwischen Familie Herrschaft Gemeinde und Markt im 16 und 17 Jahr- hundert und Stefan LANG schildert die Voraussetzungen fuumlr juumldisches Wirtschafts- und Sozialleben in Oberschwaben das erst seit dem 16 Jahrhundert von einer groumlszligeren Rechtssicherheit profitierte Der dritte Themenbereich gilt mit fuumlnf Aufsaumltzen Maumlrkten und Gewerbenlsquo Anke SCZESNY fragt hier nach kulturgeschichtlichen Aspekten des Struk-turwandels in der oberschwaumlbischen Textillandschaft waumlhrend des 15 und 16 Jahrhun-derts Franz IRSIGLER handelt vor dem Hintergrund eigener einschlaumlgiger Forschungen im mittel- und niederrheinischen Raum uumlber Getreidemaumlrkte und Getreidepreise in Ober-schwaben Anna-Maria GRILLMAIER uumlber oberschwaumlbischen Ochsenimport und Fleisch-versorgung dazu passen die folgenden Beobachtungen Michael BARCZYKS zu Essen und Trinken im mittelalterlichen Oberschwaben und schlieszliglich betrachtet Rolf KIESSLING den oberschwaumlbischen Wirtschaftsraum der Vormoderne im uumlberregionalen Kontext

614 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 614

Wie wurden sie empfangen Wie war die badische Bevoumllkerung auf die Zuwanderer ein-gestellt und welche Auswirkungen hatte die Tatsache dass Deutschland es sich jahrzehn-telang mit seiner Lebensluumlge bequem gemacht hatte kein Einwanderungsland zu sein Und lief es demgegenuumlber auf der lokalen Ebene nicht ganz anders wo kluge und prag-matische Kommunalpolitiker schon viel fruumlher verstanden hatten dass Deutschland de facto laumlngst schon ein Einwanderungsland war und dass Integration vorwiegend auf der lokalen Ebene geschieht Fragen gaumlbe es genug Antworten findet man in diesem Buch nur wenige

Was nun folgt sind mehrere Beitraumlge zu den Themen Heimat und Heimatbewusstsein die den Leser jedoch immer wieder vor die Frage stellen ob er nicht in die Achtzigerjahre zuruumlckversetzt wurde Saumltze wie bdquoBodenstaumlndige Heimat ist nicht nur Bauernland son-dern auch die Stadt der Buumlrgerldquo (S 107) Elogen auf den badischen Staatspraumlsidenten Leo Wohleb Seitenhiebe besser Breitseiten auf die bdquoStuttgarter Buumlrokratieldquo eine Aus-einandersetzung mit der Suumldweststaatgruumlndung die einen an die Debatten zu Beginn der 1950er Jahre erinnert und nicht zuletzt ein politisch gepraumlgter Kampfjargon sorgen fuumlr Irritationen Die bdquoTraumlger des ideologisch progressiven Kulturtypusldquo der 1970er Jahre sind demnach diejenigen die bdquoheute von innen und ganz obenldquo gruumlszligen und bdquodie oumlffentliche Meinungldquo sowie bdquodie Grenzen sbquopolitischer Korrektheitlsquo bestimmenldquo (S 111) Zur Erklauml-rung Gemeint sind Aktivisten aus der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung die sich in den 1970er Jahren gegen das Kernkraftwerk in Wyhl wehrten und ihr eigenes Heimat-verstaumlndnis hatten das aber so der Autor Paul-Ludwig WEINACHT keine bdquobleibende Gegenwartsform von Heimat am Kaiserstuhlldquo geworden sei Belege fuumlr solche pauscha-len Aussagen sucht man vergebens

Es folgen Beitraumlge von Jean-Marie WOEHRLING und Gerd F HEPP zum Heimatbewusst-sein im Elsass und zu den kulturellen Beziehungen zwischen Baden und dem Elsass die interessante Aspekte bieten bevor Robert MUumlRB aus seiner persoumlnlichen Perspektive nochmals in die Gruumlndungsgeschichte Baden-Wuumlrttembergs fuumlhrt Hier liest man vom bdquoberechtigten Unbehagen in weiten Teilen der badischen Bevoumllkerungldquo gegen den Stutt-garter Zentralismus vom bdquozentralistisch orientierten Verwaltungsdenken Alt-Wuumlrttem-bergsldquo das in Stuttgart Tradition habe und man lernt der Stuttgarter Landtag geriere sich bdquowie der Gemeinderat von Stuttgartldquo (S 145) Statt mit einer Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff endet das Buch also mit Verbandspolitik

Kein Zweifel Heimat ist wieder bdquoinldquo Lange Zeit war sie fuumlr viele ein toxischer Be-griff entweder altmodisch und hinterwaumlldlerisch konnotiert oder aufgrund der deutschen Geschichte belastet und nicht salonfaumlhig Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend veraumlndert Die Gruumlnde sind vielfaumlltig und hier nicht im Einzelnen zu erlaumlutern Sie reichen von der Zuwanderung uumlber die Globalisierung bis hin zur Digitalisierung Vor diesem Hintergrund gaumlbe es Dutzende interessanter Fragen wie mit dem schillernden und doch wichtigen Begriff der Heimat umzugehen ist in Staumldten in denen fast die Haumllfte der Be-voumllkerung einen sogenannten Migrationshintergrund hat genauso wie auf dem vermeint-lichen bdquoLandldquo das ja von ebendiesen Entwicklungen keinesfalls abgeschnitten ist Wie sieht ein offener Heimatbegriff aus der nicht ausschlieszligt sondern integriert Auf welchen Wertvorstellungen basiert er Und wie ist er zu fuumlllen damit er nicht von Populisten und Rechtsextremen missbraucht werden kann Antworten auf diese Fragen die gerade auch im regionalen Kontext von aktuellem Interesse sind findet man in diesem Band nur wenige

Reinhold Weber

627Gesamtdarstellungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Finanzbesitz stuumltzen konnte Diese beiden gut recherchierten Beitraumlge werden ergaumlnzt von einer Edition der Stiftsstatuten von 1721

Die juumlngere Geschichte des Damenstifts bis in die Gegenwart wird von Heinz Maag und Siegfried Rupp nachgezeichnet Der Fokus liegt dabei auf dem Grundbesitz vor-nehmlich in Groumlberndorf urspruumlnglich ein Hofgut heute als Golfplatz verpachtet Dieser Beitrag ist wie auch die vorherigen mit zumeist farbigem Bildmaterial reichhaltig illustriert Eine Portraumltserie der Aumlbtissinnen sowie Listen der Stiftsdamen Familienrats-mitglieder und Stiftsverwalter runden die Darstellung ab

Harald Stockert

Gerd F HEPP Paul-Ludwig WEINACHT (Hg) Heimat in Bewegung Heimatbewusstsein in Baden im Zeitalter von Mobilitaumlt und Migration (Schriftenreihe des Landesvereins Badische Heimat Bd 14) Freiburg i Br Berlin Rombach 2018 178 S Abb Kt Brosch EUR 24ndash ISBN 978-3-7930-5166-4

Es ist wie so oft bei Sammelbaumlnden Die einzelnen Beitraumlge wirken irgendwie zusam-mengewuumlrfelt und man sucht den roten Faden Der Band bdquoHeimat in Bewegungldquo geht auf eine Vortragsreihe aus dem Jahr 2017 zuruumlck die im Rahmen der Heimattage Baden-Wuumlrttemberg in Karlsruhe stattfand Der Titel des Bandes verspricht eine Art Migra- tionsgeschichte des badischen Landesteils Das waumlre zu begruumlszligen denn vergleichbare Arbeiten gibt es nicht Der Titel verspricht aber auch eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff bzw dem Heimatbewusstsein in Baden arbeitet hierbei aber ohne theoretische Grundlage sieht man von dem einleitenden Beitrag von Arnold STADLER zum Begriff Heimat ab der aber eher eine persoumlnliche Annaumlherung an das Thema ist Letztendlich bietet der Band ndash man muss es leider sagen ndash beides nicht Manche der Bei-traumlge sind dennoch lesenswert

Thomas SCHNABEL bietet zunaumlchst einen kursorischen Uumlberblick uumlber die badische Auswanderungsgeschichte ndash ein Parforceritt uumlber rund 200 Jahre (wohlgemerkt auf elf Seiten) der das Thema lediglich grob umreiszligt Profunder erweist sich der Beitrag von Alexandra Fies die die Auswanderung aus Karlsruhe im spaumlten 19 Jahrhundert darstellt und dabei auf ihre eigenen Forschungen zuruumlckgreifen kann Der Beitrag ist gut strukturiert datengesaumlttigt und auch methodisch uumlberzeugend Der Band springt nun um rund 100 Jahre weiter zur Integration der Fluumlchtlinge und Vertriebenen in Karlsruhe nach 1945 mit einem Beitrag von Hans-Juumlrgen VOGT der den Begriff des bdquoIntegrationswundersldquo thematisiert aber letztlich kaum problematisiert Zum Thema liegen zahlreiche neue Forschungserkenntnisse vor deren Uumlberpruumlfung an den Karls- ruher Gegebenheiten sich angeboten haumltte Alfred EISFELD behandelt dann die bdquoalte und neue Heimat der Russlanddeutschenldquo und beginnt mit der Auswanderung von Badenern im Zuge der Kolonisationspolitik der Zarin Katharina II die im vorhergehen-den Beitrag von Thomas Schnabel noch bdquoeine unbedeutende Rolleldquo fuumlr die Auswande-rung im Suumldwesten gespielt haben soll Spaumltestens nun vermisst der Leser besagten roten Faden

Max MATTER ein ausgewiesener Kenner der Materie befasst sich in seinem Beitrag mit der Zuwanderung von Tuumlrkeistaumlmmigen in der sogenannten Wirtschaftswunderzeit Ein lesenswerter Beitrag aber unter dem Aspekt einer badischen Migrationsgeschichte fragt man sich wo all die anderen Nationalitaumlten und all die anderen Migrantengruppen bleiben die ebenfalls in den letzten rund siebzig Jahren ins Badische eingewandert sind

626 Buchbesprechungen

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wobei es zu differenzieren gilt zwischen dem oumlstlichen und suumldlichen Oberschwaben in dem das Textilgewerbe eine groumlszligere Rolle spielte und dem Westen der Region in dem Getreideanbau und Weinkulturen dominierten In einem Anhang gibt fuumlr den eiligen Leser Edwin Ernst Weber auch noch eine Zusammenfassung und Einordnung des Gebotenen Ein Register der Orte und Personen erschlieszligt das facettenreiche Gebinde dem gezielten Nutzerzugriff Dass in so gut wie allen Beitraumlgen dieses Buchs die traditionelle Perioden-grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit unberuumlcksichtigt bleibt kommt dem Ganzen sehr zugute und ist eigentlich ein Gebot einer wohlverstandenen und zeitgemaumlszligen Lan-desgeschichte Und wieder einmal zeigt sich dass bei der Gesellschaft Oberschwaben fuumlr Geschichte und Kultur auf Qualitaumlt Verlass ist

Kurt Andermann

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Marie-Louise VON PLESSEN (Hg) Der Rhein Eine europaumlische Flussbiografie Begleitbuch zur Ausstel-lung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn 20162017 Muumlnchen London New York Prestel 2016 333 S Abb geb EUR 3995 ISBN 978-3-7913-8308-8

Urspruumlnglich war die Ausstellung die der Katalog dokumentiert 201213 fuumlr das Museacutee de lrsquoHistoire de France in Paris geplant kam hier aber nicht zustande Gezeigt wurde sie dann 201617 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Bonn Diese europaumlische Flussbiografie umspannt einen Rahmen von 2000 Jahren der im Zen-trum von Europa liegende 1250 Kilometer lange Fluss von denen 850 Kilometer von Basel bis zur Nordsee schiffbar sind durchflieszligt die wichtigsten Ballungsraumlume Europas und spielte eine zentrale Rolle bei der europaumlischen Integration

Ein in Straszligburg gefundener Weihe-Altar aus der Zeit um 135 n Chr ist der Flussgott-heit Rheno Patri gewidmet dem Vater Rhein In antiker Zeit war der Fluss die Lebens-ader der Nordwestprovinzen des roumlmischen Imperiums das hier im fruumlhen 5 Jahrhundert zusammenbrach Aus roumlmischen Civitates wurden die Bischofssitze der sich vom 3 bis 5 Jahrhundert entwickelnden rheinischen Bistuumlmer der im Spaumltmittelalter so genannten Pfaffengasse Zusammen mit den Heidelberger Pfalzgrafen lagen mit Koumlln Mainz und Trier vier Kurfuumlrstensitze in der Rheinregion Der Speyerer Dom war ein Herrschafts-zentrum der Salier der Kurverein von Rhense legte 1338 die Modalitaumlten der Wahl des deutschen Koumlnigs fest und der Auftritt von Martin Luther beim Reichstag zu Worms war eines der wichtigsten Ereignisse der Reformation in Deutschland In den Staumldten am Rhein entwickelten sich fruumlh juumldische Gemeinden

Als Handelsweg brachte der Rhein den Staumldten mit ihrem Stapelrecht groszligen Reich-tum Hier wurden Luxuswaren transportiert aber auch der in groszliger Menge angebaute Wein Der sich entwickelnde Buchdruck spielte eine groszlige Rolle in Basel Straszligburg und Koumlln bedeutende Humanisten wie Erasmus von Rotterdam und Sebastian Brant wirkten hier und es entstand die neben Oberitalien bedeutendste Bildungslandschaft der Zeit mit etlichen Universitaumlten Das selbstbewusste wohlhabende Buumlrgertum mit seinem Abbildungs- und Repraumlsentationsbeduumlrfnis fuumlhrte zu einer eigenen Kultur- und Kunst-landschaft

Ab dem 17 Jahrhundert wurde der Rhein zum Kriegsschauplatz zum sbquoKriegs-Thea-trumlsquo Nach dem Dreiszligigjaumlhrigen Krieg mit dessen Ende der Fluss zur Grenze zwischen Deutschland und Frankreich wurde litten die Regionen am Rhein im verheerenden Pfaumll-zischen Erbfolgekrieg unter der franzoumlsischen Reunionspolitik und auch die erste Haumllfte

615Gesamtdarstellungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Mertens vertraut seit Studientagen widmete sich einem aus dem engen Austausch mit diesem gewonnenen Thema naumlmlich der Rolle der Bibel bei der Legitimation von Gewalt im Mittelalter naumlherhin beim Beginn der Kreuzzuumlge und aumlhnlich zur Abwehr der sbquoTuumlr-kengefahrrsquo (S 51ndash59) Als einer seiner Schuumller stellte sich Markus MUumlLLER mit bdquoDer lothringische Landesdiskurs im Zeitalter des Humanismusldquo (S 61ndash75) geistesverwandt thematisch in die Nachfolge von Dieter Mertens indem er das Landesmodell der Histo-riographie am lothringischen Herzogshof wo ein Zusammenhang zwischen Land und Dynastie schwer herzustellen war kundig beschrieb Diese kleine aber feine Publikation dient neben dem erklaumlrten Ziel der Erinnerungspflege noch einem weiteren Auch in spauml-teren Jahren wird man hier dokumentiert finden wie gediegen Geschichtswissenschaft an der Schwelle zum 21 Jahrhundert betrieben und in welcher Weise und auf welch hohem intellektuellen und sprachlichen Niveau ein prominenter Vertreter dieses Fachs nach seinem Tod deswegen gewuumlrdigt wurde

Volker Roumldel

Konrad KRIMM Heinz MAAG (dagger) Siegfried RUPP 300 Jahre Kraichgauer Adeliges Damenstift [Karlsruhe] Selbstverlag des Kraichgauer Adeligen Damenstifts 2018 124 S Abb Brosch EUR 20ndash ISBN 978-3-00-060148-4

Das 300 Jubilaumlum im Jahr 2018 bot dem Kraichgauer Adeligen Damenstift eine will-kommene Gelegenheit in seine wechselvolle Geschichte zuruumlckzublicken Aus diesem Anlass veroumlffentlichte es eine uumlberarbeitete und erweiterte Neuauflage der Festschrift von 1993 wie damals vorrangig aus der Feder von Konrad KRIMM sowie dem aktuellen Stiftsverwalter Siegfried RUPP dem Nachfolger des seinerzeit mitbeteiligten inzwischen verstorbenen Heinz MAAG

Ausgehend von einer intensiven Analyse des Wappens des Damenstifts beschreibt Konrad Krimm die Entstehungsgeschichte sowie die rechtliche Verfasstheit dieser Ein-richtung des Kraichgauer Adels Sie geht zuruumlck auf die Stiftung Amalia Elisabeths von Mentzingen und verfolgte den Zweck unverheirateten evangelischen Frauen aus dem Ritterkanton Kraichgau ein standesgemaumlszliges wenn auch zuruumlckgezogenes Leben in einem weltlichen Stift zu ermoumlglichen Damenstifte dieser Art bildeten keine Seltenheit im Alten Reich meist mit groszliger Tradition ausgestattet Und so war es nur folgerichtig dass sich die Statuten des Kraichgauer Stifts aumlltere Vorbilder heranzogen Dabei orientierte man sich am Damenstift Oberstenfeld das zum Kanton Kocher gehoumlrte und sich 1710 neue Statuten gegeben hatte Diese Statuten wurden nun fuumlr das Kraichgauer Pendant weiter-entwickelt und an dessen spezifische Situation angepasst Letztere findet sich bereits im Stiftswappen dokumentiert wie Krimm detailliert herausarbeitet Denn das neue Kraich-gauer Damenstift befand sich in einer Gemengelage unterschiedlicher Kraumlfte Ein ein-geschriebenes Reichswappen weist auf die Reichsunmittelbarkeit des Stifts hin das den Rang eines Reichsfreiherrn innehatte Andererseits fuumlhren gold-rote Farben die politische Orientierung auf die Markgrafschaft Baden(-Durlach) vor Augen die nicht nur die Schutzmacht des Stifts sein sondern es auch in seinem Territorium beherbergen sollte Denn als Standort wurde 1720 die ehemalige badische Residenzstadt Pforzheim ausge-waumlhlt Baden blieb auch in spaumlteren Jahrhunderten die Heimat des Kraichgauer Damen-stifts Ihre jeweiligen Residenzen stellt Krimm in einem zweiten Beitrag vor Auf Pforzheim folgten im 19 Jahrhundert mehrere Unterkuumlnfte in Karlsruhe ehe 1871 der feste Sitz aufgegeben wurde und sich das Stift gewissermaszligen entmaterialisierte d h in den Zustand eines reinen Versorgungsnetzwerks uumlberging das sich auf Grund- und

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des 18 Jahrhunderts war durch haumlufige Uumlbergriffe franzoumlsischer Truppen auf das rechts-rheinische Gebiet gekennzeichnet Waumlhrend bis dahin auf beiden Seiten der Bau von Festungen dominierte entwickelten sich in der zweiten Haumllfte des 18 Jahrhunderts in den Rheinresidenzen auch Gaumlrten und Lustschloumlsser

Das naumlchste einschneidende Ereignis war das Ausgreifen Frankreichs im Zuge der Revolutionskriege Bis dahin saumlumten 150 Herrschaften beide Seiten des Stroms Die napoleonische Zeit brachte den linksrheinischen deutschen Territorien eine Fremdherr-schaft aber auch ein Ende des Feudalismus und eine uumlberfaumlllige Modernisierung Als Folge der Befreiungskriege entwickelte sich ein deutscher Nationalismus der sich nach der Reichsgruumlndung verstaumlrkte Frankreich hatte dagegen schon in der Rheinkrise 184041 erneut die Rheingrenze gefordert Die deutsche Einigung und der Krieg 187071 ver-schaumlrften die nationalen Gegensaumltze

Eine tatsaumlchliche Grenzziehung des seinen Lauf haumlufig veraumlndernden Stroms machte uumlberhaupt erst die sich von 1817 bis 1876 erstreckende Rheinbegradigung moumlglich die Johann Gottfried Tulla begonnen hat und die den Rhein in ein maximal 250 Meter breites Bett zwaumlngte ndash mit erheblichen oumlkologischen Folgen 1815 wurde die sbquoZentralkommission fuumlr die Rheinschiffahrtlsquo ins Leben gerufen die erste und aumllteste internationale Kommis-sion aller sieben Uferstaaten 1831 legte die Mainzer Akte die Zollfreiheit fest bis 1789 hatte es allein von Straszligburg bis zur niederlaumlndischen Grenze 32 Zollstationen gegeben

Das 19 Jahrhundert brachte einen wirtschaftlichen Aufschwung am Rhein und den beginnenden Tourismus daneben war der Fluss immer auch kuumlnstlerisch eine bedeutende Inspirationsquelle Neu entdeckt wurde der Rhein in der Romantik Sie idealisierte Natur und Landschaft wies nun aber auch den Kriegsruinen des 17 und 18 Jahrhunderts einen aumlsthetischen Wert zu was dazu beitrug alte Antagonismen zu uumlberwinden Allerdings entdeckte auch die Hohenzollern-Monarchie nach 1815 den Rhein fuumlr sich was ab den 1820er Jahren auch zum Wiederaufbau von zerstoumlrten Rheinburgen fuumlhrte

Mit dem Waffenstillstand Ende 1918 besetzten unter anderem franzoumlsische Truppen die linksrheinischen Gebiete und Frankreich versuchte sie durch Foumlrderung des Separa-tismus oder durch kulturelle Maszlignahmen erfolglos fuumlr sich zu gewinnen Nach dem Zwei-ten Weltkrieg verschob sich der politische Schwerpunkt Deutschlands vom preuszligischen Berlin an den Rhein zur Bonner Republik Der Fluss verband die sechs Gruumlndungslaumlnder der heutigen Europaumlischen Union und einer der Vaumlter der europaumlischen Einigung der franzoumlsische Auszligenminister Robert Schuman hatte in Bonn studiert Mit dem Namen Eucor ist heute die grenzuumlberschreitende Forschung und Lehre der oberrheinischen Uni-versitaumlten verbunden und verschiedene Euregionen stehen fuumlr eine laumlnderuumlbergreifende Zusammenarbeit in kulturellen und anderen Bereichen am Rhein

Der reich illustrierte Ausstellungskatalog und seine etwa 20 Aufsaumltze unterschiedlichen Umfangs die jeweils von einer Zeittafel eingeleitet und um Zitate von Dichtern Philo-sophen und Politikern sowie um Beitraumlge von Kuumlnstlern ergaumlnzt werden beleuchten ganz unterschiedliche Facetten dieses fuumlr Westeuropa wichtigsten Flusses In der Antike und im Mittelalter hatte er groszlige politische kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung zur Neuzeit hin wurde er zudem jedoch mehr und mehr zur trennenden Grenze zwischen Deutschland und Frankreich Dies konnte erst mit der europaumlischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg uumlberwunden werden Hier spielte die bis 1990 bestehende Bonner Republik eine groszlige Rolle die der Katalog auch entsprechend wuumlrdigt

Armin Schlechter

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Die vorliegende Sammlung seiner Aufsaumltze zur Reichs- und Reformationsgeschichte vornehmlich des 16 Jahrhunderts die der Verfasser selbst verantwortete spiegeln also nur einen Ausschnitt allerdings einen houmlchst bedeutsamen Ausschnitt seines Wirkens als Historiker und Universitaumltslehrer Sie lassen sich unterschiedlichen Themenkreisen zu-ordnen allen voran der Interferenz von Religion und Politik in Reich Reichskirche und Territorium den Stellungnahmen zentraler Akteure zu Schluumlsselfragen des reformatori-schen Geschehens (Johannes Brenz Martin Bucer Johannes Bugenhagen Martin Luther Philipp Melanchthon und Thomas Muumlntzer ndash thematisch reicht das Spektrum von ihrer Taumltigkeit als politische Berater bis zu ihren Meinungsaumluszligerungen zu Bauernkrieg Ob-rigkeit und Widerstandsrecht) sowie mehreren Aufsaumltzen die sich mit den Taumlufern und den Juden als religioumlse Minderheiten befassen Eigens aufmerksam gemacht sei uumlberdies auf das gerade mehr als aktuelle Problem des Friedensschlieszligens dem der Verfasser in zwei Aufsaumltzen im zeitlichen Laumlngsschnitt nachgeht Zwischen 1976 und 2012 erstmals veroumlffentlicht haben die Beitraumlge unser Bild des 16 Jahrhunderts teils grundsaumltzlich teils im Detail gepraumlgt Noch heute mehr als lesenswert geben sie einen fundierten Ein-blick in das Werk eines bedeutenden Historikers Sie zeugen vom erfolgreichen Bemuumlhen Reichs- und Landesgeschichte konstruktiv auf einander zu beziehen dem hohen Stellen-wert den Wolgast der Geschichte der religioumlsen und politischen Ideen einraumlumt und von seinem Anliegen dem weiten (religioumlsen) Kosmos des 16 Jahrhunderts gerecht zu wer-den Es ist daher den Herausgebern der Reihe Jus Ecclesiasticum und dem Tuumlbinger Ver-lag Mohr Siebeck zu danken diese Texte bequem zugaumlnglich gemacht zu haben Moumlgen sie weiterhin inspirierend wirken

Norbert Haag

Juumlrgen DENDORFER Birgit STUDT (Hg) Zum Gedenken an Dieter Mertens Ansprachen und Vortraumlge beim Trauergottesdienst in der Liebfrauenkirche zu Guumlnterstal (17 Ok-tober 2014) und der Akademischen Gedenkfeier an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt (13 November 2015) (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelalters Bd 2) Ost-fildern Thorbecke 2019 75 S Brosch EUR 10ndash ISBN 978-3-7995-8551-4

Historiker wissen um die Zeitlichkeit jedes Individuums und wenn fuumlnf Jahre nach dem Tod eines so angesehenen und verdienten Hochschullehrers wie Dieter Mertens (9 1 1940 ndash 4 10 2014) die Nachfolgerin auf seinem Freiburger Lehrstuhl und der Inha-ber des Lehrstuhls fuumlr mittelalterliche Geschichte diese wertvolle Gedenkschrift heraus-gaben hatte das seine guten Gruumlnde Es war ndash so das Vorwort ndash nicht beabsichtigt etwa die zahlreichen Nachrufe auf Dieter Mertens zusammenzufuumlhren bzw aufzulisten (vgl den in ZGO 163 [2015] S 377ndash380) sondern es sollte zu seiner Wuumlrdigung Vorgetrage-nes festgeschrieben werden um die Erinnerung an ihn lebendig zu halten Allen die Die-ter Mertens kannten und schaumltzten tut es gut jetzt uumlber diese Texte verfuumlgen zu koumlnnen im Trauergottesdienst sprachen die Professoren Thomas ZOTZ fuumlr das Historische Semi-nar der Universitaumlt Freiburg Wolfgang ZIMMERMANN fuumlr die Kommission fuumlr geschicht-liche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg und Johannes HELMRATHBerlin als Freund und Fachkollege bei der Akademischen Gedenkfeier Hans-Helmuth GANDER als Dekan Joumlrn LEONHARD als Direktor des Historischen Seminars Birgit STUDT als Sprecherin des Mittelalterzentrums und Anton SCHINDLING (dagger) als Vorsitzender der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde bevor wiederum Thomas ZOTZ ein Wegbegleiter uumlber Jahr-zehnte den Verstorbenen als Kollegen und Forscher wuumlrdigte Es versteht sich dass auch die beiden wissenschaftlichen Vortraumlge hier publiziert wurden Gerd ALTHOFF mit Dieter

624 Buchbesprechungen

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Ruth CONRAD Volker Henning DRECOLL Sigrid HIRBODIAN (Hg) Saumlkulare Prozessio-nen Zur religioumlsen Grundierung von Umzuumlgen Einzuumlgen und Aufmaumlrschen (Colloquia historica et theologica Bd 6) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2019 XV 428 S geb EUR 129ndash ISBN 978-3-16-155986-0 Bereits der Klappentext verraumlt dass es in diesem Tagungsband viel um Adjektive

gehen wird religioumls und sakral saumlkular und profan politisch und sozial mehrdimensional und soziokulturell All diese Adjektive beziehen sich auf die Definition von Prozessionen bzw ihrer Funktion ndash der Herstellung Darstellung und Performanz von Werten und Ord-nungen Der Band verfolgt die religioumls-kulturellen Weiterentwicklungen von Prozessio-nen und deren rituelle Dynamisierungsprozesse in (West-)Europa von der Antike bis zur Gegenwart und fokussiert dabei den urbanen Raum in dem Religion Gesellschaft und Politik vielfach verschraumlnkt sind Die Beitraumlge analysieren Saumlkularisierungsprozesse von religioumlsen Riten ebenso wie (zunaumlchst) saumlkular begruumlndete Prozessionen in ihrer religi-oumlsen Performanz Der chronologischen Anordnung der Beitraumlge entspricht eine vierfache Schwerpunktbildung ndash Zeitabschnitte naumlmlich in denen besondere rituelle Dynamisie-rungen von saumlkularen Prozessionen zu beobachten sind (I) Spaumltantike (II) Spaumltmittel-alter und Reformation (III) die Zeit nach der Franzoumlsischen Revolution und (IV) die Gegenwart

Einer offensichtlich fuumlr die Antike typischen saumlkularen Prozession dem Triumphzug der pompa triumphalis widmen sich die ersten drei Autoren Volker Henning DRECOLL betrachtet den Einzug Konstantins in Rom 312 als Umzug sekundaumlrer Religiositaumlt sogar mit bewusst unreligioumlsem bzw ambiguem Charakter der die Offenheit des Kaisers gegenuumlber Christentum wie Heidentum demonstrieren soll Auch der Einzug des sieg-reichen Feldherrn Belisar in Byzanz 534 scheint zunaumlchst ndash gerade im Vergleich zu einem typischen kaiserlichen adventus ndash ohne religioumlse Bezuumlge und ohne Nutzung der Sakral-topographie der Stadt auszukommen sakrale Wuumlrde aber wird in diesem Kontext Justi-nian selbst zuteil so argumentiert Mischa MEIER Dieser Deutung Justinians als imago Dei schlieszligt sich auch Steffen DIEFENBACH an der Rom und Byzanz und das Verhaumlltnis der Kaiser zu ihren Staumldten direkt vergleicht Waumlhrend in Rom der Kaiser nach dem Modell Trajans immer noch als princeps civilis letztlich also als Buumlrger einzog erwies sich der deutungsoffene Einzug der byzantinischen Kaiser in der Spaumltantike als deutlich anschlussfaumlhiger Die gleichzeitig vollzogene christlich motivierte Erniedrigung und Erhoumlhung des byzantinischen Kaisers in der pompa ermoumlglichte eine uumlberzeugende Performanz Hier im Uumlbrigen zeigt sich der Vorteil eines Sammelbandes Drei Autoren argumentieren an aumlhnlichem Quellenmaterial und kommen zu leicht unterschiedlichen aber durchaus miteinander gespraumlchsfaumlhigen Deutungsangeboten Robert KIRSTEIN beendet die Antike-Sektion indem auch er Triumphzuumlge analysiert allerdings im litera-rischen Medium der Gesaumlnge Ovids Waumlhrend Ovid in den Amores den Triumphzug pri-vatisiert und desakralisiert aber gleichzeitig ironisch resakralisiert stellt er in den Tristien die Unterscheidung von Fakt und Fiktion insgesamt in Frage und verweist damit auf den Mediencharakter des von ihm dargestellten Triumphzugs der Caumlsaren

Sabine RUumlCKERT fragt am Beispiel der spaumltmittelalterlichen Reginenprozession in Osnabruumlck in welcher Form eine religioumlse Prozession als bdquoBegleiterscheinung des Ereignissesldquo (S 162) Teil der staumldtischen Erinnerungskultur werden konnte Die sozial binnenfragmentierte aber letztlich doch eine Kultgemeinde darstellende Reginenprozes-sion uumlberfuumlhrte mit den Reliquien die Quelle der Sakralitaumlt in den Laienraum und deutete damit den urbanen Raum sakral um Aumlhnliche Funktionen weist auch Thomas WELLER

617Gesamtdarstellungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 617

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

tete er auch Briefe aus dem Nachlass Tellenbach aus ohne deren Kenntnis sich ein voumlllig anderes Bild der untersuchten Berufungsverfahren ergeben wuumlrde Tellenbach kaumlmpfte bei beiden Berufungsverfahren weniger auf fachlicher sondern auf politischer und wissenschaftspolitischer Ebene

Der von Thomas ZOTZ im Rahmen des Kolloquiums gehaltene Abendvortrag bdquoAle-mannien in der Karolingerzeit ndash Herrschaftstraumlger und politische Vororteldquo (S 145ndash159) wurde praktisch unveraumlndert aber mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat ergaumlnzt wiedergegeben Zotz zeigt immer wieder die Arbeiten Zettlers gewinnbringend und lobend beruumlcksichtigend den groszligen Stellenwert Alemanniens fuumlr die Karolinger Das Herrschergeschlecht fungierte als machtvollster Herrschaftstraumlger in diesem politischen Raum

Ein Verzeichnis der Schriften Alfons Zettlers runden diesen gewinnbringenden Band konsequenterweise ab in dem allerdings nicht alle beim damaligen Anlass gehaltenen Vortraumlge publiziert sind

Juumlrgen Treffeisen

Eike WOLGAST Aufsaumltze zur Reformations- und Reichsgeschichte (Jus Ecclesiasticum Bd 113) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2016 X 581 S geb EUR 99ndash ISBN 978-3-16-154198-8

Eike Wolgast dem die vorliegende Auswahl von Aufsaumltzen zu Reformations- und Reichsgeschichte zu verdanken ist darf als nunmehr uumlber 80-jaumlhriger auf ein reiches wis-senschaftliches Leben zuruumlckblicken Im mecklenburgischen Ludwigslust geboren kehrte er 1976 als nunmehr ordentlicher Professor fuumlr Neuere Geschichte und Direktor des Historischen Seminars nach Heidelberg zuruumlck an den Ort wo neben Goumlttingen 1956 (bis 1962) sein wissenschaftlicher Werdegang mit dem Studium der Geschichte Philo- sophie und lateinischen Philologie begonnen hatte Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2004 hat er zahlreiche Studien vorgelegt die vielfach zu zentralen wissenschaftlichen Referenzwerken avancierten ndash allen voran die Habilitationsschrift aus dem Jahre 1973 bdquoDie Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Staumlndeldquo (Goumlttingen 1977)

Ordentliches Mitglied der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg (seit 1987) der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (seit 1988) der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (seit 1988) sowie der Historischen Kommission fuumlr Mecklenburg (seit 1996) machte sich Eike Wolgast auch als Editor einen Namen insbesondere als verantwortlicher Leiter der Arbeitsstelle bdquoDeutsche Reichtagsaktenldquo deren Mittlere und Juumlngere Reihe er bis heute verantwortet und als Herausgeber der von Emil Sehling begruumlndeten Reihe der bdquoEvan-gelischen Kirchenordnungen des 16 Jahrhundertsldquo Dass seine Freude am wissenschaft-lichen Arbeiten die Emeritierung uumlberdauerte und seine Schaffenskraft ungebrochen anhielt davon zeugen unter anderem die monographischen Werke bdquoDie Geschichte der Menschen- und Buumlrgerrechteldquo (Stuttgart 2009) sowie bdquoDie Einfuumlhrung der Reformation und das Schicksal der Kloumlster im Reich und in Europaldquo (Guumltersloh 2014) Neben insge-samt 14 Monographien verzeichnet das Verzeichnis seiner Werke 10 (Mit)Herausgeber-schaften (ohne Reichsakten und Kirchenordnung) uumlber 200 Aufsaumltze sowie zahlreiche Lexikonartikel Thematisch im Vordergrund stehen Studien zur politischen Geschichte und Geistesgeschichte des 16 bis 20 Jahrhunderts mit einem deutlich erkennbaren Fokus im 16 und im 20 Jahrhundert (Nationalsozialismus) sowie zur (Heidelberger) Univer-sitaumltsgeschichte

623Gesamtdarstellungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 623

spaumltmittelalterlichen Prozession insgesamt zu die Herstellung von (teilnehmender) Inklusion und (zuschauender) Exklusion sowie von Identitaumlt und Gruppenkohaumlsion aber auch die performative Bekraumlftigung nicht nur der politisch-sozialen Ordnung sondern gerade der Hierarchien Der urbane Raum wurde dabei zu einem Raum der zugleich geschrieben und gelesen wird Mit der Zaumlsur der Reformation und ihrem Protest gegen das kirchliche Ritual erhielt die Teilnahme an einer Prozession Bekenntnischarakter wie Weller mit einem Blick auf den spanischen Barockkatholizismus zeigt aber auch die (protestantische) staumldtische Gemeinschaft blieb gerade in Zeiten der Egalisierung staumld-tischer Autonomie durch Staatsbildung auf performative Bekraumlftigung angewiesen Waumlh-rend Weller also keinen fruumlhneuzeitlichen Zug zur Saumlkularisierung erkennt betrachtet Marian FUumlSSEL bei Prozessionen im fruumlhneuzeitlichen Gelehrtenmilieu saumlkulare Aneig-nungs- und Uumlberschreibungsprozesse christlicher Riten und kommt zu dem Schluss dass sich spaumltestens um 1800 in Schuumlben ein akademischer Antiritualismus dieser bdquoformali-sierte[n] Praxisformation[en]ldquo (S 212) beobachten laumlsst bevor im 19 Jahrhundert ein zweites konfessionelles und damit rituelles Zeitalter anbrach

Mit der dritten Sektion und Hans-Ulrich THAMERS ritualtheoretischer Analyse der Fran-zoumlsischen Revolution in Paris beginnt der Terminus der Saumlkularisierung in diesem Band deutlich an Gewicht zu bekommen Den spontan-improvisierten Umzuumlgen der Anfangs-zeit folgten sakrale Aufzuumlge die sich religioumlser Elemente und komplexer Inszenierungen bedienten Erst mit der Machtuumlbernahme Napoleons im weiteren geschichtlichen Verlauf nahmen die Aufmaumlrsche einen insgesamt militaumlrischen Charakter an Lena KRULL fragt nach den saumlkularen Funktionen katholischer Prozessionen in Westfalen um 1850 Sie ermoumlglichten eine Positionierung fuumlr oder gegen den preuszligischen Staat insgesamt aber zeige sich auch hier dass die Unterscheidung von saumlkular und sakral in einer Zeit in der die Kirche selbst politische Positionen vertrat und inszenierte nicht anwendbar sei Man-fred HETTLING zeigt dass sich der Kern der rituellen Ausdrucksformen des Gefallenen-gedenkens in Deutschland bereits um 1813 herausbildete Grab und Begraumlbnis Denkmal und Jubilaumlen Daraus folgten Begraumlbniszuumlge kollektive Gaumlnge zur Kranzniederlegung und Sedanfeiern Ohne die Praxis der Rituale wurden Denkmaumller schnell uumlbersehen wie seit 1945 zu beobachten ist Immer mehr uumlbernehmen verbale Elemente die rituellen Inszenierungen der Gedenkkultur ndash Prozessionen wuumlrden diesen bdquointellektuell kontrol-lierte[n] politisch und normativ gefilterte[n] Aneignungsprozessldquo (S 269) stoumlren Hier wird die emotional-affizierende ndash und damit moumlglicherweise auch irritierende destabi-lisierende ndash Qualitaumlt jeder Form von Prozession angesprochen die sich in vielen Bei- traumlgen zeigt aber erstaunlicherweise nur selten ins Wort gefasst wird Die Berliner Auf-maumlrsche der Arbeiterbewegungen waumlhrend der Weimarer Zeit so analysiert Matthias WARSTAT scheiterten zumindest auch genau an dieser destabilisierenden Dimension an der mangelnden Disziplinierung der Teilnehmer Ebenso aber gelang es in den Arbeiter-aufmaumlrschen nicht die rationale Reserve mancher gegenuumlber prozessionshaften Emotio-nalisierungstendenzen auszuschalten und den fuumlr Prozessionen obligatorischen Modus des Als-ob das heiszligt das Bewusstsein von Artifizialitaumlt hochzuhalten Das gelang ebenso wie die fruumlhe Herausbildung fester Rituale der nationalsozialistischen Bewegung umso besser Thomas ROHRKRAumlMER analysiert den Versuch der Nazis ihre Weltanschau-ung in rituelle Form zu gieszligen und dabei durchaus eine sakrale Komponente zu bewahren naumlmlich bdquodie Vergoumlttlichung des Volkes als houmlchstem und ewigem Gutldquo (S 300) Zu-gleich aber zeigt sich in den Aufmaumlrschen und Festen der Nazis nicht eine direkt religioumlse sondern eine aumlsthetische Symbolisierung mit offenem Wahrheitsanspruch Die Nazis

618 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 618

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

wollten nicht bewusst religioumlsen Raum betreten das demonstriert auch ihr ambigues Ver-halten gegenuumlber den institutionalisierten Kirchen sondern erstrebten vielmehr die Her-stellung von Erfahrungsraumlumen politischer Sinnlichkeit und visueller Performanz die Prozessionselemente konstitutiv beinhalten Dieser Beitrag fuumlhrt aber auch vor Augen dass die Trennung von religioumls und aumlsthetisch wahrscheinlich ebenso wenig moumlglich ist wie die zwischen religioumls und saumlkular

Den Blick in die Gegenwart eroumlffnet Dominik BURKARD mit einer Deutung der Din-kelsbuumlhler Kinderzeche ein bis heute gefeiertes Fest das sein Vorbild in den katholischen Passionsprozessionen der Fruumlhen Neuzeit hat mit der Aufklaumlrung verboten wurde als evangelische Kinderzeche wiederbelebt und schlieszliglich resakralisiert wurde ndash ein wei-terer Beleg fuumlr das 19 Jahrhundert als ritualdynamischem Houmlhepunkt der juumlngeren Geschichte Die von Ronald HITZLER analysierte Loveparade nimmt das Ritual einer Par-tikulargemeinschaft mit gleichwohl hohem Inklusionspotential in den Blick in dem sich nun weniger religioumlse und saumlkulare Elemente verschraumlnken als vielmehr materialistische unternehmerische und stadtpolitische Die technoide Feierlaune habe traditionell einen Hang zur Transzendenzerfahrung und sei damit eine Manifestation religioumlser Erfahrung Umzuumlge so die Definition bieten Menschen bdquoGelegenheiten ihre Gesinnung hinaus zu tragen in das was man gemeinhin die Oumlffentlichkeitlsquo nenntldquo (S 375) Auch in der Ana-lyse des mehrtaumlgigen Protestereignisses bdquoWir haben Agrarindustrie sattldquo auf der Gruumlnen Woche in Berlin spricht Gregor Jonas BETZ kaum von bdquosaumlkularldquo oder bdquoreligioumlsldquo sondern praumlsentiert im Modus der teilnehmenden Beobachtung die Ablaumlufe dieses dicht getak- teten praumlzise choreographierten Rituals Diese bdquoProzessionldquo dient ebenso wie die meisten gegenwaumlrtigen nicht mehr der Stabilisierung oder Performanz einer herrschenden Ord-nung sondern der Auflehnung dagegen auch wenn Betz in ihnen eine Form populaumlrer Religion sieht da sie ein ganzheitliches Weltbild und ein rituell durchtraumlnktes Programm anboumlten Damit haben Bewegungen im oumlffentlichen Raum heute einen grundsaumltzlich anderen Charakter angenommen ndash den des Protests

Zwei Probleme zeigen sich in dieser insgesamt sehr qualitaumltvollen Anthologie dann doch Das eine ist die Deutungsheterogenitaumlt des Religionsbegriffs darauf verweist auch Angela TREIBER in ihrem Schlussbeitrag einem Fazit mit tagungsbeobachtenden Ele-menten Als bdquoLoumlsungldquo plaumldiert Treiber fuumlr einen weiten anthropologisch begruumlndeten Religionsbegriff im Anschluss an Luhmann der Religion als kulturellen Umgang mit der Erfahrung der Transzendenz versteht Sie verschwindet in der Moderne nicht sondern diffundiert in vielfaumlltigen oft gruppenspezifischen Praktiken Wenn die menschliche Faumlhigkeit zum Transzendieren als Grundlage von Religion als sozialem Phaumlnomen ver-standen wird erklaumlrt sich auch die vergemeinschaftende Wirkung von Prozessionen naumlm-lich bdquouumlber kulturell gepraumlgte Handlungsmuster ihres Vollzugsldquo (S 403) Mit diesem Religionsbegriff verabschiedet sich Treiber von beiden Thesen die ihrer Aussage nach die Tagung grundiert haben von der Saumlkularisierungsthese und damit der Vorstellung dass die fuumlr die Vormoderne typische religioumlse Grundierung aller Prozessionen sich in der Moderne aufloumlse ebenso wie von der Kontinuitaumltsthese dass prinzipiell jede Form von Umzug Einzug oder Aufmarsch religioumls konnotiert sei

Ein zweites Problem haumlngt mit dem Religionsbegriff zusammen Wie laumlsst sich eigent-lich die bdquoreligioumlse Grundierungldquo einer Bewegung feststellen von der der Titel spricht und wodurch zeichnet sie sich aus Saumlkulare und religioumlse Prozessionen sind nicht zu unterscheiden gerade dann nicht wenn man wie die Autor(inn)en des Bandes dezidiert auf die Performanz und rituelle Dimension der Bewegungen achtet Dementsprechend

619Gesamtdarstellungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 619

gen Personen die in einem Breve Pippins des Juumlngeren von 751768 und einem Diplom Ludwigs des Frommen von 828 genannt sind Hierbei handelt es sich nicht um Einzel-personen sondern um miteinander eng verbundene houmlherrangige Menschen Sie agierten nicht nur uumlberregional sondern hatten auch beachtliche im Reich weit verstreute Besit-zungen bdquoBurgen als Zentren politischer Netzwerkeldquo fragt Erik BECK und stellt bdquoUumlber-legungen zu einem Bolander Rechnungsfragment von 12581262ldquo an (S 31ndash75) Dieses Schriftstuumlck das als Bucheinband die Zeit uumlberdauerte erfasst uumlber einen Zeitraum von 14 Wochen die Ausgaben an Getreide fuumlr den Hof und das Burgpersonal auf der Burg Neu-Bolanden Es vermerkt die Anwesenheit von Arbeitern Angehoumlrigen der Familie von Bolanden und adligen sowie geistlichen Besuchern ebenso von Schultheiszligen und Bauern die Abgaben aus den umliegenden Doumlrfern ablieferten Dieses fuumlr den deutsch-sprachigen Raum beeindruckende Dokument hielt aber auch die temporaumlre Anwesenheit von Boten fest Mit Hilfe dieser und weiterer Quellen rekonstruiert Beck in uumlberzeugen-der Weise ein mehrere Ebenen umfassendes Beziehungsnetz Es werden verwandtschaft-liche Zusammenhaumlnge Lehensverbindungen sowie die damalige politische Orientierung sichtbar Eine Wiedergabe des Textes in modernem Deutsch sowie eine Zusammenstel-lung der anwesenden Personen schlieszligt die umfangreiche aumluszligerst gewinnbringende Abhandlung ab

Ulrich HUTTNER untersucht bdquoGriechenland an Hoch- und Oberrheinldquo und begibt sich auf bdquoeine Spurensuche zum Kulturtransfer in der Spaumltantikeldquo (S 77ndash91) Als Traumlger dieses spaumltantiken Netzwerkes ermittelt er ndash wenig uumlberraschend ndash Militaumlrs Amtstraumlger und den Klerus Insbesondere Militaumlrangehoumlrige bildeten eine gesellschaftliche Gruppe die sich durch eine groszlige Mobilitaumlt ndash auch zwischen der lateinischen und griechischen Sprachzone wechselnd ndash auszeichnete Den bdquoGesandtenaustausch zwischen Karl dem Groszligen und Harun al-Raschidldquo thematisiert Arne Timm und stellt die Frage nach der bdquoTranskulturelle(n) Vernetzung im fruumlhen Mittelalterldquo (S 93ndash104) Damals verdichteten sich die diplomatischen Kontakte zwischen Bagdad und Aachen auf eine fuumlr das Fruumlhmittelalter besondere Art und Weise die allerdings nur in zeitgenoumlssischen lateini-schen Quellen nicht jedoch in der griechischen oder arabischen Berichterstattung nach-zuweisen sind Dokumentiert wurde besonders der Austausch von Geschenken wobei ein Elefant am karolingischen Hof in Aachen bei den Zeitgenossen besondere Aufmerk-samkeit erzielte Karls Intention war es wohl die Situation der Christen im Orient zu verbessern

Eva-Maria BUTZ stellt in ihrem Beitrag bdquoVon Namenslisten zu Netzwerken Wald- rada Lothar II und der lothringische Adel im Spiegel der Gedenkuumlberlieferungldquo bdquoUumlber-legungen zur Anwendung der Netzwerkmethode in der Gedenkbuchforschungldquo an (S 105ndash117) Sie zeigt Moumlglichkeiten aber vor allem auch Grenzen einer computerge-stuumltzten Netzwerkforschung in Zusammenhang mit der Frage nach dem familiaumlren und sozialen Hintergrund von Waldrada der zweiten Ehefrau Koumlnig Lothars II auf Da diese Analyse auf Gedenkbucheintraumlgen basiert aumluszligert Butz die Hoffnung durch Ausweitung des Quellenmaterials doch noch weiterfuumlhrende Ergebnisse erzielen zu koumlnnen Einen weiten zeitlichen Sprung in die erste Haumllfte des 20 Jahrhunderts vollzieht Andre GUTMANN mit seiner Analyse bdquoNetzwerke im Einsatz ndash Gerd Tellenbachs Weg zur Beru-fung an die Universitaumlt Freiburg i Br 1939 und 19431944ldquo (S 119ndash144) Gutmann zeigt in seiner akribisch recherchierten und spannend zu lesenden Darstellung dass sich im Berufungsverfahren besonders signifikant akademische Netzwerke nachweisen lassen Neben den offiziellen im Freiburger Universitaumltsarchiv verwahrten Berufungsakten wer-

622 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 622

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

werden in diesem Band Prozessionen besprochen die trotz oder gerade wegen eines saumlkularen Anlasses eine religioumlse Kommunikation und Performanz aufweisen aber auch Beobachtungen von Saumlkularisierungsprozessen an christlichen Riten selbst fest- gehalten Und dementsprechend wird die religioumlse Grundierung der besprochenen Prozession nicht bei allen Beitraumlgen deutlich geschweige denn von den Autor(inn)en analysiert

Interessant sind die Perspektiven die Ruth CONRAD am Ende ihrer Einleitung nennt (I) die Verschraumlnkung von religioumls-sakralen und saumlkular-profanen Praktiken als Motor fuumlr Transformationen (II) die Beobachtung einer gegenwaumlrtigen Resakralisierung des urbanen Raumes (III) die noch staumlrker zu beruumlcksichtigende Ebene der Hierarchie zwi-schen den Akteuren einer Prozession und (IV) schlieszliglich die Perspektive dass Prozes-sionen bdquoein Akteur-Netzwerk aus Menschen und Dingenldquo (S 24) darstellen Letzteres bleibt ein Desiderat Zwar betrachtet fast jede(r) Autor(in) auch die materiale neben der koumlrperlichen und performativen Dimension von Prozessionen Fahnen und Plakate mitgetragene Reliquien und Instrumente werden genannt Aber genau diese materialen Elemente in ihrer Akteursrolle wahrzunehmen ndash das bleibt ebenso wie die oben ange-sprochene Analyse der moumlglicherweise auch emotional-affizierenden und damit desta-bilisierenden Wirkung von Prozessionen noch zu leisten

Daniela Blum

Klaus HERBERS Andreas NEHRING Karin STEINER (Hg) Sakralitaumlt und Macht (Beitraumlge zur Hagiographie Bd 22) Stuttgart Steiner 2019 247 S Brosch EUR 49ndash ISBN 978-3-515-12161-3

Was bedeutet Heiligkeit fuumlr Menschen aus unterschiedlichen Epochen und unterschied-lichen Regionen Dieser Frage geht der von Klaus HERBERS Andreas NEHRING und Karin STEINER herausgegebene Sammelband nach Zugleich dokumentiert der Band Diskussio-nen und Ergebnisse des Forschungsprojekts bdquoSakralitaumlt und Sakralisierung in Mittelalter und Fruumlher Neuzeit Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asienldquo das von 2010 bis 2017 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als DFG-Forschergruppe 1533 gefoumlr-dert wurde

Das Thema ist ebenso grundlegend wie anspruchsvoll Ausgehend von der These dass Sakralitaumlt als bdquoZuschreibungs- und Inszenierungsprozessldquo (S 8) in situativ unterschied-lichen Ausformungen zu verstehen ist eroumlrtern die Beitraumlge den Zusammenhang von Sakralitaumlt und einzelnen Personen ihrer Wirkmacht und ihrem sozial-kulturellen Umfeld Der Band nimmt sich folglich groszlige Themen vor Was macht Menschen aber auch Dinge oder Orte sakral Wer bestimmt uumlber die Qualifizierung als bdquosakralldquo mithin uumlber Prozesse und Wandlungen von Sakralisierung Dass die Beitraumlge diesen Fragen mit Einzelstudien aus unterschiedlichen Disziplinen Epochen und Regionen nachgehen ist ebenso char-mant wie methodisch klug Geographisch reicht das behandelte Spektrum von Europa (v a Spanien Italien Deutschland Schweiz) uumlber das Heilige Land bis nach Indien China und Japan zeitlich vom 8 bis zum 21 Jahrhundert Auf diese Weise entsteht ein beachtliches Panorama der mannigfachen Facetten und Nuancierungen von bdquoSakralitaumltldquo Analysiert werden Tempelanlagen fuumlr Flussgottheiten in Shanghai (BERNDT) vormoderne Vorstellungen von sakraler Herrschaft in Japan (SCHLEY) staumldtische Schutzfunktionen von Heiligen in Zuumlrich (NIERS) Konzeptionen des Heiligen Krieges auf der iberischen Halbinsel des Fruumlh- und Hochmittelalters (BRONISCH) die Erzeugung Geltungskraft und Zerstoumlrung von Sakralitaumlt in der Papstliturgie der Renaissance (BOumlLLING) sakrale Orte

620 Buchbesprechungen

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in Grenzregionen des Heiligen Landes (DUumlCHTING) Mechanismen der Konstituierung und Stabilisierung sakraler Macht in Suumldindien (STEINER) philosophische Eroumlrterungen uumlber Macht aus Indien im 14 Jahrhundert (AHLBORN) die Ergebnisse von Feldforschun-gen zu religioumlsen Praktiken im heutigen China (CHAU) die potentielle Wirkmacht und Sakralitaumlt von Dingen (THIEL) sowie die Bedeutung sakraler Objekte in fruumlhmittelalter-lichen Riten zur Kirchweihe (CZOCK)

In dieser interkulturellen und diachronen Zusammenschau erweist sich Sakralisierung als dynamischer Prozess der Personen Gegenstaumlnde und Objekte auszeichnet oder sogar mit Alleinstellungsmerkmalen versieht Dieses mehrdimensionale Verstaumlndnis spiegelt sich auch im Aufbau des Buches wider Die elf Beitraumlge sind je nach Schwerpunkt drei verschiedenen Sektionen zugeordnet (1 bdquoHeilige Orte und Machtldquo 2 bdquoHeilige Personen und Machtldquo 3 bdquoHeilige Dinge und Machtldquo) was freilich nicht absolut zu verstehen ist dass etwa Ausfuumlhrungen zur japanischen Herrschersakralitaumlt neben der bdquoHerrschaftskos-mologieldquo (SCHLEY) auch die Diskussion zur Sakralitaumlt von Personen beruumlhren oder dass die Analyse der Sakralitaumlt in Kreuzfahrerstaaten auch sakrale Objekte beruumlcksichtigt (DUumlCHTING) liegt auf der Hand und ermoumlglicht damit fruchtbare Querbezuumlge zwischen den jeweiligen Sektionen

Als Bindeglied zwischen den thematisch notwendigerweise disparaten Beitraumlgen ist der einleitende Essay zur bdquoMacht des Heiligenldquo von Hans Joas gedacht Der lesenswerte Text ist ein gekuumlrzter Auszug aus Joaslsquo gleichnamigem Standardwerk von 2017 und die-sem (wenn auch pragmatischen) Umstand ist es wohl geschuldet dass Anknuumlpfungs-punkte zu den folgenden Beitraumlgen leider ausbleiben

Vor allem die vielschichtigen Verbindungen von Akteuren Orten und Medien die in den einzelnen Beitraumlgen wie auch in der Gesamtschau aufscheinen regen zum weiteren Nachdenken uumlber das Thema bdquoSakralitaumlt und Machtldquo an Damit werden die Herausgeber ihrem Anspruch gerecht neben Ergebnissen auch offene Fragen zu dokumentieren und so Impulse fuumlr zukuumlnftige Debatten zu geben

Julia Burkhardt

Erik BECK Eva-Maria BUTZ (Hg) Von Gruppe und Gemeinschaft zu Akteur und Netz-werk Netzwerkforschung in der Landesgeschichte Festschrift fuumlr Alfons Zettler zum 60 Geburtstag (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelalters Bd 3) Ostfildern Thorbecke 2019 175 S Abb Brosch EUR 20ndash ISBN 978-3-7995-8552-1

In der Einleitung (S 7ndash12) stellen die beiden Herausgeber Erik BECK und Eva-Maria BUTZ den Mediaumlvisten Alfons Zettler vor zu dessen 60 Geburtstag 2013 die im vorlie-genden Sammelband zusammengestellten Beitraumlge vorgetragen worden sind Die eigenen Forschungen des Jubilars sind in die Tradition und Weiterentwicklung der von Gerd Tellenbach und Karl Schmid initiierten Freiburger Schule zu sehen die einzelne Personen in soziale Zusammenhaumlnge und Institutionen einordnete Im Zentrum von Zettlers For-schungen stand und stehen der Adel und die kloumlsterlichen Konvente im Fruumlh- und Hoch-mittelalter Der vorliegende Sammelband praumlsentiert einige der am 25 und 26 Oktober 2013 in Freiburg vorgetragenen Beitraumlge Eine kurze Zusammenfassung der Kernaus- sagen der einzelnen Beitraumlge schlieszligen den Einleitungsteil ab

Den Reigen der Beitraumlge beginnt Martin STROTZ mit einer Untersuchung zu den bdquoKouml-nigzinser(n)lsquo im Breisgauldquo (S 13ndash29) Er analysiert Herkunft und soziale Stellung von vier der insgesamt 23 dem Fiskus beziehungsweise dem Kloster St Gallen zinspflichti-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

in Grenzregionen des Heiligen Landes (DUumlCHTING) Mechanismen der Konstituierung und Stabilisierung sakraler Macht in Suumldindien (STEINER) philosophische Eroumlrterungen uumlber Macht aus Indien im 14 Jahrhundert (AHLBORN) die Ergebnisse von Feldforschun-gen zu religioumlsen Praktiken im heutigen China (CHAU) die potentielle Wirkmacht und Sakralitaumlt von Dingen (THIEL) sowie die Bedeutung sakraler Objekte in fruumlhmittelalter-lichen Riten zur Kirchweihe (CZOCK)

In dieser interkulturellen und diachronen Zusammenschau erweist sich Sakralisierung als dynamischer Prozess der Personen Gegenstaumlnde und Objekte auszeichnet oder sogar mit Alleinstellungsmerkmalen versieht Dieses mehrdimensionale Verstaumlndnis spiegelt sich auch im Aufbau des Buches wider Die elf Beitraumlge sind je nach Schwerpunkt drei verschiedenen Sektionen zugeordnet (1 bdquoHeilige Orte und Machtldquo 2 bdquoHeilige Personen und Machtldquo 3 bdquoHeilige Dinge und Machtldquo) was freilich nicht absolut zu verstehen ist dass etwa Ausfuumlhrungen zur japanischen Herrschersakralitaumlt neben der bdquoHerrschaftskos-mologieldquo (SCHLEY) auch die Diskussion zur Sakralitaumlt von Personen beruumlhren oder dass die Analyse der Sakralitaumlt in Kreuzfahrerstaaten auch sakrale Objekte beruumlcksichtigt (DUumlCHTING) liegt auf der Hand und ermoumlglicht damit fruchtbare Querbezuumlge zwischen den jeweiligen Sektionen

Als Bindeglied zwischen den thematisch notwendigerweise disparaten Beitraumlgen ist der einleitende Essay zur bdquoMacht des Heiligenldquo von Hans Joas gedacht Der lesenswerte Text ist ein gekuumlrzter Auszug aus Joaslsquo gleichnamigem Standardwerk von 2017 und die-sem (wenn auch pragmatischen) Umstand ist es wohl geschuldet dass Anknuumlpfungs-punkte zu den folgenden Beitraumlgen leider ausbleiben

Vor allem die vielschichtigen Verbindungen von Akteuren Orten und Medien die in den einzelnen Beitraumlgen wie auch in der Gesamtschau aufscheinen regen zum weiteren Nachdenken uumlber das Thema bdquoSakralitaumlt und Machtldquo an Damit werden die Herausgeber ihrem Anspruch gerecht neben Ergebnissen auch offene Fragen zu dokumentieren und so Impulse fuumlr zukuumlnftige Debatten zu geben

Julia Burkhardt

Erik BECK Eva-Maria BUTZ (Hg) Von Gruppe und Gemeinschaft zu Akteur und Netz-werk Netzwerkforschung in der Landesgeschichte Festschrift fuumlr Alfons Zettler zum 60 Geburtstag (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelalters Bd 3) Ostfildern Thorbecke 2019 175 S Abb Brosch EUR 20ndash ISBN 978-3-7995-8552-1

In der Einleitung (S 7ndash12) stellen die beiden Herausgeber Erik BECK und Eva-Maria BUTZ den Mediaumlvisten Alfons Zettler vor zu dessen 60 Geburtstag 2013 die im vorlie-genden Sammelband zusammengestellten Beitraumlge vorgetragen worden sind Die eigenen Forschungen des Jubilars sind in die Tradition und Weiterentwicklung der von Gerd Tellenbach und Karl Schmid initiierten Freiburger Schule zu sehen die einzelne Personen in soziale Zusammenhaumlnge und Institutionen einordnete Im Zentrum von Zettlers For-schungen stand und stehen der Adel und die kloumlsterlichen Konvente im Fruumlh- und Hoch-mittelalter Der vorliegende Sammelband praumlsentiert einige der am 25 und 26 Oktober 2013 in Freiburg vorgetragenen Beitraumlge Eine kurze Zusammenfassung der Kernaus- sagen der einzelnen Beitraumlge schlieszligen den Einleitungsteil ab

Den Reigen der Beitraumlge beginnt Martin STROTZ mit einer Untersuchung zu den bdquoKouml-nigzinser(n)lsquo im Breisgauldquo (S 13ndash29) Er analysiert Herkunft und soziale Stellung von vier der insgesamt 23 dem Fiskus beziehungsweise dem Kloster St Gallen zinspflichti-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

gen Personen die in einem Breve Pippins des Juumlngeren von 751768 und einem Diplom Ludwigs des Frommen von 828 genannt sind Hierbei handelt es sich nicht um Einzel-personen sondern um miteinander eng verbundene houmlherrangige Menschen Sie agierten nicht nur uumlberregional sondern hatten auch beachtliche im Reich weit verstreute Besit-zungen bdquoBurgen als Zentren politischer Netzwerkeldquo fragt Erik BECK und stellt bdquoUumlber-legungen zu einem Bolander Rechnungsfragment von 12581262ldquo an (S 31ndash75) Dieses Schriftstuumlck das als Bucheinband die Zeit uumlberdauerte erfasst uumlber einen Zeitraum von 14 Wochen die Ausgaben an Getreide fuumlr den Hof und das Burgpersonal auf der Burg Neu-Bolanden Es vermerkt die Anwesenheit von Arbeitern Angehoumlrigen der Familie von Bolanden und adligen sowie geistlichen Besuchern ebenso von Schultheiszligen und Bauern die Abgaben aus den umliegenden Doumlrfern ablieferten Dieses fuumlr den deutsch-sprachigen Raum beeindruckende Dokument hielt aber auch die temporaumlre Anwesenheit von Boten fest Mit Hilfe dieser und weiterer Quellen rekonstruiert Beck in uumlberzeugen-der Weise ein mehrere Ebenen umfassendes Beziehungsnetz Es werden verwandtschaft-liche Zusammenhaumlnge Lehensverbindungen sowie die damalige politische Orientierung sichtbar Eine Wiedergabe des Textes in modernem Deutsch sowie eine Zusammenstel-lung der anwesenden Personen schlieszligt die umfangreiche aumluszligerst gewinnbringende Abhandlung ab

Ulrich HUTTNER untersucht bdquoGriechenland an Hoch- und Oberrheinldquo und begibt sich auf bdquoeine Spurensuche zum Kulturtransfer in der Spaumltantikeldquo (S 77ndash91) Als Traumlger dieses spaumltantiken Netzwerkes ermittelt er ndash wenig uumlberraschend ndash Militaumlrs Amtstraumlger und den Klerus Insbesondere Militaumlrangehoumlrige bildeten eine gesellschaftliche Gruppe die sich durch eine groszlige Mobilitaumlt ndash auch zwischen der lateinischen und griechischen Sprachzone wechselnd ndash auszeichnete Den bdquoGesandtenaustausch zwischen Karl dem Groszligen und Harun al-Raschidldquo thematisiert Arne Timm und stellt die Frage nach der bdquoTranskulturelle(n) Vernetzung im fruumlhen Mittelalterldquo (S 93ndash104) Damals verdichteten sich die diplomatischen Kontakte zwischen Bagdad und Aachen auf eine fuumlr das Fruumlhmittelalter besondere Art und Weise die allerdings nur in zeitgenoumlssischen lateini-schen Quellen nicht jedoch in der griechischen oder arabischen Berichterstattung nach-zuweisen sind Dokumentiert wurde besonders der Austausch von Geschenken wobei ein Elefant am karolingischen Hof in Aachen bei den Zeitgenossen besondere Aufmerk-samkeit erzielte Karls Intention war es wohl die Situation der Christen im Orient zu verbessern

Eva-Maria BUTZ stellt in ihrem Beitrag bdquoVon Namenslisten zu Netzwerken Wald- rada Lothar II und der lothringische Adel im Spiegel der Gedenkuumlberlieferungldquo bdquoUumlber-legungen zur Anwendung der Netzwerkmethode in der Gedenkbuchforschungldquo an (S 105ndash117) Sie zeigt Moumlglichkeiten aber vor allem auch Grenzen einer computerge-stuumltzten Netzwerkforschung in Zusammenhang mit der Frage nach dem familiaumlren und sozialen Hintergrund von Waldrada der zweiten Ehefrau Koumlnig Lothars II auf Da diese Analyse auf Gedenkbucheintraumlgen basiert aumluszligert Butz die Hoffnung durch Ausweitung des Quellenmaterials doch noch weiterfuumlhrende Ergebnisse erzielen zu koumlnnen Einen weiten zeitlichen Sprung in die erste Haumllfte des 20 Jahrhunderts vollzieht Andre GUTMANN mit seiner Analyse bdquoNetzwerke im Einsatz ndash Gerd Tellenbachs Weg zur Beru-fung an die Universitaumlt Freiburg i Br 1939 und 19431944ldquo (S 119ndash144) Gutmann zeigt in seiner akribisch recherchierten und spannend zu lesenden Darstellung dass sich im Berufungsverfahren besonders signifikant akademische Netzwerke nachweisen lassen Neben den offiziellen im Freiburger Universitaumltsarchiv verwahrten Berufungsakten wer-

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tete er auch Briefe aus dem Nachlass Tellenbach aus ohne deren Kenntnis sich ein voumlllig anderes Bild der untersuchten Berufungsverfahren ergeben wuumlrde Tellenbach kaumlmpfte bei beiden Berufungsverfahren weniger auf fachlicher sondern auf politischer und wissenschaftspolitischer Ebene

Der von Thomas ZOTZ im Rahmen des Kolloquiums gehaltene Abendvortrag bdquoAle-mannien in der Karolingerzeit ndash Herrschaftstraumlger und politische Vororteldquo (S 145ndash159) wurde praktisch unveraumlndert aber mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat ergaumlnzt wiedergegeben Zotz zeigt immer wieder die Arbeiten Zettlers gewinnbringend und lobend beruumlcksichtigend den groszligen Stellenwert Alemanniens fuumlr die Karolinger Das Herrschergeschlecht fungierte als machtvollster Herrschaftstraumlger in diesem politischen Raum

Ein Verzeichnis der Schriften Alfons Zettlers runden diesen gewinnbringenden Band konsequenterweise ab in dem allerdings nicht alle beim damaligen Anlass gehaltenen Vortraumlge publiziert sind

Juumlrgen Treffeisen

Eike WOLGAST Aufsaumltze zur Reformations- und Reichsgeschichte (Jus Ecclesiasticum Bd 113) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2016 X 581 S geb EUR 99ndash ISBN 978-3-16-154198-8

Eike Wolgast dem die vorliegende Auswahl von Aufsaumltzen zu Reformations- und Reichsgeschichte zu verdanken ist darf als nunmehr uumlber 80-jaumlhriger auf ein reiches wis-senschaftliches Leben zuruumlckblicken Im mecklenburgischen Ludwigslust geboren kehrte er 1976 als nunmehr ordentlicher Professor fuumlr Neuere Geschichte und Direktor des Historischen Seminars nach Heidelberg zuruumlck an den Ort wo neben Goumlttingen 1956 (bis 1962) sein wissenschaftlicher Werdegang mit dem Studium der Geschichte Philo- sophie und lateinischen Philologie begonnen hatte Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2004 hat er zahlreiche Studien vorgelegt die vielfach zu zentralen wissenschaftlichen Referenzwerken avancierten ndash allen voran die Habilitationsschrift aus dem Jahre 1973 bdquoDie Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Staumlndeldquo (Goumlttingen 1977)

Ordentliches Mitglied der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg (seit 1987) der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (seit 1988) der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (seit 1988) sowie der Historischen Kommission fuumlr Mecklenburg (seit 1996) machte sich Eike Wolgast auch als Editor einen Namen insbesondere als verantwortlicher Leiter der Arbeitsstelle bdquoDeutsche Reichtagsaktenldquo deren Mittlere und Juumlngere Reihe er bis heute verantwortet und als Herausgeber der von Emil Sehling begruumlndeten Reihe der bdquoEvan-gelischen Kirchenordnungen des 16 Jahrhundertsldquo Dass seine Freude am wissenschaft-lichen Arbeiten die Emeritierung uumlberdauerte und seine Schaffenskraft ungebrochen anhielt davon zeugen unter anderem die monographischen Werke bdquoDie Geschichte der Menschen- und Buumlrgerrechteldquo (Stuttgart 2009) sowie bdquoDie Einfuumlhrung der Reformation und das Schicksal der Kloumlster im Reich und in Europaldquo (Guumltersloh 2014) Neben insge-samt 14 Monographien verzeichnet das Verzeichnis seiner Werke 10 (Mit)Herausgeber-schaften (ohne Reichsakten und Kirchenordnung) uumlber 200 Aufsaumltze sowie zahlreiche Lexikonartikel Thematisch im Vordergrund stehen Studien zur politischen Geschichte und Geistesgeschichte des 16 bis 20 Jahrhunderts mit einem deutlich erkennbaren Fokus im 16 und im 20 Jahrhundert (Nationalsozialismus) sowie zur (Heidelberger) Univer-sitaumltsgeschichte

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Die vorliegende Sammlung seiner Aufsaumltze zur Reichs- und Reformationsgeschichte vornehmlich des 16 Jahrhunderts die der Verfasser selbst verantwortete spiegeln also nur einen Ausschnitt allerdings einen houmlchst bedeutsamen Ausschnitt seines Wirkens als Historiker und Universitaumltslehrer Sie lassen sich unterschiedlichen Themenkreisen zu-ordnen allen voran der Interferenz von Religion und Politik in Reich Reichskirche und Territorium den Stellungnahmen zentraler Akteure zu Schluumlsselfragen des reformatori-schen Geschehens (Johannes Brenz Martin Bucer Johannes Bugenhagen Martin Luther Philipp Melanchthon und Thomas Muumlntzer ndash thematisch reicht das Spektrum von ihrer Taumltigkeit als politische Berater bis zu ihren Meinungsaumluszligerungen zu Bauernkrieg Ob-rigkeit und Widerstandsrecht) sowie mehreren Aufsaumltzen die sich mit den Taumlufern und den Juden als religioumlse Minderheiten befassen Eigens aufmerksam gemacht sei uumlberdies auf das gerade mehr als aktuelle Problem des Friedensschlieszligens dem der Verfasser in zwei Aufsaumltzen im zeitlichen Laumlngsschnitt nachgeht Zwischen 1976 und 2012 erstmals veroumlffentlicht haben die Beitraumlge unser Bild des 16 Jahrhunderts teils grundsaumltzlich teils im Detail gepraumlgt Noch heute mehr als lesenswert geben sie einen fundierten Ein-blick in das Werk eines bedeutenden Historikers Sie zeugen vom erfolgreichen Bemuumlhen Reichs- und Landesgeschichte konstruktiv auf einander zu beziehen dem hohen Stellen-wert den Wolgast der Geschichte der religioumlsen und politischen Ideen einraumlumt und von seinem Anliegen dem weiten (religioumlsen) Kosmos des 16 Jahrhunderts gerecht zu wer-den Es ist daher den Herausgebern der Reihe Jus Ecclesiasticum und dem Tuumlbinger Ver-lag Mohr Siebeck zu danken diese Texte bequem zugaumlnglich gemacht zu haben Moumlgen sie weiterhin inspirierend wirken

Norbert Haag

Juumlrgen DENDORFER Birgit STUDT (Hg) Zum Gedenken an Dieter Mertens Ansprachen und Vortraumlge beim Trauergottesdienst in der Liebfrauenkirche zu Guumlnterstal (17 Ok-tober 2014) und der Akademischen Gedenkfeier an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt (13 November 2015) (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelalters Bd 2) Ost-fildern Thorbecke 2019 75 S Brosch EUR 10ndash ISBN 978-3-7995-8551-4

Historiker wissen um die Zeitlichkeit jedes Individuums und wenn fuumlnf Jahre nach dem Tod eines so angesehenen und verdienten Hochschullehrers wie Dieter Mertens (9 1 1940 ndash 4 10 2014) die Nachfolgerin auf seinem Freiburger Lehrstuhl und der Inha-ber des Lehrstuhls fuumlr mittelalterliche Geschichte diese wertvolle Gedenkschrift heraus-gaben hatte das seine guten Gruumlnde Es war ndash so das Vorwort ndash nicht beabsichtigt etwa die zahlreichen Nachrufe auf Dieter Mertens zusammenzufuumlhren bzw aufzulisten (vgl den in ZGO 163 [2015] S 377ndash380) sondern es sollte zu seiner Wuumlrdigung Vorgetrage-nes festgeschrieben werden um die Erinnerung an ihn lebendig zu halten Allen die Die-ter Mertens kannten und schaumltzten tut es gut jetzt uumlber diese Texte verfuumlgen zu koumlnnen im Trauergottesdienst sprachen die Professoren Thomas ZOTZ fuumlr das Historische Semi-nar der Universitaumlt Freiburg Wolfgang ZIMMERMANN fuumlr die Kommission fuumlr geschicht-liche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg und Johannes HELMRATHBerlin als Freund und Fachkollege bei der Akademischen Gedenkfeier Hans-Helmuth GANDER als Dekan Joumlrn LEONHARD als Direktor des Historischen Seminars Birgit STUDT als Sprecherin des Mittelalterzentrums und Anton SCHINDLING (dagger) als Vorsitzender der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde bevor wiederum Thomas ZOTZ ein Wegbegleiter uumlber Jahr-zehnte den Verstorbenen als Kollegen und Forscher wuumlrdigte Es versteht sich dass auch die beiden wissenschaftlichen Vortraumlge hier publiziert wurden Gerd ALTHOFF mit Dieter

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Mertens vertraut seit Studientagen widmete sich einem aus dem engen Austausch mit diesem gewonnenen Thema naumlmlich der Rolle der Bibel bei der Legitimation von Gewalt im Mittelalter naumlherhin beim Beginn der Kreuzzuumlge und aumlhnlich zur Abwehr der sbquoTuumlr-kengefahrrsquo (S 51ndash59) Als einer seiner Schuumller stellte sich Markus MUumlLLER mit bdquoDer lothringische Landesdiskurs im Zeitalter des Humanismusldquo (S 61ndash75) geistesverwandt thematisch in die Nachfolge von Dieter Mertens indem er das Landesmodell der Histo-riographie am lothringischen Herzogshof wo ein Zusammenhang zwischen Land und Dynastie schwer herzustellen war kundig beschrieb Diese kleine aber feine Publikation dient neben dem erklaumlrten Ziel der Erinnerungspflege noch einem weiteren Auch in spauml-teren Jahren wird man hier dokumentiert finden wie gediegen Geschichtswissenschaft an der Schwelle zum 21 Jahrhundert betrieben und in welcher Weise und auf welch hohem intellektuellen und sprachlichen Niveau ein prominenter Vertreter dieses Fachs nach seinem Tod deswegen gewuumlrdigt wurde

Volker Roumldel

Konrad KRIMM Heinz MAAG (dagger) Siegfried RUPP 300 Jahre Kraichgauer Adeliges Damenstift [Karlsruhe] Selbstverlag des Kraichgauer Adeligen Damenstifts 2018 124 S Abb Brosch EUR 20ndash ISBN 978-3-00-060148-4

Das 300 Jubilaumlum im Jahr 2018 bot dem Kraichgauer Adeligen Damenstift eine will-kommene Gelegenheit in seine wechselvolle Geschichte zuruumlckzublicken Aus diesem Anlass veroumlffentlichte es eine uumlberarbeitete und erweiterte Neuauflage der Festschrift von 1993 wie damals vorrangig aus der Feder von Konrad KRIMM sowie dem aktuellen Stiftsverwalter Siegfried RUPP dem Nachfolger des seinerzeit mitbeteiligten inzwischen verstorbenen Heinz MAAG

Ausgehend von einer intensiven Analyse des Wappens des Damenstifts beschreibt Konrad Krimm die Entstehungsgeschichte sowie die rechtliche Verfasstheit dieser Ein-richtung des Kraichgauer Adels Sie geht zuruumlck auf die Stiftung Amalia Elisabeths von Mentzingen und verfolgte den Zweck unverheirateten evangelischen Frauen aus dem Ritterkanton Kraichgau ein standesgemaumlszliges wenn auch zuruumlckgezogenes Leben in einem weltlichen Stift zu ermoumlglichen Damenstifte dieser Art bildeten keine Seltenheit im Alten Reich meist mit groszliger Tradition ausgestattet Und so war es nur folgerichtig dass sich die Statuten des Kraichgauer Stifts aumlltere Vorbilder heranzogen Dabei orientierte man sich am Damenstift Oberstenfeld das zum Kanton Kocher gehoumlrte und sich 1710 neue Statuten gegeben hatte Diese Statuten wurden nun fuumlr das Kraichgauer Pendant weiter-entwickelt und an dessen spezifische Situation angepasst Letztere findet sich bereits im Stiftswappen dokumentiert wie Krimm detailliert herausarbeitet Denn das neue Kraich-gauer Damenstift befand sich in einer Gemengelage unterschiedlicher Kraumlfte Ein ein-geschriebenes Reichswappen weist auf die Reichsunmittelbarkeit des Stifts hin das den Rang eines Reichsfreiherrn innehatte Andererseits fuumlhren gold-rote Farben die politische Orientierung auf die Markgrafschaft Baden(-Durlach) vor Augen die nicht nur die Schutzmacht des Stifts sein sondern es auch in seinem Territorium beherbergen sollte Denn als Standort wurde 1720 die ehemalige badische Residenzstadt Pforzheim ausge-waumlhlt Baden blieb auch in spaumlteren Jahrhunderten die Heimat des Kraichgauer Damen-stifts Ihre jeweiligen Residenzen stellt Krimm in einem zweiten Beitrag vor Auf Pforzheim folgten im 19 Jahrhundert mehrere Unterkuumlnfte in Karlsruhe ehe 1871 der feste Sitz aufgegeben wurde und sich das Stift gewissermaszligen entmaterialisierte d h in den Zustand eines reinen Versorgungsnetzwerks uumlberging das sich auf Grund- und

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Finanzbesitz stuumltzen konnte Diese beiden gut recherchierten Beitraumlge werden ergaumlnzt von einer Edition der Stiftsstatuten von 1721

Die juumlngere Geschichte des Damenstifts bis in die Gegenwart wird von Heinz Maag und Siegfried Rupp nachgezeichnet Der Fokus liegt dabei auf dem Grundbesitz vor-nehmlich in Groumlberndorf urspruumlnglich ein Hofgut heute als Golfplatz verpachtet Dieser Beitrag ist wie auch die vorherigen mit zumeist farbigem Bildmaterial reichhaltig illustriert Eine Portraumltserie der Aumlbtissinnen sowie Listen der Stiftsdamen Familienrats-mitglieder und Stiftsverwalter runden die Darstellung ab

Harald Stockert

Gerd F HEPP Paul-Ludwig WEINACHT (Hg) Heimat in Bewegung Heimatbewusstsein in Baden im Zeitalter von Mobilitaumlt und Migration (Schriftenreihe des Landesvereins Badische Heimat Bd 14) Freiburg i Br Berlin Rombach 2018 178 S Abb Kt Brosch EUR 24ndash ISBN 978-3-7930-5166-4

Es ist wie so oft bei Sammelbaumlnden Die einzelnen Beitraumlge wirken irgendwie zusam-mengewuumlrfelt und man sucht den roten Faden Der Band bdquoHeimat in Bewegungldquo geht auf eine Vortragsreihe aus dem Jahr 2017 zuruumlck die im Rahmen der Heimattage Baden-Wuumlrttemberg in Karlsruhe stattfand Der Titel des Bandes verspricht eine Art Migra- tionsgeschichte des badischen Landesteils Das waumlre zu begruumlszligen denn vergleichbare Arbeiten gibt es nicht Der Titel verspricht aber auch eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff bzw dem Heimatbewusstsein in Baden arbeitet hierbei aber ohne theoretische Grundlage sieht man von dem einleitenden Beitrag von Arnold STADLER zum Begriff Heimat ab der aber eher eine persoumlnliche Annaumlherung an das Thema ist Letztendlich bietet der Band ndash man muss es leider sagen ndash beides nicht Manche der Bei-traumlge sind dennoch lesenswert

Thomas SCHNABEL bietet zunaumlchst einen kursorischen Uumlberblick uumlber die badische Auswanderungsgeschichte ndash ein Parforceritt uumlber rund 200 Jahre (wohlgemerkt auf elf Seiten) der das Thema lediglich grob umreiszligt Profunder erweist sich der Beitrag von Alexandra Fies die die Auswanderung aus Karlsruhe im spaumlten 19 Jahrhundert darstellt und dabei auf ihre eigenen Forschungen zuruumlckgreifen kann Der Beitrag ist gut strukturiert datengesaumlttigt und auch methodisch uumlberzeugend Der Band springt nun um rund 100 Jahre weiter zur Integration der Fluumlchtlinge und Vertriebenen in Karlsruhe nach 1945 mit einem Beitrag von Hans-Juumlrgen VOGT der den Begriff des bdquoIntegrationswundersldquo thematisiert aber letztlich kaum problematisiert Zum Thema liegen zahlreiche neue Forschungserkenntnisse vor deren Uumlberpruumlfung an den Karls- ruher Gegebenheiten sich angeboten haumltte Alfred EISFELD behandelt dann die bdquoalte und neue Heimat der Russlanddeutschenldquo und beginnt mit der Auswanderung von Badenern im Zuge der Kolonisationspolitik der Zarin Katharina II die im vorhergehen-den Beitrag von Thomas Schnabel noch bdquoeine unbedeutende Rolleldquo fuumlr die Auswande-rung im Suumldwesten gespielt haben soll Spaumltestens nun vermisst der Leser besagten roten Faden

Max MATTER ein ausgewiesener Kenner der Materie befasst sich in seinem Beitrag mit der Zuwanderung von Tuumlrkeistaumlmmigen in der sogenannten Wirtschaftswunderzeit Ein lesenswerter Beitrag aber unter dem Aspekt einer badischen Migrationsgeschichte fragt man sich wo all die anderen Nationalitaumlten und all die anderen Migrantengruppen bleiben die ebenfalls in den letzten rund siebzig Jahren ins Badische eingewandert sind

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Wie wurden sie empfangen Wie war die badische Bevoumllkerung auf die Zuwanderer ein-gestellt und welche Auswirkungen hatte die Tatsache dass Deutschland es sich jahrzehn-telang mit seiner Lebensluumlge bequem gemacht hatte kein Einwanderungsland zu sein Und lief es demgegenuumlber auf der lokalen Ebene nicht ganz anders wo kluge und prag-matische Kommunalpolitiker schon viel fruumlher verstanden hatten dass Deutschland de facto laumlngst schon ein Einwanderungsland war und dass Integration vorwiegend auf der lokalen Ebene geschieht Fragen gaumlbe es genug Antworten findet man in diesem Buch nur wenige

Was nun folgt sind mehrere Beitraumlge zu den Themen Heimat und Heimatbewusstsein die den Leser jedoch immer wieder vor die Frage stellen ob er nicht in die Achtzigerjahre zuruumlckversetzt wurde Saumltze wie bdquoBodenstaumlndige Heimat ist nicht nur Bauernland son-dern auch die Stadt der Buumlrgerldquo (S 107) Elogen auf den badischen Staatspraumlsidenten Leo Wohleb Seitenhiebe besser Breitseiten auf die bdquoStuttgarter Buumlrokratieldquo eine Aus-einandersetzung mit der Suumldweststaatgruumlndung die einen an die Debatten zu Beginn der 1950er Jahre erinnert und nicht zuletzt ein politisch gepraumlgter Kampfjargon sorgen fuumlr Irritationen Die bdquoTraumlger des ideologisch progressiven Kulturtypusldquo der 1970er Jahre sind demnach diejenigen die bdquoheute von innen und ganz obenldquo gruumlszligen und bdquodie oumlffentliche Meinungldquo sowie bdquodie Grenzen sbquopolitischer Korrektheitlsquo bestimmenldquo (S 111) Zur Erklauml-rung Gemeint sind Aktivisten aus der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung die sich in den 1970er Jahren gegen das Kernkraftwerk in Wyhl wehrten und ihr eigenes Heimat-verstaumlndnis hatten das aber so der Autor Paul-Ludwig WEINACHT keine bdquobleibende Gegenwartsform von Heimat am Kaiserstuhlldquo geworden sei Belege fuumlr solche pauscha-len Aussagen sucht man vergebens

Es folgen Beitraumlge von Jean-Marie WOEHRLING und Gerd F HEPP zum Heimatbewusst-sein im Elsass und zu den kulturellen Beziehungen zwischen Baden und dem Elsass die interessante Aspekte bieten bevor Robert MUumlRB aus seiner persoumlnlichen Perspektive nochmals in die Gruumlndungsgeschichte Baden-Wuumlrttembergs fuumlhrt Hier liest man vom bdquoberechtigten Unbehagen in weiten Teilen der badischen Bevoumllkerungldquo gegen den Stutt-garter Zentralismus vom bdquozentralistisch orientierten Verwaltungsdenken Alt-Wuumlrttem-bergsldquo das in Stuttgart Tradition habe und man lernt der Stuttgarter Landtag geriere sich bdquowie der Gemeinderat von Stuttgartldquo (S 145) Statt mit einer Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff endet das Buch also mit Verbandspolitik

Kein Zweifel Heimat ist wieder bdquoinldquo Lange Zeit war sie fuumlr viele ein toxischer Be-griff entweder altmodisch und hinterwaumlldlerisch konnotiert oder aufgrund der deutschen Geschichte belastet und nicht salonfaumlhig Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend veraumlndert Die Gruumlnde sind vielfaumlltig und hier nicht im Einzelnen zu erlaumlutern Sie reichen von der Zuwanderung uumlber die Globalisierung bis hin zur Digitalisierung Vor diesem Hintergrund gaumlbe es Dutzende interessanter Fragen wie mit dem schillernden und doch wichtigen Begriff der Heimat umzugehen ist in Staumldten in denen fast die Haumllfte der Be-voumllkerung einen sogenannten Migrationshintergrund hat genauso wie auf dem vermeint-lichen bdquoLandldquo das ja von ebendiesen Entwicklungen keinesfalls abgeschnitten ist Wie sieht ein offener Heimatbegriff aus der nicht ausschlieszligt sondern integriert Auf welchen Wertvorstellungen basiert er Und wie ist er zu fuumlllen damit er nicht von Populisten und Rechtsextremen missbraucht werden kann Antworten auf diese Fragen die gerade auch im regionalen Kontext von aktuellem Interesse sind findet man in diesem Band nur wenige

Reinhold Weber

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Konrad KRIMM Ludger SYREacute (Hg) Herrschaftswissen Bibliotheks- und Archivbauten im Alten Reich (Oberrheinische Studien Bd 37) Ostfildern Thorbecke 2018 272 S Abb geb EUR 34ndash ISBN 978-3-7995-7839-4

Obwohl die Geschichte des Archivierens und der Institution bdquoArchivldquo nun schon einige Zeit verstaumlrkt das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat und insbesondere die Kultur- und Medienwissenschaften das Thema entdeckt haben ist jenseits von Publikationen zu einzelnen Gebaumluden die zumeist anlaumlsslich von bdquoArchivjubilaumlenldquo oder Fertigstellungen von Neubauten entstanden sind wenig aus uumlbergreifender Sicht zur Unterbringung von Archiven publiziert worden Markus Friedrich hat in seinem kultur-wissenschaftlich ausgerichteten Buch uumlber die bdquoGeburt des Archivsldquo (Muumlnchen 2013) zu Recht auf die bdquobisher fehlende Architekturgeschichte der Archiveldquo hingewiesen (S 160) und ndash ohne die Absicht eine solche vorzulegen ndash fuumlr die Fruumlhe Neuzeit unter den Stichworten bdquoArchive als Raumstrukturenldquo bdquoArchivraumlume Schutzhuumlllen fuumlr fragile Beschreibstoffeldquo bdquodas wohlgeordnete Archiv als Raumidealldquo bdquoArchive als Teile von Gebaumludenldquo bdquoArchivmoumlbelldquo und bdquoArchivmobilitaumltldquo wichtige Beobachtungen angestellt (vgl ebd S 159ndash191)

Waumlhrend Friedrich mit vielen Beispielen aus der weiteren europaumlischen Perspektive spezifische Phaumlnomene der Unterbringung von Archiven beschrieben hat werden in dem hier zu besprechenden Band sowohl einzelne Bibliotheks- als auch Archivbauten im Alten Reich in den Blick genommen ebenfalls aus kulturwissenschaftlicher Sicht jedoch fokussiert auf einen bestimmten Aspekt wie schon der Obertitel anzeigt Denn Ziel dabei war bdquoauf die Zeichenhaftigkeit auch von Gebaumluden zu achtenldquo und bdquoBauprogramme zu sbquolesenlsquoldquo um die bdquoarchitektonische Huumllle von Buumlchern und Archivalienldquo als Repraumlsen- tanz von bdquoHerrschaft im weitesten Sinneldquo zu verstehen so Konrad KRIMM im Vorwort (vgl S 8)

Erwachsen ist die Publikation aus einer Tagung die 2015 gemeinsam von der Arbeits-gemeinschaft fuumlr geschichtliche Landeskunde am Oberrhein und der Badischen Biblio-theksgesellschaft im Schloss Altdorf veranstaltet wurde Vereint sind darin die folgenden elf Aufsaumltze von denen sieben auf Vortraumlge in Altdorf zuruumlckgehen und vier zusaumltzlich aufgenommen wurden Erich FRANZ Der Altdorfer Bibliotheksbau und das Werk Pierre Michel drsquoIxnards Julian HANSCHKE Archiv- und Schreibraumlume Kunstkammern und Bibliotheken auf dem Heidelberger Schloss Ludger SYREacute Kurpfaumllzische Pracht und badische Bescheidenheit Die Hofbibliotheken in Mannheim und Karlsruhe Hans-Otto MUumlHLEISEN Voneinander gelernt Ein vergleichender Blick auf die Bildprogramme der Klosterbibliotheken von Wiblingen St Peter auf dem Schwarzwald Bad Schussenried und ein Exkurs zu Weissenau Wolfgang WIESE bdquoWissen ist Machtldquo ndash Buumlcherschraumlnke als Herrschaftssymbole Konrad Krimm Klosterarchive Versuch einer Typologie Lea DIRKS Der Archivraum im Schloss Weikersheim Andreas WILTS bdquoEin solid- und von anderen abgesondertes Gebaumluldquo Das Fuumlrstlich Fuumlrstenbergische Archiv in Donaueschin-gen als wegweisender Archivbau des 18 Jahrhunderts Rouven PONS Sicherheit in schwerer Zeit Der Bau des Dillenburger Archivs 1764ndash1766 Joachim KEMPER bdquoder stat briefe mit laden zu ordenenldquo Beispiele reichsstaumldtischer Archivbauten und Archivein-richtungen Walter LIEHNER Pfennigturm am Rathaus und Stadtkanzlei Zwei Archiv-bauten aus reichsstaumldtischer Zeit in Uumlberlingen

Der uumlbergreifende und damit auch vergleichende Blick auf die beiden verwandten und historisch im Einzelfall sogar oft unmittelbar verbundenen Sphaumlren der Bibliotheken und Archive hat sich ndash wie der Band anschaulich zeigt ndash als uumlberaus tragfaumlhig erwiesen Denn

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auch wenn die Abfolge der Beitraumlge auf der Trennung beider Bereiche basiert indem zunaumlchst fuumlnf Aufsaumltze Bibliotheken und sodann sechs weitere Archiven gewidmet bzw zugeordnet sind werden immer wieder Verbindungen und Gemeinsamkeiten freilich auch Unterschiede deutlich Zudem hat Konrad Krimm in seinem Vorwort die Voraus-schau auf die einzelnen Beitraumlge mit einem Resuumlmee verwoben in dem wesentliche Punkte akzentuiert sind Sein Fazit insgesamt bdquoDie Bibliotheks- und Archivbauten der Fruumlhen Neuzeit [hellip] repraumlsentierten also Herrschaft im weitesten Sinn Die Skala des Zeichenhaften konnte dabei vom prunkvollen Repraumlsentationsbau bis zum bescheiden-sten fast nur noch funktionalen Behaumlltnis reichen sie konnte die bdquoAuszligenhautldquo mitein-beziehen oder sich auf den Innenraum beschraumlnkenldquo (S 7) Verwiesen wird dazu bei- spielhaft zunaumlchst auf die Mannheimer Schlossbibliothek als besonders eindrucksvollen Repraumlsentationsbau und sodann auf den Tagungsort bdquoSelbst der in aller klassizistischen Schoumlnheit doch bescheidene Bibliothekssaal der Freiherren von Tuumlrckheim in Altdorf der von auszligen als solcher nicht wahrnehmbar ist bedeutete Bauen der Herrschaft fuumlr die Herrschaft nicht fuumlr den Buchbesitz der Familie [hellip] ein eigener neuer Schlossfluumlgel sollte im Oberstock wohl vor allem das juristische Wissen bewahren und griffbereit hal-ten waumlhrend im Erdgeschoss ein Archivraum die Beweismittel fuumlr diese reichsritter-schaftliche und damit reichsunmittelbare Herrschaft zu sichern hatteldquo (S 8)

Auf Unterschiede bei den Bibliotheken macht besonders auch Syreacute aufmerksam bdquoSo wie sich in praumlchtigen Schloumlssern Herrschaftsarchitektur widerspiegelte so manifestierte sich in groszligen Buumlchersammlungen Herrschaftswissen Am kurpfaumllzischen Hof praumlsen-tierte man die Buumlchersammlungen in einem prunk- und effektvollen Ambiente am badi-schen Hof orientierte man sich an der zweckmaumlszligigen Unterbringung und praktischen Bewaumlltigung der Buumlchermengenldquo (S 68) Und Krimm bilanziert vergleichend fuumlr Archive und Bibliotheken bdquoDer erste Bau des Generallandesarchivs am Karlsruher Zirkel von 1782 war bei aller behaumlbig-repraumlsentativen Auszligenwirkung im Inneren von nuumlchterner Sparsamkeit und uumlbertriebener Enge gepraumlgt Schaueffekte irgendwelcher Art waren nicht eingeplant Aber das galt nicht uumlberall In Kloumlstern wie Fischingen in Reichsstaumldten wie Speyer in Residenzarchiven wie dem in Donaueschingen wollte sich Herrschaft als Herr-schaft zeigen auch in ihren Archiven nicht nur in den Bibliotheken Die Bibliothek war freilich fast immer der repraumlsentativere Ort ndash selbst im sparsamen Karlsruhe gab es in der eher muumlhsam in einem Schlossnebengebaumlude untergebrachten Hofbibliothek einen Kuppelsaalldquo (S 8 f) Als Ergebnis bleibt festzuhalten dass der herrschaftliche Zeichen-charakter auch bei vielen Archiven gegeben war und nicht uumlbersehen werden sollte bdquoDer Uumlberlinger sbquoPfennigturmlsquoldquo schuumltzte mit seinen dicken Mauern die Kasse und das Archiv der Reichsstadt war also zunaumlchst reiner Zweckbau fortifikatorisch aber uumlberdimensio-niert und optisch stark herausgehoben sollte auch er ganz offensichtlich die Staumlrke und Bedeutung der reichsstaumldtischen Herrschaft des Vororts der Bodensee-Staumldte demon-strierenldquo (S 8) Archivzweckbauten sollten ndash so in Donaueschingen ndash bdquodie Praumlsenz und die Bedeutungldquo der herrschaftlichen Verwaltung herausstellen oder ndash wie in Dillenburg ndash angesichts der bdquovielfach zersplitterten Territorien des Hauses Nassau [hellip] die immer noch zentral gedachte Funktion des alten Residenzorts [hellip] beweisen und uumlber die durch-aus widrigen Zeitlaumlufte hinweg sbquorettenlsquoldquo (ebd)

Im Detail lassen sich viele Gemeinsamkeiten zwischen Bibliotheken und Archiven erkennen So kann man bdquoInterpretationsmusterldquo der triumphalen ikonologischen Bild-programme im Inneren der Klosterbibliotheken von Wiblingen St Peter und Bad Schus-senried bdquomit einigen wenigen Archivinnenraumlumen vergleichen die wie in Salem oder vor

629Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 629

In dem Beitrag von Olivier RICHARD geht es um die Dekapolis im Elsass den Bund von meistens zehn elsaumlssischen Reichsstaumldten Das Andenken an diesen Bund ist in den ehemaligen Mitgliedsstaumldten bis heute sehr lebendig und steht damit in einem gewissen Gegensatz zu seiner tatsaumlchlichen historischen Bedeutung Die starke Betonung der Zugehoumlrigkeit zum Reich ist verwunderlich standen doch die Elsaumlsser zeitweilig unter groszligem Druck zu zeigen dass sie voll und ganz Franzosen waren In der Wahrnehmung der Elsaumlsser kam es dazu dass der Bund als Besonderheit und gar als pars pro toto fuumlr das ganze Elsass betrachtet wurde waumlhrend deutsche Historiker die Staumldte eher als gewoumlhnliche Reichsstaumldte wahrnahmen

Weniger um die Instrumentalisierung des Andenkens geht es beim Erinnerungsort Schlettstadt den Birgit STUDT vorstellt Die dortige Humanistenbibliothek ist vielmehr ein Kristallisationspunkt der Erinnerung an den Humanismus am Oberrhein der vielleicht wegen der Lage in einer eher unscheinbaren Stadt im Elsass fernab groumlszligerer Zentren so besonders ist Trotzdem wurde die Schlettstadter Lateinschule zu einer Bildungsinsti-tution im Zeitalter des Humanismus mit einer Ausstrahlung weit uumlber das Oberrheingebiet hinaus

In dem Beitrag von Peter KURMANN uumlber das Straszligburger Muumlnster wird die Thematik des Erinnerungsorts auf zwei Ebenen angesprochen Zum einen bezuumlglich der Verwendung von Spolien in der Kunst So ist das Straszligburger Muumlnster selbst ein Erinnerungsort wurde es doch genau auf dem Grundriss seines spaumltottonischen Vorgaumlngerbaus errichtet der sei-nerseits dem Typus der christlichen Basilika aus dem 4 Jahrhundert nachempfunden war Man bewahrte die alte Form fuumlhrte aber die Bauteile im Stil der eigenen Zeit aus und demonstrierte so gleichzeitig Traditionsverbundenheit und modernes Repraumlsentationsbe-duumlrfnis Die Rezeptionsgeschichte des Muumlnsters in neuerer Zeit ist wie Kurmann anmerkt noch nicht geschrieben Er fuumlhrt aber zum anderen verschiedene Versuche an die Kathe-drale als Symbol fuumlr ein franzoumlsisches bzw deutsches Elsass zu vereinnahmen Zuletzt herrsche die Tendenz vor den europaumlischen Charakter des Muumlnsters zu betonen

Boris Bigott

Heidrun OCHS Gabriel ZEILINGER (Hg) Kaufhaumluser an Mittel- und Oberrhein im Spaumlt-mittelalter (Schriften zur suumldwestdeutschen Landeskunde Bd 80) Ostfildern Thor-becke 2019 VII 176 S Abb geb EUR 28ndash ISBN 978-3-7995-5280-6

In ihrer Einleitung (S 1ndash8) umschreiben die beiden Herausgeber ndash Heidrun OCHS und Gabriel ZEILINGER ndash die Zielsetzung des Tagungsbandes Im Rahmen der Tagung wurden mittelalterliche Kaufhaumluser orts- und themenuumlbergreifend unter neuen Fragestellungen thematisiert Im Fokus stand die Rolle der Kaufhaumluser fuumlr die Kaufleute den staumldtischen Rat und die Buumlrger der Stadt Kaufhaumluser dienten als permanente Orte des Handels sowohl der Foumlrderung als auch der Normierung Als hallenartige meist repraumlsentative Gebaumlude waren sie wichtige Instrumente und Kristallisationsorte kommunaler Wirt-schaftspolitik und entstanden seit dem 12 Jahrhundert Sie boten aber auch den aus- waumlrtigen Kaufleuten Verlaumlsslichkeit bei der Bestimmung der Maszlige und Sicherheit fuumlr die Zwischenlagerung der Waren

Nina GALLION (bdquoVom Breisgau bis zum Bodensee Kaufhaumluser als Zentren von Handel und Profitldquo S 9ndash25) praumlsentiert eine kurze uumlberblicksartige Einfuumlhrung in die Ge-schichte der Kaufhaumluser im Breisgau und am Bodensee Aufgrund des Forschungsstandes stehen die Einrichtungen in Freiburg und Konstanz im Mittelpunkt Uumlberlingen und Meersburg werden hinzugezogen Olivier RICHARD derzeit sicherlich einer der besten

644 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 644

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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allem in Fischingen ausladende Herrschaftssymbolik uumlber den schriftlichen Rechtstiteln dieser Herrschaft ausbreitetenldquo (ebd S 7 f) Auch blieben in der bdquoAusstattung die Gren-zen zwischen nur funktionalen Behaumlltnissen und repraumlsentativen Schaumoumlbeln flieszligendldquo (ebd S 8) so das Fazit Krimms zu den Beitraumlgen uumlber die Wissen ordnenden Buumlcher-schraumlnke Schrank- und Schubladeneinbauten und den Schauraum im reichsstaumldtischen Archiv in Speyer mit der zutreffenden Anmerkung bdquoDas mag zunaumlchst verwundern das Archiv war ja bis fast ins 19 Jahrhundert kein Ort fuumlr Besucher sondern ein Arkan- bereich den man aumlngstlich vor fremden Augen huumltete Mobiliar fuumlr Gaumlste Lesepulte und -tische kostbare Schraumlnke und dergleichen erwartet man eher in Bibliotheken in ihrer Doppelfunktion als Arbeits- und Schauraumldquo (S 8)

Uumlber die besondere Fragestellung der Tagung hinaus bieten alle Beitraumlge naturgemaumlszlig eine Fuumllle an interessanten Details zu den behandelten Objekten und damit zur Biblio-theks- und Archivgeschichte vorrangig des deutschen Suumldwestens Dass dabei der bdquoraumlum-liche Zusammenhang von Bibliothek und Archivldquo im Beitrag von Julian Hanschke zum Heidelberger Schloss bdquobesonders deutlichldquo wird (ebd) laumlsst sich schon dem Titel ablesen So sind auch die naumlheren Ausfuumlhrungen Hanschkes zur Umwidmung des ehemaligen herrschaftlichen Palasts zu einem Bibliotheks- und Archivgebaumlude (S 40 ff) schon rein institutionengeschichtlich von besonderem Interesse Dasselbe gilt fuumlr die Abhandlungen von Andreas Wilts und Rouven Pons zu den Archivzweckbauten in Donaueschingen und Dillenburg die sehr gute Uumlberblicke zur Entstehung solcher bdquoZweckbautenldquo in der Fruumlhen Neuzeit bieten Von geradezu grundlegender Bedeutung fuumlr die Geschichte der Archive ist Konrad Krimms eigener Beitrag unter dem Titel bdquoKlosterarchive Versuch einer Typologieldquo in dem Sakristei Skriptorium und Armarium als gemeinsame Zelle von Bibliothek und Archiv ausgewiesen werden dann aber auch weitere Entwicklungen die mit der Zunahme des kanzleimaumlszligigen Verwaltungsschriftguts eintraten kenntnisreich thematisiert sind

Nicht unerwaumlhnt soll die hohe Qualitaumlt der vielen Abbildungen bleiben mit denen die Darlegungen anschaulich illustriert sind Insgesamt kann man fuumlr den anregenden unser Wissen uumlber Bibliotheken und Archive der Fruumlhen Neuzeit bereichernden sorgsam redigierten und nicht zuletzt auch in aumlsthetischer Hinsicht gelungenen Tagungsband nur dankbar sein

Robert Kretzschmar

Cornel DORA (Hg) Geschichte machen Handschriften erzaumlhlen Vergangenheit Winter-ausstellung 10 Dezember 2019 bis 8 Maumlrz 2020 St Gallen Verlag am Klosterhof Basel Schwabe 2019 95 S Abb Brosch EUR 25ndash ISBN 978-3-905906-38-7 (Ver-lag am Klosterhof) ISBN 978-3-7965-4099-8 (Schwabe)

Eine Ausstellung der Stiftsbibliothek St Gallen im Winter 20192020 widmete sich anlaumlsslich der Publikation einer neuen kritischen Ausgabe der Casus sancti Galli Ekke-harts IV von St Gallen verschiedenen Formen der Geschichtsschreibung wie sie sich vorwiegend aus den stiftseigenen Handschriftenbestaumlnden und in Bezug auf das Kloster St Gallen illustrieren lassen In der vorliegenden Begleitpublikation kommen deren fuumlnf Autoren in sieben Abschnitten etwa gleichen Umfangs dazu auf Historische Quellen (Cornel DORA) Antike geschichtliche Stoffe (Andreas NIEVERGELT) Christliche Welt-chronistik (Nievergelt) St Galler Klostergeschichtsschreibung (Dora) Staumldtische Ge-schichtsschreibung als alternative Geschichtsschreibung (Nicole STADELMANN und Stefan SONDEREGGER) Annalen (Philipp LENZ) und Legenden (Dora) zu sprechen Umrahmt

630 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 630

Am Ort des heutigen St Ottilien habe sich fuumlr sie wundersamer Weise ein Fels geoumlffnet in dem sie sich verstecken konnte Nachdem die Gefahr vorbei war habe sich dieser Fels erneut geoumlffnet und es kam daraus die noch heute sprudelnde Quelle hervor Die an dem Ort erbaute Ottilienkapelle stammt aus der Zeit um 1500 Wie weit fruumlher die Ottilien-verehrung zuruumlckreicht ist ungewiss

Die Dynastie der Zaumlhringer als Erinnerungsort beleuchtet Thomas ZOTZ der auf die vielen Denkmaumller und Bauten aus der Zaumlhringerzeit in denjenigen Staumldten verweisen kann die einst von den Zaumlhringern gegruumlndet worden waren Allen voran Freiburg im Breisgau wo man kurioser Weise uumlber lange Zeit den falschen Zaumlhringer Bertold III als Stadtgruumlnder memorierte Aber auch im eidgenoumlssischen Bern gehoumlrte die Ruumlckbe-sinnung besonders auf den dortigen Stadtgruumlnder Bertold V in Mittelalter und Neuzeit zur wohl gepflegten Memoria Das in Freiburg so lebendige Andenken an die Zaumlhringer ist dem Umstand geschuldet dass sich die Markgrafen von Baden seit dem 18 Jahr- hundert auch in die Tradition der Zaumlhringer stellten Dies war ein gemeinsamer Anknuumlp-fungspunkt als das jahrhundertelang habsburgische Freiburg im Jahr 1806 dem neu ent- stehenden Groszligherzogtum Baden zugeschlagen wurde

Weitaus geringer ist das Andenken an die Habsburger am Oberrhein ausgepraumlgt das Peter NIEDERHAumlUSER untersuchte Das ist einerseits erstaunlich da Freiburg weitaus laumlnger unter habsburgischer denn unter zaumlhringischer Herrschaft stand und letztere zeit-lich zudem deutlich weiter zuruumlcklag Andererseits leuchtet natuumlrlich ein dass die in Napoleonischer Zeit neu geschaffenen Staaten Baden und Wuumlrttemberg denen groszlige Teile des bis dahin habsburgischen Vorderoumlsterreich zugeschlagen wurden kein Interesse an einer Ruumlckbesinnung auf die Habsburger haben konnten Zudem war Vorderoumlsterreich lediglich ein Randgebiet der Habsburger Die groszligen Zentren wo es eine entsprechende Bautaumltigkeit und Repraumlsentation gab lagen jenseits des Arlbergs Am Oberrhein finden sich kaum Spuren aktiven Angedenkens lediglich architektonische Uumlberreste die an die Habsburger erinnern koumlnnen namhaft gemacht werden Wo die habsburgische Memoria tatsaumlchlich betrieben wurde in den Kloumlstern Muri und Koumlnigsfelden hat man den engeren Bereich des Oberrheins bereits verlassen Bemerkenswert ist immerhin der Versuch des Sanblasianer Abts Martin Gerbert in seinem Kloster eine Grablege fuumlr die Habsburger zu schaffen wohl um dem Kloster durch die Anbiederung an die Dynastie die Existenz zu sichern

Johanna THALI stellt die politische Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Ma-nessischen Liederhandschrift und des darin festgehaltenen Minnesangs vor Die beruumlhmte und praumlchtige Sammlung von Minneliedern wurde wohl durch die Zuumlrcher Buumlrgerfamilie Manesse im 14 Jahrhundert angelegt Nachdem der Minnesang im Spaumltmittelalter nicht mehr praktiziert wurde gerieten auch die Lieder in Vergessenheit Erst im 18 Jahrhundert erwachte wieder ein Interesse an bdquoDenkmaumllern altdeutscher Literaturldquo Im Zusammen-hang mit der Gruumlndung des deutschen Nationalstaats im 19 Jahrhundert geriet der Codex Manesse in das Blickfeld der Oumlffentlichkeit und galt als wichtiges Zeugnis deutscher Kultur Im Jahr 1888 konnte er von der franzoumlsischen Nationalbibliothek fuumlr die Univer-sitaumltsbibliothek Heidelberg gekauft werden Der Kauf war eine regelrechte Staatsaktion unter Beteiligung Bismarcks und Groszligherzog Friedrichs Wie praumlsent das Thema im Be-wusstsein der Gesellschaft damals war zeigen die Benennungen von Straszligen und Schulen nach den Minnesaumlngern und als vielleicht prominentestes Beispiel ein Relief an der Straszlig-burger Universitaumltsbibliothek wo Gottfried von Straszligburg die Reihe der deutschen Dich-ter eroumlffnet gefolgt von Lessing Goethe und Schiller

643Mittelalter

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Diese fand im Rahmen des Freiburger Studium Generale in der sogenannten Samstags-Uni statt die sich sowohl an ein universitaumlres als auch an ein breites Publikum aus der Bevoumllkerung richtet Auch der daraus resultierende Band soll ein gemischtes Publikum erreichen weshalb der wissenschaftliche Apparat auf ein Mindestmaszlig begrenzt und den einzelnen Beitraumlgen in der Form von Endnoten beigegeben wurde Ergaumlnzend gibt es zu allen Aufsaumltzen am Ende des Bandes noch jeweils eine kurze Liste mit weiterfuumlhrender Literatur

Das Konzept der Erinnerungsorte geht auf den franzoumlsischen Historiker Pierre Nora zuruumlck der den Begriff bdquolieux de meacutemoireldquo nicht nur im engeren sondern vor allem im uumlbertragenen Sinn versteht So kann von konkreten Orten die Rede sein aber auch von Ereignissen Personen Dynastien und vielem anderen mehr (vgl Definition auf S 128) Dabei stehen weniger die historischen Sachverhalte selbst im Zentrum des Interesses sondern vielmehr wie sie erinnert in die eigene Geschichte integriert und erzaumlhlt werden So kann es gerade am Oberrheingebiet an dem drei Staaten Anteil haben sowohl eine deutsche Sicht auf bestimmte Erinnerungsorte geben als auch eine schweizerische und eine franzoumlsische Das gilt insbesondere fuumlr das Elsass dessen staatliche Zugehoumlrigkeit wiederholt wechselte und wo man zudem mit einer spezifisch elsaumlssischen Perspektive zu rechnen hat

Im ersten der Beitraumlge von Heinrich SCHWENDEMANN geht es um die elsaumlssische Hoh-koumlnigsburg Diese Burg sollte nach 1900 quasi als Inbegriff einer deutschen Burg wie-deraufgebaut werden Fuumlr das Projekt konnte niemand geringeres als Kaiser Wilhelm II begeistert werden der aus eigener Schatulle fuumlr eine Anschubfinanzierung sorgte zu der dann der Reichstag einen weitaus groumlszligeren Betrag fuumlr das Gesamtprojekt zuschoss Der Kaiser sah in der Hohkoumlnigsburg im Elsass ein Pendant zur Marienburg im Osten seines Reichs und er konnte sich mit der Vereinnahmung der Burg in die Tradition der Hohen-staufen und Habsburger stellen die die Hohkoumlnigsburg einst errichtet bzw uumlber das Elsass geherrscht hatten ndash Anknuumlpfungen an mittelalterliche Kaiserdynastien wie man sie von den Hohenzollern etwa auch aus Goslar oder vom Kyffhaumluser kennt Seit der Eroumlffnung der Hohkoumlnigsburg im Jahr 1908 verblieben nur noch wenige Jahre in denen sie in der beabsichtigten Weise die preuszligisch-deutsche Herrschaft uumlber das Elsass reprauml-sentierte Nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine Umdeutung des Erinnerungsorts ein Von offizieller franzoumlsischer Seite betrachtete man die Burg nun als Sinnbild fuumlr den kaiserlichen Groumlszligenwahn Waumlhrend der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg interessierte sich das NS-Regime praktisch nicht fuumlr die Hohkoumlnigsburg war sie doch zu sehr ein hohenzollerisches Symbol Ironischer Weise waren es nach dem Krieg die Elsaumlsser die sich zunehmend mit der Burg identifizierten und sie als elsaumlssisches Bau-werk ansahen

Heilige sind Personen deren Leben und Sterben aus christlicher Sicht als vorbildhaft gelten Das Andenken an sie ist geradezu der Wesenskern ihrer Verehrung Insofern sind Heilige und ihre Kultplaumltze per se Erinnerungsorte Exemplifiziert hat dies Barbara FLEITH an der heiligen Odilia und ihrer Verehrung auf dem elsaumlssischen Odilienberg aber auch in St Ottilien nahe Freiburg Dabei werden die Unterschiede ihrer Verehrung und Memorierung verdeutlicht Waumlhrend sie in dem auf dem Odilienberg errichteten Kloster Hohenburg als blind geborenes Kind aber durch die Taufe sehend gewordene Heilige verehrt wird und Pilgerfahrten zu ihrem Grab dort bereits seit der Karolingerzeit greifbar sind liegt ihrer Verehrung in St Ottilien eine andere Legende zugrunde Dieser nach habe sie vor ihrem Vater fluumlchten muumlssen als er sie gegen ihren Willen verheiraten wollte

642 Buchbesprechungen

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werden diese Themen von einem kurzen Vorwort (Dora) einem einleitenden Aufsatz bdquoKarl der Dicke in St Gallenldquo von Hannes STEINER der Bezug nimmt auf den Anlass der Ausstellung sowie einem abschlieszligenden einseitigen Zitat aus Ildefons von Arxlsquo Ge-schichten des Kantons St Gallen (1813) Beigefuumlgt ist zudem ein kurzer Anhang der neben den Anmerkungen dankenswerterweise auch ein Verzeichnis der behandelten Exponate nebst deren jeweiliger Heimatinstitution bietet Die sieben Hauptabteilungen gliedern sich in je eine in der Regel einseitige Einleitung sowie die Beschreibung und Einordnung der Exponate auf jeweils einer Doppelseite mit Text und Farbabbildung in unterschiedlicher Anordnung Einzige Ausnahme hinsichtlich Gesamtlaumlnge und Einlei-tung bildet das Kapitel zur St Galler Klostergeschichtsschreibung das deutlich umfang-reicher ist hier findet sich unter anderem auch eine nuumltzliche Uumlbersicht der Werke zur St Galler Klostergeschichtsschreibung und ihrer (Erst-)Editionen

Trotz sehr unterschiedlicher Stile der einzelnen Autoren durchwegs fluumlssig lesbar duumlrf-ten die Texte dem Kontext einer solchen Ausstellung entsprechend auch fuumlr Laien in der Regel gut verstaumlndlich sein Sie greifen wesentliche Aspekte historiographischer Texte auf wenngleich in unterschiedlicher Ausfuumlhrlichkeit So erhalten etwa Urkunden als Quellengattung einen doppelseitigen Abriss anhand eines ausgewaumlhlten Beispiels (S 24 f) waumlhrend bdquoBriefeldquo zwar ausfuumlhrlich und informativ das gewaumlhlte Beispiel be-schreibt (Symmachus) entgegen der Kapiteluumlberschrift der dieser Abschnitt zugeordnet ist (bdquoHistorische Quellenldquo) jedoch kaum auf die Besonderheiten oder den Wert von Brie-fen als historische Quellen eingeht (S 26 f) Die weder in der kurzen Einleitung dieses Kapitels noch im Vorwort erwaumlhnten literarischen Quellen erhalten dagegen in der gesamten Ausstellung respektive dem vorliegenden Katalog eine recht prominente Stel-lung (z B bdquoEin deutscher Trojaromanldquo S 34 f bdquoGeschichte als Literaturldquo S 52 f usw) Zurecht wird mehrfach auf die haumlufige Vermischung von Genres verwiesen die eine strikte Trennung zwischen historiographischen Werken in engerem Sinne und lite-rarischen Werken oft unmoumlglich macht Der wissensvermittelnde Zweck von Ausstel-lungskatalogen spiegelt sich besonders in dem erkennbaren und erfolgreich umgesetzten Anliegen wider die unterschiedlichen Absichten verschiedener Einzeltexte oder Quel-lengattungen und ihre Auswirkungen fuumlr Gestaltung Rezeption und Interpretation zu verdeutlichen (exemplarisch etwa in der Einleitung zum Kapitel bdquoLegendenldquo S 79)

Der Katalog der sich uumlberwiegend auf St Gallen und St Gallener Bestaumlnde bezieht zeigt ausgewaumlhlte Einzelstuumlcke die meisten davon aus den Sammlungen der Stiftsbiblio-thek Die uumlberschaubare Anzahl der oft prominenten Exponate schmaumllert dabei nicht das Verdienst der Autoren die eine uumlbersichtliche und gut verstaumlndliche Zusammenstellung zur Frage nach dem Wert unterschiedlichster Quellen fuumlr die Geschichtsschreibung und damit verbunden fuumlr unser Geschichtsbild vorlegen Fuszlignoten statt Endnoten und ein zu-saumltzliches Literaturverzeichnis waumlren im Sinne des Lesekomforts und der Transparenz wuumlnschenswert gewesen doch ist dies bei einer Publikation dieses Formats mit den inhaumlrenten Einschraumlnkungen der Layoutoptionen ein geringer Makel So bildet die auch optisch sehr ansprechend gestaltete Broschuumlre insgesamt ein in sich rundes lesenswertes Buumlchlein Mit seiner reichen Bebilderung vermittelt es einen guten Eindruck der urspruumlnglichen Ausstellung des Reichtums der Bestaumlnde der Stiftsbibliothek der Uumlber-lieferung zur St Galler Geschichte sowie der Vielfalt historischen Quellenmaterials im Allgemeinen und wird somit dem ebenfalls allgemeiner gefassten Titel der Ausstellung durchaus gerecht

Annika Stello

631Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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verwahrten Kartensammlung von Prof Dr Fritz Hellwig (1912ndash2017) welcher an der Vorbereitung der Praumlsentation Anteil nahm

Helmut FRUumlHAUF einer der drei Ausstellungskuratoren gibt zunaumlchst einen ausfuumlhr-lichen biographischen Uumlberblick uumlber das lange und ereignisreiche Leben des Saarlaumlnders Hellwig Neben seinem beruflichen und politischen Wirken war er ein eifriger Sammler von Landkarten Ansichten Portraumlts Schriften und Buumlchern Teile dieser Sammlung die sich vielfach auf das Saarland Lothringen und Luxemburg bezieht befinden sich nicht nur im Landesbibliothekszentrum sondern in betraumlchtlichem Umfang auch an Karten im Landesarchiv Saarbruumlcken was kurz Erwaumlhnung findet

Der zweite Aufsatz Fruumlhaufs befasst sich mit der bdquoEntwicklung der historischen Kartographie im Spiegel der Kartensammlung Hellwigldquo mit eigenen Abschnitten zur Mi-litaumlrkartographie und zu Territorialkarten anhand der vom Bibliothekszentrum 2008 er-worbenen insgesamt 366 gedruckten Karten aus der Zeit von 1513 bis etwa 1920 Gut die Haumllfte der Karten stammt aus dem 18 Jahrhundert aber auch fuumlr die aumlltere Zeit ab 1513 sind angefangen bei Martin Waldseemuumlller etliche bedeutende Kartographen vertreten

Armin SCHLECHTER als zweiter Kurator der Ausstellung geht in seinem Aufsatz auf die Kartensammlung Hellwigs als historische Quelle ein Dabei unterscheidet er zwischen Karten mit dem Verlauf des Rheins im Zentrum Territorialkarten und Karten mit Bezug auf historische Ereignisse vornehmlich Kriegskarten aber beispielsweise auch Karten zu Erdbeben in Baden 1896 und 1911 die jeweils in die historischen Ereignisse ein- gebettet und interpretiert werden Im eigentlichen Katalogteil werden 54 ausgewaumlhlte Karten aus der Sammlung zum Lauf des Rheins mit Schwerpunkt Mittelrhein jeweils als Ganzes farbig auf einer Seite oder bei sehr langen Karten auf einer eingeklappten Dop-pelseite abgebildet Jeder Karte ist eine mehr oder weniger ausfuumlhrliche Erlaumluterung mit Literaturangaben beigegeben Waumlhrend Helmut Fruumlhauf vierzehn fruumlhe Rheinlaufkarten von 1513 bis 1700 beschreibt befasst sich Armin Schlechter mit zwanzig Landkarten zum bdquoOberrheinischen Kriegstheaterldquo 1635 bis 1815 Die dritte Ausstellungskuratorin Barbara Koelges stellt zwanzig Territorialkarten vor Den Abschluss des Bandes bildet ein chronologisch aufgebautes Verzeichnis mit den technischen Daten aller 366 Karten der Sammlung Hellwig in Koblenz

Mit der Ausstellung beziehungsweise dem Begleitband widmen sich die Ausstellungs-kuratoren der verdienstvollen Aufgabe eine interessante Sondersammlung bekannt zu machen die man nicht ohne weiteres an ihrem Aufbewahrungsort vermuten wuumlrde In den beiden Aufsaumltzen von Fruumlhauf und Schlechter zur Kartographie wurde zudem die sich bietende Gelegenheit auch die Karten Hellwigs die in der eigentlichen Ausstellung keine Beruumlcksichtigung finden konnten in gewisser Weise vorzustellen und zu interpre-tieren rege genutzt Der Band bietet zahlreiche Hinweise und Anregungen zur weiteren Beschaumlftigung mit der Kartensammlung Hellwigs oder auch anderen Karten zum Thema fuumlr alle die sich aus wissenschaftlichen oder heimatkundlichen Gruumlnden mit Landkarten befassen

Gabriele Wuumlst

Juumlrgen DENDORFER (Hg) Erinnerungsorte des Mittelalters am Oberrhein (Schlaglichter regionaler Geschichte Bd 4) Freiburg i Br Berlin Wien Rombach 2017 194 S Brosch EUR 24ndash ISBN 978-3-7930-5153-4

Der vorzustellende Band ist bereits der vierte in der noch jungen Reihe bdquoSchlaglichter regionaler Geschichteldquo und wie seine Vorgaumlnger geht er auf eine Ringvorlesung zuruumlck

641Mittelalter

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 641

Thomas JUST Kathrin KININGER Andrea SOMMERLECHNER Herwig WEIGL (Hg) Privilegium maius Autopsie Kontext und Karriere der Faumllschungen Rudolfs IV von Oumlsterreich (Veroumlffentlichungen des Instituts fuumlr Oumlsterreichische Geschichtsforschung Bd 69 Mitteilungen des Oumlsterreichischen Staatsarchivs Sonderbd 15) Wien Boumlhlau 2018 388 S geb Abb EUR 70ndash ISBN 978-3-205-20049-9 Der Band verdankt seine Entstehung einer Tagung die aus der Kooperation des Insti-

tuts fuumlr Oumlsterreichische Geschichtsforschung mit dem Oumlsterreichischen Staatsarchiv und dem Kunsthistorischen Museum Wien entstand deren Ergebnisse nun anlaumlsslich der Ausstellung bdquoFalsche Tatsachen Das Privilegium maius und seine Geschichteldquo (16 Okt 2018 ndash 20 Jan 2019) veroumlffentlicht wurden Am Beginn stehen an den maszliggebenden Drucken orientierte Lesetexte der Urkunden des Maius-Komplexes die den Lesern als bequeme Referenz zum Nachvollziehen und kritischen Uumlberpruumlfen der Argumentation in den folgenden 15 Beitraumlgen zur Verfuumlgung stehen Einleitend gibt Thomas JUST (bdquoGeschichte wird gemacht Von Herzog Rudolf IV zu Heinz Grill Das Privilegium maius im Archivldquo S 28ndash39) bdquoeinen Uumlberblick uumlber die wichtigsten Repraumlsentationen des Privilegium maius im Haus- Hof- und Staatsarchivldquo sowie deren Nutzung worunter auch das kriminelle Verhalten des Archivars Heinz Grill faumlllt der sich durch den Verkauf von Goldbullen der Urkunden bereicherte und auch fuumlr die Vernichtung von Bestaumlti-gungsurkunden der Privilegien durch Friedrich III (1453) Karl V (1530) Ferdinand II (1623) und Karl VI (1729) verantwortlich ist Die weiteren Beitraumlge lassen sich vier Gruppen zuordnen 1 Analysen mit naturwissenschaftlich-technischen Methoden 2 klas-sisch grundwissenschaftliche Untersuchungen 3 Einordnung des Faumllschungskomplexes in den Entstehungskontext intendierte Funktion und zeitgenoumlssische Rezeption 4 Wir-kungsgeschichte seit dem Spaumltmittelalter

Die Ergebnisse der Untersuchungen mit technischen Mitteln durch Marcus GRIESSER et al (bdquoStrahlendiagnostische und materialanalytische Untersuchungen zum Urkunden-komplex sbquoPrivilegium maiuslsquoldquo S 42ndash55) und Maurizio ACETO et al (bdquoThe contribution of analytical chemistry to the study of ancient documentsldquo S 57ndash76) erfordern keine Revision des mittels der historisch-kritischen Methode erarbeiten Kenntnisstandes Von Interesse ist der Nachweis dass das auf 1058 datierte sogenannte Heinricianum nach dem Aufbringen der Schrift nochmals befeuchtet und zerknuumlllt wurde um ein hohes Alter des Dokuments vorzutaumluschen Walter KOCH (bdquoDie gefaumllschten oumlsterreichischen Haus-privilegienldquo S 77ndash90) arbeitet als zentrale Faumllschungsabsicht beim auf 1156 datierten Fridericianum das Bestreben heraus das Bild einer Kaiserurkunde des 12 Jahrhunderts durch Nachahmung der wesentlichen graphischen Merkmale zu erschaffen Trotz einiger Fehler sei dies bdquodem Faumllscher des Maius bzw den Faumllschern der gesamten Gruppe aus-gezeichnet gelungenldquo (S 79) Christian LACKNER (bdquoZum Diktat des Privilegium maius Kanzler Johann Ribi und der Maius-Faumllschungskomplexldquo S 91ndash103) stellt die Grund-satzfrage inwieweit bdquodas traditionelle methodische Instrumentarium des Diktatver-gleichsldquo im vorliegenden Fall geeignet ist um die Urheber der Faumllschungen zu ermitteln Obwohl er einige Indizien zusammentragen kann reichen diese auch nach seiner eigenen Ansicht nicht aus um Kanzler Johann Ribi als Diktator der Faumllschungen zu identifizieren Wenngleich er die Urkunden nicht selbst mundierte muumlsse er dennoch als Kopf hinter der Faumllschungsaktion gelten

Vreni DANGL (bdquoDer Erzherzog und sein Bischof Bischof Gottfried von Passau und Herzog Rudolf IV von Oumlsterreich im Kontext der oumlsterreichischen Freiheitsbriefeldquo S 105ndash144) beleuchtet die Beziehungen des Passauer Bischofs zu Herzog Rudolf IV

632 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 632

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

kleinen Durchmessers bestand Dennoch vertraten die beiden Gelehrten partiell inhaltlich unterschiedliche Ansichten Dieser Umstand mag ein Grund dafuumlr gewesen sein dass Waldseemuumlller bereits 1509 eine eigene kosmographische Abhandlung in deutscher Spra-che veroumlffentlichte welche auch zahlreiche theologische Aspekte enthielt und die (nicht nur doch unter anderem) eine ausfuumlhrliche Erklaumlrung seines kleinen Erdglobus darstellte

Das in Form sphaumlrischer Zweiecke gezeichnete Kartenbild fuumlr den Globus wurde mit-tels Holzschnittverfahren reproduziert Die zwoumllf Segmente konnten ausgeschnitten und auf eine Kugel im Durchmesser von 11 cm aufkaschiert werden Waldseemuumlllers Glo-buskarte ist der fruumlheste Beleg einer kartographischen Grundlage fuumlr einen Serienglobus das heiszligt dieser Holzschnitt leitete eine neue Entwicklung in der Globenherstellung ein Daruumlber hinaus gilt sie als der fruumlheste gedruckte Nachweis der geographischen Bezeich-nung bdquoAmerikaldquo auf einem kartographischen Objekt Nur vier in das fruumlhe 16 Jahrhun-dert datierbare Exemplare haben sich erhalten einer dieser wertvollen Segmentsaumltze befindet sich im Museum im Ritterhaus in Offenburg im Ortenaukreis

Zu Ostern 1509 wurde bei Johannes Gruumlninger in Straszligburg die Druckschrift Wald-seemuumlllers bdquoDer Welt Kugel Beschrybung der Welt und deszlig gantzen Ertreichs [hellip]ldquo pub-liziert und Ende August desselben Jahres ebenfalls bei Gruumlninger eine erweiterte und in die lateinische Sprache uumlbersetzte Fassung mit dem Titel Globus Mundi veroumlffentlicht Der 2010 an der Universitaumlt Freiburg zum Doktor der Philosophie promovierte und dort 2017 habilitierte Philologe Martin Lehmann hatte bereits uumlber die Cosmographiae Intro-ductio Matthias Ringmanns und uumlber andere zeitgenoumlssische Quellen zur Geschichte der europaumlischen Expansion und deren Rezeption gearbeitet Es gelang ihm unter anderem die Zuschreibung der Autorenschaft der anonym erschienenen Werke bdquoDer Welt Kugelldquo und Globus Mundi an Martin Waldseemuumlller wissenschaftlich zu belegen

Mit diesem Buch legt er die erste vollstaumlndige Transkription und eine Uumlbersetzung des Globus Mundi aus dem Lateinischen ins Deutsche vor Lehmann hat seine Arbeit mit einer einleitenden Beschreibung des Werkes mit ausfuumlhrlichen Kommentaren zum lateinischen Text mit zahlreichen Verweisen auf andere zeitgenoumlssische kosmographische Arbeiten mit Verzeichnissen der Primaumlrquellen und der Sekundaumlrliteratur sowie mit einem Appendix ndash einer umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion des Problems der Antipoden ndash versehen

Das Buch bietet eine fundierte und gleichzeitig lesbare moderne Bearbeitung einer wenig bekannten und nur selten rezipierten historischen Quelle die aus heutiger Sicht einerseits in Bezug auf die in ihr repraumlsentierte fruumlhneuzeitliche Beschreibung der Erde und des diese umgebenden Weltalls sowie andererseits als Erlaumluterung der Globuskarte Waldseemuumlllers von wissenschaftshistorischem Interesse ist

Jan Mokre

Helmut FRUumlHAUF Barbara KOELGES Armin SCHLECHTER Rheinstrom Deszlig beruumlhmten und herrlichen Flusses eigentliche und wahrhafftige Beschreibung Die Kartensamm-lung Hellwig im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Rheinische Landes- bibliothek Koblenz (Schriften des Landesbibliothekszentrums Rheinland-Pfalz Bd 15) Koblenz Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz 2017 175 S Kt Brosch EUR 18ndash ISSN 1861-6224 (Reihe)

Der Begleitband zur Ausstellung widmet sich mit Karten auf denen der Rhein oder Teile davon in verschiedenen Zusammenhaumlngen zu sehen ist einem Aspekt der im Lan-desbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Abteilung Rheinische Landesbibliothek Koblenz

640 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 640

Bischof Gottfried gehoumlrte aufgrund seiner engen Bindungen an den Habsburger zu einer Gruppe von Praumllaten die im Jahr 1360 insgesamt 21 die Stellung Oumlsterreichs betreffende Urkunden vidimierte Seine Beteiligung an diesem Vorgang erklaumlrt sie durch die Bin-dungen an den Herzog die sich in haumlufigen Aufenthalten in dem zu seinem Bistum gehoumlrigen Wien manifestierten waumlhrend seine eigenen weltlichen Territorien zum Herr-schaftsgebiet des oumlsterreichischen Herzogs gehoumlrten Elisabeth KLECKER (bdquoEchtheitskritik ndash Invektive ndash Selbstinszenierung Francesco Petrarca uumlber die pseudoantiken Inserte im Heinricianum [Sen 165]ldquo S 193ndash212) arbeitet den Charakter des Gutachtens Francesco Petrarcas uumlber die Urkundenfaumllschungen als Medium humanistisch-gelehrter Selbstdar-stellung heraus die einer Diskreditierung des Faumllschers und seines Auftraggebers als ungebildete Dilettanten diente die nicht auf einer Ebene mit Kaiser Karl IV und seiner Umgebung agierten Sie zeigt aber anhand der Inschrift auf dem Stifterkenotaph im Wie-ner Stephansdom dass es im unmittelbaren Umfeld Rudolfs IV durchaus Personen gab die beim Einsatz lateinischer Dichtung uumlber Kompetenzen verfuumlgten bdquodie den Vergleich mit Petrarca nicht zu scheuen brauchtenldquo (S 212)

Die Beitraumlge von Lukas WOLFINGER (bdquoDas Privilegium maius und der habsburgische Herrschaftswechsel von 1358 Neue Beobachtungen zum Kontext und zur Funktion alt-bekannter Faumllschungenldquo S 145ndash172) Joumlrg PELTZER (Rudolf IV ndash ein willkommener Kollege Das Privilegium maius im Kontext der Vereindeutlichung (kur)fuumlrstlichen Rangsldquo S 173ndash192) und Bernd SCHNEIDMUumlLLER (bdquoWuumlrde ndash Form ndash Anspruch Rituali-sierungen Konstrukte und Faumllschungen im 14 Jahrhundertldquo S 213ndash243) verorten den Faumllschungskomplex im politischen Kontext der Zeit der stark von dynastischer Konkur-renz und der im Medium symbolischer Kommunikation verhandelten Rangfragen gepraumlgt war Wolfinger stellt das Narrativ der aumllteren Forschung zur Politik Rudolfs IV in Frage die dem jungen Herzog irrationales Handeln unterstellte Dabei entwickelt er uumlberzeu-gend die These dass Rudolfs Vorgehen als durchaus rationaler Versuch zu verstehen ist bdquodie sehr realen Gefahren des Herrschaftswechsels bzw der Neubelehnung im Allgemei-nen und jener von 135859 im Besonderen zu entschaumlrfen und ihre Entwicklung gegen-uumlber den Eingriffen von auszligen speziell des Kaisers abzusichernldquo (S 167) Ein weiterer Zweck der Faumllschungen sei es gewesen dem oumlsterreichischen Landesfuumlrsten eine eigen-staumlndige Erwerbspolitik zu ermoumlglichen in dem alle neu erworbenen Herrschaften der Herzoumlge als bdquoErweiterung Oumlsterreichsldquo gelten und an dessen Privilegien teilhaben sollten Im Beitrag von Peltzer wird deutlich dass die von Rudolf IV formulierten fuumlrstlichen Ranganspruumlche zwar durchaus rational waren aber eben auch so formuliert sein mussten dass sie die Chance auf Anerkennung durch den Kaiser und zumindest die Billigung durch die Kurfuumlrsten hatten Im Vergleich mit den Bemuumlhungen Pfalzgraf Ruprechts I den Kurfuumlrstenrang zu erreichen wird die Auszligergewoumlhnlichkeit des Faumllschungskom- plexes relativiert weil die Manipulation normativer Texte durchaus zu den uumlblichen Me-thoden zaumlhlte Allerdings uumlberforderte das Ausmaszlig der von Rudolf IV beanspruchten Rechte sowohl den Kaiser als auch die Kurfuumlrsten weshalb sein Ranganspruch keine Anerkennung fand Zahlreiche Parallelen zum Maius-Komplex zeigt Schneidmuumlller in seinem Beitrag auf der die oumlsterreichischen Freiheitsbriefe in den weiten Rahmen des europaumlischen Spaumltmittelalters stellt Sowohl in ihrem bdquoWillen zur Zeichenhaftigkeitldquo (S 224) als auch in der Sehnsucht den beanspruchten Rang durch die bdquoKonstruktion geglaubter Vergangenheitldquo (S 225) zu legitimieren standen sie keineswegs alleine

Daniel LUGER (bdquoDaz hellip unser gedechtnuszlig dest lennger und seligclicher gehalten werde Die Bestaumltigung des Privilegium maius durch Kaiser Friedrich IIIldquo S 245ndash258)

633Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 633

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Katalogbearbeiter um Christian Herrmann in einem eigenen Blogbeitrag reagiert (httpszkbwblogspotcom201907antwort-der-wlb-auf-klaus-grafshtml) Sie bringen darin zum einen ihre Ansicht zum Ausdruck dass der Onlinekatalog INKA aufgrund seiner bdquoauf TUSTEP beruhenden Datenstrukturldquo gerade nicht fuumlr eine dauerhafte Bereit-stellung der Informationen geeignet sei und dass dagegen einem bdquogedruckten Katalog [hellip] die Funktion einer zusaumltzlichen Datensicherungldquo zukomme Zum anderen wird angekuumlndigt dass die von Klaus Graf erkannten Fehler in der elektronischen Version des Katalogs korrigiert wuumlrden Allerdings wird nicht deutlich ob und wie diese Version fuumlr Interessierte auszligerhalb der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek einsehbar ist

Wer je an vergleichbaren Katalogwerken mitgearbeitet hat kann einschaumltzen dass es angesichts der groszligen Menge an Quellen Metadaten und Einzelinformationen unmoumlglich ist im Detail jeden Fehler auszuschlieszligen Jeder einzelne Irrtum jede Verwechslung ist aumlrgerlich gerade wenn sie ndash wie hier zum Teil ndash vermeidbar erscheinen Vor dem Hintergrund der unzaumlhligen hilfreichen Angaben die sich nach Eindruck des Rezensen-ten weit uumlberwiegend als korrekt erweisen sind die oben angesprochenen Fehler zwar unerfreulich fallen aber insgesamt weniger ins Gewicht Das gilt vor allem dann wenn sie wie angekuumlndigt korrigiert und was zu wuumlnschen bleibt in verbesserter Form zeitnah im Open Access zur Verfuumlgung gestellt werden So sei hier zuletzt noch einmal auf den mit 498ndash Euro hohen Preis der gedruckten Baumlnde hingewiesen der dazu fuumlhrt dass kaum eine interessierte Einzelperson und bedauerlicherweise auch immer weniger oumlffentliche Einrichtungen sich die Erwerbung des Katalogs leisten koumlnnen Auch vor diesem Hin-tergrund waumlre die Bereitstellung des Werks als frei zugaumlngliche Onlinequelle sehr zu be-gruumlszligen wobei es vor allem erfreulich waumlre wenn so der inhaltsreiche und verdienstvolle Katalog einem groumlszligeren Publikum ortsunabhaumlngig und unabhaumlngig von den Oumlffnungs-zeiten der bestandsfuumlhrenden Einrichtungen zur Nutzung bereitstuumlnde

Johannes Mangei

Martin LEHMANN (Hg) Der Globus Mundi Martin Waldseemuumlllers aus dem Jahre 1509 Text ndash Uumlbersetzung ndash Kommentar (Rombach Wissenschaften Reihe Paradeigmata Bd 35) Freiburg i Br Berlin Wien Rombach 2016 205 S Abb Brosch EUR 38ndash ISBN 978-3-7930-9858-4

Bisher in der Alten Welt vollkommen unbekannt ruumlckte in den ersten zehn Jahren des 16 Jahrhunderts der amerikanische Doppelkontinent ndash zunaumlchst schemenhaft dann unuumlbersehbar ndash in das Bewusstsein der europaumlischen Eliten Zwischen 1400 und 1550 vermehrte sich aufgrund der maritimen Expeditionen nach Asien ndash von Portugal aus ent-lang der Westkuumlste Afrikas nach Suumlden und dann ostwaumlrts sowie von Spanien und Eng-land aus nach Westen ndash das Wissen von der Erdoberflaumlche von 11 Prozent auf 33 Prozent Die neuen geographischen Kenntnisse sollten nicht nur verbal sondern auch visuell ver-mittelt werden Zusaumltzlich zu den Weltkarten erinnerte man sich dazu an ein bereits in der Antike bekanntes doch bis zum Ende des 15 Jahrhunderts so gut wie nie verwendetes didaktisches Modell den Erdglobus

Ein geistiges Zentrum wissenschaftlicher Verarbeitung der Nachrichten aus Uumlbersee bildete der als Gymnasium Vosagense bezeichnete humanistische Gelehrtenzirkel im loth-ringischen St Dieacute Dort wirkten unter anderem der Philologe Matthias Ringmann und der Kartograph Martin Waldseemuumlller Gemeinsam schufen sie 1507 ein den Wandel des Weltbildes repraumlsentierendes dreiteiliges sbquoMedienpaketlsquo welches aus einer gedruckten Einfuumlhrung in die Kosmographie einer groszligformatigen Weltkarte und einem Erdglobus

639Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 639

legt dar dass die Generalkonfirmationen der Urkunden durch Friedrich III nicht nur im Interesse der Ambitionen der Dynastie erfolgten sondern auch Antworten auf aktuelle politische und dynastische Entwicklungen der Zeit waren Insbesondere die Bestaumltigung von 1453 diente auch der Formulierung von Sonderrechten fuumlr die inneroumlsterreichische Linie der Habsburger die jedoch als Waffe in innerdynastischen Streitigkeiten so gut wie keine Wirkung zeigten Eine ungewoumlhnliche Bestaumltigung der Urkunden stellt Andreas ZAJIC (bdquoDynastische Selbstvergewisserung oder oumlsterreichisches Identitaumltsangebot Uumlber-legungen zur Interpretation des illuminierten Vidimus des Maius-Komplexes von 1512ldquo S 259ndash320) vor Fuumlr das prachtvoll illuminierte Vidimus kann Zajic eine doppelte Funk-tion plausibel machen die sich jedoch wegen der Abwesenheit Kaiser Maximilians nicht realisieren lieszlig Das in Wien erstellte Libell haumltte fuumlr Maximilian als bdquobeeindruckendes Bilddokument dynastischer Selbstvergewisserungldquo und als Impuls fuumlr eine bdquostaumlrkere Identifizierung mit der landesfuumlrstlichen Herrschaft uumlber das fuumlr sein Haus namengebende Erblandldquo (S 320) wirken koumlnnen Thomas WINKELBAUER (bdquoDie Bedeutung des Privile-gium maius fuumlr die Erzherzoumlge von Oumlsterreich in der Fruumlhen Neuzeitldquo S 321ndash338) gibt einen souveraumlnen Uumlberblick uumlber den gegenwaumlrtigen Wissensstand zu Nutzung und Wir-kung des Privilegium maius durch die Erzherzoumlge von Oumlsterreich von 1500 bis zum Ende des Alten Reichs In der Fruumlhen Neuzeit konnten die Faumllschungen einige der im 14 Jahr-hundert intendierten Wirkungen realisieren Um 1500 gelang es den oumlsterreichischen Herzoumlgen einen herausgehobenen Platz auf Reichsversammlungen zu sichern 1530 erfolgte die Belehnung Ferdinands I in den symbolischen und rituellen Formen der sogenannten oumlsterreichischen Freiheitsbriefe Einige Bestimmungen ndash etwa uumlber die Primogenitur die weibliche Eventualsukzession sowie die Unteilbarkeit und Untrenn-barkeit der habsburgischen Herrschaften ndash fanden Eingang in die Pragmatische Sanktion von 1713

Im Beitrag von Werner TELESKO (bdquoRudolf IV in der bildenden Kunst und populaumlren Geschichtskultur des 18 und 19 Jahrhunderts S 339ndash348) spielen die Urkundenfaumll-schungen nur eine marginale Rolle Zwar interessierte man sich zur Zeit Maria Theresias fuumlr das vermeintlich originale Aussehen des Erzherzogshuts doch in der Geschichtskultur des 19 Jahrhunderts war Rudolf vornehmlich wegen seiner Foumlrderung von Wissenschaft und Kunst beliebt Zum Abschluss des Bandes blickt Thomas STOCKINGER (bdquoDie sbquoleidige Urkundelsquo Patriotismus und Wissenschaftsethos rund um die sbquooumlsterreichischen Freiheits-briefelsquo von Hormayr bis Lhotskyldquo S 349ndash378) auf die Geschichte der wissenschaft- lichen Auseinandersetzung mit dem Privilegium maius Dabei wird die von Alphons LHOTSKY (Privilegium maius Die Geschichte einer Urkunde 1957) behauptete Entwick-lung einer fortschreitenden Entpolitisierung und Verwissenschaftlichung des Umgangs mit den Urkunden wesentlich differenziert Die Deutung der Urkunden des Maius-Kom-plexes durch die Historiker des 19 Jahrhunderts erfolgte in einem staatsrechtlich gedach-ten Rahmen der von einer Einheit von Staatsvolk Staatsgebiet und Staatsgewalt ausging die fuumlr die eigene Gegenwart angestrebt wurde und mit der die mittelalterlichen Verhaumllt-nisse nicht angemessen erfasst werden konnten Wichtig ist Stockingers wissenschafts-historische Einordnung Lhotskys dessen Gedanke eines bereits im Spaumltmittelalter existierenden und bdquovermoumlge seiner natuumlrlichen Zusammengehoumlrigkeit alle Zeitlaumlufte bis zur Gegenwartldquo (S 370) uumlberdauernden Laumlnderverbundes bdquoOumlsterreichldquo wesentlich zum Geschichtsbild der Zweiten Republik beigetragen habe die bdquoeinen oumlsterreichischen Staat in den nun aktuellen Grenzen mit einer vielhundertjaumlhrigen Kontinuitaumlt und sogar Ge-schichtsnotwendigkeit ausstatteteldquo (S 372)

634 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 634

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Die reichen und vielfaumlltigen Ergebnisse der Beitraumlge machen den Tagungsband zu einem unverzichtbaren Referenzwerk fuumlr die kuumlnftige Beschaumlftigung mit dem Privilegium maius Zu dem im Vergleich zur bisher maszliggebenden Monographie Lhotskys von 1957 erheblich facettenreicheren Bild tragen neben den unverzichtbaren grundwissenschaft- lichen Analysen auch die rezeptions- und wissenschaftshistorischen Ausfuumlhrungen und vor allem die uumlberzeugende Einordnung in das gegenwaumlrtige Verstaumlndnis der politisch-sozialen Ordnung des spaumltmittelalterlichen Reichs bei

Steffen Krieb

Joumlrg W BUSCH Juumlrgen TREFFEISEN (Bearb) Die Urkunden der Stadt Neuenburg am Rhein Band 3 hg von der Stadt Neuenburg am Rhein Neuenburg am Rhein Stadt Neuenburg am Rhein 2019 802 S Abb geb EUR 2990 ISBN 978-3-9816892-2-8

2019 erschien Band 3 des Neuenburger Urkundenbuchs Die Bearbeitung lag wiederum in den bewaumlhrten Haumlnden von Joumlrg W BUSCH Professor fuumlr Mittelalterliche Geschichte an der Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main und Juumlrgen TREFFEISEN stellvertretender Leiter des Generallandesarchivs Karlsruhe Der zeitliche Rahmen der Urkunden erstreckt sich uumlber knapp fuumlnfzig Jahre von 1414 bis 1462

Das Buch gliedert sich in zwei Teile In einem ersten Abschnitt (S 10ndash57) bietet Joumlrg W Busch zwei bdquoLeseanregungen fuumlr historisch interessierte Neuenburger Buumlrgerinnen und Buumlrgerldquo eine bdquoRheinreise nach Neuenburgldquo (S 13ndash30) und bdquoWirtshausgespraumlcheldquo (S 31ndash57) In beiden Faumlllen wird auf fiktive Art versucht ndash gleich einem historischen Roman ndash dem Laien Neuenburg im Mittelalter naumlherzubringen Die Fahrt auf dem Rhein ndash damals eine mehrere Kilometer breite Wasserlandschaft mit mehreren Neben- und Sei-tenarmen ndash beginnt in Basel und endet ndash wie zu erwarten ndash in Neuenburg Der Erzaumlhler wird dabei durch den Schiffsmann und einen mitreisenden Neuenburger Ratsherrn nicht ohne Grund auch auf die Gefahren eines Hochwassers hingewiesen die bekanntermaszligen zwischen 1480 und 1527 der Stadt mehrfach schwer zusetzten (vgl auch Streiflicht mit Bericht des Dominikaners Felix Fabri S 21) Bildausschnitte von Wasserfahrzeugen und Rheininseln aus dem bdquoGemarkungsplan der Stadt Neuenburg am Rhein um 1525ldquo visua-lisieren das Gesagte Die zweite Leseanregung spielt sich im Gasthaus bdquoZum Hasenldquo ab Sie handelt von Dingen die laut Autor bdquonie in einer Urkunde niedergeschrieben werdenldquo Der Erzaumlhler belauscht Gespraumlche am Nachbartisch ndash mitunter in alemannischem Dialekt wiedergegeben und in der Fuszlignote ins Schriftdeutsche uumlbersetzt ndash fuumlhrt auf wer die Gast-stube betritt und beschreibt das Verhalten der Besucher Hier waumlren statt einfacher Blei-stiftillustrationen Darstellungen aus zeitgenoumlssischen Vorlagen authentischer gewesen

Der zweite Teil gemeinsam von Joumlrg W Busch und Juumlrgen Treffeisen bearbeitet ent-haumllt 408 Urkunden (S 70ndash572) sowie einen kurzen Exkurs zu bdquoNeuenburg als Tagungs-ortldquo (S 573 f) In das Regestenwerk aufgenommen wurden wie in den ersten beiden Baumlnden solche Schriftstuumlcke die ein Rechtsgeschaumlft besiegelten sowie kaiserliche koumlnigliche und landesherrliche Mandate die an die Stadt Neuenburg in Briefform ge-richtet waren und weitere Quellen die fuumlr die Neuenburger Stadtgeschichte bedeutsam sind Aus diesem Grund wichen die Bearbeiter auch von ihrer bisherigen Linie bei den Missiven ab d h sie werteten auch die Missivenbuumlcher der Staumldte Basel und Freiburg aus und dokumentierten ihre Funde in den Fuszlignoten Erschlossen sind die Urkunden durch ein ausfuumlhrliches Orts- Personen- und Sachregister (uumlber 200 Seiten) Dadurch ist das Urkundenbuch fuumlr jeden der sich mit der Geschichte Neuenburgs aber auch des suumldlichen Oberrheins beschaumlftigt ein groszliger Gewinn fuumlr eigene Forschungen Neben den

635Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 635

anderen Katalogen (unter anderem im Gesamtkatalog der Wiegendrucke im Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15 Jahrhunderts und im Incunabula Short Title Catalogue) Die vollstaumlndigen Titel der Referenzwerke die in den Katalogbeschreibungen abgekuumlrzt verwendet werden findet man in Band 1 im Abkuumlrzungsverzeichnis (S 104 f) bzw im Verzeichnis der zitierten und weiterfuumlhrenden Literatur (S 106ndash144) Allerdings wird dort bedauerlicherweise die als bdquoAldquo abgekuumlrzte Referenz nicht aufgefuumlhrt In der Katalogbeschreibung wird auszligerdem erwaumlhnt dass der Ablassbrief bdquoim Jahr 1928 aus dem vorderen Deckelldquo einer anderen Inkunabel (Inc fol 8061) geloumlst wurde Interessierte Leser koumlnnen nun die Beschreibung dieses Stuumlcks ndash erneut uumlber die Signaturenkonkor-danz ndash ebenfalls im Katalog aufsuchen Sie finden die Angaben dazu unter der Nummer 2854 in Band 2 auf Seite 1058 Daraus geht hervor dass es sich hier um einen Reutlinger Druck von Conrad Gruumltschs Quadragesimale handelt Doch zuruumlck zu dem Ablassbrief und dessen Katalogeintrag in dem noch weitere interessante Angaben gemacht werden Es sind drei Vorbesitzer des Ablassbriefes genannt von denen der Erste der Blaubeurener Benediktiner Georg Ramser in der Quelle selbst in dem fuumlr die Namenseintragung frei-gehaltenen Platz in der zweiten Zeile handschriftlich eingetragen als bdquoReligiosus fr(ater) Georius Ramszliger p(ro)fessus ordinis S(ancti) b(e)n(e)dicti In blaburenldquo begegnet Die weiteren beiden Vorbesitzer Sebastian Renninger und das Benediktinerkloster Blau- beuren ergeben sich aus der Geschichte des erwaumlhnten Drucks in den der Ablassbrief eingeklebt war

Der Katalog der als fuumlnfter Teil der Reihe bdquoInkunabeln in Baden-Wuumlrttembergldquo erschienen ist besteht aus vier Teilbaumlnden Teilband 1 umfasst neben Geleitwort Vorwort und einer ausfuumlhrlichen Einleitung uumlber die Anlage des Katalogs uumlber die Bestands- geschichte die Provenienzen Einbaumlnde und Buchbinderwerkstaumltten Fragmente etc das Abkuumlrzungs- und Literaturverzeichnis die Beschreibungen von elf Blockbuumlchern (S 145ndash149) sowie die ersten Katalogbeschreibungen fuumlr den Alphabetsteil A ndash C Teil-band 2 enthaumllt die Beschreibungen des Alphabetsteils D ndash M Teilband 3 die restlichen Beschreibungen N ndash Z sowie Angaben zu den Verlusten und Teilband 4 verschiedene Register Signaturen- und Verzeichniskonkordanzen sowie 80 farbige Abbildungen

Zu dem Katalog liegen bereits mehrere publizierte Reaktionen vor die sich eingehend mit den Vorzuumlgen und Schwaumlchen der umfangreichen Veroumlffentlichung befassen so dass hier darauf verzichtet werden kann auf die darin besprochenen Einzelheiten erneut einzugehen Es handelt sich um die Besprechung von Wolfgang Schmitz in Informa- tionsmittel (IFB) Digitales Rezensionsorgan fuumlr Bibliothek und Wissenschaft (www informationsmittel-fuer-bibliothekendeshowfilephpid=9580) auszligerdem um Klaus Grafs Beitrag bdquoZu den Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgartldquo fuumlr das Pirckheimer-Jahrbuch (32 2018 S 199ndash217) und um eine ausfuumlhrlichere Version davon im Webblog bdquoArchivalialdquo (unter httpsarchivaliahypothesesorg98966) Einige der darin vorgestellten Aspekte seien hier zumindest in aller Kuumlrze genannt Neben der ganz grundsaumltzlichen Frage ob solche Erschlieszligungswerke uumlberhaupt in gedruckter Form erscheinen sollten oder ob parallel dazu bzw stattdessen Onlineveroumlffentlichungen bzw Onlinedatenbanken wie INKA zu bevorzugen seien werden darin die hier gewaumlhlte um-faumlngliche Beruumlcksichtigung von Referenzwerken die Anlage der Baumlnde mit ihrem Auf-wand an Verweisungen zum Hin- und Zuruumlckblaumlttern die Qualitaumlt der Einleitung mit Angaben zur Bestandsgeschichte sowie einzelne Staumlrken ndash etwa die Identifizierung von Einbandwerkstaumltten ndash und Schwaumlchen ndash etwa Fehler beim Identifizieren von Personen beim Ansetzen von Werktiteln und andere Lesefehler ndash diskutiert Darauf haben die

638 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 638

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

in solchen Werken uumlblichen Lemmata wie bdquoHerrschaftldquo bdquoLandfriedenldquo oder bdquoSchultheiszligldquo sind daruumlber hinaus aber auch Begriffe wie bdquoAbfertigungldquo bdquoFischerFischereildquo bdquoFloumlszligerldquo oder bdquoSchiff-bruch-fahrt-mann-leuteldquo zu finden die indirekt mit der ersten Lese- anregung (bdquoRheinreise nach Neuenburgldquo) in Verbindung stehen

Ein vierter (Doppel-)Band der die Urkunden der Jahre 1463 bis 1500 enthalten soll ist ndash wie die zahlreichen Verweise in den Fuszlignoten zeigen ndash quasi fertig und steht unmittelbar vor der Drucklegung Die Reihe findet dadurch ihren Abschluss Zu Recht gilt der Dank der Bearbeiter der Stadt Neuenburg die in vorbildlicher Weise uumlber all die Jahre die Finanzierung garantierte und sich hinter das Projekt stellte obwohl das Opus trotz zweier Leseanregungen sicher nicht bdquomassentauglichldquo ist Dies ist in Zeiten noto-risch klammer Haushaltskassen nicht alltaumlglich sondern lobend hervorzuheben

Hans-Peter Widmann

Bernhard KREUTZ (Bearb) Reutlinger Urkundenbuch Teil 1 Die Urkunden bis 1399 Reutlingen Stadtarchiv Reutlingen 2019 XLII 630 S geb EUR 60ndash ISBN 938-3-939775-74-4 Der erste Teil des Reutlinger Urkundenbuchs stellt ndash so der Oberbuumlrgermeister der

Stadt im Vorwort ndash eine wissenschaftliche Bearbeitung dar die die Urkunden bdquoin der originalen Quellensprache der Zeitldquo darbietet

Es fuumlhrt die Urkunden Reutlinger Provenienz aus unterschiedlichen Archiven und Archivbestaumlnden zusammen und rekonstruiert somit den urspruumlnglichen Archivfonds der Reichsstadt Auszliger den Urkunden wurde vereinzelt auch briefliche Korrespondenz auf-genommen nicht jedoch erzaumlhlende Quellen wie Annalen und Chroniken Im Wesent- lichen handelt es sich um die in der staumldtischen Kanzlei sowie bei den innerstaumldtischen Kloumlstern und Pflegern entstandenen oder dort eingegangenen und verwahrten Urkunden Daruumlber hinaus wurden solche Urkunden erfasst die von der Stadt Reutlingen und ihren Amtstraumlgern ausgestellt oder besiegelt wurden und in andere Archive eingegangen sind Urkunden die im Volltext im Wuumlrttembergischen Urkundenbuch vorliegen und online verfuumlgbar sind sowie solche Dokumente mit einer verlaumlsslichen Edition wurden sinn-vollerweise nur als Regest abgedruckt Davon ausgenommen sind Schriftstuumlcke von zen-traler Bedeutung fuumlr die Reutlinger Stadtgeschichte So umfasst der Band insgesamt 967 Urkunden von denen in der Druckversion 281 als Volltext vorgelegt wurden Ein Orts- und Personenregister erschlieszligt die Regesten Volltexte Fuszlignoten sowie den wissen-schaftlichen Apparat

Die Transkription erfolgt nach den Regeln des ITC-Projekts bdquoAd fontesldquo des Histori-schen Seminars der Universitaumlt Zuumlrich in der Fassung von 2003 Ob es sich bei der im Juni 2020 im Internet aufgerufenen Fassung um die von 2003 handelt ist nicht ersicht-lich In dieser aktuellen Fassung lesen wir bdquoDie Interpunktion wird den modernen Regeln angeglichenldquo Das Reutlinger Urkundenbuch verzichtet jedoch fast vollstaumlndig auf jede Interpunktion Nicht einmal in Aufzaumlhlungen werden Kommata zwischen den einzelnen Namen oder Berufs- beziehungsweise Funktionsbeschreibungen gesetzt Das ist legitim ist aber doch eher irritierend und erschwert das Verstaumlndnis der einzelnen Texte

Die Qualitaumlt der Transkriptionen wurde anhand dreier willkuumlrlich ausgewaumlhlter Urkunden die die Stadt Reutlingen als Digitalisate zur Verfuumlgung stellte eruiert Die Kollationierung der Digitalisate mit der Transkription fuumlhrte zu leichten Irritationen Kleinere Leseschwaumlchen in der Urkunde Nr 177 (S 117 Zeile 2) wie bei den Namen Vehale (richtig Vehali) Katerinun (richtig Katerin) oder Ha(e)dwig (richtig Hadewig)

636 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 636

koumlnnten vernachlaumlssigt werden wenn sie mehr oder weniger singulaumlr waumlren Zudem sind sie fuumlr das Textverstaumlndnis nicht weiter relevant Eine typische hier zu konstatierende Ungenauigkeit die aber nicht erklaumlrbar ist ist die Lesung der Waumlhrungseinheit Schilling im zweiten Abschnitt dieser Urkunde Beim identischen palaumlographischen Befund liest man im gedruckten Text dreimal schilling einmal hingegen schillinge In der Datumszeile der Urkunde (S 118) steht im Urkundenbuch drissig die Urkunde schreibt jedoch drucirczig Im Einzelfall ohne Probleme zu akzeptieren in der vorgefundenen Menge jedoch ndash ich habe nur wenige ausgewaumlhlte Beispiele angefuumlhrt ndash auffaumlllig

Bei der Urkunde Nr 399 (S 253) ist der erste Abschnitt praktisch fehlerfrei transkri-biert Der zweite fast gleichlange Abschnitt beinhaltet hingegen zwoumllf leichte Lesefehler Waren hier zwei unterschiedliche Bearbeiter am Werk wurde vielleicht ein Korrektur-durchgang abgebrochen oder wie ist diese auffaumlllige Diskrepanz zu erklaumlren

Waumlhrend der Wert der Edition durch diese angefuumlhrten Lesungen in keiner Weise ge-schmaumllert wird gibt das Fehlen ganzer Woumlrter doch zu denken Bei der Urkunde Nr 177 (S 117) fehlt in der zweiten Zeile vor dem Eigennamen Had(e)wig die naumlhere letztend-lich aufschlussreiche Bezeichnung Schwester (swester) In der Urkunde Nr 399 (S 253) fehlt im zweiten Abschnitt in der 7 Zeile hinter dem Eigennamen Irmengart die Ergaumln-zung min wirttennun saeligen Wenige Zeilen darunter fehlt er in dem Satzteil nach minem tode ob [er] mich ucircber lebt Auch hier wird durch das Fehlen einzelner Worte oder Satzteile der Sinn des Urkundentextes nicht verfaumllscht Trotzdem bleibt ein ungutes Gefuumlhl inwieweit man den Transkriptionen letztendlich trauen kann

Es wird daher angeregt grundsaumltzlich einen weiteren Korrekturdurchgang moumlglichst durch eine andere Person als den Bearbeiter selbst einzuplanen Diesen zeitlich geringen Aufwand sollte die Stadt Reutlingen fuumlr die Onlineversion des 1 Bandes nachtraumlglich durchfuumlhren Fuumlr den 2 Band duumlrfte dies nun wohl selbstverstaumlndlich sein Es bleibt sonst ein ungutes Gefuumlhl bei einem ansonsten lobenswerten Unterfangen

Juumlrgen Treffeisen

Die Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgart beschrieben von Armin RENNER unter Mitarbeit von Christian HERRMANN und Eberhard ZWINK Ge-leitwort von Hannsjoumlrg KOWARK (dagger) (Inkunabeln in Baden-Wuumlrttemberg Bd 5) Wiesbaden Harrasowitz 2018 4 Baumlnde 2894 S Abb geb EUR 498ndash ISBN 978-3-447-11075-4

bdquoUnter den mehr als 7000 Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek finden sich einige Stuumlcke fuumlr die derzeit weltweit keine weiteren Nachweise bekannt sind und die deshalb als unikal uumlberliefert angesehen werden (httpswwwwlb-stuttgartdesamm-lungenalte-und-wertvolle-druckebestandinkunabelnweltweit-unikale-inkunabeln) Dazu zaumlhlt etwa ein Ablassbrief fuumlr die Kirche der Jungfrau Maria und der Heiligen Andreas und Amandus in Urach mit der Signatur Inc fol 25b Das Beispiel mag ver-deutlichen wie die Anlage des Katalogs organisiert ist und wie ein moumlgliches Nutzungs-szenario aussehen kann Uumlber die Signaturenkonkordanz in Band 4 des hier anzuzeigen- den Katalogs findet man fuumlr den Eintrag dieses Drucks die Katalognummer 3 Diese befindet sich in Band 1 auf S 153 Dort erfaumlhrt man neben der Angabe um welchen Ablassbrief es sich handelt auch wo durch wen und wann er gedruckt wurde naumlmlich in Urach bei Konrad Fyner um 1482ndash83 Die Datierung ergibt sich unter anderem aus der handschriftlich vorgenommenen Datierung als Terminus ante Weitere Informationen betreffen den Umfang (1 Blatt einseitig bedruckt) und Erwaumlhnungen des Stuumlcks in

637Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 637

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

koumlnnten vernachlaumlssigt werden wenn sie mehr oder weniger singulaumlr waumlren Zudem sind sie fuumlr das Textverstaumlndnis nicht weiter relevant Eine typische hier zu konstatierende Ungenauigkeit die aber nicht erklaumlrbar ist ist die Lesung der Waumlhrungseinheit Schilling im zweiten Abschnitt dieser Urkunde Beim identischen palaumlographischen Befund liest man im gedruckten Text dreimal schilling einmal hingegen schillinge In der Datumszeile der Urkunde (S 118) steht im Urkundenbuch drissig die Urkunde schreibt jedoch drucirczig Im Einzelfall ohne Probleme zu akzeptieren in der vorgefundenen Menge jedoch ndash ich habe nur wenige ausgewaumlhlte Beispiele angefuumlhrt ndash auffaumlllig

Bei der Urkunde Nr 399 (S 253) ist der erste Abschnitt praktisch fehlerfrei transkri-biert Der zweite fast gleichlange Abschnitt beinhaltet hingegen zwoumllf leichte Lesefehler Waren hier zwei unterschiedliche Bearbeiter am Werk wurde vielleicht ein Korrektur-durchgang abgebrochen oder wie ist diese auffaumlllige Diskrepanz zu erklaumlren

Waumlhrend der Wert der Edition durch diese angefuumlhrten Lesungen in keiner Weise ge-schmaumllert wird gibt das Fehlen ganzer Woumlrter doch zu denken Bei der Urkunde Nr 177 (S 117) fehlt in der zweiten Zeile vor dem Eigennamen Had(e)wig die naumlhere letztend-lich aufschlussreiche Bezeichnung Schwester (swester) In der Urkunde Nr 399 (S 253) fehlt im zweiten Abschnitt in der 7 Zeile hinter dem Eigennamen Irmengart die Ergaumln-zung min wirttennun saeligen Wenige Zeilen darunter fehlt er in dem Satzteil nach minem tode ob [er] mich ucircber lebt Auch hier wird durch das Fehlen einzelner Worte oder Satzteile der Sinn des Urkundentextes nicht verfaumllscht Trotzdem bleibt ein ungutes Gefuumlhl inwieweit man den Transkriptionen letztendlich trauen kann

Es wird daher angeregt grundsaumltzlich einen weiteren Korrekturdurchgang moumlglichst durch eine andere Person als den Bearbeiter selbst einzuplanen Diesen zeitlich geringen Aufwand sollte die Stadt Reutlingen fuumlr die Onlineversion des 1 Bandes nachtraumlglich durchfuumlhren Fuumlr den 2 Band duumlrfte dies nun wohl selbstverstaumlndlich sein Es bleibt sonst ein ungutes Gefuumlhl bei einem ansonsten lobenswerten Unterfangen

Juumlrgen Treffeisen

Die Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgart beschrieben von Armin RENNER unter Mitarbeit von Christian HERRMANN und Eberhard ZWINK Ge-leitwort von Hannsjoumlrg KOWARK (dagger) (Inkunabeln in Baden-Wuumlrttemberg Bd 5) Wiesbaden Harrasowitz 2018 4 Baumlnde 2894 S Abb geb EUR 498ndash ISBN 978-3-447-11075-4

bdquoUnter den mehr als 7000 Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek finden sich einige Stuumlcke fuumlr die derzeit weltweit keine weiteren Nachweise bekannt sind und die deshalb als unikal uumlberliefert angesehen werden (httpswwwwlb-stuttgartdesamm-lungenalte-und-wertvolle-druckebestandinkunabelnweltweit-unikale-inkunabeln) Dazu zaumlhlt etwa ein Ablassbrief fuumlr die Kirche der Jungfrau Maria und der Heiligen Andreas und Amandus in Urach mit der Signatur Inc fol 25b Das Beispiel mag ver-deutlichen wie die Anlage des Katalogs organisiert ist und wie ein moumlgliches Nutzungs-szenario aussehen kann Uumlber die Signaturenkonkordanz in Band 4 des hier anzuzeigen- den Katalogs findet man fuumlr den Eintrag dieses Drucks die Katalognummer 3 Diese befindet sich in Band 1 auf S 153 Dort erfaumlhrt man neben der Angabe um welchen Ablassbrief es sich handelt auch wo durch wen und wann er gedruckt wurde naumlmlich in Urach bei Konrad Fyner um 1482ndash83 Die Datierung ergibt sich unter anderem aus der handschriftlich vorgenommenen Datierung als Terminus ante Weitere Informationen betreffen den Umfang (1 Blatt einseitig bedruckt) und Erwaumlhnungen des Stuumlcks in

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anderen Katalogen (unter anderem im Gesamtkatalog der Wiegendrucke im Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15 Jahrhunderts und im Incunabula Short Title Catalogue) Die vollstaumlndigen Titel der Referenzwerke die in den Katalogbeschreibungen abgekuumlrzt verwendet werden findet man in Band 1 im Abkuumlrzungsverzeichnis (S 104 f) bzw im Verzeichnis der zitierten und weiterfuumlhrenden Literatur (S 106ndash144) Allerdings wird dort bedauerlicherweise die als bdquoAldquo abgekuumlrzte Referenz nicht aufgefuumlhrt In der Katalogbeschreibung wird auszligerdem erwaumlhnt dass der Ablassbrief bdquoim Jahr 1928 aus dem vorderen Deckelldquo einer anderen Inkunabel (Inc fol 8061) geloumlst wurde Interessierte Leser koumlnnen nun die Beschreibung dieses Stuumlcks ndash erneut uumlber die Signaturenkonkor-danz ndash ebenfalls im Katalog aufsuchen Sie finden die Angaben dazu unter der Nummer 2854 in Band 2 auf Seite 1058 Daraus geht hervor dass es sich hier um einen Reutlinger Druck von Conrad Gruumltschs Quadragesimale handelt Doch zuruumlck zu dem Ablassbrief und dessen Katalogeintrag in dem noch weitere interessante Angaben gemacht werden Es sind drei Vorbesitzer des Ablassbriefes genannt von denen der Erste der Blaubeurener Benediktiner Georg Ramser in der Quelle selbst in dem fuumlr die Namenseintragung frei-gehaltenen Platz in der zweiten Zeile handschriftlich eingetragen als bdquoReligiosus fr(ater) Georius Ramszliger p(ro)fessus ordinis S(ancti) b(e)n(e)dicti In blaburenldquo begegnet Die weiteren beiden Vorbesitzer Sebastian Renninger und das Benediktinerkloster Blau- beuren ergeben sich aus der Geschichte des erwaumlhnten Drucks in den der Ablassbrief eingeklebt war

Der Katalog der als fuumlnfter Teil der Reihe bdquoInkunabeln in Baden-Wuumlrttembergldquo erschienen ist besteht aus vier Teilbaumlnden Teilband 1 umfasst neben Geleitwort Vorwort und einer ausfuumlhrlichen Einleitung uumlber die Anlage des Katalogs uumlber die Bestands- geschichte die Provenienzen Einbaumlnde und Buchbinderwerkstaumltten Fragmente etc das Abkuumlrzungs- und Literaturverzeichnis die Beschreibungen von elf Blockbuumlchern (S 145ndash149) sowie die ersten Katalogbeschreibungen fuumlr den Alphabetsteil A ndash C Teil-band 2 enthaumllt die Beschreibungen des Alphabetsteils D ndash M Teilband 3 die restlichen Beschreibungen N ndash Z sowie Angaben zu den Verlusten und Teilband 4 verschiedene Register Signaturen- und Verzeichniskonkordanzen sowie 80 farbige Abbildungen

Zu dem Katalog liegen bereits mehrere publizierte Reaktionen vor die sich eingehend mit den Vorzuumlgen und Schwaumlchen der umfangreichen Veroumlffentlichung befassen so dass hier darauf verzichtet werden kann auf die darin besprochenen Einzelheiten erneut einzugehen Es handelt sich um die Besprechung von Wolfgang Schmitz in Informa- tionsmittel (IFB) Digitales Rezensionsorgan fuumlr Bibliothek und Wissenschaft (www informationsmittel-fuer-bibliothekendeshowfilephpid=9580) auszligerdem um Klaus Grafs Beitrag bdquoZu den Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgartldquo fuumlr das Pirckheimer-Jahrbuch (32 2018 S 199ndash217) und um eine ausfuumlhrlichere Version davon im Webblog bdquoArchivalialdquo (unter httpsarchivaliahypothesesorg98966) Einige der darin vorgestellten Aspekte seien hier zumindest in aller Kuumlrze genannt Neben der ganz grundsaumltzlichen Frage ob solche Erschlieszligungswerke uumlberhaupt in gedruckter Form erscheinen sollten oder ob parallel dazu bzw stattdessen Onlineveroumlffentlichungen bzw Onlinedatenbanken wie INKA zu bevorzugen seien werden darin die hier gewaumlhlte um-faumlngliche Beruumlcksichtigung von Referenzwerken die Anlage der Baumlnde mit ihrem Auf-wand an Verweisungen zum Hin- und Zuruumlckblaumlttern die Qualitaumlt der Einleitung mit Angaben zur Bestandsgeschichte sowie einzelne Staumlrken ndash etwa die Identifizierung von Einbandwerkstaumltten ndash und Schwaumlchen ndash etwa Fehler beim Identifizieren von Personen beim Ansetzen von Werktiteln und andere Lesefehler ndash diskutiert Darauf haben die

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Katalogbearbeiter um Christian Herrmann in einem eigenen Blogbeitrag reagiert (httpszkbwblogspotcom201907antwort-der-wlb-auf-klaus-grafshtml) Sie bringen darin zum einen ihre Ansicht zum Ausdruck dass der Onlinekatalog INKA aufgrund seiner bdquoauf TUSTEP beruhenden Datenstrukturldquo gerade nicht fuumlr eine dauerhafte Bereit-stellung der Informationen geeignet sei und dass dagegen einem bdquogedruckten Katalog [hellip] die Funktion einer zusaumltzlichen Datensicherungldquo zukomme Zum anderen wird angekuumlndigt dass die von Klaus Graf erkannten Fehler in der elektronischen Version des Katalogs korrigiert wuumlrden Allerdings wird nicht deutlich ob und wie diese Version fuumlr Interessierte auszligerhalb der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek einsehbar ist

Wer je an vergleichbaren Katalogwerken mitgearbeitet hat kann einschaumltzen dass es angesichts der groszligen Menge an Quellen Metadaten und Einzelinformationen unmoumlglich ist im Detail jeden Fehler auszuschlieszligen Jeder einzelne Irrtum jede Verwechslung ist aumlrgerlich gerade wenn sie ndash wie hier zum Teil ndash vermeidbar erscheinen Vor dem Hintergrund der unzaumlhligen hilfreichen Angaben die sich nach Eindruck des Rezensen-ten weit uumlberwiegend als korrekt erweisen sind die oben angesprochenen Fehler zwar unerfreulich fallen aber insgesamt weniger ins Gewicht Das gilt vor allem dann wenn sie wie angekuumlndigt korrigiert und was zu wuumlnschen bleibt in verbesserter Form zeitnah im Open Access zur Verfuumlgung gestellt werden So sei hier zuletzt noch einmal auf den mit 498ndash Euro hohen Preis der gedruckten Baumlnde hingewiesen der dazu fuumlhrt dass kaum eine interessierte Einzelperson und bedauerlicherweise auch immer weniger oumlffentliche Einrichtungen sich die Erwerbung des Katalogs leisten koumlnnen Auch vor diesem Hin-tergrund waumlre die Bereitstellung des Werks als frei zugaumlngliche Onlinequelle sehr zu be-gruumlszligen wobei es vor allem erfreulich waumlre wenn so der inhaltsreiche und verdienstvolle Katalog einem groumlszligeren Publikum ortsunabhaumlngig und unabhaumlngig von den Oumlffnungs-zeiten der bestandsfuumlhrenden Einrichtungen zur Nutzung bereitstuumlnde

Johannes Mangei

Martin LEHMANN (Hg) Der Globus Mundi Martin Waldseemuumlllers aus dem Jahre 1509 Text ndash Uumlbersetzung ndash Kommentar (Rombach Wissenschaften Reihe Paradeigmata Bd 35) Freiburg i Br Berlin Wien Rombach 2016 205 S Abb Brosch EUR 38ndash ISBN 978-3-7930-9858-4

Bisher in der Alten Welt vollkommen unbekannt ruumlckte in den ersten zehn Jahren des 16 Jahrhunderts der amerikanische Doppelkontinent ndash zunaumlchst schemenhaft dann unuumlbersehbar ndash in das Bewusstsein der europaumlischen Eliten Zwischen 1400 und 1550 vermehrte sich aufgrund der maritimen Expeditionen nach Asien ndash von Portugal aus ent-lang der Westkuumlste Afrikas nach Suumlden und dann ostwaumlrts sowie von Spanien und Eng-land aus nach Westen ndash das Wissen von der Erdoberflaumlche von 11 Prozent auf 33 Prozent Die neuen geographischen Kenntnisse sollten nicht nur verbal sondern auch visuell ver-mittelt werden Zusaumltzlich zu den Weltkarten erinnerte man sich dazu an ein bereits in der Antike bekanntes doch bis zum Ende des 15 Jahrhunderts so gut wie nie verwendetes didaktisches Modell den Erdglobus

Ein geistiges Zentrum wissenschaftlicher Verarbeitung der Nachrichten aus Uumlbersee bildete der als Gymnasium Vosagense bezeichnete humanistische Gelehrtenzirkel im loth-ringischen St Dieacute Dort wirkten unter anderem der Philologe Matthias Ringmann und der Kartograph Martin Waldseemuumlller Gemeinsam schufen sie 1507 ein den Wandel des Weltbildes repraumlsentierendes dreiteiliges sbquoMedienpaketlsquo welches aus einer gedruckten Einfuumlhrung in die Kosmographie einer groszligformatigen Weltkarte und einem Erdglobus

639Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

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kleinen Durchmessers bestand Dennoch vertraten die beiden Gelehrten partiell inhaltlich unterschiedliche Ansichten Dieser Umstand mag ein Grund dafuumlr gewesen sein dass Waldseemuumlller bereits 1509 eine eigene kosmographische Abhandlung in deutscher Spra-che veroumlffentlichte welche auch zahlreiche theologische Aspekte enthielt und die (nicht nur doch unter anderem) eine ausfuumlhrliche Erklaumlrung seines kleinen Erdglobus darstellte

Das in Form sphaumlrischer Zweiecke gezeichnete Kartenbild fuumlr den Globus wurde mit-tels Holzschnittverfahren reproduziert Die zwoumllf Segmente konnten ausgeschnitten und auf eine Kugel im Durchmesser von 11 cm aufkaschiert werden Waldseemuumlllers Glo-buskarte ist der fruumlheste Beleg einer kartographischen Grundlage fuumlr einen Serienglobus das heiszligt dieser Holzschnitt leitete eine neue Entwicklung in der Globenherstellung ein Daruumlber hinaus gilt sie als der fruumlheste gedruckte Nachweis der geographischen Bezeich-nung bdquoAmerikaldquo auf einem kartographischen Objekt Nur vier in das fruumlhe 16 Jahrhun-dert datierbare Exemplare haben sich erhalten einer dieser wertvollen Segmentsaumltze befindet sich im Museum im Ritterhaus in Offenburg im Ortenaukreis

Zu Ostern 1509 wurde bei Johannes Gruumlninger in Straszligburg die Druckschrift Wald-seemuumlllers bdquoDer Welt Kugel Beschrybung der Welt und deszlig gantzen Ertreichs [hellip]ldquo pub-liziert und Ende August desselben Jahres ebenfalls bei Gruumlninger eine erweiterte und in die lateinische Sprache uumlbersetzte Fassung mit dem Titel Globus Mundi veroumlffentlicht Der 2010 an der Universitaumlt Freiburg zum Doktor der Philosophie promovierte und dort 2017 habilitierte Philologe Martin Lehmann hatte bereits uumlber die Cosmographiae Intro-ductio Matthias Ringmanns und uumlber andere zeitgenoumlssische Quellen zur Geschichte der europaumlischen Expansion und deren Rezeption gearbeitet Es gelang ihm unter anderem die Zuschreibung der Autorenschaft der anonym erschienenen Werke bdquoDer Welt Kugelldquo und Globus Mundi an Martin Waldseemuumlller wissenschaftlich zu belegen

Mit diesem Buch legt er die erste vollstaumlndige Transkription und eine Uumlbersetzung des Globus Mundi aus dem Lateinischen ins Deutsche vor Lehmann hat seine Arbeit mit einer einleitenden Beschreibung des Werkes mit ausfuumlhrlichen Kommentaren zum lateinischen Text mit zahlreichen Verweisen auf andere zeitgenoumlssische kosmographische Arbeiten mit Verzeichnissen der Primaumlrquellen und der Sekundaumlrliteratur sowie mit einem Appendix ndash einer umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion des Problems der Antipoden ndash versehen

Das Buch bietet eine fundierte und gleichzeitig lesbare moderne Bearbeitung einer wenig bekannten und nur selten rezipierten historischen Quelle die aus heutiger Sicht einerseits in Bezug auf die in ihr repraumlsentierte fruumlhneuzeitliche Beschreibung der Erde und des diese umgebenden Weltalls sowie andererseits als Erlaumluterung der Globuskarte Waldseemuumlllers von wissenschaftshistorischem Interesse ist

Jan Mokre

Helmut FRUumlHAUF Barbara KOELGES Armin SCHLECHTER Rheinstrom Deszlig beruumlhmten und herrlichen Flusses eigentliche und wahrhafftige Beschreibung Die Kartensamm-lung Hellwig im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Rheinische Landes- bibliothek Koblenz (Schriften des Landesbibliothekszentrums Rheinland-Pfalz Bd 15) Koblenz Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz 2017 175 S Kt Brosch EUR 18ndash ISSN 1861-6224 (Reihe)

Der Begleitband zur Ausstellung widmet sich mit Karten auf denen der Rhein oder Teile davon in verschiedenen Zusammenhaumlngen zu sehen ist einem Aspekt der im Lan-desbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Abteilung Rheinische Landesbibliothek Koblenz

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verwahrten Kartensammlung von Prof Dr Fritz Hellwig (1912ndash2017) welcher an der Vorbereitung der Praumlsentation Anteil nahm

Helmut FRUumlHAUF einer der drei Ausstellungskuratoren gibt zunaumlchst einen ausfuumlhr-lichen biographischen Uumlberblick uumlber das lange und ereignisreiche Leben des Saarlaumlnders Hellwig Neben seinem beruflichen und politischen Wirken war er ein eifriger Sammler von Landkarten Ansichten Portraumlts Schriften und Buumlchern Teile dieser Sammlung die sich vielfach auf das Saarland Lothringen und Luxemburg bezieht befinden sich nicht nur im Landesbibliothekszentrum sondern in betraumlchtlichem Umfang auch an Karten im Landesarchiv Saarbruumlcken was kurz Erwaumlhnung findet

Der zweite Aufsatz Fruumlhaufs befasst sich mit der bdquoEntwicklung der historischen Kartographie im Spiegel der Kartensammlung Hellwigldquo mit eigenen Abschnitten zur Mi-litaumlrkartographie und zu Territorialkarten anhand der vom Bibliothekszentrum 2008 er-worbenen insgesamt 366 gedruckten Karten aus der Zeit von 1513 bis etwa 1920 Gut die Haumllfte der Karten stammt aus dem 18 Jahrhundert aber auch fuumlr die aumlltere Zeit ab 1513 sind angefangen bei Martin Waldseemuumlller etliche bedeutende Kartographen vertreten

Armin SCHLECHTER als zweiter Kurator der Ausstellung geht in seinem Aufsatz auf die Kartensammlung Hellwigs als historische Quelle ein Dabei unterscheidet er zwischen Karten mit dem Verlauf des Rheins im Zentrum Territorialkarten und Karten mit Bezug auf historische Ereignisse vornehmlich Kriegskarten aber beispielsweise auch Karten zu Erdbeben in Baden 1896 und 1911 die jeweils in die historischen Ereignisse ein- gebettet und interpretiert werden Im eigentlichen Katalogteil werden 54 ausgewaumlhlte Karten aus der Sammlung zum Lauf des Rheins mit Schwerpunkt Mittelrhein jeweils als Ganzes farbig auf einer Seite oder bei sehr langen Karten auf einer eingeklappten Dop-pelseite abgebildet Jeder Karte ist eine mehr oder weniger ausfuumlhrliche Erlaumluterung mit Literaturangaben beigegeben Waumlhrend Helmut Fruumlhauf vierzehn fruumlhe Rheinlaufkarten von 1513 bis 1700 beschreibt befasst sich Armin Schlechter mit zwanzig Landkarten zum bdquoOberrheinischen Kriegstheaterldquo 1635 bis 1815 Die dritte Ausstellungskuratorin Barbara Koelges stellt zwanzig Territorialkarten vor Den Abschluss des Bandes bildet ein chronologisch aufgebautes Verzeichnis mit den technischen Daten aller 366 Karten der Sammlung Hellwig in Koblenz

Mit der Ausstellung beziehungsweise dem Begleitband widmen sich die Ausstellungs-kuratoren der verdienstvollen Aufgabe eine interessante Sondersammlung bekannt zu machen die man nicht ohne weiteres an ihrem Aufbewahrungsort vermuten wuumlrde In den beiden Aufsaumltzen von Fruumlhauf und Schlechter zur Kartographie wurde zudem die sich bietende Gelegenheit auch die Karten Hellwigs die in der eigentlichen Ausstellung keine Beruumlcksichtigung finden konnten in gewisser Weise vorzustellen und zu interpre-tieren rege genutzt Der Band bietet zahlreiche Hinweise und Anregungen zur weiteren Beschaumlftigung mit der Kartensammlung Hellwigs oder auch anderen Karten zum Thema fuumlr alle die sich aus wissenschaftlichen oder heimatkundlichen Gruumlnden mit Landkarten befassen

Gabriele Wuumlst

Juumlrgen DENDORFER (Hg) Erinnerungsorte des Mittelalters am Oberrhein (Schlaglichter regionaler Geschichte Bd 4) Freiburg i Br Berlin Wien Rombach 2017 194 S Brosch EUR 24ndash ISBN 978-3-7930-5153-4

Der vorzustellende Band ist bereits der vierte in der noch jungen Reihe bdquoSchlaglichter regionaler Geschichteldquo und wie seine Vorgaumlnger geht er auf eine Ringvorlesung zuruumlck

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Diese fand im Rahmen des Freiburger Studium Generale in der sogenannten Samstags-Uni statt die sich sowohl an ein universitaumlres als auch an ein breites Publikum aus der Bevoumllkerung richtet Auch der daraus resultierende Band soll ein gemischtes Publikum erreichen weshalb der wissenschaftliche Apparat auf ein Mindestmaszlig begrenzt und den einzelnen Beitraumlgen in der Form von Endnoten beigegeben wurde Ergaumlnzend gibt es zu allen Aufsaumltzen am Ende des Bandes noch jeweils eine kurze Liste mit weiterfuumlhrender Literatur

Das Konzept der Erinnerungsorte geht auf den franzoumlsischen Historiker Pierre Nora zuruumlck der den Begriff bdquolieux de meacutemoireldquo nicht nur im engeren sondern vor allem im uumlbertragenen Sinn versteht So kann von konkreten Orten die Rede sein aber auch von Ereignissen Personen Dynastien und vielem anderen mehr (vgl Definition auf S 128) Dabei stehen weniger die historischen Sachverhalte selbst im Zentrum des Interesses sondern vielmehr wie sie erinnert in die eigene Geschichte integriert und erzaumlhlt werden So kann es gerade am Oberrheingebiet an dem drei Staaten Anteil haben sowohl eine deutsche Sicht auf bestimmte Erinnerungsorte geben als auch eine schweizerische und eine franzoumlsische Das gilt insbesondere fuumlr das Elsass dessen staatliche Zugehoumlrigkeit wiederholt wechselte und wo man zudem mit einer spezifisch elsaumlssischen Perspektive zu rechnen hat

Im ersten der Beitraumlge von Heinrich SCHWENDEMANN geht es um die elsaumlssische Hoh-koumlnigsburg Diese Burg sollte nach 1900 quasi als Inbegriff einer deutschen Burg wie-deraufgebaut werden Fuumlr das Projekt konnte niemand geringeres als Kaiser Wilhelm II begeistert werden der aus eigener Schatulle fuumlr eine Anschubfinanzierung sorgte zu der dann der Reichstag einen weitaus groumlszligeren Betrag fuumlr das Gesamtprojekt zuschoss Der Kaiser sah in der Hohkoumlnigsburg im Elsass ein Pendant zur Marienburg im Osten seines Reichs und er konnte sich mit der Vereinnahmung der Burg in die Tradition der Hohen-staufen und Habsburger stellen die die Hohkoumlnigsburg einst errichtet bzw uumlber das Elsass geherrscht hatten ndash Anknuumlpfungen an mittelalterliche Kaiserdynastien wie man sie von den Hohenzollern etwa auch aus Goslar oder vom Kyffhaumluser kennt Seit der Eroumlffnung der Hohkoumlnigsburg im Jahr 1908 verblieben nur noch wenige Jahre in denen sie in der beabsichtigten Weise die preuszligisch-deutsche Herrschaft uumlber das Elsass reprauml-sentierte Nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine Umdeutung des Erinnerungsorts ein Von offizieller franzoumlsischer Seite betrachtete man die Burg nun als Sinnbild fuumlr den kaiserlichen Groumlszligenwahn Waumlhrend der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg interessierte sich das NS-Regime praktisch nicht fuumlr die Hohkoumlnigsburg war sie doch zu sehr ein hohenzollerisches Symbol Ironischer Weise waren es nach dem Krieg die Elsaumlsser die sich zunehmend mit der Burg identifizierten und sie als elsaumlssisches Bau-werk ansahen

Heilige sind Personen deren Leben und Sterben aus christlicher Sicht als vorbildhaft gelten Das Andenken an sie ist geradezu der Wesenskern ihrer Verehrung Insofern sind Heilige und ihre Kultplaumltze per se Erinnerungsorte Exemplifiziert hat dies Barbara FLEITH an der heiligen Odilia und ihrer Verehrung auf dem elsaumlssischen Odilienberg aber auch in St Ottilien nahe Freiburg Dabei werden die Unterschiede ihrer Verehrung und Memorierung verdeutlicht Waumlhrend sie in dem auf dem Odilienberg errichteten Kloster Hohenburg als blind geborenes Kind aber durch die Taufe sehend gewordene Heilige verehrt wird und Pilgerfahrten zu ihrem Grab dort bereits seit der Karolingerzeit greifbar sind liegt ihrer Verehrung in St Ottilien eine andere Legende zugrunde Dieser nach habe sie vor ihrem Vater fluumlchten muumlssen als er sie gegen ihren Willen verheiraten wollte

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Am Ort des heutigen St Ottilien habe sich fuumlr sie wundersamer Weise ein Fels geoumlffnet in dem sie sich verstecken konnte Nachdem die Gefahr vorbei war habe sich dieser Fels erneut geoumlffnet und es kam daraus die noch heute sprudelnde Quelle hervor Die an dem Ort erbaute Ottilienkapelle stammt aus der Zeit um 1500 Wie weit fruumlher die Ottilien-verehrung zuruumlckreicht ist ungewiss

Die Dynastie der Zaumlhringer als Erinnerungsort beleuchtet Thomas ZOTZ der auf die vielen Denkmaumller und Bauten aus der Zaumlhringerzeit in denjenigen Staumldten verweisen kann die einst von den Zaumlhringern gegruumlndet worden waren Allen voran Freiburg im Breisgau wo man kurioser Weise uumlber lange Zeit den falschen Zaumlhringer Bertold III als Stadtgruumlnder memorierte Aber auch im eidgenoumlssischen Bern gehoumlrte die Ruumlckbe-sinnung besonders auf den dortigen Stadtgruumlnder Bertold V in Mittelalter und Neuzeit zur wohl gepflegten Memoria Das in Freiburg so lebendige Andenken an die Zaumlhringer ist dem Umstand geschuldet dass sich die Markgrafen von Baden seit dem 18 Jahr- hundert auch in die Tradition der Zaumlhringer stellten Dies war ein gemeinsamer Anknuumlp-fungspunkt als das jahrhundertelang habsburgische Freiburg im Jahr 1806 dem neu ent- stehenden Groszligherzogtum Baden zugeschlagen wurde

Weitaus geringer ist das Andenken an die Habsburger am Oberrhein ausgepraumlgt das Peter NIEDERHAumlUSER untersuchte Das ist einerseits erstaunlich da Freiburg weitaus laumlnger unter habsburgischer denn unter zaumlhringischer Herrschaft stand und letztere zeit-lich zudem deutlich weiter zuruumlcklag Andererseits leuchtet natuumlrlich ein dass die in Napoleonischer Zeit neu geschaffenen Staaten Baden und Wuumlrttemberg denen groszlige Teile des bis dahin habsburgischen Vorderoumlsterreich zugeschlagen wurden kein Interesse an einer Ruumlckbesinnung auf die Habsburger haben konnten Zudem war Vorderoumlsterreich lediglich ein Randgebiet der Habsburger Die groszligen Zentren wo es eine entsprechende Bautaumltigkeit und Repraumlsentation gab lagen jenseits des Arlbergs Am Oberrhein finden sich kaum Spuren aktiven Angedenkens lediglich architektonische Uumlberreste die an die Habsburger erinnern koumlnnen namhaft gemacht werden Wo die habsburgische Memoria tatsaumlchlich betrieben wurde in den Kloumlstern Muri und Koumlnigsfelden hat man den engeren Bereich des Oberrheins bereits verlassen Bemerkenswert ist immerhin der Versuch des Sanblasianer Abts Martin Gerbert in seinem Kloster eine Grablege fuumlr die Habsburger zu schaffen wohl um dem Kloster durch die Anbiederung an die Dynastie die Existenz zu sichern

Johanna THALI stellt die politische Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Ma-nessischen Liederhandschrift und des darin festgehaltenen Minnesangs vor Die beruumlhmte und praumlchtige Sammlung von Minneliedern wurde wohl durch die Zuumlrcher Buumlrgerfamilie Manesse im 14 Jahrhundert angelegt Nachdem der Minnesang im Spaumltmittelalter nicht mehr praktiziert wurde gerieten auch die Lieder in Vergessenheit Erst im 18 Jahrhundert erwachte wieder ein Interesse an bdquoDenkmaumllern altdeutscher Literaturldquo Im Zusammen-hang mit der Gruumlndung des deutschen Nationalstaats im 19 Jahrhundert geriet der Codex Manesse in das Blickfeld der Oumlffentlichkeit und galt als wichtiges Zeugnis deutscher Kultur Im Jahr 1888 konnte er von der franzoumlsischen Nationalbibliothek fuumlr die Univer-sitaumltsbibliothek Heidelberg gekauft werden Der Kauf war eine regelrechte Staatsaktion unter Beteiligung Bismarcks und Groszligherzog Friedrichs Wie praumlsent das Thema im Be-wusstsein der Gesellschaft damals war zeigen die Benennungen von Straszligen und Schulen nach den Minnesaumlngern und als vielleicht prominentestes Beispiel ein Relief an der Straszlig-burger Universitaumltsbibliothek wo Gottfried von Straszligburg die Reihe der deutschen Dich-ter eroumlffnet gefolgt von Lessing Goethe und Schiller

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In dem Beitrag von Olivier RICHARD geht es um die Dekapolis im Elsass den Bund von meistens zehn elsaumlssischen Reichsstaumldten Das Andenken an diesen Bund ist in den ehemaligen Mitgliedsstaumldten bis heute sehr lebendig und steht damit in einem gewissen Gegensatz zu seiner tatsaumlchlichen historischen Bedeutung Die starke Betonung der Zugehoumlrigkeit zum Reich ist verwunderlich standen doch die Elsaumlsser zeitweilig unter groszligem Druck zu zeigen dass sie voll und ganz Franzosen waren In der Wahrnehmung der Elsaumlsser kam es dazu dass der Bund als Besonderheit und gar als pars pro toto fuumlr das ganze Elsass betrachtet wurde waumlhrend deutsche Historiker die Staumldte eher als gewoumlhnliche Reichsstaumldte wahrnahmen

Weniger um die Instrumentalisierung des Andenkens geht es beim Erinnerungsort Schlettstadt den Birgit STUDT vorstellt Die dortige Humanistenbibliothek ist vielmehr ein Kristallisationspunkt der Erinnerung an den Humanismus am Oberrhein der vielleicht wegen der Lage in einer eher unscheinbaren Stadt im Elsass fernab groumlszligerer Zentren so besonders ist Trotzdem wurde die Schlettstadter Lateinschule zu einer Bildungsinsti-tution im Zeitalter des Humanismus mit einer Ausstrahlung weit uumlber das Oberrheingebiet hinaus

In dem Beitrag von Peter KURMANN uumlber das Straszligburger Muumlnster wird die Thematik des Erinnerungsorts auf zwei Ebenen angesprochen Zum einen bezuumlglich der Verwendung von Spolien in der Kunst So ist das Straszligburger Muumlnster selbst ein Erinnerungsort wurde es doch genau auf dem Grundriss seines spaumltottonischen Vorgaumlngerbaus errichtet der sei-nerseits dem Typus der christlichen Basilika aus dem 4 Jahrhundert nachempfunden war Man bewahrte die alte Form fuumlhrte aber die Bauteile im Stil der eigenen Zeit aus und demonstrierte so gleichzeitig Traditionsverbundenheit und modernes Repraumlsentationsbe-duumlrfnis Die Rezeptionsgeschichte des Muumlnsters in neuerer Zeit ist wie Kurmann anmerkt noch nicht geschrieben Er fuumlhrt aber zum anderen verschiedene Versuche an die Kathe-drale als Symbol fuumlr ein franzoumlsisches bzw deutsches Elsass zu vereinnahmen Zuletzt herrsche die Tendenz vor den europaumlischen Charakter des Muumlnsters zu betonen

Boris Bigott

Heidrun OCHS Gabriel ZEILINGER (Hg) Kaufhaumluser an Mittel- und Oberrhein im Spaumlt-mittelalter (Schriften zur suumldwestdeutschen Landeskunde Bd 80) Ostfildern Thor-becke 2019 VII 176 S Abb geb EUR 28ndash ISBN 978-3-7995-5280-6

In ihrer Einleitung (S 1ndash8) umschreiben die beiden Herausgeber ndash Heidrun OCHS und Gabriel ZEILINGER ndash die Zielsetzung des Tagungsbandes Im Rahmen der Tagung wurden mittelalterliche Kaufhaumluser orts- und themenuumlbergreifend unter neuen Fragestellungen thematisiert Im Fokus stand die Rolle der Kaufhaumluser fuumlr die Kaufleute den staumldtischen Rat und die Buumlrger der Stadt Kaufhaumluser dienten als permanente Orte des Handels sowohl der Foumlrderung als auch der Normierung Als hallenartige meist repraumlsentative Gebaumlude waren sie wichtige Instrumente und Kristallisationsorte kommunaler Wirt-schaftspolitik und entstanden seit dem 12 Jahrhundert Sie boten aber auch den aus- waumlrtigen Kaufleuten Verlaumlsslichkeit bei der Bestimmung der Maszlige und Sicherheit fuumlr die Zwischenlagerung der Waren

Nina GALLION (bdquoVom Breisgau bis zum Bodensee Kaufhaumluser als Zentren von Handel und Profitldquo S 9ndash25) praumlsentiert eine kurze uumlberblicksartige Einfuumlhrung in die Ge-schichte der Kaufhaumluser im Breisgau und am Bodensee Aufgrund des Forschungsstandes stehen die Einrichtungen in Freiburg und Konstanz im Mittelpunkt Uumlberlingen und Meersburg werden hinzugezogen Olivier RICHARD derzeit sicherlich einer der besten

644 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 644

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Kenner des vormodernen kommunalen Lebens im Elsass aumluszligert sich bdquoZur Multifunk-tionalitaumlt der Kaufhaumluser im spaumltmittelalterlichen Elsassldquo (S 27ndash47) Er konstatiert zunaumlchst zwei regionale Einrichtungswellen eine erste in der zweiten Haumllfte des 14 Jahr-hunderts die zweite um die Wende zum 16 Jahrhundert Grundsaumltzlich errichtete man diese kommunalen Bauten an wichtigen Verkehrsachsen oft am Wasser oder zumindest an zentralen Orten innerhalb des staumldtischen Areals Neben der wirtschaftlichen uumlber-nahmen viele Kaufhaumluser auch eine politische Funktion Unabhaumlngig hiervon konstatiert Richard durch diesen spezifischen Bautyp eine Monumentalisierung der wirtschaftlichen staumldtischen Oumlffentlichkeit In diesem Umfeld bewegten sich viele Menschen einer Stadt so dass Kaufhaumluser zur Schnittstelle zwischen Stadtgemeinde Zuumlnften Kaufleuten und Vertretern des Stadtherrn werden konnten

Raoul HIPPCHEN bietet mit seinem Beitrag bdquoDie Kaufhaumluser am Mittelrhein als Orte von Handel und Politikldquo (S 49ndash83) einen anschaulichen Uumlberblick Er sieht Kaufhaumluser als Sonderraum innerhalb der mittelalterlichen Stadt die als Anlagen der Produktion und des Austauschs von Waren beschrieben werden koumlnnen Eine Gruumlndungswelle von Kauf-haumlusern sieht er um 1400 Fuumlr die Mehrzahl dieser Einrichtungen konstatiert auch er eine unmittelbare raumlumliche Naumlhe zu Rathaumlusern stadtherrlichen Gebaumluden Marktplaumltzen Verkaufslaumlden Haumlfen Kranen Zunfthaumlusern aber auch Kirchen Die Gruumlndung der Kaufhaumluser in landesherrlichen Staumldten ging in der Regel auf die Initiative der Herrschaft zuruumlck im Gegensatz zu den freien Staumldten oder Reichsstaumldten wo der Impuls den Buumlr-gern zuzuordnen ist Neben der urspruumlnglichen Funktion als Wirtschafts- und Kontroll-zentrum wurden diese Einrichtungen auch pragmatisch genutzt beispielsweise waren sie als politischer Raum sowie als Einrichtungen mit einer grundsaumltzlichen Multifunktiona-litaumlt vorgesehen

Fuumlr den Wirtschaftsraum der Hansestaumldte erkennt Stephan SELZER das weitgehende Fehlen oumlffentlicher Kaufhaumluser (bdquokophus sellebode nedderlage spiker Bemerkungen zu Institutionen des hansischen Handels und ihrer Erforschungldquo S 85ndash100) Dort findet man Kaufhaumluser allenfalls im System des binnenlaumlndischen Land- und Flusshandels Die deutliche Bevorzugung binnenhansischer Warenstroumlme insbesondere im Rahmen des See-handels machte die Bereitstellung eines oumlffentlichen Kaufhauses grundsaumltzlich obsolet

Kurt WEISSEN zeigt bdquoOrdnungsprinzipien und Stoumlrungenldquo im bdquoAlltag im spaumltmittel- alterlichen Basler Kaufhausldquo (S 101ndash111) Hierzu wertet er die Protokolle Kundschaften und Urteilsbuumlcher des staumldtischen Schultheiszligengerichts sowie die erhalten gebliebenen Aufzeichnungen des Basler Kaufmanns Ulrich Meltinger aus den Jahren 1468 bis 1493 aus So zeigt sich dass Schuldnern vielfach eine Verlaumlngerung der Zahlungsfristen ge-waumlhrt wurde um durch Kompromisse die Existenz des Schuldners nicht komplett zu zer-stoumlren Man stritt um den Verbleib von Waren da die Stadt seit 1405 fuumlr im Kaufhaus verlorene oder beschaumldigte Waren haftete Da kein einziger Fall von Stoumlrung des Kauf-mannsfriedens durch koumlrperliche Gewalt uumlberliefert ist duumlrften sich die Streitigkeiten auf zum Teil lautstarke und heftige Verbalduelle reduziert haben

Julia VON DITFURTH zeigt uns bdquoSpaumltmittelalterliche Kaufhaumluser und ihre Architektur als Mittel zur Repraumlsentationldquo (S 113ndash144) In Bezug auf die topographische Einbindung der Kaufhaumluser ist eine Markt- oder Verkehrslage zu konstatieren In der Regel ist das Gebaumlude mit dem Giebel zum Markt hin orientiert also zum Handels- oder Versamm-lungsplatz oder zu der Seite die Ankommende bereits aus der Ferne sehen konnten Ma-terial und Bautechnik richteten sich logischerweise nach den lokalen Moumlglichkeiten und Gepflogenheiten Eine bauliche Analogie von Fruchtkaumlsten und Kaufhaumlusern beruht auf

645Mittelalter

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 645

Hinsichtlich der Korrespondenten wird deutlich dass die Verbindungen Melanchthons zu den suumlddeutschen Theologen infolge der Zeitumstaumlnde weitgehend abgebrochen waren Einzig nach Nuumlrnberg und Straszligburg hatte Melanchthon noch Kontakte Ein Schreiben Melanchthons an Frecht aus dem Januar 1548 (MBW 5042) kann aus dem Blarer-Briefwechsel erschlossen werden ebenso wie eines aus dem Juni an Schnepf in Tuumlbingen (MBW 5181) Im September (MBW 5284) weiszlig Melanchthon von der Gefan-gennahme Frechts in Ulm durch den Kaiser die Schlimmes befuumlrchten laumlsst Schon im August (MBW 5246) hatte er sich bei Bucer nach dem Verbleib von Brenz und anderen erkundigt die wegen des Interims ihre Stellen verlassen mussten Uumlber die schwierige Lage in Straszligburg den Aufenthalt von Brenz und die Verhaumlltnisse in Wuumlrttemberg konnte ihm Bucer im Januar 1549 berichten (MBW 5403) Der Weggang von Andreas Osiander aus Nuumlrnberg der dann nach Preuszligen ging war Melanchthon bekannt (MBW 5366 5394 5542) Aus Lohr am Main in der Grafschaft Rieneck meldete sich im Februar der stel-lungsuchende Erhard Schnepf der Tuumlbingen hatte verlassen muumlssen und voruumlbergehend in Lohr bei Johann Konrad Ulmer untergekommen war (MBW 5442 f) aber dann in Jena eine Stelle fand (MBW 5598) Melanchthon hatte Schnepf ebenso wie Martin Bucer in Wittenberg erwartet Bucers Stellung in Straszligburg war wegen der Annahme des Interims durch den Magistrat mehr und mehr unhaltbar geworden weshalb er schlieszlig-lich nach England ging (MBW 5460)

Diese Streiflichter auf die Ereignisse in Suumldwestdeutschland koumlnnen nur beispielhaft die Fuumllle des Materials erahnen lassen das in den beiden Baumlnden ausgebreitet und in jedem Band durch Indizes vor allem der Absender und Adressaten erschlossen ist

Hermann Ehmer

Philipp MELANCHTHON Texte 5643ndash5969 (Oktober 1549ndashDezember 1550) bearb von

Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Bd T 20) Stuttgart Frommann-Holzboog 2019 494 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2662-7

Dieser Band enthaumllt 15 Monate des Briefwechsels Melanchthons Nachdem der Lehr-betrieb an der Wittenberger Universitaumlt wieder in Gang gekommen war ging es um die Auseinandersetzung mit Flacius um das wahre Erbe Luthers Melanchthon hat diesen Kampf zum Teil mit bdquooffenen Briefenldquo wie sie von den Herausgebern bezeich- net werden gefuumlhrt Es handelt sich um Aumluszligerungen die vorwiegend im Druck heraus-gingen und somit besondere Anforderungen an die Edition machten Da Autographen fehlen waren jeweils zahlreiche Abschriften und Drucke zu beruumlcksichtigen und zu ver-zeichnen Solche Aumluszligerungen kommen zum Teil auch in Gestalt von Widmungsvorreden einher

Als weiteres theologisches Problem bahnt sich in dieser Zeit der Osiandrische Streit an der durch den Nuumlrnberger Reformator Andreas Osiander der durch das Interim nach Koumlnigsberg in Preuszligen verschlagen worden war entfacht wurde Ebenfalls durch das Interim wurde Erhard Schnepf aus Tuumlbingen vertrieben der schlieszliglich eine ehren- volle Stelle in Jena erhielt Gleichwohl konnte Melanchthon ihm eine Stelle in Rostock anbieten

Im Korrespondentenkreis Melanchthons faumlllt in dieser Zeit Suumlddeutschland fast voll-staumlndig aus Durch das Interim liegen Kirchen und Universitaumlten am Rhein in Schwaben

660 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 660

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

parallelen Funktionen als Warenlager Bei den Bildwerken und Bildprogrammen ist eine gewisse Parallelitaumlt zum Rathaus festzustellen

Joachim SCHNEIDER zeigt bdquoOrte des Handels in der Wahrnehmung der spaumltmittelalter-lichen Zeitgenossenldquo (S 145ndash165) und beginnt mit den Nuumlrnberger Kaufhaumlusern Dort wurden die Waren in mehreren nahe beieinanderliegenden Haumlusern verwahrt Er untersucht wie sich die materielle Wirklichkeit des Bauwerks in den Schriftzeugnissen und Bildquellen niederschlug Insbesondere kommen als relevante Schriftzeugnisse fuumlr diese Fragestellung Stadtchroniken Reiseberichte sowie Staumldtebeschreibungen in Frage

Uwe ISRAEL beschlieszligt den Sammelband mit dem Betrag bdquoKaufhaumluser am Mittel- und Oberrhein ndash ein Fazitldquo (S 166ndash169) Er sieht noch einen erheblichen Forschungsbedarf in Bezug auf Kaufhaumluser im mittelalterlichen Deutschland und hebt die signifikanten Unterschiede zwischen Nord- und Suumlddeutschland hervor Die Notwendigkeit fuumlr eine solche Einrichtung hing davon ab wie der Handel in einer bestimmten Stadt oder Region organisiert war

Der kleine kompakte Band fasst den Stand der Forschung gut zusammen und ist daher auch als erste Einstiegslektuumlre fuumlr alle sich neu mit dem Thema befassenden geeignet Die uumlberblicksartige Grundstruktur der einzelnen Beitraumlge fuumlhrt logischerweise zu eini-gen sich wiederholenden Feststellungen Ein zusammengefasstes Orts- und Personen- register schlieszligen den gelungenen Band ab der hoffentlich weitere detaillierte For- schungen initiieren kann

Juumlrgen Treffeisen

Masaki TAGUCHI Koumlnigliche Gerichtsbarkeit und regionale Konfliktbeilegung im deut-schen Spaumltmittelalter Die Regierungszeit Ludwigs des Bayern (1314ndash1347) (Frei- burger rechtsgeschichtliche Abhandlungen NF Bd 77 Abteilung B Abhandlungen zur deutschen Rechtsgeschichte) Berlin Duncker amp Humblot 2017 439 S Brosch EUR 8990 ISBN 978-3-428-14544-7

Die vorliegende Freiburger Arbeit verdankt ihr Entstehen worauf der Verfasser in sei-nem schon 2014 verfassten Vorwort ausdruumlcklich hinweist einer Anregung von Peter Moraw in Gieszligen Sie bewegt sich wie dies bei der Gerichtsbarkeit des Spaumltmittelalters auch nicht anders sein kann im Grenzgebiet zwischen Verfassungs- und Rechtsge-schichte ist letztlich aber doch der ersteren eher zuzurechnen Ihr grundlegender metho-discher Ansatz liegt darin die streitige Gerichtsbarkeit im heutigen Sinn als eines von mehreren Elementen in der Konfliktbereinigung zu bewerten neben der Krieg (Fehde) Vermittlung und Vergleich vor allem aber auch eine ausgedehnte Buumlndnis- und Land-friedenstaumltigkeit mindestens gleichwertig wenn nicht sogar von staumlrkerer Bedeutung waren Die Arbeit gliedert sich nach einer kurzen Einleitung zur politischen Situation in der Zeit Ludwigs des Bayern und zur Fragestellung in drei regional definierte Sek-tionen die als bdquohistorische Landschaftenldquo oder bdquoRegionenldquo zusammengefasst werden Vom Umfang her dominiert der Mittelrhein mit 190 Seiten gefolgt von bdquoElsass und Ober-rheinldquo sowie Westfalen mit knapp 80 bzw 60 Seiten Die Behandlung gleich dreier Land-schaften zielt offenbar auf einen vergleichenden Aspekt ab doch soll im Folgenden das fuumlr die Leser dieser Zeitschrift weniger relevante Westfalen ausgeblendet bleiben Dafuumlr muss hier sowohl der mittelrheinische wie der oberrheinische Komplex besprochen wer-den weil sich die historischen Verhaumlltnisse im Gebiet des Ober- und Mittelrheins nicht so ohne weiteres trennen lassen

646 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 646

Philipp MELANCHTHON Texte 5011ndash5343 (JanuarndashOktober 1548) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wis-senschaften Bd T 18) Stuttgart Frommann-Holzboog 2018 628 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2660-3

Philipp MELANCHTHON Texte 5344ndash5642 (November 1548ndashSeptember 1549) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Bd T 19) Stuttgart Frommann-Holzboog 2019 621 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2661-0

Die beiden hier vorzustellenden Baumlnde der Textausgabe des MBW decken mit ihren 338 und 306 Nummern lediglich eindreiviertel Jahre ab Schon diese einfache Statistik zeigt die ungeheuren Anforderungen vor die sich Melanchthon in dieser Zeit gestellt sah Neben dem Verlust zweier langjaumlhriger Weggefaumlhrten naumlmlich Caspar Cruciger und Veit Dietrich ging es fuumlr Melanchthon in dieser Zeit zunaumlchst darum den Lehrbetrieb der Wittenberger Universitaumlt nach dem Schmalkaldischen Krieg wieder in Gang zu brin-gen Die Zeugnisse Empfehlungsbriefe und die an ihn gerichteten Anfragen zeigen dass dies gelang und der universitaumlre Alltag wieder eingetreten war

Die Durchsetzung der kaiserlichen Religionspolitik die durch den Sieg Karls V im Schmalkaldischen Krieg moumlglich gemacht war stellte aber neue schwerwiegende und grundsaumltzliche Fragen Konkret ging es um das Augsburger Interim das auf dem Augs-burger Reichstag 1548 erarbeitete und erlassene Religionsgesetz das die Protestanten zum katholischen Kultus zuruumlckfuumlhren sollte Diesem Bemuumlhen lagen selbstverstaumlndlich theologische Festlegungen zugrunde die fuumlr die protestantische Seite die Frage aufwar-fen inwieweit diese angenommen werden konnten Da freilich wo der Kaiser durch den Krieg seine Machtstellung zur Geltung gebracht hatte vor allem in Suumldwestdeutschland und hier vor allem bei den Reichsstaumldten eruumlbrigte sich eine Diskussion hier musste das Interim trotz allen Straumlubens angenommen werden mit entsprechenden Folgen fuumlr die Theologen die sich in Wort und Schrift dagegen zur Wehr setzten

In Norddeutschland und vor allem im Kurfuumlrstentum Sachsen ging es in erster Linie um die Frage der Adiaphora der Mitteldinge um das was in Kultus und Lehre angenommen werden konnte ohne die Kernpunkte der evangelischen Lehre zu gefaumlhr-den Es ist klar dass hier ungeheurer Gespraumlchsbedarf bestand der sich in entsprechen- den Beratungen Anfragen und teils sehr umfangreichen Gutachten aumluszligerte Neben dieser Politikberatung und deren theologischer Fundierung vergaszlig Melanchthon nicht da er nach wie vor im Mittelpunkt des Geschehens stand den Fuumlrsten denen er verpflichtet war wie Georg und Joachim von Anhalt und besonders Koumlnig Christian III von Daumlnemark mit bdquoZeitungenldquo kurzen Nachrichten uumlber das Geschehen zu infor- mieren

Die Dringlichkeit und Schaumlrfe in der die anstehenden Fragen verhandelt wurden und natuumlrlich auch unterschiedliche Antworten hervorbrachten zeigt sich gerade auch in der Uumlberlieferungslage einzelner wichtiger Stuumlcke bei denen sich die Herausgeber teilweise vor eine fast nicht zu bewaumlltigende Mehrfachuumlberlieferung in gleichzeitigen Abschriften und Drucken auch mit abweichendem Wortlaut gestellt sahen Andererseits konnte hier eine nicht unbedeutende Anzahl (fast ein Sechstel) der Stuumlcke erstmals vollstaumlndig wiedergegeben werden

659Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 659

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Melanchthon und der roumlmische Katholizismus (Johanna RAHNER) beleuchtet zunaumlchst das Bild das sich die katholische Theologie von ihm machte und wie man ihn schlieszlig- lich als oumlkumenischen Theologen entdeckte Zum anderen geht es um das Verhaumlltnis Melanchthons zur katholischen Kirche seiner Zeit wobei eine Entwicklung von der Ab-grenzung hin zu einem qualitativen Verstaumlndnis von Katholizitaumlt zu verzeichnen ist

In der dritten Abteilung die dem Werk Melanchthons gilt werden zunaumlchst die Text-gattungen behandelt derer er sich bedient hat Timothy J WENGERT stellt die biblischen Uumlbersetzungen und Kommentare vor waumlhrend Georg Gottfried GERNER-WOLFHARD seine katechetischen Versuche aufzeigt Unter dem Stichwort Literatur gibt Thorsten FUCHS einen Uumlberblick uumlber Melanchthons literarische Produktion die sich in unterschiedlichen Gattungen vom Epigramm bis zur Erzaumlhlung aumluszligerte Andreas GOumlSSNER bespricht Melanchthons rhetorische Praxis in Deklamationen Reden und Postillen

Die Gutachten Melanchthons behandelt Christopher VOIGT-GOY Es handelt sich hier um ein noch wenig erforschtes Gebiet Anders verhaumllt es sich mit den Briefen die von Christine MUNDHENK vorgestellt werden die dabei ihre Erfahrungen mit der Briefausgabe wiedergeben kann

Ein zweiter Abschnitt gilt Melanchthons Theologie wobei Guumlnter FRANK zunaumlchst seine Topik behandelt die auf der Erneuerung der Dialektik durch den Humanismus be-ruht und fuumlr ihn die Grundwissenschaft darstellte Frucht dieses Wissenschaftsverstaumlnd-nisses waren die Loci als System der Theologie (Sven GROSSE) Sodann werden einzelne theologische Loci behandelt naumlmlich Rechtfertigungslehre (Robert KOLB) Schoumlpfungs-lehre (Christian LINK) Christologie (Hendrik Stoumlssel) Theologische Anthropologie (Bo Kristian HOLM) Abendmahlslehre (Johannes EHMANN) Ekklesiologie (Johanna RAHNER) sowie Praumldestination Eschatologie Froumlmmigkeit (Martin H JUNG)

Der dritte Abschnitt behandelt Melanchthons Philosophie wobei zunaumlchst Guumlnter FRANK den Philosophiebegriff dann die praktische Philosophie Melanchthons darstellt Es folgen weitere Themen die zum Teil zum traditionellen System der Artes gehoumlren aber auch solche die daruumlber hinausweisen Besprochen werden Naturphilosophie und Anthropologie (Sandra BIHLMAIER) Jurisprudenz (Christoph STROHM) Medizin (Juumlrgen HELM) Dialektik (Hanns-Peter NEUMANN) Rhetorik (William P WEAVER) Grammatik (Boris DJUBO) Mathematik (Ulrich REICH) Geschichte (Martin SCHNEIDER) und Antike Literatur (Thorsten Fuchs)

Die dritte Abteilung des Handbuchs wendet sich Melanchthons Wirkung und Rezep-tion zu die zunaumlchst Walter SPARN fuumlr die Zeit und das Gebiet des Alten Reichs unter-schieden nach Philosophie und Theologie darbietet Es folgen Skandinavien (Tarald RASMUSSEN) England (Charlotte METHUEN) Niederlande (Herman J SELDERHUIS) Frankreich (Nicola STRICKER) Spanien (Mariano DELGADO) Italien (Lothar VOGEL) Schweiz (Karin MAAG) Ungarn und Suumldosteuropa (Andreas MUumlLLER) und Polen-Litauen (Kestudis DAUGIRDAS) Zum Schluss wuumlrdigt Guumlnter Frank Melanchthon als bdquogroumlszligte oumlku-menische Gestalt der Reformationszeitldquo

Den Abschluss des Bandes bilden ein Gesamt-Literaturverzeichnis ein Personen- und Sachregister und das Autorenverzeichnis Die einzelnen Beitraumlge die im Rahmen dieser Besprechung vielfach nur benannt werden konnten behandeln ihre Themen kurz und dicht wie es einem Handbuch ansteht benennen jeweils die einschlaumlgigen Quellen und die Literatur zeigen die Forschungsdesiderate auf und bieten damit eine solide Grundlage fuumlr die weitere Erforschung von Person und Werk Melanchthons

Hermann Ehmer

658 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 658

Eines der Kernprobleme dieser aber nicht nur dieser Arbeit ist das Aufsuchen bzw die Bildung raumlumlicher Grenzen fuumlr die historische Forschung Beim modernen Staat mit seinen klaren Staatsgrenzen ist das einfach und auch die Fruumlhe Neuzeit bietet fuumlr die Er-forschung uumlberterritorialer d h kaiserlicher oder koumlniglicher Jurisdiktion wenigstens in Gestalt der Reichs- und Ritterkreise einen in der Reichsverfassung angelegten und geo-graphisch (Oberrhein Mittelrhein Elsass) oder stammesmaumlszligig (Franken Schwaben) halbwegs fassbaren Rahmen Dieser wurde jedoch erst in der Reichsreform des spaumlten 15 und 16 Jahrhunderts geschaffen fuumlr das Spaumltmittelalter fehlt er bzw bildet sich erst in Ansaumltzen (Staumldtebuumlnde Adelsvereine) heraus Solche Ansaumltze soweit sie erkennbar sind bezeichnet der Verfasser als bdquoStrukturenldquo ein rechtlich unbestimmter und eher politischer Begriff Um diese Strukturen in eine greifbarere Form zu bringen sucht Taguchi nach den bdquoVormaumlchtenldquo am Mittelrhein natuumlrlich vor allem die Kurfuumlrsten So stellt er eingehend die bdquorege Buumlndnis- und Landfriedenspolitikldquo des Erzbischofs Balduin von Trier eines Luxemburgers dar der sich im Mainzer Schisma aber nicht gegen den von Kurkoumlln und der Kurie unterstuumltzten Heinrich von Virneburg durchsetzen konnte

Im Anschluss daran schildert der Autor die Rolle der koumlniglichen Gerichtsbarkeit in mittelrheinischen Konflikten Er kann hier seit 1330 nach der Ruumlckkehr aus Italien eine aktive Friedenstaumltigkeit des Wittelsbachers im Buumlndnis mit den Luxemburgern (Johann von Boumlhmen Balduin von Trier) feststellen Beispiele dafuumlr sind die Streitigkeiten zwi-schen Mainz und der Pfalz uumlber Weinheim und Zwingenberg bzw generell uumlber die Be-sitzungen in Gemengelage an der Bergstraszlige und im Odenwald Sehr eindrucksvoll und genau stellt der Verfasser dar wie diese Auseinandersetzungen zunaumlchst an Schiedsge-richte gelangen deren Spruumlche aber nicht selten in einem Patt enden bzw gegen derartig maumlchtige Parteien nicht durchgesetzt werden koumlnnen so dass es letztlich doch zu einer Anrufung der koumlniglichen Gerichtsbarkeit kommt die dann sowohl streitentscheidend wie auch vermittelnd taumltig wird Kaiser und Hofgericht bevorzugten dabei wie es der Autor treffend charakterisiert in diesen letztlich politischen Faumlllen eine bdquoLoumlsung vor Ortldquo

Mit Weinheim und Zwingenberg sind Plaumltze angesprochen die man aus baden-wuumlrt-tembergischer Sicht schon zum Oberrhein bzw Odenwald zaumlhlt und die der Autor ledig-lich wegen der Beteiligung von Kurmainz und Kurpfalz in den Abschnitt uumlber den Mittelrhein aufgenommen hat Im Folgenden soll auf die im Abschnitt bdquoElsass und Ober-rheinldquo behandelten Materien eingegangen werden Geographisch begrenzt Taguchi diesen Raum auf die Laumlnder am Rheinstrom zwischen Basel im Suumlden und Weiszligenburg bzw Speyer im Norden d h linksrheinisch die heutigen Departements Bas-Rhin und Haut-Rhin bzw die zu Rheinland-Pfalz gehoumlrende Vorderpfalz rechtsrheinisch Baden Letz-teres das sei vorab gesagt kommt dabei etwas kurz weg So werden die Markgrafen noch nicht einmal unter die bdquoherrschendenldquo Kraumlfte der Region aufgenommen Es ist wohl der historischen Freiburger Optik geschuldet wenn dazu in erster Linie die Habsburger sowie der Bischof und die Stadt Straszligburg gezaumlhlt werden Der Autor legt dies auch ganz offen dar indem er darauf verweist dass er in diesem Abschnitt quellenbedingt nicht bdquoflaumlchendeckendldquo untersucht sondern lediglich bdquoeinigeldquo politische Kraumlfte herausgreift

Da Ludwig erst nach 1330 in dieser Region eingreifen konnte werden zunaumlchst die Aktivitaumlten Friedrichs von Oumlsterreich und seines Bruders Herzog Leopold bezuumlglich der Streitbeilegung vorgestellt Es handelt sich dabei um ein buntes Spektrum von Strei-tigkeiten an denen namentlich die Grafen von Fuumlrstenberg Pfirt (Ferrette) und Moumlm-pelgard (Montbeacuteliard) Staumldte Kloumlster und der Adel immer wieder aber auch die Habsburger selbst beteiligt waren Diese Faumllle werden uumlberblicksartig behandelt ein-

647Mittelalter

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 647

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

schlieszligt sich ein Uumlberblick uumlber die Melanchthon-Forschung am Beginn des 21 Jahr-hunderts an der fruumlher erschienene Berichte auf den neuesten Stand bringt

In dem Beitrag uumlber die Person Melanchthons gibt zunaumlchst Christine MUNDHENK die Heinz Scheible in der Leitung der Melanchthon-Forschungsstelle und als Heraus- geberin des Briefwechsels abgeloumlst hat einen dichten Uumlberblick uumlber Melanchthons Leben Martin GRESCHAT behandelt Melanchthons Verhaumlltnis zu Luther das grundlegend fuumlr beider Leben und Wirken und die Reformation insgesamt gewesen ist Natuumlrlich kommt auch das Verhaumlltnis zu anderen Reformatoren naumlmlich Calvin Zwingli Bullinger Bucer Bugenhagen und Flacius ins Blickfeld (Andreas MUumlHLING) das in erster Linie durch den dichten Briefwechsel Melanchthons vermittelt wurde Maria Lucia WEIGEL stellt Melanchthon-Bildnisse vor die ihn als Humanisten und Reformator zeigen wobei nicht nur Werke der graphischen Kuumlnste sondern auch Muumlnzen und Denkmaumller ins Blick-feld kommen Dieser Beitrag ragt somit auch in den Abschnitt uumlber Wirkung und Rezep-tion hinein

Die folgenden Beitraumlge stellen die verschiedenen Wirkungsfelder Melanchthons dar beginnend mit Reichspolitik und Religionsgespraumlchen (Andreas GOumlSSNER) Hier werden Melanchthons Dialogbereitschaft und seine Bemuumlhungen um Friedenssicherung als seine Handlungsmaximen herausgestellt die ihm freilich schon zu Lebzeiten als Bereitschaft zu faulen Kompromissen ausgelegt wurden Melanchthons Stellung in den inner- protestantischen Streitigkeiten kennzeichnet Robert KOLB Als Grundproblem stellt sich hier die Theologie des Abendmahls dar Das Interim bewirkte dann dass die Gnesiolu-theraner allen voran Matthias Flacius als die vermeintlich wahren Erben Luthers gegen Melanchthon zu Felde zogen und ihm zunehmend seine letzten Lebensjahre bitter werden lieszligen Zuruumlck zu den Anfaumlngen lenkt der Beitrag von Natalie KRENTZ uumlber Kirchen- reform und -visitation Es handelt sich hier vor allem um Melanchthons Beteiligung an den ersten Reformen in Wittenberg 152122 und an den Visitationen in Thuumlringen 1527 deren Nachbereitung seinen Unterricht der Visitatoren hervorbrachte der dann vielerorts als Referenzwerk fuumlr Kirchenreformen diente

Bildung Schule und Universitaumlt (Markus WRIEDT) kann man als ureigenstes Gebiet des Praeceptor Germaniae bezeichnen Kirche und Schule gehoumlren zusammen sind fuumlr ihn deckungsgleich wobei jede Schulart auch die Universitaumlt gemeint ist

Ein weiteres zentrales Feld der Wirksamkeit Melanchthons ist die Bekenntnisbildung (Hendrik STOumlSSEL) Werden ihm doch das Augsburger Bekenntnis und die Apologie ver-dankt ebenso wie die Confessio Saxonica von 1552 und vor allem seine Loci die in seinem Sterbejahr 1560 zusammen als Corpus Doctrinae erschienen und viel spaumlter zum Konkordienbuch von 1580 hinfuumlhrten

In dem Beitrag uumlber Reformiertentum (Matthias FREUDENBERG) geht es nicht nur um die enge Verbindung die Melanchthon mit Calvin pflog sondern vor allem um seine Rezeption bei den Reformierten von Schleiermacher bis Karl Barth und der Leuenberger Konkordie von 1973 Es wird also auch hier ein Beitrag zur Rezeptions- geschichte geboten

Zuruumlck zur Reformationsgeschichte fuumlhrt wieder Eike WOLGAST mit Melanchthon und die TaumluferSpiritualisten Er sah die Taumlufer als Stoumlrer der oumlffentlichen Ordnung die somit durch die weltliche Gewalt ndash auch mit dem Tod ndash zu bestrafen sind Auch den Tuumlrken (Michael PLATHOW) steht Melanchthon unversoumlhnlich gegenuumlber wenn er auch die Auf-rechterhaltung oumlffentlicher Ordnung in ihrem Bereich anerkennen kann Entscheidend ist fuumlr ihn hier wieder die rechte Gottesverehrung

657Fruumlhe Neuzeit

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gehender die Auseinandersetzungen der Herren von Rappoltstein die zwischen den Habs-burgern und Wittelsbachern lavierten Am ausfuumlhrlichsten referiert werden die Konflikte der Stadt Straszligburg mit dem umliegenden Adel

Nach dem Ende des Thronstreits verstaumlrkte Ludwig zwar seine Aktivitaumlten in diesem Raum doch zeigt sich ein deutlicher Unterschied zum Mittelrhein insofern als die Par-teien im Elsass bei ihren Streitigkeiten auch nach 1330 den Koumlnigshof weniger in An-spruch nahmen was namentlich fuumlr den Adel galt Der Autor fuumlhrt dies darauf zuruumlck dass die Bischoumlfe von Straszligburg in jener Zeit dem Bayern bdquokaum jemalsldquo nahestanden und treue Anhaumlnger der Habsburger und des Papstes blieben Anders verhielt es sich man moumlchte fast sagen bdquonatuumlrlichldquo fuumlr die Koumlnigsstaumldte die koumlnigsunmittelbaren Kloumlster und ein interessanter Nebenaspekt die Juden Die elsaumlssischen Staumldte hatten sich nach Ludwigs Sieg sehr schnell auf ihren bdquoneuenldquo Stadtherren eingestellt der dann auch als-bald in mehreren innerstaumldtischen Auseinandersetzungen eingriff so in Hagenau Colmar Oberehnheim und Muumlhlhausen Dabei stellte sich als Schema fuumlr die Konfliktbereinigung heraus dass sich der Kaiser auf die Seite einer Streitpartei stellte und der anderen die Versoumlhnung befahl Kam es nicht dazu wurde durch die kaiserlichen Landvoumlgte oder Gesandtschaften Druck auf die jeweiligen Staumldte ausgeuumlbt

Es finden sich auch wieder die schon am Mittelrhein festgestellten vom Kaiser ange-ordneten Schiedsgerichte etwa im Streit zwischen Stadt und Kloster Weiszligenburg die der Autor als bdquoMischungldquo aus koumlniglicher Gerichtsbarkeit und Schiedsgericht bezeichnet In diesem Zusammenhang wird nun auch einmal ein rechtsrheinischer Fall behandelt in Gestalt der Auseinandersetzung der Stadt Offenburg mit dem Kloster Gengenbach Wei-tere Betreffe aus Baden sind die Vogteistreitigkeiten um die Kloumlster Odenheim und Herrenalb Taguchi schildert die Auseinandersetzung Odenheims mit den Hofwart von Kirchheim Nicht erwaumlhnt wird dass dieses spaumltere Stift durch Ludwig wenig spaumlter pfandweise an den Bischof von Speyer eine wichtige Kraft im oberrheinischen Bereich kam und dort verblieb Ebenfalls durch Ludwig gelangte die Zisterze Herrenalb an Wuumlrt-temberg dem 1344 der Klosterschutz uumlbertragen wurde Der Verfasser widmet dem Streit zwischen Baden dem Kaiser und Wuumlrttemberg uumlber Schirm und Vogtei bzw das herren-albische spaumlter badische Malsch einigen Raum Hinzuweisen ist auch auf die kurzen aber wichtigen Bemerkungen zur Rolle des Kaisers in Streitigkeiten der Juden auch sie wie die Staumldte und Kloumlster ein bdquoElement der unmittelbaren Koumlnigsherrschaftldquo Eigenartig erscheint die Ausuumlbung des Koumlnigsschutzes in Gestalt des Erlasses von Judenschulden und das Wegschenken von Strafgeldern fuumlr Judenmorde als Verguumlnstigung an Staumldte und Adel darunter auch die Grafen von Wuumlrttemberg Dieses auch andernorts im Reich zu beobachtende Gebaren ist letztlich nicht als Schutz sondern als Auspluumlnderung der Juden zu bewerten

Dass wichtige Staumlnde wie etwa die Bischoumlfe bzw Staumldte von Worms und Speyer nicht mit eingeflossen sind auch Baden und die Pfalz etwas zu kurz kommen ist bedauerlich Dessen ungeachtet stellt Taguchis Arbeit einen wichtigen methodisch aktuellen fleiszligig und sauber gearbeiteten Beitrag zur Geschichte der rheinischen Koumlnigs- und Landfrie-denspolitik im Spaumltmittelalter dar Fuumlr die koumlnigliche Gerichtsbarkeit insgesamt kann sie daruumlber hinaus auch als Ersatz und Ergaumlnzung fuumlr die noch fehlenden Urkundenregesten des deutschen Koumlnigs- und Hofgerichts dienen da diese Reihe vorerst und bis auf wei-teres mit Ute Roumldels Edition betreffend die Regierung Ruprechts von der Pfalz (vgl Re-zension in ZGO 167 [2019] S 453ndash455) abgeschlossen wurde und eine Fortsetzung fuumlr die Zeit Ludwigs vorerst nicht abzusehen ist Raimund J Weber

648 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

nicht um ihrer selbst willen sondern eher als notwendige Uumlbel aufgesuchtldquo (S 276) Die fokussierten Details spiegeln den neuesten Stand der Forschung allenfalls Johannes Reuchlins Briefwechsel sollte man heute wohl nicht mehr nach Geigers Ausgabe von 1875 (vgl S 87ndash90) sondern nach der vierbaumlndigen Edition der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zitieren (1999ndash2013)

Vielleicht angeregt durch Frobens differenzierte Vermarktung des bdquoNovum Instrumen-tumldquo wird der besprochene Sammelband seit 2017 auch in einer unveraumlnderten Studien-ausgabe angeboten (ISBN 978-3-16-155274-8) Zur Vertiefung waumlrmstens empfohlen sei dem interessierten Leser noch der aumluszligerst klug angelegte und beeindruckend illustrierte Begleitband zu einer 2016 im Basler Muumlnster gezeigten Ausstellung der von Ueli DILL und Petra SCHIERL herausgegeben wurde bdquoDas bessere Bild Christildquo Das Neue Testa-ment in der Ausgabe des Erasmus von Rotterdam (Basel Schwabe 2016 220 S ISBN 978-3-7965-3557-4) Mit Artikeln u a von Patrick Andrist Christine Christ-von Wedel Jan Krans Valentina Sebastiani Miekske van Poll-van de Lisdonk und Martin Wallraff kommen erneut viele der Autoren zu Wort die bereits in dem fast gleichzeitig erschie-nenen Tagungsband praumlsent sind

Matthias DallrsquoAsta

Guumlnter FRANK (Hg) unter Mitarbeit von Axel LANGE Philipp Melanchthon Der Refor-mator zwischen Glauben und Wissen Ein Handbuch BerlinBoston De Gruyter 2017 XV 843 S geb EUR 14995 ISBN 978-3-11-033505-7

Nach den Handbuumlchern uumlber Augustin Luther Calvin und anderen reiht sich hier das Melanchthon-Handbuch ein herausgegeben von dem langjaumlhrigen Leiter des Brettener Melanchthon-Hauses das sich in seiner Amtszeit zur Europaumlischen Melanchthon-Aka-demie ausgebildet hat Aufgabe eines solchen Handbuchs ist es den Stand der Forschung moumlglichst umfassend wiederzugeben Dies geschieht hier in einer internationalen Zu-sammenarbeit von mehr als drei Dutzend Wissenschaftlern Stand der Wissenschaft heiszligt natuumlrlich auch dass Desiderate benannt werden Dies tut der Herausgeber bereits in sei-nem Vorwort indem er die Themen bdquoMelanchthon und das Judentumldquo und bdquoMelanchthon als Predigerldquo als kuumlnftig zu bestellende Felder angibt

Grundlegend fuumlr den Stand der Forschung ist dass eine moderne Edition der Werke Melanchthons fehlt die die 1834ndash1860 erschienenen 28 Melanchthon-Baumlnde des Corpus Reformatorum ersetzen wuumlrde Abgesehen von den Ausgaben einzelner Werke liegt aber doch die von Robert Stupperich 1951ndash1975 herausgegebene neunbaumlndige Studienausgabe vor und im Jubilaumlumsjahr 1997 wurde die Ausgabe Melanchthon deutsch begonnen die inzwischen fuumlnf Baumlnde umfasst Ganz besonders ist aber zu verweisen auf den fast 10000 Stuumlcke umfassende Briefwechsel Melanchthons in der von Heinz Scheible ein Arbeits- leben lang betriebenen Edition die ab 1977 in Regestenform erschienen und inzwischen abgeschlossen ist Die Baumlnde der Textedition bearbeitet von der Melanchthon-For-schungsstelle in Heidelberg erscheinen zuumlgig seit 1991 (vgl die Besprechung in diesem Band)

Das Handbuch ist in vier Abschnitte gegliedert Orientierung Person Werk Wirkung und Rezeption Die Orientierung gibt Guumlnter Frank indem er knapp uumlber Person und Wirken Melanchthons die vorliegenden Melanchthon-Ausgaben unter denen auch eine Melanchthon-DVD zu erwaumlhnen ist und die vorhandenen Hilfsmittel wie Literatur For-schungsreihen und die Einrichtungen der Melanchthon-Forschung informiert Dem

656 Buchbesprechungen

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Gero SCHREIER Ritterhelden Rittertum Autonomie und Fuumlrstendienst in niederadligen Lebenszeugnissen des 14 bis 16 Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen Bd 58) Ost-fildern Thorbecke 2019 393 S geb 52ndash EUR ISBN 978-3-7995-4381-1

Die anzuzeigende Arbeit basiert auf einer im Jahr 2016 an der Albrecht-Ludwigs- Universitaumlt Freiburg im Breisgau eingereichten Dissertation Sie baut auf die juumlngsten Forschungen zum Niederadel auf welche die Vorstellung vom Bedeutungsverlust und Niedergang des Niederadels als Folge der Territorialisierung und des Aufstiegs der Fuumlrsten zu Territorialherren im Verlauf des spaumlten Mittelalters relativieren ja teil- weise sogar negieren Waumlhrend besagte Studien in erster Linie sozialgeschichtlich angelegt sind hat sich Gero Schreier nicht alleine dieser einen Herangehensweise bedient sondern hat sich dem Thema ebenso auf dem Weg der Diskursgeschichte genaumlhert wobei letzterer Pfad den hauptsaumlchlich beschrittenen darstellt Der Untersuchungsgegenstand umfasst freilich auch nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Ritteradel naumlmlich den niederadligen Ritterhelden Was macht ihn aus Welche Zuschreibungen erfaumlhrt er Welchem Kontext entstammt der Topos In einem zweiten Schritt schlieszligt sich die Frage an wer wo fuumlr wen Ritterhelden konstruierte Beantwortet werden diese Fragen in erster Linie anhand historiografischer Quellen Zeitlich vom 14 bis zum 16 Jahrhunderreichend umspannt der Untersuchungsraum Frankreich und das Heilige Roumlmische Reich indem Bertrand du Guesclin Jacques de Lalaing Georg von Ehingen Wilwolt von Schaumberg Pierre de Bayard und Georg von Frundsberg in den Blick genommen werden

Es ist sicherlich kein Zufall dass der hier behandelte Diskurs uumlber das Rittertum in der Mitte des 14 Jahrhunderts in Frankreich einsetzte Nach der katastrophalen Nieder-lage eines franzoumlsischen Ritterheers bei Creacutecy (1346) verband Geoffroy de Charny in seinem Livre de chevalerielsquo sein Leitthema der militaumlrischen Tuumlchtigkeit mit der Forderung nach einer stetigen Steigerung derselben Auch bei anderen zeitgenoumlssischen Autoren finden sich neben der Ehre diese Elemente als idealer Antrieb ritterlichen ago-nalen Handelns wieder Wesentlich staumlrker gesellschaftskritisch aufgeladen waren die Toumlne der Reformautoren die in ihrem Ruf nach einer Reform der Ritterschaft diese bdquoent-lang der Leitlinien von Effizienz Disziplin und Rationalitaumltldquo (S 97) erneuert wissen wollten Zugleich wird deren Bemuumlhen erkennbar den ritterlichen Kriegsdienst aus der abgeschlossenen adligen Welt herauszuholen und dem Gemeinwohl zu unterstellen Da der Fuumlrst von den Reformautoren als Sachwalter des Gemeinwohls angesehen wurde musste aus dieser Konstruktion die Forderung nach dem Fuumlrstendienst des Ritters resul-tieren Auch bei einschlaumlgigen Autoren deutscher Zunge findet sich der Dienst des Helden fuumlr das allgemeine Wohl Jedoch zielten die Reformschriften im Reich weniger auf den Ritter ab als vielmehr auf die Reichsreform Auch wenn die Idee des Gemeinwohls hier keine entscheidende Rolle spielte war sie doch virulent besonders betont beim so genannten Oberrheinischen Revolutionaumlrlsquo

Was in der gelehrten Literatur verhandelt wurde findet sich auch in den Biografien der Ritterhelden wieder freilich verbunden mit den Tugenden die bereits zuvor den Rit-terhelden ausgemacht hatten wie koumlrperlicher Einsatz militaumlrische Faumlhig- und Tuumlchtig-keit sowie der Ehrerwerb im Kampf Die neu dazugekommene militaumlrische Effizienz zumal im Fuumlrstendienst geleistet stand in der aumllteren Forschung kontraumlr zum ritterlichen Ethos wie es aus den hochmittelalterlichen Heldenepen uumlberliefert ist und lieszlig sich nach dieser Diktion kaum mit der veraumlnderten auf Funktionalitaumlt ausgerichteten Militaumlrtechnik in Einklang bringen Schreier hingegen kann aufzeigen dass sich zumindest fuumlr die Zeit-genossen daraus kein Widerspruch ergab der niederadlige Held durchaus effizient und

649Mittelalter

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Ignacio GARCIacuteA PINILLA (S 59ndash77) nimmt sodann die Complutensische Polyglotte in den Blick deren bereits 1514 gedruckter aber erst 152122 erschienener fuumlnfter Band mit dem Neuen Tes-tament neben der Vulgata ebenfalls schon den griechischen Text enthielt Dass Erasmus die spanische Konkurrenzedition bei der Vorbereitung seiner vierten Aus-gabe des Neuen Testaments (1527) herangezogen hat ist gut dokumentiert Angesichts zahlreicher neuer Lesarten der dritten Ausgabe von 1522 die auch schon mit dem Text der Polyglotte uumlbereinstimmen (vgl besonders die Uumlbersicht zum Johannes-Evanglium auf S 76) haumllt Garciacutea Pinilla es fuumlr moumlglich dass Erasmus deren Text bereits 1521 zu-mindest in Auszuumlgen kannte die gelegentlich behauptete wechselseitige fruumlhere Beein-flussung dieser parallelen Ausgaben aus Basel und Alcalaacute verbannt er dagegen ins Reich der Spekulation

Teil 2 Patrick ANDRIST (S 81ndash124) und Andrew J BROWN (S 125ndash144) widmen sich zunaumlchst mit groszliger Sorgfalt den acht griechischen Bibelhandschriften die Erasmus in Basel nachweislich benutzt hat waumlhrend Martin WALLRAFF (S 145ndash173) und Jan KRANS (S 187ndash206) die zahlreichen Paratexte beleuchten die Erasmusrsquo bdquoNovum Testamentumldquo (so der Titel ab der zweiten Ausgabe von 1519) beigegeben waren von der Forschung jedoch lange Zeit eher vernachlaumlssigt wurden Miekske VAN POLL-VAN DE LISDONK (S 175ndash186) ordnet die bdquoAnnotationesldquo welche die Keimzelle und mit rund 450 Seiten zugleich das Kernstuumlck der Basler Ausgabe von 1516 bilden in Erasmusrsquo uumlbrige Schriften zur Bibel ein und weist auf die neue kritische Edition der bdquoAnnotationesldquo (ASD) hin die 2003ndash2014 in sechs Baumlnden erschienen ist Am Ende des zweiten Teils stellt Silvana SEIDEL MENCHI (S 207ndash221) Johannes Frobens fuumlnf bdquohigh-profile editionsldquo des Neuen Testaments (1516 1519 1522 1527 und 1535) den bdquolow-profile editionsldquo Frobens (1522) und anderer Basler Drucker (Cratander 1520 Gengenbach 1522) gegenuumlber analysiert deren zum Teil ganz unterschiedliche Paratexte und nimmt damit schon die Rezeption dieser Drucke in den Blick Was 1516ndash1522 durchaus auch bdquoeinfache Leserldquo ansprechen sollte endete schlieszliglich als ein Buch fuumlr Spezialisten bdquothe New Testament had been domesticatedldquo (S 221)

Teil 3 Komplementaumlr zu Seidel Menchis Beitrag dokumentiert Valentina SEBASTIANI (S 225ndash237) zu Beginn des dritten Teils detailliert den Markterfolg von Frobens diversen Ausgaben waumlhrend Marie BARRAL-BARON (S 239ndash254) in Anknuumlpfung an die umfang-reiche franzoumlsischsprachige Erasmus-Forschung nochmals vertiefend dem innovativ-sub-versiven Potenzial der Erstausgabe von 1516 nachgeht Obwohl Erasmus mit seinem bdquoNovum Instrumentumldquo die Ruumlckkehr in ein Goldenes Zeitalter befoumlrdern wollte habe er gemaumlszlig Barral-Baron im Gegenteil unabsichtlich dem Zerbrechen der Kircheneinheit vorgearbeitet und sei so zum bdquoassassin of his own dreamsldquo (S 254) geworden Am Ende des Bandes beleuchten Greta KROEKER (S 255ndash265) Sundar HENNY (S 267ndash290) und Christine CHRIST-VON WEDEL (S 291ndash310) die Rezeption des Buches in Italien (bes durch Gasparo Contarini und Jacopo Sadoleto) Frankreich (vor allem Theacuteodore de Begraveze) und den deutschsprachigen Territorien (von den Reformatoren bis zu Jakob Wettstein und Salomo Semler im 18 Jh)

Die durchweg anregenden und innovativen Beitraumlge sind nicht selten erfrischend zu-gespitzt so heiszligt es etwa im Zusammenhang mit dem von Erasmus eher vernachlaumlssigten Hebraumlischen (und Aramaumlischen) bdquoDer Hieronymus des Erasmus wandte sich den semi-tischen Sprachen als seiner Wuumlste zu in der er durch die griechische Quelle des Neuen Testaments und durch klassische Literatur in ebensolcher Sprache erfreut und am Leben erhalten wurde Syrien und seine Sprachen stehen im Kontext der Askese und werden

655Fruumlhe Neuzeit

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funktional fuumlr einen Fuumlrsten das Kriegshandwerk verrichten konnte und sehr wohl bei dieser Taumltigkeit auch Ehren anhaumlufen konnte Dabei wird das Verhaumlltnis zwischen dem niederadligen Heros und dem Fuumlrsten keinesfalls als problemlos geschildert Immer wie-der wird die agonale Staumlrke des niederadligen Ritterhelden in Kontrast zur scheinbaren Schwaumlche des Fuumlrsten gestellt Begleitet wird diese ambitionierte Vorstellung des Rit-terhelden von einem dezidierten Anspruch auf Autonomie Seine ihm zugeschriebene Legitimation freilich naumlhrt sich weniger von den Idealen der Reformautoren als schlicht von dem traditionellen Kriterium der Abstammung

Wer nun die Ritterhelden in welcher Form inszenierte und fuumlr sich in Anspruch nahm wird an drei Beispielen deutlich gemacht Das erste Exempel bietet der 1380 als koumlnig-licher Konnetabel auf einem Feldzug verstorbene Bertrand du Guesclin Die Stadt Le Puy-en-Velay Adlige der Region oder auch die Fuumlrsten von koumlniglichem Blut instru-mentalisierten die Erinnerung an Bertrand fuumlr ihre eigenen Zwecke und selbst von koumlniglicher Seite wurde noch neun Jahre spaumlter eine opulente Begaumlngnisfeier inszeniert In diesem Zusammenhang kann Schreier herausarbeiten dass es hier nicht nur darum ging das Koumlnigtum und das Amt des Konnetabels zu repraumlsentieren vielmehr wurde die Feier auch vom houmlfischen Adel gefordert und mitgeplant Bertrand als Diener des Koumlnigs und Ritterheld konstruiert Der Ruhm des Jacques de Lalaing hingegen wurde bereits zu Lebzeiten von der burgundischen Herzogsfamilie fuumlr die eigenen Ziele in Anspruch genommen Zum Zeitpunkt seines Ablebens hatte sich die Herrschaftssymbolik des burgundischen Herzogs aber bereits so weit veraumlndert dass kein Beduumlrfnis nach einer staatstragenden Heldeninszenierung bestand und die Verehrung von familiaumlrer Seite vorangetrieben wurde Entscheidend fuumlr die Erinnerung an Georg von Frundsberg war dessen Biograf Adam Reiszligner Gefoumlrdert wurde dieser in erster Linie von Mitgliedern des reichsfreien Adels deren Blick dem Kaiser und weniger den Fuumlrsten galt Dement-sprechend entfaltet sich in seinem Werk ein Diskurs um Ehre die im Kampf fuumlr den Kaiser erworben wird In Auseinandersetzung mit italienischen Geschichtsschreibern ge-rinnt die Geschichte der Schlachten in Oberitalien zum patriotisch-nationalen Diskurs in welchem es Reiszligner um die Ehre deutscher Adliger und die Revindikation derselben gelegen ist

Auf der Suche nach einem Ende des 14 Jahrhunderts auftauchenden neuen Ritterhel-den ist Gero Schreier fuumlndig geworden Freilich haumltten nach Meinung des Rezensenten die Biografien der Helden etwas ausfuumlhrlicher ausfallen im Gegenzug insbesondere die einleitenden Kapitel noch etwas gestrafft werden koumlnnen Doch das sind Monita die dem positiven Bild der Studie keinen Abbruch tun sollen

Thorsten Huthwelker

Michael BUumlHLER Existenz Freiheit und Rang Handlungsmuster des Ortenauer Nieder-adels am Ende des Mittelalters (Veroumlffentlichungen der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Reihe B Bd 222) Stuttgart Kohlhammer 2019 XXVI 344 S Abb geb EUR 32ndash ISBN 978-3-17-035360-2

Michael Buumlhler behandelt in seiner Freiburger Dissertation eine bislang nur durch wenige aumlltere Arbeiten untersuchte spaumltmittelalterliche Adelsregion im deutschen Suumld-westen Die Ortenau bot in typischer Weise nach dem Ausfall der staufischen Dynastie waumlhrend des Spaumltmittelalters Raum fuumlr die Ausbreitung herrschaftlicher Ambitionen ver-schiedener Grafen- und Fuumlrstengeschlechter am Oberrhein Deren Konkurrenzen nutzten die in der Regel aus der Ministerialitaumlt hervorgegangenen Familien und Clans des regio-

650 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

nalen Niederadels als Chance sich um 1500 der drohenden Mediatisierung zu entziehen und sich 1542 durch die Anlagerung an den entstehenden Kanton Neckar-Schwarzwald der Reichsritterschaft verfassungsrechtlich von den umgebenden Fuumlrstenhoumlfen abzu-schnuumlren Angesichts der defizitaumlren Forschungssituation ist dieser Versuch eines Uumlber-blicks uumlber die bis zu 19 Niederadelsfamilien der Ortenau lohnenswert Irritiert kann man zunaumlchst nur uumlber die gewaumlhlte Methodik sein die auf dem bisher weder sozialwissen-schaftlich noch sozialgeschichtlich einschlaumlgig vorgepraumlgten und erprobten Term bdquoHand-lungsmusterldquo basiert und von einem recht eigenwilligen Verstaumlndnis von Netzwerktheorie und Kommunikationsgeschichte gepraumlgt ist In seiner Zusammenfassung hebt Buumlhler hervor bdquodass der Untersuchung ein individuelles Verstaumlndnis und eine individuelle Definition von kommunikativen Prozessen zugrunde liegen die wiederum nicht der Auf-fassung anderer Forscher entsprechen muumlssenldquo (S 298) Das ist in der Tat so Ganz unabhaumlngig davon gelingt es Buumlhler der trotz seiner Ankuumlndigungen weitgehend nach dem Herkoumlmmlichen historisch-kritischer Methode arbeitet die unterschiedlichen Lebensformen der Ortenauer Niederadelsfamilien zu erkunden ihre Gemeinsamkeiten in Form von Einungen zu eruieren (Teil B Niederadlige Gruppenbildung) ihre politi-schen Bindungen zu den umgebenden Grafen- und Fuumlrstenhoumlfen via Lehen Aumlmter und (Sold-)Dienste ihr Heiratsverhalten und damit das wichtige vormoderne Element sozialer Kohaumlsion Verwandtschaft und Freundschaft zu analysieren sowie die den Kindern durch die Familienoberhaumlupter in den Stiftskirchen Kloumlstern und Pfarren zugewiesenen inner-familialen Rollen und zugleich auch die familiaumlre Memorialpraxis zu untersuchen (Teil C Weitere Lebensbereiche des Niederadels)

Die genannten Aspekte in Teil C sind die gewichtigen Teile der Untersuchung In ihnen werden niederadlige Lebensformen deutlich die in immer wieder angestellten Verglei-chen die Ortenauer kaum von den Kraichgauer oder (vorder-)pfaumllzischen Niederadels- familien unterscheiden Das betrifft etwa die herrschaftlichen Mehrfachbindungen qua Lehen und Amt wobei die seit 1405 in die Ortenau durch groszlige Anteile an der Pfand-schaft uumlber die Reichslandvogtei eindringenden Pfalzgrafen bei Rhein hier wie andernorts am Oberrhein die uumlberfuumlrstlichen Systemfuumlhrer waren Vergleichbar waren auch die zunaumlchst regional ausgerichteten Heiratskreise die im spaumlten 15 und 16 Jahrhundert verstaumlrkt um benachbarte Raumlume und die bourgeois gentilhommes der Staumldte erweitert wurden Gemeinsames zeigt sich schon weniger deutlich bei den Solddiensten die vornehmlich nachgeborene Soumlhne Ortenauer Niederadelsfamilien vor allem im 14 Jahr-hundert eingingen Hochkirchlicher Pfruumlndenbesitz war dagegen beim Ortenauer Niederadel aufgrund des edelfreien Straszligburger Domkapitels und des Fehlens naher Kollegiatstifte weitaus geringer ausgepraumlgt als in den Vergleichsregionen Bei den innerfamilialen Abschichtungen von nachgeborenen Toumlchtern und Soumlhnen in die Kirche standen daher nur die Kloumlster im Fokus die Frauenkonvente in Lichtenthal Frauen- alb Andlau im Elsass sowie die Beginenklause Oberdorf oder das Maumlnnerkloster Aller-heiligen An den Stifterbildern der Fensterscheiben der am Ende des 15 Jahrhunderts auf Betreiben des Adels des Klosters Allerheiligen und von Renchtaler Einwohnern erbauten Wallfahrtskirche in Lautenbach zugleich ein wichtiges Beispiel fuumlr die all- gemeine Wiedergeburt der Stiftungstaumltigkeit kurz vor der Reformation sei so Buumlhler die alles durchziehende bdquoVerwandtschaft Freundschaft und Verwandtschaft [] abzu- lesenldquo (S 270) Doch die Wirkungsweise dieser Verwandtschaft als horizontaler Bin-dungsfaktor und notwendiges Surrogat zum vertikalen Selbstverstaumlndnis des Adels- geschlechts vermag Buumlhler nicht besonders deutlich herauszuarbeiten Denn er hat sich

651Mittelalter

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 651

reitung und Drucklegung seine mit ausfuumlhrlichen Anmerkungen versehene Ausgabe des Neuen Testaments in griechischer und lateinischer Sprache ein ndash wie sich herausstellen sollte ndash nicht nur fuumlr die Theologie und Kirchengeschichte auf Jahrzehnte und sogar Jahr-hunderte praumlgendes Buch von uumlber 1000 groszligformatigen Seiten dessen programmatische drei Einleitungsschriften (bdquoParaclesisldquo bdquoMethodusldquo und bdquoApologialdquo) auch heute noch mitreiszligen und faszinieren koumlnnen

Der Obertitel des hier angezeigten Sammelbandes bdquoBasel 1516ldquo markiert in gewisser Hinsicht einen Gegenpol zu bdquoWittenberg 1517ldquo und waumlhrend das Wittenberger Epochen-jahr bekanntermaszligen den Kulminationspunkt einer ganzen sogenannten bdquoLutherdekadeldquo bildete liefen die vielfaumlltigen Aktivitaumlten zum Basler Epochenjahr unter dem Logo bdquoERASMVS MMXVIldquo Als damaliger Ordinarius fuumlr Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universitaumlt Basel hatte Martin Wallraff im September 2014 ndash und damit fast genau 500 Jahre nach Erasmusrsquo Ankunft in der Stadt (vgl S X der Einleitung) ndash eine interdis-ziplinaumlre Tagung organisiert die Philologen Historiker und Theologen aus Deutschland England Frankreich Italien Kanada den Niederlanden der Schweiz und Spanien in Basel zusammenfuumlhrte fast durchweg ausgepraumlgte Erasmus-Spezialisten darunter viele Editoren der beiden groszligen wissenschaftlichen Ausgaben der bdquoOpera omnia Desiderii Erasmi Roterodamildquo (ASD Amsterdam und Leiden) und der bdquoCollected Works of Eras-musldquo (CWE Toronto)

Der sorgsam redigierte Tagungsband enthaumllt fuumlnfzehn Beitraumlge in englischer (elf) oder deutscher Sprache (vier) denen jeweils ein englischer Abstract beigegeben ist Die instruktive Einleitung der Herausgeber (bdquoPrefaceldquo S IXndashXIX) erlaumlutert die drei groszligen Themenfelder denen die Aufsaumltze jeweils zugeordnet werden deren Uumlbergaumlnge allerdings flieszligend sind 1 bdquoThe Novum Instrumentum 1516 and Its Philological Back-groundldquo (vier Beitraumlge S 1ndash77) 2 bdquoThe Text of the New Testament and Its Additionsldquo (sechs Beitraumlge S 79ndash221) und 3 bdquoCommunication and Receptionldquo (fuumlnf Beitraumlge S 223ndash310) Den Band beschlieszligen drei Verzeichnisse zu den Abkuumlrzungen den Nach-weisen der zahlreichen qualitaumltvollen sw-Abbildungen und den Autoren und Heraus- gebern (S 311ndash314) sowie ein Namensregister (S 315ndash319)

Teil 1 In dem urspruumlnglichen Abendvortrag der Tagung den die Herausgeber an den Anfang der Beitraumlge gestellt haben skizziert Mark VESSEY (S 3ndash26) die Umstaumlnde die zur Publikation des bdquoNovum Instrumentumldquo fuumlhrten Dabei beleuchtet er die Vorarbeiten die Reise von England nach Basel und Erasmusrsquo erst auf August September 1514 datierte Entscheidung seinen bereits in England begonnenen Anmerkungen (bdquoAnnotationesldquo) zum Neuen Testament sowohl den griechischen Originaltext als auch eine eigene latei-nische Uumlbersetzung voranzustellen Erika RUMMEL (S 27ndash42) analysiert den Bibel- humanismus der Renaissance anschlieszligend in literaturaumlsthetischer und methodologischer Hinsicht Was als Kritik am Theologen- und Kirchenlatein begann fuumlhrte zu einer Infragestellung des uumlberlieferten Texts der Vulgata und entsprechenden Emendations- bemuumlhungen Die in den Jahren um 1500 verhandelte Frage ob eine Anwendung text-kritischer Methodik auf die Heilige Schrift zulaumlssig sei war dabei nicht nur von rein theoretischem Interesse denn die philologischen Debatten der Humanisten unterminier-ten die Autoritaumlt der scholastischen Universitaumltstheologie gegen deren zunehmend schaumlrfere Kritik sich Erasmus ab 1516 immer wieder verteidigen musste August DEN HOLLANDER (S 43ndash58) betrachtet Erasmusrsquo Plaumldoyer fuumlr die Bibellektuumlre von Laien vor dem Hintergrund der mittelalterlichen niederlaumlndischen Bibeluumlbersetzungen und eroumlrtert in diesem Zusammenhang noch einmal den Einfluss der bdquoDevotio modernaldquo auf Erasmus

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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dazu entschlossen das Heiratsverhalten vornehmlich enumerativ darzustellen und nicht wie bei der Beobachtung der Aumlmter und Dienste die einzelnen Familien in den Mittel-punkt zu stellen und damit die Schnittpunkte der Verwandtschaftskreise herauszuarbeiten Aus wirtschaftshistorischer Sicht ist es bedauerlich dass die hochinteressanten Aspekte zum Kreditverhalten auf drei Seiten (S 288ndash290) verkuumlmmert sind Der Lehnsbesitz ist zwar festgehalten aber die eigentliche Besitzstruktur der einzelnen Familien wird aus-geklammert

Staumlrkere Probleme dagegen bereitet der Teil B Grundsaumltzlich ist der Entscheidung voumlllig zuzustimmen die Einungen des Ortenauer Niederadels in das Zentrum der Arbeit zu stellen Ob man die Analyse der stark politisch motivierten Einungen seit 1446 vor der Untersuchung der politischen generativen sozialen und wirtschaftlichen Situation der beteiligten Adelsfamilien platziert mag Ansichtssache sein Jedenfalls nahm Buumlhler dadurch viele Wiederholungen in Teil C in Kauf Kritisch erscheint aber das Verstaumlndnis Buumlhlers von bdquoSchwureinungldquo Diesen Term hat in Uumlbereinstimmung mit der rezenten rechtshistorischen Forschung Tanja Storn-Jaschkowitz (Gesellschaftsvertraumlge adliger Schwureinungen im Spaumltmittelalter 2007) nur den Adelsgesellschaften zugeordnet die auf dem Eid aller Genossen aufruhten Dabei konstituierte der Schwur die Gemeinschaft mit ihren begleitenden friedenswahrenden geselligen und bruderschaftlichen Momenten im Sinne spaumltmittelalterlicher Genossenschaftsbildung grundlegend Buumlhler dagegen moumlchte auch alle uumlbrigen bdquoEinungen und Ganerbschaftenldquo (S 20 und passim) der Schwureinung bzw Adelsgesellschaft zumessen Allerdings sind die von ihm untersuch-ten Einungen von 1446 (ein Erbschirmvertrag Kurfuumlrst Ludwigs IV von der Pfalz mit sieben Ortenauer Niederadelsfamilien) und 1474 (ein von Markgraf Karl von Baden nach dem Wortlaut auf seine nach Ansicht Buumlhlers auf Initiative des Ortenauer Adels gegen die territorialen Ambitionen von Kurpfalz ausgefertigter Einungsvertrag) nachweislich keine Schwureinungen sondern unterschiedlich motivierte auf besiegelten Vertraumlgen aufruhende politische Buumlnde vornehmlich zur Friedenswahrung Es waumlre interessant zu sehen gewesen ob die Verlaumlngerungen dieses Vertrages die ohne fuumlrstliche Anteilnahme 24 (1490) 10 (1497) bzw 12 (1508) Niederadlige abschlossen von den Buumlndnispartnern beschworen wurden Doch kein Wort davon Vielfach dagegen und noch am Schluss der Zusammenfassung nur die Klage dass die Begriffe Schwureinung und Adelsgesellschaft Einungen und Ganerbschaften bdquoaus dem Blickfeld der Forschung fallenldquo lieszligen bdquoSolch eine einseitige Wahrnehmung entsteht vornehmlich durch die Suche nach einer verein-fachenden und uumlbergeordneten Kategorisierung historischer Phaumlnomeneldquo (S 300) Das mag wohl sein Aber das aumlndert nichts daran dass sich auch Geschichtswissenschaft nur uumlber eindeutig definierte Begriffe verstaumlndigen kann Mein Vorschlag Man laumlsst es bei bdquoEinungenldquo des Adels wenn Adelsgesellschaften und Buumlnde die auf Vertraumlgen aufruhen gemeint sein sollen Aber eine Schwureinung ist eine Schwureinung und eine Adelsgesellschaft eine Adelsgesellschaft

Gerhard Fouquet

Johannes HELMRATH Ursula KOCHER Andrea SIEBER (Hg) Maximilians Welt Kaiser Maximilian I im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition (Berliner Mittel-alter- und Fruumlhneuzeitforschung Bd 23) Goumlttingen Vandenhoeck amp Ruprecht 2018 300 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-8471-0884-9

Das ist gekonnt arrangiert 2009 anlaumlsslich der 550 Wiederkehr von Maximilians I Geburtstag veranstalteten die Herausgeber in Berlin eine Tagung und neun Jahre spaumlter

652 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 652

rechtzeitig zur 500 Wiederkehr von des Kaisers Todestag gelingt es ihnen die damals gehaltenen Vortraumlge im Druck vorzulegen Arbeitsoumlkonomie Anliegen des Buchs ist es bdquodie Paradoxien Aporien und Bruumlche herauszuarbeiten die sich um 1500 in Europa beispielhaft an der Person Maximilians I und an seinem Hof angeblich ausmachen lassen sie aber von den Typisierungen des Geschichtsbildes aus dem 19 Jahrhundert zu loumlsen Es interessiert jenes Changieren zwischen Tradition und Innovation in der Welt des Kaisers zu hinterfragen der den Wandel foumlrderte und sich doch mit dem Vergangenen so fest verbunden fuumlhlte Maximilian wird hier mithin als Kristallisationspunkt einer Diskussion um Reform Bewahrung und die Installation von Neuem praumlsentiertldquo Die insgesamt dreizehn Beitraumlge sind nach vier Themengruppen geordnet 1 Hofkultur 2 Gedaumlchtnis 3 Auszligenpolitik und Krieg sowie 4 Innenpolitik und Verfassung In der ersten Gruppe fragt Jan-Dirk MUumlLLER nach der kaiserlichen Hofkultur aus der Sicht des Gelehrten Riccardo Bartolini Christina LUTTER widmet sich der Repraumlsentation von Geschlechterverhaumlltnissen im houmlfischen Umfeld und Claudius SIEBER-LEHMANN verfolgt Maximilians Spuren in astronomisch-astrologischen Druckwerken und Prophezeiungen Im Komplex Gedaumlchtnislsquo untersuchen Bjoumlrn REICH Martin SCHUBERT und Elke Anna WERNER anhand der von dem Kaiser selbst verfassten gedechtnus-Werke des Ambraser Heldenbuchs und von im Druck verbreiteten Bildern wie Maximilian mit viel Bedacht auf sein Nachleben und Nachwirken selbst Einfluss zu nehmen suchte Den Blick auf die Auszligenbeziehungen eroumlffnet Mustafa SOYKUT mit einer Betrachtung der wechsel- seitigen Wahrnehmung von christlichem Europa und Osmanischem Reich vom ausge-henden Mittelalter bis ins beginnende 19 Jahrhundert Heinz NOFLATSCHER spuumlrt Stereo-typen und Fremdbildern im politischen Verhalten Maximilians nach Manfred HOLLEGGER charakterisiert den Umgang des Kaisers mit der tuumlrkischen Gefahr als weithin pragma- tische Realpolitik und Malte PRIETZEL beschreibt das Changieren des Herrschers zwi-schen fuumlrstlicher Inszenierung in altertuumlmlichem Zweikampf und Turnier einerseits sowie moderner Kriegfuumlhrung mit Kanonen und Landsknechtsheeren andererseits Schlieszliglich gibt Reinhard SEYBOTH hochverdienter Editor der einschlaumlgigen Reichstagsakten einen souveraumlnen Uumlberblick uumlber den Wandel in der Verfassung des Reiches zur Zeit Maxi- milians Reimer HANSEN analysiert das schwierige Verhaumlltnis des Kaisers zu den See- beziehungsweise Niederlanden und Gregor M METZIG dessen Beziehungen zum Koumlnig-reich Portugal Wie man sieht weist das sehr ansprechend gestaltete mittels eines Per-sonen- und Werkregisters erschlossene Buch ein sehr weites inhaltliches Spektrum auf ruumlckt uumlberkommene Vorstellungen zurecht und eroumlffnet manch neue Perspektive Nur schade dass man auf das was die Autoren hier an Anregendem bieten so uumlber Gebuumlhr lang warten musste

Kurt Andermann Martin WALLRAFF Silvana SEIDEL MENCHI Kaspar VON GREYERZ (Hg) Basel 1516

Erasmusrsquo Edition of the New Testament (Spaumltmittelalter Humanismus Reformation Bd 91) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2016 XIX 319 S Abb geb EUR 89ndash ISBN 978-3-16-154522-1

Als Erasmus im Sommer 1514 von England uumlber Belgien Mainz Straszligburg und Schlettstadt nach Basel reiste bereiteten ihm die Humanisten am Oberrhein einen trium-phalen Empfang Die fruumlhen Basler Jahre waren nicht nur die gluumlcklichste sondern auch die produktivste Zeit im Leben des niederlaumlndischen Humanisten der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes stand Im Maumlrz 1516 erschien nach geradezu fieberhafter Vorbe-

653Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 653

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

rechtzeitig zur 500 Wiederkehr von des Kaisers Todestag gelingt es ihnen die damals gehaltenen Vortraumlge im Druck vorzulegen Arbeitsoumlkonomie Anliegen des Buchs ist es bdquodie Paradoxien Aporien und Bruumlche herauszuarbeiten die sich um 1500 in Europa beispielhaft an der Person Maximilians I und an seinem Hof angeblich ausmachen lassen sie aber von den Typisierungen des Geschichtsbildes aus dem 19 Jahrhundert zu loumlsen Es interessiert jenes Changieren zwischen Tradition und Innovation in der Welt des Kaisers zu hinterfragen der den Wandel foumlrderte und sich doch mit dem Vergangenen so fest verbunden fuumlhlte Maximilian wird hier mithin als Kristallisationspunkt einer Diskussion um Reform Bewahrung und die Installation von Neuem praumlsentiertldquo Die insgesamt dreizehn Beitraumlge sind nach vier Themengruppen geordnet 1 Hofkultur 2 Gedaumlchtnis 3 Auszligenpolitik und Krieg sowie 4 Innenpolitik und Verfassung In der ersten Gruppe fragt Jan-Dirk MUumlLLER nach der kaiserlichen Hofkultur aus der Sicht des Gelehrten Riccardo Bartolini Christina LUTTER widmet sich der Repraumlsentation von Geschlechterverhaumlltnissen im houmlfischen Umfeld und Claudius SIEBER-LEHMANN verfolgt Maximilians Spuren in astronomisch-astrologischen Druckwerken und Prophezeiungen Im Komplex Gedaumlchtnislsquo untersuchen Bjoumlrn REICH Martin SCHUBERT und Elke Anna WERNER anhand der von dem Kaiser selbst verfassten gedechtnus-Werke des Ambraser Heldenbuchs und von im Druck verbreiteten Bildern wie Maximilian mit viel Bedacht auf sein Nachleben und Nachwirken selbst Einfluss zu nehmen suchte Den Blick auf die Auszligenbeziehungen eroumlffnet Mustafa SOYKUT mit einer Betrachtung der wechsel- seitigen Wahrnehmung von christlichem Europa und Osmanischem Reich vom ausge-henden Mittelalter bis ins beginnende 19 Jahrhundert Heinz NOFLATSCHER spuumlrt Stereo-typen und Fremdbildern im politischen Verhalten Maximilians nach Manfred HOLLEGGER charakterisiert den Umgang des Kaisers mit der tuumlrkischen Gefahr als weithin pragma- tische Realpolitik und Malte PRIETZEL beschreibt das Changieren des Herrschers zwi-schen fuumlrstlicher Inszenierung in altertuumlmlichem Zweikampf und Turnier einerseits sowie moderner Kriegfuumlhrung mit Kanonen und Landsknechtsheeren andererseits Schlieszliglich gibt Reinhard SEYBOTH hochverdienter Editor der einschlaumlgigen Reichstagsakten einen souveraumlnen Uumlberblick uumlber den Wandel in der Verfassung des Reiches zur Zeit Maxi- milians Reimer HANSEN analysiert das schwierige Verhaumlltnis des Kaisers zu den See- beziehungsweise Niederlanden und Gregor M METZIG dessen Beziehungen zum Koumlnig-reich Portugal Wie man sieht weist das sehr ansprechend gestaltete mittels eines Per-sonen- und Werkregisters erschlossene Buch ein sehr weites inhaltliches Spektrum auf ruumlckt uumlberkommene Vorstellungen zurecht und eroumlffnet manch neue Perspektive Nur schade dass man auf das was die Autoren hier an Anregendem bieten so uumlber Gebuumlhr lang warten musste

Kurt Andermann Martin WALLRAFF Silvana SEIDEL MENCHI Kaspar VON GREYERZ (Hg) Basel 1516

Erasmusrsquo Edition of the New Testament (Spaumltmittelalter Humanismus Reformation Bd 91) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2016 XIX 319 S Abb geb EUR 89ndash ISBN 978-3-16-154522-1

Als Erasmus im Sommer 1514 von England uumlber Belgien Mainz Straszligburg und Schlettstadt nach Basel reiste bereiteten ihm die Humanisten am Oberrhein einen trium-phalen Empfang Die fruumlhen Basler Jahre waren nicht nur die gluumlcklichste sondern auch die produktivste Zeit im Leben des niederlaumlndischen Humanisten der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes stand Im Maumlrz 1516 erschien nach geradezu fieberhafter Vorbe-

653Fruumlhe Neuzeit

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

reitung und Drucklegung seine mit ausfuumlhrlichen Anmerkungen versehene Ausgabe des Neuen Testaments in griechischer und lateinischer Sprache ein ndash wie sich herausstellen sollte ndash nicht nur fuumlr die Theologie und Kirchengeschichte auf Jahrzehnte und sogar Jahr-hunderte praumlgendes Buch von uumlber 1000 groszligformatigen Seiten dessen programmatische drei Einleitungsschriften (bdquoParaclesisldquo bdquoMethodusldquo und bdquoApologialdquo) auch heute noch mitreiszligen und faszinieren koumlnnen

Der Obertitel des hier angezeigten Sammelbandes bdquoBasel 1516ldquo markiert in gewisser Hinsicht einen Gegenpol zu bdquoWittenberg 1517ldquo und waumlhrend das Wittenberger Epochen-jahr bekanntermaszligen den Kulminationspunkt einer ganzen sogenannten bdquoLutherdekadeldquo bildete liefen die vielfaumlltigen Aktivitaumlten zum Basler Epochenjahr unter dem Logo bdquoERASMVS MMXVIldquo Als damaliger Ordinarius fuumlr Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universitaumlt Basel hatte Martin Wallraff im September 2014 ndash und damit fast genau 500 Jahre nach Erasmusrsquo Ankunft in der Stadt (vgl S X der Einleitung) ndash eine interdis-ziplinaumlre Tagung organisiert die Philologen Historiker und Theologen aus Deutschland England Frankreich Italien Kanada den Niederlanden der Schweiz und Spanien in Basel zusammenfuumlhrte fast durchweg ausgepraumlgte Erasmus-Spezialisten darunter viele Editoren der beiden groszligen wissenschaftlichen Ausgaben der bdquoOpera omnia Desiderii Erasmi Roterodamildquo (ASD Amsterdam und Leiden) und der bdquoCollected Works of Eras-musldquo (CWE Toronto)

Der sorgsam redigierte Tagungsband enthaumllt fuumlnfzehn Beitraumlge in englischer (elf) oder deutscher Sprache (vier) denen jeweils ein englischer Abstract beigegeben ist Die instruktive Einleitung der Herausgeber (bdquoPrefaceldquo S IXndashXIX) erlaumlutert die drei groszligen Themenfelder denen die Aufsaumltze jeweils zugeordnet werden deren Uumlbergaumlnge allerdings flieszligend sind 1 bdquoThe Novum Instrumentum 1516 and Its Philological Back-groundldquo (vier Beitraumlge S 1ndash77) 2 bdquoThe Text of the New Testament and Its Additionsldquo (sechs Beitraumlge S 79ndash221) und 3 bdquoCommunication and Receptionldquo (fuumlnf Beitraumlge S 223ndash310) Den Band beschlieszligen drei Verzeichnisse zu den Abkuumlrzungen den Nach-weisen der zahlreichen qualitaumltvollen sw-Abbildungen und den Autoren und Heraus- gebern (S 311ndash314) sowie ein Namensregister (S 315ndash319)

Teil 1 In dem urspruumlnglichen Abendvortrag der Tagung den die Herausgeber an den Anfang der Beitraumlge gestellt haben skizziert Mark VESSEY (S 3ndash26) die Umstaumlnde die zur Publikation des bdquoNovum Instrumentumldquo fuumlhrten Dabei beleuchtet er die Vorarbeiten die Reise von England nach Basel und Erasmusrsquo erst auf August September 1514 datierte Entscheidung seinen bereits in England begonnenen Anmerkungen (bdquoAnnotationesldquo) zum Neuen Testament sowohl den griechischen Originaltext als auch eine eigene latei-nische Uumlbersetzung voranzustellen Erika RUMMEL (S 27ndash42) analysiert den Bibel- humanismus der Renaissance anschlieszligend in literaturaumlsthetischer und methodologischer Hinsicht Was als Kritik am Theologen- und Kirchenlatein begann fuumlhrte zu einer Infragestellung des uumlberlieferten Texts der Vulgata und entsprechenden Emendations- bemuumlhungen Die in den Jahren um 1500 verhandelte Frage ob eine Anwendung text-kritischer Methodik auf die Heilige Schrift zulaumlssig sei war dabei nicht nur von rein theoretischem Interesse denn die philologischen Debatten der Humanisten unterminier-ten die Autoritaumlt der scholastischen Universitaumltstheologie gegen deren zunehmend schaumlrfere Kritik sich Erasmus ab 1516 immer wieder verteidigen musste August DEN HOLLANDER (S 43ndash58) betrachtet Erasmusrsquo Plaumldoyer fuumlr die Bibellektuumlre von Laien vor dem Hintergrund der mittelalterlichen niederlaumlndischen Bibeluumlbersetzungen und eroumlrtert in diesem Zusammenhang noch einmal den Einfluss der bdquoDevotio modernaldquo auf Erasmus

654 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Ignacio GARCIacuteA PINILLA (S 59ndash77) nimmt sodann die Complutensische Polyglotte in den Blick deren bereits 1514 gedruckter aber erst 152122 erschienener fuumlnfter Band mit dem Neuen Tes-tament neben der Vulgata ebenfalls schon den griechischen Text enthielt Dass Erasmus die spanische Konkurrenzedition bei der Vorbereitung seiner vierten Aus-gabe des Neuen Testaments (1527) herangezogen hat ist gut dokumentiert Angesichts zahlreicher neuer Lesarten der dritten Ausgabe von 1522 die auch schon mit dem Text der Polyglotte uumlbereinstimmen (vgl besonders die Uumlbersicht zum Johannes-Evanglium auf S 76) haumllt Garciacutea Pinilla es fuumlr moumlglich dass Erasmus deren Text bereits 1521 zu-mindest in Auszuumlgen kannte die gelegentlich behauptete wechselseitige fruumlhere Beein-flussung dieser parallelen Ausgaben aus Basel und Alcalaacute verbannt er dagegen ins Reich der Spekulation

Teil 2 Patrick ANDRIST (S 81ndash124) und Andrew J BROWN (S 125ndash144) widmen sich zunaumlchst mit groszliger Sorgfalt den acht griechischen Bibelhandschriften die Erasmus in Basel nachweislich benutzt hat waumlhrend Martin WALLRAFF (S 145ndash173) und Jan KRANS (S 187ndash206) die zahlreichen Paratexte beleuchten die Erasmusrsquo bdquoNovum Testamentumldquo (so der Titel ab der zweiten Ausgabe von 1519) beigegeben waren von der Forschung jedoch lange Zeit eher vernachlaumlssigt wurden Miekske VAN POLL-VAN DE LISDONK (S 175ndash186) ordnet die bdquoAnnotationesldquo welche die Keimzelle und mit rund 450 Seiten zugleich das Kernstuumlck der Basler Ausgabe von 1516 bilden in Erasmusrsquo uumlbrige Schriften zur Bibel ein und weist auf die neue kritische Edition der bdquoAnnotationesldquo (ASD) hin die 2003ndash2014 in sechs Baumlnden erschienen ist Am Ende des zweiten Teils stellt Silvana SEIDEL MENCHI (S 207ndash221) Johannes Frobens fuumlnf bdquohigh-profile editionsldquo des Neuen Testaments (1516 1519 1522 1527 und 1535) den bdquolow-profile editionsldquo Frobens (1522) und anderer Basler Drucker (Cratander 1520 Gengenbach 1522) gegenuumlber analysiert deren zum Teil ganz unterschiedliche Paratexte und nimmt damit schon die Rezeption dieser Drucke in den Blick Was 1516ndash1522 durchaus auch bdquoeinfache Leserldquo ansprechen sollte endete schlieszliglich als ein Buch fuumlr Spezialisten bdquothe New Testament had been domesticatedldquo (S 221)

Teil 3 Komplementaumlr zu Seidel Menchis Beitrag dokumentiert Valentina SEBASTIANI (S 225ndash237) zu Beginn des dritten Teils detailliert den Markterfolg von Frobens diversen Ausgaben waumlhrend Marie BARRAL-BARON (S 239ndash254) in Anknuumlpfung an die umfang-reiche franzoumlsischsprachige Erasmus-Forschung nochmals vertiefend dem innovativ-sub-versiven Potenzial der Erstausgabe von 1516 nachgeht Obwohl Erasmus mit seinem bdquoNovum Instrumentumldquo die Ruumlckkehr in ein Goldenes Zeitalter befoumlrdern wollte habe er gemaumlszlig Barral-Baron im Gegenteil unabsichtlich dem Zerbrechen der Kircheneinheit vorgearbeitet und sei so zum bdquoassassin of his own dreamsldquo (S 254) geworden Am Ende des Bandes beleuchten Greta KROEKER (S 255ndash265) Sundar HENNY (S 267ndash290) und Christine CHRIST-VON WEDEL (S 291ndash310) die Rezeption des Buches in Italien (bes durch Gasparo Contarini und Jacopo Sadoleto) Frankreich (vor allem Theacuteodore de Begraveze) und den deutschsprachigen Territorien (von den Reformatoren bis zu Jakob Wettstein und Salomo Semler im 18 Jh)

Die durchweg anregenden und innovativen Beitraumlge sind nicht selten erfrischend zu-gespitzt so heiszligt es etwa im Zusammenhang mit dem von Erasmus eher vernachlaumlssigten Hebraumlischen (und Aramaumlischen) bdquoDer Hieronymus des Erasmus wandte sich den semi-tischen Sprachen als seiner Wuumlste zu in der er durch die griechische Quelle des Neuen Testaments und durch klassische Literatur in ebensolcher Sprache erfreut und am Leben erhalten wurde Syrien und seine Sprachen stehen im Kontext der Askese und werden

655Fruumlhe Neuzeit

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nicht um ihrer selbst willen sondern eher als notwendige Uumlbel aufgesuchtldquo (S 276) Die fokussierten Details spiegeln den neuesten Stand der Forschung allenfalls Johannes Reuchlins Briefwechsel sollte man heute wohl nicht mehr nach Geigers Ausgabe von 1875 (vgl S 87ndash90) sondern nach der vierbaumlndigen Edition der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zitieren (1999ndash2013)

Vielleicht angeregt durch Frobens differenzierte Vermarktung des bdquoNovum Instrumen-tumldquo wird der besprochene Sammelband seit 2017 auch in einer unveraumlnderten Studien-ausgabe angeboten (ISBN 978-3-16-155274-8) Zur Vertiefung waumlrmstens empfohlen sei dem interessierten Leser noch der aumluszligerst klug angelegte und beeindruckend illustrierte Begleitband zu einer 2016 im Basler Muumlnster gezeigten Ausstellung der von Ueli DILL und Petra SCHIERL herausgegeben wurde bdquoDas bessere Bild Christildquo Das Neue Testa-ment in der Ausgabe des Erasmus von Rotterdam (Basel Schwabe 2016 220 S ISBN 978-3-7965-3557-4) Mit Artikeln u a von Patrick Andrist Christine Christ-von Wedel Jan Krans Valentina Sebastiani Miekske van Poll-van de Lisdonk und Martin Wallraff kommen erneut viele der Autoren zu Wort die bereits in dem fast gleichzeitig erschie-nenen Tagungsband praumlsent sind

Matthias DallrsquoAsta

Guumlnter FRANK (Hg) unter Mitarbeit von Axel LANGE Philipp Melanchthon Der Refor-mator zwischen Glauben und Wissen Ein Handbuch BerlinBoston De Gruyter 2017 XV 843 S geb EUR 14995 ISBN 978-3-11-033505-7

Nach den Handbuumlchern uumlber Augustin Luther Calvin und anderen reiht sich hier das Melanchthon-Handbuch ein herausgegeben von dem langjaumlhrigen Leiter des Brettener Melanchthon-Hauses das sich in seiner Amtszeit zur Europaumlischen Melanchthon-Aka-demie ausgebildet hat Aufgabe eines solchen Handbuchs ist es den Stand der Forschung moumlglichst umfassend wiederzugeben Dies geschieht hier in einer internationalen Zu-sammenarbeit von mehr als drei Dutzend Wissenschaftlern Stand der Wissenschaft heiszligt natuumlrlich auch dass Desiderate benannt werden Dies tut der Herausgeber bereits in sei-nem Vorwort indem er die Themen bdquoMelanchthon und das Judentumldquo und bdquoMelanchthon als Predigerldquo als kuumlnftig zu bestellende Felder angibt

Grundlegend fuumlr den Stand der Forschung ist dass eine moderne Edition der Werke Melanchthons fehlt die die 1834ndash1860 erschienenen 28 Melanchthon-Baumlnde des Corpus Reformatorum ersetzen wuumlrde Abgesehen von den Ausgaben einzelner Werke liegt aber doch die von Robert Stupperich 1951ndash1975 herausgegebene neunbaumlndige Studienausgabe vor und im Jubilaumlumsjahr 1997 wurde die Ausgabe Melanchthon deutsch begonnen die inzwischen fuumlnf Baumlnde umfasst Ganz besonders ist aber zu verweisen auf den fast 10000 Stuumlcke umfassende Briefwechsel Melanchthons in der von Heinz Scheible ein Arbeits- leben lang betriebenen Edition die ab 1977 in Regestenform erschienen und inzwischen abgeschlossen ist Die Baumlnde der Textedition bearbeitet von der Melanchthon-For-schungsstelle in Heidelberg erscheinen zuumlgig seit 1991 (vgl die Besprechung in diesem Band)

Das Handbuch ist in vier Abschnitte gegliedert Orientierung Person Werk Wirkung und Rezeption Die Orientierung gibt Guumlnter Frank indem er knapp uumlber Person und Wirken Melanchthons die vorliegenden Melanchthon-Ausgaben unter denen auch eine Melanchthon-DVD zu erwaumlhnen ist und die vorhandenen Hilfsmittel wie Literatur For-schungsreihen und die Einrichtungen der Melanchthon-Forschung informiert Dem

656 Buchbesprechungen

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schlieszligt sich ein Uumlberblick uumlber die Melanchthon-Forschung am Beginn des 21 Jahr-hunderts an der fruumlher erschienene Berichte auf den neuesten Stand bringt

In dem Beitrag uumlber die Person Melanchthons gibt zunaumlchst Christine MUNDHENK die Heinz Scheible in der Leitung der Melanchthon-Forschungsstelle und als Heraus- geberin des Briefwechsels abgeloumlst hat einen dichten Uumlberblick uumlber Melanchthons Leben Martin GRESCHAT behandelt Melanchthons Verhaumlltnis zu Luther das grundlegend fuumlr beider Leben und Wirken und die Reformation insgesamt gewesen ist Natuumlrlich kommt auch das Verhaumlltnis zu anderen Reformatoren naumlmlich Calvin Zwingli Bullinger Bucer Bugenhagen und Flacius ins Blickfeld (Andreas MUumlHLING) das in erster Linie durch den dichten Briefwechsel Melanchthons vermittelt wurde Maria Lucia WEIGEL stellt Melanchthon-Bildnisse vor die ihn als Humanisten und Reformator zeigen wobei nicht nur Werke der graphischen Kuumlnste sondern auch Muumlnzen und Denkmaumller ins Blick-feld kommen Dieser Beitrag ragt somit auch in den Abschnitt uumlber Wirkung und Rezep-tion hinein

Die folgenden Beitraumlge stellen die verschiedenen Wirkungsfelder Melanchthons dar beginnend mit Reichspolitik und Religionsgespraumlchen (Andreas GOumlSSNER) Hier werden Melanchthons Dialogbereitschaft und seine Bemuumlhungen um Friedenssicherung als seine Handlungsmaximen herausgestellt die ihm freilich schon zu Lebzeiten als Bereitschaft zu faulen Kompromissen ausgelegt wurden Melanchthons Stellung in den inner- protestantischen Streitigkeiten kennzeichnet Robert KOLB Als Grundproblem stellt sich hier die Theologie des Abendmahls dar Das Interim bewirkte dann dass die Gnesiolu-theraner allen voran Matthias Flacius als die vermeintlich wahren Erben Luthers gegen Melanchthon zu Felde zogen und ihm zunehmend seine letzten Lebensjahre bitter werden lieszligen Zuruumlck zu den Anfaumlngen lenkt der Beitrag von Natalie KRENTZ uumlber Kirchen- reform und -visitation Es handelt sich hier vor allem um Melanchthons Beteiligung an den ersten Reformen in Wittenberg 152122 und an den Visitationen in Thuumlringen 1527 deren Nachbereitung seinen Unterricht der Visitatoren hervorbrachte der dann vielerorts als Referenzwerk fuumlr Kirchenreformen diente

Bildung Schule und Universitaumlt (Markus WRIEDT) kann man als ureigenstes Gebiet des Praeceptor Germaniae bezeichnen Kirche und Schule gehoumlren zusammen sind fuumlr ihn deckungsgleich wobei jede Schulart auch die Universitaumlt gemeint ist

Ein weiteres zentrales Feld der Wirksamkeit Melanchthons ist die Bekenntnisbildung (Hendrik STOumlSSEL) Werden ihm doch das Augsburger Bekenntnis und die Apologie ver-dankt ebenso wie die Confessio Saxonica von 1552 und vor allem seine Loci die in seinem Sterbejahr 1560 zusammen als Corpus Doctrinae erschienen und viel spaumlter zum Konkordienbuch von 1580 hinfuumlhrten

In dem Beitrag uumlber Reformiertentum (Matthias FREUDENBERG) geht es nicht nur um die enge Verbindung die Melanchthon mit Calvin pflog sondern vor allem um seine Rezeption bei den Reformierten von Schleiermacher bis Karl Barth und der Leuenberger Konkordie von 1973 Es wird also auch hier ein Beitrag zur Rezeptions- geschichte geboten

Zuruumlck zur Reformationsgeschichte fuumlhrt wieder Eike WOLGAST mit Melanchthon und die TaumluferSpiritualisten Er sah die Taumlufer als Stoumlrer der oumlffentlichen Ordnung die somit durch die weltliche Gewalt ndash auch mit dem Tod ndash zu bestrafen sind Auch den Tuumlrken (Michael PLATHOW) steht Melanchthon unversoumlhnlich gegenuumlber wenn er auch die Auf-rechterhaltung oumlffentlicher Ordnung in ihrem Bereich anerkennen kann Entscheidend ist fuumlr ihn hier wieder die rechte Gottesverehrung

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Melanchthon und der roumlmische Katholizismus (Johanna RAHNER) beleuchtet zunaumlchst das Bild das sich die katholische Theologie von ihm machte und wie man ihn schlieszlig- lich als oumlkumenischen Theologen entdeckte Zum anderen geht es um das Verhaumlltnis Melanchthons zur katholischen Kirche seiner Zeit wobei eine Entwicklung von der Ab-grenzung hin zu einem qualitativen Verstaumlndnis von Katholizitaumlt zu verzeichnen ist

In der dritten Abteilung die dem Werk Melanchthons gilt werden zunaumlchst die Text-gattungen behandelt derer er sich bedient hat Timothy J WENGERT stellt die biblischen Uumlbersetzungen und Kommentare vor waumlhrend Georg Gottfried GERNER-WOLFHARD seine katechetischen Versuche aufzeigt Unter dem Stichwort Literatur gibt Thorsten FUCHS einen Uumlberblick uumlber Melanchthons literarische Produktion die sich in unterschiedlichen Gattungen vom Epigramm bis zur Erzaumlhlung aumluszligerte Andreas GOumlSSNER bespricht Melanchthons rhetorische Praxis in Deklamationen Reden und Postillen

Die Gutachten Melanchthons behandelt Christopher VOIGT-GOY Es handelt sich hier um ein noch wenig erforschtes Gebiet Anders verhaumllt es sich mit den Briefen die von Christine MUNDHENK vorgestellt werden die dabei ihre Erfahrungen mit der Briefausgabe wiedergeben kann

Ein zweiter Abschnitt gilt Melanchthons Theologie wobei Guumlnter FRANK zunaumlchst seine Topik behandelt die auf der Erneuerung der Dialektik durch den Humanismus be-ruht und fuumlr ihn die Grundwissenschaft darstellte Frucht dieses Wissenschaftsverstaumlnd-nisses waren die Loci als System der Theologie (Sven GROSSE) Sodann werden einzelne theologische Loci behandelt naumlmlich Rechtfertigungslehre (Robert KOLB) Schoumlpfungs-lehre (Christian LINK) Christologie (Hendrik Stoumlssel) Theologische Anthropologie (Bo Kristian HOLM) Abendmahlslehre (Johannes EHMANN) Ekklesiologie (Johanna RAHNER) sowie Praumldestination Eschatologie Froumlmmigkeit (Martin H JUNG)

Der dritte Abschnitt behandelt Melanchthons Philosophie wobei zunaumlchst Guumlnter FRANK den Philosophiebegriff dann die praktische Philosophie Melanchthons darstellt Es folgen weitere Themen die zum Teil zum traditionellen System der Artes gehoumlren aber auch solche die daruumlber hinausweisen Besprochen werden Naturphilosophie und Anthropologie (Sandra BIHLMAIER) Jurisprudenz (Christoph STROHM) Medizin (Juumlrgen HELM) Dialektik (Hanns-Peter NEUMANN) Rhetorik (William P WEAVER) Grammatik (Boris DJUBO) Mathematik (Ulrich REICH) Geschichte (Martin SCHNEIDER) und Antike Literatur (Thorsten Fuchs)

Die dritte Abteilung des Handbuchs wendet sich Melanchthons Wirkung und Rezep-tion zu die zunaumlchst Walter SPARN fuumlr die Zeit und das Gebiet des Alten Reichs unter-schieden nach Philosophie und Theologie darbietet Es folgen Skandinavien (Tarald RASMUSSEN) England (Charlotte METHUEN) Niederlande (Herman J SELDERHUIS) Frankreich (Nicola STRICKER) Spanien (Mariano DELGADO) Italien (Lothar VOGEL) Schweiz (Karin MAAG) Ungarn und Suumldosteuropa (Andreas MUumlLLER) und Polen-Litauen (Kestudis DAUGIRDAS) Zum Schluss wuumlrdigt Guumlnter Frank Melanchthon als bdquogroumlszligte oumlku-menische Gestalt der Reformationszeitldquo

Den Abschluss des Bandes bilden ein Gesamt-Literaturverzeichnis ein Personen- und Sachregister und das Autorenverzeichnis Die einzelnen Beitraumlge die im Rahmen dieser Besprechung vielfach nur benannt werden konnten behandeln ihre Themen kurz und dicht wie es einem Handbuch ansteht benennen jeweils die einschlaumlgigen Quellen und die Literatur zeigen die Forschungsdesiderate auf und bieten damit eine solide Grundlage fuumlr die weitere Erforschung von Person und Werk Melanchthons

Hermann Ehmer

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Philipp MELANCHTHON Texte 5011ndash5343 (JanuarndashOktober 1548) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wis-senschaften Bd T 18) Stuttgart Frommann-Holzboog 2018 628 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2660-3

Philipp MELANCHTHON Texte 5344ndash5642 (November 1548ndashSeptember 1549) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Bd T 19) Stuttgart Frommann-Holzboog 2019 621 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2661-0

Die beiden hier vorzustellenden Baumlnde der Textausgabe des MBW decken mit ihren 338 und 306 Nummern lediglich eindreiviertel Jahre ab Schon diese einfache Statistik zeigt die ungeheuren Anforderungen vor die sich Melanchthon in dieser Zeit gestellt sah Neben dem Verlust zweier langjaumlhriger Weggefaumlhrten naumlmlich Caspar Cruciger und Veit Dietrich ging es fuumlr Melanchthon in dieser Zeit zunaumlchst darum den Lehrbetrieb der Wittenberger Universitaumlt nach dem Schmalkaldischen Krieg wieder in Gang zu brin-gen Die Zeugnisse Empfehlungsbriefe und die an ihn gerichteten Anfragen zeigen dass dies gelang und der universitaumlre Alltag wieder eingetreten war

Die Durchsetzung der kaiserlichen Religionspolitik die durch den Sieg Karls V im Schmalkaldischen Krieg moumlglich gemacht war stellte aber neue schwerwiegende und grundsaumltzliche Fragen Konkret ging es um das Augsburger Interim das auf dem Augs-burger Reichstag 1548 erarbeitete und erlassene Religionsgesetz das die Protestanten zum katholischen Kultus zuruumlckfuumlhren sollte Diesem Bemuumlhen lagen selbstverstaumlndlich theologische Festlegungen zugrunde die fuumlr die protestantische Seite die Frage aufwar-fen inwieweit diese angenommen werden konnten Da freilich wo der Kaiser durch den Krieg seine Machtstellung zur Geltung gebracht hatte vor allem in Suumldwestdeutschland und hier vor allem bei den Reichsstaumldten eruumlbrigte sich eine Diskussion hier musste das Interim trotz allen Straumlubens angenommen werden mit entsprechenden Folgen fuumlr die Theologen die sich in Wort und Schrift dagegen zur Wehr setzten

In Norddeutschland und vor allem im Kurfuumlrstentum Sachsen ging es in erster Linie um die Frage der Adiaphora der Mitteldinge um das was in Kultus und Lehre angenommen werden konnte ohne die Kernpunkte der evangelischen Lehre zu gefaumlhr-den Es ist klar dass hier ungeheurer Gespraumlchsbedarf bestand der sich in entsprechen- den Beratungen Anfragen und teils sehr umfangreichen Gutachten aumluszligerte Neben dieser Politikberatung und deren theologischer Fundierung vergaszlig Melanchthon nicht da er nach wie vor im Mittelpunkt des Geschehens stand den Fuumlrsten denen er verpflichtet war wie Georg und Joachim von Anhalt und besonders Koumlnig Christian III von Daumlnemark mit bdquoZeitungenldquo kurzen Nachrichten uumlber das Geschehen zu infor- mieren

Die Dringlichkeit und Schaumlrfe in der die anstehenden Fragen verhandelt wurden und natuumlrlich auch unterschiedliche Antworten hervorbrachten zeigt sich gerade auch in der Uumlberlieferungslage einzelner wichtiger Stuumlcke bei denen sich die Herausgeber teilweise vor eine fast nicht zu bewaumlltigende Mehrfachuumlberlieferung in gleichzeitigen Abschriften und Drucken auch mit abweichendem Wortlaut gestellt sahen Andererseits konnte hier eine nicht unbedeutende Anzahl (fast ein Sechstel) der Stuumlcke erstmals vollstaumlndig wiedergegeben werden

659Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 659

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Hinsichtlich der Korrespondenten wird deutlich dass die Verbindungen Melanchthons zu den suumlddeutschen Theologen infolge der Zeitumstaumlnde weitgehend abgebrochen waren Einzig nach Nuumlrnberg und Straszligburg hatte Melanchthon noch Kontakte Ein Schreiben Melanchthons an Frecht aus dem Januar 1548 (MBW 5042) kann aus dem Blarer-Briefwechsel erschlossen werden ebenso wie eines aus dem Juni an Schnepf in Tuumlbingen (MBW 5181) Im September (MBW 5284) weiszlig Melanchthon von der Gefan-gennahme Frechts in Ulm durch den Kaiser die Schlimmes befuumlrchten laumlsst Schon im August (MBW 5246) hatte er sich bei Bucer nach dem Verbleib von Brenz und anderen erkundigt die wegen des Interims ihre Stellen verlassen mussten Uumlber die schwierige Lage in Straszligburg den Aufenthalt von Brenz und die Verhaumlltnisse in Wuumlrttemberg konnte ihm Bucer im Januar 1549 berichten (MBW 5403) Der Weggang von Andreas Osiander aus Nuumlrnberg der dann nach Preuszligen ging war Melanchthon bekannt (MBW 5366 5394 5542) Aus Lohr am Main in der Grafschaft Rieneck meldete sich im Februar der stel-lungsuchende Erhard Schnepf der Tuumlbingen hatte verlassen muumlssen und voruumlbergehend in Lohr bei Johann Konrad Ulmer untergekommen war (MBW 5442 f) aber dann in Jena eine Stelle fand (MBW 5598) Melanchthon hatte Schnepf ebenso wie Martin Bucer in Wittenberg erwartet Bucers Stellung in Straszligburg war wegen der Annahme des Interims durch den Magistrat mehr und mehr unhaltbar geworden weshalb er schlieszlig-lich nach England ging (MBW 5460)

Diese Streiflichter auf die Ereignisse in Suumldwestdeutschland koumlnnen nur beispielhaft die Fuumllle des Materials erahnen lassen das in den beiden Baumlnden ausgebreitet und in jedem Band durch Indizes vor allem der Absender und Adressaten erschlossen ist

Hermann Ehmer

Philipp MELANCHTHON Texte 5643ndash5969 (Oktober 1549ndashDezember 1550) bearb von

Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Bd T 20) Stuttgart Frommann-Holzboog 2019 494 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2662-7

Dieser Band enthaumllt 15 Monate des Briefwechsels Melanchthons Nachdem der Lehr-betrieb an der Wittenberger Universitaumlt wieder in Gang gekommen war ging es um die Auseinandersetzung mit Flacius um das wahre Erbe Luthers Melanchthon hat diesen Kampf zum Teil mit bdquooffenen Briefenldquo wie sie von den Herausgebern bezeich- net werden gefuumlhrt Es handelt sich um Aumluszligerungen die vorwiegend im Druck heraus-gingen und somit besondere Anforderungen an die Edition machten Da Autographen fehlen waren jeweils zahlreiche Abschriften und Drucke zu beruumlcksichtigen und zu ver-zeichnen Solche Aumluszligerungen kommen zum Teil auch in Gestalt von Widmungsvorreden einher

Als weiteres theologisches Problem bahnt sich in dieser Zeit der Osiandrische Streit an der durch den Nuumlrnberger Reformator Andreas Osiander der durch das Interim nach Koumlnigsberg in Preuszligen verschlagen worden war entfacht wurde Ebenfalls durch das Interim wurde Erhard Schnepf aus Tuumlbingen vertrieben der schlieszliglich eine ehren- volle Stelle in Jena erhielt Gleichwohl konnte Melanchthon ihm eine Stelle in Rostock anbieten

Im Korrespondentenkreis Melanchthons faumlllt in dieser Zeit Suumlddeutschland fast voll-staumlndig aus Durch das Interim liegen Kirchen und Universitaumlten am Rhein in Schwaben

660 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 660

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Bayern und Oumlsterreich darnieder (MBW 5752) Kaspar Hedio hatte Melanchthon uumlber die Schwierigkeiten in Straszligburg berichtet Der Tuumlbinger Mediziner Leonhard Fuchs unterrichtete ihn uumlber die Verhaumlltnisse in Wuumlrttemberg Nicht von Fuchs aber von anderer Seite weiszlig Melanchthon dass der in jener Zeit im Untergrund lebende Brenz in Tuumlbingen war (MBW 5882) Nach wie vor besteht Melanchthons Verbindung mit den Nuumlrnbergern insbesondere mit Hieronymus Baumgartner Verbindung mit ihm hielt nach wie vor auch Johann Konrad Ulmer in Lohr in der Grafschaft Rieneck Auch aus Augsburg und Basel erreichen Melanchthon Nachrichten selbst Johann Calvin nimmt aus Genf Kontakt mit ihm auf

Immer wieder beunruhigen Kriegsruumlstungen deren Zweck etwa die Vollstreckung der Reichsacht gegen Magdeburg oft nur vermutet werden kann Insgesamt konnte aber Melanchthon nach wie vor als gut informiert gelten und hat sein Wissen auch getreulich vor allem an die fuumlrstlichen Korrespondenzpartner insbesondere an Koumlnig Christian III von Daumlnemark weitergegeben

Wie die Universitaumlt wieder in Gang kam ist an den entsprechenden Schreiben ablesbar wie Zeugnissen oder den Bitten um Stipendien fuumlr beduumlrftige Studenten Ein gutes Bei-spiel dafuumlr ist ndash in mehrfacher Hinsicht ndash die Stipendienbitte an den Rat der Reichsstadt Esslingen fuumlr den Studenten Georg Roner (MBW 5843) Das Schreiben konnte 1840 in Bd 7 des Corpus Reformatorum noch nach dem Autograph im Stadtarchiv Esslingen abgedruckt werden und ist seitdem verloren Allerdings trug auch Fasz 205b in dem Melanchthons Schreiben verwahrt wurde den verraumlterischen Titel bdquoBriefe der Refor- matorenldquo

Bei der Bitte der Witwe Luthers an den daumlnischen Koumlnig um weitere Gewaumlhrung der ihrem verstorbenen Mann jaumlhrlich gezahlten Unterstuumltzung war Melanchthon gewiss durch seinen Rat beteiligt Eigenhaumlndig hat er immerhin die Schlussformel des Schreibens beigesteuert waumlhrend der uumlbrige Text von der Hand Paul Ebers stammt Dies ist freilich nur ein Beispiel fuumlr die eingehende Arbeit der Melanchthon-Forschungsstelle die mit dieser Maszligstaumlbe setzenden Edition geleistet wird

Hermann Ehmer

Frank MULLER Images poleacutemiques images dissidentes Art et Reacuteforme agrave Strasbourg (1520ndashvers 1550) (Studien zur deutschen Kunstgeschichte Bd 366) Baden-Baden Bouxwiller Koerner 2017 368 S Abb Brosch EUR 48ndash ISBN 978-3-87320- 366-2

Das Cabinet des Estampes und Museacutee de lrsquoŒuvre Notre-Dame in Straszligburg zeigten juumlngst parallel zur Groszligen Landesausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe zu Hans Baldung Grien als einem der eigenwilligsten Kuumlnstler des 16 Jahrhunderts die von Ceacutecile Dupeux und Frank Muller in Zusammenarbeit mit Florian Siffer kuratierten Be-gleitausstellungen bdquoRegards sur Hans Baldung Grienldquo und bdquoBaldung Grien et les images de la Reacuteforme agrave Strasbourgldquo (30 November 2019 bis 8 Maumlrz 2020) Damit wurde dieser Kuumlnstler der zwar einen Groszligteil seines Lebens in Straszligburg verbrachte in Frankreich aber bisher nahezu unbekannt blieb erstmals in groumlszligerem Rahmen praumlsentiert und zu-gleich Straszligburgs Rolle und Beitrag zu reformatorischen Bildfindungen thematisiert Die hier zu besprechende bereits 2017 erschienene Publikation von Frank Muller uumlber dissidente Bilder der Straszligburger Reformation kann daher zum einem als Grundlage fuumlr die Straszligburger Schau und zum anderen fuumlr seine weitere Beschaumlftigung mit Hans Baldung Grien gelten dessen Werk der emeritierte Professor fuumlr Moderne Geschichte

661Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 661

Fort Louis bdquoqui est dans une isle et empesche par conseacutequent que ce fleuve ne serve de juste et reacuteciproque barriegravere entre Votre Majesteacute et lrsquoEmpire comme Elle a deacuteclareacute si souvent et qursquoElle ne demande autre choseldquo (9 IX ebd Hollande 169) Diese Aumluszligerung beweist auch dass die Rheingrenze als politisches Ziel bei den franzoumlsischen Diplomaten und Militaumlrs gelaumlufig war vielleicht schon seit der Erkundigungsreise von Louvois und Vauban durch das Elsass 1679 Der Kontext belegt auch dass die Rheingrenze als mili-taumlrische Grenze verstanden wurde Ihr Ziel sei bdquo( que) lrsquoentreacutee de son Royaume soit fermeacutee en mecircme temps que Sa Majesteacute fait voir qursquoElle ne veut srsquoen reacuteserver aucune pour porter les guerres en Allemagneldquo( Gesandte an Ludwig XIV 1 IX 1697 J Bernard A Moetjens III S 50)

Der Sammelband revidiert den heutigen Wissensstand nicht er bietet aber mit Aus-nahme der angefuumlhrten Punkte einen differenzierten Uumlberblick uumlber den derzeitigen For-schungsstand Allerdings faumlllt auch hier die sehr sporadische Nutzung und Auswertung der Literatur auf Bibliographieren ist anscheinend unbekannt

Bernd Wunder

Bettina BRAUN Eine Kaiserin und zwei Kaiser Maria Theresia und ihre Mitregenten Franz Stephan und Joseph II (Mainzer Historische Kulturwissenschaften Bd 42) Bielefeld transcript-Verlag 2018 309 S Abb Brosch EUR 3999 ISBN 978-3-8376-4577-4

Lange Zeit seit der Publikation der zehnbaumlndigen Geschichte Maria Theresias durch Alfred Ritter von Arneth (Wien 1863ndash1879) schien es so als ob zur Geschichte der maumlchtigsten Frau Europas im 18 Jahrhundert alles gesagt sei Als Erbtochter regierte sie einen Laumlnderkomplex der sich vom heutigen Belgien im Nordwesten bis in die heutige Ukraine im Suumldosten Europas erstreckte Doch ihr 300 Geburtstag (2017) hat wie gerade das Literaturverzeichnis des vorzustellenden Bandes verdeutlicht eindruumlcklich unter- strichen wie irrig diese Auffassung ist und sein muss haben sich doch die Fragen die wir heute an Maria Theresia als Frau und Herrscherin stellen seit den Arnethschen Zeiten grundlegend veraumlndert Gerade die Studie der in Mainz lehrenden Fruumlhneuzeithistorikerin Bettina Braun steht fuumlr den Aspekt der in der monumentalischen Repraumlsentation Maria Theresias im 19 Jahrhundert ausgeblendet wurde Monumentalisch ist im woumlrtlichen wie im Nietzscheschen Sinn gleichermaszligen zu verstehen Braun formuliert bdquoAls Herrscherin aus eigenem Recht hatte sie doch stets einen Mann an ihrer Seite erst ihren Ehemann [Franz Stephan bis 1765] dann ihren Sohn [Joseph] mit dem sie zusammen regierte Und genau um dieses bdquozusammenldquo soll es in dieser Studie gehenldquo (S 13)

Um dieses bdquozusammenldquo zu erhellen bedient sich die Verfasserin des von Heide Wun-ders fuumlr fruumlhneuzeitliche staumldtische und baumluerliche Geschlechterbeziehungen gepraumlgten Konzepts des bdquoArbeitspaaresldquo Hat Wunder diesen Begriff gewaumlhlt um die Beziehungen zwischen Ehepartnern zu charakterisieren so wendet ihn Braun auch fuumlr die Mutter-Sohn-Beziehung an Da es ihr darum zu tun ist zu erhellen wie sich Maria Theresia die Arbeit des Regierens mit ihrem seit 1745 kaiserlichen Ehemann und seit 1765 Sohn teilte kann sie so verfahren Ja noch mehr Braun vermag dadurch auch ein anderes wenn auch nicht grundsaumltzlich neues Licht auf die Folgen zu werfen die mit den funda-mental differierenden sozialen Logiken einhergehen die die Geschlechterbeziehungen praumlgen je nachdem ob die Frau mit Ehemann oder Sohn interagiert Dass diese unter-schiedlichen Logiken wenn die Frau Herrscherin ist fuumlr die Arbeitsteilung weitreichende Folgen zeitigen demonstriert Braun im Detail (S 211ndash230)

676 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

der Universitaumlt Straszligburg als paradigmatisch fuumlr die Umbruumlche in der Denk- und Dar-stellungsweise des 16 Jahrhunderts bezeichnet und zu dem er zudem 2019 die erste franzoumlsische Monografie unter dem Titel bdquoHans Baldung Grien entre christianisme et paganismeldquo vorlegte

Wie der Autor in seinem knappen Vorwort selbst schreibt ist die vorliegende Pub- likation das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung auf diesem Gebiet und die teilweise Uumlberarbeitung bereits geschriebener aber unpublizierter Texte (S 6) Konkret knuumlpft er damit an sein bereits 2001 als Band 21 der Reihe Bibliotheca dissidentium bzw Band 184 der Bibliotheca bibliographica Aureliana des Koerner-Verlages publiziertes Werk bdquoArtistes dissidents dans lrsquoAllemagne du seiziegraveme siegravecle Lautensack Vogtherr Weiditzldquo an Heinrich Vogtherr der Aumlltere und Hans Weiditz sind dann auch in vorliegendem Band neben Baldung und Heinrich Schlitzohr die im Fokus stehenden bildenden Kuumlnstler wobei Frank Muller jedoch einer uumlbergeordneten Fragestellung folgt Im Gegensatz naumlmlich zu den zahlreichen Publikationen zur Reformation und deren Beziehungen zu den Kuumlnsten wird mit diesem Buch eine monografische Untersuchung der Thematik in nur einer Stadt naumlmlich Straszligburg als einem der wichtigen Zentren der oberrheinischen Reformation vorgelegt Er beschraumlnkt sich ferner auf den seiner Meinung nach zentralen Zeitraum von nur 30 Jahren in dem nach dem Erscheinen der ersten lutherischen Schrif-ten in Straszligburg eine recht schnelle Anpassung an reformatorische Ideen um 1520ndash1522 zu konstatieren sei und sich nach der weiteren Verbreitung des Protestantismus bis um 1550 die Verwendung von druckgrafischen Bildern als Propagandamittel etablierte Nach-dem sich ab 1524 die ersten radikalen ikonoklastischen Gruppierungen (Taumlufer- oder sogar Antitrinitariergruppen) gebildet hatten und darauffolgend die meisten Bilder im oumlffentlichen Straszligburger Kirchenraum zerstoumlrt wurden (S 73ndash95) entstanden vor allem zwischen 1525 und Mitte der 1530er Jahre eine Reihe polemischer dissidenter Holz-schnitte die als Unterstuumltzung reformatorischer Ideen jeglicher Couleur gelesen werden koumlnnen und die der Verfasser daher als bdquoikonoklastische Bilderldquo bezeichnet (S 348) Verbreitung fanden jene durch die Drucker und Verleger der Stadt wie Johann Schott und Johann Pruumlss Johann Knobloch Balthasar Beck oder Jacob Cammerlander und eine ganze Reihe weiterer von denen im Gegensatz zu anderen Druckhochburgen wie Augsburg oder Nuumlrnberg die allermeisten recht enge Verbindungen zu den verschie- denen Dissidentengruppen hatten sich mehr oder weniger offen auf deren Seite stellten und in erster Linie zwischen 1528 und 1534 zahlreiche illustrierte Streitschriften ver- legten

In sechs Kapiteln legt Frank Muller die historische und theoretische Entwicklung sowie die Netzwerke jener groszligen Umwaumllzungen dar und untersucht in weitgehend chro-nologischer Ordnung die identifizierten neuen oder abgeaumlnderten Bildmotive innerhalb der Straszligburger Editionen Dabei versucht er jeweils die konzeptionellen Koumlpfe der begleitenden Texte und ikonografischen Programme auszumachen und schlaumlgt einige Zuschreibungen vor allem fuumlr Hans Weiditz vor wenn diese auch in manchen Faumlllen aufgrund von fehlenden Quellen spekulativ bleiben muumlssen Der Autor attestiert hierbei gerade den namhaften und intellektuellen bildenden Kuumlnstlern wie Weiditz oder Baldung in vielen Faumlllen ein Mitspracherecht und eine groszlige Freiheit in der Bildgestaltung obwohl die Mehrheit der untersuchten Illustrationen in Auftrag gegeben wurden (S 96ndash102)

Innerhalb des ersten Kapitels uumlber die fruumlhesten Propagandabilder (S 11ndash72) fuumlhrt Frank Muller neben Baldungs Holzschnittportraumlts von Martin Luther und Ulrich von Hutten die er in den Vergleich mit einigen unbekannten Kuumlnstlern setzt (S 26ndash72) als

662 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 662

les fumeacutees de vin en parlant de cette sorte sans faire de reacuteflexion sur le peu de moyens qulsquo ils ont drsquoobtenir ce qu igravels deacutesirentldquo franzoumlsische Diplomaten in Ryswick an Ludwig XIV 5 IX 1697 AAE Paris Corr pol Hollande 169) Auch in der Instruktion fuumlr seine Diplomaten in Utrecht vom 30 XII 1711 beurteilt Ludwig die Forderungen der Reichs-staumlnde als bdquovisionsldquo bdquovaines ideacuteesldquo und bdquoabsurditeacutesldquo (Recueil des instructions donneacutees aux Ambassadeurs et Ministres de France Bd XXII Hollande Paris 1923 S 297) Die Vertreter des Reiches unterstuumltzten zwar die Forderungen des Kaisers ihr eigentliches Ziel waren aber finanzielle Entschaumldigungen fuumlr die Kriegsschaumlden Damit ernteten sie nur Hohn und Spott Nach dem Friedensschluss versicherte Ludwig Wilhelm dem fran-zoumlsischen Koumlnig dass er ihm die Verbrennung seines Landes nicht uumlbelnaumlhme an eine Entschaumldigung dachte er schon gar nicht (Ludwig Wilhelm zum franzoumlsischen Gesandten Gergy in Stuttgart bdquoCe prince me parla ensuite des maux que ses Etats avoient souffert pendant la guerre et qursquoil ne croioit pas avoir meacuteriteacute que comme Prince de lrsquoEmpire que quand Votre Majesteacute recommenceroit agrave faire brusler son pays une seconde fois il ne perderoit jamais les sentiments drsquoestime et de respect qursquoil avoit pour Elle que crsquoeacutetoit lagrave la conduite qursquoil avoit toujours tenueldquo Bericht Gergys vom 13 X 1698 AAE Corr Pol Wurtemberg 9)

Susan RICHTER (S 83ndash96) behandelt die Alternative der Neutralisierung d h das alte Thema der bdquoVerschwitzerungldquo der deutschen Grenzgebiete Dabei geht sie auch auf die Haltung der badischen Markgrafen ein Tatsaumlchlich verlieszlig Karl Wilhelm von Baden-Durlach bei seinem Regierungsantritt 1709 die Reichsarmee und legte seinen Rang als Reichsgeneral nieder Allerdings war dies keine politische Entscheidung sondern der Markgraf wurde vom franzoumlsischen Koumlnig massiv unter Druck gesetzt Ludwig drohte mit seiner Inhaftierung falls er seine Stammlande betrete Entsprechend instruierte er seinen Botschafter in der Schweiz Du Luc am 7 X 1709 bdquoLa principale raison que jrsquoavois de refuser au Marquis de Bade Dourlak le passeport qursquoil mrsquoa demandeacute estoit fondeacute sur ce qursquoil servoit actuellement dans les trouppes de mes ennemis au lieu que feu son pegravere agrave qui jrsquoavois accordeacute la mesme grace vivoit retireacute chez lui et sans employ Comme il assure qursquoil ne servira plus et que drsquoailleurs vous croyeacutes qursquoil pouvoit estre utile dans les Diettes du Cercle de Souabe jrsquoay bien voulu luy accorder agrave votre consideacute-ration le passeport que je vous envoie Mais vous luy feacuterez scavoir qursquoil deviendroit inutile si jrsquoapprenois qursquoau preacutejudice de sa parole il vouloit encore exercer les employs qursquoil a parmy mes ennemisldquo (ebd Suisse 195)

Sven EXTERNBRINK kommt in seinem Beitrag zur Rheingrenze (S 153ndash164) zu dem Ergebnis dass diese als politisches Schlagwort erst am Ende des 18 Jahrhunderts fassbar wird Dies trifft nicht zu Die Rheingrenze wurde 1697 festgelegt und sie wurde auch so benannt Bei den Friedensverhandlungen in Ryswick 1697 hatte Ludwig XIV unter dem 20 VII sein Angebot vorgelegt aber in Art 6 alternativ zur Ruumlckgabe Straszligburgs die Ruumlckgabe einiger rechtsrheinischer Festungen angeboten mit der Begruumlndung bdquoafin que les frontiegraveres de la France et de lrsquoEmpire demeurent entiegraverement seacutepareacutees par le Rhinldquo (J Bernard A Moetjens Actes et Meacutemoires des neacutegociations de la Paix de Ryswick AAE Corr Pol Hollande 168) Am 21 VIII aber zog Ludwig sein Angebot der Ruumlckgabe Straszligburgs uumlberraschend zuruumlck und erweiterte sein Angebot der Ruumlckgabe rechtsrhei-nischer Festungen auf alle franzoumlsischen rechtsrheinischen Festungen und Bruumlckenkoumlpfe Diesen Wechsel begruumlndete mit den Worten bdquoMon intention est que deacutesormais le Rhin servit de barriegravere entre mon Royaume et lrsquoEmpireldquo (ebd Hollande 168) Als es um die genaue Festlegung der Rheinlinie ging schrieben ihm seine Diplomaten uumlber die Festung

675Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 675

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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der in Utrecht entschiedenen Teilung der spanischen Erbschaft durch den Kaiser Die einzige Entscheidung die in Rastatt fiel war fuumlr Bayern der Verlust seines Anteils an dieser Erbschaft naumlmlich die Insel Sardinien und die Koumlnigswuumlrde die Max Emanuel noch in Utrecht zugesprochen worden war Bayern wird in dem Sammelband aber nicht behandelt Rastatt steht nur in zwei Beitraumlgen im Mittelpunkt wovon einer ein kunst- historischer ist Auch Frankreich ist nur durch zwei Beitraumlge vertreten Gegenstand des Bandes ist daher vielmehr die suumldwestdeutsche Geschichte zu Beginn des 18 Jahr-hunderts

Der zentrale Beitrag ist ein Artikel von Max PLASSMANN uumlber Ludwig Wilhelm von Baden und die bdquooberrheinische Perspektive auf den europaumlischen Kriegldquo (S 69ndash82) Zwar war Ludwig Wilhelm schon 1707 gestorben aber er war als Oberbefehlshaber der Kreisassoziation von zunaumlchst zwei dann sechs Kreisen der wichtigste Politiker am Oberrhein von 1693 bis 1706 Als solcher verhandelte er nicht nur mit dem Kaiser und Lothar Franz von Schoumlnborn uumlber Buumlndnisse sondern auch mit Wilhelm III Heinsius Ludwig XIV und Max Emanuel von Bayern sowie uumlber die polnische Koumlnigskrone und das antikaiserliche Buumlndnis gegen die neunte Kur Bis heute sind die Plaumlne und Ziele Ludwig Wilhelms in der Forschung umstritten Plassmann waumlhlt die inhaltleerste Erklauml-rung den Ehrgeiz Ludwig Wilhelms

Er uumlbersieht dabei die reichsrechtlichen Moumlglichkeiten und Grenzen der Kreisasso-ziation die eine Weiterentwicklung der bdquoeilenden Hilfeldquo zwischen den Kreisen nach der Reichsexekutionsordnung von 1555 war Entscheidend war dass hier ohne Beteiligung von Kaiser und Reichstag Truppen aufgestellt und eingesetzt werden konnten Dies ermoumlglichte einen Militaumlrbund am Rhein zwischen Holland und der Schweiz mit Straszlig-burg als zentralem Waffenplatz wie er anscheinend erwogen wurde Der Kaiser verhin-derte einen derartigen Machtverlust im Reich alsbald nicht als Kaiser sondern durch seinen Beitritt zur Assoziation als Direktor des inexistenten oumlsterreichischen Kreises Zu-naumlchst hatte der Kaiser 169091 auf das Angebot der Kreise zu erhoumlhter Truppenstellung (Triplum) mit der Zusage reagiert keine weiteren Militaumlrlasten (Winterquartiere Assig-nationen etc) zu fordern Der Einsatz dieser Truppen als eilende Hilfe war defensiv auf das Kreisterritorium beschraumlnkt d h ein Einsatz in Ungarn Oberitalien und Flandern (ebenso 1705 auf das Moseltal) war ausgeschlossen Dem kam die Situation des ober-rheinischen Kriegsschauplatzes entgegen Dieser beschraumlnkte sich seit der Eroberung Philippsburgs 1644 ndash und wenn man will bis 1945 ndash auf den Kraichgau und Wuumlrttemberg bis zur Donau (Einfall ins Reich) Der Schwarzwald war anders als Plassmann annimmt kein Kriegstheater (Ausnahme 170304 das bayrisch-franzoumlsische Buumlndnis) Das badische Rheintal war wie Ludwig Wilhelm spottete die bdquofranzoumlsische Reitschuleldquo d h unter dem Schutz der franzoumlsischen Kanonen zog die franzoumlsische Kavallerie fouragierend durch Baden von Breisach bis Kehl und Philippsburg Schlachten wurden hier nicht geschlagen

Plassmann unterschaumltzt die Rolle Ludwig Wilhelms und uumlberschaumltzt die der kleinen Reichsstaumlnde Die Bedeutung der Kreise als Truppenlieferanten fuumlhrte zwar dazu dass sie Mitglieder der Groszligen Allianz wurden und sogar Gesandte zu den Friedenskongressen schicken konnten aber ihre tatsaumlchliche Rolle war gering Sie wurden fuumlr die Sicherung des Nachschubs gebraucht Sie als Trunkenbolde abzutun wie es die franzoumlsischen Gesandten taten ist wohl etwas uumlbertrieben (bdquohellipcomme la pluspart de ces deacuteputeacutes de lrsquoEmpire sont des docteurs peu instruits des affaires du monde et qui ne se couchent guegrave-res sans estre yvres ils suivent les mouvements de leur humeurs et ceux que leur inspirent

674 Buchbesprechungen

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eines der ersten Beispiele fuumlr propagandistische Grafik das Titelbild fuumlr den bdquoevange- lischen Bauernldquo Karsthans als Prototyp eines Verteidigers lutherischer Ideen an das er unter den Zeichen der sich veraumlndernden ideologischen Deutung vorstellt (S 19ndash26)

Danach folgen im zweiten Kapitel ein historischer und theologischer Uumlberblick uumlber den Straszligburger Ikonoklasmus inklusive der wichtigen Personen wie Wolfgang Capito Martin Bucer Hans Denck oder Melchior Hoffman und die Vorstellung weiterer Bild-motive (S 73ndash148) wobei hier Vogtherrs Illustrationen bdquoMoses zerstoumlrt die Idoleldquo und bdquoHiskia zerstoumlrt die eherne Schlangeldquo von 1529 die offensichtlichsten ikonoklastischen Bilder darstellen (S 142ndash148)

Der nach Frank Muller essentielle Beitrag Straszligburgs zum bdquoIkonoklasmus der Bilderldquo (S 7) ist das Tetragramm das er im dritten Kapitel neben dessen Entwicklung anhand einiger Beispiele bespricht und das so die These als symbolhafte Darstellung der Goumltt-lichkeit die alle Gruppierungen der Anabaptisten verbindende Frage nach der Goumlttlichkeit bzw der Nachfolge Christi und gleichzeitig den tiefgreifenden Einfluss der Denkweise des Judentums konkret der juumldischen Kulturelite Straszligburgs verdeutliche (S 149ndash212) Als entscheidender Beleg dient ein Einblattholzschnitt mit komplexer Ikonografie von 1529 den er Hans Weiditz zuschreibt und in praumlziser Analyse als Reaktion und Art Ge-denkblatt auf die Hinrichtung Ludwig Haumltzers in Konstanz im selben Jahr interpretiert dessen Person und Rolle als einem der ersten Antitrinitarier ein ganzes Unterkapitel gewidmet ist (S 150ndash162)

In einem kurzen vierten Kapitel werden die Bilder und Motive der Straszligburger Taumlu-ferbewegung wie Titelblattillustrationen von Hans Weiditz zu Schriften von Melchior Hoffmann (S 213ndash221) Vogtherrs Holzschnitte zu visionaumlren Bildern von Ursula Jost (S 222ndash237) oder die ungewoumlhnlichen Zeichnungen von Clemens Ziegler im Besitz des Straszligburger Stadtarchivs (S 237ndash244) thematisiert

Abschlieszligend untersucht der Verfasser in den beiden letzten in zwei Zeitphasen auf-geteilten Kapiteln (1523ndash1526 und 1530ndash1546) die teilweise antipapistischen und anti-katholische Bibelillustrationen von Schlitzohr Vogtherr und Weiditz ebenso wie Illustrationen von Vogtherr fuumlr Losbuumlcher und einige Portraumlts unter anderem von Baldung aus den 153040er Jahren welche somit den Bogen zum Beginn des Buches schlagen

Aufgrund der gelungenen Synthese aus historischer theologischer und kunsthistori-scher Betrachtungsweise auf Basis langjaumlhriger intensiver Quellenforschung und Litera-turkenntnis legt Frank Muller mit dem vorliegenden Werk ein erhellendes Kompendium fuumlr die reformatorische Straszligburger Bildproduktion vor Das komplexe Beziehungs- geflecht und die Netzwerke der Druckerzeugnisse sowie die Interpretationen der Motive werden in erzaumlhlerischem Ton teilweise in wiederholenden Passagen praumlsentiert was jedoch angesichts der Komplexitaumlt des Themas der Arbeit keinen Abbruch tut und der eingangs erwaumlhnten erweiterten Kompilation des Buches aus mehreren Texten geschul-det zu sein scheint Leider schraumlnken das Fehlen eines Personen- oder Werkregisters sowie einer adaumlquaten Abbildungsuumlbersicht die Nutzung und Rezeption des Werks etwas ein ndash ein Desiderat bei dem sich auch alle drei bisher erschienenen englischen und fran-zoumlsischen Rezensionen einig sind (Paul-Alexis Mellet 2019 David Krasovec 2019 Ge-nevieve Verdigel 2020) Zudem erschweren die oft schlechte Qualitaumlt bzw Aufloumlsung der 124 Abbildungen dem Leser den schnellen Nachvollzug des visuellen Bestandes ge-rade bei den kleinteiligen Holzschnitten sowie mangelnde Bildangaben und -nachweise die Suche nach besseren Vorlagen

Alexandra C Axtmann

663Fruumlhe Neuzeit

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

(S 380) wurde Die fragile im Zweifel der kaiserlichen Seite zuneigende Neutralitaumlt der Reichsstadt Straszligburg die freilich seit Karl V keinem Kaiser mehr gehuldigt hatte fuumlhrte bekanntlich im Herbst 1681 zu ihrer Annexion nach Drohung der Eroberung durch eine eigens sorgsam organisiert herangefuumlhrte Belagerungsarmee (Kap 9 bdquoLrsquoAnnexion de la Reacutepublique de Strasbourgldquo) gefolgt von einem feierlichen Einzug Ludwigs XIV Die von franzoumlsischer Seite als Zentrum des Elsass begriffene und daher konsequent aber rechtlich nicht gedeckt in die franzoumlsische Souveraumlnitaumlt uumlber diese ndash nunmehr ndash Provinz einzubeziehende Stadt wurde nun zu einem Verwaltungszentrum und zugleich zu einer Hauptfestung ausgebaut gesteuert durch den allen staumldtischen Gremien und Amtstraumlgern nun vorgeschalteten bdquopreacuteteur royalldquo Ulrich Obrecht (S 430) Die neue Provinz (Kap 10 1681ndash1697) konnte sich nun im Zeichen einer bdquotransition deacutelicateldquo erholen nach Art fran-zoumlsischer Geschichtsschreibung ausfuumlhrlich und kundig dargestellt anhand sozial- wirt-schafts- und verkehrsgeschichtlicher Gegebenheiten die auch sonst Beruumlcksichtigung fanden Den kirchlichen Verhaumlltnissen ist parallel Kap 11 gewidmet fuumlr deutsche Leser befremdlich aber zutreffend unter das Schlagwort der Allianz von Thron und Altar ge-stellt Denn auf einen habsburgischen Erzherzog folgten 1682 im Straszligburger Bischofs-amt nacheinander zwei Mitglieder der frankreichhoumlrigen Grafenfamilie Fuumlrstenberg Wilhelm Egons Eidleistung 1687 bereitete verfassungsrechtlich dem Fuumlrstbistum sein Ende und leitete eine im Grunde fuumlr beide Konfessionen im Elsass bis heute noch nicht beendete Zwitterstellung ein die im Widerspruch zur franzoumlsischen Rechtseinheitlichkeit stand und steht Die Lutheraner dagegen wurden in die Enge getrieben durch Konver- sionsdruck vor allem bei Amtstraumlgern die Einfuumlhrung des Simultaneums wo immer sich dafuumlr ein Ansatz bot und die relational bei Weitem nicht gedeckte konfessionell paritauml-tische Aumlmterbesetzung Das letzte Kapitel (1688ndash1698 bdquoDe la guerre de la Ligue drsquoAugs-bourg agrave la paix de Ryswickldquo) kann sich kuumlrzer fassen da das Elsass weitaus weniger betroffen war als die Kurpfalz und mit dem Friedensschluss 1697 (S 556) im Grunde der Gipfel der bdquoEroberungldquo des Elsass durch Ludwig XIV erreicht wurde Zwar wich man machtpolitisch nun wieder hinter die Rheinlinie zuruumlck und etwa Wuumlrttemberg wurde linksrheinisch restituiert aber Straszligburg blieb franzoumlsisch Durch die Ruumlckgabe der Kurpfaumllzer Gebiete im Norden stellte sich fortan die Frage wo das an seinen drei anderen Seiten klar abzugrenzende Elsass im Norden aufhoumlre ob an der Lauter oder an der Queich (S 564) In der Sicht des Sonnenkoumlnigs war vor allem Straszligburg als Bastion des Reichs und zugleich der lutherischen Ketzerei zerstoumlrt

In diesem Werk liegt eine aus der Mitte des eigenen elsaumlssischen historischen Be-wusstseins erwachsene und aus der Fuumllle landesgeschichtlicher Kenntnis nicht nur des Elsass sondern auch der angrenzenden Gebiete schoumlpfende Darstellung eines fuumlr die deutsch-franzoumlsische Geschichte und zugleich fuumlr die suumldwestdeutsche Landesgeschichte wesentlichen Schluumlsselzeitraums vor Niemand der sich mit diesem kuumlnftig auf welcher Ebene auch immer befassen wird sollte es auszliger Acht lassen er wuumlrde dabei einen wesentlichen Erkenntnishorizont ignorieren

Volker Roumldel

Oliver FIEG (Hg) Rastatt 1714 und der Traum vom Frieden (Oberrheinische Studien Bd 39) Ostfildern Thorbecke 2019 222 S Abb EUR 34ndash 978-3-7995-7836-3

Der vorliegende Sammelband umfasst zwoumllf Beitraumlge mehrerer Tagungen aus Anlass des Friedensschlusses vor 300 Jahren Der Friede von Rastatt war keiner der groszligen Friedensschluumlsse die das Europa der Neuzeit praumlgten Er bestand nur in der Annahme

673Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 673

Wolfgang BREUL Kurt ANDERMANN (Hg) Ritterschaft und Reformation (Geschichtliche Landeskunde Bd 75) Stuttgart Steiner 2019 374 S geb EUR 63ndash ISBN 978-3-515-12258-0

Die Erforschung der Geschichte und Lebenswelt von Ritterschaft und Niederadel im Spaumltmittelalter und der Fruumlhen Neuzeit hat in den letzten Jahren groszlige Fortschritte gemacht dies hat auch der lange von der Perspektive der groumlszligeren Territorien und der (Reichs-)Staumldte dominerten Reformationsgeschichtsschreibung neue Impulse gegeben Das Land Rheinland-Pfalz hat dies aufgegriffen indem es im Rahmen der Reforma- tionsdekade das Schicksal des hier besonders populaumlren bdquoletzten Rittersldquo Franz von Sickingen zum Gegenstand einer Sonderausstellung machte die unter dem Titel bdquoRitter Tod Teufel Franz von Sickingen und die Reformationldquo von Mai bis Oktober 2015 im Landesmuseum Mainz gezeigt wurde In einer vorgeschalteten Tagung bdquoRitterschaft und Reformationldquo vom 19 bis 21 Maumlrz 2015 wurde die Perspektive gegenuumlber der im Wesentlichen auf die Landschaften des noumlrdlichen Oberrheins bezogenen Ausstellungs-konzeption erweitert und bdquoin vergleichend landesgeschichtlicher Manier nach der Be-deutung des regionalen Adels fuumlr die Durchsetzung der Reformation in verschiedenen Landschaften des roumlmisch-deutschen Reiches sowie in ausgewaumlhlten europaumlischen Regionen von Daumlnemark uumlber Boumlhmen bis nach Ungarn sowie von Polen bis in den West-alpenraum und nach Frankreichldquo (S 7) gefragt Der vorliegende 18 durchweg fundierte und gut redigierte Aufsaumltze umfassende und durch ein Personen- und Ortsregister (S 355ndash374) erschlossene Band dokumentiert auf hohem wissenschaftlichem Niveau allerdings unter Verzicht auf Abbildungen den reichen Ertrag dieser Tagung Er ist in zwei Themenbereiche gegliedert von denen der eine der Situation der Ritterschaft im Reich am Uumlbergang vom Mittelalter zur Fruumlhen Neuzeit und ihrer Beteiligung an der Re-formation der andere dem Komplex bdquoAdel und Reformationldquo im europaumlischen Kontext gewidmet ist

In den Eingangsbeitraumlgen werden Grundvoraussetzungen und Erscheinungsformen ritteradeliger Herrschaft um 1500 beleuchtet Am Beispiel der Familien Landschad von Steinach und von Sickingen verdeutlicht Stefan KRIEB dass sich in der Memorialpraxis des Niederadels Grablege und Totengedenken zunehmend an einem Ort zentralisierten und die Grablegen protestantisch gewordener Niederadeliger mit dem Funktionsverlust als Staumltten liturgischen Gedenkens zu bdquoMedien der Verbreitung von Heilsgewissheit und zugleich des weltlichen Ruhms der Verstorbenenldquo (S 26) wurden Joachim SCHNEIDER entwickelt eine Typologie der Buumlndnisse in der suumldwestdeutschen Ritterschaft (Gesell-schaften ndash Einungen ndash Ganerbschaften ndash Netzwerke) und geht dabei besonders auf die Ganerbschaften Steinkallenfels und Drachenfels an denen Franz von Sickingen beteiligt war und die unter seiner Fuumlhrung gebildete Landauer Einung von 1522 ein Christine REINLE zeigt auf dass trotz des auf dem Wormser Reichstag von 1495 erlassenen bdquoEwigen Landfriedensldquo das Fehdewesen weiter bluumlhte aber einem Wandel unterworfen war fuumlr den der in der Person Sickingens fassbare bdquoTyp des Fehdeunternehmersldquo (S 80) stand Matthias SCHNETTGER lenkt den Blick auf die Stellung der Ritter zum Roumlmischen Koumlnig bzw Kaiser als Grundlage der Herausbildung der fruumlhneuzeitlichen Reichsritterschaft um anschlieszligend deren Organisation ihr Verhaumlltnis zu den staumlndischen Reichsinstitutio-nen und den expandierenden Territorialstaaten naumlher zu untersuchen Anhand des Brief-wechsels und der Tischreden Martin Luthers zeigt Matthieu ARNOLD auf dass dieser in den entscheidenden Jahren 1520 und 1521 in seinem Kampf gegen das Papsttum auf den Ruumlckhalt und Beistand der Reichsritter von denen neben Sickingen Hartmut(h) von

664 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 664

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

am Krieg (1633ndash1636) Richelieus offenem Kriegseintritt 163536 und der mit den Aktivitaumlten Bernhards von Weimar einsetzenden Endphase (1637ndash1648)

Ungeachtet dessen dass das Elsass seit dem Humanismus ein eigenes Regional- bewusstsein entwickelt hatte blieb es politisch ein im Grunde zerrissener Raum ganz unterschiedlicher Herrschaftsintensivitaumlt zu schweigen vom konfessionellen Zerwuumlrf-nisfaktor Klar wird dass das franzoumlsische Interesse daran in erster Linie einem Durch-brechen der Verbindungslinien der spanischen Weltmacht zwischen Oberitalien und den Niederlanden galt jedenfalls nicht dem weit gesteckten Ziel die Rheingrenze des alten Galliens wieder zu etablieren ndash dies wurde schlieszliglich nur ex eventu als weiterer Effekt thematisiert Die zugrundeliegende geopolitische Konstellation laumlsst sich schon daran ablesen dass Spanien erst 1659 im Pyrenaumlenfrieden auf die ihm 1617 im Ontildeate-Geheim-vertrag mit dem Wiener Hof gemachten Zusagen das Elsass als Verbindungsglied zwi-schen Luxemburg und der Freigrafschaft Burgund seinem Machtbereich einzuverleiben verzichtete (S 29) Dass die sbquoprotection royalelsquo (z B gegenuumlber Reichsstaumldten wie Hagenau S 82) nicht (nur) als Handlungsmuster vonseiten Frankreichs zu begreifen ist wird ersichtlich an der Bitte des Trierer Erzbischofs und Speyer Bischofs Philipp Christoph von Soumltern sein Land (gegen die protestantischen Maumlchte) in Schutz zu nehmen (S 94) worauf die erste franzoumlsische Besetzung von Philippsburg im Herbst 1634 zuruumlckgeht (S 103) Was sich schon bei dem kurzen Territorialstaatsbildungsver-such Bernhards von Weimar (S 116) abzeichnete wurde bei den Friedensverhandlungen (Kap 5 1644ndash1648) manifest als Frankreich dessen Inanspruchnahme aller zuvor habs-burgischen Rechts- und Herrschaftstitel nun auf sich uumlbertragen konnte Die darin ent-haltenen sogar ins Spaumltmittelalter zuruumlckweisenden Unklarheiten ndash erwaumlhnt sei nur die Frage ob der Hagenauer Reichslandvogt uumlber die Staumldte der Dekapolis zu gebieten habe oder ob diese reichsunmittelbar seien (S 173 249) ndash wurden offenbar in den Verhandlungen bewusst in Kauf genommen und im weiteren Verlauf eben durch Frank-reich als der staumlrkeren Macht in seinem Sinn geregelt Eine Zwischenbilanz zieht Kap 6 (1648ndash1672) indem es den vorlaumlufigen staatsrechtlichen Zustand naumlmlich auf den drei Ebenen des Grundbesitzes der Territorialherrschaft und der Souveraumlnitaumlt schildert Nach der Schwaumlchephase der sbquoFrondelsquo war 1654 die Intendanz wahrgenommen durch (den juumlngeren) Colbert (de Croisy S 223) und 1658 der Conseil Souverain (S 205 237) 1674 in Breisach ab 1698 in Colmar gegruumlndet worden beides Instrumente der recht- lichen Anverwandlung an die franzoumlsischen Verfassungsstrukturen Der Hollaumlndische Krieg 1672ndash1679 (Kap 7) bot nebenbei Gelegenheit schwebende Streitfragen gewaltsam zu entscheiden brachte aber vor allem dem Land so groszligen Schaden ndash darunter 1677 die Zerstoumlrung Hagenaus und Weiszligenburgs um sie nicht in die Hand der Kaiserlichen fallen zu lassen (S 326) ndash dass er mit dem 30-jaumlhrigen anderwaumlrts im Reich zu vergleichen sei Auch dank Turennes militaumlrischem Talent (letzte Karte) war Frankreich beim Frie-densschluss 1679 in Nimwegen de facto Herr des Elsass formal ausgenommen nur die Reichsstadt Straszligburg die aber ihre Neutralitaumlt nicht strikt gewahrt hatte Die Erfolgs- bilanz zieht Kap 8 (167980) durch die Beschreibung der Durchsetzung der Souveraumlnitaumlt gegenuumlber der Dekapolis und mittels der Reunionen gegenuumlber den Territorialherren dem unterelsaumlssischen Niederadel und vor allem dem Fuumlrstbistum und Domkapitel Straszlig-burg Auswaumlrts sitzenden deutschen Fuumlrsten blieb fortan nur das dominium utile an ihren elsaumlssischen Besitzungen Das Wesen der Reunionen wird deutlich wenn z B der Mark-graf von Baden wegen der Herrschaft Graumlfenstein vor die Breisacher Reunionskammer zitiert (S 360) oder das wuumlrttembergische Moumlmpelgard als Teil Burgunds reklamiert

672 Buchbesprechungen

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Cronberg hervorgehoben wird zaumlhlen konnte Der Letztgenannte der mit seinen refor-matorischen Flugschriften Luthers Lehre im Zeitraum von 1520 bis 1525 den Weg ebnete steht auch im Mittelpunkt des uumlbernaumlchsten Beitrags von Mathias MUumlLLER Der Mit- herausgeber des Bandes Wolfgang BREUL stellt zuvor die Person Franzrsquo von Sickingen und seine Haltung zur Reformation in den Mittelpunkt und kommt dabei zu dem Ergeb-nis dass es Ansaumltze zu einer fruumlhen aber auch fruumlh gescheiterten ritterschaftlichen Re-formation auch auf der Ebernburg gegeben habe diese aber von einer organisierten bdquoAdelsreformationldquo oder gar einem bdquoAufstand der Reichsritterldquo weit entfernt waren Den Vergleich mit anderen bdquoAdelslandschaftenldquo eroumlffnet Kurt ANDERMANN ebenfalls Mit- herausgeber mit der urspruumlnglichen Heimat der Familie von Sickingen dem rechtsrhei-nischen Kraichgau der bdquounter dem Einfluss seiner Ritterschaft zu einer in groszligen Teilen evangelischen Landschaftldquo (S 161) wurde Am Beispiel der erhalten gebliebenen Schrif-ten von Matthias Wurm und Eckhard zum Druumlbel zeichnet Marc LIENHARD den Weg dieser beiden Vertreter der zahlenmaumlszligig bedeutsamen elsaumlssischen Ritterschaft zur Re-formation nach Berthold JAumlGER zeigt dass sich die Ritterschaft in der Rhoumln unter den Territorialherren dieses Gebiets ndash in erster Linie den Kloumlstern Fulda und Hersfeld dem Bistum Wuumlrzburg und den Grafen von Henneberg ndash eine starke Stellung erlangen und behaupten und beispielsweise im fuldischen Territorium die katholisch gebliebene Landesherrschaft die Zuwendung der dort landsaumlssigen bdquoBuchischen Ritterschaftldquo zur Reformation nicht verhindern konnte Das fuumlr die allgemeine Reformationsgeschichte so bedeutsame Ernestinische Kurfuumlrstentum Sachsen war wie Uwe SCHIRMER darlegt von einem dichten Netz an niederadeligen Grund- und Gerichtsherrschaften uumlberzogen deren Inhaber als Patronatsherren die ersten evangelischen Prediger foumlrderten und schuumltz-ten und mit ihren bdquoBeschwerde-Artikelnldquo auf dem Altenburger Landtag (Staumlndeversamm-lung) vom Mai 1523 den Anstoszlig zu kirchenrechtlichen und letztlich reformatorischen Veraumlnderungen im Herzogtum gaben

In den nachfolgenden Beitraumlgen wird die Perspektive auf den Niederadel in euro- paumlischen Laumlndern teils inner- groumlszligtenteils aber auszligerhalb des Reichsgebiets geweitet Mikkel Leth JESPERSEN zeigt auf dass durch die Umwaumllzungen der Reformationszeit mit dem Adel in Daumlnemark und der Ritterschaft in Schleswig-Holstein zwei soziale Gruppen entstanden die fuumlr ihre Unterstuumltzung der fuumlrstlichen Interessen ndash auch in der Glaubens-frage ndash mit umfangreichen Privilegien belohnt wurden Im Mittelpunkt des Beitrags von Maciej PTASZYNSKI steht seine Einschaumltzung dass die Warschauer Konfoumlderation des polnischen Adels von 1573 die die freie Religionsausuumlbung garantierte und den Pro- testanten Schutz vor Verfolgung sicherte bdquoweder ein Toleranzedikt noch eine Wahlkapi-tulation oder ein Religionsfriedenldquo (S 269) sondern ein temporaumlres Abkommen der Staumlnde war das aber spaumlter von den Koumlnigen immer wieder bestaumltigt die Gestalt eines Adelsprivilegs annahm Auch in den boumlhmischen Laumlndern wo die reformatorische Be-wegung aufgrund der Nachwirkungen der hussitischen Revolution des 15 Jahrhunderts besondere Zuumlge aufwies konnte wie Vaacuteclav BỦŽEK darlegt der Niederadel dank seines Patronatsrechts die neue Lehre vielfach in seinen Herrschaften durchsetzen Im 16 Jahr-hundert erlebte der Protestantismus so Andraacutes KORAacuteNYI in seinem Beitrag zuerst in sei-ner lutherischen ab den 1560er Jahren reformierten und antitrinitarischen Ausformung eine Bluumltezeit in Ungarn wobei die Adeligen unter rasch wechselnden Rahmenbedin-gungen eine herausragende Rolle spielten Arndt SCHREIBER kann nachweisen dass ein selbstbewusster Adel in den inneroumlsterreichischen Erblanden unter Ausnutzung der Tuumlr-kenfurcht und der chronischen Finanzschwaumlche der Habsburger beachtliche freilich

665Fruumlhe Neuzeit

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Waumlhrend sich die Druckorte der evangelischen Predigten uumlber das ganze Reich verteilen lassen sich die katholischen Werke eindeutig im Suumldosten also in dem Raum der houmlchs-ten militaumlrischen Bedrohung lokalisieren

An dieser Stelle kann nicht weiter auf die Analyse einzelner Predigten unterlegt mit zahlreichen aussagekraumlftigen Zitaten eingegangen werden Insgesamt macht die Arbeit uumlberzeugend deutlich wie katholische und lutheranische (kaum reformierte) Prediger die Bedrohung durch das Osmanische Reich als bdquoKampf gegen den Erbfeind der Chris-tenheitldquo deuteten mit theologischen Interpretamenten unterlegten in die jeweilige bdquopraxis pietatisldquo einordneten und somit zum Bestandteil der je eigenen Konfessionskultur machten Dass fuumlr den katholischen Bereich zur Deutung des Gesamtphaumlnomens in besonderer Weise bdquoperformativeldquo Elemente wie Prozessionen oder Wallfahrten (zum Bei-spiel nach dem Sieg in der Seeschlacht von Lepanto 1571) zur Deutung heranzuziehen waumlren versteht sich von selbst Aber dies ist nicht Thema dieser Arbeit

Die sorgfaumlltig redigierte Arbeit schlieszligt mit nuumltzlichen Kurzbiografien der Prediger Orts- Personen- und Sachregister sowie einem Verzeichnis der Bibelstellen

Wolfgang Zimmermann

Jean-Pierre KINTZ La Conquecircte de lrsquoAlsace Le triomphe de Louis XIV diplomate et

guerrier Strasbourg La Nueacutee Bleue Editions du Quotidien 2017 607 S Abb Kt geb EUR 29ndash ISBN 978-2-8099-1509-9

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eines der beiden Werke (vgl ZGO 167 2019 S 442) des renommierten elsaumlssischen Neuzeithistorikers (1932ndash2018) die als sein Vermaumlchtnis gelten koumlnnen Kintz begreift und beschreibt die schrittweise Einverleibung des Elsass und zumal Straszligburgs zwischen 1633 und 1697 in die franzoumlsische Monarchie vor allem als Eroberung durch Ludwig XIV den er im Titel als Diplomat und Krieger bezeichnet wobei freilich die staatsrechtliche Problematik festzumachen am von Ludwig XIV schlieszliglich machtmaumlszligig durchgesetzten Prinzip der souveraineteacute etwas zu kurz kommt Aus umfassender Kenntnis der Verfassungsstrukturen des Koumlnigreichs Frankreich und des Alten Reichs schoumlpfend gelang Kintz eine eindrucksvoll abgewogene Darstel-lung jenes Prozesses dessentwegen die beiden spaumlteren Nationalstaaten dreimal Krieg fuumlhren sollten Der unbestechlich aus den Quellen ndash viele sind in petit in den Text einge-streut ndash geschoumlpften Schilderung der Tatsachen entspricht eine groszlige Vorsicht bei deren Beurteilung die lieber ein Fragezeichen setzt statt mutmaszligliche Beweggruumlnde zu nennen So koumlnnen im Geschichtsbild beider Seiten immer noch bestehende Vorurteile entzerrt und gemildert werden Uumlber der stupenden Kenntnis der Einzelheiten bis hinab in die sozialen und konfessionellen Verhaumlltnisse kleiner Doumlrfer geht der Blick fuumlrs groszlige Ganze aber auch auf die historischen Nachbarlandschaften nie verloren vielmehr liegt ein sehr wertvolles Stuumlck eigentlich europaumlischer Landesgeschichte vor Dass auf einen Anmer-kungsapparat verzichtet wurde versteht sich stattdessen kann auf eine umfangreiche (S 590ndash606) Bibliographie raisonneacutee im Anhang zuruumlckgegriffen werden Dort finden sich auszligerdem Angaben zu Waumlhrungen Maszligen Loumlhnen und Entfernungen 15 wertvolle Karten (nach S 576) fristen mangels Erwaumlhnung im Inhaltsverzeichnis leider ein Schattendasein Ein Prolog und ein Schluss lassen den Reichtum des in zwoumllf Kapiteln Dargestellten wenigstens erahnen Die ersten vier davon sind dem Dreiszligigjaumlhrigen Krieg ndash eigentlich seiner Schilderung fuumlr franzoumlsische Leser ndash (bdquo194 souveraineteacutesldquo S 11) gewidmet naumlmlich seinen Anfaumlngen (bis 1633) der verdeckten Mitwirkung Frankreichs

671Fruumlhe Neuzeit

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wegen der Rekatholisierung ab 1620 nicht dauerhafte konfessionspolitische Erfolge erringen konnte indem ihm 156872 fuumlr seine Familien die freie Entscheidung zwischen Luthertum und Katholizismus und das bdquoius reformandildquo uumlber seine Untertanen zugestan-den wurden Die Niederlassungen der Waldenser im Piemont in der Provence (im Luberon) und in Kalabrien sahen sich so das Fazit von Lothar VOGEL um die Mitte des 16 Jahrhunderts dem normierenden Zugriff der sich konsolidierenden Landesherrschaft ausgesetzt Der renommierte amerikanische Reformationshistoriker Philip BENEDICT wid-met sich im abschlieszligenden englischsprachigen Beitrag der Situation in Frankreich und kann anhand uumlberzeugender Beispiele aus dem lokalen und regionalen Bereich nachwei-sen dass der zahlenmaumlszligig bedeutsame ca 1 bis 2 der Gesamtbevoumllkerung umfassende () Niederadel eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung der hier calvinistisch-presbyterial gepraumlgten reformatorischen Bewegung spielte

Insgesamt gesehen ergibt die vorliegende Bestandsaufnahme der Situation des Nie-deradels im Reformationszeitalter ein vielschichtiges facettenreiches Bild und bietet vielfaumlltige Ansatzpunkte zu weiterfuumlhrenden Arbeiten Den Initiatoren der obengenannten Tagung und Herausgebern des vorliegenden Bandes ist dafuumlr zu danken dass sie die Ge-legenheit des rheinland-pfaumllzischen Sickingen-Gedenkens im Rahmen der Reforma- tionsdekade genutzt haben um die Adels- wie Reformationsforschung fuumlr den engeren oberrheinischen Bereich weiterzubringen ihr aber gleichzeitig eine vergleichende euro-paumlische Dimension zu erschlieszligen

Paul Warmbrunn

Olga WECKENBROCK (Hg) Ritterschaft und Reformation Der niedere Adel im Mittel-europa des 16 und 17 Jahrhunderts (Refo500 Academic Studies (R5AS) Bd 48) Goumlttingen Vandenhoeck amp Ruprecht 2018 248 S geb EUR 90ndash ISBN 978-3-525-57067-8

In Anbetracht des Aufschwungs den in den letzten drei Jahrzehnten die Adelsfor-schung genommen hat ist es nur folgerichtig dass im Kontext des Reformationsjubi- laumlums von 2017 auch der Ritteradel und seine Haltung gegenuumlber dem von Wittenberg ausgehenden das ganze deutsche Reich und weite Teile Europas erschuumltternden Gesche-hen mit Tagungen Ausstellungen und mancherlei Publikationen thematisiert wurde Der hier anzuzeigende Band ist aus einem im Herbst 2014 an der Universitaumlt Osnabruumlck ver-anstalteten Workshop bdquoReformation und Politikldquo hervorgegangen dessen Ziel es war bdquodie politische Wirksamkeit der fruumlhneuzeitlichen Ritterschaften des niederen ndash reichs-unmittelbaren wie auch landsaumlssigen ndash Adels zu untersuchen und aus der Perspektive dieser sozialen Gruppe das Paradigma der Fuumlrstenreformationlsquo kritisch zu beleuchtenldquo sowie erkannte bdquoForschungsluumlcken in den Blick nehmend [] die Forschungen zur Re-formationsgeschichte mit denen der Staumlnde- und Adelsgeschichte zusammenzufuumlhrenldquo Ob freilich wie die Herausgeberin unterstellt in puncto des Engagements fuumlr die Refor-mation tatsaumlchlich von einer traditionellen Uumlberbewertung der Fuumlrsten gegenuumlber dem (Ritter-) Adel die Rede sein kann erscheint zumindest aus suumldwestdeutscher Perspektive zweifelhaft weiszlig man doch in den Landschaften um den noumlrdlichen Oberrhein schon laumlnger um die reformationsgeschichtliche Bedeutung der zu Beginn des 16 Jahrhunderts in ihrer politischen Autonomie bedraumlngten Ritter Von insgesamt zehn hier praumlsentierten Beitraumlgen (einschlieszliglich der Einfuumlhrung) sind sieben regional bezogen werfen den Blick auf Suumldwestdeutschland (Michael BUumlHLER) Thuumlringen (Martin SLADECZEK) Osnabruumlck (Olga WECKENBROCK) Luumlneburg (Wencke HINZ) Schleswig-Holstein (Inken SCHMIDT-

666 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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VOGES) Boumlhmen und Maumlhren (Josef HRIDLIČKA) sowie Franken (Andreas FLURSCHUumlTZ DA CRUZ) Zwar liegen alle diese Laumlnder und Landschaften in Mitteleuropa aber ob damit auch schon die im Untertitel des Buchs geweckte Erwartung eines mitteleuropaumlischen Horizonts erfuumlllt wird erscheint gemessen an dem was man sonst noch zu Mitteleuropa rechnen moumlchte hier indes nicht einmal im Ansatz Beruumlcksichtigung findet doch eher zweifelhaft Unter dem Titel bdquoAdelsgeschichte oder Reformationsgeschichteldquo plaumldiert Alexander JENDORFF einleitend bdquofuumlr einen Perspektivenwechsel in der Bewertung nie-deradeliger Religionshaltungen im Reformationszeitalterldquo in dem Sinn dass das Interesse des Adels an den von Martin Luther vertretenen Lehren nicht bdquoreinldquo religioumls begruumlndet sondern ndash selbstverstaumlndlich ndash vielfach politisch unterlegt oder uumlberlagert war Martin H JUNG handelt von Luthers Aufruf An den christlichen Adellsquo (1520) und seinen Folgen der zentralen theologischen Kampfschrift zur Entmachtung von Papst und Bischoumlfen Seiner abschlieszligenden Feststellung eine Monographie zum Thema Adel und Reformation sei ein Desiderat ist unbedingt beizupflichten Die nur begrenzte Erfuumlllung des in diesem Workshop-Band erhobenen hohen Anspruchs und die nicht geringe qualitative Hetero-genitaumlt der hier versammelten Beitraumlge lassen eine kompetente Zusammenfassung des deutschland- und mitteleuropaweit einschlaumlgig verfuumlgbaren Wissens nur umso wuumln-schenswerter erscheinen Freilich wird man dabei sehr genau darauf achten muumlssen dass es sich bei der bdquoRitterschaftldquo weder im Reich und schon gar nicht daruumlber hinaus um eine einheitliche bdquosoziale Gruppeldquo handelte dass vielmehr Adel sich von Territorium zu Territorium und von Land zu Land in seiner von vielfaumlltigen Bedingungen abhaumlngigen Verfasstheit ganz unterschiedlich definiert(e) und deshalb eine vergleichende Synthese alles andere als leichtfallen duumlrfte

Das vorliegende Buch haumltte indes schon gewonnen wenn ihm ein sorgfaumlltiges Lektorat und eine ebensolche Redaktion zuteil geworden waumlren Bereits in der Einfuumlhrung aus der Feder der Herausgeberin stoumlren aumlrgerlich viele Oberflaumlchlichkeiten und Fehler bdquoder Ritterethosldquo bdquoim reformatorischen Gemengelageldquo Martina bdquoSchattkowskildquo statt Schatt-kowsky bdquoDie Idee fuumlr den Workshop deren Ergebnisse das Sammelband praumlsentiert []ldquo bdquo[] das ausgesprochen komplizierten politische und konfessionelle Vorgaben unterlagldquo bdquosetzt sich mit den Ritterschaften des Kraichgau und Ortenau [] ausein- anderldquo Schade um eine vertane Chance uumlberdies eine Zumutung angesichts des nicht eben geringen Preises

Kurt Andermann

Tilman G MORITZ Autobiographik als ritterschaftliche Selbstverstaumlndigung Ulrich von Hutten Goumltz von Berlichingen Sigmund von Herberstein (Formen der Erinnerung Bd 70) Goumlttingen Vandenhoeck amp Ruprecht 2019 266 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-8471-0975-4

Haumltte es noch des Beweises bedurft dass die Qualitaumlt einer Dissertation sich nicht nach ihrem Umfang bemisst waumlre er hier erbracht Die von Johannes Suumlszligmann in Pa-derborn betreute Arbeit ist ebenso klar strukturiert wie diszipliniert umsichtig und klug argumentierend durchgefuumlhrt was ndash wen mag es wundern ndash mit einem sehr hohen sprachlichen Niveau korrespondiert Anhand dreier exemplarisch ausgewaumlhlter autobio-graphischer Texte ritteradliger Provenienz verfolgt sie das Ziel diese bdquoals je indivi- duellen persoumlnlichen Zugriff auf Probleme und Herausforderungen von Adligkeitlsquoldquo zu interpretieren einer Adligkeit bdquodie so die Annahme von den Adligen stets aufs Neue erkaumlmpft und behauptet werden mussldquo Gegenstand der Untersuchung sind Ulrich von

667Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 667

hin untersucht Damaris Grimmsmann ergaumlnzt diese Fragestellung um die Frage wie die Konfessionskirchen diese Gefahr deuteten Papst Calixt III hatte bereits nach dem Fall von Konstantinopel das Laumluten des bdquoTuumlrkenglockeldquo eingefuumlhrt die taumlglich zum Gebet aufrufen sollte und noch heute in veraumlnderter Form als 12-Uhr-(Angelus)-Laumluten gebraumluchlich ist Diese Praxis wurde auch in und nach der Reformation beibehalten in den Ordnungen der jungen evangelischen Landeskirchen aber durch weitere liturgische Formen erweitert Die inzwischen neu edierten Texte in den bdquoEvangelischen Kirchen-ordnungenldquo bieten hier reiches Material auch fuumlr die Kurpfalz oder Hohenlohe Die liturgischen Formen der Katholiken bleiben daneben in der Darstellung etwas blass Die Hausandacht wird zu Recht von der Autorin als protestantisches Proprium hervor-gehoben Gedruckte thematische Gebetbuumlcher standen dazu in vielfaumlltiger Weise zur Verfuumlgung

Auf der Basis der gedruckten Tuumlrkenpredigten kann Grimmsmann nachzeichnen dass sich evangelische Theologen ndash im Gegensatz zu katholischen Predigern ndash einen Grund-bestand an Wissen uumlber die bdquoTuumlrkenldquo und den Islam aneigneten Die Kommentare zu den biblischen Buumlchern Reiseberichte aber auch die ersten Uumlbersetzungen des Koran ins Lateinische bildeten hier neben Kosmographien eine wichtige Grundlage (Kapitel 2 S 78ndash119) Letztlich ging es den evangelischen Autoren jedoch immer darum den Glaumlu-bigen die theologische Grunddeutung nahezubringen Die bdquoTuumlrkengefahrldquo war durch den Zorn Gottes uumlber das unchristliche Leben der Menschen ausgeloumlst worden auf den die Glaumlubigen durch Buszlige und Gebet zu antworten haumltten

Fuumlr die lutheranischen Prediger blieben auf lange Zeit die Schriften des Reformators bestimmend In seiner bdquoHeerpredigt wider die Tuumlrkenldquo (1529) hatte Luther die alttesta-mentarische Weissagung des Fuumlrsten Gog aus dem Lande Magog (Ez 38 f) mit klar apo-kalyptischer Zielrichtung auf die Gefahr durch die Tuumlrken ausgelegt Der uumlberwaumlltigende Teil der Prediger waumlhlte ebenfalls diese Schriftstelle als Grundlage fuumlr ihre Auslegung Dies war deshalb moumlglich weil Tuumlrkenpredigten zumeist auszligerhalb des Perikopenzwangs in speziellen Gottesdiensten gehalten wurden Zielgruppe der gedruckten Predigten waren nicht nur Pfarrer (als Vorlage fuumlr deren Verkuumlndigung) sondern auch Glaumlubige Wie ins-gesamt bei den gedruckten evangelischen Predigten finden sich nicht nur Universitaumlts-theologen sondern auch Pfarrer unter den Autoren Theologisch deuteten die Prediger ndash ganz in der Tradition der evangelischen Buszligtheologie ndash die Tuumlrken als Geiszligel Gottes fuumlr das suumlndhafte Leben der Glaumlubigen Die apokalyptische Grundausrichtung der Pre-digten korrespondierte mit konfessioneller Polemik Die Papstkirche wird gern mit dem bdquoErbfeind der Christenheitldquo in eins gesetzt Katholiken somit bdquotuumlrkisiertldquo

Katholische Predigten gegen den bdquoErbfeindldquo die von prominenten Theologen wie dem Franziskaner und Innsbrucker Hofprediger Friedrich NasNausea dem Ingolstaumldter Pro-fessor Johannes Eck oder dem Konstanzer Generalvikar und Wiener Bischof Johann Fabri gehalten und in Druck gegeben wurden bevorzugten einen anderen Text aus dem Alten Testament (wenn sie denn uumlberhaupt in ihren Predigten von einer Bibelstelle ausgingen) Im zweiten Buch der Chroniken (Kapitel 32 7 f) wird von der Belagerung Jerusalems durch den assyrischen Koumlnig Sanherib berichtet damit ist bereits der Grundtenor der Predigten vorgegeben bdquoDer Krieg mit den Tuumlrken war zwar eine Gottesstrafe er musste jedoch in der Welt ausgefochten werdenldquo (S 248) ohne jedoch mit dem theologischen Pathos eines bdquoheiligen Kriegesldquo (bdquobellum sacrumldquo) apostrophiert zu werden Endzeitlich wurde die Tuumlrkengefahr im Gegensatz zu den lutheranischen Predigten nicht gedeutet Der Appell an die Einheit der Christenheit war ein deutlicher Stoszlig gegen die Reformation

670 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 670

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Huttens (dagger1523) Epistolalsquo Goumltz von Berlichingens (dagger1562) Lebensbeschreibung und Sigmund von Herbersteins (dagger1566) Raittung und antzaigenlsquo Alle drei Protagonisten zwei von ihnen in Franken der dritte im Suumldosten Oumlsterreichs beheimatet gehoumlrten der-selben zwischen 1480 und 1490 geborenen Alterskohorte an und waren mithin Zeit- genossen eines sich seit der Wende des 15 Jahrhunderts vollziehenden sowohl das Selbstverstaumlndnis des Ritteradels als auch seine politische Existenz massiv bedraumlngenden Verfassungswandels Die Herangehensweise folgt in allen drei Faumlllen demselben Muster Zuerst wird nach dem Entstehungsanlass gefragt dann nach dem bdquoMaterialldquo (Materialitaumlt Medialitaumlt formale Zuschreibungen) beziehungsweise der Uumlberlieferung nach dem Gegenstand der Darstellung nach ihrer Perspektive und schlieszliglich nach ihrer Pragmatik respektive ihrem Zweck Man ist fasziniert wie der Autor es versteht die derart gewon-nenen Erkenntnisse miteinander zu verweben und so zu mitunter verbluumlffenden Einsich-ten zu gelangen

Die mit ihrer Passage uumlber das Leben auf den Burgen des Adels vielzitierte Epistolalsquo Ulrich von Huttens eines vergleichsweise noch jungen Mannes decouvriert Moritz als bdquorhetorische Uumlbungldquo im Stil des Humanismus als Ausdruck einer bdquoLebenskriseldquo und bdquoBewaumlhrungsprobeldquo erwachsen aus dem Beduumlrfnis sowohl vor der gelehrten Welt als auch vor dem eigenen Stand zu renommieren und sich da wie dort zu positionieren bdquoDer Korrespondent Willibald Pirckheimer ist deshalb auch kaum als einziger oder auch nur vorrangiger Adressat anzusehen sondern fungiert eher als eine Art Resonanzkoumlrperldquo Etwas anders liegen die Dinge im Fall Sigmund von Herbersteins und seiner Raittung und antzaigenlsquo Hier naumlmlich bilanziert ein alter gebildeter und weitgereister Mann der von einem Standesgenossen einst als Schwaumltzer und bdquoPolsterritterldquo verhoumlhnt wurde was er in einem halben Jahrhundert erlebt und geleistet hat wie er sich im Fuumlrstendienst und in vielerlei anderen Situationen bewaumlhrte Er vergewissert sich seiner selbst in der Ab-sicht die Leser aus seiner Nachkommenschaft und der herbersteinischen Familie ins- gesamt zu belehren ihnen Orientierung fuumlr ihr eigenes Handeln zu geben bdquoIm Grunde arbeitet der Autor an der eigenen Unsterblichkeitldquo

Mit besonderem Interesse las ich aufgrund eigener langjaumlhriger Beschaumlftigung die Aus-fuumlhrungen zum bdquoTatenberichtldquo Goumltz von Berlichingens Diesen haumllt Moritz aufgrund einer houmlchst subtilen Analyse des Texts und seiner Uumlberlieferung nicht wie bislang stets angenommen fuumlr ein von Goumltz zu seinen Lebzeiten selbst diktiertes Werk Vielmehr kommt er zu dem sehr uumlberzeugenden Schluss es handle sich um ein erst zwischen 1562 und 1567 also unmittelbar nach Goumltzens Tod entstandenes bdquoMedium politischer Posi-tionierungldquo das wohl auf einer von Goumltz selbst hinterlassenen Vorlage beruht dann aber von einem literarisch und rhetorisch gebildeten Autor nach allen Regeln der Kunst stili-sierend und verklaumlrend uumlberarbeitet wurde Die Adressaten der Schrift waumlren demnach ndash wie schon bisher erkannt ndash in einer bdquosuumldwestdeutsch elitaumlren Lesergemeinschaftldquo zu suchen genauer in der Kraichgauer und Odenwaumllder Ritterschaft sowie in den quasi- adligen Funktionseliten der freien Reichsstadt Heilbronn und die groszlige Zahl annaumlhernd zeitgenoumlssischer Abschriften zeugt davon dass die intendierte Wirkung auch tatsaumlchlich erreicht wurde Mag solche Erkenntnis auf den ersten Blick irritieren so macht sie auf den zweiten Blick das Werk und seine Hauptperson doch nur noch interessanter Wenn naumlmlich Goumltz sogleich nach seinem Tod als Projektionsflaumlche fuumlr ritterliche Tugenden und adliges Standesbewusstsein zu dienen vermochte muss er schon zu Lebzeiten unter den Zeitgenossen als Vorkaumlmpfer fuumlr die Belange des Ritteradels wahrgenommen worden sein und als solcher ein hohes Ansehen genossen haben Die Entstehung der Schrift geraumlt

668 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 668

damit in den weiteren Kontext der Adelskrise der 1560er Jahre und der Grumbachlsquoschen Haumlndel Dabei dient die Lebensbeschreibung mit der Ruumlckbesinnung auf alte dem recht-schaffenen Goumltz zugeschriebene traditionell-ritterliche Tugenden die mit zeitgenoumlssi-scher fuumlrstlicher Machtpolitik und Verschlagenheit kontrastieren der reichsritterschaft- lichen Selbstvergewisserung Vermutlich spielten da im Hintergrund sogar eigene nega-tive Erfahrungen der Berlichingen in ihrer Herrschaft Hornberg mit denn in Neckarzim-mern befeuerte der unmittelbar benachbarte kurpfaumllzische Hegemon just um dieselbe Zeit Untertanenkonflikte um die auf der stolzen Burg uumlber dem Neckar gesessenen laumlstigen Reichsritter der pfaumllzischen Landesherrschaft zu unterwerfen

In allen drei Faumlllen entspringt die ritteradlige Autobiographik krisenhaften Konstella-tionen sei es persoumlnlicher sei es bdquopolitischerldquo Art sie erwaumlchst bdquonicht aus der Mitte der Ritterschaft sondern [] an ihren Raumlndernldquo denn bdquodie Pflicht sich zu erklaumlren liegt ganz bei den Auszligenseitern denen die an den Rand gedraumlngt sindldquo Und daraus wiederum ergibt sich die Frage inwieweit ritteradlige Autobiographen bdquouumlberhaupt als typischelsquo Vertreter ihres Standes anzusehen sindldquo Wer solche spannenden Fragen weiterverfolgen will findet im Anhang ein Verzeichnis von nicht weniger als 63 autobiographischen Tex-ten ritteradliger Herkunft vom ausgehenden 15 bis zum Ende des 16 Jahrhunderts samt dem Nachweis ihrer Editionen und Lagerorte in Archiven und Bibliotheken im ganzen deutschen Sprachraum und daruumlber hinaus Ein Register hat dieses Buch nicht braucht es auch nicht denn es will und kann nur Satz fuumlr Satz gelesen werden

Kurt Andermann

Damaris GRIMMSMANN Krieg mit dem Wort Tuumlrkenpredigten des 16 Jahrhunderts im Alten Reich (Arbeiten zur Kirchengeschichte Bd 131) Berlin Boston De Gruyter 2016 XII 317 S geb EUR 10995 ISBN 978-3-11-042785-1

Mit der Expansion des Osmanischen Reiches nach Suumldosteuropa breitete sich seit dem Spaumltmittelalter die bdquoTuumlrkenfurchtldquo im Heiligen Roumlmischen Reich aus Die Einnahme von Konstantinopel (1453) die traumatische Niederlage der Ungarn in der Schlacht von Mohaacutecs (1526) die erste Belagerung Wiens (1529) oder der Fall von Ofen (1541) wurden publizistisch schnell verbreitet aber auch theologisch reflektiert Dem Medium der Pre-digt kam dabei im Zeitalter von Reformation und beginnender Konfessionalisierung eine besondere Bedeutung zu

In der vorliegenden Arbeit einer in Goumlttingen bei dem Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann 2014 vorgelegten theologischen Dissertation geht Damaris Grimmsmann der Frage nach in welcher Weise Theologen aller Konfessionen im Medium der Predigt die Bedrohung durch das Osmanische Reich die bdquoTuumlrkengefahrldquo aufgriffen mit welchen theologischen Erklaumlrungsmustern sie das Phaumlnomen zu deuten versuchten und welche Handlungsanweisungen fuumlr die Glaumlubigen sie daraus ableiteten Zeitlich setzt die Unter-suchung um 1526 ein als sich Martin Luther und Johannes Brenz erstmals dem Thema widmeten Das Ende des bdquolangen Tuumlrkenkriegsldquo 1606 bildet den Schlusspunkt wohl weniger aus inhaltlichen Gruumlnden sondern eher der Arbeitsoumlkonomie geschuldet erreichte doch das Genre der Tuumlrkenpredigt in der zweiten Belagerung Wiens 1683 seinen barocken Houmlhepunkt

Die Bedrohung des Heiligen Roumlmischen Reichs durch die Osmanen war staumlndig Thema auf den Reichstagen des 16 Jahrhunderts (Kapitel 1 S 22ndash77) Dies wurde bereits von Winfried Schulze in seiner grundlegenden Arbeit bdquoReich und Tuumlrkengefahr im spaumlten 16 Jahrhundertldquo (1978) umfassend dargestellt und auf seine politischen Implikationen

669Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 669

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

damit in den weiteren Kontext der Adelskrise der 1560er Jahre und der Grumbachlsquoschen Haumlndel Dabei dient die Lebensbeschreibung mit der Ruumlckbesinnung auf alte dem recht-schaffenen Goumltz zugeschriebene traditionell-ritterliche Tugenden die mit zeitgenoumlssi-scher fuumlrstlicher Machtpolitik und Verschlagenheit kontrastieren der reichsritterschaft- lichen Selbstvergewisserung Vermutlich spielten da im Hintergrund sogar eigene nega-tive Erfahrungen der Berlichingen in ihrer Herrschaft Hornberg mit denn in Neckarzim-mern befeuerte der unmittelbar benachbarte kurpfaumllzische Hegemon just um dieselbe Zeit Untertanenkonflikte um die auf der stolzen Burg uumlber dem Neckar gesessenen laumlstigen Reichsritter der pfaumllzischen Landesherrschaft zu unterwerfen

In allen drei Faumlllen entspringt die ritteradlige Autobiographik krisenhaften Konstella-tionen sei es persoumlnlicher sei es bdquopolitischerldquo Art sie erwaumlchst bdquonicht aus der Mitte der Ritterschaft sondern [] an ihren Raumlndernldquo denn bdquodie Pflicht sich zu erklaumlren liegt ganz bei den Auszligenseitern denen die an den Rand gedraumlngt sindldquo Und daraus wiederum ergibt sich die Frage inwieweit ritteradlige Autobiographen bdquouumlberhaupt als typischelsquo Vertreter ihres Standes anzusehen sindldquo Wer solche spannenden Fragen weiterverfolgen will findet im Anhang ein Verzeichnis von nicht weniger als 63 autobiographischen Tex-ten ritteradliger Herkunft vom ausgehenden 15 bis zum Ende des 16 Jahrhunderts samt dem Nachweis ihrer Editionen und Lagerorte in Archiven und Bibliotheken im ganzen deutschen Sprachraum und daruumlber hinaus Ein Register hat dieses Buch nicht braucht es auch nicht denn es will und kann nur Satz fuumlr Satz gelesen werden

Kurt Andermann

Damaris GRIMMSMANN Krieg mit dem Wort Tuumlrkenpredigten des 16 Jahrhunderts im Alten Reich (Arbeiten zur Kirchengeschichte Bd 131) Berlin Boston De Gruyter 2016 XII 317 S geb EUR 10995 ISBN 978-3-11-042785-1

Mit der Expansion des Osmanischen Reiches nach Suumldosteuropa breitete sich seit dem Spaumltmittelalter die bdquoTuumlrkenfurchtldquo im Heiligen Roumlmischen Reich aus Die Einnahme von Konstantinopel (1453) die traumatische Niederlage der Ungarn in der Schlacht von Mohaacutecs (1526) die erste Belagerung Wiens (1529) oder der Fall von Ofen (1541) wurden publizistisch schnell verbreitet aber auch theologisch reflektiert Dem Medium der Pre-digt kam dabei im Zeitalter von Reformation und beginnender Konfessionalisierung eine besondere Bedeutung zu

In der vorliegenden Arbeit einer in Goumlttingen bei dem Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann 2014 vorgelegten theologischen Dissertation geht Damaris Grimmsmann der Frage nach in welcher Weise Theologen aller Konfessionen im Medium der Predigt die Bedrohung durch das Osmanische Reich die bdquoTuumlrkengefahrldquo aufgriffen mit welchen theologischen Erklaumlrungsmustern sie das Phaumlnomen zu deuten versuchten und welche Handlungsanweisungen fuumlr die Glaumlubigen sie daraus ableiteten Zeitlich setzt die Unter-suchung um 1526 ein als sich Martin Luther und Johannes Brenz erstmals dem Thema widmeten Das Ende des bdquolangen Tuumlrkenkriegsldquo 1606 bildet den Schlusspunkt wohl weniger aus inhaltlichen Gruumlnden sondern eher der Arbeitsoumlkonomie geschuldet erreichte doch das Genre der Tuumlrkenpredigt in der zweiten Belagerung Wiens 1683 seinen barocken Houmlhepunkt

Die Bedrohung des Heiligen Roumlmischen Reichs durch die Osmanen war staumlndig Thema auf den Reichstagen des 16 Jahrhunderts (Kapitel 1 S 22ndash77) Dies wurde bereits von Winfried Schulze in seiner grundlegenden Arbeit bdquoReich und Tuumlrkengefahr im spaumlten 16 Jahrhundertldquo (1978) umfassend dargestellt und auf seine politischen Implikationen

669Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 669

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

hin untersucht Damaris Grimmsmann ergaumlnzt diese Fragestellung um die Frage wie die Konfessionskirchen diese Gefahr deuteten Papst Calixt III hatte bereits nach dem Fall von Konstantinopel das Laumluten des bdquoTuumlrkenglockeldquo eingefuumlhrt die taumlglich zum Gebet aufrufen sollte und noch heute in veraumlnderter Form als 12-Uhr-(Angelus)-Laumluten gebraumluchlich ist Diese Praxis wurde auch in und nach der Reformation beibehalten in den Ordnungen der jungen evangelischen Landeskirchen aber durch weitere liturgische Formen erweitert Die inzwischen neu edierten Texte in den bdquoEvangelischen Kirchen-ordnungenldquo bieten hier reiches Material auch fuumlr die Kurpfalz oder Hohenlohe Die liturgischen Formen der Katholiken bleiben daneben in der Darstellung etwas blass Die Hausandacht wird zu Recht von der Autorin als protestantisches Proprium hervor-gehoben Gedruckte thematische Gebetbuumlcher standen dazu in vielfaumlltiger Weise zur Verfuumlgung

Auf der Basis der gedruckten Tuumlrkenpredigten kann Grimmsmann nachzeichnen dass sich evangelische Theologen ndash im Gegensatz zu katholischen Predigern ndash einen Grund-bestand an Wissen uumlber die bdquoTuumlrkenldquo und den Islam aneigneten Die Kommentare zu den biblischen Buumlchern Reiseberichte aber auch die ersten Uumlbersetzungen des Koran ins Lateinische bildeten hier neben Kosmographien eine wichtige Grundlage (Kapitel 2 S 78ndash119) Letztlich ging es den evangelischen Autoren jedoch immer darum den Glaumlu-bigen die theologische Grunddeutung nahezubringen Die bdquoTuumlrkengefahrldquo war durch den Zorn Gottes uumlber das unchristliche Leben der Menschen ausgeloumlst worden auf den die Glaumlubigen durch Buszlige und Gebet zu antworten haumltten

Fuumlr die lutheranischen Prediger blieben auf lange Zeit die Schriften des Reformators bestimmend In seiner bdquoHeerpredigt wider die Tuumlrkenldquo (1529) hatte Luther die alttesta-mentarische Weissagung des Fuumlrsten Gog aus dem Lande Magog (Ez 38 f) mit klar apo-kalyptischer Zielrichtung auf die Gefahr durch die Tuumlrken ausgelegt Der uumlberwaumlltigende Teil der Prediger waumlhlte ebenfalls diese Schriftstelle als Grundlage fuumlr ihre Auslegung Dies war deshalb moumlglich weil Tuumlrkenpredigten zumeist auszligerhalb des Perikopenzwangs in speziellen Gottesdiensten gehalten wurden Zielgruppe der gedruckten Predigten waren nicht nur Pfarrer (als Vorlage fuumlr deren Verkuumlndigung) sondern auch Glaumlubige Wie ins-gesamt bei den gedruckten evangelischen Predigten finden sich nicht nur Universitaumlts-theologen sondern auch Pfarrer unter den Autoren Theologisch deuteten die Prediger ndash ganz in der Tradition der evangelischen Buszligtheologie ndash die Tuumlrken als Geiszligel Gottes fuumlr das suumlndhafte Leben der Glaumlubigen Die apokalyptische Grundausrichtung der Pre-digten korrespondierte mit konfessioneller Polemik Die Papstkirche wird gern mit dem bdquoErbfeind der Christenheitldquo in eins gesetzt Katholiken somit bdquotuumlrkisiertldquo

Katholische Predigten gegen den bdquoErbfeindldquo die von prominenten Theologen wie dem Franziskaner und Innsbrucker Hofprediger Friedrich NasNausea dem Ingolstaumldter Pro-fessor Johannes Eck oder dem Konstanzer Generalvikar und Wiener Bischof Johann Fabri gehalten und in Druck gegeben wurden bevorzugten einen anderen Text aus dem Alten Testament (wenn sie denn uumlberhaupt in ihren Predigten von einer Bibelstelle ausgingen) Im zweiten Buch der Chroniken (Kapitel 32 7 f) wird von der Belagerung Jerusalems durch den assyrischen Koumlnig Sanherib berichtet damit ist bereits der Grundtenor der Predigten vorgegeben bdquoDer Krieg mit den Tuumlrken war zwar eine Gottesstrafe er musste jedoch in der Welt ausgefochten werdenldquo (S 248) ohne jedoch mit dem theologischen Pathos eines bdquoheiligen Kriegesldquo (bdquobellum sacrumldquo) apostrophiert zu werden Endzeitlich wurde die Tuumlrkengefahr im Gegensatz zu den lutheranischen Predigten nicht gedeutet Der Appell an die Einheit der Christenheit war ein deutlicher Stoszlig gegen die Reformation

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Waumlhrend sich die Druckorte der evangelischen Predigten uumlber das ganze Reich verteilen lassen sich die katholischen Werke eindeutig im Suumldosten also in dem Raum der houmlchs-ten militaumlrischen Bedrohung lokalisieren

An dieser Stelle kann nicht weiter auf die Analyse einzelner Predigten unterlegt mit zahlreichen aussagekraumlftigen Zitaten eingegangen werden Insgesamt macht die Arbeit uumlberzeugend deutlich wie katholische und lutheranische (kaum reformierte) Prediger die Bedrohung durch das Osmanische Reich als bdquoKampf gegen den Erbfeind der Chris-tenheitldquo deuteten mit theologischen Interpretamenten unterlegten in die jeweilige bdquopraxis pietatisldquo einordneten und somit zum Bestandteil der je eigenen Konfessionskultur machten Dass fuumlr den katholischen Bereich zur Deutung des Gesamtphaumlnomens in besonderer Weise bdquoperformativeldquo Elemente wie Prozessionen oder Wallfahrten (zum Bei-spiel nach dem Sieg in der Seeschlacht von Lepanto 1571) zur Deutung heranzuziehen waumlren versteht sich von selbst Aber dies ist nicht Thema dieser Arbeit

Die sorgfaumlltig redigierte Arbeit schlieszligt mit nuumltzlichen Kurzbiografien der Prediger Orts- Personen- und Sachregister sowie einem Verzeichnis der Bibelstellen

Wolfgang Zimmermann

Jean-Pierre KINTZ La Conquecircte de lrsquoAlsace Le triomphe de Louis XIV diplomate et

guerrier Strasbourg La Nueacutee Bleue Editions du Quotidien 2017 607 S Abb Kt geb EUR 29ndash ISBN 978-2-8099-1509-9

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eines der beiden Werke (vgl ZGO 167 2019 S 442) des renommierten elsaumlssischen Neuzeithistorikers (1932ndash2018) die als sein Vermaumlchtnis gelten koumlnnen Kintz begreift und beschreibt die schrittweise Einverleibung des Elsass und zumal Straszligburgs zwischen 1633 und 1697 in die franzoumlsische Monarchie vor allem als Eroberung durch Ludwig XIV den er im Titel als Diplomat und Krieger bezeichnet wobei freilich die staatsrechtliche Problematik festzumachen am von Ludwig XIV schlieszliglich machtmaumlszligig durchgesetzten Prinzip der souveraineteacute etwas zu kurz kommt Aus umfassender Kenntnis der Verfassungsstrukturen des Koumlnigreichs Frankreich und des Alten Reichs schoumlpfend gelang Kintz eine eindrucksvoll abgewogene Darstel-lung jenes Prozesses dessentwegen die beiden spaumlteren Nationalstaaten dreimal Krieg fuumlhren sollten Der unbestechlich aus den Quellen ndash viele sind in petit in den Text einge-streut ndash geschoumlpften Schilderung der Tatsachen entspricht eine groszlige Vorsicht bei deren Beurteilung die lieber ein Fragezeichen setzt statt mutmaszligliche Beweggruumlnde zu nennen So koumlnnen im Geschichtsbild beider Seiten immer noch bestehende Vorurteile entzerrt und gemildert werden Uumlber der stupenden Kenntnis der Einzelheiten bis hinab in die sozialen und konfessionellen Verhaumlltnisse kleiner Doumlrfer geht der Blick fuumlrs groszlige Ganze aber auch auf die historischen Nachbarlandschaften nie verloren vielmehr liegt ein sehr wertvolles Stuumlck eigentlich europaumlischer Landesgeschichte vor Dass auf einen Anmer-kungsapparat verzichtet wurde versteht sich stattdessen kann auf eine umfangreiche (S 590ndash606) Bibliographie raisonneacutee im Anhang zuruumlckgegriffen werden Dort finden sich auszligerdem Angaben zu Waumlhrungen Maszligen Loumlhnen und Entfernungen 15 wertvolle Karten (nach S 576) fristen mangels Erwaumlhnung im Inhaltsverzeichnis leider ein Schattendasein Ein Prolog und ein Schluss lassen den Reichtum des in zwoumllf Kapiteln Dargestellten wenigstens erahnen Die ersten vier davon sind dem Dreiszligigjaumlhrigen Krieg ndash eigentlich seiner Schilderung fuumlr franzoumlsische Leser ndash (bdquo194 souveraineteacutesldquo S 11) gewidmet naumlmlich seinen Anfaumlngen (bis 1633) der verdeckten Mitwirkung Frankreichs

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

am Krieg (1633ndash1636) Richelieus offenem Kriegseintritt 163536 und der mit den Aktivitaumlten Bernhards von Weimar einsetzenden Endphase (1637ndash1648)

Ungeachtet dessen dass das Elsass seit dem Humanismus ein eigenes Regional- bewusstsein entwickelt hatte blieb es politisch ein im Grunde zerrissener Raum ganz unterschiedlicher Herrschaftsintensivitaumlt zu schweigen vom konfessionellen Zerwuumlrf-nisfaktor Klar wird dass das franzoumlsische Interesse daran in erster Linie einem Durch-brechen der Verbindungslinien der spanischen Weltmacht zwischen Oberitalien und den Niederlanden galt jedenfalls nicht dem weit gesteckten Ziel die Rheingrenze des alten Galliens wieder zu etablieren ndash dies wurde schlieszliglich nur ex eventu als weiterer Effekt thematisiert Die zugrundeliegende geopolitische Konstellation laumlsst sich schon daran ablesen dass Spanien erst 1659 im Pyrenaumlenfrieden auf die ihm 1617 im Ontildeate-Geheim-vertrag mit dem Wiener Hof gemachten Zusagen das Elsass als Verbindungsglied zwi-schen Luxemburg und der Freigrafschaft Burgund seinem Machtbereich einzuverleiben verzichtete (S 29) Dass die sbquoprotection royalelsquo (z B gegenuumlber Reichsstaumldten wie Hagenau S 82) nicht (nur) als Handlungsmuster vonseiten Frankreichs zu begreifen ist wird ersichtlich an der Bitte des Trierer Erzbischofs und Speyer Bischofs Philipp Christoph von Soumltern sein Land (gegen die protestantischen Maumlchte) in Schutz zu nehmen (S 94) worauf die erste franzoumlsische Besetzung von Philippsburg im Herbst 1634 zuruumlckgeht (S 103) Was sich schon bei dem kurzen Territorialstaatsbildungsver-such Bernhards von Weimar (S 116) abzeichnete wurde bei den Friedensverhandlungen (Kap 5 1644ndash1648) manifest als Frankreich dessen Inanspruchnahme aller zuvor habs-burgischen Rechts- und Herrschaftstitel nun auf sich uumlbertragen konnte Die darin ent-haltenen sogar ins Spaumltmittelalter zuruumlckweisenden Unklarheiten ndash erwaumlhnt sei nur die Frage ob der Hagenauer Reichslandvogt uumlber die Staumldte der Dekapolis zu gebieten habe oder ob diese reichsunmittelbar seien (S 173 249) ndash wurden offenbar in den Verhandlungen bewusst in Kauf genommen und im weiteren Verlauf eben durch Frank-reich als der staumlrkeren Macht in seinem Sinn geregelt Eine Zwischenbilanz zieht Kap 6 (1648ndash1672) indem es den vorlaumlufigen staatsrechtlichen Zustand naumlmlich auf den drei Ebenen des Grundbesitzes der Territorialherrschaft und der Souveraumlnitaumlt schildert Nach der Schwaumlchephase der sbquoFrondelsquo war 1654 die Intendanz wahrgenommen durch (den juumlngeren) Colbert (de Croisy S 223) und 1658 der Conseil Souverain (S 205 237) 1674 in Breisach ab 1698 in Colmar gegruumlndet worden beides Instrumente der recht- lichen Anverwandlung an die franzoumlsischen Verfassungsstrukturen Der Hollaumlndische Krieg 1672ndash1679 (Kap 7) bot nebenbei Gelegenheit schwebende Streitfragen gewaltsam zu entscheiden brachte aber vor allem dem Land so groszligen Schaden ndash darunter 1677 die Zerstoumlrung Hagenaus und Weiszligenburgs um sie nicht in die Hand der Kaiserlichen fallen zu lassen (S 326) ndash dass er mit dem 30-jaumlhrigen anderwaumlrts im Reich zu vergleichen sei Auch dank Turennes militaumlrischem Talent (letzte Karte) war Frankreich beim Frie-densschluss 1679 in Nimwegen de facto Herr des Elsass formal ausgenommen nur die Reichsstadt Straszligburg die aber ihre Neutralitaumlt nicht strikt gewahrt hatte Die Erfolgs- bilanz zieht Kap 8 (167980) durch die Beschreibung der Durchsetzung der Souveraumlnitaumlt gegenuumlber der Dekapolis und mittels der Reunionen gegenuumlber den Territorialherren dem unterelsaumlssischen Niederadel und vor allem dem Fuumlrstbistum und Domkapitel Straszlig-burg Auswaumlrts sitzenden deutschen Fuumlrsten blieb fortan nur das dominium utile an ihren elsaumlssischen Besitzungen Das Wesen der Reunionen wird deutlich wenn z B der Mark-graf von Baden wegen der Herrschaft Graumlfenstein vor die Breisacher Reunionskammer zitiert (S 360) oder das wuumlrttembergische Moumlmpelgard als Teil Burgunds reklamiert

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

(S 380) wurde Die fragile im Zweifel der kaiserlichen Seite zuneigende Neutralitaumlt der Reichsstadt Straszligburg die freilich seit Karl V keinem Kaiser mehr gehuldigt hatte fuumlhrte bekanntlich im Herbst 1681 zu ihrer Annexion nach Drohung der Eroberung durch eine eigens sorgsam organisiert herangefuumlhrte Belagerungsarmee (Kap 9 bdquoLrsquoAnnexion de la Reacutepublique de Strasbourgldquo) gefolgt von einem feierlichen Einzug Ludwigs XIV Die von franzoumlsischer Seite als Zentrum des Elsass begriffene und daher konsequent aber rechtlich nicht gedeckt in die franzoumlsische Souveraumlnitaumlt uumlber diese ndash nunmehr ndash Provinz einzubeziehende Stadt wurde nun zu einem Verwaltungszentrum und zugleich zu einer Hauptfestung ausgebaut gesteuert durch den allen staumldtischen Gremien und Amtstraumlgern nun vorgeschalteten bdquopreacuteteur royalldquo Ulrich Obrecht (S 430) Die neue Provinz (Kap 10 1681ndash1697) konnte sich nun im Zeichen einer bdquotransition deacutelicateldquo erholen nach Art fran-zoumlsischer Geschichtsschreibung ausfuumlhrlich und kundig dargestellt anhand sozial- wirt-schafts- und verkehrsgeschichtlicher Gegebenheiten die auch sonst Beruumlcksichtigung fanden Den kirchlichen Verhaumlltnissen ist parallel Kap 11 gewidmet fuumlr deutsche Leser befremdlich aber zutreffend unter das Schlagwort der Allianz von Thron und Altar ge-stellt Denn auf einen habsburgischen Erzherzog folgten 1682 im Straszligburger Bischofs-amt nacheinander zwei Mitglieder der frankreichhoumlrigen Grafenfamilie Fuumlrstenberg Wilhelm Egons Eidleistung 1687 bereitete verfassungsrechtlich dem Fuumlrstbistum sein Ende und leitete eine im Grunde fuumlr beide Konfessionen im Elsass bis heute noch nicht beendete Zwitterstellung ein die im Widerspruch zur franzoumlsischen Rechtseinheitlichkeit stand und steht Die Lutheraner dagegen wurden in die Enge getrieben durch Konver- sionsdruck vor allem bei Amtstraumlgern die Einfuumlhrung des Simultaneums wo immer sich dafuumlr ein Ansatz bot und die relational bei Weitem nicht gedeckte konfessionell paritauml-tische Aumlmterbesetzung Das letzte Kapitel (1688ndash1698 bdquoDe la guerre de la Ligue drsquoAugs-bourg agrave la paix de Ryswickldquo) kann sich kuumlrzer fassen da das Elsass weitaus weniger betroffen war als die Kurpfalz und mit dem Friedensschluss 1697 (S 556) im Grunde der Gipfel der bdquoEroberungldquo des Elsass durch Ludwig XIV erreicht wurde Zwar wich man machtpolitisch nun wieder hinter die Rheinlinie zuruumlck und etwa Wuumlrttemberg wurde linksrheinisch restituiert aber Straszligburg blieb franzoumlsisch Durch die Ruumlckgabe der Kurpfaumllzer Gebiete im Norden stellte sich fortan die Frage wo das an seinen drei anderen Seiten klar abzugrenzende Elsass im Norden aufhoumlre ob an der Lauter oder an der Queich (S 564) In der Sicht des Sonnenkoumlnigs war vor allem Straszligburg als Bastion des Reichs und zugleich der lutherischen Ketzerei zerstoumlrt

In diesem Werk liegt eine aus der Mitte des eigenen elsaumlssischen historischen Be-wusstseins erwachsene und aus der Fuumllle landesgeschichtlicher Kenntnis nicht nur des Elsass sondern auch der angrenzenden Gebiete schoumlpfende Darstellung eines fuumlr die deutsch-franzoumlsische Geschichte und zugleich fuumlr die suumldwestdeutsche Landesgeschichte wesentlichen Schluumlsselzeitraums vor Niemand der sich mit diesem kuumlnftig auf welcher Ebene auch immer befassen wird sollte es auszliger Acht lassen er wuumlrde dabei einen wesentlichen Erkenntnishorizont ignorieren

Volker Roumldel

Oliver FIEG (Hg) Rastatt 1714 und der Traum vom Frieden (Oberrheinische Studien Bd 39) Ostfildern Thorbecke 2019 222 S Abb EUR 34ndash 978-3-7995-7836-3

Der vorliegende Sammelband umfasst zwoumllf Beitraumlge mehrerer Tagungen aus Anlass des Friedensschlusses vor 300 Jahren Der Friede von Rastatt war keiner der groszligen Friedensschluumlsse die das Europa der Neuzeit praumlgten Er bestand nur in der Annahme

673Fruumlhe Neuzeit

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der in Utrecht entschiedenen Teilung der spanischen Erbschaft durch den Kaiser Die einzige Entscheidung die in Rastatt fiel war fuumlr Bayern der Verlust seines Anteils an dieser Erbschaft naumlmlich die Insel Sardinien und die Koumlnigswuumlrde die Max Emanuel noch in Utrecht zugesprochen worden war Bayern wird in dem Sammelband aber nicht behandelt Rastatt steht nur in zwei Beitraumlgen im Mittelpunkt wovon einer ein kunst- historischer ist Auch Frankreich ist nur durch zwei Beitraumlge vertreten Gegenstand des Bandes ist daher vielmehr die suumldwestdeutsche Geschichte zu Beginn des 18 Jahr-hunderts

Der zentrale Beitrag ist ein Artikel von Max PLASSMANN uumlber Ludwig Wilhelm von Baden und die bdquooberrheinische Perspektive auf den europaumlischen Kriegldquo (S 69ndash82) Zwar war Ludwig Wilhelm schon 1707 gestorben aber er war als Oberbefehlshaber der Kreisassoziation von zunaumlchst zwei dann sechs Kreisen der wichtigste Politiker am Oberrhein von 1693 bis 1706 Als solcher verhandelte er nicht nur mit dem Kaiser und Lothar Franz von Schoumlnborn uumlber Buumlndnisse sondern auch mit Wilhelm III Heinsius Ludwig XIV und Max Emanuel von Bayern sowie uumlber die polnische Koumlnigskrone und das antikaiserliche Buumlndnis gegen die neunte Kur Bis heute sind die Plaumlne und Ziele Ludwig Wilhelms in der Forschung umstritten Plassmann waumlhlt die inhaltleerste Erklauml-rung den Ehrgeiz Ludwig Wilhelms

Er uumlbersieht dabei die reichsrechtlichen Moumlglichkeiten und Grenzen der Kreisasso-ziation die eine Weiterentwicklung der bdquoeilenden Hilfeldquo zwischen den Kreisen nach der Reichsexekutionsordnung von 1555 war Entscheidend war dass hier ohne Beteiligung von Kaiser und Reichstag Truppen aufgestellt und eingesetzt werden konnten Dies ermoumlglichte einen Militaumlrbund am Rhein zwischen Holland und der Schweiz mit Straszlig-burg als zentralem Waffenplatz wie er anscheinend erwogen wurde Der Kaiser verhin-derte einen derartigen Machtverlust im Reich alsbald nicht als Kaiser sondern durch seinen Beitritt zur Assoziation als Direktor des inexistenten oumlsterreichischen Kreises Zu-naumlchst hatte der Kaiser 169091 auf das Angebot der Kreise zu erhoumlhter Truppenstellung (Triplum) mit der Zusage reagiert keine weiteren Militaumlrlasten (Winterquartiere Assig-nationen etc) zu fordern Der Einsatz dieser Truppen als eilende Hilfe war defensiv auf das Kreisterritorium beschraumlnkt d h ein Einsatz in Ungarn Oberitalien und Flandern (ebenso 1705 auf das Moseltal) war ausgeschlossen Dem kam die Situation des ober-rheinischen Kriegsschauplatzes entgegen Dieser beschraumlnkte sich seit der Eroberung Philippsburgs 1644 ndash und wenn man will bis 1945 ndash auf den Kraichgau und Wuumlrttemberg bis zur Donau (Einfall ins Reich) Der Schwarzwald war anders als Plassmann annimmt kein Kriegstheater (Ausnahme 170304 das bayrisch-franzoumlsische Buumlndnis) Das badische Rheintal war wie Ludwig Wilhelm spottete die bdquofranzoumlsische Reitschuleldquo d h unter dem Schutz der franzoumlsischen Kanonen zog die franzoumlsische Kavallerie fouragierend durch Baden von Breisach bis Kehl und Philippsburg Schlachten wurden hier nicht geschlagen

Plassmann unterschaumltzt die Rolle Ludwig Wilhelms und uumlberschaumltzt die der kleinen Reichsstaumlnde Die Bedeutung der Kreise als Truppenlieferanten fuumlhrte zwar dazu dass sie Mitglieder der Groszligen Allianz wurden und sogar Gesandte zu den Friedenskongressen schicken konnten aber ihre tatsaumlchliche Rolle war gering Sie wurden fuumlr die Sicherung des Nachschubs gebraucht Sie als Trunkenbolde abzutun wie es die franzoumlsischen Gesandten taten ist wohl etwas uumlbertrieben (bdquohellipcomme la pluspart de ces deacuteputeacutes de lrsquoEmpire sont des docteurs peu instruits des affaires du monde et qui ne se couchent guegrave-res sans estre yvres ils suivent les mouvements de leur humeurs et ceux que leur inspirent

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les fumeacutees de vin en parlant de cette sorte sans faire de reacuteflexion sur le peu de moyens qulsquo ils ont drsquoobtenir ce qu igravels deacutesirentldquo franzoumlsische Diplomaten in Ryswick an Ludwig XIV 5 IX 1697 AAE Paris Corr pol Hollande 169) Auch in der Instruktion fuumlr seine Diplomaten in Utrecht vom 30 XII 1711 beurteilt Ludwig die Forderungen der Reichs-staumlnde als bdquovisionsldquo bdquovaines ideacuteesldquo und bdquoabsurditeacutesldquo (Recueil des instructions donneacutees aux Ambassadeurs et Ministres de France Bd XXII Hollande Paris 1923 S 297) Die Vertreter des Reiches unterstuumltzten zwar die Forderungen des Kaisers ihr eigentliches Ziel waren aber finanzielle Entschaumldigungen fuumlr die Kriegsschaumlden Damit ernteten sie nur Hohn und Spott Nach dem Friedensschluss versicherte Ludwig Wilhelm dem fran-zoumlsischen Koumlnig dass er ihm die Verbrennung seines Landes nicht uumlbelnaumlhme an eine Entschaumldigung dachte er schon gar nicht (Ludwig Wilhelm zum franzoumlsischen Gesandten Gergy in Stuttgart bdquoCe prince me parla ensuite des maux que ses Etats avoient souffert pendant la guerre et qursquoil ne croioit pas avoir meacuteriteacute que comme Prince de lrsquoEmpire que quand Votre Majesteacute recommenceroit agrave faire brusler son pays une seconde fois il ne perderoit jamais les sentiments drsquoestime et de respect qursquoil avoit pour Elle que crsquoeacutetoit lagrave la conduite qursquoil avoit toujours tenueldquo Bericht Gergys vom 13 X 1698 AAE Corr Pol Wurtemberg 9)

Susan RICHTER (S 83ndash96) behandelt die Alternative der Neutralisierung d h das alte Thema der bdquoVerschwitzerungldquo der deutschen Grenzgebiete Dabei geht sie auch auf die Haltung der badischen Markgrafen ein Tatsaumlchlich verlieszlig Karl Wilhelm von Baden-Durlach bei seinem Regierungsantritt 1709 die Reichsarmee und legte seinen Rang als Reichsgeneral nieder Allerdings war dies keine politische Entscheidung sondern der Markgraf wurde vom franzoumlsischen Koumlnig massiv unter Druck gesetzt Ludwig drohte mit seiner Inhaftierung falls er seine Stammlande betrete Entsprechend instruierte er seinen Botschafter in der Schweiz Du Luc am 7 X 1709 bdquoLa principale raison que jrsquoavois de refuser au Marquis de Bade Dourlak le passeport qursquoil mrsquoa demandeacute estoit fondeacute sur ce qursquoil servoit actuellement dans les trouppes de mes ennemis au lieu que feu son pegravere agrave qui jrsquoavois accordeacute la mesme grace vivoit retireacute chez lui et sans employ Comme il assure qursquoil ne servira plus et que drsquoailleurs vous croyeacutes qursquoil pouvoit estre utile dans les Diettes du Cercle de Souabe jrsquoay bien voulu luy accorder agrave votre consideacute-ration le passeport que je vous envoie Mais vous luy feacuterez scavoir qursquoil deviendroit inutile si jrsquoapprenois qursquoau preacutejudice de sa parole il vouloit encore exercer les employs qursquoil a parmy mes ennemisldquo (ebd Suisse 195)

Sven EXTERNBRINK kommt in seinem Beitrag zur Rheingrenze (S 153ndash164) zu dem Ergebnis dass diese als politisches Schlagwort erst am Ende des 18 Jahrhunderts fassbar wird Dies trifft nicht zu Die Rheingrenze wurde 1697 festgelegt und sie wurde auch so benannt Bei den Friedensverhandlungen in Ryswick 1697 hatte Ludwig XIV unter dem 20 VII sein Angebot vorgelegt aber in Art 6 alternativ zur Ruumlckgabe Straszligburgs die Ruumlckgabe einiger rechtsrheinischer Festungen angeboten mit der Begruumlndung bdquoafin que les frontiegraveres de la France et de lrsquoEmpire demeurent entiegraverement seacutepareacutees par le Rhinldquo (J Bernard A Moetjens Actes et Meacutemoires des neacutegociations de la Paix de Ryswick AAE Corr Pol Hollande 168) Am 21 VIII aber zog Ludwig sein Angebot der Ruumlckgabe Straszligburgs uumlberraschend zuruumlck und erweiterte sein Angebot der Ruumlckgabe rechtsrhei-nischer Festungen auf alle franzoumlsischen rechtsrheinischen Festungen und Bruumlckenkoumlpfe Diesen Wechsel begruumlndete mit den Worten bdquoMon intention est que deacutesormais le Rhin servit de barriegravere entre mon Royaume et lrsquoEmpireldquo (ebd Hollande 168) Als es um die genaue Festlegung der Rheinlinie ging schrieben ihm seine Diplomaten uumlber die Festung

675Fruumlhe Neuzeit

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Fort Louis bdquoqui est dans une isle et empesche par conseacutequent que ce fleuve ne serve de juste et reacuteciproque barriegravere entre Votre Majesteacute et lrsquoEmpire comme Elle a deacuteclareacute si souvent et qursquoElle ne demande autre choseldquo (9 IX ebd Hollande 169) Diese Aumluszligerung beweist auch dass die Rheingrenze als politisches Ziel bei den franzoumlsischen Diplomaten und Militaumlrs gelaumlufig war vielleicht schon seit der Erkundigungsreise von Louvois und Vauban durch das Elsass 1679 Der Kontext belegt auch dass die Rheingrenze als mili-taumlrische Grenze verstanden wurde Ihr Ziel sei bdquo( que) lrsquoentreacutee de son Royaume soit fermeacutee en mecircme temps que Sa Majesteacute fait voir qursquoElle ne veut srsquoen reacuteserver aucune pour porter les guerres en Allemagneldquo( Gesandte an Ludwig XIV 1 IX 1697 J Bernard A Moetjens III S 50)

Der Sammelband revidiert den heutigen Wissensstand nicht er bietet aber mit Aus-nahme der angefuumlhrten Punkte einen differenzierten Uumlberblick uumlber den derzeitigen For-schungsstand Allerdings faumlllt auch hier die sehr sporadische Nutzung und Auswertung der Literatur auf Bibliographieren ist anscheinend unbekannt

Bernd Wunder

Bettina BRAUN Eine Kaiserin und zwei Kaiser Maria Theresia und ihre Mitregenten Franz Stephan und Joseph II (Mainzer Historische Kulturwissenschaften Bd 42) Bielefeld transcript-Verlag 2018 309 S Abb Brosch EUR 3999 ISBN 978-3-8376-4577-4

Lange Zeit seit der Publikation der zehnbaumlndigen Geschichte Maria Theresias durch Alfred Ritter von Arneth (Wien 1863ndash1879) schien es so als ob zur Geschichte der maumlchtigsten Frau Europas im 18 Jahrhundert alles gesagt sei Als Erbtochter regierte sie einen Laumlnderkomplex der sich vom heutigen Belgien im Nordwesten bis in die heutige Ukraine im Suumldosten Europas erstreckte Doch ihr 300 Geburtstag (2017) hat wie gerade das Literaturverzeichnis des vorzustellenden Bandes verdeutlicht eindruumlcklich unter- strichen wie irrig diese Auffassung ist und sein muss haben sich doch die Fragen die wir heute an Maria Theresia als Frau und Herrscherin stellen seit den Arnethschen Zeiten grundlegend veraumlndert Gerade die Studie der in Mainz lehrenden Fruumlhneuzeithistorikerin Bettina Braun steht fuumlr den Aspekt der in der monumentalischen Repraumlsentation Maria Theresias im 19 Jahrhundert ausgeblendet wurde Monumentalisch ist im woumlrtlichen wie im Nietzscheschen Sinn gleichermaszligen zu verstehen Braun formuliert bdquoAls Herrscherin aus eigenem Recht hatte sie doch stets einen Mann an ihrer Seite erst ihren Ehemann [Franz Stephan bis 1765] dann ihren Sohn [Joseph] mit dem sie zusammen regierte Und genau um dieses bdquozusammenldquo soll es in dieser Studie gehenldquo (S 13)

Um dieses bdquozusammenldquo zu erhellen bedient sich die Verfasserin des von Heide Wun-ders fuumlr fruumlhneuzeitliche staumldtische und baumluerliche Geschlechterbeziehungen gepraumlgten Konzepts des bdquoArbeitspaaresldquo Hat Wunder diesen Begriff gewaumlhlt um die Beziehungen zwischen Ehepartnern zu charakterisieren so wendet ihn Braun auch fuumlr die Mutter-Sohn-Beziehung an Da es ihr darum zu tun ist zu erhellen wie sich Maria Theresia die Arbeit des Regierens mit ihrem seit 1745 kaiserlichen Ehemann und seit 1765 Sohn teilte kann sie so verfahren Ja noch mehr Braun vermag dadurch auch ein anderes wenn auch nicht grundsaumltzlich neues Licht auf die Folgen zu werfen die mit den funda-mental differierenden sozialen Logiken einhergehen die die Geschlechterbeziehungen praumlgen je nachdem ob die Frau mit Ehemann oder Sohn interagiert Dass diese unter-schiedlichen Logiken wenn die Frau Herrscherin ist fuumlr die Arbeitsteilung weitreichende Folgen zeitigen demonstriert Braun im Detail (S 211ndash230)

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Da der erzaumlhlerische Faden in 14 Kapiteln entlang des Lebenswegs Maria Theresias gesponnen wird liegt es in der Natur der Sache dass dem fast 30 Jahre verheirateten Ehepaar (1736ndash1765) das sich in dieser Zeit als Herrscher und Herrscherin in ganz unterschiedlichen Konstellationen begegnete wesentlich umfaumlnglicher Aufmerksamkeit gezollt wird (S 19ndash204) als der Mutter-Sohn-Beziehung die Maria Theresias Herrschaft in den letzten 15 Jahren ihres Lebens praumlgte (S 205ndash268)

Ein knappes Schlusskapitel (S 269ndash273) dem von Maria Theresia 1754 in Auftrag gegebenen und bis heute in der Kapuzinergruft zu besichtigenden Doppelsarkophag gewidmet zieht geschickt die Bilanz der Studie bdquoNicht ein Herrscher und die Ehefrau an seiner Seite und auch nicht eine Koumlnigin und ihr Prinzgemahl sind hier dargestellt sondern zwei Herrscher mit ihren jeweiligen Herrschaften die aber nicht nebeneinander ihre jeweiligen Territorien regiert haben sondern die sich zu gemeinsamer Regierung zusammengefunden haben ndash symbolisiert durch das gemeinsame Festhalten des Szepters Weil sie beide auch hierin voumlllig parallel und gleichberechtigt das Szepter mit ihrer rechten Hand umfassen muumlssen sie sich einander zuwenden Damit wird ein weiteres Mal die Gemeinsamkeit betont ein Miteinander statt eines Nebeneinandersldquo (S 272) Begegnet diese Stilisierung des harmonisch-zugewandten Miteinanders des herrscher- lichen Arbeitspaares nicht nur bei Maria Theresia sondern stellt sie eine typische Legi-timationsstrategie weiblicher Herrschaft dar so ist es ein anderer Aspekt der Ausgestal-tung des Sarkophags der ein Schlaglicht auf Maria Theresias durchaus individuelles Selbstverstaumlndnis in ihrer Rolle als Ehefrau Mutter und Herrscherin wirft bdquoRom Imperii maiestatem domui suae restituitldquo (S 273) frei uumlbersetzt die kaiserliche Wuumlrde hat sie ihrem Haus wiedergegeben so lautet die Inschrift des Sarkophags Kurzum Ihrer Stel-lung als Erbtochter so sah es Maria Theresia hatten es die Maumlnner an ihrer Seite zu ver-danken dass sie wurden was sie waren ndash Kaiser und damit in ihrem eigenen Selbstver- staumlndnis die ranghoumlchsten Dynasten Europas Wer entlang von Schluumlsselmomenten erfahren moumlchte welche Konsequenzen aus diesem durchaus spannungsreichen Verhaumllt-nis zwischen zeittypischem und individuellem Selbst- und Herrschaftsverstaumlndnis fuumlr Maria Theresia aber auch fuumlr Ehemann und Sohn resultierten dem sei das vorliegende Buch empfohlen

Gabriele Haug-Moritz

Senta HERKLE Sabine HOLTZ Gert KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP (Hg) 1816 ndash Das Jahr ohne Sommer Krisenwahrnehmung und Krisenbewaumlltigung im deutschen Suumldwesten (Veroumlffentlichungen der Kommission fuumlr Geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrt-temberg Reihe B Forschungen Bd 223) Stuttgart Kohlhammer 2019 VIII 260 S Abb geb EUR 28ndash ISBN 978-3-17-036523-0

1816 war in weiten Teilen der Welt ein bdquoJahr ohne Sommerldquo doch weltweit ohne Sommertage war es nicht denn Getreidekaumlufe gegen die Hungerkrise in Folge des Tambora-Ausbruchs waren selbst in Europa moumlglich ndash die unterschiedliche Erstreckung der Phaumlnomene dieser Krise und ihre komplexen Folgen aumlhneln denen der globalen Corona-Pandemie bis in die Stichworte Grenzschlieszligungen und Ausfuhrsperren Hatte Wolfgang Behringer in seiner wegweisenden Studie bdquoTambora und das Jahr ohne Som-mer Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stuumlrzteldquo 2015 die bdquoTamborakriseldquo als bdquoBeginn eines Experimentsldquo bezeichnet bdquoan dem die ganze Menschheit unfreiwillig teilgenom-menldquo (S 16) hatte die aber auch Beispiele dafuumlr geliefert haumltte wie Gesellschaften auf globale Herausforderungen reagierten und welche Risiken und Chancen mit ihnen

67719 und 20 Jahrhundert

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und deutschlandpolitischen Aktivitaumlten nach 1945 Wirths Bemuumlhungen mit den stali- nistischen Machthabern in Ostberlin und Moskau ab 1951 ins Gespraumlch zu kommen und die Moumlglichkeiten eines Friedensvertrages zu sondieren sich fuumlr politische Gefangene hinter dem bdquoEisernen Vorhangldquo einzusetzen etc moumlgen ein ehrenwerter Versuch gewesen sein Allerdings waumlre diesbezuumlglich doch grundsaumltzlich die Frage zu stellen mit welcher Legitimation Wirth glaubte derartige Gespraumlche fuumlhren zu koumlnnen schlieszliglich hatte er damals im Westen Deutschlands kein demokratisch legitimiertes politisches Amt inne und wurde auch nicht von bedeutenden politischen Gruppierungen unterstuumltzt Zudem zeugt es nicht gerade von politischer Weitsicht dass Wirth noch nach dem 17 Juni 1953 zu politischen Gespraumlchen nach Ostberlin und Moskau reiste und 1954 die Ehrendoktor-wuumlrde der Humboldt-Universitaumlt annahm und sich damit auf zweifelhafte Weise von einem diktatorischen System instrumentalisieren lieszlig Dies wird von den Autoren im vorliegenden Band jedoch nicht als Problem gesehen

Schlieszliglich finden sich auch einige kleinere sachliche Fehler Z B wird konstatiert Wirth sei mit bdquogroszliger Mehrheitldquo in die Verfassunggebende Badische Nationalver- sammlung gewaumlhlt worden und am 5 Januar 1919 dann in den Badischen Landtag (S 35) Nach der Revolution 1918 gab es in Baden bis 1921 jedoch nur eine Wahl eines Landesparlaments eben jene vom 5 Januar 1919 und bei der konnte Wirth nicht mit groszliger Mehrheit gewaumlhlt werden da sie nach dem Verhaumlltniswahlrecht durch- gefuumlhrt wurde

Insgesamt hinterlaumlsst die Publikation somit einen zwiespaumlltigen Eindruck

Martin Furtwaumlngler

Carola HOEacuteCKER Vom Freischaumlrler zum Parlamentarier Briefe des Reichstagsabgeord-neten Marcus Pfluumlger (1824ndash1907) (Lindemanns Bibliothek Bd 347) Karlsruhe Bretten Info-Verlag 2019 89 LXXVIII S Abb Brosch EUR 1990 ISBN 978-3-96308-064-7

Das vorliegende Buch ist zweigeteilt Der Edition einer Auswahl von Briefen des ba-dischen nationalliberalen ab 1881 linksliberalen Reichstags- und Landtagsabgeordneten Marcus Pfluumlger aus Loumlrrach geht eine Beschreibung seines Lebens voran In dieser schil-dert die Herausgeberin Pfluumlger als aufrechten Demokraten der als aktiver Teilnehmer am Heckeraufstand 1848 die politische Buumlhne betrat Wie etliche andere 48er Revolu-tionaumlre fand er in den folgenden Jahrzehnten den Weg in die Parlamente der Kaiserzeit Von 1858 bis 1870 und von 1886 bis 1903 saszlig er im Gemeinderat von Loumlrrach von 1871 bis 1884 und von 1897 bis 1902 war er Mitglied der Zweiten Kammer der badischen Staumlndeversammlung von 1874 bis 1887 Reichstagsabgeordneter Eindruumlcklich und sicher eine der Staumlrken des Buches ndash sowohl im darstellenden wie im Quellenteil ndash ist die Schil-derung von Pfluumlgers Abgeordnetenalltag das heiszligt die Organisation des Lebens eines Politikers aus der Provinz im 19 Jahrhundert Bei Pfluumlger war dies der Spagat zwischen zwei Welten einerseits der Fuumlhrung einer Gastwirtschaft mit landwirtschaftlichem Be-trieb womit er im Wesentlichen seinen Lebensunterhalt verdiente andererseits der Aus-uumlbung seiner politischen Taumltigkeit in Karlsruhe und Berlin Gerade seine Briefe aus beiden Hauptstaumldten machen sichtbar unter welchen Umstaumlnden Abgeordnete damals bei der Ausuumlbung ihrer Parlamentstaumltigkeit lebten welche Schwierigkeiten ein Alltag fern der Heimat mit sich brachte Jedoch wird auch deutlich wie verzahnt beide Lebens-

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verbunden seien so konzentriert sich der vier Jahre spaumlter vorgelegte und hier zu be- sprechende Konferenzband in interdisziplinaumlrem Zugriff auf die bdquoKrisenwahrnehmung und Krisenbewaumlltigungldquo der global und so auch bdquoim deutschen Suumldwestenldquo spuumlrbaren Folgen des Vulkanausbruchs auf der indonesischen Insel Sumbawa Die zehn Beitraumlge greifen der kurzen und praumlgnanten Einleitung zufolge die Bereiche bdquoWirtschaft Kom-munikationMedien Religion und Musikldquo (S 4) auf und setzen sich so mit den bdquoklima-tischen politischen wirtschaftlichen sozialen kulturellen und religioumlsen Ausdeutungen und Folgenldquo (S 1) dieses groumlszligten Vulkanausbruchs der Menschheitsgeschichte aus- einander

Eingeleitet wird der Band durch den ebenso schwungvollen wie dichten Beitrag bdquoDie Tamborakrise Zum Einfluss der Geologie auf die (menschliche) Geschichteldquo von Wolf-gang BEHRINGER der die globalen oumlkonomischen sozialen und kulturellen Auswirkungen des Tambora-Ausbruchs differenziert und materialreich darlegt bdquo[K]ein anderer Faktor [habe] die menschliche Geschichte von Anfang an so sehr bestimmt wie die Klima- geschichteldquo Klimadaten eigneten sich bdquoals heuristisches Instrument zur Verknuumlpfung aumlhnlicher Ereignisse in geographisch weit voneinander getrennten Gesellschaften und zum Test ihrer Resilienzldquo (S 7) Wichtigen Aspekten der Tamborakrise wie deren unmittelbare biologische Folgen in Gestalt einerseits erhoumlhter Sterblichkeit in Europa Nordeuropa und China ohne besondere Seucheneinwirkung und andererseits einer kata-strophal erhoumlhten Sterblichkeit durch die Cholera-Epidemie die als eine der direkten Folgen des Vulkanausbruchs seit 1817 von Indien aus binnen neun Jahren auf Europa uumlbergriff dann den von der Tamborakrise weltweit ausgeloumlsten Migrationsstroumlmen und schlieszliglich den kaum je mit einer geologischen Ursache in Zusammenhang gebrachten politischen Unruhen widmet Behringer besondere Aufmerksamkeit

Dem zentralen multiperspektivisch innerhalb dieses Konferenzbandes beleuchteten Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Folgen des Tambora-Ausbruchs im deutschen Suumld-westen wendet sich der Mitherausgeber Gert KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP Emeritus der Universitaumlt Hohenheim zu die ndash wie in mehreren Beitraumlgen angesprochen ndash ihre Gruumln-dung als bdquoLandwirtschaftliche Unterrichts- Versuchs- und Musteranstaltldquo 1818 der Tam-borakrise in Wuumlrttemberg verdankt Sein Aufsatz bdquoDas Jahr 1816 und die Folgen fuumlr die wuumlrttembergische Wirtschaftspolitikldquo misst die katalytische Dimension der Klimakata-strophe fuumlr die nun unabdingbaren politisch-oumlkonomischen Reformen eines nach zwei Jahrzehnten der kurzen Friedens- und langen Kriegszeiten hoch verschuldeten Agrar-staates mit starkem Bevoumllkerungswachstums wie dem 1806 gegruumlndeten Koumlnigreich Wuumlrttemberg aus Wirtschaftspolitische Sofortmaszlignahmen in der Art der auf unterschied-liche Foumlrdergebiete wie Wohlfahrt Landwirtschaft Handel und Gewerbe fokussierten Vereinsgruumlndungen gingen Hand in Hand mit longue dureacutee-Maszlignahmen die die Regie-rung Koumlnig Wilhelms I in Richtung einer aktiven Zollpolitik und der bis in die 1860er Jahre partiell durchaus erfolgreichen Triasidee verfolgte

Staatliche Wirtschaftsfoumlrderung als Krisenbewaumlltigungsstrategie eroumlrtert auch der Bei-trag bdquoDie Sparkassen und das Jahr ohne Sommer 1816 Durchbruch einer Institution aus Anlass der Kriseldquo von Thorsten PROETTEL Er greift die Hungerkrise als finanzielles Problem jener Bevoumllkerungsschichten auf die ndash zuvor keineswegs bdquoarmldquo ndash die exponen-tiell gestiegenen Brotgetreidepreise nicht mehr erlegen konnten und zeigt wie die aktiv in die Wohlfahrtspolitik eingreifende Koumlnigin Katharina 1818 die Gruumlndung der Wuumlrt-tembergischen Sparkasse in Stuttgart initiierte Als Vorbild dienten die von den Leih- kassen zu unterscheidenden Sparkassen die in Groszligbritannien als bdquoprivat organisierte

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Begleitet wird dieser Bildbereich von einem damit korrespondierenden Text in dem die beiden Autoren das Leben Wirths skizzieren Wenngleich deren These dass Wirth bdquomittlerweile zu den herausragenden Politikern des 20 Jahrhundertsldquo (S 8) zaumlhle etwas uumlbertrieben scheint so ist ihnen darin zuzustimmen dass Wirth zu den entschiedensten Verfechtern bdquoder demokratischen Staatsform und des parlamentarischen Systemsldquo gerade in der Weimarer Republik zu rechnen ist Wie viele fuumlhrende Politiker dieser Epoche war er jedoch lange in Vergessenheit geraten und stoumlszligt erst in juumlngerer Zeit zu Recht wieder verstaumlrkt auf Interesse Gerade sein legendaumlr gewordener Ausspruch aus seiner Reichstagsrede anlaumlsslich der Ermordung Walter Rathenaus 1922 bdquoDer Feind steht rechtsldquo erfreut sich in der aktuellen politischen Diskussion in Deutschland gesteigerter Beliebtheit

Das Leben Wirths wird im vorliegenden Band in sechs Abschnitten beleuchtet Einem kuumlrzeren Kapitel uumlber seine Herkunft aus einem stark katholisch gepraumlgten Elternhaus und seine ersten politischen Aktivitaumlten als Stadtverordneter von Freiburg badischer Landtags- und Reichstagsabgeordneter fuumlr das Zentrum folgt ein laumlngerer Abschnitt uumlber sein Wirken in der Weimarer Republik Unbestreitbar war dies der Zeitraum seines Lebens in dem Wirth politisch am wirkungsmaumlchtigsten war Vom badischen Finanz- minister in der provisorischen Regierung nach der Revolution 1918 stieg er 1920 zum Reichsfinanzminister auf und 1921 fuumlr rund ein Jahr gar zum Reichskanzler Der Vertrag von Rapallo 1922 und die damit einhergehende Kooperation des Deutschen Reiches mit der Sowjetunion sind untrennbar mit seinem Namen verbunden Ende der 1920er Anfang der 1930er Jahre fungierte er nochmals als Reichsminister Es verwundert daher etwas dass dieser Lebensabschnitt Wirths nicht im Zentrum der Publikation steht Weitaus ausfuumlhrlicher werden vielmehr in den kommenden Abschnitten die politischen Aktivitaumlten Wirths aus der Zeit ab 1933 behandelt sein Kampf gegen Antisemitismus Judenverfolgung und seine Kontakte zum deutschen militaumlrischen Widerstand waumlhrend seiner Exilzeit in Paris und der Schweiz sowie vor allem seine friedens- und deutsch-landpolitischen Initiativen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Gerade sein Wider-stand gegen die Westintegration der jungen Bundesrepublik ndash die er als eine Gefaumlhr- dung des Friedens und als eine groszlige Bedrohung fuumlr eine Wiedervereinigung Deutsch-lands einstufte ndash wird ausfuumlhrlich beschrieben Gleiches gilt fuumlr die politischen und moralischen Uumlberzeugungen Wirths Es ist den Autoren wohl zuzustimmen dass Wirth kein Politiker war dem die eigene Karriere wichtiger gewesen waumlre als das Eintreten fuumlr seine demokratischen Uumlberzeugungen Das Bild des Menschen Joseph Wirth das die Autoren zeichnen ist uumlberaus positiv Unverkennbar ist ihr Bestreben ihn als einen aufrechten demokratischen auf Frieden und Ausgleich bedachten Politiker zu wuumlrdi- gen der sich zuweilen harscher und zum Teil auch ungerechtfertigter Kritik gegen- uumlbergesehen hatte und dem zudem von der bundesrepublikanischen Verwaltung seine Pension als Reichsminister und Reichskanzler aus fadenscheinigen Gruumlnden verweigert worden war

Allerdings dieses skizzierte Bild Wirths bleibt eindimensional So werden zum Teil Sachverhalte die die vorgenommene Charakterzeichnung relativieren oder ihr gar wider-spraumlchen nicht erwaumlhnt wie z B der starke antipolnische Affekt Wirths der seine Poli- tik bereits als Reichskanzler nicht unbeeinflusst lieszlig (vgl hierzu Behring Hermann Muumlller und Polen Zum Problem des auszligenpolitischen Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik in Archiv fuumlr Sozialgeschichte 55 [2015] S 299ndash342) Zudem befremdet die uneingeschraumlnkt positive Bewertung seiner friedens-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

FC Weilersbach (Schwarzwald-Baar-Kreis) Bei drei Vereinen schlieszliglich ist das Gruumln-dungsjahr 1919 noch nicht einmal gesichert So fehlt beim SV 1919 Au am Rhein (Kreis Rastatt) die Vereinschronik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Die gleichwohl tra-dierten Gruumlndungsdaten sind widerspruumlchlich In Pfullendorf und Iffezheim wurde zwar seit 1919 angestoszligen jedoch handelt es sich bei den Fuszligballvereinen lediglich um Ab-teilungen des jeweiligen Turnvereins eigenstaumlndige Fuszligballvereine wurden erst in den 1920er Jahren aus den Turnvereinen ausgegliedert Am Ende seines Beitrages muss Schellinger von einem bdquoernuumlchternden Befundldquo (S 76) sprechen Es fehlen schlicht Quel-len die Auskunft geben koumlnnten uumlber die Hintergruumlnde der Vereinsgruumlndungen in den Doumlrfern unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ndash Ernuumlchternd ist uumlbrigens auch die sportliche Bilanz der 1919 gegruumlndeten Vereine Uumlber die Haumllfte spielte im Juni 2018 lediglich in der Kreisklasse nur drei in der Verbandsliga Suumldbaden (sechste Spielklasse)

Zwei Beitraumlge behandeln die Geschichte der Stadt Lahr in der Weimarer Republik Guumlnther KLUGERMANN erlaumlutert Hintergruumlnde und Ablaumlufe der Unruhen in Lahr und Um-gebung im Krisenjahr 1923 (S 101ndash138) waumlhrend Thomas MIETZNER nach den Voraus-setzungen fuumlr den Aufstieg der Nationalsozialisten in Lahr fragt (S 161ndash172) Unter den uumlbrigen Beitraumlgen sollen schlieszliglich noch zwei weitere Aufsaumltze die dem Themenkom-plex Erinnern und Gedenken gewidmet sind hervorgehoben werden Andreas Morgen-stern stellt anhand des Kreuzes auf dem Schrofen die Gedenkkultur an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges in Schiltach zwischen Weimarer Republik NS-Diktatur und Bun-desrepublik dar (S 139ndash159) waumlhrend Uli HILLENBRAND uumlber das Oral-History-Projekt bdquoKehl erinnert sichldquo berichtet (S 173ndash189) Zwischen September 2015 und Oktober 2018 fuumlhrten Schuumller des Einstein-Gymnasiums Kehl 170 Gespraumlche mit knapp 150 Zeitzeugen aus Kehl die in den 1920er und 1930er Jahren geboren sind Dabei stand jeweils die Frage im Mittelpunkt was diesen aus ihrer Jugend in der Weimarer Zeit im bdquoDritten Reichldquo und in der Nachkriegszeit in besonderem Maszlig erinnerlich war und wie sich aus ihrer Sicht der Alltag gestaltete

Die Autoren legen eine lesenswerte Aufsatzsammlung zur bislang eher vernachlaumlssig-ten Alltags- und Kulturgeschichte der Weimarer Republik in einer agrarisch-kleinstaumld-tisch gepraumlgten Region vor Es bleibt zu wuumlnschen dass diese den Impuls fuumlr weiter derartige Forschungen gibt

Michael Kitzing

Bernd BRAUN Ulrike HOumlRSTER-PHILIPPS In jeder Stunde Demokratie Joseph Wirth (1879ndash1956) Ein politisches Portraumlt in Bildern und Dokumenten Freiburg i Br modo-Verlag 2016 214 S Abb geb EUR 49ndash ISBN 978-3-86833-159-2

Der vorliegende sehr ansprechend gestaltete Bildband uumlber den Freiburger Reichs-kanzler der Weimarer Republik Joseph Wirth besteht aus zwei Bereichen Der stark ge-wichtete bildliche Teil mit insgesamt 178 Abbildungen enthaumllt neben einigen privaten Fotos vor allem solche von oumlffentlichen Auftritten Wirths in seinen diversen politischen Funktionen Karikaturen aus zeitgenoumlssischen Zeitschriften Gemaumllde und Fotos von Weggefaumlhrten und Gegnern Ablichtungen von Bucheinbaumlnden aber auch Fotografien die das Lebensumfeld Wirths beleuchten etwa zeitgenoumlssische Aufnahmen seiner Hei-matstadt Freiburg Hinzu kommen Faksimiles von schriftlichen Quellen der unterschied-lichsten Art Briefe Memoranden oder auch Postkarten von Weggefaumlhrten Diese zum Teil bislang unveroumlffentlichten Zeugnisse geben einen sehr interessanten und eindring-lichen Einblick in das Leben Wirths

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und lokal begrenzte Experimente der sozial engagierten Buumlrgerschichtldquo (S 74) eingefuumlhrt waren und sich auch in der benachbarten Schweiz und in Norddeutschland bereits erfolgreich betaumltigten Die landesweit agierende Wuumlrttembergische Sparkasse hatte ebenso wie die in ihrem Gefolge gegruumlndeten regionalen Sparkassen als gemeinnuumltzige Finanzinstitution die in die Zukunft wirkende Aufgabe jedermann die Moumlglichkeit zur Krisenvorsorge zu bieten und die Sparidee in und uumlber Wuumlrttemberg hinaus zu verbreiten

Nach diesen uumlber die Grenzen Wuumlrttembergs hinausweisenden landeshistorischen Bei-traumlgen lenkt Martin UEBELE in seinem Aufsatz bdquoDie Auswirkungen des Tamboraausbruchs auf China Ein Vergleich von Getreidepreisen mit Europa und den USA 1810ndash1820ldquo den Blick der Leserinnen nach Asien Uebele zieht die auf Wetter- und Erntedaten basierende Forschungsliteratur zu China heran um in seiner mit Statistiken unterlegten Darlegung eine bdquoDissonanzldquo zwischen den analysierten Daten zu Witterungsbedingungen und Ernteertraumlgen auf der einen Seite und den Getreidepreisen auf der anderen Seite festzu-stellen da sie mit Ausnahme der Provinz Yunnan nicht auf eine vom Tambora-Ausbruch verursachte Hungerkrise schlieszligen lieszligen Als bdquoErfolg versprechenden Erklaumlrungs- ansatzldquo (S 111) dafuumlr schlaumlgt Uebele die staumlrker diversifizierte chinesische Landwirtschaft vor die beim Ausfall der Reis- und Weizenernte ein Ausweichen der Menschen auf andere Nutzpflanzen ermoumlglichte

Clemens ZIMMERMANN wendet sich den bdquoAkteurskonstellationen und politische[r] Kommunikation in der Ernaumlhrungskrise 181618ldquo zu wobei er das Groszligherzogtum Baden bdquoim regionalen Kontextldquo der Schweiz und Wuumlrttembergs behandelt um die bdquokommuni-kative Seite der Geschehnisseldquo (S 124) waumlhrend der Tamborakrise zu analysieren Zim-mermann zeigt dass es die aus der Staats-Zeitung 1817 hervorgegangene Karlsruher Zeitung war die mit ihren auf Korrespondentenberichten ministerialen Informationen und Geruumlchten beruhenden Nachrichten uumlber die als bdquoTeuerungldquo bdquoHungerldquo und bdquoElendldquo umschriebene Ernaumlhrungskrise die Regierung zu aktivem auf die Nachbarlaumlnder reagie-renden Krisenmanagement veranlasste indem sie als Stimmungsbarometer einer Oumlffent-lichkeit avant la lettre das politische Leserinteresse fungierte

bdquoThe country is under water Reaktionen der zeitgenoumlssischen europaumlischen Publizistik auf das Jahr ohne Sommerldquo ist der Beitrag von Senta HERKLE uumlbertitelt einer der Mit-herausgeberinnen Sie analysiert die auf ihre jeweilige Leserschaft zugeschnittenen Presseberichte aus dem deutschen Suumldwesten aus Oumlsterreich Frankreich und Groszlig- britannien uumlber die Notlage der Bevoumllkerung das jeweilige Regierungshandeln und die Witterungsverhaumlltnisse in unterschiedlichen Medientypen (Tageszeitungen Zeitschriften Regierungs- und Intelligenzblaumltter) Innovativ stellten die Intelligenzblaumltter kausale Zusammenhaumlnge zwischen den juumlngst vergangenen Kriegszeiten der Situation der Staats-finanzen und der durch die Wetterverhaumlltnisse verstaumlrkten Notlage der Bevoumllkerung her Herkle unterstreicht damit nicht das Gewicht der Intelligenzblaumltter als bdquowirtschafts- und kulturhistorische Quelleldquo (S 150) sondern auch ihre Bedeutung fuumlr die lokale und regionale Leserschaft

Den Themenbereich Religion eroumlffnet Andreas LINK mit seinem Beitrag bdquoReligioumlse Reaktionen auf das Jahr achtzehnhundertunderfroren im Raum Bayerisch Schwabenldquo wobei er auf das Krisenbewaumlltigungspotential von Religion gerade im Hinblick auf die Volksfroumlmmigkeit und die Laienbewegungen eingeht die bdquokaum direkte Spuren hinter-lassen habenldquo (S 153) Welch lohnenswerte Spuren es in diesem Zusammenhang zu ver-folgen gilt zeigt Link an der partiell im wuumlrttembergischen Korntal zum Stehen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

wiederholt vom Reich wie auch von Groszligherzogtum angeregte Spendenaktionen und Opfertage

Zwar kann Volk aus den Erinnerungen seiner Eltern und Groszligeltern von manchem unverhofften Wiedersehen berichten doch brachte auch die Nachkriegszeit Belastungen So musste die Gemeinde Durchmarschquartiere fuumlr die heimkehrenden Soldaten stellen Waffen mussten abgegeben werden um Zweckentfremdungen von Heeresgut entgegen-zutreten Vor allem aber hatte der Krieg fuumlr viele Maumlnner langfristig schwere psychische Folgen Fuumlr viele ehemalige Kriegsteilnehmer galt bdquoKam die Rede auf die Vergangenheit so war der Erzaumlhler sofort wieder bei seiner Truppe Wer ihnen oumlfters begegnete kannte alles schon Wort fuumlr Wort Am genauesten wusste es die Ehefrau sbquoWenn er nur einmal aufhoumlren wuumlrde vom anderletzten Krieg zu erzaumlhlenlsquoldquo (S 22)

Andreas MORGENSTERN beschaumlftigt sich mit dem Umbruch in Schiltach und der Taumltigkeit des dortigen Volksrates (S 79ndash88) Auch in der kleinen Industriestadt Lahr kam es zur Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates dessen Vorsitzender August Heinz schon 1919 uumlber den Verlauf der Revolution in Lahr berichtete Die Ausfuumlhrungen von Heinz sind im vorliegenden Band nochmals abgedruckt (S 191ndash200)

In Elzach kam es zwar nicht zur Schaffung eines Arbeiter- und Soldatenrates dafuumlr allerdings 1920 zu einer bdquoFastnachtsrevolutionldquo Gegen den Willen der Landesregierung die unter Bezugnahme auf die schweren Zeitlaumlufe auch 1920 keine Fastnachtsveranstal-tungen wuumlnschte setzten die Elzacher Schuttig ihr Narrentreiben durch Heiko HAUMANN erlaumlutert und interpretiert die genaueren Hintergruumlnde (S 89ndash100)

Nicht nur politisch sondern auch im Sport stand 1919 ein Neuanfang Nach dem Ersten Weltkrieg gelang dem Fuszligball der Durchbruch zum Massensport Die Zahl der Einzel-mitglieder des DFB stieg von 190000 (1914) auf 470000 (1920) um elf Jahre spaumlter die Millionengrenze zu uumlberschreiten Fuszligballfunktionaumlre der 1920er Jahre hatten dabei zwei Erklaumlrungen fuumlr die Popularitaumlt ihres Sports Sie betonten erstens dass die Mitglieder der Fuszligballvereine in einer krisengeschuumlttelten Zeit nach Zerstreuung suchten auch habe der Krieg die Ausbreitung des Fuszligballs gefoumlrdert Hinter den Frontlinien haumltten die Maumlnner waumlhrend der Kampfpausen Fuszligball gespielt und die neue Sportart in ihre Heimat gebracht Zudem betonten Fuszligballfunktionaumlre der 1920er Jahre zweitens dass ihre Sport-art klassenuumlbergreifend sei und keinerlei soziale Ausgrenzung gekannt habe

Uwe SCHELLINGER fragt nun nach den Motiven fuumlr die Vereinsgruumlndungen in laumlnd- lichen Gebieten Suumld- und Mittelbadens 1919 (S 65ndash77) Haben die gerade genannten Argumente auch hier zu Vereinsgruumlndungen beigetragen War der Fuszligball vor dem Ersten Weltkrieg vor allem in den groumlszligeren Staumldten verbreitet so kann Schellinger fuumlr 1919 tatsaumlchlich 17 Neugruumlndungen von Fuszligballvereinen nachweisen Jedoch erweist sich die Quellenlage zu den einzelnen Vereinen als aumluszligerst schwierig Gerade bei acht von 17 Vereinen laumlsst sich ein genaues Gruumlndungsdatum festlegen Bei drei Vereinen kann immerhin auf die Beteiligung von Militaumlr bei der Vereinsgruumlndung geschlossen werden In Bad Duumlrrheim gruumlndeten die Soldaten eines Reservelazaretts den oumlrtlichen Fuszligball-club Dieser war jedoch bei den Einheimischen nicht beliebt denn bereits zwei Turnver-eine hatten hier fusionieren muumlssen ein Turnverein galt als ausreichend Zudem musste der FC Bad Duumlrrheim recht bald seine Vereinslokalitaumlt wechseln Die Vereinsfarben bdquoRot-Weiszligldquo vor allem das vom Wirt als politisch verstandene bdquoRotldquo erweckten Misstrauen Bei anderen Vereinen kann Schellinger zudem nachweisen dass diese urspruumlnglich schon vor dem Ersten Weltkrieg gegruumlndet werden sollten aufgrund der Zeitlaumlufe die Gruumlndung jedoch aufgeschoben wurde ndash so bei Germania Rauental (Kreis Rastatt) und dem

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gebrachten Russlandwanderung der Anhaumlnger des charismatischen Dorfpfarrers Ignaz Lindl aus Baindlkirchen der der chiliastischen Allgaumluer Erweckungsbewegung nahe-stand

Sabine HOLTZ eine weitere Mitherausgeberin des Konferenzbandes vertieft mit ihrem Beitrag bdquoVor Miszligwachs Frost und Hagelwolke Behuumlt uns aller Engel Schar Religion und Kirche in Zeiten der Kriseldquo den Themenschwerpunkt Religion Sie blickt zuruumlck auf die Neuformierung Wuumlrttembergs 180306 als das evangelische Herzogtum zum erheb-lich vergroumlszligerten Koumlnigreich mit katholischer und juumldischer Bevoumllkerung wurde und geht dabei auf die staatsintegrative Kirchenreformpolitik Friedrichs I ein die fuumlr die evangelische wie katholische Kirche einem Staatskirchentum gleichkam Auf evange- lischer Seite erregte die Einfuumlhrung der grundlegend modernisierten Liturgie die u v a bei der Taufe ohne die fuumlr die Pietisten grundlegende bdquoAbsage des Taumluflings an den Teufelldquo auskam und auf katholischer Seite die Abschaffung von Feiertagen Prozessionen und vielen anderen vertrauten Formen der Volksfroumlmmigkeit die Ablehnung der Glaumlubi-gen Verstaumlrkt wurde der seitdem wahrnehmbare Dissens zwischen Kirche und Laien durch die Reaktionen der Amtskirchen auf die bedrohliche Hungerkrise die nicht die traditionellen Buszligpredigten und Wallfahrten ansetzten sondern pragmatisch-praktische Unterstuumltzungsmaszlignahmen zur Krisenbewaumlltigung ergriffen

Matthias OHM untersucht in seinem eindrucksvoll bebilderten Beitrag bdquoGross ist die Noth ndash o Herr erbarme Dich Wuumlrttembergische Medaillen auf die Hungersnot 1816 und den Erntesegen 1817ldquo fuumlnf wuumlrttembergische Medaillen die aus Anlass der Ernaumlhrungs-krise von 1816 und der guten Ernte des Folgejahres gepraumlgt wurden als Medien der Erinnerung Aumlhnlich den Volks- und Prachtausgaben von Buumlchern zielten auch die wuumlrt-tembergischen Hunger- und Erntemedaillen in unterschiedlicher kuumlnstlerischer Qualitaumlt und aus mehr oder weniger edlem Metall gefertigt bdquoals Erinnerungstraumlgerinnenldquo (S 230) auf ein ungleich betuchtes Publikum von diesem allerdings gleichermaszligen begeistert angenommen bestimmen sie bis heute die Erinnerung an die Reaktionen der Zeitgenos-sen auf die Tamborakrise

Joachim KREMER setzt wie man angesichts seines Themas bdquoWenn es blitzt wenn es kracht hellipldquo Naturereignisse und die Vampyr-Opern Heinrich Marschners und Peter von Lindpaintnersldquo formulieren darf den musikhistorischen Schlussakkord des Kon- ferenzbandes Er stellt zwei an John Polidoris 1816 am Genfer See entstandene Erzaumlh- lung bdquoThe Vampyreldquo angelehnte 1828 in Stuttgart bzw Leipzig uraufgefuumlhrte und zeitgenoumlssisch trotz ihrer atmosphaumlrischen Gegensaumltzlichkeit erfolgreiche Opern vor die beide die Wetterphaumlnomene der Krisenjahre in TextLibretto und Vertonung auf- griffen

Insgesamt haumllt dieser interdisziplinaumlre Konferenzband was sein Titel verspricht und vermittelt seinen Leserinnen und Lesern innovative weit uumlber den deutschen Suumldwesten hinausweisende international vergleichende Einblicke in die Wahrnehmung und Bewaumll-tigung der Tambora(ernaumlhrungs)krise Gerade auch die in den Beitraumlgen angesprochene Vorgeschichte des bdquogroszligen Noth- und HungerJahrsldquo 1816 im Suumldwesten ndash ob sie auf die politisch-oumlkonomischen Herausforderungen der Reformzeit verweisen ob sie auf die kri-senverschaumlrfenden klimatischen Bedingungen der schlechten Ernten der Jahre 1813ndash15 eingehen oder ob sie die Stimmung der Bevoumllkerung medial oder kuumlnstlerisch ausmessen ndash zeigen das Erklaumlrungspotential vertiefter Kontextualisierung und multiperspektivisch verglichener zeitgenoumlssischer Wahrnehmung und Deutung

Ina Ulrike Paul

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Diese demokratischen Errungenschaften standen jedoch fuumlr die Zeitgenossen im Schatten der Niederlage im Ersten Weltkrieg Ganz besonders galt dies fuumlr Baden Durch den Ver-sailler Vertrag war Baden zum Grenzland geworden und Elsass-Lothringen als Markt weggebrochen auch wurde Kehl als Bruumlckenkopf durch die Franzosen besetzt

Zahlreiche Forschungen haben sich vor diesem Hintergrund mit dem Umbruch 19181919 in den Staumldten beschaumlftigt so bereits die von der badischen Vorlaumlufigen Volks-regierung angeregte Studie von Wilhelm Engelbert Oeftering bdquoDer Umsturz 1918 in Badenldquo (Konstanz 1920) die vor allem das Geschehen in Mannheim und Karlsruhe in den Fokus ruumlckt Die Autoren der vorliegenden Publikation moumlchten dagegen nach der Lebenswelt der Menschen in der Endphase des Ersten Weltkrieges wie auch waumlhrend der Weimarer Republik im kleinstaumldtischen und laumlndlichen Mittel- und Suumldbaden fragen Bei den hier publizierten Aufsaumltzen handelt es sich um leicht uumlberarbeitete Fassungen der Vortraumlge des 5 Tags der Regionalgeschichte der im Juni 2018 in Waldkirch statt- gefunden hat

Zum Auftakt des Bandes blickt Karl VOLK auf die bdquoStimmung in Gremmelsbach gegen Kriegsende 191718ldquo (S 13ndash22) Grundlage fuumlr die Ausfuumlhrungen Volks bilden Feld-postbriefe von Soldaten sowie die Unterlagen der Gemeindeverwaltung des kleinen Schwarzwalddorfes Gremmelsbach (heute Teilort der Stadt Triberg) Der Lehrer und Heimatforscher Volk der bereits in einem fortgeschrittenen Lebensalter steht (Jg 1936) kann bei seinen Ausfuumlhrungen zudem auf die Erinnerungen seiner Eltern und Groszligeltern zuruumlckgreifen

Aus der Feldpost der Soldaten aus Gremmelsbach ergibt sich dass diese kaum von Hassgefuumlhlen sei es gegenuumlber den Feinden der eigenen politischen oder militaumlrischen Fuumlhrung oder auch der des Gegners gepraumlgt waren Dagegen spricht aus den Briefen die Brutalitaumlt des Krieges und die Furcht die Angehoumlrigen nicht wieder zu sehen Aus den Schriftwechseln mit den Familien zuhause in Gremmelsbach wird auszligerdem deutlich welch dramatische Folgen Einberufung oder gar der Tod von Soumlhnen haben konnten Volk berichtet von einem Fall in dem der Verlust mehrerer Soumlhne den Niedergang eines der wohlhabendsten Houmlfe des Dorfes zur Folge hatte Auch die Trauer und Verlegenheit des Pfarrers der den Tod der Ehemaumlnner Soumlhne und Bruumlder den Familien beibringen musste sind Thema der Briefe Doch nicht nur der Tod von Angehoumlrigen sondern auch das Einschmelzen der Kirchenglocken zur Metallgewinnung fuumlr den Krieg bzw das letzte Laumluten der Glocken vor dem Abtransport werteten die Buumlrger der Schwarzwaldgemeinde als schlechtes Vorzeichen

Anhand der Rathausakten zeigt Volk weiter auf wie sich die Kommunalverwaltung einer Flut von Verordnungen aus Berlin und Karlsruhe ausgesetzt sah Im Zentrum dieser Verordnungen standen u a Rationierungsmaszlignahmen Ab 1917 wurde genau festgelegt welche Menge an Hafer und Gerste an Zugtiere verfuumlttert werden durfte Auch wurden saumlmtliche landwirtschaftlich nutzbare Flaumlchen erfasst genauso musste der Buumlrgermeister daruumlber Auskunft geben inwieweit bdquoAnzeichen bevorstehender Unruhenldquo (S 16) aus- gemacht werden konnten Dies war in Gremmelsbach nicht der Fall Auch zahlreiche andere Anfragen an die Gemeindeverwaltung Gremmelsbach waren im Grunde gegen-standslos So konnte der Buumlrgermeister nicht uumlber etwaige Liebesverhaumlltnisse von deut-schen Maumlgden mit Kriegsgefangenen berichten da es in Gremmelsbach keine Kriegs- gefangenen gab die zur Arbeit in der Landwirtschaft zwangsverpflichtet worden waren Zum Kennzeichen der Kriegsjahre wurden fuumlr die Buumlrger der kleinen Schwarzwald- gemeinde jedoch die Kriegsanleihen die manchen um ein Vermoumlgen brachten und

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Hans FENSKE Auf dem Weg zur Demokratie Das Streben nach deutscher Einheit 1792ndash1871 Reinbek Lau-Verlag 2018 439 S Abb geb EUR 38ndash ISBN 978-3-95768-184-3

Die 1990er Jahre waren fuumlr die deutsche Geschichtswissenschaft eine Zeit in der sich weitreichende methodische Veraumlnderungen durchzusetzen begannen Die Geschichte der Auszligenpolitik wurde nicht mehr an den Quellen entlang als Entscheidung groszliger Maumlnner erzaumlhlt Historikerinnen und Historiker uumlbernahmen aus der Politologie Theorien der internationalen Beziehungen und fragten nach dem Wandel des internationalen Staaten-systems Sie entdeckten in der Folge die Bedeutung von symbolischen Handlungen und Inszenierungen fuumlr die Auszligenpolitik der letzten 200 Jahre fragten nach der Relevanz von Emotionen und dem Erklaumlrungspotential der Kategorie Imperium Ausgehend von Vordenkern in den 1980er Jahren entstand parallel eine neue Historiographie uumlber Nation und Nationalismus die stark kulturalistisch gepraumlgt war (und ist) Sie verwies auf die Vielzahl und Konkurrenz nationaler Vorstellungen in der jeweiligen Zeit auf die Nation inhaumlrenten Dimensionen von Partizipationsangeboten nach innen und Aggression gegen-uumlber dem was als auszligen definiert wurde und sensibilisierte fuumlr unterschiedliche Akteure in den Nationalisierungsprozessen Zu diesen zaumlhlten auch Historiker wie die Forschung nicht nur fuumlr Deutschland umfassend herausgearbeitet hat So wurden auch aus dem 19 Jahrhundert stammende Deutungsmuster der Geschichtswissenschaft etwa der Borussianismus historisiert Schlieszliglich waumlre auf die Fruumlhneuzeithistoriker zu verweisen die das Heilige Roumlmische Reich Deutscher Nation nicht mehr als deutschen Nationalstaat begriffen (und begreifen) sondern seine spezifische Form von Staatlichkeit in seiner europaumlischen Eingebundenheit betonen Eine im Jahr 2018 erschienene Veroumlffentlichung mit dem Thema bdquoAuf dem Weg zur Demokratie Das Streben nach deutscher Einheit 1792ndash1871ldquo kann also vielfaumlltige Erwartungen wecken

Der 1936 geborene Historiker Hans Fenske skizziert das Ziel seines Buches in einem 15-zeiligen Vorwort in dem er ausgehend von der Niederlegung der Kaiserkrone durch Kaiser Franz II 1806 konstatiert dass bdquofast 900 Jahreldquo bdquoseit der Wahl des Frankenkoumlnigs Konrad zum deutschen Koumlnig in Forchheim 911ldquo verstrichen seien bdquomit dem Untergang des Reichesldquo aber bdquoder Wunsch der Deutschen nach staatlicher Zusammengehoumlrigkeit natuumlrlichldquo nicht aufgehoumlrt sondern bdquoim Gegenteil in der Folgezeit sehr an Kraftldquo gewon-nen habe bdquoDem Weg vom alten zum neuen Reichldquo sei seine Darstellung gewidmet die die deutsche Geschichte nicht im umfassenden Sinne nachzeichnen wolle sondern nur eine sehr wichtige Entwicklungslinie Dann beginnt Fenskes Darstellung mit einer Skizze der politischen Ereignisse zwischen 1792 und 1806 die das Ende des Heiligen Roumlmischen Reiches Deutscher Nation bedeuteten Hier wie im Folgenden konzentriert sich Fenske auf das Handeln der Herrscher und ihrer Berater und erzaumlhlt die Ereig- nisse als Geschichte von Kabinettspolitik Fuumlr den Vormaumlrz weicht der Autor insofern von dieser Erzaumlhlperspektive ab als dass er einige Akteure der Nationalbewegung kurz vorstellt und Ereignisse wie das Wartburg-Fest oder das Hambacher Fest erwaumlhnt Mit Blick auf die Revolution von 184849 interessiert sich Fenske fuumlr die National- staatsplaumlne der Paulskirche und das Handeln der Herrschenden Welche nationalen Ziele andere Gruppen vertraten tritt dahinter zuruumlck Gerade beim Blick auf 1848 zeigt sich zudem dass der Titel bdquoAuf dem Weg zur Demokratieldquo irrefuumlhrend ist denn Fenske fokussiert generell auf ausgewaumlhlte Aspekte des Weges zur Bildung des kleindeutschen Nationalstaates nicht auf die Entwicklung von Partizipationsrechten und demokratischen Ideen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Pomp abgrenzen wollte Hinzu kam bei Ebert sicherlich auch die Furcht vor Angriffen durch seine politischen Gegner mit Hilfe dieses neuen Mediums Und diese Furcht war nicht unbegruumlndet Gleich zu Beginn seiner Praumlsidentschaft wurde Ebert 1919 wegen des sogenannten Badehosenbildes mit Schmaumlhungen uumlberhaumluft die sich letztlich gegen die neue Republik richteten und seine ganze Amtszeit uumlberschatteten Erst allmaumlhlich lernten Eberts Stab und auch der Praumlsident selbst repraumlsentative Elemente in die praumlsidiale Amts-fuumlhrung einzubauen und nicht zuletzt mit Hilfe der Fotografie fuumlr sich zu nutzen Dabei lieszlig Ebert nun auch vereinzelt Bilder aus dem familiaumlr-privaten Bereich veroumlffentlichen allerdings sehr zuruumlckhaltend Ihm war wohl bewusst dass solche Aufnahmen in der Fruumlhphase der Weimarer Republik in einer Zeit der politischen und wirtschaftlichen Hochspannung schnell zu Lasten des dargestellten Politikers interpretiert werden konn-ten was Muumlhlhausen auch an signifikanten Beispielen darlegen kann

Die oumlffentliche Person Friedrich Ebert wird im Bildband in zahlreichen Facetten prauml-sentiert zunaumlchst in Portraumltaufnahmen die ihn meist als ernst blickenden und damit gemaumlszlig den Vorstellungen der damaligen Zeit als serioumlsen Politiker zeigen daruumlber hinaus in Bildern die seine Auftritte bei politischen Versammlungen und Konferenzen doku-mentieren Fotografien die ihn als Redner an Rednerpulten oder inmitten von Menschen-mengen zeigen aber auch Aufnahmen die seine Teilnahme an den wenigen politisch- repraumlsentativen Veranstaltungen belegen die es in der Weimarer Republik gab ndash allen voran an den von Ebert sehr gefoumlrderten Verfassungsfeiern oder bei seinen offiziellen Reisen durch die Republik Bilder die die auszligenpolitische Repraumlsentation des Reichs-praumlsidenten beinhalten sind hingegen relativ selten da derartige Anlaumlsse nicht zuletzt aufgrund der internationalen Isolation Deutschlands selten waren Hinzu kommen Bilder von Messebesuchen Aufnahmen mit Kuumlnstlern Wissenschaftlern etc Schoumln herausge-arbeitet ist auch die Praxis der Reisetaumltigkeit Eberts im Kapitel Fortbewegung Es zeigt einen Reichspraumlsidenten der sich verkehrstechnisch auf der Houmlhe der Zeit bewegte und neben Bahn und Auto auch schon das Flugzeug einsetzte Der Bildteil endet mit einem Abschnitt uumlber den Tod und das Begraumlbnis des Praumlsidenten

Aufgrund der wenigen uumlberlieferten Privatfotos die zudem meist arrangierte Aufnah-men und keine sbquoSchnappschuumlsselsquo sind konnte das Leben Friedrich Eberts in seiner gan-zen Breite nur bedingt in dem vorliegenden Bildband wiedergegeben werden Vielmehr steht der oumlffentlich auftretende Politiker im Mittelpunkt Andererseits geben gerade die Portraumltaufnahmen Eberts an denen auch sein koumlrperlicher Verfall erkennbar wird Ein-blick in die Belastungen die die politische Arbeit mit sich brachte und verweisen wenn-gleich vom Portraumltierten sicherlich unbeabsichtigt auf ein sehr persoumlnliches Moment Insgesamt ist Muumlhlhausen mit diesem Band nicht nur ein wertvoller Beitrag zur poli- tischen Geschichte der Weimarer Republik gelungen sondern daruumlber hinaus auch zur Fotografiegeschichte dieser Zeit Es waumlre sicherlich lohnend derartige Publikationen auch fuumlr andere Persoumlnlichkeiten der Weimarer Zeit in Angriff zu nehmen

Martin Furtwaumlngler

Andreas MORGENSTERN (Hg) Revolutionaumlre Jahre auf dem Land Vom Kriegsende 1918 zur Weimarer Republik in Mittel- und Suumldbaden (Lebenswelten im laumlndlichen Raum Historische Erkundungen in Mittel- und Suumldbaden Bd 5) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 208 S Abb geb EUR 1890 ISBN 978-3-95505-157-0

Der Umbruch der Jahre 19181919 brachte den Deutschen die parlamentarische De-mokratie und damit verbunden die Einfuumlhrung von Proporzwahl- und Frauenwahlrecht

68719 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 687

In der Darstellung zur Zeit nach 1848 ruumlckt Fenske Bismarck immer mehr in den Mittelpunkt seiner Darstellung Aus einem groszligen Quellenfundus schoumlpfend fuumlgt der Historiker ndash hier wie auch schon in den vorangegangenen Passagen ndash zahllose Zitat zusammen Der Autor erzaumlhlt ereignisgeschichtlich den Weg von den Plaumlnen eines Unionsparlamentes uumlber die Kriege der 1860er Jahre bis zur Gruumlndung des deutschen Kaiserreiches von 1871 waumlhrend des deutsch-franzoumlsischen Krieges als Interaktion groszliger Maumlnner Andere Ansaumltze der Forschung diskutiert Fenske nicht Vereinzelt weist er kurz ihm als Bismarck- oder Preuszligenkritisch erscheinende Deutungen zuruumlck Schlieszliglich fasst Fenske seine Darstellung auf gut vier Seiten zusammen um abschlieszligend einige Worte zum Deutschen Kaiserreich von 1871 zu finden und mit Bismarck fuumlr die fruumlhe wilhelminische Zeit von einer latenten Parlamentsherrschaft zu sprechen und zu schlie-szligen dass Deutschland bis 1914 bdquoauf dem Wege zur Demokratieldquo weit vorangekommen sei (S 385)

Erfahrungswissen und Erwartungshorizont sind nicht nur zentrale Kategorien mit deren Hilfe die Geschichtswissenschaft seit vielen Jahren ertragreich arbeitet Sie bestimmen auch den Blick eines Rezensenten Dies gilt auch fuumlr diese Besprechung An-gesichts des Eingangs skizzierten Wandels der Forschungsperspektiven seit den 1990er Jahren erfuumlllt die Veroumlffentlichung von Fenske nicht die Erwartungen des Rezensenten Andere moumlgen dies anders sehen

Christopher Dowe

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Nation im Siegesrausch Wuumlrttemberg und die Gruumlndung des Deutschen Reiches 187071 Begleitbuch zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Wuumlrttemberg Hauptstaatsarchiv Stuttgart Stuttgart Kohlhammer 2020 384 S Abb 1 Beil geb EUR 35ndash ISBN 978-3-17-038182-7

Der Deutsch-Franzoumlsische Krieg von 187071 und die Gruumlndung des Deutschen Rei-ches sind in der heutigen Erinnerungskultur nur noch wenig praumlsent obgleich die deut-sche Nationsbildung unter Fuumlhrung des militaumlrisch erfolgreichen Koumlnigreichs Preuszligen und die Demuumltigung Frankreichs tiefgreifende Folgen fuumlr den weiteren Verlauf der europaumlischen Geschichte hatten Fuumlr Wuumlrttemberg dessen Koumlnig und Bevoumllkerung einer Nationalstaatsgruumlndung unter preuszligischer Fuumlhrung ablehnend gegenuumlberstanden bildete der Krieg gegen Frankreich einen Wendepunkt Hatte die preuszligenfeindliche Volkspartei noch im Fruumlhjahr 1870 gegen das wuumlrttembergische Kriegsdienstgesetz agitiert so wurde nach Kriegsbeginn im Juli und den ersten deutschen Siegen im August 1870 auch Wuumlrt-temberg von einer Welle nationaler Begeisterung erfasst der sich Koumlnig und Regierung nicht widersetzen konnten Dennoch trat das Koumlnigreich Wuumlrttemberg erst als letzter suumld-deutscher Staat am 25 November 1870 dem Deutschen Reich bei

Der vorliegende Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Hauptstaatsarchiv Stuttgart beleuchtet in zwoumllf Beitraumlgen die historischen Ereignisse die eine tiefgreifende Zaumlsur in der wuumlrttembergischen Geschichte und einen Verlust an staatlicher Eigenstaumln-digkeit mit sich brachten Zwei Beitraumlge naumlhern sich dem Gegenstand aus allgemeiner Perspektive Ewald FRIE geht der Frage nach ob das Deutsche Reich bei seiner Gruumlndung 1871 als Imperium oder als Nationalstaat einzuordnen sei und kommt zum Schluss dass das Deutsche Reich beides nicht war sondern bdquosich Reich nannte und Nation sein bzw werden wollteldquo (S 9) Erst durch die Kolonialpolitik erfolgte um 1900 eine Neuausrich-tung des Reiches hin zu einer neuen bdquoWeltpolitikldquo Ute PLANERT betont in ihrem Beitrag

682 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 682

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

bdquoNationalismus und Krieg ndash eine innige Beziehungldquo dass Nationalstaaten seit dem 18 Jahrhundert meist als bdquoKriegsgeburtenldquo entstanden sind (S 17) Das nationale Prinzip trage zwar zum staatlichen Zusammenhalt bei jedoch auf Kosten von ethnischen oder religioumlsen Minderheiten und unter Androhung von Gewalt gegenuumlber benachbarten Nationen

Es folgen Beitraumlge zum militaumlrischen Konflikt Gerhard P GROSS fuumlhrt aus dass der Deutsch-Franzoumlsische Krieg bdquozugleich Bestaumltigung und Wendepunkt des deutschen militaumlrischen Denkensldquo war (S 42) was sich bis hin zur deutschen Kriegsfuumlhrung im Zeitalter der Weltkriege ausgewirkt habe Der wuumlrttembergische Anteil an den mili- taumlrischen Operationen von 187071 bildet das Thema von Wolfgang MAumlHRLE der neue Einsichten fuumlr die auch militaumlrische Bedeutung des wuumlrttembergischen Kontingents vermittelt Unter dem Titel bdquoDer Krieg von 187071 als sbquoRacenkampflsquoldquo beschreibt Frank BECKER wie sozialdarwinistische Vorstellungen herangezogen wurden um den deutschen Sieg als Folge der Uumlberlegenheit der germanischen bdquoRasseldquo zu begruumlnden Anhand von vier exemplarischen Erinnerungsbuumlchern deutscher Veteranen des Kriegs von 187071 von denen allerdings nur einer im wuumlrttembergischen Militaumlr diente widmet sich der Beitrag von Tobias ARAND den Erinnerungen ehemaliger Soldaten als Zeugnisse ver- gangener Erinnerungskulturen und bdquoSpiegel gesellschaftlicher Diskurseldquo (S 97) Der Beitrag von Albrecht ERNST beleuchtet unter dem Titel bdquoDer Krieg ist furchtbar aber schoumln ist die Begeisterungldquo anhand der Briefe von Prinz Wilhelm von Wuumlrttemberg dessen persoumlnliche Einschaumltzungen und Beobachtungen des Frankreichfeldzugs 187071 Prinz Wilhelm stand im Gegensatz zum Koumlnigspaar der deutschen Einigung unter preuszligischer Fuumlhrung positiv gegenuumlber Der spaumltere wuumlrttembergische Koumlnig war allerdings nicht in die politischen Verhandlungen einbezogen und erfuhr erst durch ein Gespraumlch mit Groszligherzog Friedrich von Baden vom Beitritt Wuumlrttembergs im Novem- ber 1870

Ausfuumlhrungen zu unterschiedlichen Aspekten der deutschen Reichsgruumlndung schlieszligen sich an Unter dem Titel bdquoMonarchien unter Stress Die Vulnerabilitaumlt der Throne im deutschen und italienischen Nationsbildungsprozessldquo vergleicht Amerigo CARUSO die Auswirkungen der Nationalbildungsprozesse in Italien und Deutschland auf die Mo- narchien der Einzelstaaten die sehr unterschiedlich verlaufen sind Nicole BICKHOFF behandelt in ihrem Beitrag bdquosbquoWuumlrttemberg ist so feindlich []lsquo Das wuumlrttembergische Koumlnigshaus und die Gruumlndung des Deutschen Reichesldquo den angesichts der preuszligenfeind-lichen Haltung des Koumlnigspaares schwierigen Prozess des Beitritts von Wuumlrttemberg Aumlhnlich wie in der wuumlrttembergischen Bevoumllkerung insgesamt so vollzog sich wie Daniel MENNING zeigt auch im wuumlrttembergischen Adel erst durch die Dynamik der Ereignisse der 1860er Jahre eine Hinwendung zur kleindeutschen Nationalstaatsgruumln-dung und 1870 brachten dann viele Angehoumlrige des Adels ihre Zustimmung zur Reichs-gruumlndung auch oumlffentlich zum Ausdruck Mit der Entstehung der Reichsverfassung befasst sich Michael KOTULLA aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive wobei er mit den Schutz- und Trutzbuumlndnissen 186667 beginnt und dies bis zur Reichsverfassung weiterverfolgt Anhand wuumlrttembergischer Denkmale konstatiert Friedemann SCHMOLL in seinem Beitrag bdquoGleichschritt Eigenstaumlndigkeit Doppelloyalitaumlten Krieg Sieg Reich und Nation im wuumlrttembergischen Denkmalkult nach 187071ldquo die bdquotiefe Verankerung des Reichsnationalismusldquo der jedoch im Sinne eines bdquofoumlderativen Nationalismusldquo (S 179) die Loyalitaumlt gegenuumlber Wuumlrttemberg und seiner kulturellen Eigenstaumlndigkeit nicht in Frage stellte

68319 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 683

ziemlich unverstellten Blick auf das individuelle Erleben und Erleiden des Frontgesche-hens eroumlffnet sowie der Leserschaft einmal mehr die Grausamkeit und Eigendynamik entfesselter militaumlrischer Konflikte veranschaulicht

Michael Bock

Walter MUumlHLHAUSEN Friedrich Ebert Sein Leben in Bildern hg von der Stiftung Reichs-praumlsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstaumltte Ostfildern Thorbecke 2019 272 S Abb geb EUR 38ndash ISBN 978-3-7995-1371-5

Die Fotografie avancierte in der Weimarer Republik zum entscheidenden Medium fuumlr die Wahrnehmung eines Politikers in der Oumlffentlichkeit Die Macht der Bilder wurde massentauglich Denkmaumller Gemaumllde Bauten wurden in ihrer propagandistischen Wir-kung uumlberfluumlgelt durch die beliebig zu vervielfaumlltigende Fotografie die auf Postkarten Zeitungen oder in Illustrierten oft ein Millionenpublikum erreichte Vor diesem Hinter-grund praumlsentiert Walter Muumlhlhausen ausgewiesener Kenner der Lebensgeschichte Fried-rich Eberts seinen vorliegenden Bildband uumlber den ersten Reichspraumlsidenten Mit einer Auswahl von rund vierhundert Aufnahmen soll das Leben Eberts in Bildern nachgezeich-net werden Die Abbildungen konnten zum uumlberwiegenden Teil durch eine systematische Suche in den zentralen deutschen Bildsammlungen sowie durch sporadische Recherchen in auslaumlndischen Bildarchiven ermittelt werden

Nach einer umfassenden und instruktiven Einleitung wird das Leben Eberts bildlich in chronologischen Abschnitten praumlsentiert wobei die Zeit seiner Reichspraumlsidentschaft aufgrund der relativen Dichte des vorliegenden Bildmaterials eine thematische Unter-gliederung erfaumlhrt Erwartungsgemaumlszlig sind aus Kindheit Jugend und dem jungen Erwach-senenalter Eberts nur wenige fotografische Zeugnisse uumlberliefert Schlieszliglich konnte sich sein im kleinhandwerklichen Milieu angesiedeltes Elternhaus und spaumlter auch er selbst als Sattlergeselle gar nicht oder nur sehr selten den Gang zum Fotografen leisten der fuumlr die Erstellung von Lichtbildern im letzten Drittel des 19 und fruumlhen 20 Jahrhundert noch unabdingbar war Insgesamt uumlberwiegen auch fuumlr die spaumltere Zeit als prominenter Poli-tiker die im oumlffentlichen Raum entstandenen Bilder von professionellen Pressefotografen Rein private Aufnahmen sind nur in geringerer Zahl uumlberliefert was zum Teil vielleicht auch aus Kriegsverlusten aus dem Zweiten Weltkrieg herruumlhrt in dem der Haushalt von Eberts Witwe bei einem Bombenangriff zerstoumlrt wurde

Doch uumlberraschenderweise liegen auch fuumlr den Lebensabschnitt als Reichspraumlsident von 1919 bis 1925 so Muumlhlhausen nicht so viele fotografische Zeugnisse uumlber Eberts Auftreten im oumlffentlichen Raum vor wie zu erwarten gewesen waumlre Dies lag zum einen an den lange Zeit begrenzten technischen Moumlglichkeiten der Fotografie Die ersten wirk-lich praktikablen Handkameras die die Fotografen mobiler und flexibler machten und sbquoSchnappschuumlsselsquo erlaubten waren erst nach der Inflationszeit 1923 serienmaumlszligig verfuumlg-bar Die eingeschraumlnkten Moumlglichkeiten davor dokumentiert der Band auch sehr ein-drucksvoll wenn etwa Personen auf Bildern nur verschwommen zu sehen sind weil sie sich im Moment der Aufnahme geringfuumlgig bewegt haben (vgl z B S 133 Abb 16 und 17) Zum anderen lag die relativ geringe Zahl an Aufnahmen aus der Zeit seiner Reichs-praumlsidentschaft in Ebert selbst begruumlndet Denn lange Zeit stand der Reichspraumlsident einer intensiven Oumlffentlichkeitsarbeit und damit auch Fotografien von seiner Person skep-tisch bis ablehnend gegenuumlber Neben der ihm eigenen persoumlnlichen Bescheidenheit kam darin auch die in der SPD weitverbreitete Ablehnung des Personenkults und der aus-ufernden Repraumlsentation zum Ausdruck womit man sich vor allem vom kaiserzeitlichen

686 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 686

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Den letzten Abschnitt bildet der Katalogteil der die 180 Exponate umfassende Aus-stellung im Hauptstaatsarchiv Stuttgart eindruumlcklich und sachkundig dokumentiert Diese geht auf die Vorgeschichte der Reichsgruumlndung in Wuumlrttemberg ein gefolgt von der Beteiligung der wuumlrttembergischen Armee am Deutsch-Franzoumlsischen Krieg und dem Stimmungswandel in Wuumlrttemberg hinsichtlich einer Nationalstaatsgruumlndung unter preu-szligischer Fuumlhrung sie wird abgeschlossen durch einen Abschnitt zum Erinnerungskult zu dem Deutsch-Franzoumlsischen Krieg und der Reichsgruumlndung in Wuumlrttemberg Breiter Raum in dem hervorragend kommentierten und ausgestatteten Katalogteil wird auch den oft schweren Verwundungen von Soldaten und den erheblichen Zerstoumlrungen von fran-zoumlsischen Staumldten wie Straszligburg gewidmet Die Erinnerungskultur uumlberdeckte spaumlter die Tatsache dass der deutsche Sieg alles andere als leicht war und eine groszlige Zahl an Todesopfern forderte Der erdrutschartige Erfolg der Nationalliberalen bei den Wahlen zur wuumlrttembergischen Abgeordnetenkammer 1870 sowie die Erinnerungsschriften und Denkmaumller im Gefolge von Krieg und Reichsgruumlndung finden ebenfalls in vielen Expo-naten Beruumlcksichtigung Den Abschluss bilden eine Literaturliste und eine Karte zur wuumlrttembergischen Beteiligung am Kriegsverlauf 187071

Der reich mit vielen farbigen Abbildungen ausgestattete Band vermittelt ein eindruumlck-liches Bild der Rolle Wuumlrttembergs im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg und bei der Reichs-gruumlndung Es ist zu wuumlnschen dass er dazu beitraumlgt diesem zentralen Einschnitt in der europaumlischen Geschichte neue Aufmerksamkeit zu schenken Interessant waumlren dabei insbesondere vergleichende Darstellungen zur Entwicklung beim damaligen Kriegsgeg-ner Frankreich etwa hinsichtlich der Vorgeschichte des Krieges und der Erinnerungs-kultur Speziell fuumlr Wuumlrttemberg koumlnnte auch der Frage nachgegangen werden wie der Prozess der Nationsbildung in der Bevoumllkerung vonstattenging Auch ein Ausblick ob der dargestellte Einstellungswandel gegenuumlber Preuszligen und dem von ihm dominierten Reich von Dauer war und ob es auch andere Haltungen gab die nach der Reichsgruumlndung zum Tragen kamen waumlre hier von Belang Der eindrucksvolle Band bietet eine ausge-zeichnete Grundlage fuumlr solche weiteren Forschungen

Michael Wettengel

Carl PISTER Tagebuch 1914ndash1918 hg von Volker KRONEMAYER (Schriftenreihe des Ver-eins fuumlr Heimat- und Brauchtumspflege BruumlhlRohrhof eV Bd 1) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 192 S Abb Kt geb EUR 1890 ISBN 978-3-95505-121-1

Zu unterscheiden sind offizielle und inoffizielle Kriegstagebuumlcher Bei der amtlichen Gattung handelt es sich um mehr oder minder standardisierte in der Regel chronologisch angelegte schriftliche Darlegungen militaumlrischer Einheiten Verbaumlnde und Dienststellen diverser Organisationsebenen uumlber ver- und bemerkenswerte Aktivitaumlten und Ereignisse in ihrem jeweiligen Funktions- Operations- und Zustaumlndigkeitsbereich (z B befindet sich eine umfangreiche Uumlberlieferung offizieller Tagebuumlcher des die badischen Truppen-teile umfassenden XIV Armeekorps des deutschen Reichsheers aus dem Ersten Weltkrieg in den Bestaumlnden des Generallandesarchivs Karlsruhe) Kriegstagebuumlcher privater Provenienz hingegen sind subjektive Aufzeichnungen zumeist von Soldaten uumlber ihre Erlebnisse und Erfahrungen an den Schauplaumltzen ihrer Einsaumltze Ein prominentes Exem-plar dieser Gattung ist Ernst Juumlngers Erstlingswerk bdquoIn Stahlgewitternldquo Die meisten persoumlnlichen Kriegsdiarien bleiben indessen eher unbekannt Der Heimatverein in der nordbadischen Gemeinde Bruumlhl hat den Aufwand nicht gescheut ein solches aus der

684 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 684

Versenkung zu heben und der Oumlffentlichkeit zu praumlsentieren ndash nicht allzu uumlberraschend handelt es sich beim Autor doch um einen ehemaligen Buumlrgermeister (1919ndash1928) dieser Kommune Der Tagebuchschreiber dessen Kurzbiografie uumlbrigens ans Ende der Publi-kation platziert wurde heiszligt Carl Pister bereits ab 1912 ndash mit 28 Jahren ndash Gemeinderat (SPD) in Bruumlhl Die veroumlffentlichte Fassung entspricht dem in den 1920er Jahren erstell-ten 183 Seiten umfassenden Typoskript seines waumlhrend des Ersten Weltkriegs regelmaumlszligig gefuumlhrten Tagebuchs mit nachtraumlglich eingeflossenen Wertungen Ausformulierungen und Ergaumlnzungen des Verfassers Wesentlich angereichert wurde das Diarium mit zahl-reichen bebilderten Feldpostkarten die Pister an seine Frau Familie und Verwandte geschickt hatte und deren Wiedergabe in den chronologischen Zusammenhang eingebettet wurde Das Tagebuch beginnt am 5 August 1914 mit einer Postkarte vom Sammelpunkt Rastatt wo die Bahnverladung fuumlr den ersten Fronteinsatz stattfand und endet mit einem Eintrag vom 11 Dezember 1918 aus Niederzwehren bei Kassel als die Einheit der Pister zuletzt angehoumlrt hatte demobilisiert wurde Die mehr als vier Jahre dazwischen waren gepraumlgt durch einen haumlufigen Wechsel der Einsatzorte auch wenn der Verfasser bereits im Oktober 1914 einen Uumlbergang des Bewegungskriegs hin zu einem Stellungskrieg wahrnahm Anhand der 13 vom Herausgeber Volker Kronemayer gestalteten und in chro-nologischer Abfolge in den Text eingestreuten Skizzen laumlsst sich gut nachvollziehen an welchen Schauplaumltzen der Artillerist Carl Pister ndash zunaumlchst als Kanonier (unterster Mannschaftsdienstgrad) zuletzt als Sergeant (Funktions-Unteroffizier) ndash waumlhrend des Kriegsverlaufs eingesetzt wurde u a Saarburg (Sarrebourg) Verdun Somme-Front Ostende (Oostende) und Arras Die anfaumlngliche Hoffnung auf ein rasches Kriegsende bis Weihnachten zerstob bereits im Spaumltsommer 1914 angesichts taumlglich beobachteter zahlreicher Verluste im Kameradenkreis und unermesslicher Zerstoumlrungen Das Grauen dieses langanhaltenden sbquoWeltenbrandslsquo mit neuartigen Vernichtungswaffen schildert Pister eindrucksvoll so etwa beim Besuch eines verwundeten Kampfgefaumlhrten im Laza-rett bdquoIch sehe Soldaten die uumlberhaupt keinem Menschen mehr gleichen so entsetzlich sind die Gesichter entstellt Ja bei vielen fehlt uumlberhaupt der Begriff Gesicht denn dort wo fruumlher die Augen lagen ist eine klumpige Fleischmasse angewachsen Nase Mund und Ohren fehlen teilweise ganz die Zungen sind freigelegt da die Unter- kiefer voumlllig weggerissen sind Ich sehe Kameraden bei denen ein Auge direkt auf die Stirn sich verschoben hat waumlhrend das andere Auge ganz fehltldquo (S 71) und spaumlter bdquoAm Leben hat man kein Interesse mehr am liebsten einen frischen Schluck Wasser dann auf die Erde legen und schlafen einschlafen ohne nochmals zu erwachen Was Schlaf Das gibt es nun nicht mehr Das ist sinnlose Einbildung Zu was sind wir vier Jahre im Feld Das Stahlbad kennt keine Schwaumlchlinge Entweder parieren oder krepie-renldquo (S 158)

Mit Akribie hat der Herausgeber den im Tagebuch mit deutschen Bezeichnungen ver-sehenen Einsatzorten ndash in Fuszlignoten ndash jeweils deren heutige franzoumlsische oder belgische Namen (mit Postleitzahl und Staatszugehoumlrigkeit) hinzugefuumlgt Ebenfalls verwandte Kronemayer viel Muumlhe darauf sechs umfangreiche Anlagen zusammenzustellen um die Lektuumlre des Diariums zu erleichtern Dabei handelt es sich um Auflistungen aller im Tagebuch vorkommenden Orte sowie der Personennamen aus dem privaten und militaumlr-dienstlichen Umfeld Carl Pisters des Weiteren um Verzeichnisse der Soldatensprache und militaumlrischer Begriffe sowie der im Diarium erwaumlhnten militaumlrischen Einheiten und um eine luumlckenlose Chronologie der Einsatzorte Pisters Der Wert eines solchen persoumln-lichen Kriegstagebuchs bemisst sich gewiss primaumlr in seiner Authentizitaumlt die einen

68519 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 685

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Versenkung zu heben und der Oumlffentlichkeit zu praumlsentieren ndash nicht allzu uumlberraschend handelt es sich beim Autor doch um einen ehemaligen Buumlrgermeister (1919ndash1928) dieser Kommune Der Tagebuchschreiber dessen Kurzbiografie uumlbrigens ans Ende der Publi-kation platziert wurde heiszligt Carl Pister bereits ab 1912 ndash mit 28 Jahren ndash Gemeinderat (SPD) in Bruumlhl Die veroumlffentlichte Fassung entspricht dem in den 1920er Jahren erstell-ten 183 Seiten umfassenden Typoskript seines waumlhrend des Ersten Weltkriegs regelmaumlszligig gefuumlhrten Tagebuchs mit nachtraumlglich eingeflossenen Wertungen Ausformulierungen und Ergaumlnzungen des Verfassers Wesentlich angereichert wurde das Diarium mit zahl-reichen bebilderten Feldpostkarten die Pister an seine Frau Familie und Verwandte geschickt hatte und deren Wiedergabe in den chronologischen Zusammenhang eingebettet wurde Das Tagebuch beginnt am 5 August 1914 mit einer Postkarte vom Sammelpunkt Rastatt wo die Bahnverladung fuumlr den ersten Fronteinsatz stattfand und endet mit einem Eintrag vom 11 Dezember 1918 aus Niederzwehren bei Kassel als die Einheit der Pister zuletzt angehoumlrt hatte demobilisiert wurde Die mehr als vier Jahre dazwischen waren gepraumlgt durch einen haumlufigen Wechsel der Einsatzorte auch wenn der Verfasser bereits im Oktober 1914 einen Uumlbergang des Bewegungskriegs hin zu einem Stellungskrieg wahrnahm Anhand der 13 vom Herausgeber Volker Kronemayer gestalteten und in chro-nologischer Abfolge in den Text eingestreuten Skizzen laumlsst sich gut nachvollziehen an welchen Schauplaumltzen der Artillerist Carl Pister ndash zunaumlchst als Kanonier (unterster Mannschaftsdienstgrad) zuletzt als Sergeant (Funktions-Unteroffizier) ndash waumlhrend des Kriegsverlaufs eingesetzt wurde u a Saarburg (Sarrebourg) Verdun Somme-Front Ostende (Oostende) und Arras Die anfaumlngliche Hoffnung auf ein rasches Kriegsende bis Weihnachten zerstob bereits im Spaumltsommer 1914 angesichts taumlglich beobachteter zahlreicher Verluste im Kameradenkreis und unermesslicher Zerstoumlrungen Das Grauen dieses langanhaltenden sbquoWeltenbrandslsquo mit neuartigen Vernichtungswaffen schildert Pister eindrucksvoll so etwa beim Besuch eines verwundeten Kampfgefaumlhrten im Laza-rett bdquoIch sehe Soldaten die uumlberhaupt keinem Menschen mehr gleichen so entsetzlich sind die Gesichter entstellt Ja bei vielen fehlt uumlberhaupt der Begriff Gesicht denn dort wo fruumlher die Augen lagen ist eine klumpige Fleischmasse angewachsen Nase Mund und Ohren fehlen teilweise ganz die Zungen sind freigelegt da die Unter- kiefer voumlllig weggerissen sind Ich sehe Kameraden bei denen ein Auge direkt auf die Stirn sich verschoben hat waumlhrend das andere Auge ganz fehltldquo (S 71) und spaumlter bdquoAm Leben hat man kein Interesse mehr am liebsten einen frischen Schluck Wasser dann auf die Erde legen und schlafen einschlafen ohne nochmals zu erwachen Was Schlaf Das gibt es nun nicht mehr Das ist sinnlose Einbildung Zu was sind wir vier Jahre im Feld Das Stahlbad kennt keine Schwaumlchlinge Entweder parieren oder krepie-renldquo (S 158)

Mit Akribie hat der Herausgeber den im Tagebuch mit deutschen Bezeichnungen ver-sehenen Einsatzorten ndash in Fuszlignoten ndash jeweils deren heutige franzoumlsische oder belgische Namen (mit Postleitzahl und Staatszugehoumlrigkeit) hinzugefuumlgt Ebenfalls verwandte Kronemayer viel Muumlhe darauf sechs umfangreiche Anlagen zusammenzustellen um die Lektuumlre des Diariums zu erleichtern Dabei handelt es sich um Auflistungen aller im Tagebuch vorkommenden Orte sowie der Personennamen aus dem privaten und militaumlr-dienstlichen Umfeld Carl Pisters des Weiteren um Verzeichnisse der Soldatensprache und militaumlrischer Begriffe sowie der im Diarium erwaumlhnten militaumlrischen Einheiten und um eine luumlckenlose Chronologie der Einsatzorte Pisters Der Wert eines solchen persoumln-lichen Kriegstagebuchs bemisst sich gewiss primaumlr in seiner Authentizitaumlt die einen

68519 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 685

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

ziemlich unverstellten Blick auf das individuelle Erleben und Erleiden des Frontgesche-hens eroumlffnet sowie der Leserschaft einmal mehr die Grausamkeit und Eigendynamik entfesselter militaumlrischer Konflikte veranschaulicht

Michael Bock

Walter MUumlHLHAUSEN Friedrich Ebert Sein Leben in Bildern hg von der Stiftung Reichs-praumlsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstaumltte Ostfildern Thorbecke 2019 272 S Abb geb EUR 38ndash ISBN 978-3-7995-1371-5

Die Fotografie avancierte in der Weimarer Republik zum entscheidenden Medium fuumlr die Wahrnehmung eines Politikers in der Oumlffentlichkeit Die Macht der Bilder wurde massentauglich Denkmaumller Gemaumllde Bauten wurden in ihrer propagandistischen Wir-kung uumlberfluumlgelt durch die beliebig zu vervielfaumlltigende Fotografie die auf Postkarten Zeitungen oder in Illustrierten oft ein Millionenpublikum erreichte Vor diesem Hinter-grund praumlsentiert Walter Muumlhlhausen ausgewiesener Kenner der Lebensgeschichte Fried-rich Eberts seinen vorliegenden Bildband uumlber den ersten Reichspraumlsidenten Mit einer Auswahl von rund vierhundert Aufnahmen soll das Leben Eberts in Bildern nachgezeich-net werden Die Abbildungen konnten zum uumlberwiegenden Teil durch eine systematische Suche in den zentralen deutschen Bildsammlungen sowie durch sporadische Recherchen in auslaumlndischen Bildarchiven ermittelt werden

Nach einer umfassenden und instruktiven Einleitung wird das Leben Eberts bildlich in chronologischen Abschnitten praumlsentiert wobei die Zeit seiner Reichspraumlsidentschaft aufgrund der relativen Dichte des vorliegenden Bildmaterials eine thematische Unter-gliederung erfaumlhrt Erwartungsgemaumlszlig sind aus Kindheit Jugend und dem jungen Erwach-senenalter Eberts nur wenige fotografische Zeugnisse uumlberliefert Schlieszliglich konnte sich sein im kleinhandwerklichen Milieu angesiedeltes Elternhaus und spaumlter auch er selbst als Sattlergeselle gar nicht oder nur sehr selten den Gang zum Fotografen leisten der fuumlr die Erstellung von Lichtbildern im letzten Drittel des 19 und fruumlhen 20 Jahrhundert noch unabdingbar war Insgesamt uumlberwiegen auch fuumlr die spaumltere Zeit als prominenter Poli-tiker die im oumlffentlichen Raum entstandenen Bilder von professionellen Pressefotografen Rein private Aufnahmen sind nur in geringerer Zahl uumlberliefert was zum Teil vielleicht auch aus Kriegsverlusten aus dem Zweiten Weltkrieg herruumlhrt in dem der Haushalt von Eberts Witwe bei einem Bombenangriff zerstoumlrt wurde

Doch uumlberraschenderweise liegen auch fuumlr den Lebensabschnitt als Reichspraumlsident von 1919 bis 1925 so Muumlhlhausen nicht so viele fotografische Zeugnisse uumlber Eberts Auftreten im oumlffentlichen Raum vor wie zu erwarten gewesen waumlre Dies lag zum einen an den lange Zeit begrenzten technischen Moumlglichkeiten der Fotografie Die ersten wirk-lich praktikablen Handkameras die die Fotografen mobiler und flexibler machten und sbquoSchnappschuumlsselsquo erlaubten waren erst nach der Inflationszeit 1923 serienmaumlszligig verfuumlg-bar Die eingeschraumlnkten Moumlglichkeiten davor dokumentiert der Band auch sehr ein-drucksvoll wenn etwa Personen auf Bildern nur verschwommen zu sehen sind weil sie sich im Moment der Aufnahme geringfuumlgig bewegt haben (vgl z B S 133 Abb 16 und 17) Zum anderen lag die relativ geringe Zahl an Aufnahmen aus der Zeit seiner Reichs-praumlsidentschaft in Ebert selbst begruumlndet Denn lange Zeit stand der Reichspraumlsident einer intensiven Oumlffentlichkeitsarbeit und damit auch Fotografien von seiner Person skep-tisch bis ablehnend gegenuumlber Neben der ihm eigenen persoumlnlichen Bescheidenheit kam darin auch die in der SPD weitverbreitete Ablehnung des Personenkults und der aus-ufernden Repraumlsentation zum Ausdruck womit man sich vor allem vom kaiserzeitlichen

686 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 686

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Pomp abgrenzen wollte Hinzu kam bei Ebert sicherlich auch die Furcht vor Angriffen durch seine politischen Gegner mit Hilfe dieses neuen Mediums Und diese Furcht war nicht unbegruumlndet Gleich zu Beginn seiner Praumlsidentschaft wurde Ebert 1919 wegen des sogenannten Badehosenbildes mit Schmaumlhungen uumlberhaumluft die sich letztlich gegen die neue Republik richteten und seine ganze Amtszeit uumlberschatteten Erst allmaumlhlich lernten Eberts Stab und auch der Praumlsident selbst repraumlsentative Elemente in die praumlsidiale Amts-fuumlhrung einzubauen und nicht zuletzt mit Hilfe der Fotografie fuumlr sich zu nutzen Dabei lieszlig Ebert nun auch vereinzelt Bilder aus dem familiaumlr-privaten Bereich veroumlffentlichen allerdings sehr zuruumlckhaltend Ihm war wohl bewusst dass solche Aufnahmen in der Fruumlhphase der Weimarer Republik in einer Zeit der politischen und wirtschaftlichen Hochspannung schnell zu Lasten des dargestellten Politikers interpretiert werden konn-ten was Muumlhlhausen auch an signifikanten Beispielen darlegen kann

Die oumlffentliche Person Friedrich Ebert wird im Bildband in zahlreichen Facetten prauml-sentiert zunaumlchst in Portraumltaufnahmen die ihn meist als ernst blickenden und damit gemaumlszlig den Vorstellungen der damaligen Zeit als serioumlsen Politiker zeigen daruumlber hinaus in Bildern die seine Auftritte bei politischen Versammlungen und Konferenzen doku-mentieren Fotografien die ihn als Redner an Rednerpulten oder inmitten von Menschen-mengen zeigen aber auch Aufnahmen die seine Teilnahme an den wenigen politisch- repraumlsentativen Veranstaltungen belegen die es in der Weimarer Republik gab ndash allen voran an den von Ebert sehr gefoumlrderten Verfassungsfeiern oder bei seinen offiziellen Reisen durch die Republik Bilder die die auszligenpolitische Repraumlsentation des Reichs-praumlsidenten beinhalten sind hingegen relativ selten da derartige Anlaumlsse nicht zuletzt aufgrund der internationalen Isolation Deutschlands selten waren Hinzu kommen Bilder von Messebesuchen Aufnahmen mit Kuumlnstlern Wissenschaftlern etc Schoumln herausge-arbeitet ist auch die Praxis der Reisetaumltigkeit Eberts im Kapitel Fortbewegung Es zeigt einen Reichspraumlsidenten der sich verkehrstechnisch auf der Houmlhe der Zeit bewegte und neben Bahn und Auto auch schon das Flugzeug einsetzte Der Bildteil endet mit einem Abschnitt uumlber den Tod und das Begraumlbnis des Praumlsidenten

Aufgrund der wenigen uumlberlieferten Privatfotos die zudem meist arrangierte Aufnah-men und keine sbquoSchnappschuumlsselsquo sind konnte das Leben Friedrich Eberts in seiner gan-zen Breite nur bedingt in dem vorliegenden Bildband wiedergegeben werden Vielmehr steht der oumlffentlich auftretende Politiker im Mittelpunkt Andererseits geben gerade die Portraumltaufnahmen Eberts an denen auch sein koumlrperlicher Verfall erkennbar wird Ein-blick in die Belastungen die die politische Arbeit mit sich brachte und verweisen wenn-gleich vom Portraumltierten sicherlich unbeabsichtigt auf ein sehr persoumlnliches Moment Insgesamt ist Muumlhlhausen mit diesem Band nicht nur ein wertvoller Beitrag zur poli- tischen Geschichte der Weimarer Republik gelungen sondern daruumlber hinaus auch zur Fotografiegeschichte dieser Zeit Es waumlre sicherlich lohnend derartige Publikationen auch fuumlr andere Persoumlnlichkeiten der Weimarer Zeit in Angriff zu nehmen

Martin Furtwaumlngler

Andreas MORGENSTERN (Hg) Revolutionaumlre Jahre auf dem Land Vom Kriegsende 1918 zur Weimarer Republik in Mittel- und Suumldbaden (Lebenswelten im laumlndlichen Raum Historische Erkundungen in Mittel- und Suumldbaden Bd 5) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 208 S Abb geb EUR 1890 ISBN 978-3-95505-157-0

Der Umbruch der Jahre 19181919 brachte den Deutschen die parlamentarische De-mokratie und damit verbunden die Einfuumlhrung von Proporzwahl- und Frauenwahlrecht

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Diese demokratischen Errungenschaften standen jedoch fuumlr die Zeitgenossen im Schatten der Niederlage im Ersten Weltkrieg Ganz besonders galt dies fuumlr Baden Durch den Ver-sailler Vertrag war Baden zum Grenzland geworden und Elsass-Lothringen als Markt weggebrochen auch wurde Kehl als Bruumlckenkopf durch die Franzosen besetzt

Zahlreiche Forschungen haben sich vor diesem Hintergrund mit dem Umbruch 19181919 in den Staumldten beschaumlftigt so bereits die von der badischen Vorlaumlufigen Volks-regierung angeregte Studie von Wilhelm Engelbert Oeftering bdquoDer Umsturz 1918 in Badenldquo (Konstanz 1920) die vor allem das Geschehen in Mannheim und Karlsruhe in den Fokus ruumlckt Die Autoren der vorliegenden Publikation moumlchten dagegen nach der Lebenswelt der Menschen in der Endphase des Ersten Weltkrieges wie auch waumlhrend der Weimarer Republik im kleinstaumldtischen und laumlndlichen Mittel- und Suumldbaden fragen Bei den hier publizierten Aufsaumltzen handelt es sich um leicht uumlberarbeitete Fassungen der Vortraumlge des 5 Tags der Regionalgeschichte der im Juni 2018 in Waldkirch statt- gefunden hat

Zum Auftakt des Bandes blickt Karl VOLK auf die bdquoStimmung in Gremmelsbach gegen Kriegsende 191718ldquo (S 13ndash22) Grundlage fuumlr die Ausfuumlhrungen Volks bilden Feld-postbriefe von Soldaten sowie die Unterlagen der Gemeindeverwaltung des kleinen Schwarzwalddorfes Gremmelsbach (heute Teilort der Stadt Triberg) Der Lehrer und Heimatforscher Volk der bereits in einem fortgeschrittenen Lebensalter steht (Jg 1936) kann bei seinen Ausfuumlhrungen zudem auf die Erinnerungen seiner Eltern und Groszligeltern zuruumlckgreifen

Aus der Feldpost der Soldaten aus Gremmelsbach ergibt sich dass diese kaum von Hassgefuumlhlen sei es gegenuumlber den Feinden der eigenen politischen oder militaumlrischen Fuumlhrung oder auch der des Gegners gepraumlgt waren Dagegen spricht aus den Briefen die Brutalitaumlt des Krieges und die Furcht die Angehoumlrigen nicht wieder zu sehen Aus den Schriftwechseln mit den Familien zuhause in Gremmelsbach wird auszligerdem deutlich welch dramatische Folgen Einberufung oder gar der Tod von Soumlhnen haben konnten Volk berichtet von einem Fall in dem der Verlust mehrerer Soumlhne den Niedergang eines der wohlhabendsten Houmlfe des Dorfes zur Folge hatte Auch die Trauer und Verlegenheit des Pfarrers der den Tod der Ehemaumlnner Soumlhne und Bruumlder den Familien beibringen musste sind Thema der Briefe Doch nicht nur der Tod von Angehoumlrigen sondern auch das Einschmelzen der Kirchenglocken zur Metallgewinnung fuumlr den Krieg bzw das letzte Laumluten der Glocken vor dem Abtransport werteten die Buumlrger der Schwarzwaldgemeinde als schlechtes Vorzeichen

Anhand der Rathausakten zeigt Volk weiter auf wie sich die Kommunalverwaltung einer Flut von Verordnungen aus Berlin und Karlsruhe ausgesetzt sah Im Zentrum dieser Verordnungen standen u a Rationierungsmaszlignahmen Ab 1917 wurde genau festgelegt welche Menge an Hafer und Gerste an Zugtiere verfuumlttert werden durfte Auch wurden saumlmtliche landwirtschaftlich nutzbare Flaumlchen erfasst genauso musste der Buumlrgermeister daruumlber Auskunft geben inwieweit bdquoAnzeichen bevorstehender Unruhenldquo (S 16) aus- gemacht werden konnten Dies war in Gremmelsbach nicht der Fall Auch zahlreiche andere Anfragen an die Gemeindeverwaltung Gremmelsbach waren im Grunde gegen-standslos So konnte der Buumlrgermeister nicht uumlber etwaige Liebesverhaumlltnisse von deut-schen Maumlgden mit Kriegsgefangenen berichten da es in Gremmelsbach keine Kriegs- gefangenen gab die zur Arbeit in der Landwirtschaft zwangsverpflichtet worden waren Zum Kennzeichen der Kriegsjahre wurden fuumlr die Buumlrger der kleinen Schwarzwald- gemeinde jedoch die Kriegsanleihen die manchen um ein Vermoumlgen brachten und

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wiederholt vom Reich wie auch von Groszligherzogtum angeregte Spendenaktionen und Opfertage

Zwar kann Volk aus den Erinnerungen seiner Eltern und Groszligeltern von manchem unverhofften Wiedersehen berichten doch brachte auch die Nachkriegszeit Belastungen So musste die Gemeinde Durchmarschquartiere fuumlr die heimkehrenden Soldaten stellen Waffen mussten abgegeben werden um Zweckentfremdungen von Heeresgut entgegen-zutreten Vor allem aber hatte der Krieg fuumlr viele Maumlnner langfristig schwere psychische Folgen Fuumlr viele ehemalige Kriegsteilnehmer galt bdquoKam die Rede auf die Vergangenheit so war der Erzaumlhler sofort wieder bei seiner Truppe Wer ihnen oumlfters begegnete kannte alles schon Wort fuumlr Wort Am genauesten wusste es die Ehefrau sbquoWenn er nur einmal aufhoumlren wuumlrde vom anderletzten Krieg zu erzaumlhlenlsquoldquo (S 22)

Andreas MORGENSTERN beschaumlftigt sich mit dem Umbruch in Schiltach und der Taumltigkeit des dortigen Volksrates (S 79ndash88) Auch in der kleinen Industriestadt Lahr kam es zur Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates dessen Vorsitzender August Heinz schon 1919 uumlber den Verlauf der Revolution in Lahr berichtete Die Ausfuumlhrungen von Heinz sind im vorliegenden Band nochmals abgedruckt (S 191ndash200)

In Elzach kam es zwar nicht zur Schaffung eines Arbeiter- und Soldatenrates dafuumlr allerdings 1920 zu einer bdquoFastnachtsrevolutionldquo Gegen den Willen der Landesregierung die unter Bezugnahme auf die schweren Zeitlaumlufe auch 1920 keine Fastnachtsveranstal-tungen wuumlnschte setzten die Elzacher Schuttig ihr Narrentreiben durch Heiko HAUMANN erlaumlutert und interpretiert die genaueren Hintergruumlnde (S 89ndash100)

Nicht nur politisch sondern auch im Sport stand 1919 ein Neuanfang Nach dem Ersten Weltkrieg gelang dem Fuszligball der Durchbruch zum Massensport Die Zahl der Einzel-mitglieder des DFB stieg von 190000 (1914) auf 470000 (1920) um elf Jahre spaumlter die Millionengrenze zu uumlberschreiten Fuszligballfunktionaumlre der 1920er Jahre hatten dabei zwei Erklaumlrungen fuumlr die Popularitaumlt ihres Sports Sie betonten erstens dass die Mitglieder der Fuszligballvereine in einer krisengeschuumlttelten Zeit nach Zerstreuung suchten auch habe der Krieg die Ausbreitung des Fuszligballs gefoumlrdert Hinter den Frontlinien haumltten die Maumlnner waumlhrend der Kampfpausen Fuszligball gespielt und die neue Sportart in ihre Heimat gebracht Zudem betonten Fuszligballfunktionaumlre der 1920er Jahre zweitens dass ihre Sport-art klassenuumlbergreifend sei und keinerlei soziale Ausgrenzung gekannt habe

Uwe SCHELLINGER fragt nun nach den Motiven fuumlr die Vereinsgruumlndungen in laumlnd- lichen Gebieten Suumld- und Mittelbadens 1919 (S 65ndash77) Haben die gerade genannten Argumente auch hier zu Vereinsgruumlndungen beigetragen War der Fuszligball vor dem Ersten Weltkrieg vor allem in den groumlszligeren Staumldten verbreitet so kann Schellinger fuumlr 1919 tatsaumlchlich 17 Neugruumlndungen von Fuszligballvereinen nachweisen Jedoch erweist sich die Quellenlage zu den einzelnen Vereinen als aumluszligerst schwierig Gerade bei acht von 17 Vereinen laumlsst sich ein genaues Gruumlndungsdatum festlegen Bei drei Vereinen kann immerhin auf die Beteiligung von Militaumlr bei der Vereinsgruumlndung geschlossen werden In Bad Duumlrrheim gruumlndeten die Soldaten eines Reservelazaretts den oumlrtlichen Fuszligball-club Dieser war jedoch bei den Einheimischen nicht beliebt denn bereits zwei Turnver-eine hatten hier fusionieren muumlssen ein Turnverein galt als ausreichend Zudem musste der FC Bad Duumlrrheim recht bald seine Vereinslokalitaumlt wechseln Die Vereinsfarben bdquoRot-Weiszligldquo vor allem das vom Wirt als politisch verstandene bdquoRotldquo erweckten Misstrauen Bei anderen Vereinen kann Schellinger zudem nachweisen dass diese urspruumlnglich schon vor dem Ersten Weltkrieg gegruumlndet werden sollten aufgrund der Zeitlaumlufe die Gruumlndung jedoch aufgeschoben wurde ndash so bei Germania Rauental (Kreis Rastatt) und dem

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FC Weilersbach (Schwarzwald-Baar-Kreis) Bei drei Vereinen schlieszliglich ist das Gruumln-dungsjahr 1919 noch nicht einmal gesichert So fehlt beim SV 1919 Au am Rhein (Kreis Rastatt) die Vereinschronik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Die gleichwohl tra-dierten Gruumlndungsdaten sind widerspruumlchlich In Pfullendorf und Iffezheim wurde zwar seit 1919 angestoszligen jedoch handelt es sich bei den Fuszligballvereinen lediglich um Ab-teilungen des jeweiligen Turnvereins eigenstaumlndige Fuszligballvereine wurden erst in den 1920er Jahren aus den Turnvereinen ausgegliedert Am Ende seines Beitrages muss Schellinger von einem bdquoernuumlchternden Befundldquo (S 76) sprechen Es fehlen schlicht Quel-len die Auskunft geben koumlnnten uumlber die Hintergruumlnde der Vereinsgruumlndungen in den Doumlrfern unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ndash Ernuumlchternd ist uumlbrigens auch die sportliche Bilanz der 1919 gegruumlndeten Vereine Uumlber die Haumllfte spielte im Juni 2018 lediglich in der Kreisklasse nur drei in der Verbandsliga Suumldbaden (sechste Spielklasse)

Zwei Beitraumlge behandeln die Geschichte der Stadt Lahr in der Weimarer Republik Guumlnther KLUGERMANN erlaumlutert Hintergruumlnde und Ablaumlufe der Unruhen in Lahr und Um-gebung im Krisenjahr 1923 (S 101ndash138) waumlhrend Thomas MIETZNER nach den Voraus-setzungen fuumlr den Aufstieg der Nationalsozialisten in Lahr fragt (S 161ndash172) Unter den uumlbrigen Beitraumlgen sollen schlieszliglich noch zwei weitere Aufsaumltze die dem Themenkom-plex Erinnern und Gedenken gewidmet sind hervorgehoben werden Andreas Morgen-stern stellt anhand des Kreuzes auf dem Schrofen die Gedenkkultur an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges in Schiltach zwischen Weimarer Republik NS-Diktatur und Bun-desrepublik dar (S 139ndash159) waumlhrend Uli HILLENBRAND uumlber das Oral-History-Projekt bdquoKehl erinnert sichldquo berichtet (S 173ndash189) Zwischen September 2015 und Oktober 2018 fuumlhrten Schuumller des Einstein-Gymnasiums Kehl 170 Gespraumlche mit knapp 150 Zeitzeugen aus Kehl die in den 1920er und 1930er Jahren geboren sind Dabei stand jeweils die Frage im Mittelpunkt was diesen aus ihrer Jugend in der Weimarer Zeit im bdquoDritten Reichldquo und in der Nachkriegszeit in besonderem Maszlig erinnerlich war und wie sich aus ihrer Sicht der Alltag gestaltete

Die Autoren legen eine lesenswerte Aufsatzsammlung zur bislang eher vernachlaumlssig-ten Alltags- und Kulturgeschichte der Weimarer Republik in einer agrarisch-kleinstaumld-tisch gepraumlgten Region vor Es bleibt zu wuumlnschen dass diese den Impuls fuumlr weiter derartige Forschungen gibt

Michael Kitzing

Bernd BRAUN Ulrike HOumlRSTER-PHILIPPS In jeder Stunde Demokratie Joseph Wirth (1879ndash1956) Ein politisches Portraumlt in Bildern und Dokumenten Freiburg i Br modo-Verlag 2016 214 S Abb geb EUR 49ndash ISBN 978-3-86833-159-2

Der vorliegende sehr ansprechend gestaltete Bildband uumlber den Freiburger Reichs-kanzler der Weimarer Republik Joseph Wirth besteht aus zwei Bereichen Der stark ge-wichtete bildliche Teil mit insgesamt 178 Abbildungen enthaumllt neben einigen privaten Fotos vor allem solche von oumlffentlichen Auftritten Wirths in seinen diversen politischen Funktionen Karikaturen aus zeitgenoumlssischen Zeitschriften Gemaumllde und Fotos von Weggefaumlhrten und Gegnern Ablichtungen von Bucheinbaumlnden aber auch Fotografien die das Lebensumfeld Wirths beleuchten etwa zeitgenoumlssische Aufnahmen seiner Hei-matstadt Freiburg Hinzu kommen Faksimiles von schriftlichen Quellen der unterschied-lichsten Art Briefe Memoranden oder auch Postkarten von Weggefaumlhrten Diese zum Teil bislang unveroumlffentlichten Zeugnisse geben einen sehr interessanten und eindring-lichen Einblick in das Leben Wirths

690 Buchbesprechungen

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Begleitet wird dieser Bildbereich von einem damit korrespondierenden Text in dem die beiden Autoren das Leben Wirths skizzieren Wenngleich deren These dass Wirth bdquomittlerweile zu den herausragenden Politikern des 20 Jahrhundertsldquo (S 8) zaumlhle etwas uumlbertrieben scheint so ist ihnen darin zuzustimmen dass Wirth zu den entschiedensten Verfechtern bdquoder demokratischen Staatsform und des parlamentarischen Systemsldquo gerade in der Weimarer Republik zu rechnen ist Wie viele fuumlhrende Politiker dieser Epoche war er jedoch lange in Vergessenheit geraten und stoumlszligt erst in juumlngerer Zeit zu Recht wieder verstaumlrkt auf Interesse Gerade sein legendaumlr gewordener Ausspruch aus seiner Reichstagsrede anlaumlsslich der Ermordung Walter Rathenaus 1922 bdquoDer Feind steht rechtsldquo erfreut sich in der aktuellen politischen Diskussion in Deutschland gesteigerter Beliebtheit

Das Leben Wirths wird im vorliegenden Band in sechs Abschnitten beleuchtet Einem kuumlrzeren Kapitel uumlber seine Herkunft aus einem stark katholisch gepraumlgten Elternhaus und seine ersten politischen Aktivitaumlten als Stadtverordneter von Freiburg badischer Landtags- und Reichstagsabgeordneter fuumlr das Zentrum folgt ein laumlngerer Abschnitt uumlber sein Wirken in der Weimarer Republik Unbestreitbar war dies der Zeitraum seines Lebens in dem Wirth politisch am wirkungsmaumlchtigsten war Vom badischen Finanz- minister in der provisorischen Regierung nach der Revolution 1918 stieg er 1920 zum Reichsfinanzminister auf und 1921 fuumlr rund ein Jahr gar zum Reichskanzler Der Vertrag von Rapallo 1922 und die damit einhergehende Kooperation des Deutschen Reiches mit der Sowjetunion sind untrennbar mit seinem Namen verbunden Ende der 1920er Anfang der 1930er Jahre fungierte er nochmals als Reichsminister Es verwundert daher etwas dass dieser Lebensabschnitt Wirths nicht im Zentrum der Publikation steht Weitaus ausfuumlhrlicher werden vielmehr in den kommenden Abschnitten die politischen Aktivitaumlten Wirths aus der Zeit ab 1933 behandelt sein Kampf gegen Antisemitismus Judenverfolgung und seine Kontakte zum deutschen militaumlrischen Widerstand waumlhrend seiner Exilzeit in Paris und der Schweiz sowie vor allem seine friedens- und deutsch-landpolitischen Initiativen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Gerade sein Wider-stand gegen die Westintegration der jungen Bundesrepublik ndash die er als eine Gefaumlhr- dung des Friedens und als eine groszlige Bedrohung fuumlr eine Wiedervereinigung Deutsch-lands einstufte ndash wird ausfuumlhrlich beschrieben Gleiches gilt fuumlr die politischen und moralischen Uumlberzeugungen Wirths Es ist den Autoren wohl zuzustimmen dass Wirth kein Politiker war dem die eigene Karriere wichtiger gewesen waumlre als das Eintreten fuumlr seine demokratischen Uumlberzeugungen Das Bild des Menschen Joseph Wirth das die Autoren zeichnen ist uumlberaus positiv Unverkennbar ist ihr Bestreben ihn als einen aufrechten demokratischen auf Frieden und Ausgleich bedachten Politiker zu wuumlrdi- gen der sich zuweilen harscher und zum Teil auch ungerechtfertigter Kritik gegen- uumlbergesehen hatte und dem zudem von der bundesrepublikanischen Verwaltung seine Pension als Reichsminister und Reichskanzler aus fadenscheinigen Gruumlnden verweigert worden war

Allerdings dieses skizzierte Bild Wirths bleibt eindimensional So werden zum Teil Sachverhalte die die vorgenommene Charakterzeichnung relativieren oder ihr gar wider-spraumlchen nicht erwaumlhnt wie z B der starke antipolnische Affekt Wirths der seine Poli- tik bereits als Reichskanzler nicht unbeeinflusst lieszlig (vgl hierzu Behring Hermann Muumlller und Polen Zum Problem des auszligenpolitischen Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik in Archiv fuumlr Sozialgeschichte 55 [2015] S 299ndash342) Zudem befremdet die uneingeschraumlnkt positive Bewertung seiner friedens-

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und deutschlandpolitischen Aktivitaumlten nach 1945 Wirths Bemuumlhungen mit den stali- nistischen Machthabern in Ostberlin und Moskau ab 1951 ins Gespraumlch zu kommen und die Moumlglichkeiten eines Friedensvertrages zu sondieren sich fuumlr politische Gefangene hinter dem bdquoEisernen Vorhangldquo einzusetzen etc moumlgen ein ehrenwerter Versuch gewesen sein Allerdings waumlre diesbezuumlglich doch grundsaumltzlich die Frage zu stellen mit welcher Legitimation Wirth glaubte derartige Gespraumlche fuumlhren zu koumlnnen schlieszliglich hatte er damals im Westen Deutschlands kein demokratisch legitimiertes politisches Amt inne und wurde auch nicht von bedeutenden politischen Gruppierungen unterstuumltzt Zudem zeugt es nicht gerade von politischer Weitsicht dass Wirth noch nach dem 17 Juni 1953 zu politischen Gespraumlchen nach Ostberlin und Moskau reiste und 1954 die Ehrendoktor-wuumlrde der Humboldt-Universitaumlt annahm und sich damit auf zweifelhafte Weise von einem diktatorischen System instrumentalisieren lieszlig Dies wird von den Autoren im vorliegenden Band jedoch nicht als Problem gesehen

Schlieszliglich finden sich auch einige kleinere sachliche Fehler Z B wird konstatiert Wirth sei mit bdquogroszliger Mehrheitldquo in die Verfassunggebende Badische Nationalver- sammlung gewaumlhlt worden und am 5 Januar 1919 dann in den Badischen Landtag (S 35) Nach der Revolution 1918 gab es in Baden bis 1921 jedoch nur eine Wahl eines Landesparlaments eben jene vom 5 Januar 1919 und bei der konnte Wirth nicht mit groszliger Mehrheit gewaumlhlt werden da sie nach dem Verhaumlltniswahlrecht durch- gefuumlhrt wurde

Insgesamt hinterlaumlsst die Publikation somit einen zwiespaumlltigen Eindruck

Martin Furtwaumlngler

Carola HOEacuteCKER Vom Freischaumlrler zum Parlamentarier Briefe des Reichstagsabgeord-neten Marcus Pfluumlger (1824ndash1907) (Lindemanns Bibliothek Bd 347) Karlsruhe Bretten Info-Verlag 2019 89 LXXVIII S Abb Brosch EUR 1990 ISBN 978-3-96308-064-7

Das vorliegende Buch ist zweigeteilt Der Edition einer Auswahl von Briefen des ba-dischen nationalliberalen ab 1881 linksliberalen Reichstags- und Landtagsabgeordneten Marcus Pfluumlger aus Loumlrrach geht eine Beschreibung seines Lebens voran In dieser schil-dert die Herausgeberin Pfluumlger als aufrechten Demokraten der als aktiver Teilnehmer am Heckeraufstand 1848 die politische Buumlhne betrat Wie etliche andere 48er Revolu-tionaumlre fand er in den folgenden Jahrzehnten den Weg in die Parlamente der Kaiserzeit Von 1858 bis 1870 und von 1886 bis 1903 saszlig er im Gemeinderat von Loumlrrach von 1871 bis 1884 und von 1897 bis 1902 war er Mitglied der Zweiten Kammer der badischen Staumlndeversammlung von 1874 bis 1887 Reichstagsabgeordneter Eindruumlcklich und sicher eine der Staumlrken des Buches ndash sowohl im darstellenden wie im Quellenteil ndash ist die Schil-derung von Pfluumlgers Abgeordnetenalltag das heiszligt die Organisation des Lebens eines Politikers aus der Provinz im 19 Jahrhundert Bei Pfluumlger war dies der Spagat zwischen zwei Welten einerseits der Fuumlhrung einer Gastwirtschaft mit landwirtschaftlichem Be-trieb womit er im Wesentlichen seinen Lebensunterhalt verdiente andererseits der Aus-uumlbung seiner politischen Taumltigkeit in Karlsruhe und Berlin Gerade seine Briefe aus beiden Hauptstaumldten machen sichtbar unter welchen Umstaumlnden Abgeordnete damals bei der Ausuumlbung ihrer Parlamentstaumltigkeit lebten welche Schwierigkeiten ein Alltag fern der Heimat mit sich brachte Jedoch wird auch deutlich wie verzahnt beide Lebens-

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sphaumlren bei Pfluumlger waren So nutze dieser z B seine Reisen nach Berlin dazu Abstecher in andere Staumldte am bdquoWegesrandldquo zu machen um damit seine Geschaumlfte zu foumlrdern oder er verkaufte eigenen Wein an andere Parlamentarier in der Reichshauptstadt

Pfluumlgers politische Karriere war fuumlr zahlreiche Liberale der damaligen Zeit nicht un-typisch Einem Engagement bei den Nationalliberalen folgte der Schwenk ins linkslibe-ral-demokratische Lager bei Pfluumlger begruumlndet durch seine zunehmende Gegnerschaft zu Bismarck und dem Festhalten der Nationalliberalen an der Unterstuumltzung des Kanzlers Pfluumlgers politische Zielvorstellungen standen dem entgegen zielten sie nach dem Urteil der Autorin doch auf eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ab Allerdings Pfluumlgers politischer Einfluss war begrenzt gerade auf Reichsebene kam er uumlber den Status eines Hinterbaumlnklers kaum hinaus

Insgesamt ist der Darstellungsteil zu lang geraten nicht zuletzt weil die Autorin zu Abschweifungen neigt und Abseitigem nachgeht etwa der Entdeckung von Teilen eines alemannischen Graumlberfeldes im Garten von Pfluumlgers Gasthaus (S 72 f) Der Text weist auszligerdem einige aumlrgerliche sachliche Fehler auf So betont die Autorin dass Hecker und Struve in Konstanz die Republik ausgerufen haumltten (12 April 1848) nachdem die Frank-furter Nationalversammlung die Gruumlndung einer Republik nicht verwirklicht haumltte (S 25) Die Nationalversammlung trat jedoch erst am 18 Mai also uumlber einen Monat spaumlter uumlberhaupt erst zusammen konnte demnach gar nicht im April aktiv geworden sein Zudem neigt Hoeacutecker bei der Charakterisierung Pfluumlgers zur Heldenverehrung zeichnet das Bild eines durchweg aufrechten demokratischen Politikers der gemaumlszlig ihrer Widmung des Bandes ndash bdquoDer bedrohten Demokratieldquo ndash der heutigen Demokratie offenbar durch sein Beispiel als rettender Helfer beispringen soll Dabei bedient sich Hoeacutecker auch durchaus problematischer Modernismen So wird Pfluumlger in die Naumlhe eines heutigen Pazifisten geruumlckt der aufgrund seines protestantischen Glaubens Gewalt und Blut- vergieszligen abgelehnt haumltte Allerdings griff Pfluumlger in der Revolution 1848 sehr wohl zur Waffe um seine Uumlberzeugungen durchzusetzen und auch zu Beginn des Krieges 187071 beteiligte er sich aktiv mit der Waffe in der Hand am oberrheinischen Grenzschutz um seine Heimat gegebenenfalls zu verteidigen Diese Reibungspunkte werden in der Dar-stellung jedoch nicht aufgeloumlst

Der Quellenteil des Bandes enthaumllt neben einigen wenigen Redemanuskripten uumlber-wiegend Briefe Pfluumlgers an einige politische Weggefaumlhrten sowie vor allem an seine Ehefrau waumlhrend seiner Parlamentsaufenthalte in Berlin und Karlsruhe Die Vorlagen befinden sich in den Bestaumlnden des Dreilaumlndermuseums in Loumlrrach Briefe aus anderen Archiven und Fundorten wurden in die Edition nicht miteinbezogen vereinzelt werden sie als Einschuumlbe im darstellenden Teil praumlsentiert Die Briefe Pfluumlgers an seine Frau ent-halten neben vielen familiaumlren und privaten Nachrichten vor allem wie schon erwaumlhnt eine recht detaillierte Schilderung des Alltagslebens eines Abgeordneten in der Fremde Dabei werden die in den Briefen erwaumlhnten Personen aus dem Umfeld Pfluumlgers von der Bearbeiterin weitestgehend identifiziert und naumlher erlaumlutert Auf diese Weise erlangt der Leser durch die Edition einen umfassenden Einblick in das Beziehungsgeflecht des Mar-cus Pfluumlger Die Edition leistet somit einen wichtigen prosopographischen Forschungs-beitrag Daruumlber hinaus enthalten die Briefe Pfluumlgers jedoch nur vereinzelt Hinweise auf die politischen Debatten die ihn in Karlsruhe und vor allem in Berlin beschaumlftigten In den Briefen Nr 20 und 21 (16 und 19 Mai 1881) aus Berlin berichtet er jedoch z B uumlber ein neues bdquoVerfassungsgesetzldquo Im Gegensatz zu den ausfuumlhrlichen Informationen hin-sichtlich der behandelten Personen ist die Sachkommentierung der Quellen im gesamten

69319 und 20 Jahrhundert

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Band dieser neuen vielversprechenden Reihe praumlsentiert die Ergebnisse des Jubilaumlums bdquo75 Jahre Abteilung Landesgeschichte am Historischen Seminar der Universitaumlt Frei-burgldquo im Jahr 2016 Juumlrgen DENDORFER stellt in einer einleitenden Zusammenfassung die einzelnen Beitraumlge des Bandes vor (bdquoZur Einfuumlhrungldquo S 9ndash16) Andre GUTMANN thematisiert bdquoDas sbquoInstitut fuumlr geschichtliche Landeskunde an der Universitaumlt Freiburglsquoldquo (S 17ndash34) und praumlsentiert die damals handelnden Personen deren Ideen und Ziele 1941 Die Abteilung Landeskunde entstand aus einer Auseinandersetzung der Protagonisten Hans-Walter Klewitz Friedrich Maurer und Friedrich Metz um die Ausrichtung des Ale-mannischen Instituts Klewitz beantragte ndash in Opposition zum damaligen Leiter des Ale-mannischen Instituts Friedrich Metz ndash im Maumlrz 1941 beim badischen Kultusministerium finanzielle Mittel zur Einrichtung einer Landesgeschichtlichen Abteilung innerhalb des Historischen Seminars Deren Bewilligung mit Schreiben vom 29 Mai 1941 gilt als Geburtsurkunde der Abteilung Allerdings musste die neue Einrichtung in den folgenden Jahren gegen den Widerstand von Friedrich Metz verteidigt werden Mario SEILER nimmt Friedrich Metz in den Fokus (bdquoVon der bdquoRaritaumltenkundeldquo zur bdquopraktischen Volkstums- arbeitldquo Friedrich Metz und die Neuordnung der Landes- und Volksforschung in Frei-burgldquo S 35ndash48) Metz wollte die Wissenschaft aus dem rein akademischen Umfeld herausfuumlhren sowie durch die Landes- und Volksforschung Antworten auf die Fragen und Probleme der zeitlichen und raumlumlichen Gegenwart geben Dies war durchaus ambiva-lent wie Seiler hervorhebt bdquoMetzlsquo Idee einer nach Stammeszugehoumlrigkeit sowie kultu-reller Einheitlichkeit definierten territorialen und bevoumllkerungspolitischen Neuordnung des Deutschen Reiches konnte in seinem Denken daher entweder in den Rahmen natio-nalsozialistischer Siedlungs- und Raumpolitik eingepasst oder umgekehrt von diesem distanziert werdenldquo (S 48)

Karl DITT stellt bdquoDie Landesgeschichte in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts ndash Ein Modernisierungsprozessldquo (S 49ndash68) vor Er unterteilt deren Entwicklung in drei Pha-sen Die erste Phase ist gekennzeichnet durch das Beduumlrfnis der dominierenden poli- tischen auf die einzelnen Herrscherpersoumlnlichkeiten orientierten Geschichtsschreibung eine Alternative entgegen zu setzen Als zweites stellte man den Charakter des Volkes und seiner Staumlmme heraus Seit den 1920er Jahren hatte man dann das Volkstum histo- risiert kulturalisiert und verraumlumlicht Der Stammes- und Siedlungsraum wurde zu einem Kulturraum erweitert Unter der Uumlberschrift bdquoPolitisierung und Anwendungsrelevanzldquo thematisiert Willi Oberkrome den bdquoinstrumentellen Umbau der Landesgeschichte nach 191819ldquo (S 69ndash83) Die als Demuumltigung empfundene Abtrennung ehemals deutscher Gebiete wie zum Beispiel Elsass und Lothringen zwang den grenznahen Institutionen der Landesgeschichtsschreibung neue Forschungsprobleme unbekannte analytische Ver-fahren und fremdartig agonale Argumentationsstrategien auf (S 71f) Es kam zu zahl-reichen Institutsgruumlndungen und -umbauten die einen fachlichen Pionierstatus erlang- ten weil sie historische linguistische und volkstuumlmliche Verfahren mit geographisch-kartographischen Anstrengungen in dezidiert revisionistisch-antifranzoumlsischer Absicht buumlndelten (S 72) Durch diese Politisierung profitierten die bdquogrenzkaumlmpferischenldquo For-schungsbetriebe von einer daraus folgenden guten Finanzierung

Der mit Abstand umfangreichste Beitrag des Bandes von Hubert FEHR beschaumlftigt sich unter dem Titel bdquoWohin das Auge blickt kernalemannisches Landldquo mit der bdquoArchaumlologie und Volkstumsforschung am Oberrhein waumlhrend der 1930er Jahre ausgehend vom Bei-spiel des fruumlhmittelalterlichen Graumlberfelds von Mengen im Breisgauldquo (S 85ndash154) Das Alemannische Institut hatte sich von Anfang an die Foumlrderung archaumlologischer Ausgra-

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Editionsteil leider duumlrftig So auch hier Man erfaumlhrt nicht um was fuumlr ein Gesetz es sich handelt und worin die politische Brisanz der Debatte lag

Etwas unprofessionell mutet auch die Neigung der Autorin im gesamten Band an immer wieder dezidiert in der ersten Person Singular darauf hinzuweisen was sie an Interessantem und Wichtigem wo entdeckt hat

Insgesamt hinterlaumlsst die Publikation Hoeacuteckers einen eher negativen Eindruck Neben durchaus positiven Elementen sind die Schwaumlchen in beiden Teilen des Bandes unver-kennbar und gewichtig

Martin Furtwaumlngler

Karlheinz LIPP Religioumlser Sozialismus in der Pfalz in der Weimarer Republik Ein Lesebuch (Studien zur Geschichte der Weimarer Republik Bd 6) Berlin LIT Verlag 2019 371 S Brosch EUR 2990 ISBN 978-3-643-14347-1

Das Anliegen des von Lipp vorgelegten Lesebuchs ist es einen bdquosehr aussagekraumlftigen Querschnitt des Denkens und des Engagements der religioumls-sozialistischen Bewegung in der Pfalzldquo zu geben hierzu praumlsentiert er bdquoArchivalien Briefe Schriften sowie Buumlcher und besonders ausfuumlhrlich die religioumls-sozialistische Presseldquo (S 1) Naumlhere Ausfuumlhrungen zur Auswahl und zur Ordnung des Materials fehlen in der sehr knappen Einleitung die auch auf eine Definition des Begriffs bdquoreligioumlser Sozialismusldquo ganz verzichtet und seine Ausbreitung in der Pfalz nur in groben Strichen nachzeichnet Den Kontext muumlssen beziehungsweise koumlnnen sich die Leserinnen und Leser selbst erschlieszligen anhand einer umfangreichen und fuumlr die Jahre 1925 bis 1933 sehr kleinteiligen Zeittafel die im Jahr 1912 mit dem Studienbeginn Oswald Damians des Hauptprotagonisten des Lesebuchs einsetzt und im Jahr 2016 mit der Anbringung einer Erinnerungstafel an ihn in Pirmasens schlieszligt

Sodann geht es medias in res in die Quellen die Lipp in 23 Kapiteln sehr unterschied-licher Laumlnge sortiert hat Das schmalste ist das erste in dem ein ruumlckschauender Brief Damians aus dem Jahr 1973 auszugsweise abgedruckt ist das zweitumfangreichste prauml-sentiert unter dem Titel bdquoZur Theologie des Religioumlsen Sozialismusldquo Teile von 14 Schrif-ten die uumlberwiegend aus der Feder Damians stammen Der breiteste Raum wird Damians wegen seiner Kritik an der nationalsozialistischen Ideologie wichtigen Schrift bdquoDie Religion ist in Gefahrldquo aus dem Jahr 1932 die nicht auszugsweise sondern vollstaumlndig abgedruckt wird eingeraumlumt Die Ordnung des Materials folgt im groszligen Ganzen der Chronologie die nur durch einzelne thematisch uumlbergreifende Kapitel etwa zu den bdquoreligioumls-sozialistischen Praxisfeldernldquo soziale Gerechtigkeit und Arbeit sowie Frieden durchbrochen wird

Die ersten fuumlnf Kapitel fokussieren auf die muumlhsamen Anfaumlnge des religioumlsen Sozia-lismus der sich wie andernorts gegen Ressentiments nicht nur in der evangelischen Amts-kirche sondern auch in der politischen Arbeiterbewegung durchsetzen musste in den Jahren bis 1926 Themen sind hier etwa eine Tagung in Hochspeyer Anfang August 1925 die von badischen religioumlsen Sozialisten offenkundig gezielt zur Mission in der Pfalz genutzt wurde und auch die Stellung der pfaumllzischen Protagonisten der Bewegung zu tagespolitischen Fragen wird dokumentiert zur Reichspraumlsidentenwahl von 1925 bei der Damian sein Unverstaumlndnis daruumlber aumluszligerte dass in evangelischen kirchlichen Kreisen der rechte Protestant Hindenburg dem linken Katholiken Marx vorgezogen wurde oder zum Volksentscheid uumlber die Fuumlrstenenteignung von 1926 Recht breiten Raum widmet das Lesebuch anschlieszligend der Wahl der Landessynode im Mai 1927 mit der die reli-

694 Buchbesprechungen

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Natalie POHL Atomprotest am Oberrhein Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970ndash1985) (Schriftenreihe des Deutsch-Franzoumlsischen Historikerkomitees Bd 15) Stuttgart Steiner 2019 443 S Brosch EUR 68ndash ISBN 978-3-515-12401-0 bdquonai haumlmmer gsaitldquo ndash ob beim Bau einer Umgehungsstraszlige oder bei der Anlage eines

Kindergartens nicht weit entfernt von einem sogenannten Kontaktladen uumlberall im deut-schen Suumldwesten wo sich buumlrgerschaftlicher Widerstand regt ist es praumlsent das Plakat der Antiatomkraftbewegung die in dieser Raumschaft in den 1970er Jahren ihren wirk-maumlchtigen Anfang nahm Unmittelbare Ausloumlser waren rechts- wie linksrheinische Plaumlne zur Errichtung zweier Atomkraftwerke am Oberrhein im suumldbadischen Wyhl am Kai-serstuhl und im oberelsaumlssischen Fessenheim Die sich darauf bildende grenzuumlberschrei-tende Anti-Atomkraftbewegung bdquoals Ganzesldquo (S 22) zu untersuchen ist das Ziel dieser Dissertation die in Saarbruumlcken und Paris verteidigt wurde Unter Auswertung einer Fuumllle von Archiv- und Audiovisuellen Quellen gelingt es die Aktions- und Koopera- tionsformen der Atomkraftgegner zu charakterisieren zu analysieren und deren Gemein-samkeiten wie Unterschiede herauszuarbeiten Im Mittelpunkt stehen dabei die badisch-elsaumlssischen Buumlrgerinitiativen die eine andere konkretere Begegnungsform ndash neben Wuumlrdentraumlgern auch bdquonormaleldquo Menschen ndash lebten als die bislang eher im administra-tiven Dickicht beheimatete offizielle grenzuumlberschreitende Zusammenarbeit Der gemein-same alemannische Dialekt aber auch das Bewusstsein vom gemeinsamen Kulturraum des Oberrheins beguumlnstigte zweifelsohne die grenzuumlberschreitende Kommunikation Nur dadurch ist auch der bis heute nachwirkende Erfolg des einst illegalen Senders bdquoRadio Verte Fessenheimldquo zu erklaumlren der mit wechselnden Standorten sich dem Zugriff von Gendarmerie und Polizei entzog um seiner Mission als bdquounabhaumlngigeldquo Kommunika- tions- und Informationsplattform nachzukommen

Dass sich in den Buumlrgerinitiativen nicht nur die uumlblichen bdquoStoumlrenfriedeldquo (Studenten aus Freiburg und Tuumlbingen) engagierten sondern in groszligem Maszlige die einheimische Be-voumllkerung Winzer Bauern Priester etc trug wesentlich dazu bei dass die Initiativen zumindest diesseits des Rheins als politischer Faktor im kommunalen Rahmen wie aber auch auf der Ebene der Landespolitik wahrgenommen wurden Sie gaben ihrer Kritik an der dominierenden Fortschrittseuphorie jener Jahre Ausdruck und setzten ihr die Bewah-rung der Heimat und damit nach staumlrkerer gesellschaftlicher Wahrnehmung und Respek-tierung der Umwelt entgegen Ein bis heute brandaktuelles gesellschaftliches nicht allein nur historisches Thema

Kurt Hochstuhl

Martina BACKES Juumlrgen DENDORFER (Hg) Nationales Interesse und ideologischer Miss-brauch Mittelalterforschung in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts ndash Vortraumlge zum 75jaumlhrigen Bestehen der Abteilung Landesgeschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittel-alters Bd 1) Ostfildern Thorbecke 2019 268 S Abb Brosch EUR 28ndash ISBN 978-3-7995-8550-7 Die traditionsreiche Freiburger Mediaumlvistik beginnt mit dem vorliegenden Band eine

neue Publikationsreihe Unter dem Reihentitel bdquoFreiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelaltersldquo planen die beiden Herausgeber Juumlrgen Dendorfer und Birgit Studt die Ergebnisse von Ringvorlesungen Workshops und Tagungen des Weiteren Festschriften sowie kleinere monographische Abhandlungen zu publizieren Der vorliegende erste

707Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

bildet die Taumltigkeit Gurks als Buumlrgermeister und Wirtschaftsdezernent So kam es waumlh-rend seiner Amtszeit zur Ausweisung neuer Industrieflaumlchen im Rheinhafen bzw dieser wurde ausgebaut Nunmehr kamen auch chemische Industrien wie der Pharmahersteller Pfizer oder der Kosmetikhersteller LlsquoOreacuteal nach Karlsruhe Am Ende der 1950erBeginn der 1960er Jahre wurde schlieszliglich auch das Kernforschungszentrum in Karlsruhe ange-siedelt Bei der Verwirklichung dieses Projektes arbeitete Gurk als Netzwerker im Hin-tergrund und machte seinen Einfluss als Mitglied des CDU-Bundesvorstandes bei Konrad Adenauer (1876ndash1967) geltend In gleicher Weise hatte Gurk schon Jahre zuvor daran Anteil dass sowohl der Bundesgerichtshof wie auch das Bundesverfassungsgericht ihren Sitz in Karlsruhe nahmen

Neben dem Kommunal- und Wirtschaftspolitiker Gurk wirft Gilbert auch einen Blick auf das landespolitische Engagement des Karlsruher Buumlrgermeisters Gurk war gemauml-szligigter Altbadner und hatte sich fuumlr die Wiederherstellung des fruumlheren Landes Baden eingesetzt Nachdem der altbadische Standpunkt jedoch in der umstrittenen Abstimmung vom Dezember 1951 unterlegen war sprach sich Gurk fuumlr eine loyale Mitarbeit im neu entstandenen Suumldweststaat aus Diese vermittelnde Haltung lieszlig ihn als ideale Besetzung fuumlr das Amt des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Stuttgarter Parlament (1952) wie auch als CDU-Landesvorsitzender in Nordbaden (1951ndash1967) erscheinen Dementsprechend kam Gurk auch eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung der baden-wuumlrttembergischen Verfassung von 1953 zu Detailliert schildert Gilbert das Eintreten Gurks u a fuumlr ein Zweikammerparlament die Schaffung des Amtes eines Staatspraumlsidenten ndash beides Punkte mit denen er letztlich nicht durchdrang Entsprechend dem Wunsch Gurks kam es jedoch zur Schaffung von Regierungspraumlsidien als Mittelinstanz der allgemeinen Ver-waltung und zum Erhalt der Konfessionsschule in Suumldwuumlrttemberg-Hohenzollern (zu-mindest bis 1967) Auch geht der Landesname u a auf Gurk zuruumlck Mit der Wahl zum Karlsruher Buumlrgermeister zog sich Gurk zunaumlchst von den Houmlhen der Landespolitik zuruumlck Als einfacher Abgeordneter galt er jedoch als Fachmann fuumlr Fragen der Kom-munal- und Landkreisordnung wie auch des Finanzausgleichs

Als Praumlsident des Landtags 1960ndash1968 fand er schlieszliglich Worte des Ausgleichs zwischen Suumldweststaatsanhaumlngern und Suumldweststaatsgegnern anlaumlsslich des 10-jaumlhrigen Landesjubilaumlums Auch kam es in seiner Amtszeit zur Einweihung des neuen Landtags-gebaumludes Durch die Einfuumlhrung der Fragestunde wie auch der Aktuellen Stunde und regelmaumlszligige eigene Buumlrgersprechstunden in seinem Wahlkreis in Bruchsal bemuumlhte er sich zudem intensiv um Buumlrgernaumlhe und Transparenz

Der Band Gilberts schlieszligt mit einem Blick auf das Engagement Gurks im Ruhestand jetzt initiierte er u a mit dem Stadtdekanat Karlsruhe die Akademie der aumllteren Gene- ration

Gilberts Arbeit gibt einen anschaulichen Uumlberblick uumlber zentrale Stationen der Karls-ruher Stadt- wie auch der Landesgeschichte die in den 1940er bis 1970er Jahren durch Franz Gurk mitgepraumlgt wurde Es ist zu wuumlnschen dass die Studie Gilberts den Impuls fuumlr weitere Forschungen dieser Art bildet beispielsweise stellt eine Biographie des ehe-maligen Karlsruher Oberbuumlrgermeisters und ersten Wirtschaftsministers Baden-Wuumlrt-tembergs Hermann Veit (1897ndash1973) trotz eines umfangreichen Nachlasses im General- landesarchiv noch ein Desiderat dar Auch erschiene es reizvoll im Rahmen einer um-fangreicheren Studie mit Hilfe der Akten der Landtagspraumlsidenten im Hauptstaatsarchiv Stuttgart einmal Kompetenzen Amtsverstaumlndnis und Handlungsspielraumlume der baden-wuumlrttembergischen Parlamentspraumlsidenten zu untersuchen Michael Kitzing

706 Buchbesprechungen

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gioumlsen Sozialisten staumlrker in den Blick der Oumlffentlichkeit ruumlckten auch wenn sich ihre Erwartungen nicht erfuumlllten und nur fuumlnf von ihnen ndash drei Laien und die beiden Pfarrer August Kopp und Georg Wambsganszlig ndash gewaumlhlt wurden Ihr Programm wird durch die Antraumlge dokumentiert die sie auf den Synoden 1928 und 1930 stellten

Nach den thematischen Laumlngsschnitten und einigen Kapiteln die Spezialthemen wie Kopps Taumltigkeit als Sozialpfarrer in den Blick nehmen liegt der letzte Schwerpunkt des Lesebuchs auf den Stellungnahmen der religioumlsen Sozialisten zum rasanten Wachstum des Nationalsozialismus seit 1930 (bdquoGegen den Rechtsruck in Gesellschaft und Kircheldquo) Die hier versammelten Quellen umfassen Dokumente aus einem Dienststrafverfahren gegen Damian ebenso wie Auszuumlge aus der Predigt die er am Vorabend der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler gehalten hat und noch in den Druck bringen konnte Die Schicksale der religioumlsen Sozialisten waumlhrend der nationalsozialistischen Diktatur ndash Damian geriet kurzzeitig in bdquoSchutzhaftldquo Kopp und Wambsganszlig arrangierten sich ohne direkten Repressionen ausgesetzt gewesen zu sein ndash werden anschlieszligend mit einigen Dokumenten beleuchtet Das letzte Kapitel bdquoNach dem Zweiten Weltkriegldquo wirft Schlaglichter auf die weiteren Lebenswege von Damian und Kopp

Der von Lipp vorgelegte Band bietet eine anregende aber auch muumlhsame Lektuumlre da er die Einordnung und Deutung der Texte weitgehend den Leserinnen und Lesern uumlberlaumlsst Den Kapiteln sind zumeist nur wenige und nicht immer sachangemessene (Hindenburg war 1925 wohl kaum bereits bdquosenilldquo S 43) einleitende Zeilen des Autors vorangestellt und auch die einzelnen Quellen werden fast allesamt nur rudimentaumlr beschrieben eine Ausnahme bildet Damians Schrift bdquoDie Religion ist in Gefahrldquo die mit einem dreiseitigen Text eingeleitet wird der auch auf zeitgleich entstandene aumlhnliche Schriften anderer religioumlser Sozialisten verweist Schwerer als der spaumlrliche Umgang mit rahmenden Autortexten wiegt der konsequente Verzicht auf Annotationen der Quellen Wer Informationen uumlber die in den Texten genannten Personen und Begebenheiten sucht ist zu eigener Recherche genoumltigt Das den Band abschlieszligende knapp 20-seitige Quellen- und Literaturverzeichnis gibt hierfuumlr immerhin einige Anhaltspunkte

Frank Engehausen

Frank ENGEHAUSEN Sylvia PALETSCHEK Wolfram PYTA (Hg) Die badischen und wuumlrt-

tembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus 2 Teilbaumlnde (Veroumlffentlichungen der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrt-temberg Reihe B Forschungen Bd 220 Teilband 1 und 2) Stuttgart Kohlhammer 2019 LXII IX 992 S Abb geb EUR 78ndash ISBN 978-3-17-035357-2

Seit 15 Jahren lassen Bundesbehoumlrden die Geschichte ihrer Institution bzw die ihrer Vorgaumlnger im Nationalsozialismus erforschen und klaumlren wie stark die ministerielle Ar-beit auch nach 1945 durch den Nationalsozialismus gepraumlgt wurde Nachdem mit unter-schiedlichen Fragestellungen in der letzten Dekade auch mehrere Landtage aumlhnliche Projekte zur Parlamentsgeschichte anstieszligen ist nun auch die Erforschung der Laumlnder-behoumlrden zur Zeit des Nationalsozialismus in Gang gekommen Daniel Ritterauer etwa untersuchte in seiner 2013 eingereichten und 2018 veroumlffentlichten Muumlnchner Disser- tationsschrift ausgehend vom Amt des Ministerpraumlsidenten die Rolle der bayerischen Re-gierung in der NS-Zeit Die baden-wuumlrttembergische Landesregierung initiierte 2014 eine Kommission die aus Prof Dr Wolfram Pyta Prof Dr Edgar Wolfrum Prof Dr Frank Engehausen Prof Dr Christiane Kuller Prof Dr Sylvia Paletschek und Prof Dr

69519 und 20 Jahrhundert

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Reneacute GILBERT Franz Gurk (Karlsruher Koumlpfe Bd 5) Karlsruhe Info-Verlag 2019 78 S Abb Brosch EUR 1280 ISBN 978-3-96308-035-7

bdquoWie im wirtschaftlichen Leben so besteht auch unter den Staumldten des Landes ein har-ter Konkurrenzkampf Karlsruhe wird diesen Kampf allein fuumlhren und bestehen muumlssen denn Stuttgart liebt uns nichtldquo (S 32) Diese Worte finden sich im Aufruf von Franz Gurk (1898ndash1984) mit dem sich dieser im Mai 1952 um das Amt des Karlsruher Oberbuumlrger-meisters bewarb In seinem Aufruf wies Gurk weiter darauf hin dass Karlsruhe nach der Gruumlndung des Suumldweststaates mit der Landeshauptstadt Stuttgart nunmehr endguumlltig seinen Hauptstadtcharakter verloren habe und aus diesem Grund Arbeitsplaumltze in neu anzusiedelnden Verwaltungen vor allem aber auch in der Industrie geschaffen werden muumlssten

Gurk sah sich als den richtigen Mann fuumlr diese Aufgabe verfuumlgte er doch uumlber eine schon fast vierzigjaumlhrige Dienstzeit bei der Karlsruher Kommunalverwaltung zugleich sah er sich als unabhaumlngigen staumldtischen Interessenwahrer da er als CDU-Politiker in keinem Abhaumlngigkeitsverhaumlltnis von der in Stuttgart regierenden sozial-liberalen Koali-tion stehe Gleichwohl unterlag Gurk dem Sozialdemokraten Guumlnther Klotz (1911ndash1972) ndash und dennoch hat er zwischen 1953 und 1963 als Wirtschaftsdezernent und Buumlrger- meister an der Seite seines vormaligen Konkurrenten Klotz die Entwicklung der vorma-ligen badischen Residenz langfristig gepraumlgt

Obwohl Gurk auch in spaumlteren Jahren als Landtagspraumlsident (1960ndash1968) auf Landes-ebene zu den maszliggeblichen Akteuren gehoumlrte ist er heute voumlllig in Vergessenheit geraten Besteht bislang lediglich ein knapper biographischer Abriss zu Franz Gurk in den Baden-Wuumlrttembergischen Biographien so legt nunmehr Reneacute Gilbert eine lesenswerte und zugleich reich bebilderte Biographie vor Als Quellengrundlage dienen Gilbert dabei u a der politische Nachlass Gurks im Generallandesarchiv die Personalakte im Stadtarchiv Karlsruhe sowie die Protokolle des Stuttgarter Landtags Zumindest kursorisch hat der Autor zudem die juumlngst erschlossenen Handakten Gurks als Landtagspraumlsident im Haupt-staatsarchiv Stuttgart durchgesehen

Fuumlr Gilbert haben zwei Eigenschaften das Wirken Gurks charakterisiert Fleiszlig und Strebsamkeit sowie seine tiefe Verankerung im katholischen Glauben Schon mit acht Jahren verlor Gurk den Vater wodurch die finanziellen Verhaumlltnisse beengt waren und ein Abitur nicht moumlglich war Mit 15 Jahren begann er folglich 1913 ein Volontariat beim Rechnungsamt der Stadt Karlsruhe Besonders in den zwanziger Jahren arbeitete er sich im staumldtischen Dienst nach oben Unter anderem war er beim Arbeitsamt beschaumlftigt und bemuumlhte sich hier um die Vermittlung und berufliche Weiterbildung Jugendlicher in wirtschaftlich krisenanfaumllliger Zeit Daneben trat das Engagement als Stadtverordneter (1927ndash1933) und Kreisrat (1933) der Zentrumspartei ndash in der Zeit des bdquoDritten Reichesldquo sah sich Gurk folglich Schikanen ausgesetzt Beispielsweise wurde er mehrfach als bdquopolitisch unzuverlaumlssigldquo bei Befoumlrderungen uumlbergangen Gleichzeitig wurde er auf eine Stelle bei der Rechnungspruumlfung abgeschoben Aber auch in dieser Zeit kennzeichneten Fleiszlig und Strebsamkeit das Wirken Gurks So holte er nicht nur das Abitur nach sondern studierte auch gleichzeitig neben dem Militaumlrdienst Volkswirtschaft in Freiburg und wurde schlieszliglich 1944 bei Walter Eucken (1891ndash1950) promoviert

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente Gurk seiner Heimatstadt schon bald als Stadt-kaumlmmerer (1947ndash1952) aufgrund Personalmangels musste er gleichzeitig auch fuumlr einige Zeit das Amt des Hafendirektors versehen Ein Schwerpunkt der Darstellung Gilberts

70519 und 20 Jahrhundert

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Joachim Scholtyseck bestand und die fuumlr Baden wie Wuumlrttemberg die Geschichte aller Landesministerien fuumlr den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 erforschen lieszlig Die Ergebnisse dieser Arbeit erschienen 2019 in zwei voluminoumlsen Halbbaumlnden in der Schrif-tenreihe B der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

Zwoumllf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben in diesem Werk fuumlr beide Laumlnder und fuumlr jedes Ministerium jeweils Aufbau strukturelle und personelle Veraumlnde-rungen des Ministeriums und seiner Arbeit stellen wichtige Akteure vor und fragen nach der sich veraumlndernden Bedeutung der jeweiligen Institution im Machtgefuumlge der natio-nalsozialistischen Diktatur Ergaumlnzend untersucht Marie MUSCHALEK die Zivilverwaltung des Elsass Eine Einleitung durch die Kommissionsmitglieder Frank ENGEHAUSEN Sylvia PALETSCHEK und Wolfram PYTA Skizzen zur nationalsozialistischen Machtuumlbernahme in beiden Laumlndern von Frank Engehausen Frederick BACHER und Jutta BRAUN sowie ausgezeichnete Register runden diesen Band ab

Was sind die Resultate dieses von der Baden-Wuumlrttemberg Stiftung mit 145 Millionen Euro gefoumlrderten dreijaumlhrigen groszligen Forschungsprojektes Zunaumlchst einmal handelt es sich und das betont auch der einleitende Aufsatz um ein Projekt mit geschichtspoliti-scher Zielsetzung Den einzelnen Beitraumlgen gelingt es uumlberzeugend nachzuweisen dass die Landesministerien trotz der nationalsozialistischen Zentralisierung der Staatsgewalt ihre je spezifische Rolle fuumlr die Ausgestaltung der Diktatur spielten und eingebunden waren in die Realisierung nationalsozialistischer Verbrechen Ein Vorzug zahlreicher Bei-traumlge ist dass sie zudem zumindest kurz die Genese anderslautender Geschichtsbilder die unter Verweis auf die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten ein schuldhaftes Verhalten der Landesministerien zu bestreiten suchen herausarbeiten und aufzeigen dass diese ihren Ursprung in der Nachkriegszeit im Kontext der Entnazifizierung besitzen Auch wenn diese Befunde aus wissenschaftlicher Sicht angesichts des Forschungsstandes zur Reichsebene wenig uumlberraschend erscheinen handelt es sich um eine notwendige Korrektur mancher aumllterer landesgeschichtlicher Veroumlffentlichungen die zu unkritisch den Erinnerungen der Beteiligten gefolgt waren Die zu besprechende Publikation ist ein sehr wichtiges und uumlberaus hilfreiches Handbuch das jeder der sich mit Landesministe-rien und den ihnen nachgeordneten Behoumlrden fuumlr den Zeitraum 1933 bis 1945 interessiert mit Gewinn konsultieren wird Das gilt selbstredend auch fuumlr Forschungen zu den Hand-lungsfeldern auf denen die Ministerien taumltig waren und blieben wie etwa die Gesund-heitspolitik der Wohnungsbau oder die Elektrizitaumlt um nur einige zu nennen Der Prozess der Nazifizierung der jeweiligen Verwaltungen wird ebenso im Detail dargestellt wie die Rolle von Frauen in der betreffenden Institution Zahlreiche Biogramme sind in die Dar-stellung eingearbeitet sodass die Publikation auch eine wichtige biografische Fundgrube darstellt Insgesamt gesehen orientieren sich die Beitraumlge eng an dem Blick auf das jeweilige Ministerium sodass etwa fuumlr die NS-Schulpolitik Studien wie der 2016 von Juumlrgen Finger vorgenommene Vergleich der Verhaumlltnisse in Baden Wuumlrttemberg und dem Elsass weiterhin heranzuziehen sind

Schlieszliglich gilt zu klaumlren was die Ergebnisse dieses Projektes fuumlr die Erforschung des Nationalsozialismus als Ganzes leisten koumlnnen Dadurch dass erstmals fuumlr zwei Flaumlchen-laumlnder systematisch alle Landesministerien unter gemeinsamen Perspektiven untersucht wurden entstand fuumlr zukuumlnftige Forschungen eine wichtige Grundlage fuumlr regionale Vergleiche Die Beitraumlge selbst versuchen das ndash abgesehen von wenigen knappen Be-merkungen meist zu Preuszligen ndash nicht Weiterfuumlhrend sind die Versuche danach zu fragen inwiefern die jeweilige Institution eine spezifische Verwaltungskultur herausbildete und

696 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 696

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

und Vorstellungen sowie gar manche Dissense getruumlbt etwa hinsichtlich der Vorgehens-weise bei der Entnazifizierung einem Kernthema des Regierungsprogramms Infolge des Gesetzes Nr 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom Maumlrz 1946 wurden die Entnazifizierungsverfahren zwar von alliierten auf deutsche Instanzen d h die landesweit einzurichtenden Spruchkammern uumlbertragen Da nun circa 25 Mil-lionen Personen in Wuumlrttemberg-Baden mittels umfangreicher Frageboumlgen praumlzise Aus-kunft zu ihrem eigenen Leben und Verhalten waumlhrend des NS-Regimes geben mussten fuumlrchtete die Regierung um den Ruumlckhalt in der Bevoumllkerung zumal die amerikanische Militaumlradministration nicht selten strafverschaumlrfend in die Verfahren eingriff Damit ging auch ein erheblicher Verlust von ndash dringend benoumltigtem ndash qualifiziertem und erfahrenem Fachpersonal fuumlr den Wiederaufbau von Verwaltung und Wirtschaft einher Weitere Kon-fliktpunkte offenbarten die Einrichtung von Internierungslagern die Beschlagnahmung von Gebaumluden durch die Besatzungsmacht der Umgang mit Displaced Persons d h nicht ruumlckkehrwilligen ehemaligen Zwangsarbeitern sowie die Eindaumlmmung der Ban-denkriminalitaumlt Ein durchgaumlngiges Kernthema der Kabinettssitzungen und des Regie-rungshandelns waren die Aufnahme und Eingliederung von (mehr als einer halben Million) Fluumlchtlingen und Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebie-ten Die Bewaumlltigung des Zustroms wurde noch dadurch massiv erschwert dass parallel dazu die Kriegstruumlmmer sukzessive beseitigt die bestehende Raumnot verringert sowie die zerstoumlrte Infrastruktur und das Verkehrsnetz wiederhergestellt werden mussten Zudem galt es die kriegsgeplagte Bevoumllkerung mit ausreichend Nahrung und Energie zu versorgen Die erste Regierungsperiode war auch gepraumlgt durch den Aufbau eines de-mokratisch verfassten und strukturierten Gemeinwesens von der kommunalen bis hinauf zur zentralen Ebene Gruumlndung und Formierung von politischen Parteien Einfuumlhrung von Gemeinde- und Kreisordnungen Durchfuumlhrung von allgemeinen gleichen unmit-telbaren und geheimen Gemeindewahlen (zunaumlchst in den kleineren Gemeinden dann in den groumlszligeren Staumldten) sowie Wahlen der Kreistage (und durch diese der Landraumlte und Kreisraumlte) Formierung und vertiefte Zusammenarbeit eines Laumlnderrats der Regierungen der drei Laumlnder innerhalb der amerikanischen Besatzungszone Schaffung einer Vorlaumlu-figen Volksvertretung (aus Regierungsmitgliedern Landraumlten Oberbuumlrgermeistern sowie aus Vertretern von Berufsstaumlnden von Hochschulen der christlichen Kirchen der israe-litischen Religionsgemeinschaft und von Parteien) als Vorstufe eines Landesparlaments spaumlter Wahl einer Verfassunggebenden Landesversammlung und schlieszliglich Verabschie-dung einer Landesverfassung (mit Grundrechtekatalog) Als im November 1946 die Ver-fassung durch die Bevoumllkerung angenommen und der erste verfassungsmaumlszligige Landtag gewaumlhlt wurde war die Mission des ersten Kabinetts Maier vollendet und das Fundament fuumlr eine erste parlamentarische Regierung gelegt

Zwar ist der Redaktion wohl ein augenfaumllliger Fluumlchtigkeitsfehler entgangen denn im Inhaltsverzeichnis ist der 19 Dezember (statt 19 September) 1945 als Datum der ersten Sitzung vermerkt Diese Petitesse vermag indessen den bedeutsamen Wert der Publi- kation fuumlr die landes- und politikgeschichtliche Forschung keinesfalls zu schmaumllern ermoumlglicht die Lektuumlre doch gute Einblicke sowohl in das nicht reibungsfreie Verhaumlltnis zwischen amerikanischer Militaumlradministration und erster Landesregierung als auch in manche differente Interessenslagen und Ambitionen der nordwuumlrttembergischen und nordbadischen Regierungsmitglieder respektive der beiden Landesteile am Beginn des durchaus steinigen Wegs hin zum spaumlteren Suumldweststaat

Michael Bock

704 Buchbesprechungen

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diese nationalsozialistisch gepraumlgt wurde Leider muumlssen die Autorinnen und Autoren immer wieder auf die uumlberlieferungsbedingten Grenzen eines solchen kulturgeschichtlich sensibilisierten Vorgehens hinweisen besonders im Falle Wuumlrttembergs Doch mindern die fuumlr den Suumldwesten fehlenden Quellen nicht die Relevanz einer solchen Unter- suchungsperspektive fuumlr andere Regionen oder die nationale Ebene

So unterschiedlich die Beobachtungen zu den einzelnen Ministerien in Wuumlrttemberg und Baden auch sind so betonen die Autorinnen und Autoren doch eine deutliche Ab-grenzung zu anderen Institutionen des NS-Regimes Hier gilt es fuumlr zukuumlnftige Forschun-gen anzusetzen und zu uumlberpruumlfen ob diese Deutung Folge der Kombination von Fragestellung und ausgewerteten Quellen ist oder ob sich hier gegebenenfalls eine suumld-westdeutsche Besonderheit abzeichnet Neuere Forschungen zur Geschichte der Gaue oder der Mittelgewalten in anderen deutschen Regionen betonen insbesondere fuumlr die Zeit des Krieges die Relevanz von personellen Netzwerken die das Wirken von Behoumlr-den Parteidienststellen Wehrmacht institutionenuumlbergreifend in der Region koordinier-ten und dynamisierten Mit Ausnahme des Beitrags von Marie Muschalek zur Zivil- verwaltung im Elsass finden sich in den Beitraumlgen zu den badischen und wuumlrttembergi-schen Ministerien allenfalls punktuelle Hinweise auf entsprechende Netzwerke und intermediaumlre Institutionen Die Relevanz von solchen uumlbergreifenden Netzwerken fuumlr das Funktionieren von Staatlichkeit in anderen deutschen Regionen loumlsten um 2010 eine intensive wissenschaftliche Diskussion daruumlber aus ob man von neuer Staatlichkeit im Nationalsozialismus sprechen koumlnne und wie herkoumlmmliche Erklaumlrungsansaumltze etwa der Polykratie oder des Normen- und Maszlignahmenstaates in der Nachfolge Ernst Fraenkels uumlberwunden werden koumlnnten um die Erkenntnisse der neueren Verwaltungsgeschichte auf lokaler regionaler und nationaler Ebene angemessen in ein neues Gesamtnarrativ zu integrieren Die vielfaumlltigen Ergebnisse des Projektes zur Erforschung der badischen und wuumlrttembergischen Landesministerien in der NS-Zeit in diesen groumlszligeren Diskussions- zusammenhang zu integrieren bleibt zukuumlnftigen Forschungen vorbehalten

Christopher Dowe

Christoph RAICHLE Die Finanzverwaltung in Baden und Wuumlrttemberg im National-

sozialismus Stuttgart Kohlhammer 2019 949 S Abb Brosch EUR 98ndash ISBN 978-3-17-035280-3

Die voluminoumlse Untersuchung Raichles entstand im Kontext des von der baden-wuumlrt-tembergischen Landesregierung in Auftrag gegebenen Projekts bdquoGeschichte der Landes-ministerien in Baden und Wuumlrttemberg in der Zeit des Nationalsozialismusldquo zu dem die Abschlusspublikation im Jahr 2019 vorgelegt wurde (vgl dazu die Rezension in diesem Band) Raichle wendet sich einem Verwaltungszweig zu der aumlhnlich wie die Justiz auf den ersten Blick als sachlich-nuumlchtern normorientiert und bdquoordentlichldquo erscheint dazu aber auch als zahlenfokussiert und auf staatliche Einnahmensteigerung bedacht und der somit ndash besonders im Gegensatz zum Schul- und Kultursektor ndash eine rein funktionale inhaltlich neutrale Groumlszlige zu sein scheint Doch wie schon mehrfach herausgearbeitet wurde gab es unter der NS-Diktatur keine ideologiefreien Nischen in der oumlffentlichen Verwaltung Ihre Zweige dienten allesamt auf je eigene Weise dem System und seinen Vernichtungszielen

Raichle geht der Frage nach welche Rolle die mittlere und untere Ebene der Finanz-verwaltung in Baden und Wuumlrttemberg also nicht die Ministerien bei der Auspluumlnderung

69719 und 20 Jahrhundert

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Michael KITZING (Bearb) Die Protokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden Bd 1 Das erste Kabinett Maier 1945ndash1946 (Kabinettsprotokolle von Baden Wuumlrt-temberg-Baden und Wuumlrttemberg-Hohenzollern 1945ndash1952 hg von der Kommission fuumlr Geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Bd II1) Stuttgart Kohl-hammer 2018 LXXIII 383 S geb EUR 38ndash ISBN 978-3-17-034379-5

In der seitens der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg herausgegebenen Reihe der edierten Kabinettsprotokolle ist der erste Band der Pro- tokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden erschienen der die Amtsperiode des ersten Kabinetts unter der Leitung des Ministerpraumlsidenten Reinhold Maier dokumen- tiert Die Zeitspanne reicht vom 19 September 1945 bis zum 5 Dezember 1946 In der 38 Seiten umfassenden Einleitung charakterisiert und bilanziert der Bearbeiter Michael Kitzing die Regierungsperiode ausfuumlhrlich Es folgen eine tabellarische Uumlbersicht des Regierungspersonals und 15 Biogramme die die jeweilige berufliche und politische Vita sowie gegebenenfalls die fachlichen Voraussetzungen der Kabinettsmitglieder skizzieren Neben Verzeichnissen der zahlreichen verwendeten Abkuumlrzungen und der herangezogenen Fachliteratur werden auch die Editionsgrundsaumltze fuumlr die Publika- tion der Kabinettsprotokolle dargelegt Sodann werden die Protokolle der 62 Sitzun- gen der rund fuumlnfzehnmonatigen Regierungsperiode vollstaumlndig abgedruckt Kurz- biogramme der in den edierten Protokollen ndash uumlber die Kabinettsmitglieder hinaus ndash erwaumlhnten Personen (insbesondere Ministerialbeamte) finden sich in den beigegebe- nen Fuszlignoten Der Band wird abgeschlossen durch umfangreiche (Personen- Orts- und Sach-)Register

Reinhold Maier der als liberaler Politiker (zunaumlchst Deutsche Demokratische Partei dann Deutsche Staatspartei) bereits waumlhrend der Weimarer Republik zwischen 1930 und 1933 wuumlrttembergischer Wirtschaftsminister gewesen war knuumlpfte im Fruumlhjahr 1945 Kontakte zur amerikanischen Militaumlrregierung entwarf wirtschaftspolitische Perspek- tiven fuumlr den Wiederaufbau und wurde Assistent der ersten Konferenz nordwuumlrttem- bergischer Landraumlte im Juni 1945 Maier der zwar 1933 als Reichstagsabgeordneter dem Ermaumlchtigungsgesetz zugestimmt dann aber zumal mit einer Juumldin verheiratet in Gegnerschaft zum NS-Regime gestanden hatte wurde im Sommer 1945 seitens der ame-rikanischen Landesmilitaumlradministration auserkoren eine Regierung fuumlr Nordwuumlrttem-berg und Nordbaden zu bilden Als eines von drei Laumlndern der US-Besatzungszone wurde Wuumlrttemberg-Baden im Herbst 1945 gegruumlndet nachdem die amerikanische Besatzungs-macht auch den Raum Karlsruhe von den Franzosen uumlbernommen hatte Dem ersten Kabinett Maier gehoumlrten u a ndash die spaumlter bundespolitisch prominenten ndash Theodor Heuss (als Kultminister) und Carlo Schmid (als Staatsrat im Staatsministerium) an Der bishe-rige nordbadische Regierungschef Heinrich Koumlhler (ehemals Reichsfinanzminister in der Weimarer Republik) wurde der in Stuttgart ansaumlssigen Regierung unterstellt und trat in das wuumlrttembergisch-badische Kabinett als stellvertretender Ministerpraumlsident ein Die amerikanische Militaumlradministration gestand dem nordbadischen Landesbezirk zwar eine grundsaumltzliche Gleichbehandlung zu doch gelang es im Lauf des Jahres 1946 und auch daruumlber hinaus nicht sich auf ein Gesetz zu verstaumlndigen in dem die Stellung des nord-badischen Landesteils und dessen Autonomierechte innerhalb des wuumlrttembergisch- badischen Staatsgefuumlges detailliert fixiert wurden In vielen Vorhaben und Zielen stimm-ten die amerikanische Militaumlradministration und das Kabinett Maier inhaltlich uumlberein ihr Verhaumlltnis zueinander wurde jedoch durch einige unterschiedliche Auffassungen

70319 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 703

der Juden spielte wobei sein Hauptinteresse den Verhaltensweisen und Handlungsspiel-raumlumen der damit befassten Beamten gilt Waren sie aktive Gestalter verschaumlrften sie die Vorgaben versuchten sie diese abzumildern Gab es gar Opposition in der Beam-tenschaft Dabei kann Raichle sich neben allgemeinen Arbeiten auf solche Vorgaumlnger-studien stuumltzen die die bdquoArisierungldquo von Wirtschaft und Gesellschaft auf lokaler Ebene detailliert behandeln fuumlr Baden insbesondere die Arbeiten von Andrea Brucher-Lembach uumlber Freiburg und die Studie von Christiane Fritsche uumlber Mannheim der Stadt mit der groumlszligten und vermoumlgendsten juumldischen Religionsgemeinschaft in Baden und einer der bedeutendsten im damaligen Deutschen Reich

Die Quellenlage koumlnnte sicher besser sein wie Raichle zu Recht feststellt Viele Akten die nicht nur allgemeine Regeln und organisatorische Maszlignahmen betreffen sondern die konkrete Umsetzung der bdquoVerwertungldquo juumldischen Vermoumlgens zeigen sind bei Kriegsende entweder bewusst vernichtet worden oder sind dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen Zumindest in Nordbaden scheint so ist Raichles Ausfuumlhrungen uumlber die Quellenlage ergaumlnzend hinzufuumlgen die wichtigere Verlustursache eher im Bombenkrieg gelegen zu haben denn die Aufgaben der bei den Finanzaumlmtern gebildeten Dienststellen fuumlr die Verwaltung und Verwertung juumldischen Vermoumlgens wurden schrittweise bei wenigen sogenannten bdquoGruppenfinanzaumlmternldquo zentralisiert das Schriftgut der beiden groumlszligten Mannheim und Karlsruhe wurde durch Kriegseinwirkung vernichtet Gleichwohl gibt es in ausreichender Weise Paralleluumlberlieferung die fuumlr den Historiker genau das kontraumlre Problem aufwirft naumlmlich mit ihrer Massenhaftigkeit fertig zu werden Gemeint sind vor allem die Akten der Wiedergutmachungs- und Ruumlckerstattungsbehoumlrden in die sehr oft ndash so z B im Fall der Ruumlckerstattungsakten der Oberfinanzdirektion Karlsruhe ndash Reste der Akten der Finanzverwaltung aus der NS-Zeit selbst Eingang gefunden haben Diese Uumlberlieferungsreste in den zu Einzelpersonen oder zu einzelnen Vermoumlgens- objekten angelegten Akten zielsicher aufzuspuumlren ist freilich nicht moumlglich Lokalhisto-rische Studien haben hier den groszligen Vorteil ortsbezogen auswaumlhlen zu koumlnnen was vielleicht den unverkennbaren Trend zur Kleinraumlumigkeit in der NS-Forschung mit erklaumlrt Weiteres Quellenmaterial findet Raichle in den Personal- und Spruchkammer- akten von Beamten der Finanzverwaltung in der Uumlberlieferung der Personalunterlagen der badischen NSDAP in Prozessakten der Gerichte wegen Devisen- und Steuerver- gehen sogar in Feldpostbriefen von Bediensteten eines suumldbadischen Finanzamts und anderes mehr

Raichle loumlst sein ndash doppeltes ndash Quellenproblem naumlmlich sowohl der Knappheit als auch der Masse indem er geschickt ausgewaumlhlte Fallbeispiele mit Ausfuumlhrungen zu den allgemeinen Entwicklungslinien und zu den strukturellen Rahmenbedingungen des Handelns der Finanzverwaltung kombiniert Er unterliegt dabei weder der Gefahr sich in Details zu verlieren noch der Versuchung Einzelfaumllle vorschnell zu generalisieren sondern waumlgt seine Urteile sorgfaumlltig ab Staatliches Verwaltungshandeln wird nur im Einzelfall konkret und nur anhand sogenannter gleichfoumlrmiger Akten laumlsst sich das Aus-maszlig der Umsetzung normativer Regelungen pruumlfen und die Frage ein groszliges Stuumlck weit klaumlren in wie weit die nach 1945 stereotyp zu houmlrende Aussage vieler Beamter nur Be-fehlsempfaumlnger ohne Gestaltungsmoumlglichkeiten gewesen zu sein zutreffend ist

Dass die Untersuchung trotz ihres Umfangs und ihres Materialreichtums gut lesbar ist und nicht weitschweifig wird verdankt sie ihrer klaren Gliederung Raichle stellt zu-naumlchst den Aufbau der Reichsfinanzverwaltung ab 1919 dar und widmet sich insbesondere ihrer Personalstruktur und dem Geist der die Beamtenschaft dieses auf Reichsebene

698 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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jungen Verwaltungszweiges vor 1933 praumlgte Sodann behandelt er ausfuumlhrlich kenntnis-reich und auf breiter Quellengrundlage die beamtenrechtlichen Maszlignahmen des NS- Regimes um die Verwaltung weltanschaulich auf Linie zu bringen Nachdem so der strukturelle und personalpolitische Rahmen abgesteckt ist widmet sich Raichle der inhaltlichen Arbeit der Finanzbehoumlrden waumlhrend der einzelnen Eskalationsstufen der ge-sellschaftlichen und fiskalischen Diskriminierung Verdraumlngung bewussten Schaumldigung und Auspluumlnderung der deutschen Juden Ausfuumlhrlich geht er auf die bdquoVerwertungldquo der den Juden geraubten Vermoumlgenswerte ab 194041 ein Baden spielte mit der vergleichs-weise fruumlhen Deportation fast aller noch verbliebenen Juden im Herbst 1940 eine Vor-reiterrolle Mit dem bdquoGeneralbevollmaumlchtigten fuumlr das juumldische Vermoumlgen in Badenldquo Carl Dornes gab es fuumlr kurze Zeit sogar eine eigene Sonderverwaltung fuumlr diese Aufgabe deren eigene Akten leider den Krieg nicht uumlberdauert haben Raichle schildert detailliert die Skrupellosigkeit mit der viele Deutsche sich mit Hilfe der Finanzverwaltung am zu-ruumlckgelassenen Vermoumlgen ihrer juumldischen Mitbuumlrger bereicherten Aber auch die Verwal-tung selbst war Profiteur Das einzige was man an dieser Stelle ein wenig vermisst ist ein wenigstens kurzer Blick uumlber den Bereich der Finanz- und auch der Innenverwaltung hinaus auf den Kulturbetrieb der ebenfalls von der bdquoArisierungldquo profitierte Diese Per-spektive haumltte in Anbetracht der starken Quellenverluste bei der Finanzverwaltung zu-mindest fuumlr Baden zusaumltzliche Bewertungsmaszligstaumlbe zur Beurteilung der Handlungs- spielraumlume aber auch der Nachkriegsdenkweisen der agierenden Beamten liefern koumln-nen denn der Raub von Kulturguumltern aus juumldischem Besitz ist vor allem dank der Gut-achterrolle des Leiters der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und den daraus erwachsenen Akten recht gut dokumentiert Vielleicht ist das aber auch ein ganz eigenes Thema das den Rahmen der Studie Raichles gesprengt haumltte

bdquoWas bleibt ist unterm Strich das Bild einer tief verstrickten Finanzverwaltung [hellip] Handlungsspielraumlume gab es dabei vor Ort immer wieder [hellip] Genutzt wurden diese Spielraumlume [hellip] nur selten zugunsten der Verfolgten des Regimes Ganz uumlberwiegend herrschte ein Geist geschaumlftiger Pflichterfuumlllung [hellip]ldquo ndash so fasst Raichle seine Ergebnisse zusammen (S 892) Dieses Resultat vor allem der letzte Satz ist heute nicht mehr uumlber-raschend und trifft auf vermutlich alle Verwaltungsbereiche und sicher auf den Groszligteil der deutschen Gesellschaft zu Das bdquoDritte Reichldquo funktionierte nicht nur dank seines Unterdruumlckungsapparats sondern ganz einfach auch dadurch dass zu viele Menschen einfach nur ihre bdquoPflichtldquo erfuumlllten und dabei ihre Augen schlossen Gleichwohl veraumlndert die wiederholte Bestaumltigung derartiger Forschungsergebnisse nicht nur unseren ruumlck-waumlrtsgewandten Blick auf die Funktionsweise des NS-Systems sondern kann auch rich-tungsweisend werden fuumlr gesellschaftliches Handeln in der Gegenwart

Martin Stingl

Pia NORDBLOM Walter RUMMEL Barbara SCHUumlTTPELZ (Hg) Josef Buumlrckel National-sozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz (Beitraumlge zur pfaumllzischen Ge-schichte Bd 30) Kaiserslautern Institut fuumlr pfaumllzische Geschichte und Volkskunde 2019 367 S geb EUR 2490 ISBN 978-3-927754-93-5

Der anzuzeigende Band ist zwei Vortragsveranstaltungen entwachsen die im Maumlrz und im Oktober 2014 in Neustadt stattgefunden haben und um drei Beitraumlge ergaumlnzt worden Von dem Herausgebertrio tritt lediglich Walter Rummel Leiter des Landes- archivs Speyer mit eigenen Aufsaumltzen in Erscheinung und zwar gleich mit vieren einer einleitenden knappen biographischen Skizze des pfaumllzischen NSDAP-Gauleiters Reichs-

69919 und 20 Jahrhundert

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Die Erinnerungen von Ludwig Mann uumlber seine Erlebnisse als Arzt im Lager Gurs 1946 in Beaumont geschrieben wurden ab 1990 mehrfach veroumlffentlicht Jetzt liegt der Text bdquoHeldentum in Gursldquo fast 75 Jahre nach seiner Entstehung in franzoumlsischer Sprache vor veroumlffentlicht in Beaumont wo Ludwig Mann nach seiner Befreiung aus dem Lager Seacutereilhac 1945 bis 1949 lebte Die engen Beziehungen zwischen Anna und Ludwig Mann und der Familie Moos werden dadurch deutlich dass die Familie Moos regelmaumlszligig Paumlck-chen fuumlr die Manns in das Lager Gurs schickte Auch die Mitglieder der Familien Wachenheim und Strauss aus Karlsruhe wurden so unterstuumltzt

In dem einleitenden Bericht uumlber die Vorgeschichte der Verschleppung aus Baden koumln-nen in erweiterten bdquoErrataldquo kleine Korrekturen aufgenommen werden Unter den Her-kunftsstaumldten ist auf S 1 auch Stuttgart genannt Betroffen waren am 22 Oktober 1940 juumldische Menschen in Baden die juumldischen Menschen aus Wuumlrttemberg also auch aus Stuttgart verschleppten die Nazis 1941 in das Konzentrationslager Riga Die Zahlen der Deportierten auf der Karte S 3 sind zu hoch Aus Mannheim verschleppten die Nazis 1972 Menschen aus Karlsruhe 945 aus Freiburg 349 und aus Pforzheim 195 Das Foto juumldischer Maumlnner 1938 auf S 6 stammt nicht aus Koumlnigsbach sondern aus Baden-Baden

Was wie ein Zufall aussieht naumlmlich dass vier aus dem Lager Gurs gerettete Kinder in Beaumont Zuflucht finden wird in zwei kurzen Passagen (S 78 ff und 104) als Teil eines Rettungswerkes sichtbar

Erna Ullman wird durch Mitarbeitende des juumldischen Kinderhilfswerkes OSE aus dem Lager gerettet vor den Razzien der Vichy-Polizei im Sommer 1942 versteckt und dann im Heim der juumldischen Pfadfinder in Moissac vorlaumlufig in Sicherheit gebracht

Manfred Mayers Bruder Heinz wird durch das juumldische Kinderhilfswerk OSE und die juumldischen Pfadfinder EIF im Mai 1944 in die Schweiz gerettet

Aus unserer noch nicht veroumlffentlichten Dokumentation der Lebenswege der 559 Kin-der und Jugendlichen die die Nazis am 22 Oktober 1940 in das Lager Gurs verschlepp-ten geht hervor dass 405 von ihnen gerettet wurden Fast 100 gelangten mit von den Quaumlkern organisierten Transporten in die USA beinahe 100 wurden in die Schweiz gerettet uumlber 200 uumlberlebten in Familien Kloumlstern und Heimen oder in der Reacutesistance in Frankreich

Das Buch gehoumlrt sicher in die Archive und oumlffentlichen Buumlchereien der genannten Staumldte und Gemeinden Hoffenheim Karlsruhe Mannheim und Pforzheim ebenso in Baden-Baden Gailingen und Loumlrrach auch diese Gemeinden sind im Einleitungsartikel genannt

Das Buch kann Forschende zum Thema bdquoDeportation ins Lager Gurs 1940ldquo anregen die Lebenswege der Verschleppten bdquoihrerldquo Gemeinde in Baden der Pfalz und dem Saarland insbesondere die Rettungswege der Kinder und Jugendlichen naumlher zu erfor-schen

Auch fordert das Buch heraus die Menschen vorzustellen die es unternommen haben bdquodem Rad in die Speichen zu fallenldquo (Dietrich Bonhoeffer) also die Retterinnen und Ret-ter Wir arbeiten an dem Wunsch der Autoren bezuumlglich der Lebenswege der vier Kinder bdquoEs waumlre interessant aumlhnliche Schicksale in einem eigenen Buch zusammenzustellenldquo Die Dokumentation der Lebenswege der 559 aus Baden der Pfalz und dem Saarland nach Gurs verschleppten Kinder soll zum 22 Oktober 2020 erscheinen verbunden mit Portraits der RetterInnen

Brigitte und Gerhard Braumlndle

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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statthalters der Westmark und Chefs der Zivilverwaltung in Lothringen Josef Buumlrckel (1895ndash1944) einem instruktiven sich aber in die biographische Ausrichtung des Bandes nicht gut einfuumlgenden Beitrag zur Taumltigkeit der Geheimen Staatspolizeistelle Neustadt einer Analyse von Buumlrckels Politik der bdquoGermanisierungldquo in Lothringen und schlieszliglich mit einer knapp ein Drittel des Gesamtbandes ausmachenden detaillierten Dokumentation des Spruchkammerverfahrens das posthum gegen Buumlrckel gefuumlhrt wurde um die Ver-moumlgensanspruumlche seiner Witwe zu klaumlren Die andere Haumllfte des Bandes entfaumlllt auf zwoumllf deutlich knappere Beitraumlge die verschiedene Aspekte von Biographie und Wirken Buumlrckels beziehungsweise den politischen Kontext beleuchten

Den Auftakt machen ein Beitrag von Michael KISSENER der die Konjunkturen regio-nalgeschichtlicher Perspektiven auf den Nationalsozialismus nachzeichnet und feststellt bdquodass die regionale NS-Forschung der Zweig der NS-Forschung ist von dem am meisten Erkenntniszuwachs noch zu erwarten istldquo (S 39) und eine knappe Skizze des allerdings auch nicht sehr reichhaltigen Forschungsstands zu Buumlrckel von Franz MAIER der die bdquoseit langem ausstehende wissenschaftliche Biographie des pfaumllzischen Gauleitersldquo (S 46) weiterhin fuumlr ein Desiderat haumllt In der Sache selbst geht es anschlieszligend um das konfliktbeladene Verhaumlltnis Buumlrckels zu dem spaumlteren Inspekteur der Konzentrationslager Theodor Eicke (Niels WEISE) um den bayerischen NS-Ministerpraumlsidenten Ludwig Siebert der vergeblich immer wieder versuchte den pfaumllzischen Gauleiter bdquoin die baye-rische Regierung einzubauenldquo (S 70 Daniel RITTENAUER) sowie um bdquoMachtsicherung und Netzwerke Buumlrckelsldquo die Franz Maier mit biographischen Skizzen der pfaumllzischen Gauleiterclique beschreibt

Diesen eher personenbezogenen Beitraumlgen schlieszligen sich mehrere kuumlrzere sachthema-tisch orientierte Aufsaumltze an die Buumlrckels Stellung zur pfaumllzischen Presse (Stephan PIEROTH) zu den bdquobeiden groszligen Kirchen in der Pfalzldquo (Thomas FANDEL) und seine Rolle bei der Judenverfolgung nachzeichnen ndash hier behandelt Michael MARTIN auch die viel diskutierte Frage nach den badischen pfaumllzischen oder Berliner Verantwortlichkeiten fuumlr die Oktoberdeportationen von 1940 nach Gurs wobei er offenlaumlsst ob man bdquovon einer sbquoBuumlrckel-Aktionlsquo oder einer sbquoWagner-Buumlrckel-Aktionlsquo sprechenldquo sollte (S 151) Die Frage ob Buumlrckel ein bdquoMeister der inszenierten sbquoVolksgemeinschaftlsquoldquo gewesen sei umkreist Dieter SCHIFFMANN mit einigen bdquoStreiflichternldquo zu dem Projekt einer bdquoVolks- sozialistischen Selbsthilfeldquo die sich als pfaumllzische Sonderentwicklung gegen die NS-Volkswohlfahrt indes nicht behaupten konnte zu einer Frankenthaler Fabrikrettung im Jahr 1935 sowie zur im gleichen Jahr erfolgten Schoumlpfung der bdquoDeutschen Wein-straszligeldquo die ihm vielfach als groszliges Verdienst angerechnet wurde wie in den bdquojourna- listischen Beobachtungenldquo Dagmar GILCHERS zu den Nachkriegsdiskursen uumlber bdquoBuumlrckel und die Weinstraszligeldquo deutlich wird Materialreich und interessant aber in dem Band deplatziert da in keinem Zusammenhang mit dem Wirken Buumlrckels stehend ist der Beitrag von Wolfgang FREUND uumlber die bdquoBevoumllkerungswissenschaftenldquo in der national-sozialistischen Pfalz

Wegen der eklektischen Anlage des Bandes wird nicht im Zusammenhang deutlich wie Buumlrckel der Aufstieg in die houmlchsten Staatsaumlmter ndash Rummel haumllt dies fuumlr bdquoeine der erstaunlichsten Karrieren im sogenannten Dritten Reichldquo (S 15) ndash gelang Zwei der wichtigsten Karrierestationen immerhin werden in eigenen Beitraumlgen gewuumlrdigt Oliver RATHKOLB schildert Buumlrckels Taumltigkeit als Reichskommissar fuumlr die Wiedervereinigung Oumlsterreichs mit dem Reich Gauleiter und Reichsleiter von Wien in den Jahren 1938 bis 1940 und Rummel widmet sich den Grundzuumlgen seiner Politik als Chef der Zivilverwal-

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tung in Lothringen die auf eine Germanisierung zielte von der er anders als sein Kollege und Rivale Robert Wagner im Elsass 1943 aus taktischen Motiven und mit Ruumlcksicht auf den unguumlnstigen Kriegsverlauf stuumlckweise abruumlckte Rummel haumllt es indes fuumlr bdquomehr als fraglich ob ihm diese Anpassung an die veraumlnderte strategische Situation nach dem Krieg in einem Verfahren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit positiv angerechnet worden waumlreldquo (S 218)

Dies verhinderte Buumlrckels Tod im September 1944 so dass die Diskussion uumlber Schuld und Verantwortung nicht vor einem internationalen Gericht sondern vor der Spruchkam-mer Neustadt gefuumlhrt wurde die Buumlrckel im November 1950 als bdquoHauptschuldigenldquo ein-stufte und seiner Witwe nur einen Teil seiner als Volksschullehrer erworbenen Pensions- anspruumlche nicht aber den in der NS-Zeit erworbenen Grundbesitz zusprach Das Neu-stadter Verfahren zeichnet Rummel ebenso im Detail nach wie das von der Witwe ange-strengte Revisionsverfahren in Koblenz und die Gnadengesuche die von ihr und spaumlter von ihrem Sohn gestellt wurden Mit der bdquoNationalsozialistischen Herrschaft und Ge-folgschaft in der Pfalzldquo die der Untertitel als Thema des Bandes nennt hat dies allenfalls indirekt zu tun eine houmlchst interessante Lektuumlre bietet die Nachgeschichte gleichwohl zumal der Fall der Witwe Buumlrckels kaum dem weitverbreiteten Bild entspricht demzu-folge auch in starkem Maszlige NS-Belastete und ihre Angehoumlrigen von der Schlussstrich-mentalitaumlt in der fruumlhen Bundesrepublik profitiert haumltten und materiell groszligzuumlgig abgefunden worden seien

Frank Engehausen

Theacuteregravese REYNAUD Georges REYNAUD Henri MOOS Les Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949) Beaumont-de- Lomagne Les Cahiers de la Lomagne 2020 176 S Abb Brosch EUR 23ndash ISBN 978-2-915942-73-6

Das Buch bdquoLes Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949)ldquo ist schon deswegen ungewoumlhnlich weil in franzoumlsischer Sprache die Lebenswege von Menschen nachgezeichnet werden die die Nazis am 22 Oktober 1940 aus Baden in das Lager Gurs in Suumldwestfrankreich am Rand der Pyrenaumlen ver-schleppten

Ein Grund dafuumlr ist dass einige der aus dem Lager Gurs Geretteten Zuflucht in Beau-mont-de-Lomagne nordwestlich von Toulouse fanden Theacuteregravese und Georges Reynaud aus Beaumont und Henri Moos aus Annecy sind ihren Spuren nachgegangen und be-schreiben wie Anna und Ludwig Mann aus Mannheim Manfred Mayer aus Hoffenheim und Erna Ullmann aus Pforzheim in Beaumont geschuumltzt und gerettet wurden Hinzu kommt die Geschichte der Familie StraussWachenheim aus Karlsruhe im nicht weit von Beaumont entfernten Lager Noeacute und die Rettung von Edith und Margot Strauss in Annecy

Das Buch ist auch ungewoumlhnlich weil der Co-Autor Henri Moos mit der Familie Mann verwandt ist und die Rettung der Schwestern Strauss selbst miterlebt hat Die Recherchen von Beaumont aus fuumlhrten auf Umwegen zu uns um Naumlheres uumlber Erna Ullmann zu erfahren

Ergebnis ist die Veroumlffentlichung eines von Erna Ullmann verfassten Berichts samt Anmerkungen auf Franzoumlsisch im Anhang des Buches abgedruckt Kurz wird auch auf den bei Yad Vashem einsehbaren Bericht uumlber Jeanne und Jean-Marie Arquieacute die Retter Innen von Manfred Mayer und Erna Ullmann hingewiesen

70119 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 701

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

tung in Lothringen die auf eine Germanisierung zielte von der er anders als sein Kollege und Rivale Robert Wagner im Elsass 1943 aus taktischen Motiven und mit Ruumlcksicht auf den unguumlnstigen Kriegsverlauf stuumlckweise abruumlckte Rummel haumllt es indes fuumlr bdquomehr als fraglich ob ihm diese Anpassung an die veraumlnderte strategische Situation nach dem Krieg in einem Verfahren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit positiv angerechnet worden waumlreldquo (S 218)

Dies verhinderte Buumlrckels Tod im September 1944 so dass die Diskussion uumlber Schuld und Verantwortung nicht vor einem internationalen Gericht sondern vor der Spruchkam-mer Neustadt gefuumlhrt wurde die Buumlrckel im November 1950 als bdquoHauptschuldigenldquo ein-stufte und seiner Witwe nur einen Teil seiner als Volksschullehrer erworbenen Pensions- anspruumlche nicht aber den in der NS-Zeit erworbenen Grundbesitz zusprach Das Neu-stadter Verfahren zeichnet Rummel ebenso im Detail nach wie das von der Witwe ange-strengte Revisionsverfahren in Koblenz und die Gnadengesuche die von ihr und spaumlter von ihrem Sohn gestellt wurden Mit der bdquoNationalsozialistischen Herrschaft und Ge-folgschaft in der Pfalzldquo die der Untertitel als Thema des Bandes nennt hat dies allenfalls indirekt zu tun eine houmlchst interessante Lektuumlre bietet die Nachgeschichte gleichwohl zumal der Fall der Witwe Buumlrckels kaum dem weitverbreiteten Bild entspricht demzu-folge auch in starkem Maszlige NS-Belastete und ihre Angehoumlrigen von der Schlussstrich-mentalitaumlt in der fruumlhen Bundesrepublik profitiert haumltten und materiell groszligzuumlgig abgefunden worden seien

Frank Engehausen

Theacuteregravese REYNAUD Georges REYNAUD Henri MOOS Les Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949) Beaumont-de- Lomagne Les Cahiers de la Lomagne 2020 176 S Abb Brosch EUR 23ndash ISBN 978-2-915942-73-6

Das Buch bdquoLes Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949)ldquo ist schon deswegen ungewoumlhnlich weil in franzoumlsischer Sprache die Lebenswege von Menschen nachgezeichnet werden die die Nazis am 22 Oktober 1940 aus Baden in das Lager Gurs in Suumldwestfrankreich am Rand der Pyrenaumlen ver-schleppten

Ein Grund dafuumlr ist dass einige der aus dem Lager Gurs Geretteten Zuflucht in Beau-mont-de-Lomagne nordwestlich von Toulouse fanden Theacuteregravese und Georges Reynaud aus Beaumont und Henri Moos aus Annecy sind ihren Spuren nachgegangen und be-schreiben wie Anna und Ludwig Mann aus Mannheim Manfred Mayer aus Hoffenheim und Erna Ullmann aus Pforzheim in Beaumont geschuumltzt und gerettet wurden Hinzu kommt die Geschichte der Familie StraussWachenheim aus Karlsruhe im nicht weit von Beaumont entfernten Lager Noeacute und die Rettung von Edith und Margot Strauss in Annecy

Das Buch ist auch ungewoumlhnlich weil der Co-Autor Henri Moos mit der Familie Mann verwandt ist und die Rettung der Schwestern Strauss selbst miterlebt hat Die Recherchen von Beaumont aus fuumlhrten auf Umwegen zu uns um Naumlheres uumlber Erna Ullmann zu erfahren

Ergebnis ist die Veroumlffentlichung eines von Erna Ullmann verfassten Berichts samt Anmerkungen auf Franzoumlsisch im Anhang des Buches abgedruckt Kurz wird auch auf den bei Yad Vashem einsehbaren Bericht uumlber Jeanne und Jean-Marie Arquieacute die Retter Innen von Manfred Mayer und Erna Ullmann hingewiesen

70119 und 20 Jahrhundert

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Die Erinnerungen von Ludwig Mann uumlber seine Erlebnisse als Arzt im Lager Gurs 1946 in Beaumont geschrieben wurden ab 1990 mehrfach veroumlffentlicht Jetzt liegt der Text bdquoHeldentum in Gursldquo fast 75 Jahre nach seiner Entstehung in franzoumlsischer Sprache vor veroumlffentlicht in Beaumont wo Ludwig Mann nach seiner Befreiung aus dem Lager Seacutereilhac 1945 bis 1949 lebte Die engen Beziehungen zwischen Anna und Ludwig Mann und der Familie Moos werden dadurch deutlich dass die Familie Moos regelmaumlszligig Paumlck-chen fuumlr die Manns in das Lager Gurs schickte Auch die Mitglieder der Familien Wachenheim und Strauss aus Karlsruhe wurden so unterstuumltzt

In dem einleitenden Bericht uumlber die Vorgeschichte der Verschleppung aus Baden koumln-nen in erweiterten bdquoErrataldquo kleine Korrekturen aufgenommen werden Unter den Her-kunftsstaumldten ist auf S 1 auch Stuttgart genannt Betroffen waren am 22 Oktober 1940 juumldische Menschen in Baden die juumldischen Menschen aus Wuumlrttemberg also auch aus Stuttgart verschleppten die Nazis 1941 in das Konzentrationslager Riga Die Zahlen der Deportierten auf der Karte S 3 sind zu hoch Aus Mannheim verschleppten die Nazis 1972 Menschen aus Karlsruhe 945 aus Freiburg 349 und aus Pforzheim 195 Das Foto juumldischer Maumlnner 1938 auf S 6 stammt nicht aus Koumlnigsbach sondern aus Baden-Baden

Was wie ein Zufall aussieht naumlmlich dass vier aus dem Lager Gurs gerettete Kinder in Beaumont Zuflucht finden wird in zwei kurzen Passagen (S 78 ff und 104) als Teil eines Rettungswerkes sichtbar

Erna Ullman wird durch Mitarbeitende des juumldischen Kinderhilfswerkes OSE aus dem Lager gerettet vor den Razzien der Vichy-Polizei im Sommer 1942 versteckt und dann im Heim der juumldischen Pfadfinder in Moissac vorlaumlufig in Sicherheit gebracht

Manfred Mayers Bruder Heinz wird durch das juumldische Kinderhilfswerk OSE und die juumldischen Pfadfinder EIF im Mai 1944 in die Schweiz gerettet

Aus unserer noch nicht veroumlffentlichten Dokumentation der Lebenswege der 559 Kin-der und Jugendlichen die die Nazis am 22 Oktober 1940 in das Lager Gurs verschlepp-ten geht hervor dass 405 von ihnen gerettet wurden Fast 100 gelangten mit von den Quaumlkern organisierten Transporten in die USA beinahe 100 wurden in die Schweiz gerettet uumlber 200 uumlberlebten in Familien Kloumlstern und Heimen oder in der Reacutesistance in Frankreich

Das Buch gehoumlrt sicher in die Archive und oumlffentlichen Buumlchereien der genannten Staumldte und Gemeinden Hoffenheim Karlsruhe Mannheim und Pforzheim ebenso in Baden-Baden Gailingen und Loumlrrach auch diese Gemeinden sind im Einleitungsartikel genannt

Das Buch kann Forschende zum Thema bdquoDeportation ins Lager Gurs 1940ldquo anregen die Lebenswege der Verschleppten bdquoihrerldquo Gemeinde in Baden der Pfalz und dem Saarland insbesondere die Rettungswege der Kinder und Jugendlichen naumlher zu erfor-schen

Auch fordert das Buch heraus die Menschen vorzustellen die es unternommen haben bdquodem Rad in die Speichen zu fallenldquo (Dietrich Bonhoeffer) also die Retterinnen und Ret-ter Wir arbeiten an dem Wunsch der Autoren bezuumlglich der Lebenswege der vier Kinder bdquoEs waumlre interessant aumlhnliche Schicksale in einem eigenen Buch zusammenzustellenldquo Die Dokumentation der Lebenswege der 559 aus Baden der Pfalz und dem Saarland nach Gurs verschleppten Kinder soll zum 22 Oktober 2020 erscheinen verbunden mit Portraits der RetterInnen

Brigitte und Gerhard Braumlndle

702 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 702

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Michael KITZING (Bearb) Die Protokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden Bd 1 Das erste Kabinett Maier 1945ndash1946 (Kabinettsprotokolle von Baden Wuumlrt-temberg-Baden und Wuumlrttemberg-Hohenzollern 1945ndash1952 hg von der Kommission fuumlr Geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Bd II1) Stuttgart Kohl-hammer 2018 LXXIII 383 S geb EUR 38ndash ISBN 978-3-17-034379-5

In der seitens der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg herausgegebenen Reihe der edierten Kabinettsprotokolle ist der erste Band der Pro- tokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden erschienen der die Amtsperiode des ersten Kabinetts unter der Leitung des Ministerpraumlsidenten Reinhold Maier dokumen- tiert Die Zeitspanne reicht vom 19 September 1945 bis zum 5 Dezember 1946 In der 38 Seiten umfassenden Einleitung charakterisiert und bilanziert der Bearbeiter Michael Kitzing die Regierungsperiode ausfuumlhrlich Es folgen eine tabellarische Uumlbersicht des Regierungspersonals und 15 Biogramme die die jeweilige berufliche und politische Vita sowie gegebenenfalls die fachlichen Voraussetzungen der Kabinettsmitglieder skizzieren Neben Verzeichnissen der zahlreichen verwendeten Abkuumlrzungen und der herangezogenen Fachliteratur werden auch die Editionsgrundsaumltze fuumlr die Publika- tion der Kabinettsprotokolle dargelegt Sodann werden die Protokolle der 62 Sitzun- gen der rund fuumlnfzehnmonatigen Regierungsperiode vollstaumlndig abgedruckt Kurz- biogramme der in den edierten Protokollen ndash uumlber die Kabinettsmitglieder hinaus ndash erwaumlhnten Personen (insbesondere Ministerialbeamte) finden sich in den beigegebe- nen Fuszlignoten Der Band wird abgeschlossen durch umfangreiche (Personen- Orts- und Sach-)Register

Reinhold Maier der als liberaler Politiker (zunaumlchst Deutsche Demokratische Partei dann Deutsche Staatspartei) bereits waumlhrend der Weimarer Republik zwischen 1930 und 1933 wuumlrttembergischer Wirtschaftsminister gewesen war knuumlpfte im Fruumlhjahr 1945 Kontakte zur amerikanischen Militaumlrregierung entwarf wirtschaftspolitische Perspek- tiven fuumlr den Wiederaufbau und wurde Assistent der ersten Konferenz nordwuumlrttem- bergischer Landraumlte im Juni 1945 Maier der zwar 1933 als Reichstagsabgeordneter dem Ermaumlchtigungsgesetz zugestimmt dann aber zumal mit einer Juumldin verheiratet in Gegnerschaft zum NS-Regime gestanden hatte wurde im Sommer 1945 seitens der ame-rikanischen Landesmilitaumlradministration auserkoren eine Regierung fuumlr Nordwuumlrttem-berg und Nordbaden zu bilden Als eines von drei Laumlndern der US-Besatzungszone wurde Wuumlrttemberg-Baden im Herbst 1945 gegruumlndet nachdem die amerikanische Besatzungs-macht auch den Raum Karlsruhe von den Franzosen uumlbernommen hatte Dem ersten Kabinett Maier gehoumlrten u a ndash die spaumlter bundespolitisch prominenten ndash Theodor Heuss (als Kultminister) und Carlo Schmid (als Staatsrat im Staatsministerium) an Der bishe-rige nordbadische Regierungschef Heinrich Koumlhler (ehemals Reichsfinanzminister in der Weimarer Republik) wurde der in Stuttgart ansaumlssigen Regierung unterstellt und trat in das wuumlrttembergisch-badische Kabinett als stellvertretender Ministerpraumlsident ein Die amerikanische Militaumlradministration gestand dem nordbadischen Landesbezirk zwar eine grundsaumltzliche Gleichbehandlung zu doch gelang es im Lauf des Jahres 1946 und auch daruumlber hinaus nicht sich auf ein Gesetz zu verstaumlndigen in dem die Stellung des nord-badischen Landesteils und dessen Autonomierechte innerhalb des wuumlrttembergisch- badischen Staatsgefuumlges detailliert fixiert wurden In vielen Vorhaben und Zielen stimm-ten die amerikanische Militaumlradministration und das Kabinett Maier inhaltlich uumlberein ihr Verhaumlltnis zueinander wurde jedoch durch einige unterschiedliche Auffassungen

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und Vorstellungen sowie gar manche Dissense getruumlbt etwa hinsichtlich der Vorgehens-weise bei der Entnazifizierung einem Kernthema des Regierungsprogramms Infolge des Gesetzes Nr 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom Maumlrz 1946 wurden die Entnazifizierungsverfahren zwar von alliierten auf deutsche Instanzen d h die landesweit einzurichtenden Spruchkammern uumlbertragen Da nun circa 25 Mil-lionen Personen in Wuumlrttemberg-Baden mittels umfangreicher Frageboumlgen praumlzise Aus-kunft zu ihrem eigenen Leben und Verhalten waumlhrend des NS-Regimes geben mussten fuumlrchtete die Regierung um den Ruumlckhalt in der Bevoumllkerung zumal die amerikanische Militaumlradministration nicht selten strafverschaumlrfend in die Verfahren eingriff Damit ging auch ein erheblicher Verlust von ndash dringend benoumltigtem ndash qualifiziertem und erfahrenem Fachpersonal fuumlr den Wiederaufbau von Verwaltung und Wirtschaft einher Weitere Kon-fliktpunkte offenbarten die Einrichtung von Internierungslagern die Beschlagnahmung von Gebaumluden durch die Besatzungsmacht der Umgang mit Displaced Persons d h nicht ruumlckkehrwilligen ehemaligen Zwangsarbeitern sowie die Eindaumlmmung der Ban-denkriminalitaumlt Ein durchgaumlngiges Kernthema der Kabinettssitzungen und des Regie-rungshandelns waren die Aufnahme und Eingliederung von (mehr als einer halben Million) Fluumlchtlingen und Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebie-ten Die Bewaumlltigung des Zustroms wurde noch dadurch massiv erschwert dass parallel dazu die Kriegstruumlmmer sukzessive beseitigt die bestehende Raumnot verringert sowie die zerstoumlrte Infrastruktur und das Verkehrsnetz wiederhergestellt werden mussten Zudem galt es die kriegsgeplagte Bevoumllkerung mit ausreichend Nahrung und Energie zu versorgen Die erste Regierungsperiode war auch gepraumlgt durch den Aufbau eines de-mokratisch verfassten und strukturierten Gemeinwesens von der kommunalen bis hinauf zur zentralen Ebene Gruumlndung und Formierung von politischen Parteien Einfuumlhrung von Gemeinde- und Kreisordnungen Durchfuumlhrung von allgemeinen gleichen unmit-telbaren und geheimen Gemeindewahlen (zunaumlchst in den kleineren Gemeinden dann in den groumlszligeren Staumldten) sowie Wahlen der Kreistage (und durch diese der Landraumlte und Kreisraumlte) Formierung und vertiefte Zusammenarbeit eines Laumlnderrats der Regierungen der drei Laumlnder innerhalb der amerikanischen Besatzungszone Schaffung einer Vorlaumlu-figen Volksvertretung (aus Regierungsmitgliedern Landraumlten Oberbuumlrgermeistern sowie aus Vertretern von Berufsstaumlnden von Hochschulen der christlichen Kirchen der israe-litischen Religionsgemeinschaft und von Parteien) als Vorstufe eines Landesparlaments spaumlter Wahl einer Verfassunggebenden Landesversammlung und schlieszliglich Verabschie-dung einer Landesverfassung (mit Grundrechtekatalog) Als im November 1946 die Ver-fassung durch die Bevoumllkerung angenommen und der erste verfassungsmaumlszligige Landtag gewaumlhlt wurde war die Mission des ersten Kabinetts Maier vollendet und das Fundament fuumlr eine erste parlamentarische Regierung gelegt

Zwar ist der Redaktion wohl ein augenfaumllliger Fluumlchtigkeitsfehler entgangen denn im Inhaltsverzeichnis ist der 19 Dezember (statt 19 September) 1945 als Datum der ersten Sitzung vermerkt Diese Petitesse vermag indessen den bedeutsamen Wert der Publi- kation fuumlr die landes- und politikgeschichtliche Forschung keinesfalls zu schmaumllern ermoumlglicht die Lektuumlre doch gute Einblicke sowohl in das nicht reibungsfreie Verhaumlltnis zwischen amerikanischer Militaumlradministration und erster Landesregierung als auch in manche differente Interessenslagen und Ambitionen der nordwuumlrttembergischen und nordbadischen Regierungsmitglieder respektive der beiden Landesteile am Beginn des durchaus steinigen Wegs hin zum spaumlteren Suumldweststaat

Michael Bock

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Reneacute GILBERT Franz Gurk (Karlsruher Koumlpfe Bd 5) Karlsruhe Info-Verlag 2019 78 S Abb Brosch EUR 1280 ISBN 978-3-96308-035-7

bdquoWie im wirtschaftlichen Leben so besteht auch unter den Staumldten des Landes ein har-ter Konkurrenzkampf Karlsruhe wird diesen Kampf allein fuumlhren und bestehen muumlssen denn Stuttgart liebt uns nichtldquo (S 32) Diese Worte finden sich im Aufruf von Franz Gurk (1898ndash1984) mit dem sich dieser im Mai 1952 um das Amt des Karlsruher Oberbuumlrger-meisters bewarb In seinem Aufruf wies Gurk weiter darauf hin dass Karlsruhe nach der Gruumlndung des Suumldweststaates mit der Landeshauptstadt Stuttgart nunmehr endguumlltig seinen Hauptstadtcharakter verloren habe und aus diesem Grund Arbeitsplaumltze in neu anzusiedelnden Verwaltungen vor allem aber auch in der Industrie geschaffen werden muumlssten

Gurk sah sich als den richtigen Mann fuumlr diese Aufgabe verfuumlgte er doch uumlber eine schon fast vierzigjaumlhrige Dienstzeit bei der Karlsruher Kommunalverwaltung zugleich sah er sich als unabhaumlngigen staumldtischen Interessenwahrer da er als CDU-Politiker in keinem Abhaumlngigkeitsverhaumlltnis von der in Stuttgart regierenden sozial-liberalen Koali-tion stehe Gleichwohl unterlag Gurk dem Sozialdemokraten Guumlnther Klotz (1911ndash1972) ndash und dennoch hat er zwischen 1953 und 1963 als Wirtschaftsdezernent und Buumlrger- meister an der Seite seines vormaligen Konkurrenten Klotz die Entwicklung der vorma-ligen badischen Residenz langfristig gepraumlgt

Obwohl Gurk auch in spaumlteren Jahren als Landtagspraumlsident (1960ndash1968) auf Landes-ebene zu den maszliggeblichen Akteuren gehoumlrte ist er heute voumlllig in Vergessenheit geraten Besteht bislang lediglich ein knapper biographischer Abriss zu Franz Gurk in den Baden-Wuumlrttembergischen Biographien so legt nunmehr Reneacute Gilbert eine lesenswerte und zugleich reich bebilderte Biographie vor Als Quellengrundlage dienen Gilbert dabei u a der politische Nachlass Gurks im Generallandesarchiv die Personalakte im Stadtarchiv Karlsruhe sowie die Protokolle des Stuttgarter Landtags Zumindest kursorisch hat der Autor zudem die juumlngst erschlossenen Handakten Gurks als Landtagspraumlsident im Haupt-staatsarchiv Stuttgart durchgesehen

Fuumlr Gilbert haben zwei Eigenschaften das Wirken Gurks charakterisiert Fleiszlig und Strebsamkeit sowie seine tiefe Verankerung im katholischen Glauben Schon mit acht Jahren verlor Gurk den Vater wodurch die finanziellen Verhaumlltnisse beengt waren und ein Abitur nicht moumlglich war Mit 15 Jahren begann er folglich 1913 ein Volontariat beim Rechnungsamt der Stadt Karlsruhe Besonders in den zwanziger Jahren arbeitete er sich im staumldtischen Dienst nach oben Unter anderem war er beim Arbeitsamt beschaumlftigt und bemuumlhte sich hier um die Vermittlung und berufliche Weiterbildung Jugendlicher in wirtschaftlich krisenanfaumllliger Zeit Daneben trat das Engagement als Stadtverordneter (1927ndash1933) und Kreisrat (1933) der Zentrumspartei ndash in der Zeit des bdquoDritten Reichesldquo sah sich Gurk folglich Schikanen ausgesetzt Beispielsweise wurde er mehrfach als bdquopolitisch unzuverlaumlssigldquo bei Befoumlrderungen uumlbergangen Gleichzeitig wurde er auf eine Stelle bei der Rechnungspruumlfung abgeschoben Aber auch in dieser Zeit kennzeichneten Fleiszlig und Strebsamkeit das Wirken Gurks So holte er nicht nur das Abitur nach sondern studierte auch gleichzeitig neben dem Militaumlrdienst Volkswirtschaft in Freiburg und wurde schlieszliglich 1944 bei Walter Eucken (1891ndash1950) promoviert

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente Gurk seiner Heimatstadt schon bald als Stadt-kaumlmmerer (1947ndash1952) aufgrund Personalmangels musste er gleichzeitig auch fuumlr einige Zeit das Amt des Hafendirektors versehen Ein Schwerpunkt der Darstellung Gilberts

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bildet die Taumltigkeit Gurks als Buumlrgermeister und Wirtschaftsdezernent So kam es waumlh-rend seiner Amtszeit zur Ausweisung neuer Industrieflaumlchen im Rheinhafen bzw dieser wurde ausgebaut Nunmehr kamen auch chemische Industrien wie der Pharmahersteller Pfizer oder der Kosmetikhersteller LlsquoOreacuteal nach Karlsruhe Am Ende der 1950erBeginn der 1960er Jahre wurde schlieszliglich auch das Kernforschungszentrum in Karlsruhe ange-siedelt Bei der Verwirklichung dieses Projektes arbeitete Gurk als Netzwerker im Hin-tergrund und machte seinen Einfluss als Mitglied des CDU-Bundesvorstandes bei Konrad Adenauer (1876ndash1967) geltend In gleicher Weise hatte Gurk schon Jahre zuvor daran Anteil dass sowohl der Bundesgerichtshof wie auch das Bundesverfassungsgericht ihren Sitz in Karlsruhe nahmen

Neben dem Kommunal- und Wirtschaftspolitiker Gurk wirft Gilbert auch einen Blick auf das landespolitische Engagement des Karlsruher Buumlrgermeisters Gurk war gemauml-szligigter Altbadner und hatte sich fuumlr die Wiederherstellung des fruumlheren Landes Baden eingesetzt Nachdem der altbadische Standpunkt jedoch in der umstrittenen Abstimmung vom Dezember 1951 unterlegen war sprach sich Gurk fuumlr eine loyale Mitarbeit im neu entstandenen Suumldweststaat aus Diese vermittelnde Haltung lieszlig ihn als ideale Besetzung fuumlr das Amt des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Stuttgarter Parlament (1952) wie auch als CDU-Landesvorsitzender in Nordbaden (1951ndash1967) erscheinen Dementsprechend kam Gurk auch eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung der baden-wuumlrttembergischen Verfassung von 1953 zu Detailliert schildert Gilbert das Eintreten Gurks u a fuumlr ein Zweikammerparlament die Schaffung des Amtes eines Staatspraumlsidenten ndash beides Punkte mit denen er letztlich nicht durchdrang Entsprechend dem Wunsch Gurks kam es jedoch zur Schaffung von Regierungspraumlsidien als Mittelinstanz der allgemeinen Ver-waltung und zum Erhalt der Konfessionsschule in Suumldwuumlrttemberg-Hohenzollern (zu-mindest bis 1967) Auch geht der Landesname u a auf Gurk zuruumlck Mit der Wahl zum Karlsruher Buumlrgermeister zog sich Gurk zunaumlchst von den Houmlhen der Landespolitik zuruumlck Als einfacher Abgeordneter galt er jedoch als Fachmann fuumlr Fragen der Kom-munal- und Landkreisordnung wie auch des Finanzausgleichs

Als Praumlsident des Landtags 1960ndash1968 fand er schlieszliglich Worte des Ausgleichs zwischen Suumldweststaatsanhaumlngern und Suumldweststaatsgegnern anlaumlsslich des 10-jaumlhrigen Landesjubilaumlums Auch kam es in seiner Amtszeit zur Einweihung des neuen Landtags-gebaumludes Durch die Einfuumlhrung der Fragestunde wie auch der Aktuellen Stunde und regelmaumlszligige eigene Buumlrgersprechstunden in seinem Wahlkreis in Bruchsal bemuumlhte er sich zudem intensiv um Buumlrgernaumlhe und Transparenz

Der Band Gilberts schlieszligt mit einem Blick auf das Engagement Gurks im Ruhestand jetzt initiierte er u a mit dem Stadtdekanat Karlsruhe die Akademie der aumllteren Gene- ration

Gilberts Arbeit gibt einen anschaulichen Uumlberblick uumlber zentrale Stationen der Karls-ruher Stadt- wie auch der Landesgeschichte die in den 1940er bis 1970er Jahren durch Franz Gurk mitgepraumlgt wurde Es ist zu wuumlnschen dass die Studie Gilberts den Impuls fuumlr weitere Forschungen dieser Art bildet beispielsweise stellt eine Biographie des ehe-maligen Karlsruher Oberbuumlrgermeisters und ersten Wirtschaftsministers Baden-Wuumlrt-tembergs Hermann Veit (1897ndash1973) trotz eines umfangreichen Nachlasses im General- landesarchiv noch ein Desiderat dar Auch erschiene es reizvoll im Rahmen einer um-fangreicheren Studie mit Hilfe der Akten der Landtagspraumlsidenten im Hauptstaatsarchiv Stuttgart einmal Kompetenzen Amtsverstaumlndnis und Handlungsspielraumlume der baden-wuumlrttembergischen Parlamentspraumlsidenten zu untersuchen Michael Kitzing

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Natalie POHL Atomprotest am Oberrhein Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970ndash1985) (Schriftenreihe des Deutsch-Franzoumlsischen Historikerkomitees Bd 15) Stuttgart Steiner 2019 443 S Brosch EUR 68ndash ISBN 978-3-515-12401-0 bdquonai haumlmmer gsaitldquo ndash ob beim Bau einer Umgehungsstraszlige oder bei der Anlage eines

Kindergartens nicht weit entfernt von einem sogenannten Kontaktladen uumlberall im deut-schen Suumldwesten wo sich buumlrgerschaftlicher Widerstand regt ist es praumlsent das Plakat der Antiatomkraftbewegung die in dieser Raumschaft in den 1970er Jahren ihren wirk-maumlchtigen Anfang nahm Unmittelbare Ausloumlser waren rechts- wie linksrheinische Plaumlne zur Errichtung zweier Atomkraftwerke am Oberrhein im suumldbadischen Wyhl am Kai-serstuhl und im oberelsaumlssischen Fessenheim Die sich darauf bildende grenzuumlberschrei-tende Anti-Atomkraftbewegung bdquoals Ganzesldquo (S 22) zu untersuchen ist das Ziel dieser Dissertation die in Saarbruumlcken und Paris verteidigt wurde Unter Auswertung einer Fuumllle von Archiv- und Audiovisuellen Quellen gelingt es die Aktions- und Koopera- tionsformen der Atomkraftgegner zu charakterisieren zu analysieren und deren Gemein-samkeiten wie Unterschiede herauszuarbeiten Im Mittelpunkt stehen dabei die badisch-elsaumlssischen Buumlrgerinitiativen die eine andere konkretere Begegnungsform ndash neben Wuumlrdentraumlgern auch bdquonormaleldquo Menschen ndash lebten als die bislang eher im administra-tiven Dickicht beheimatete offizielle grenzuumlberschreitende Zusammenarbeit Der gemein-same alemannische Dialekt aber auch das Bewusstsein vom gemeinsamen Kulturraum des Oberrheins beguumlnstigte zweifelsohne die grenzuumlberschreitende Kommunikation Nur dadurch ist auch der bis heute nachwirkende Erfolg des einst illegalen Senders bdquoRadio Verte Fessenheimldquo zu erklaumlren der mit wechselnden Standorten sich dem Zugriff von Gendarmerie und Polizei entzog um seiner Mission als bdquounabhaumlngigeldquo Kommunika- tions- und Informationsplattform nachzukommen

Dass sich in den Buumlrgerinitiativen nicht nur die uumlblichen bdquoStoumlrenfriedeldquo (Studenten aus Freiburg und Tuumlbingen) engagierten sondern in groszligem Maszlige die einheimische Be-voumllkerung Winzer Bauern Priester etc trug wesentlich dazu bei dass die Initiativen zumindest diesseits des Rheins als politischer Faktor im kommunalen Rahmen wie aber auch auf der Ebene der Landespolitik wahrgenommen wurden Sie gaben ihrer Kritik an der dominierenden Fortschrittseuphorie jener Jahre Ausdruck und setzten ihr die Bewah-rung der Heimat und damit nach staumlrkerer gesellschaftlicher Wahrnehmung und Respek-tierung der Umwelt entgegen Ein bis heute brandaktuelles gesellschaftliches nicht allein nur historisches Thema

Kurt Hochstuhl

Martina BACKES Juumlrgen DENDORFER (Hg) Nationales Interesse und ideologischer Miss-brauch Mittelalterforschung in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts ndash Vortraumlge zum 75jaumlhrigen Bestehen der Abteilung Landesgeschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittel-alters Bd 1) Ostfildern Thorbecke 2019 268 S Abb Brosch EUR 28ndash ISBN 978-3-7995-8550-7 Die traditionsreiche Freiburger Mediaumlvistik beginnt mit dem vorliegenden Band eine

neue Publikationsreihe Unter dem Reihentitel bdquoFreiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelaltersldquo planen die beiden Herausgeber Juumlrgen Dendorfer und Birgit Studt die Ergebnisse von Ringvorlesungen Workshops und Tagungen des Weiteren Festschriften sowie kleinere monographische Abhandlungen zu publizieren Der vorliegende erste

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Band dieser neuen vielversprechenden Reihe praumlsentiert die Ergebnisse des Jubilaumlums bdquo75 Jahre Abteilung Landesgeschichte am Historischen Seminar der Universitaumlt Frei-burgldquo im Jahr 2016 Juumlrgen DENDORFER stellt in einer einleitenden Zusammenfassung die einzelnen Beitraumlge des Bandes vor (bdquoZur Einfuumlhrungldquo S 9ndash16) Andre GUTMANN thematisiert bdquoDas sbquoInstitut fuumlr geschichtliche Landeskunde an der Universitaumlt Freiburglsquoldquo (S 17ndash34) und praumlsentiert die damals handelnden Personen deren Ideen und Ziele 1941 Die Abteilung Landeskunde entstand aus einer Auseinandersetzung der Protagonisten Hans-Walter Klewitz Friedrich Maurer und Friedrich Metz um die Ausrichtung des Ale-mannischen Instituts Klewitz beantragte ndash in Opposition zum damaligen Leiter des Ale-mannischen Instituts Friedrich Metz ndash im Maumlrz 1941 beim badischen Kultusministerium finanzielle Mittel zur Einrichtung einer Landesgeschichtlichen Abteilung innerhalb des Historischen Seminars Deren Bewilligung mit Schreiben vom 29 Mai 1941 gilt als Geburtsurkunde der Abteilung Allerdings musste die neue Einrichtung in den folgenden Jahren gegen den Widerstand von Friedrich Metz verteidigt werden Mario SEILER nimmt Friedrich Metz in den Fokus (bdquoVon der bdquoRaritaumltenkundeldquo zur bdquopraktischen Volkstums- arbeitldquo Friedrich Metz und die Neuordnung der Landes- und Volksforschung in Frei-burgldquo S 35ndash48) Metz wollte die Wissenschaft aus dem rein akademischen Umfeld herausfuumlhren sowie durch die Landes- und Volksforschung Antworten auf die Fragen und Probleme der zeitlichen und raumlumlichen Gegenwart geben Dies war durchaus ambiva-lent wie Seiler hervorhebt bdquoMetzlsquo Idee einer nach Stammeszugehoumlrigkeit sowie kultu-reller Einheitlichkeit definierten territorialen und bevoumllkerungspolitischen Neuordnung des Deutschen Reiches konnte in seinem Denken daher entweder in den Rahmen natio-nalsozialistischer Siedlungs- und Raumpolitik eingepasst oder umgekehrt von diesem distanziert werdenldquo (S 48)

Karl DITT stellt bdquoDie Landesgeschichte in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts ndash Ein Modernisierungsprozessldquo (S 49ndash68) vor Er unterteilt deren Entwicklung in drei Pha-sen Die erste Phase ist gekennzeichnet durch das Beduumlrfnis der dominierenden poli- tischen auf die einzelnen Herrscherpersoumlnlichkeiten orientierten Geschichtsschreibung eine Alternative entgegen zu setzen Als zweites stellte man den Charakter des Volkes und seiner Staumlmme heraus Seit den 1920er Jahren hatte man dann das Volkstum histo- risiert kulturalisiert und verraumlumlicht Der Stammes- und Siedlungsraum wurde zu einem Kulturraum erweitert Unter der Uumlberschrift bdquoPolitisierung und Anwendungsrelevanzldquo thematisiert Willi Oberkrome den bdquoinstrumentellen Umbau der Landesgeschichte nach 191819ldquo (S 69ndash83) Die als Demuumltigung empfundene Abtrennung ehemals deutscher Gebiete wie zum Beispiel Elsass und Lothringen zwang den grenznahen Institutionen der Landesgeschichtsschreibung neue Forschungsprobleme unbekannte analytische Ver-fahren und fremdartig agonale Argumentationsstrategien auf (S 71f) Es kam zu zahl-reichen Institutsgruumlndungen und -umbauten die einen fachlichen Pionierstatus erlang- ten weil sie historische linguistische und volkstuumlmliche Verfahren mit geographisch-kartographischen Anstrengungen in dezidiert revisionistisch-antifranzoumlsischer Absicht buumlndelten (S 72) Durch diese Politisierung profitierten die bdquogrenzkaumlmpferischenldquo For-schungsbetriebe von einer daraus folgenden guten Finanzierung

Der mit Abstand umfangreichste Beitrag des Bandes von Hubert FEHR beschaumlftigt sich unter dem Titel bdquoWohin das Auge blickt kernalemannisches Landldquo mit der bdquoArchaumlologie und Volkstumsforschung am Oberrhein waumlhrend der 1930er Jahre ausgehend vom Bei-spiel des fruumlhmittelalterlichen Graumlberfelds von Mengen im Breisgauldquo (S 85ndash154) Das Alemannische Institut hatte sich von Anfang an die Foumlrderung archaumlologischer Ausgra-

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bungen zur Aufgabe gemacht und in diesem Rahmen auch die Mengener Grabung unterstuumltzt Diese wurde im Herbst 1932 begonnen und auch von den Nationalsozialisten fortgefuumlhrt ehe Theodor Mayer 1935 die Finanzierung einstellte Die Interpretation des Graumlberfeldes in der NS-Zeit stand ganz im Zeichen der Grenzkampfmentalitaumlt Die ale-mannische Landnahme wurde daher als bdquoUrereignis der deutschen Geschichte am Ober-rheinldquo betrachtet (S 128) Nach zahllosen Kaumlmpfen war das Oberrheingebiet ndash so die damalige Interpretation ndash damit zum germanischen Siedlungsland geworden die aleman-nische Landnahme wurde zum mythischen Schoumlpfungsakt verklaumlrt Dabei sollten die Grabungsergebnisse auch einer breiteren Oumlffentlichkeit (dem Volk) zugaumlnglich gemacht werden Beispielsweise berichtete die Tagespresse regelmaumlszligig daruumlber Die Fundstuumlcke praumlsentierte man1938 im neu eingerichteten Museum fuumlr Urgeschichte

Juumlrgen DENDORFER konstatiert dass die Beschaumlftigung mit den Staufern im Elsass bis heute politisch verstanden werden kann da dieses Herrschergeschlecht vor 1945 fuumlr deutsche Ziele im Elsass vereinnahmt worden war (bdquoDie Staufer im Elsass Bruchstuumlcke einer Forschungsgeschichte zwischen Vereinnahmung und Distanzierungldquo S 155ndash179) Ausgehend von der Festrede Hermann Heimpels an der neugegruumlndeten Reichsuniver- sitaumlt in Straszligburg am 30 Januar 1942 stellt er diesen nach 1945 weiterhin wirksamen Mediaumlvisten in den Mittelpunkt seiner Ausfuumlhrungen Auch wenn dieser sich selten kom-plett fuumlr die nationalsozialistischen Ziele vereinnahmen lieszlig so untermauerte auch er mit wissenschaftlichen Argumenten die Stellung des Reiches im Osten Frankreichs und legitimierte die Eingliederung weiterer Gebiete in das Reich Mit den Themen seiner Vortraumlge und Aufsaumltze in jenen Jahren verortete er sich zumindest gedanklich im Rah- men der NS-Westforschung Er praumlsentierte die Staufer auch als wichtiges Element der deutschen Geschichte im Elsass In jenen Jahren um 1940 publizierten deutsche Mediaumlvisten eine groszlige Zahl von Abhandlungen zur staufischen Kaiserzeit wobei ein negativer Houmlhepunkt Erich Maschkes Werk bdquoGeschlecht der Stauferldquo aus dem Jahr 1943 darstellt

Das vom damaligen Freiburger Oberbuumlrgermeister Franz Kerber herausgegebene Burgundbuch erschien als fuumlnfter und letzter Band des Jahrbuchs der Stadt Freiburg (bdquohellip bdquoaus politischen Gruumlnden eine heikle Angelegenheitldquo Das Burgundbuch der Stadt Freiburg im Breisgau 194142ldquo S 181ndash200) Wolfgang FREUND stellt den politischen Charakter dieses Buches heraus der durch unterschwellig expansionistische Ambitionen zu beschreiben ist Burgund war von den Nationalsozialisten als potentielles Siedlungs-gebiet fuumlr volksdeutsche Umsiedler in Erwaumlgung gezogen worden

Martina BACKES beschreibt den Weg bdquoVon Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Staumlmme und Landschaften zur modernen Literaturtopographieldquo (S 201ndash215) Josef Nadler erklaumlrte die Eigenart literarischer Werke allein aus ihrer Bedeutung zu Stamm und landschaftlichem Raum Hierfuumlr musste er auf ein Zirkelschlussverfahren zuruumlck-greifen Aus den literarischen Zeugnissen entnahm er die Hinweise auf den Charakter des Dichters und das Wesen des Stammes dessen Eigenart gleichzeitig aber auch schon immer festlag und in den Dichtungen entdeckt werden kann (S 210) Stefan SEEBER ana-lysiert in seinem Aufsatz bdquoLehrer und Fuumlhrer des deutschen Volkes ndash Eine exemplarische Studie zur Rezeption Walters von der Vogelweide im Nationalsozialismusldquo (S 217ndash232) Conrad Arnold Bergmanns 1931 fertiggestellte 1933 erschienene Monographie bdquoLehrer und Fuumlhrer des deutschen Volkesldquo zu Walther von der Vogelweide Dieses Buch war zwar nationalistisch aber nicht nationalsozialistisch Dies sahen auch die neuen Machthaber so die den Schuldirektor Bergmann im Maumlrz 1934 in den Zwangsruhestand versetzten

709Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Martinsvikar Jakob Beringer der ein Neues Testament in deutscher Sprache erscheinen lieszlig hatte mit Strafandrohungen des Domkapitels zu rechnen Auch Hatten wurde des Luthertums verdaumlchtigt Ein Briefwechsel mit Bucer aus dieser Zeit zeigt Hattens prekaumlr gewordene Situation in Speyer an

1527 kam Hatten dann auch durch Bucers Initiative nach Straszligburg nun als Vikar in St Thomas auszligerdem vermutlich als Lehrer taumltig Dieser Neuanfang wurde die bdquoent-scheidende Zaumlsurldquo in seinem Leben nun stand er offiziell im Dienst der evangelischen Sache Wir finden ihn in engem Kontakt mit den Reformatoren der Stadt auch mit dem aus Bergzabern stammenden Bucer- Mitarbeiter Konrad Hubert (1507ndash1577) Guumltermann kann zum ersten Mal einige Briefe Bucers aus dem Jahr 1537 fuumlr die Biographie aus- werten (S 92ndash98) Dass die Kontakte nach Speyer nicht abbrachen beweist 1534 die Dedikation einer Streitschrift an den beim Reichskammergericht taumltigen Advokaten Jakob Schenck (S 87ndash93) Weit uumlber sechzig Jahre alt heiratete Hatten 1537 Barbara Hager mit der er einen Sohn Hieronymus hatte 1546 starb Hatten 1561 wurde seine gewiss betraumlchtliche Privatbibliothek verkauft (S 104)

Sehr sinnvoll ruumlckt Guumltermann zwischen die Darstellung der Speyerer und der Straszligburger Jahre einen Abschnitt uumlber Hatten bdquoals wichtiges Glied des humanistischen Netzwerks am Oberrheinldquo (S 46ndash79) Dazu gehoumlrten in Speyer von 1483 bis 1498 Jakob Wimpfeling (1450ndash1528) und sein Nachfolger als Domprediger Jodocus Gallus (1459ndash1517) Prominente Mitglieder des humanistischen Freundeskreises zu dem Hatten Kontakte pflegte waren auch Beatus Rhenanus (1450ndash1528) Johannes Kieher (dagger1519) und Thomas Truchsess von Wetzhausen (1460ndash1523) Ein schoumlnes Beispiel fuumlr das Zutrauen zu Hatten bieten die Briefe von Johannes Brenz (1499ndash1570) und Theobald Billican (1493ndash1554) beide baten 1521 um Unterstuumltzung fuumlr den Studenten Johannes Portius aus Rheinzabern (S 78 108ndash111) Wohl noch in die Speyerer Zeit gehoumlrt die Rezension des fruumlher Alkuin (735ndash804) zugeschriebenen Streitgedichtes bdquoConflic- tus Veris et Hiemisldquo Guumltermann kann dieses Dokument zum ersten Mal vorstellen (S 29ndash37) Wir erleben Hatten sogar in direktem Kontakt mit Erasmus von Rotterdam den Hatten 1515 in Speyer beherbergen konnte (S 57) In einem Brief vom 1517 nennt ihn Erasmus einen bdquoFreund mit schneeweiszligem Herzenldquo (S 61)

Guumltermann ergaumlnzt sein Buch um eine knappe zusammenfassende Vita (S 106) Au-szligerdem bietet er 17 Quellentexte im lateinischen Original und zum Teil mit Uumlbersetzung (S 108ndash133) Am Schluss folgen das Quellen- und Literaturverzeichnis (S 134ndash141) schlieszliglich ein ausfuumlhrliches Personenregister 29 Abbildungen bereichern das Werk Das Buch bietet ein sympathisches Bild des bisher weithin nicht beachteten Humanisten aus Speyer der als reformerischer Geist innerhalb der Kirche schlieszliglich zum Anhaumlnger und Parteigaumlnger der Reformation wurde

Klaus Buumlmlein

Johann Heinrich ANDREAE Neapolis Nemetum Palatina uumlbersetzt und erlaumlutert von Lenelotte MOumlLLER (Briefe aus dem Haus der Geschichte Bd 2) Neustadt an der Wein-straszlige Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung 2019 124 S Abb Brosch EUR 25ndash ISBN 978-3-942189-27-9

Die in Neustadt an der Weinstraszlige beheimatete ruumlhrige Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung nahm nunmehr eine siebte Reihe bdquoGldquo in Angriff als deren zweite Nummer die Leiterin des dortigen Kurfuumlrst Ruprecht-Gymnasiums soeben die vor 250 Jahren erschienene Arbeit ebenfalls eines Schulmanns aus dem Lateinischen

724 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 724

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Die Walter-Biographie ist somit ein Zeugnis der Uumlbergangszeit und zeigt den nationalen Naumlhrboden des Nationalsozialismus

Fabian LINK interpretiert die bdquoBurgenforschung im NS-Regimeldquo als bdquozwischen voumll-kisch-tribalistischem Regionalismus und germanischem Groszligreichldquo stehend (S 233ndash259) Vor 1933 war die Burgenforschung ein heterogenes wissenschaftliches und kulturelles Feld das aus in Burgenvereinen organisierten Laien bestand Dazu kamen Archaumlologen Kunst- und Landeshistoriker sowie Mediaumlvisten mit akademischer Aus- bildung Bis 1936 als der Fokus der Nationalsozialisten auf die Kriegsvorbereitung fiel erfuhren Burgen Burgruinen und Schloumlsser eine Foumlrderung seitens des NS-Staates Bur-genforschung gehoumlrte zum NS-Konzept einer deutschen Wissenschaft Burgen bildeten einen wichtigen und vielfaumlltig rituell zu nutzenden Bestandteil vermeintlich deutsch- germanischer Kultur

Ein Personen- Orts- und Institutionenregister schlieszligt den informativen Band ab Ins-gesamt alles gelungene Beitraumlge und damit auch ein gelungener Auftakt in eine vielver-sprechende neue Reihe Wenn man das heutige fruchtbare Zusammenwirken von Ale- mannischem Institut und Abteilung Landesgeschichte sieht vergisst man leicht die urspruumlnglich heftige Auseinandersetzung der Anfangszeit Ein persoumlnlicher Wunsch zum Schluss Einige kurze biographische Daten zu den einzelnen Autoren waumlren will-kommen

Juumlrgen Treffeisen

Wilhelm KUumlHLMANN (Hg) unter Mitarbeit von Ladislaus LUDESCHER und mit einem Vorwort von Hermann WIEGAND Prata Florida Neue Studien anlaumlsslich des dreiszligig-jaumlhrigen Bestehens der Heidelberger Sodalitas Neolatina (1988ndash2018) Heidelberg Mattes 2020 354 S Abb geb EUR 30ndash ISBN 978-3-86809-152-6

Der vorliegende Band vereinigt ndash wie der Untertitel bereits andeutet ndash (teils vorlaumlufige) Ergebnisse aktueller Arbeitsprojekte der Heidelberger Sodalitas Neolatina diese sieht ihre Hauptaufgabe nach Auskunft von Hermann Wiegands Vorwort darin bdquoEditionen vor allem poetischer Literatur aus dem unerschoumlpflichen Reservoir der neulateinischen Dich-tung zu erarbeitenldquo (S 7) Im besonderen Fokus der Sodalitas stehen derzeit offensicht-lich bdquoRegionalia Zum deutschen Suumldwestenldquo mit drei bzw bdquoJesuiticaldquo mit vier Beitraumlgen von denen wiederum drei alleine den Deliciae Aestatis des Johannes Bisselius gewidmet sind Flankiert werden diese beiden Hauptbereiche von zwei vorangestellten Beitraumlgen zu bdquoMittelalter und Renaissanceldquo sowie einem Beitrag zu bdquoFacetten der Rezeptionldquo ins-gesamt umfasst der Band also zehn Abhandlungen von extrem unterschiedlichem Um-fang Der kuumlrzeste Aufsatz umfasst kaum zehn der laumlngste beinahe hundert Druckseiten

Eroumlffnet wird der Band mit einem Beitrag von Christoph BROECKER zum Speculum Musicae des Jacobus von Luumlttich Auf einige ebenso knappe wie unzusammenhaumlngende und zudem an keiner Stelle nachvollziehbar belegten Bemerkungen zur Biographie des Verfassers und zu dessen Stellung im zeitgenoumlssischen musiktheoretischen Diskurs geht Broecker dazu uumlber lange Auszuumlge aus dem Speculum Musicae in deutscher Uumlbersetzung durch kurze Uumlberleitungstexte zu verbinden als deren Houmlhepunkte in informativer Hin-sicht verstreute Verweise auf Bibelstellen Augustinus Arnobius Johannes de Garlandia Isidor Roger Bacon Platon oder Martianus Capella gelten duumlrfen ndash ausgerechnet der von Jacobus selbst so oft zitierte Boeumlthius dagegen ist Broecker keinen einzigen durch-gefuumlhrten Vergleich wert

710 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 710

getragen wo Zeus Hermes Athene die Muse Urania und Apollon um seine Seele streiten bis schlieszliglich die spaumlter herbeigerufene Themis sie Athene und sich selbst zuerkennt

Vogel zeigt sich angesichts dieser seltsamen Mischung von paganem Mythos und der christlichen Vorstellung vom Himmel als einem Jenseitsort der Gerechten zu Recht ver-wundert (S 468) Am Ende wird dem leer ausgegangenen Hermes als Trostpreis noch die Seele Luthers zugesprochen sobald der Wittenberger Reformator dereinst gestorben sei Waumlhrend Zwingli also an der Hand der Goumlttin der Gerechtigkeit himmlische Ehren zuteil werden wartet auf Luther ein Hermes der die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt fuumlhrt Diese Passage lieszlige sich meines Erachtens auch als Andeutung einer kuumlnftigen Houmlllenfahrt Luthers interpretieren Koumlnnte sie in Anbetracht der Spannungen zwischen Wittenberg und Zuumlrich (Abendmahlsstreit) polemisch gemeint sein Vogel uumlbersetzt die Verse 60ndash63 wie folgt bdquoLuther aber wenn er stirbt soll der gluumlckbringende Hermes nehmen der raubend und listenreich [] ein Helfer der Menschen ist er der die Seelen der Verstorbenen unter die Tiefen der Erde fuumlhrt denn Gleiches freut sich immer wie sie sagen an Gleichemldquo Vers 61 bedeutet aber wahrscheinlich bdquoder ein Helfer der Diebe und listigen Menschen istldquo unter Aumlnderung eines Akzents muumlsste man also wohl schreiben ὃς κλεπτῶν δολίων τrsquo ἀνθρώπων ἐστὶν ἀμύντωρ Dadurch fiele die Pointe noch deutlicher aus Zwingli kommt nach dem Tod zur Goumlttin der Gerechtig-keit in den Olymp (Himmel) waumlhrend Luther beim Gott der Diebe in der Unterwelt (Houmllle) landen wird jedem nach seinem Verdienst (vgl Joh 10 1)

Fuumlr jeden der sich mit der Fruumlhen Neuzeit beschaumlftigt ist der Tagungsband zu Conrad Gessner und der von ihm musterguumlltig verkoumlrperten bdquoRenaissance der Wissenschaftenldquo eine anregende fesselnde und ergiebige Fundgrube

Matthias DallrsquoAsta

Sven GUumlTERMANN Matern Hatten Ein Intellektuellenleben zwischen Humanismus und Reformation am Oberrhein Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2017 144 S Abb geb EUR 1690 ISBN 978-3-89735-979-6

Unbekannt war der in Speyer geborene Humanist Matern Hatten (1470ndash1546) in der Forschung nicht gewesen Es ist das Verdienst Guumltermanns dass er die bisherigen Erkenntnisse weiterfuumlhrt und eine ansprechende auf die Quellen gestuumltzte Lebens- geschichte vorlegt Auch wenn nur fuumlnf authentische Texte Hattens uumlberliefert sind erwartet die Leser ein spannungsvolles Lebensbild

Den ersten Teil widmet Guumltermann den Speyerer Jahren 1470ndash1527 In Speyer gehoumlrte die Familie Hatten wiederholt zu den Ratsherrn Auch Verwandte der Mutter aus der Familie Ruszlig bzw Reuszlig sind mehrfach urkundlich belegt (S 21f) Die handschriftliche Widmung einer kleinen Schrift an Sebastian Brandt von 1502 gibt den Namen bdquoMaternus Hattenauwerus dictus Reuszligldquo wieder (S 22) Hatten konnte in Leipzig studieren sein Name wird in der Matrikel zum Wintersemester 1496 bezeugt (S 16) Nach Speyer zuruumlckgekehrt gehoumlrte Hatten zu der groszligen Schar der am Domstift installierten Vikare seit 1504 ist er nachweisbar als Mitglied der Martinsherren oder bdquoMartinensesldquo Sie hatten als Priester auch den Gesang in der Martinskapelle zu unterstuumltzen Fruumlh kam Hatten in Kontakt mit kritisch- reformatorischen Gedanken Nach dem Wormser Reichstag 1521 wurde den Martinsherrn vorgeworfen dass sie im Chor vermutlich lutherische Buumlchlein lasen und so fuumlr groszlige Verwirrung sorgten Martinsherrn gehoumlrten auch zu den Zuhoumlrern bei den evangelischen Predigern waumlhrend des Speyerer Reichstags 1526 Vor allem der

723Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 723

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

allerdings markanter bdquoDass er [Gessner] der groumlszligte Linguist seiner Zeit gewesen ist kann nach dem heutigen Stand der Forschung niemand mehr bezweifelnldquo

Die Themenfuumllle des Bandes laumlsst sich in einer kurzen Besprechung nicht in den Griff bekommen sie reicht von Gessners monumentaler bdquoBibliotheca universalisldquo von 1545 die ihm den Ehrentitel eines bdquoFather of Bibliographyldquo (Jens Christian Bay) eintrug uumlber die fuumlnfbaumlndige bdquoHistoria animaliumldquo (erschienen 1551 1554 1555 1558 und postum 1587) bis hin zu Gessners Pflege seiner Kaktusfeige aus der Neuen Welt 1558ndash1561 (zur bdquoEarly History of the Prickly Pear Cactusldquo vgl den reich illustrierten Beitrag von Urs EGGLI S 43ndash66) Beeindruckend ist wie Gessner seine Vernetzung innerhalb der Res publica literaria fuumlr seine botanischen und zoologischen Forschungen nutzte indem er sich europaweit Informationen Naturalien und Zeichnungen von Pflanzen und Tieren zukommen lieszlig (vgl exemplarisch den Beitrag von Robert OFFNER S 405ndash425) Diese Kontakte ziehen sich auch durch die Texte der drei Plenarvortraumlge bdquoThe two men [Gess-ner und John Caius] sent each other not only letters but also thingsldquo (Anthony GRAFTON S 360) bdquoGessner used the public forum of a dedication to exert whatever pressure he could on these potential contributorsldquo (Ann BLAIR S 549) bdquoYet the evidence concerning the multidirectional image exchanges in which he was involved indicates that Gessner participated in practices of image collecting and use shared by many other 16th-century naturalistsldquo (Florike EGMOND and Sachiko KUSUKAWA S 604)

Mitunter leicht missverstaumlndlich ist der gelegentliche Hinweis dass Zeichnungen bdquoad vivam effigiemldquo oder bdquoad vivumldquo gemalt seien bdquoIm Erasmus-Bildnis wird diese Aussage zugespitzt wenn Duumlrer vermerkt dass er das Bildnis zwar nach dem Leben gezeichnet habe ein besseres Bild jedoch die Werke des Erasmus zeigtenldquo (Hess S 163) bdquoLike Durerrsquos famous rhinoceros many vivid and influential images of animals labeled as made sbquoad vivumlsquo were fashioned at one or more removes from the original modelsldquo (GRAFTON S 369) Walther Ludwig hat 1998 in einem Aufsatz im bdquoPhilologusldquo nachgewiesen dass die Ausdruumlcke bdquoad vivam effigiemldquo und bdquoad vivumldquo in der Fruumlhen Neuzeit nicht das Por-traumltieren nach dem lebenden Modell bezeichnen sondern die Lebendigkeit der Darstel-lung betonen Sophia HENDRIKX S 635 (Anm 83) stellt es richtig dar bdquoAs pointed out by Sachiko Kusukawa with this phrase [sbquoad vivumlsquo] Gessner referred to the effect an image had on the beholder rather than the question wheather an image was a true portrait of something in natureldquo

Ebenso spannend wie die Werke und Taumltigkeiten des reifen Polyhistors und Pestarztes (vgl vor allem den Beitrag von Charles GUNNOE uumlber die Pestepidemie 1562ndash1566 der auch Gessner selbst zum Opfer fiel S 295ndash309) ist die Betrachtung der handschriftlich erhaltenen vierzehn griechischen Gedichte die Gessner 1532 als Sechzehnjaumlhriger () auf Zwinglis Tod in der Schlacht bei Kappel verfasst hat bdquoThrinodiae sive sacra magna-nimi herois Huldrychi Zwinglii patris patriae fortissimildquo Katja VOGEL nimmt drei dieser Gedichte naumlher in den Blick sie werden zusammen mit dem lateinischen Widmungsbrief an Heinrich Bullinger und Theodor Bibliander im griechischen Original und in deutscher Uumlbersetzung wiedergegeben (S 465ndash484) Der tote Zwingli erscheint in ihnen unter anderem als ein zweiter Herakles der die katholische Hydra bekaumlmpfte und sich feiger Pygmaumlen zu erwehren hatte Gessners Vertrautheit mit der griechischen Dichtersprache ist dabei selbst fuumlr einen ambitionierten sbquoTeenagerlsquo des 16 Jahrhunderts auszligergewoumlhnlich Sein 72 Hexameter umfassender Homer-Cento bildet das laumlngste Gedicht der Sammlung und ist ein interessantes Beispiel fuumlr den in Humanistenkreisen gepflegten poetischen Paganismus Der in der Schlacht gefallene Zwingli wird von Engeln in den Olymp

722 Buchbesprechungen

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Waumlhrend Broecker in den (dadurch natuumlrlich voumlllig ausufernden) Fuszlignoten jeweils den lateinischen Originaltext zu seinen Uumlbersetzungen bietet verzichtet M Elisabeth SCHWAB deren Uumlbertragung von Poggio Bracciolinis Descriptio Urbis Romae ebenfalls auf einer bereits vorhandenen Edition aufbaut gaumlnzlich auf den Abdruck des Urtextes Wesentlich lesbarer und gehaltvoller als der vorangegangene Aufsatz wird Schwabs Bei-trag aber in erster Linie durch die deutlich besser strukturierte Einleitung die neben einer historischen und gattungspoetologischen Kontextualisierung auch einen uumlberzeugenden Interpretationsansatz bietet in dem Bracciolinis Darstellung der antiken Ruinen als Strategie der bdquoVergessensbewaumlltigungldquo gedeutet (S 47ndash50) und so die Besonderheit des Textes im Kontrast zu vergleichbaren zeitgenoumlssischen Projekten herausgearbeitet wird Eine ausfuumlhrliche Kommentierung des uumlbersetzten Textes in den Fuszlignoten bietet dem Leser wertvolle Orientierung im Bereich der Realia

Im ersten Beitrag zu den bereits erwaumlhnten Deliciae Aestatis des Johannes Bisselius SJ wendet Wilhelm KUumlHLMANN erneut ein anderes Verfahren der Kommentierung an das abweichend von den vorangegangenen Abhandlungen einen vollstaumlndigen Uumlberblick uumlber Werk Textauszug Hintergruumlnde und Interpretationsansaumltze bietet Auf eine einleitende Charakterisierung des Bisselius als Dichter folgt jeweils eine kurze Einleitung zu der be-trachteten Elegie gefolgt vom Text derselben einer en bloc abgedruckten Kommentierung erklaumlrungsbeduumlrftiger Stellen der Uumlbersetzung und einer kurzen Interpretation Dieses klassische und im vorliegenden Aufsatz fuumlr zwei Texte bzw Textgruppen wiederholte Vor-gehen erschlieszligt die Objekte der Betrachtung in musterguumlltiger Weise und bereitet einer vertieften literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bisselius so das Feld ndash nicht ohne gewichtige Argumente fuumlr die Fruchtbarkeit desselben geliefert zu haben Die von Kuumlhlmann analysierte poetische Betrachtung des Morgens und der (fruumlh-)morgendlichen Arbeitsbedingungen durch den Dichter gewaumlhrt dabei nicht nur uumlber dessen Selbst- reflexion sondern insbesondere aufgrund der artifiziellen Faktur der behandelten Texte einen aufschlussreichen Einblick in die poetische Physiognomie des Bisselius

Eher dem Muster einer konventionellen Interpretation verpflichtet ist der Aufsatz Karl Wilhelm BEICHERTS zu einem ebenfalls in den Deliciae Aestatis enthaltenen Zyklus der die Bearbeitung einer populaumlren Wandersage darstellt Der von Bisselius auf den Namen Vitalis Vigilantius getaufte Moumlnch verzweifelt am Verstaumlndnis der Unterschiede zwischen himmlischer und irdischer Zeit woraufhin Gott ihm einen wunderbaren Vogel schickt der den Moumlnch dreihundert Jahre lang durch seinen Gesang bezaubert schlieszliglich kehrt dieser wieder in sein Kloster zuruumlck das sich in den vergangenen drei Jahrhunderten natuumlrlich von Grund auf gewandelt hat Beichert stellt zunaumlchst die Stofftradition und den konkreten Praumltext des Bisselius dar der sowohl im Original als auch in Uumlbersetzung geboten wird In der Folge werden zwei besonders aufschlussreiche Elegien aus dem dreizehn Nummern umfassenden Zyklus die jedoch immer wieder in den Kontext des Zyklus wie auch des Gesamtwerks eingeordnet werden abgedruckt uumlbersetzt und inter-pretiert Beicherts Betonung der bereits von Kuumlhlmann als typisch fuumlr das Werk des Bisselius erwaumlhnten (S 75) bdquoMotivverflechtungenldquo (S 134ndash136) deutet dabei beispiel-haft auch das Potenzial der symbiotischen Effekte innerhalb der Sodalitas Neolatina an

Jost EICKMEYER spuumlrt im ndash zumindest nach der unmaszliggeblichen Ansicht des Rezen-senten ndash gelungensten Aufsatz des Bandes gerahmt durch den launigen Ruumlckblick auf die eigene Aufnahme in die Sodalitas den intratextuellen und -medialen Bezugnahmen einer Elegie des Bisselius auf die biblische Ruth und deren (freilich fiktiven) sprechenden Papagei nach Die souveraumlne Handhabung von Weitung und Verengung des interpreta-

711Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Urs B LEU Peter OPITZ (Hg) Conrad Gessner (1516ndash1565) Die Renaissance der Wissenschaften The Renaissance of Learning BerlinBoston de Gruyter Oldenbourg 2019 X 712 S Abb geb EUR 12995 ISBN 978-3-11-049696-3

Zum 500 Geburtstag des Zuumlrcher Universalgelehrten Conrad Gessner veranstaltete die Universitaumlt Zuumlrich vom 6 bis 9 Juni 2016 einen groszligen internationalen Kongress mit 44 Vortraumlgen von denen 33 in dem vorliegenden Tagungsband dokumentiert sind Der Mitherausgeber Urs B LEU Leiter der Abteilung Alte Drucke und Rara der Zentral-bibliothek Zuumlrich ist der weltweit beste Kenner von Gessners Leben und Werk Auch an den uumlbrigen Zuumlrcher Aktivitaumlten und Ausstellungen aus Anlass des Jubilaumlums war er federfuumlhrend beteiligt besonders zu erwaumlhnen sind diesbezuumlglich seine umfassende neue Biographie bdquoConrad Gessner (1516ndash1565) Universalgelehrter und Naturforscher der Re-naissanceldquo und der von ihm und Mylegravene Ruoss herausgegebene wunderschoumln illustrierte Sammelband bdquoFacetten eines Universums Conrad Gessner 1516ndash1565ldquo die beide 2016 erschienen sind

Auf eine regelrechte Einleitung in den schwergewichtigen Tagungsband haben die bei-den Herausgeber verzichtet das kurze Vorwort auf S V muss genuumlgen Die Beitraumlge in deutscher (18) englischer (12) franzoumlsischer (2) und italienischer (1) Sprache sind neun alphabetisch geordneten Sachgebieten zugeordnet 1 Bibliographien und Enzy[k]lopauml-distik (drei Aufsaumltze) 2 Botanik (drei) 3 Erdwissenschaften (drei) 4 Kunst (zwei) 5 Medizin und Pharmazie (sechs) 6 Netzwerk (fuumlnf) 7 Philosophie und Theologie (vier) 8 Sprachwissenschaften (zwei) und 9 Zoologie (fuumlnf) Als Anhaumlnge folgen ab S 655 eine umfangreiche Bibliographie (Abkuumlrzungen Handschriften Gedruckte Quel-len und Sekundaumlrliteratur) ein Personenregister (S 697ndash706) sowie Kurzvorstellungen der Autorinnen und Autoren

Der Tagungsband bietet somit einen bdquoreichhaltige[n] Blumenstrauss an Fachgebieten und Themenldquo (so die Formulierung im Vorwort) der in diesem Fall aber weniger der gegenwaumlrtigen Hochkonjunktur der Multi- Inter- Trans- und Supradisziplinaritaumlt ge-schuldet ist sondern ganz einfach der Universalitaumlt des Polyhistors Gessner entspricht den Leu gerne (augenzwinkernd) als einen bdquoLeonardo da Vinci der Schweizldquo bezeichnet Einige der Tagungsbeitraumlge vertiefen dabei Themen die von ihren Autorinnen und Au-toren bereits in dem oben erwaumlhnten Sammelband von 2016 behandelt wurden Dies trifft insbesondere auf den Beitrag von Anja-Silvia GOEING uumlber Buchannotationen in Gessners Lehrbuch bdquoDe animaldquo zu das dieser 1563 zusammen mit drei schon aumllteren themenglei-chen Kommentaren von Juan Luis Vives Veit Amerbach und Philipp Melanchthon fuumlr Studenten der Philosophie und Medizin herausgab (S 433ndash452) Es gilt eingeschraumlnkt aber auch fuumlr den Beitrag von Massimo DANZI zu Gessners balneologischer Schrift bdquoDe Germaniae et Helvetiae thermisldquo von 1553 (S 253ndash272) und fuumlr die interessanten und reich illustrierten kunsthistorischen Beitraumlge von Daniel HESS (S 161ndash194) und Mylegravene RUOSS (S 195ndash233) zu Gessners beeindruckenden Pflanzen- und Tierdarstellungen im Kontext der Grafik und Malerei des 16 Jahrhunderts Der lesenswerte Beitrag von Simona BOSCANI LEONI zu Gessners Interesse fuumlr alpine Landschaften bzw seinem bdquoEnthusiasm for Mountainsldquo (S 119ndash128) ist eine geringfuumlgig erweiterte englische Fas-sung ihres drei Jahre aumllteren deutschen Textes Und auch Manfred PETERSrsquo Untersuchung zu Gessners bdquoMithridates De differentiis linguarum [hellip] observationesldquo von 1555 (S 499ndash516) stimmt weitgehend mit seiner drei Jahre aumllteren emphatischen Wuumlrdigung Gessners als innovativem Sprachwissenschaftler uumlberein der in Anlehnung an eine Einschaumltzung Jakob Baumlchtolds (vgl S 500 f mit Anm 9) formulierte Schlusssatz ist jetzt

721Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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torischen Blickwinkels von Vor- und Ruumlckverweisen innerhalb des analysierten Kom-plexes macht die Lektuumlre des als bdquoEssayldquo angekuumlndigten Aufsatzes (S 147) zu einem ebenso abwechslungs- wie aufschlussreichen Vergnuumlgen an dessen Ende die Zusammen-fuumlhrung der verschiedenen medialen Diskurse zur abschlieszligenden Betrachtung zweier ndash unter modernen Gesichtspunkten freilich aumluszligerst fragwuumlrdiger gerade deshalb aber als historische Zeugnisse hochinteressanter ndash paumldagogisch-didaktischer Konzepte virtuos demonstriert und ein weiter Assoziationsraum eroumlffnet wird der seinerseits wieder Raum fuumlr weiterfuumlhrende Essays boumlte und den bereits von Kuumlhlmann und Beichert gefuumlhrten Nachweis vom poetischem Rang des Bisselius kongenial ergaumlnzt

Die Reihe der bdquoJesuiticaldquo wird ergaumlnzt durch einen Aufsatz von Peter MATHES zu Bal-des Batrachomyomachia den selbst Wiegands Vorwort als bdquokuumlrzeren Beitragldquo bezeichnet (S 14) Dieser bietet neben einigen einleitenden Bemerkungen zum Werk Text Uumlber- setzung und Kommentar eines (ebenfalls nicht besonders umfangreichen) Ausschnitts aus Baldes Epyllion aber ndash anders als in den vorangegangenen Beitraumlgen ndash keine eigent-liche Interpretation Hier ist am deutlichsten der Status eines echten Werkstattberichts zu greifen den viele andere Beitraumlge des Bandes zugunsten abgerundeter Deutungen uumlberwinden

Offen als Werbemaszlignahme fuumlr die im Entstehen begriffene Edition des Briefwechsels Nicodemus Frischlins praumlsentiert Robert SEIDEL seinen Aufsatz der die Kategorie der bdquoRegionalia Zum deutschen Suumldwestenldquo eroumlffnet und die Briefe des streitbaren Spaumlt- humanisten aus der Hohenuracher Haft an den wuumlrttembergischen Hof vor dem Hinter-grund der beiden konkurrierenden Diskurse von Recht und Gnade einer stringent durch-gefuumlhrten Analyse unterzieht Wie die meisten Beitraumlger entwickelt bzw pflegt auch Seidel einen individuellen Stil in der Praumlsentation seiner Ergebnisse In diesem Falle folgen auf die umfangreiche Interpretation in deren Verlauf zahlreiche Textauszuumlge angefuumlhrt uumlber-setzt und gedeutet werden ein Anhang der die Textpraumlsentation der kommenden Edition abbildet und neben einem textkritischen Apparat auch kommentierende Anmerkungen bietet ndash anders als bei Kuumlhlmann Beichert und Mathes allerdings nicht als Textblock im Anschluss an den kommentierten Abschnitt sondern im unteren Seitendrittel

Hermann WIEGAND wiederum ordnet seine Darstellung von Transkription und Uumlber-setzung eines Gedichts von Robert Keuchenius auf die Heidelberger Seherin Jetta be-sonders intensiv in die Beschreibung der Handschrift die Biographie des Dichters sowie die Stofftradition ein um den lokalhistorischen Bezug des Textes herauszustellen So entsteht ein Aufsatz der insbesondere fuumlr den an Heidelberger Regionalia interessierten Leser zahlreiche neue Anregungen und willkommene Anknuumlpfungspunkte bietet

Im folgenden erneut sehr kurz gehaltenen Beitrag wirft Michael HANSTEIN ein trotz seiner Fluumlchtigkeit interessantes Schlaglicht auf das lateinische Gelegenheitsgedicht Bei der im akademischen Kontext obligatorischen Abfassung desselben habe Matthias Bernegger intensiv mit Samuel Gloner zusammengearbeitet ndash unter houmlchst spannungs-vollen hierarchischen Vorzeichen innerhalb der sozialen Verflechtungen im Straszligburg des fruumlhen 17 Jahrhunderts wie innerhalb der poetischen Praxis die Hanstein an wenigen Beispielen uumlberzeugend illustrieren kann

Geschlossen wird der Band durch die von Wilhelm Kuumlhlmann und Karl Wilhelm Beichert ausfuumlhrlich eingeleitete Auswahltranskription des Briefwechsels zwischen Eduard Boumlcking und David Friedrich Strauszlig In dessen Verlauf entzweien sich der Herausgeber und der Biograph Ulrich von Huttens nach der Anbahnung einer fuumlr alle Beteiligten fruchtbaren Gelehrtenfreundschaft anlaumlsslich zweier Rezensionen in denen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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das Register des fruumlheren Bandes das sich auf die Uumlberlieferung bezieht Ebenso weist das Initien- und Originaluumlberschriftenregister diese anhand der im ersten Band vergebe-nen Werknummern nach Ergaumlnzt wird die Reihe durch eine Konkordanz der Siglen des Werkverzeichnisses mit den Sigle der Edition der bdquoKleinen Texteldquo von Wilhelmi Vor dem abschlieszligenden Personenregister zur Forschung das die verzeichneten Forschungs-beitraumlge alphabetisch nach Namen geordnet per Siglen nachweist folgen noch eine kurze Liste von Nachtraumlgen zu den Testimonien und Archivalien im vorangehenden Band sowie eine Liste von Addenda und Corrigenda zu eben diesem die Nikolaus Henkel beigesteuert hat Die Uumlbersendung der Liste an die Urheber wie die Aufnahme in den folgenden Band scheint mir ein besonders gutes Beispiel fuumlr konstruktive Kritik und den angemessenen Umgang damit zu sein

Der Hauptteil nennt also die bdquoBeitraumlge zur Brantforschung nach ihrer Erstpublikation und gegebenenfalls auch nach ihrer letzten Auflageldquo (Vorwort S 5) Dabei wird die Bibliographie nach den oben benannten Sachkapiteln gegliedert und die Beitraumlge werden entsprechend einsortiert moumlgliche (und sehr haumlufig vorkommende) Mehrfachbezuumlge werden durch Querverweise sichtbar gemacht Die Bibliographie folgt darin dem System des Vorgaumlngerbandes von KnapeWuttke von 1990 den insbesondere der vorliegende Teil ersetzen soll Die aufgefuumlhrten Titel bekommen eine mit L beginnende Sigle mit der sie in das im ersten Band begonnene System integriert werden mit der Sigle W wird jeweils ein Werk Brants angesprochen mit A ein Autograph mit D ein Druck usw (Die Systematik wird in Band I auf den S 11ndash13 erlaumlutert) Die verzeichneten Beitraumlge der Forschung werden so mit einer L-Sigle eindeutig identifizierbar was zumindest die Systematisierung der wissenschaftlichen Arbeit erleichtert

Fuumlr den angegebenen Zeitraum ist die Bibliographie ndash soweit ich sehen kann ndash sehr vollstaumlndig Selbst solche fuumlr die Rezeptionsforschung wertvollen Funde wie die Aumluszlige-rungen zu Brant von Christoph Martin Wieland im Teutschen Merkur (L 319 indirekt in einem Stuumlck uumlber Geiler von Kaysersberg L 1331) oder von Ludwig Uhland in seinen Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage (L 892) sind zu finden Das darf aller-dings nicht dazu verfuumlhren sich auf die Vollstaumlndigkeit der Verweise zu bestimmten Fragestellungen zu verlassen (was wohl in keiner Bibliographie funktionieren koumlnnte) So wird z B der Aufsatz von Joachim Theisen (L 886) den ich unter Literatur zum Titelblattholzschnitt erwartet haumltte ndash wiederum berechtigterweise ndash unter 63 (bdquoLiteratur zu Quellen Vorlaumlufern und Vorbildernldquo) verzeichnet weil er anhand des Titelblatts Bezuumlgen zu Petrarca nachgeht Beitraumlge zu generellen Oberthemen werden unter dieser Rubrik verzeichnet ohne dass auf die einzelnen Kapitel auf die sie sich stuumltzen verwie-sen wuumlrde So bespricht z B die Studie von Hans-Joachim Raupp (L 1117) exemplarisch die Illustrationen mehrerer einzelner Kapitel des bdquoNarrenschiffsldquo wird aber lediglich summarisch unter 67 (bdquoBildbestandteileldquo) aufgefuumlhrt Das ist legitim denn natuumlrlich erhebt sich hier auch die Frage wie weit eine solch tiefgreifende Verschlagwortung durchfuumlhrbar waumlre die durch zahlreichere Querverweise zunehmend Vollstaumlndigkeit uggerieren wuumlrde wo sie sich letztlich gar nicht herstellen lieszlige

Solche wohlfeilen Klagen allerdings sollen denn auch weniger einer Kritik an der Systematik dienen als vielmehr darauf aufmerksam machen dass ein solches Hilfsin-strument richtig verwendet (und eben in mehrerlei Perspektive befragt werden) will und dabei die Intentionen des einzelnen Nutzers nicht wird antizipieren koumlnnen Die Brant-forschung wird aus den nun verfuumlgbaren beiden Baumlnden groszligen Nutzen ziehen

Michael Rupp

720 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 720

Strauszlig sich in beckmesserischer Manier uumlber die ersten beiden Baumlnde der Edition Boumlckings auslaumlsst gruumlndlich ndash ein Konflikt den Beichert und Kuumlhlmann uumlberzeugend aus bdquolatenten Rivalitaumltsgefuumlhlen vor allem auf Seiten von Strauszligldquo erklaumlren (S 318) Ein Abdruck der beiden Rezensionen sowie eine Auflistung des vollstaumlndigen Briefwechsels machen den Beitrag zu einem ebenso historisch ertragreichen wie vergnuumlglich zu lesen-den Dokument der Gelehrtenkultur des 19 Jahrhunderts

Insgesamt handelt es sich also durchaus um einen Fest- bzw Jubilaumlumsband der erstens durch das sorgfaumlltige Lektorat und die ebenso schlichte wie gediegene Ausstattung von Seiten des Verlags angemessen praumlsentiert wird der zweitens das vielfaumlltige und ertragreiche Wirken der Sodalitas Neolatina in wuumlnschenswerter Konsequenz repraumlsen-tiert und der so drittens ein wuumlrdiges Ausrufezeichen hinter das ebenso erfreuliche wie gluumlckliche Fortbestehen einer Gesellschaft setzt der auch von Seiten des Rezensenten hiermit ein herzliches Ad multos annos zugerufen sei

Heiko Ullrich

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Spaumltrenaissance in Schwaben Wissen ndash Literatur ndash Kunst Tagungen des Arbeitskreises fuumlr Landes- und Ortsgeschichte im Verband der wuumlrttem-bergischen Geschichts- und Altertumsvereine am 26 November 2015 und am 10 Maumlrz 2016 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Geschichte Wuumlrttembergs Impulse der For-schung Schriftenreihe des Wuumlrttembergischen Geschichtsvereins Bd 2) Stuttgart Kohlhammer 2019 508 S Abb geb EUR 35ndash ISBN 978-3-17-033592-9

Der Sammelband enthaumllt 17 Beitraumlge die durchschnittlich jeweils etwa 20 Druckseiten umfassend fuumlnf thematischen Schwerpunkten zugeordnet sind Gelehrsamkeit und Wis-senschaft (fuumlnf Aufsaumltze) Gelehrte und Poeten in der respublica litteraria Bildungsein-richtungen und -konzepte Literatur Bildende Kunst (je drei Aufsaumltze) Beim Versuch das politisch kleinteilige bdquoSchwabenldquo genauer zu fassen werden zwei Staumldte als Refe-renzpunkte erkennbar die Reichsstadt Augsburg und die Universitaumltsstadt Tuumlbingen im topographischen Index sind denn auch beide Namen durch die haumlufigste Nennung aus-gewiesen

Nach einer kurzen Vorbemerkung des Herausgebers sollen zwei Beitraumlge in die Ge-samtthematik einfuumlhren Wolfgang MAumlHRLE untersucht bdquoSpaumltrenaissance als Epochen- begriff Zur Periodisierung der fruumlhneuzeitlichen Geschichte im Bereich der Wissen- schaften und Kuumlnsteldquo (S 15ndash28) und gibt dabei aus genauer Kenntnis des Materials und mit ausfuumlhrlichen Literaturhinweisen einen souveraumlnen Uumlberblick uumlber die sehr diver-genten Periodisierungsbezeichnungen fuumlr bdquodie Gesamtheit des kulturellen Feldes im kon-fessionellen Zeitalter in Mitteleuropaldquo (S 25) Im Anschluss an Peter Burke entscheidet sich der Verfasser auf uumlberzeugende Weise fuumlr den im Titel gewaumlhlten Begriff Weit weniger uumlberzeugt Wolfgang WUumlST Identitaumlten im fruumlhneuzeitlichen Schwaben Policey-Quellen als politisch-kulturelle Botschafter (S 29ndash47) Der Begriff Identitaumlt wird vom Verfasser nicht definiert stattdessen aber nahezu inflationaumlr in allen moumlglichen Kombi-nationen verwendet Ausgewertet werden Landes- Gerichts- und Policeyordnungen schwaumlbischer Reichsstaumlnde unter besonderer Beruumlcksichtigung Wuumlrttembergs Fraglich erscheint aber ob gerade dieses Quellengenus dazu taugt Identitaumlten zu identifizieren denn die Ordnungen verlangten vor allem Gehorsam der Untertanen gegenuumlber dem Ord-nungsgeber und hatten nicht zum Ziel Identitaumlten irgendwelcher Art zu stiften Am ehesten waumlren dazu ndash jedenfalls fuumlr evangelische Reichsstaumlnde ndash Kirchenordnungen geeignet gewesen die aber vom Verfasser nicht herangezogen werden (vgl jedoch

713Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Schneider feststellt Seine Naumlhe zum Heidelberger Humanistenkreis lieszlig Trithemius zu einem Anhaumlnger des dortigen Kurfuumlrsten Philipps des Aufrichtigen werden was den Kon-flikt des Sponheimer Abts mit seinem Konvent verschaumlrfte Als Produkte einer Heidel-berger Hofhistoriographie koumlnnen die Werke des Trithemius allerdings nicht gelesen werden Auch Kaiser Maximilian I wollte der Abt nicht als Hofhistoriograph dienen der Interesse an der genealogischen Ruumlckfuumlhrung seiner Familie auf die Franken und schlieszlig-lich auf die Trojaner hatte wie sie die gefaumllschten Quellen des Trithemius nahelegen wie aus dem Beitrag von Michael EMBACH hervorgeht

Mit den Zweifeln an Trithemiuslsquo Seriositaumlt als Historiker bereits durch die Zeit- genossen beginnt eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte die in zwei Beitraumlgen nach-gezeichnet wird Winfried ROMBERG fuumlhrt dabei aus dass Trithemius bereits im 16 Jahr-hundert von katholischen Gelehrten als Gewaumlhrsmann einer intakten alten Kirche breit rezipiert wurde Martin Luther dagegen hielt den Sponheimer Abt wegen seiner Veroumlf-fentlichung zur Kryptologie worin er als Erfinder der polyalphabetischen Substitution von Bedeutung ist wie Anton WALDER in seinem Beitrag betont fuumlr einen Magier der im reformatorischen Deutschland keiner weiteren Beachtung gewuumlrdigt wurde Parallel verlaumluft die Entwicklung im Kulturkampf wie Wolfgang WEISS herausarbeitet Ultra-montane Historiker bewerteten Trithemius im 19 Jahrhundert durchwegs positiv liberale Kirchenhistoriker lehnten ihn im Verlauf der Diskussion immer deutlicher ab Erst im Zuge einer Neubewertung der humanistischen Geschichtsschreibung insgesamt wurde Trithemius wieder einer differenzierteren Betrachtung unterzogen in deren Tradition auch der vorliegende Sammelband steht Er stellt somit einen wichtigen Beitrag dar Trithemius als Gelehrten in seiner gesamten Spannbreite wahrzunehmen

Den Band vervollstaumlndigen der Beitrag von Christoph SCHMITT zu den zeitgenoumlssi-schen bildlichen Darstellungen des Trithemius und ein Verzeichnis des Nachlasses des Trithemius von Klaus Arnold Hier wird der Benediktiner tatsaumlchlich auch als Buumlcher-sammler greifbar Ein Beitrag zur Sponheimer Klosterbibliothek deren Sammlung das Selbstverstaumlndnis des Fruumlhhumanisten deutlich machen koumlnnte fehlt allerdings in diesem Band

Magnus Ulrich Ferber

Joachim KNAPE Thomas WILHELMI (Hg) Sebastian Brant Bibliographie Forschungs-literatur bis 2016 Unter Mitarbeit von Gloria ROumlPKE-MARFURT und mit einem Beitrag von Nikolaus HENKEL (Gratia Tuumlbinger Schriften zur Renaissanceforschung und Kulturwissenschaft Bd 63) Wiesbaden Harrassowitz 2018 381 S geb EUR 98ndash ISBN 978-3-447-11152-2

Der hier zu besprechende Band versteht sich als zweiter Teil der Sebastian Brant Bibliographie Er ergaumlnzt den 2015 erschienenen ersten Teil zu den Werken und ihrer Uumlberlieferung indem er die Forschungsliteratur bis 2016 versammelt Sie wird in zehn Abteilungen aufgeteilt auf Forschung zu Biographie und historischem Kontext (1) folgt die zu den Briefen (2) zu Brant-Bildnissen (3) zu seinem Wirken als Jurist und juristi-schem Publizisten (4) zu Buchschmuck allgemein (5) zum Narrenschiff (6) zu den Ge-dichten und Liedern (7) zur bdquoAktualitaumltendichtung in Einblattdrucken und Flugschriftenldquo (8) zu weiteren selbstaumlndigen Werken (9) und zuletzt zu Editionen mit Beigaben von Brant (10) Dabei sind die umfangreicheren Abschnitte (4 6 7 9 und 10) in sich noch einmal breit untergliedert Der Band wird ergaumlnzt durch mehrere Nachtraumlge zum ersten Teil So erweitert ein Register zu Werktiteln Personen und Sachen zum Werkverzeichnis

719Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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S 30ndash34) Bei Ausweisungen ist fuumlr ihn von bdquoaufgekuumlndigten Identitaumltenldquo (S 38) die Rede deviante Gruppen sollten fuumlr bdquoidentitaumlts- und schutzlosldquo (S 39) erklaumlrt werden Dass die Uumlbernahme der Reichspolizeiordnung durch die Territorial- bzw Stadtherrschaft als bdquoIdentifizierung mit der Reichspolitikldquo (S 41) verstanden werden kann laumlsst sich mit Fug bezweifeln Schlieszliglich werden sogar bdquotextile und modische Identitaumltenldquo (S 44) ent-deckt die durch Luxusordnungen und Vorschriften nur einheimisches Tuch zu verwen-den gestiftet worden sein sollen auch die in der Fruumlhneuzeit uumlblichen Anordnungen zur Luxusbekaumlmpfung bei Gastereien (bdquoKonsumidentitaumltenldquo S 45) werden dem Identifika-tionsmuster unterworfen Dass Ordnungen im 1617 Jahrhundert oft in kurzen Abstaumlnden wiederholt wurden spricht im Uumlbrigen gegen die Identitaumltsthese

Mit Peter O MUumlLLER Fruumlhneuzeitliche Lexikographie in Schwaben (1550ndash1650) (S 51ndash73) beginnt der erste Themenschwerpunkt bdquoGelehrsamkeit und Wissenschaftldquo Zwanzig zwischen 1547 und 1643 erschienene Woumlrterbuumlcher die von in Schwaben geborenen oder hier wirkenden Autoren erarbeitet wurden werden vorgestellt und ana-lysiert wobei nach Anordnung des Wortschatzes (11 Woumlrterbuumlcher nach Sachgruppen geordnet 5 alphabetisch 3 morphologisch eines reimgebunden) den beruumlcksichtigten Sprachen (mit eindeutiger Dominanz des lateinisch-deutschen Woumlrterbuchtypus aber auch einige trilingual unter Einbeziehung des Griechischen) Autoren Intentionen und Benutzergruppen gefragt wird Bei den Druckorten dominieren Augsburg und Frankfurt am Main die Zahl der Auflagen schwankte zwischen einem und 19 Drucken (fuumlr den bdquoNomenclator trilinguis Graecolatinogermanicusldquo von Nicodemus Frischlin) Die Ver-bindungen zur bdquonicht-schwaumlbischen deutschen wie nicht-deutschen Woumlrterbuchland-schaftldquo (S 70) werden abschlieszligend rekonstruiert Instruktive Abbildungen von Woumlrter- buchseiten unterstuumltzen den Text Zwei Beitraumlge widmen sich naturwissenschaftlichen Themen Ulrich REICH Schwabens Wegbereiter der Algebra im Europa des 16 Jahrhun-derts (S 75ndash102) und Johannes DILLINGER Gelehrtenmagie und Staat Alchemisten in Wuumlrttemberg (S 103ndash117) Reich untersucht Lebenslaumlufe und Werke von Johannes Voumlgelin Johann Scheubel und Michael Stifel dabei ist auch handschriftliches Material ausgewertet Deutsche Mathematiker leisteten beachtliche Beitraumlge zur Entwicklung von der Wortalgebra zur symbolischen Schreibweise mit der Erfindung des Plus- Minus- und Gleichheitszeichens sowie des Multiplikationspunkts und des Wurzelhakens Voumlgelin und Scheubel lebten von der Mathematik waumlhrend Stifel Theologe war und vor allem durch seine Prophezeiung des Juumlngsten Tages auf den 19 Oktober 1533 bekannt geblie-ben ist Dillinger analysiert instruktiv und quellengestuumltzt die Institutionalisierung der Alchemie durch Friedrich von Wuumlrttemberg der 1596 im Stuttgarter Alten Lusthaus ein Laboratorium einrichtete in dem bis zu 21 bdquoGoldmacherldquo fest angestellt waren Daneben beschaumlftigte der Herzog freie Alchemisten die ihm ihre Dienste anboten allerdings endeten ihre Karrieren stets bdquoin Katastrophenldquo (S 111) Suggestiv aber wenig plausibel zieht der Verfasser durch seine Wortwahl Parallelen zur Gegenwart wenn er die alche-mistischen Experimente als bdquoForschungsvorhabenldquo (S 113) und die Institutionalisierung alchemistischer Arbeit als bdquostaatliche Forschungsfoumlrderungldquo (S 117) bezeichnet Die Pa- rallele zum Interesse des Staates an der Foumlrderung der Bergbautechnik uumlberzeugt nicht recht ebenso wenig das Fazit bdquoHier [bei der Alchemie] ging es [] um oumlkonomische Innovation auf der Grundlage von Forschung und Expertenwissenldquo (S 114) Stefan HANSS widmet sich einem philologischen Thema bdquoDie Universitaumlt Tuumlbingen und die An-faumlnge osmanischer Sprachstudien im 16 und 17 Jahrhundertldquo (S 119ndash146) Zentralgestalt der Foumlrderung derartiger Studien war Martin Crusius der ein ausgepraumlgtes Interesse am

714 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

zeitgenoumlssischen Griechenland hatte (Thomas Wilhelmi der erste deutsche Philhellene) und zwei einschlaumlgige Werke verfasste 1584 die bdquoTurcograecialdquo und ein Jahr spaumlter die bdquoGermano-Graecialdquo (zum Inhalt vgl S 124ndash127) Seine zahlreichen Schuumller bildeten eine bdquoFaszinationsgemeinschaftldquo (S 144) Die lutherischen Gesandtschaftsprediger Ste-phan Gerlach und Salomon Schweigger vermittelten Informationen aus Konstantinopel waumlhrend die Kontakte zum Patriarchen 1581 abbrachen Hingewiesen wird auch darauf dass die erste gedruckte osmanische Grammatik von Hieronymus Megiser einem Crusius-Schuumller stammt waumlhrend Johann Melchior Mader und Wilhelm Schickard die Osmanistik in Tuumlbingen im 17 Jahrhundert weiterfuumlhrten Ausgehend von bdquodem heiteren Zugangldquo als bdquodem eigentlichen Tuumlroumlffner zur intendierten Auseinandersetzung uumlber die Grundlagen des besten Staatesldquo (S 148 f) der Thomas Moruslsquo bdquoUtopialdquo kennzeichnen soll und anknuumlpfend an die einschlaumlgigen Arbeiten von Joumlrg J Berns untersucht Thomas SCHOumlLDERLE bdquoGesellschaftsfiktion Humor und Sozialkritik in den Renaissance-Utopien von Johann Eberlin von Guumlnzburg Kaspar Stiblin und Johann Valentin Andreaeldquo (S 147ndash178) Nach ausfuumlhrlichen Inhaltsreferaten der Schriften der drei schwaumlbischen Utopisten kommt der Verfasser zu dem Urteil dass Eberlin von Guumlnzburg noch wenig-stens partiell der Intention Moruslsquo folgte waumlhrend Stiblin konsequent einer bdquoEntironi-sierungldquo verpflichtet sei Andreae jedoch Moruslsquo Prototyp bdquoan hintergruumlndigen Anspie- lungen allegorischen Motiven und Botschaften in nichts nachstehtldquo (S 178)

Der zweite Themenschwerpunkt bdquoGelehrte und Poetenldquo ist biographisch orientiert ndash im Mittelpunkt stehen Martin Crusius und Nicodemus Frischlin dabei sind die Litera-turhinweise fuumlr Frischlin (S 181 Anm 1 und S 209 Anm 2) kurioserweise ndash mit Aus-nahme einer gemeinsamen Angabe ndash voumlllig unterschiedlich ausgefallen obwohl beide Autoren in demselben DFG-Projekt zum Briefwechsel Frischlins arbeiten Philipp KNUumlPFFER Aus der Werkstatt eines Auftragsuumlbersetzers Die bdquoActa Oecumenici Conciliildquo von Jakob Schropp im Briefwechsel des Tuumlbinger Spaumlthumanisten Nicodemus Frischlin (1547ndash1590) (S 181ndash208) gibt einen Uumlberblick uumlber Frischlins Leben Werk und Brief-wechsel (352 Briefe von 92 an Frischlin) und erlaumlutert die Editionsprinzipien Danach wird die Entstehungsgeschichte der im Auftrag Ludwigs von Wuumlrttemberg von Jakob Schropp Abt von Maulbronn verfassten anticalvinistischen Satire bdquoActa Oecumenici Concilii habiti super controversia de coena Dominildquo vorgestellt sie sollte von Frischlin ins Lateinische uumlbersetzt werden Die Uumlbersetzung erschien 1581 ohne Frischlins Namen zu nennen obwohl oder weil dieser auch auf Konzeption und Inhalt Einfluss zu nehmen versucht hatte Magnus Ulrich FERBER untersucht bdquoDie Korrespondenzen von Nicodemus Frischlin und Marx Welser im Vergleichldquo (S 209ndash228) unter den Aspekten Entwicklung eines Nationalbewusstseins bei den Spaumlthumanisten Kreis der Briefpartner und Inhalt der Korrespondenzen Dabei wird wohl zu Recht ein Reichspatriotismus fuumlr beide Ge-lehrte verneint Frischlin war vielmehr einem wuumlrttembergischen Territorialpatriotismus verpflichtet Welser einem Augsburger Lokalpatriotismus Im Gegensatz zu Frischlin war das Korrespondentennetz Welsers des Repraumlsentanten eines international agierenden Handelshauses interkonfessionell bestimmt Mit dem bdquoDiariumldquo von Martin Crusius be-schaumlftigt sich in einer sehr instruktiven Studie Wolfgang Maumlhrle (S 229ndash247) 1573 als Briefbuch begonnen in das er die Korrespondenz der Tuumlbinger Professoren mit dem Gesandtschaftsprediger Gerlach bzw Vertretern der orthodoxen Kirche eintrug fuumlhrte Crusius seine Aufzeichnungen als Tagebuch bis 1605 fort ndash bdquoSpiegelungen eines Tuumlbinger Gelehrtenlebensldquo (S 234) Bislang liegt nur eine Teiledition in vier Baumlnden vor Maumlhrle benennt als Schwierigkeiten der Auswertung Palaumlographie und Sprachform (neben Latein

715Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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machte die Klosterbibliothek in Sponheim kurzzeitig zu einem uumlberregional bedeutenden Ort der Wissenschaft und seine zahlreichen historischen wie aszetischen Werke ihn zu einem geachteten aber auch umstrittenen Autor Besonders die Erfindung der Chroniken von Meginfried und Hunibald als historische Quellen zog seine Glaubwuumlrdigkeit bereits bei den Zeitgenossen in Mitleidenschaft Sein Werk wie seine umstrittene Position machen es daher immer wieder lohnenswert sich mit ihm auseinanderzusetzen wie dies 2012 waumlhrend einer Tagung in Trittenheim und Sponheim sowie 2016 in Wuumlrzburg geschah Die Beitraumlge liegen nun in einem gemeinsamen Sammelband vor

Die Ambivalenz des Trithemius wird bereits in den ersten beiden zusammenfasssenden Aufsaumltzen zu seiner Biographie deutlich Waumlhrend Klaus ARNOLD ein fast hymnisches Bild zeichnet das aber groumlszligtenteils auf der Selbstdarstellung des Gelehrten beruht und somit zu apologetisch geraumlt bietet Harald MUumlLLER eine nuumlchternere Analyse Wie schon in seiner Habilitationsschrift bdquoHabit und Habitusldquo ist Trithemius fuumlr Muumlller ein gutes Beispiel dafuumlr warum er den Begriff bdquoKlosterhumanismusldquo ablehnt An dem Sponheimer Abt lasse sich gut zeigen dass Humanist kein Beruf gewesen sei sondern eine intellek-tuelle Praumlgung die in einem speziellen Sprachstil in einer speziellen gelehrten Taumltigkeit und im intellektuellen Austausch mit anderen Humanisten zum Ausdruck komme Fuumlr Trithemius kann Muumlller dies alles konstatieren Trithemius schreibt ein humanistisch gepraumlgtes Latein sammelt leidenschaftlich Buumlcher meist antiker Autoren und ist bestens mit den Humanisten seiner Zeit vernetzt Interessanter Weise fehlt bei Trithemius aller-dings die Abfassung eines eigenen Werks zur Antike Nach seiner Absetzung als Abt in Sponheim und seiner Einsetzung als Abt des Wuumlrzburger Schottenklosters aumlndert sich dieses Bild deutlich Die Sponheimer Klosterbibliothek wurde verkauft sein Kontakt zu den Humanisten bricht ab und Trithemius widmet sich vermehrt seinen aszetischen Schriften Er stelle somit so Muumlllers gut nachvollziehbare These ein gutes Beispiel fuumlr die Bruumlchigkeit des Humanismus in seiner Fruumlhzeit dar

In den darauf folgenden Einzeldarstellungen wird mehrmals die enge Verbindung des Trithemius zur Bursfelder Kongregation deutlich Das ist insofern uumlberraschend als diese benediktinische Reformbewegung eher einen spirituellen denn einen gelehrten Schwer-punkt hatte Wie Nita DZEMAILI anhand der Reden die Trithemius auf den Kapiteltagen der Bursfelder Kongregation hielt uumlberzeugend nachweist versuchte der Sponheimer bzw Wuumlrzburger Abt die nicht mehr zeitgemaumlszlige Ablehnung der Wahrnehmung von Bildungsaufgaben in den Reformkloumlstern durch eine Verbindung von der monastischen Askese mit Bildung zu uumlberwinden wobei er kein dezidiertes humanistisches Programm entwarf In seiner Taumltigkeit als Abt stand er sowohl in Sponheim wie in Wuumlrzburg vor der Aufgabe ein heruntergekommenes Kloster zu reformieren Wie die Beitraumlge von Johannes Moumltsch und Helmut Flachenecker nahelegen war er dabei nur bedingt erfolg-reich

Aus seinem Engagement fuumlr die Reformbewegung erwuchs auch sein historisches Interesse vom Mittelalter bis in seine Gegenwart Wie Anna Claudia NIERHOFF fuumlr die Darstellung der historischen Verbindungen des Klosters Hirsau zu anderen Kloumlstern zur Ausbreitung der cluniazensischen Reformbewegung und Arno MENTZEL-REUTERS zur Behandlung Ekkehards von Aura als Fortsetzer der Frutolf-Chronik darlegen entspricht das Vorgehen des Trithemius in seinen historischen Werken den Grundzuumlgen einer hu-manistischen Geschichtsschreibung so dass seine Werke quellenkritisch nicht vorsich-tiger als andere Historiographen seiner Zeit behandelt werden muumlssen Als Zeithistoriker wurde er in der wissenschaftlichen Forschung dagegen kaum rezipiert wie Joachim

718 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

auch klassisches Griechisch) zeigt aber zugleich den Wert der Notizen bdquofuumlr die Rekon-struktion der akademischen Lebenswelt um 1600ldquo (S 232 f) Abschlieszligend wird das Diarium von Crusius mit den Ephemerides des Genfer Theologen Isaac Casaubonus verglichen (S 245ndash247)

Der dritte Schwerpunkt bdquoBildungseinrichtungen und -konzepteldquo wird von der weit- gespannten und materialreichen Untersuchung von Sabine HOLTZ bestimmt Bildungs-landschaften um 1600 in Schwaben Konfessionelle Bildungskonzepte im Vergleich (S 251ndash270) Untersucht werden die houmlheren Schulen vor allem im suumldlichen Teil des schwaumlbischen Reichskreises mit den Universitaumlten Tuumlbingen und Dillingen Als Vorbild der protestantischen houmlheren Schulen diente das Straszligburger Gymnasium unter Johannes Sturm die Umsetzung des Sturmschen Programms in den Schulen der evangelischen Reichstaumldte wird knapp aber informativ herausgearbeitet Die katholischen Lateinschu-len insbesondere in Rottweil und Konstanz orientierten sich an den Jesuitengymnasien In den Lehrplaumlnen der evangelischen und der jesuitischen Gymnasien stellt die Verfas-serin bdquoweitreichende Uumlbereinstimmungenldquo (S 269) fest insofern die Rhetorik einen wichtigen Platz einnahm und der lateinische Lektuumlrekanon bdquonur geringfuumlgige Unter-schiedeldquo aufwies Dagegen wurden Geschichte und die Realien gemaumlszlig der bdquoRatio studiorumldquo im Unterricht der Jesuitenschulen weitgehend ausgeklammert Tobias BINKERT Der oberschwaumlbische Adel am Jesuitenkolleg Konstanz Das Beispiel der Truchsesse von Waldburg-Wolfegg (S 271ndash289) geht auf der Basis der Waldburger Archivalien der Schulwirklichkeit und den Lebensumstaumlnden von zwei Soumlhnen aus hoch-adligem Haus die 1608ndash1611 in Konstanz erzogen wurden nach Silke SCHOumlTTLE fasst fuumlr das 1617 Jahrhundert die Ergebnisse ihrer 2016 erschienenen Dissertation uumlber bdquoExerzitien- und Sprachmeister am Collegium Illustre und an der Universitaumlt Tuumlbingen 1594ndash1819ldquo zusammen (S 291ndash312)

Der Themenschwerpunkt bdquoLiteraturldquo wird durch einen knappen Bericht von Klaus WOLF uumlber Schultheater in den schwaumlbischen Reichsstaumldten (S 315ndash322) eingeleitet als Fazit ist festgehalten bdquoEine Geschichte des schwaumlbischen Schultheaters waumlre in Zukunft nach erfolgter umfaumlnglicher Quellenarbeit erst noch zu schreibenldquo (S 322) Ausfuumlhrlich untersucht Johannes Klaus KIPF Daniel Federmann und die (spaumlt-)huma- nistische Fazetienliteratur in Schwaben (S 322ndash343) die Rezeption der Fazetie als Sammlung geistreicher und zugespitzt-witziger Ausspruumlche und kurzer Geschichten wie sie um die Mitte des 15 Jahrhunderts im bdquoLiber facetiarumldquo des Poggio Bracciolini ihren klassischen Ausdruck gefunden hatte Der bdquoLiber facetiarumldquo fand in Deutschland schon handschriftlich und als Wiegendruck weite Verbreitung und Nachahmung ndash als Beleg werden Augustin Tuumlnger Heinrich Bebel und Nicodemus Frischlin vorgestellt Daniel Federmann uumlber dessen Leben fast nichts bekannt ist uumlbersetzte u a Lodovico Guicci-ardinis Fazetiensammlung ins Deutsche (Basel 1574) bdquoHoumlfische Repraumlsentation und nationale Literatursprache in Rodolf Weckherlins bdquosbquoTriumflsquo (1616)ldquo (S 345ndash377) wird von Heiko ULLRICH analysiert Die Texte waren Weckherlins poetischem Programm (vgl S 353ndash359) verpflichtet das aber nach kurzer Zeit durch Martin Opizlsquo bdquoDeutsche Poetereyldquo abgeloumlst wurde

Im fuumlnften Themenschwerpunkt bdquoBildende Kunstldquo widmet sich der auszligerordentlich anregende Beitrag von Andreas TACKE den bdquoMalerzunftordnungen Schwabens Eine handwerksgeschichtliche Betrachtung des Bildenden Kuumlnstlers am Beispiel Mem- mingensldquo (S 381ndash393) exemplifiziert an Johann Heinrich Schoumlnfeld aus Biberach (1609ndash1684) Der Verfasser versteht seine Untersuchung als Beitrag zur bdquoKuumlnstler-

716 Buchbesprechungen

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sozialgeschichteldquo (S 381) und analysiert zu diesem Zweck die Memminger Malerzunft-ordnung von 1608 deren Vorbild die entsprechende Augsburger Ordnung war Der Kuumlnst-ler hier der Maler wurde bis zum Ende der Fruumlhneuzeit als Handwerker gesehen mithin waren Lehrzeiten und Bedingungen fuumlr die Berufsausuumlbung als Meister genau geregelt Das umfangreiche Quellencorpus wird seit 2018 vom Verfasser und seinen Mitarbeitern herausgegeben bdquoStatuta pictorum Kommentierte Edition der Maler(zunft)ordnungen im deutschsprachigen Raum des Alten Reichesldquo (Uumlbersicht der dort enthaltenen schwaumlbi-schen Ordnungen vgl S 393) Zwei Beitraumlge beschaumlftigen sich mit Fragestellungen der Architekturgeschichte Christian OTTERSBACH untersucht bdquoLand- und reichsstaumldtische Befestigungen in Suumldwestdeutschland zwischen 1500 und 1650ldquo (S 395ndash462 mit 40 Abb) Dabei wird die gaumlngige Vorstellung einer organischen Entwicklung vom Mauersystem zum Bastionaumlrsystem relativiert indem der Verfasser nachweist dass neben dem moderneren und effizienteren Bastionaumlrsystem durchaus das traditionelle System ndash nicht zuletzt aus Kostengruumlnden ndash beibehalten wurde Stefan UHL formuliert anhand von Grundrissen bdquoGedanken zur Entwicklung des Schlossbaues in der Spaumltrenaissance in Suumldwestdeutschlandldquo (S 463ndash494 mit 19 Abb) Der fruumlhmoderne Schlossbau ent-wickelte sich dem Verfasser zufolge aus dem spaumltmittelalterlichen Kastenbau zumeist ohne Tuumlrme der als Grundform auch beibehalten wurde zunaumlchst mit vier Ecktuumlrmen dann als Mehr- in der Regel Vierfluumlgelanlage Als fruumlhester Repraumlsentativbau dieser Gruppe wird das ab 1557 errichtete Meszligkircher Schloss der Grafen von Zimmern vorge-stellt Im noumlrdlichen Schwaben entstand unter wuumlrttembergischen Einfluss eine Variante regelmaumlszligiger Vierfluumlgelanlagen bei der die Ecktuumlrme nur noch durch kleine Dachauf-bauten markiert waren eine weitere Gruppe ist gekennzeichnet durch runde Ecktuumlrme und die Bekroumlnung der Fluumlgelbauten durch repraumlsentative Giebel Die Binnengliederung des Schlosses nahm ihren Ausgang vom zweiraumlumigen Gemach bestehend aus Stube und Kammer erweitert zum Schema des dreiraumlumigen Gemachs (Stube und zwei Kam-mern) Insgesamt ist fuumlr den Verfasser bdquodie Entwicklung des Renaissanceschlossbaues in Schwaben sehr heterogen [hellip] Der Schlossbau der Spaumltrenaissance ist damit ein Sam-melbecken vielfaumlltiger Formen und Konzeptionen von denen einzelne absterben andere aber die nachfolgenden Zeiten mitbestimmenldquo (S 494)

In seiner Einfuumlhrung rechtfertigt der Herausgeber die Nichtberuumlcksichtigung der Musikgeschichte zu der erst 2010 ein Sammelband erschienen war und die Auswahl der Themen fuumlr den vorliegenden Band In der Regel seien Themen ausgespart worden bdquodie Gegenstand neuerer Buchpublikationen gewesen sindldquo (S 13) Der Inhalt des Bandes bestaumltigt die Richtigkeit dieser Entscheidung Die Beitraumlge sind durchweg instruktiv und zeigen ndash gemeinhin auf dem neuesten oft von den Autoren mitbestimmten Forschungs-stand beruhend ndash neue Perspektiven fuumlr die Weiterarbeit an den behandelten Problemen und Fragestellungen Personen- und Ortsregister erschlieszligen den Band lateinische Zitate werden in den Anmerkungen ins Deutsche uumlbersetzt

Eike Wolgast

Klaus ARNOLD Franz FUCHS (Hg) Johannes Trithemius (1462ndash1516) Abt und Buumlcher-sammler Humanist und Geschichtsschreiber (Publikationen aus dem Kolleg bdquoMittel-alter und Fruumlhe Neuzeitldquo Bd 4) Wuumlrzburg Koumlnigshausen amp Neumann 2019 369 S Abb Brosch EUR 58ndash ISBN 978-3-8260-6904-8

Der Sponheimer Abt Johannes Trithemius (1462ndash1516) gehoumlrt wohl zu den schillernd-sten Persoumlnlichkeiten des Fruumlhhumanismus Seine Sammelleidenschaft fuumlr Buumlcher

717Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 717

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

sozialgeschichteldquo (S 381) und analysiert zu diesem Zweck die Memminger Malerzunft-ordnung von 1608 deren Vorbild die entsprechende Augsburger Ordnung war Der Kuumlnst-ler hier der Maler wurde bis zum Ende der Fruumlhneuzeit als Handwerker gesehen mithin waren Lehrzeiten und Bedingungen fuumlr die Berufsausuumlbung als Meister genau geregelt Das umfangreiche Quellencorpus wird seit 2018 vom Verfasser und seinen Mitarbeitern herausgegeben bdquoStatuta pictorum Kommentierte Edition der Maler(zunft)ordnungen im deutschsprachigen Raum des Alten Reichesldquo (Uumlbersicht der dort enthaltenen schwaumlbi-schen Ordnungen vgl S 393) Zwei Beitraumlge beschaumlftigen sich mit Fragestellungen der Architekturgeschichte Christian OTTERSBACH untersucht bdquoLand- und reichsstaumldtische Befestigungen in Suumldwestdeutschland zwischen 1500 und 1650ldquo (S 395ndash462 mit 40 Abb) Dabei wird die gaumlngige Vorstellung einer organischen Entwicklung vom Mauersystem zum Bastionaumlrsystem relativiert indem der Verfasser nachweist dass neben dem moderneren und effizienteren Bastionaumlrsystem durchaus das traditionelle System ndash nicht zuletzt aus Kostengruumlnden ndash beibehalten wurde Stefan UHL formuliert anhand von Grundrissen bdquoGedanken zur Entwicklung des Schlossbaues in der Spaumltrenaissance in Suumldwestdeutschlandldquo (S 463ndash494 mit 19 Abb) Der fruumlhmoderne Schlossbau ent-wickelte sich dem Verfasser zufolge aus dem spaumltmittelalterlichen Kastenbau zumeist ohne Tuumlrme der als Grundform auch beibehalten wurde zunaumlchst mit vier Ecktuumlrmen dann als Mehr- in der Regel Vierfluumlgelanlage Als fruumlhester Repraumlsentativbau dieser Gruppe wird das ab 1557 errichtete Meszligkircher Schloss der Grafen von Zimmern vorge-stellt Im noumlrdlichen Schwaben entstand unter wuumlrttembergischen Einfluss eine Variante regelmaumlszligiger Vierfluumlgelanlagen bei der die Ecktuumlrme nur noch durch kleine Dachauf-bauten markiert waren eine weitere Gruppe ist gekennzeichnet durch runde Ecktuumlrme und die Bekroumlnung der Fluumlgelbauten durch repraumlsentative Giebel Die Binnengliederung des Schlosses nahm ihren Ausgang vom zweiraumlumigen Gemach bestehend aus Stube und Kammer erweitert zum Schema des dreiraumlumigen Gemachs (Stube und zwei Kam-mern) Insgesamt ist fuumlr den Verfasser bdquodie Entwicklung des Renaissanceschlossbaues in Schwaben sehr heterogen [hellip] Der Schlossbau der Spaumltrenaissance ist damit ein Sam-melbecken vielfaumlltiger Formen und Konzeptionen von denen einzelne absterben andere aber die nachfolgenden Zeiten mitbestimmenldquo (S 494)

In seiner Einfuumlhrung rechtfertigt der Herausgeber die Nichtberuumlcksichtigung der Musikgeschichte zu der erst 2010 ein Sammelband erschienen war und die Auswahl der Themen fuumlr den vorliegenden Band In der Regel seien Themen ausgespart worden bdquodie Gegenstand neuerer Buchpublikationen gewesen sindldquo (S 13) Der Inhalt des Bandes bestaumltigt die Richtigkeit dieser Entscheidung Die Beitraumlge sind durchweg instruktiv und zeigen ndash gemeinhin auf dem neuesten oft von den Autoren mitbestimmten Forschungs-stand beruhend ndash neue Perspektiven fuumlr die Weiterarbeit an den behandelten Problemen und Fragestellungen Personen- und Ortsregister erschlieszligen den Band lateinische Zitate werden in den Anmerkungen ins Deutsche uumlbersetzt

Eike Wolgast

Klaus ARNOLD Franz FUCHS (Hg) Johannes Trithemius (1462ndash1516) Abt und Buumlcher-sammler Humanist und Geschichtsschreiber (Publikationen aus dem Kolleg bdquoMittel-alter und Fruumlhe Neuzeitldquo Bd 4) Wuumlrzburg Koumlnigshausen amp Neumann 2019 369 S Abb Brosch EUR 58ndash ISBN 978-3-8260-6904-8

Der Sponheimer Abt Johannes Trithemius (1462ndash1516) gehoumlrt wohl zu den schillernd-sten Persoumlnlichkeiten des Fruumlhhumanismus Seine Sammelleidenschaft fuumlr Buumlcher

717Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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machte die Klosterbibliothek in Sponheim kurzzeitig zu einem uumlberregional bedeutenden Ort der Wissenschaft und seine zahlreichen historischen wie aszetischen Werke ihn zu einem geachteten aber auch umstrittenen Autor Besonders die Erfindung der Chroniken von Meginfried und Hunibald als historische Quellen zog seine Glaubwuumlrdigkeit bereits bei den Zeitgenossen in Mitleidenschaft Sein Werk wie seine umstrittene Position machen es daher immer wieder lohnenswert sich mit ihm auseinanderzusetzen wie dies 2012 waumlhrend einer Tagung in Trittenheim und Sponheim sowie 2016 in Wuumlrzburg geschah Die Beitraumlge liegen nun in einem gemeinsamen Sammelband vor

Die Ambivalenz des Trithemius wird bereits in den ersten beiden zusammenfasssenden Aufsaumltzen zu seiner Biographie deutlich Waumlhrend Klaus ARNOLD ein fast hymnisches Bild zeichnet das aber groumlszligtenteils auf der Selbstdarstellung des Gelehrten beruht und somit zu apologetisch geraumlt bietet Harald MUumlLLER eine nuumlchternere Analyse Wie schon in seiner Habilitationsschrift bdquoHabit und Habitusldquo ist Trithemius fuumlr Muumlller ein gutes Beispiel dafuumlr warum er den Begriff bdquoKlosterhumanismusldquo ablehnt An dem Sponheimer Abt lasse sich gut zeigen dass Humanist kein Beruf gewesen sei sondern eine intellek-tuelle Praumlgung die in einem speziellen Sprachstil in einer speziellen gelehrten Taumltigkeit und im intellektuellen Austausch mit anderen Humanisten zum Ausdruck komme Fuumlr Trithemius kann Muumlller dies alles konstatieren Trithemius schreibt ein humanistisch gepraumlgtes Latein sammelt leidenschaftlich Buumlcher meist antiker Autoren und ist bestens mit den Humanisten seiner Zeit vernetzt Interessanter Weise fehlt bei Trithemius aller-dings die Abfassung eines eigenen Werks zur Antike Nach seiner Absetzung als Abt in Sponheim und seiner Einsetzung als Abt des Wuumlrzburger Schottenklosters aumlndert sich dieses Bild deutlich Die Sponheimer Klosterbibliothek wurde verkauft sein Kontakt zu den Humanisten bricht ab und Trithemius widmet sich vermehrt seinen aszetischen Schriften Er stelle somit so Muumlllers gut nachvollziehbare These ein gutes Beispiel fuumlr die Bruumlchigkeit des Humanismus in seiner Fruumlhzeit dar

In den darauf folgenden Einzeldarstellungen wird mehrmals die enge Verbindung des Trithemius zur Bursfelder Kongregation deutlich Das ist insofern uumlberraschend als diese benediktinische Reformbewegung eher einen spirituellen denn einen gelehrten Schwer-punkt hatte Wie Nita DZEMAILI anhand der Reden die Trithemius auf den Kapiteltagen der Bursfelder Kongregation hielt uumlberzeugend nachweist versuchte der Sponheimer bzw Wuumlrzburger Abt die nicht mehr zeitgemaumlszlige Ablehnung der Wahrnehmung von Bildungsaufgaben in den Reformkloumlstern durch eine Verbindung von der monastischen Askese mit Bildung zu uumlberwinden wobei er kein dezidiertes humanistisches Programm entwarf In seiner Taumltigkeit als Abt stand er sowohl in Sponheim wie in Wuumlrzburg vor der Aufgabe ein heruntergekommenes Kloster zu reformieren Wie die Beitraumlge von Johannes Moumltsch und Helmut Flachenecker nahelegen war er dabei nur bedingt erfolg-reich

Aus seinem Engagement fuumlr die Reformbewegung erwuchs auch sein historisches Interesse vom Mittelalter bis in seine Gegenwart Wie Anna Claudia NIERHOFF fuumlr die Darstellung der historischen Verbindungen des Klosters Hirsau zu anderen Kloumlstern zur Ausbreitung der cluniazensischen Reformbewegung und Arno MENTZEL-REUTERS zur Behandlung Ekkehards von Aura als Fortsetzer der Frutolf-Chronik darlegen entspricht das Vorgehen des Trithemius in seinen historischen Werken den Grundzuumlgen einer hu-manistischen Geschichtsschreibung so dass seine Werke quellenkritisch nicht vorsich-tiger als andere Historiographen seiner Zeit behandelt werden muumlssen Als Zeithistoriker wurde er in der wissenschaftlichen Forschung dagegen kaum rezipiert wie Joachim

718 Buchbesprechungen

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Schneider feststellt Seine Naumlhe zum Heidelberger Humanistenkreis lieszlig Trithemius zu einem Anhaumlnger des dortigen Kurfuumlrsten Philipps des Aufrichtigen werden was den Kon-flikt des Sponheimer Abts mit seinem Konvent verschaumlrfte Als Produkte einer Heidel-berger Hofhistoriographie koumlnnen die Werke des Trithemius allerdings nicht gelesen werden Auch Kaiser Maximilian I wollte der Abt nicht als Hofhistoriograph dienen der Interesse an der genealogischen Ruumlckfuumlhrung seiner Familie auf die Franken und schlieszlig-lich auf die Trojaner hatte wie sie die gefaumllschten Quellen des Trithemius nahelegen wie aus dem Beitrag von Michael EMBACH hervorgeht

Mit den Zweifeln an Trithemiuslsquo Seriositaumlt als Historiker bereits durch die Zeit- genossen beginnt eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte die in zwei Beitraumlgen nach-gezeichnet wird Winfried ROMBERG fuumlhrt dabei aus dass Trithemius bereits im 16 Jahr-hundert von katholischen Gelehrten als Gewaumlhrsmann einer intakten alten Kirche breit rezipiert wurde Martin Luther dagegen hielt den Sponheimer Abt wegen seiner Veroumlf-fentlichung zur Kryptologie worin er als Erfinder der polyalphabetischen Substitution von Bedeutung ist wie Anton WALDER in seinem Beitrag betont fuumlr einen Magier der im reformatorischen Deutschland keiner weiteren Beachtung gewuumlrdigt wurde Parallel verlaumluft die Entwicklung im Kulturkampf wie Wolfgang WEISS herausarbeitet Ultra-montane Historiker bewerteten Trithemius im 19 Jahrhundert durchwegs positiv liberale Kirchenhistoriker lehnten ihn im Verlauf der Diskussion immer deutlicher ab Erst im Zuge einer Neubewertung der humanistischen Geschichtsschreibung insgesamt wurde Trithemius wieder einer differenzierteren Betrachtung unterzogen in deren Tradition auch der vorliegende Sammelband steht Er stellt somit einen wichtigen Beitrag dar Trithemius als Gelehrten in seiner gesamten Spannbreite wahrzunehmen

Den Band vervollstaumlndigen der Beitrag von Christoph SCHMITT zu den zeitgenoumlssi-schen bildlichen Darstellungen des Trithemius und ein Verzeichnis des Nachlasses des Trithemius von Klaus Arnold Hier wird der Benediktiner tatsaumlchlich auch als Buumlcher-sammler greifbar Ein Beitrag zur Sponheimer Klosterbibliothek deren Sammlung das Selbstverstaumlndnis des Fruumlhhumanisten deutlich machen koumlnnte fehlt allerdings in diesem Band

Magnus Ulrich Ferber

Joachim KNAPE Thomas WILHELMI (Hg) Sebastian Brant Bibliographie Forschungs-literatur bis 2016 Unter Mitarbeit von Gloria ROumlPKE-MARFURT und mit einem Beitrag von Nikolaus HENKEL (Gratia Tuumlbinger Schriften zur Renaissanceforschung und Kulturwissenschaft Bd 63) Wiesbaden Harrassowitz 2018 381 S geb EUR 98ndash ISBN 978-3-447-11152-2

Der hier zu besprechende Band versteht sich als zweiter Teil der Sebastian Brant Bibliographie Er ergaumlnzt den 2015 erschienenen ersten Teil zu den Werken und ihrer Uumlberlieferung indem er die Forschungsliteratur bis 2016 versammelt Sie wird in zehn Abteilungen aufgeteilt auf Forschung zu Biographie und historischem Kontext (1) folgt die zu den Briefen (2) zu Brant-Bildnissen (3) zu seinem Wirken als Jurist und juristi-schem Publizisten (4) zu Buchschmuck allgemein (5) zum Narrenschiff (6) zu den Ge-dichten und Liedern (7) zur bdquoAktualitaumltendichtung in Einblattdrucken und Flugschriftenldquo (8) zu weiteren selbstaumlndigen Werken (9) und zuletzt zu Editionen mit Beigaben von Brant (10) Dabei sind die umfangreicheren Abschnitte (4 6 7 9 und 10) in sich noch einmal breit untergliedert Der Band wird ergaumlnzt durch mehrere Nachtraumlge zum ersten Teil So erweitert ein Register zu Werktiteln Personen und Sachen zum Werkverzeichnis

719Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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das Register des fruumlheren Bandes das sich auf die Uumlberlieferung bezieht Ebenso weist das Initien- und Originaluumlberschriftenregister diese anhand der im ersten Band vergebe-nen Werknummern nach Ergaumlnzt wird die Reihe durch eine Konkordanz der Siglen des Werkverzeichnisses mit den Sigle der Edition der bdquoKleinen Texteldquo von Wilhelmi Vor dem abschlieszligenden Personenregister zur Forschung das die verzeichneten Forschungs-beitraumlge alphabetisch nach Namen geordnet per Siglen nachweist folgen noch eine kurze Liste von Nachtraumlgen zu den Testimonien und Archivalien im vorangehenden Band sowie eine Liste von Addenda und Corrigenda zu eben diesem die Nikolaus Henkel beigesteuert hat Die Uumlbersendung der Liste an die Urheber wie die Aufnahme in den folgenden Band scheint mir ein besonders gutes Beispiel fuumlr konstruktive Kritik und den angemessenen Umgang damit zu sein

Der Hauptteil nennt also die bdquoBeitraumlge zur Brantforschung nach ihrer Erstpublikation und gegebenenfalls auch nach ihrer letzten Auflageldquo (Vorwort S 5) Dabei wird die Bibliographie nach den oben benannten Sachkapiteln gegliedert und die Beitraumlge werden entsprechend einsortiert moumlgliche (und sehr haumlufig vorkommende) Mehrfachbezuumlge werden durch Querverweise sichtbar gemacht Die Bibliographie folgt darin dem System des Vorgaumlngerbandes von KnapeWuttke von 1990 den insbesondere der vorliegende Teil ersetzen soll Die aufgefuumlhrten Titel bekommen eine mit L beginnende Sigle mit der sie in das im ersten Band begonnene System integriert werden mit der Sigle W wird jeweils ein Werk Brants angesprochen mit A ein Autograph mit D ein Druck usw (Die Systematik wird in Band I auf den S 11ndash13 erlaumlutert) Die verzeichneten Beitraumlge der Forschung werden so mit einer L-Sigle eindeutig identifizierbar was zumindest die Systematisierung der wissenschaftlichen Arbeit erleichtert

Fuumlr den angegebenen Zeitraum ist die Bibliographie ndash soweit ich sehen kann ndash sehr vollstaumlndig Selbst solche fuumlr die Rezeptionsforschung wertvollen Funde wie die Aumluszlige-rungen zu Brant von Christoph Martin Wieland im Teutschen Merkur (L 319 indirekt in einem Stuumlck uumlber Geiler von Kaysersberg L 1331) oder von Ludwig Uhland in seinen Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage (L 892) sind zu finden Das darf aller-dings nicht dazu verfuumlhren sich auf die Vollstaumlndigkeit der Verweise zu bestimmten Fragestellungen zu verlassen (was wohl in keiner Bibliographie funktionieren koumlnnte) So wird z B der Aufsatz von Joachim Theisen (L 886) den ich unter Literatur zum Titelblattholzschnitt erwartet haumltte ndash wiederum berechtigterweise ndash unter 63 (bdquoLiteratur zu Quellen Vorlaumlufern und Vorbildernldquo) verzeichnet weil er anhand des Titelblatts Bezuumlgen zu Petrarca nachgeht Beitraumlge zu generellen Oberthemen werden unter dieser Rubrik verzeichnet ohne dass auf die einzelnen Kapitel auf die sie sich stuumltzen verwie-sen wuumlrde So bespricht z B die Studie von Hans-Joachim Raupp (L 1117) exemplarisch die Illustrationen mehrerer einzelner Kapitel des bdquoNarrenschiffsldquo wird aber lediglich summarisch unter 67 (bdquoBildbestandteileldquo) aufgefuumlhrt Das ist legitim denn natuumlrlich erhebt sich hier auch die Frage wie weit eine solch tiefgreifende Verschlagwortung durchfuumlhrbar waumlre die durch zahlreichere Querverweise zunehmend Vollstaumlndigkeit uggerieren wuumlrde wo sie sich letztlich gar nicht herstellen lieszlige

Solche wohlfeilen Klagen allerdings sollen denn auch weniger einer Kritik an der Systematik dienen als vielmehr darauf aufmerksam machen dass ein solches Hilfsin-strument richtig verwendet (und eben in mehrerlei Perspektive befragt werden) will und dabei die Intentionen des einzelnen Nutzers nicht wird antizipieren koumlnnen Die Brant-forschung wird aus den nun verfuumlgbaren beiden Baumlnden groszligen Nutzen ziehen

Michael Rupp

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Urs B LEU Peter OPITZ (Hg) Conrad Gessner (1516ndash1565) Die Renaissance der Wissenschaften The Renaissance of Learning BerlinBoston de Gruyter Oldenbourg 2019 X 712 S Abb geb EUR 12995 ISBN 978-3-11-049696-3

Zum 500 Geburtstag des Zuumlrcher Universalgelehrten Conrad Gessner veranstaltete die Universitaumlt Zuumlrich vom 6 bis 9 Juni 2016 einen groszligen internationalen Kongress mit 44 Vortraumlgen von denen 33 in dem vorliegenden Tagungsband dokumentiert sind Der Mitherausgeber Urs B LEU Leiter der Abteilung Alte Drucke und Rara der Zentral-bibliothek Zuumlrich ist der weltweit beste Kenner von Gessners Leben und Werk Auch an den uumlbrigen Zuumlrcher Aktivitaumlten und Ausstellungen aus Anlass des Jubilaumlums war er federfuumlhrend beteiligt besonders zu erwaumlhnen sind diesbezuumlglich seine umfassende neue Biographie bdquoConrad Gessner (1516ndash1565) Universalgelehrter und Naturforscher der Re-naissanceldquo und der von ihm und Mylegravene Ruoss herausgegebene wunderschoumln illustrierte Sammelband bdquoFacetten eines Universums Conrad Gessner 1516ndash1565ldquo die beide 2016 erschienen sind

Auf eine regelrechte Einleitung in den schwergewichtigen Tagungsband haben die bei-den Herausgeber verzichtet das kurze Vorwort auf S V muss genuumlgen Die Beitraumlge in deutscher (18) englischer (12) franzoumlsischer (2) und italienischer (1) Sprache sind neun alphabetisch geordneten Sachgebieten zugeordnet 1 Bibliographien und Enzy[k]lopauml-distik (drei Aufsaumltze) 2 Botanik (drei) 3 Erdwissenschaften (drei) 4 Kunst (zwei) 5 Medizin und Pharmazie (sechs) 6 Netzwerk (fuumlnf) 7 Philosophie und Theologie (vier) 8 Sprachwissenschaften (zwei) und 9 Zoologie (fuumlnf) Als Anhaumlnge folgen ab S 655 eine umfangreiche Bibliographie (Abkuumlrzungen Handschriften Gedruckte Quel-len und Sekundaumlrliteratur) ein Personenregister (S 697ndash706) sowie Kurzvorstellungen der Autorinnen und Autoren

Der Tagungsband bietet somit einen bdquoreichhaltige[n] Blumenstrauss an Fachgebieten und Themenldquo (so die Formulierung im Vorwort) der in diesem Fall aber weniger der gegenwaumlrtigen Hochkonjunktur der Multi- Inter- Trans- und Supradisziplinaritaumlt ge-schuldet ist sondern ganz einfach der Universalitaumlt des Polyhistors Gessner entspricht den Leu gerne (augenzwinkernd) als einen bdquoLeonardo da Vinci der Schweizldquo bezeichnet Einige der Tagungsbeitraumlge vertiefen dabei Themen die von ihren Autorinnen und Au-toren bereits in dem oben erwaumlhnten Sammelband von 2016 behandelt wurden Dies trifft insbesondere auf den Beitrag von Anja-Silvia GOEING uumlber Buchannotationen in Gessners Lehrbuch bdquoDe animaldquo zu das dieser 1563 zusammen mit drei schon aumllteren themenglei-chen Kommentaren von Juan Luis Vives Veit Amerbach und Philipp Melanchthon fuumlr Studenten der Philosophie und Medizin herausgab (S 433ndash452) Es gilt eingeschraumlnkt aber auch fuumlr den Beitrag von Massimo DANZI zu Gessners balneologischer Schrift bdquoDe Germaniae et Helvetiae thermisldquo von 1553 (S 253ndash272) und fuumlr die interessanten und reich illustrierten kunsthistorischen Beitraumlge von Daniel HESS (S 161ndash194) und Mylegravene RUOSS (S 195ndash233) zu Gessners beeindruckenden Pflanzen- und Tierdarstellungen im Kontext der Grafik und Malerei des 16 Jahrhunderts Der lesenswerte Beitrag von Simona BOSCANI LEONI zu Gessners Interesse fuumlr alpine Landschaften bzw seinem bdquoEnthusiasm for Mountainsldquo (S 119ndash128) ist eine geringfuumlgig erweiterte englische Fas-sung ihres drei Jahre aumllteren deutschen Textes Und auch Manfred PETERSrsquo Untersuchung zu Gessners bdquoMithridates De differentiis linguarum [hellip] observationesldquo von 1555 (S 499ndash516) stimmt weitgehend mit seiner drei Jahre aumllteren emphatischen Wuumlrdigung Gessners als innovativem Sprachwissenschaftler uumlberein der in Anlehnung an eine Einschaumltzung Jakob Baumlchtolds (vgl S 500 f mit Anm 9) formulierte Schlusssatz ist jetzt

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allerdings markanter bdquoDass er [Gessner] der groumlszligte Linguist seiner Zeit gewesen ist kann nach dem heutigen Stand der Forschung niemand mehr bezweifelnldquo

Die Themenfuumllle des Bandes laumlsst sich in einer kurzen Besprechung nicht in den Griff bekommen sie reicht von Gessners monumentaler bdquoBibliotheca universalisldquo von 1545 die ihm den Ehrentitel eines bdquoFather of Bibliographyldquo (Jens Christian Bay) eintrug uumlber die fuumlnfbaumlndige bdquoHistoria animaliumldquo (erschienen 1551 1554 1555 1558 und postum 1587) bis hin zu Gessners Pflege seiner Kaktusfeige aus der Neuen Welt 1558ndash1561 (zur bdquoEarly History of the Prickly Pear Cactusldquo vgl den reich illustrierten Beitrag von Urs EGGLI S 43ndash66) Beeindruckend ist wie Gessner seine Vernetzung innerhalb der Res publica literaria fuumlr seine botanischen und zoologischen Forschungen nutzte indem er sich europaweit Informationen Naturalien und Zeichnungen von Pflanzen und Tieren zukommen lieszlig (vgl exemplarisch den Beitrag von Robert OFFNER S 405ndash425) Diese Kontakte ziehen sich auch durch die Texte der drei Plenarvortraumlge bdquoThe two men [Gess-ner und John Caius] sent each other not only letters but also thingsldquo (Anthony GRAFTON S 360) bdquoGessner used the public forum of a dedication to exert whatever pressure he could on these potential contributorsldquo (Ann BLAIR S 549) bdquoYet the evidence concerning the multidirectional image exchanges in which he was involved indicates that Gessner participated in practices of image collecting and use shared by many other 16th-century naturalistsldquo (Florike EGMOND and Sachiko KUSUKAWA S 604)

Mitunter leicht missverstaumlndlich ist der gelegentliche Hinweis dass Zeichnungen bdquoad vivam effigiemldquo oder bdquoad vivumldquo gemalt seien bdquoIm Erasmus-Bildnis wird diese Aussage zugespitzt wenn Duumlrer vermerkt dass er das Bildnis zwar nach dem Leben gezeichnet habe ein besseres Bild jedoch die Werke des Erasmus zeigtenldquo (Hess S 163) bdquoLike Durerrsquos famous rhinoceros many vivid and influential images of animals labeled as made sbquoad vivumlsquo were fashioned at one or more removes from the original modelsldquo (GRAFTON S 369) Walther Ludwig hat 1998 in einem Aufsatz im bdquoPhilologusldquo nachgewiesen dass die Ausdruumlcke bdquoad vivam effigiemldquo und bdquoad vivumldquo in der Fruumlhen Neuzeit nicht das Por-traumltieren nach dem lebenden Modell bezeichnen sondern die Lebendigkeit der Darstel-lung betonen Sophia HENDRIKX S 635 (Anm 83) stellt es richtig dar bdquoAs pointed out by Sachiko Kusukawa with this phrase [sbquoad vivumlsquo] Gessner referred to the effect an image had on the beholder rather than the question wheather an image was a true portrait of something in natureldquo

Ebenso spannend wie die Werke und Taumltigkeiten des reifen Polyhistors und Pestarztes (vgl vor allem den Beitrag von Charles GUNNOE uumlber die Pestepidemie 1562ndash1566 der auch Gessner selbst zum Opfer fiel S 295ndash309) ist die Betrachtung der handschriftlich erhaltenen vierzehn griechischen Gedichte die Gessner 1532 als Sechzehnjaumlhriger () auf Zwinglis Tod in der Schlacht bei Kappel verfasst hat bdquoThrinodiae sive sacra magna-nimi herois Huldrychi Zwinglii patris patriae fortissimildquo Katja VOGEL nimmt drei dieser Gedichte naumlher in den Blick sie werden zusammen mit dem lateinischen Widmungsbrief an Heinrich Bullinger und Theodor Bibliander im griechischen Original und in deutscher Uumlbersetzung wiedergegeben (S 465ndash484) Der tote Zwingli erscheint in ihnen unter anderem als ein zweiter Herakles der die katholische Hydra bekaumlmpfte und sich feiger Pygmaumlen zu erwehren hatte Gessners Vertrautheit mit der griechischen Dichtersprache ist dabei selbst fuumlr einen ambitionierten sbquoTeenagerlsquo des 16 Jahrhunderts auszligergewoumlhnlich Sein 72 Hexameter umfassender Homer-Cento bildet das laumlngste Gedicht der Sammlung und ist ein interessantes Beispiel fuumlr den in Humanistenkreisen gepflegten poetischen Paganismus Der in der Schlacht gefallene Zwingli wird von Engeln in den Olymp

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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getragen wo Zeus Hermes Athene die Muse Urania und Apollon um seine Seele streiten bis schlieszliglich die spaumlter herbeigerufene Themis sie Athene und sich selbst zuerkennt

Vogel zeigt sich angesichts dieser seltsamen Mischung von paganem Mythos und der christlichen Vorstellung vom Himmel als einem Jenseitsort der Gerechten zu Recht ver-wundert (S 468) Am Ende wird dem leer ausgegangenen Hermes als Trostpreis noch die Seele Luthers zugesprochen sobald der Wittenberger Reformator dereinst gestorben sei Waumlhrend Zwingli also an der Hand der Goumlttin der Gerechtigkeit himmlische Ehren zuteil werden wartet auf Luther ein Hermes der die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt fuumlhrt Diese Passage lieszlige sich meines Erachtens auch als Andeutung einer kuumlnftigen Houmlllenfahrt Luthers interpretieren Koumlnnte sie in Anbetracht der Spannungen zwischen Wittenberg und Zuumlrich (Abendmahlsstreit) polemisch gemeint sein Vogel uumlbersetzt die Verse 60ndash63 wie folgt bdquoLuther aber wenn er stirbt soll der gluumlckbringende Hermes nehmen der raubend und listenreich [] ein Helfer der Menschen ist er der die Seelen der Verstorbenen unter die Tiefen der Erde fuumlhrt denn Gleiches freut sich immer wie sie sagen an Gleichemldquo Vers 61 bedeutet aber wahrscheinlich bdquoder ein Helfer der Diebe und listigen Menschen istldquo unter Aumlnderung eines Akzents muumlsste man also wohl schreiben ὃς κλεπτῶν δολίων τrsquo ἀνθρώπων ἐστὶν ἀμύντωρ Dadurch fiele die Pointe noch deutlicher aus Zwingli kommt nach dem Tod zur Goumlttin der Gerechtig-keit in den Olymp (Himmel) waumlhrend Luther beim Gott der Diebe in der Unterwelt (Houmllle) landen wird jedem nach seinem Verdienst (vgl Joh 10 1)

Fuumlr jeden der sich mit der Fruumlhen Neuzeit beschaumlftigt ist der Tagungsband zu Conrad Gessner und der von ihm musterguumlltig verkoumlrperten bdquoRenaissance der Wissenschaftenldquo eine anregende fesselnde und ergiebige Fundgrube

Matthias DallrsquoAsta

Sven GUumlTERMANN Matern Hatten Ein Intellektuellenleben zwischen Humanismus und Reformation am Oberrhein Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2017 144 S Abb geb EUR 1690 ISBN 978-3-89735-979-6

Unbekannt war der in Speyer geborene Humanist Matern Hatten (1470ndash1546) in der Forschung nicht gewesen Es ist das Verdienst Guumltermanns dass er die bisherigen Erkenntnisse weiterfuumlhrt und eine ansprechende auf die Quellen gestuumltzte Lebens- geschichte vorlegt Auch wenn nur fuumlnf authentische Texte Hattens uumlberliefert sind erwartet die Leser ein spannungsvolles Lebensbild

Den ersten Teil widmet Guumltermann den Speyerer Jahren 1470ndash1527 In Speyer gehoumlrte die Familie Hatten wiederholt zu den Ratsherrn Auch Verwandte der Mutter aus der Familie Ruszlig bzw Reuszlig sind mehrfach urkundlich belegt (S 21f) Die handschriftliche Widmung einer kleinen Schrift an Sebastian Brandt von 1502 gibt den Namen bdquoMaternus Hattenauwerus dictus Reuszligldquo wieder (S 22) Hatten konnte in Leipzig studieren sein Name wird in der Matrikel zum Wintersemester 1496 bezeugt (S 16) Nach Speyer zuruumlckgekehrt gehoumlrte Hatten zu der groszligen Schar der am Domstift installierten Vikare seit 1504 ist er nachweisbar als Mitglied der Martinsherren oder bdquoMartinensesldquo Sie hatten als Priester auch den Gesang in der Martinskapelle zu unterstuumltzen Fruumlh kam Hatten in Kontakt mit kritisch- reformatorischen Gedanken Nach dem Wormser Reichstag 1521 wurde den Martinsherrn vorgeworfen dass sie im Chor vermutlich lutherische Buumlchlein lasen und so fuumlr groszlige Verwirrung sorgten Martinsherrn gehoumlrten auch zu den Zuhoumlrern bei den evangelischen Predigern waumlhrend des Speyerer Reichstags 1526 Vor allem der

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Martinsvikar Jakob Beringer der ein Neues Testament in deutscher Sprache erscheinen lieszlig hatte mit Strafandrohungen des Domkapitels zu rechnen Auch Hatten wurde des Luthertums verdaumlchtigt Ein Briefwechsel mit Bucer aus dieser Zeit zeigt Hattens prekaumlr gewordene Situation in Speyer an

1527 kam Hatten dann auch durch Bucers Initiative nach Straszligburg nun als Vikar in St Thomas auszligerdem vermutlich als Lehrer taumltig Dieser Neuanfang wurde die bdquoent-scheidende Zaumlsurldquo in seinem Leben nun stand er offiziell im Dienst der evangelischen Sache Wir finden ihn in engem Kontakt mit den Reformatoren der Stadt auch mit dem aus Bergzabern stammenden Bucer- Mitarbeiter Konrad Hubert (1507ndash1577) Guumltermann kann zum ersten Mal einige Briefe Bucers aus dem Jahr 1537 fuumlr die Biographie aus- werten (S 92ndash98) Dass die Kontakte nach Speyer nicht abbrachen beweist 1534 die Dedikation einer Streitschrift an den beim Reichskammergericht taumltigen Advokaten Jakob Schenck (S 87ndash93) Weit uumlber sechzig Jahre alt heiratete Hatten 1537 Barbara Hager mit der er einen Sohn Hieronymus hatte 1546 starb Hatten 1561 wurde seine gewiss betraumlchtliche Privatbibliothek verkauft (S 104)

Sehr sinnvoll ruumlckt Guumltermann zwischen die Darstellung der Speyerer und der Straszligburger Jahre einen Abschnitt uumlber Hatten bdquoals wichtiges Glied des humanistischen Netzwerks am Oberrheinldquo (S 46ndash79) Dazu gehoumlrten in Speyer von 1483 bis 1498 Jakob Wimpfeling (1450ndash1528) und sein Nachfolger als Domprediger Jodocus Gallus (1459ndash1517) Prominente Mitglieder des humanistischen Freundeskreises zu dem Hatten Kontakte pflegte waren auch Beatus Rhenanus (1450ndash1528) Johannes Kieher (dagger1519) und Thomas Truchsess von Wetzhausen (1460ndash1523) Ein schoumlnes Beispiel fuumlr das Zutrauen zu Hatten bieten die Briefe von Johannes Brenz (1499ndash1570) und Theobald Billican (1493ndash1554) beide baten 1521 um Unterstuumltzung fuumlr den Studenten Johannes Portius aus Rheinzabern (S 78 108ndash111) Wohl noch in die Speyerer Zeit gehoumlrt die Rezension des fruumlher Alkuin (735ndash804) zugeschriebenen Streitgedichtes bdquoConflic- tus Veris et Hiemisldquo Guumltermann kann dieses Dokument zum ersten Mal vorstellen (S 29ndash37) Wir erleben Hatten sogar in direktem Kontakt mit Erasmus von Rotterdam den Hatten 1515 in Speyer beherbergen konnte (S 57) In einem Brief vom 1517 nennt ihn Erasmus einen bdquoFreund mit schneeweiszligem Herzenldquo (S 61)

Guumltermann ergaumlnzt sein Buch um eine knappe zusammenfassende Vita (S 106) Au-szligerdem bietet er 17 Quellentexte im lateinischen Original und zum Teil mit Uumlbersetzung (S 108ndash133) Am Schluss folgen das Quellen- und Literaturverzeichnis (S 134ndash141) schlieszliglich ein ausfuumlhrliches Personenregister 29 Abbildungen bereichern das Werk Das Buch bietet ein sympathisches Bild des bisher weithin nicht beachteten Humanisten aus Speyer der als reformerischer Geist innerhalb der Kirche schlieszliglich zum Anhaumlnger und Parteigaumlnger der Reformation wurde

Klaus Buumlmlein

Johann Heinrich ANDREAE Neapolis Nemetum Palatina uumlbersetzt und erlaumlutert von Lenelotte MOumlLLER (Briefe aus dem Haus der Geschichte Bd 2) Neustadt an der Wein-straszlige Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung 2019 124 S Abb Brosch EUR 25ndash ISBN 978-3-942189-27-9

Die in Neustadt an der Weinstraszlige beheimatete ruumlhrige Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung nahm nunmehr eine siebte Reihe bdquoGldquo in Angriff als deren zweite Nummer die Leiterin des dortigen Kurfuumlrst Ruprecht-Gymnasiums soeben die vor 250 Jahren erschienene Arbeit ebenfalls eines Schulmanns aus dem Lateinischen

724 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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uumlbersetzte und mit Erlaumluterungen versah Der Verfasser Andreae stand zwar nicht wie hier im sbquoEditorialrsquo richtigzustellen war dem Neustadter sondern dem Heidelberger Casimirianum vor Neben der hier nun einem breiteren Publikum zugaumlnglich gemachten bdquoerste[n] Monographie zur Geschichte von Neustadt an der Haardtldquo (S 16) brachte er ndash zu entnehmen dem Verzeichnis seiner Schriften (S 7ndash11) ndash solche Arbeiten zu zwoumllf weiteren kurpfaumllzischen Staumldten bzw deren Schulen heraus (Kaiserslautern 1767 Bretten 1769 Mosbach und Simmern 1771 Ladenburg 1772 Boxberg 1773 Bacharach und Ger-mersheim 1776 Alzey 1777 Oppenheim 17789 Weinheim 1779 und schlieszliglich fuumlr seine Heimatstadt Kreuznach besonders umfangreich 1780ndash1784) Er kompilierte dafuumlr unkri-tisch jeweils die ihm erreichbare Literatur die die Bearbeiterin fuumlr Neustadt sorgsam ermittelt und ebenfalls in ihrer Einleitung aufgefuumlhrt hat Dass eine solche Fleiszligarbeit uumlber bdquoden fruumlhen Stand des Historismusldquo (S 3) Auskunft zu geben vermoumlchte will frei-lich nicht einleuchten Denn stadtgeschichtliche Entwicklungslinien zeichnen sich in der Darstellung nirgends ab Gleichwohl vermag Andreaes Werk dessen Zustandekommen hier sorgfaumlltig belegt ist einen Eindruck vom Stand der regionalen Geschichtswissen-schaft im spaumlteren 18 Jahrhundert zu vermitteln Das in neunzehn Paragraphen geglie-derte Werk selbst ist auf S 73ndash100 aus einem Digitalisat faksimiliert wiedergegeben Vorgeschaltet ist die Uumlbersetzung (S 17ndash70) der jeweils unter der Paragraphenzahl eine das Verstaumlndnis erleichternde Inhaltsangabe beigegeben wurde Andreaes Anmerkungen wurden ebenfalls als solche uumlbersetzt durch Namenskuumlrzel unterschieden von denen in der fortlaufenden Zaumlhlung dazwischen eingestreuten der Bearbeiterin Schon der Titel des Werks suggeriert dass Neustadt eine antike Gruumlndung im Gebiet der Nemeter gewe-sen sei und auch die Entstehung von Winzingen in jener Zeit wurde sagenhaft nach Jakob bdquoBeurlinldquo referiert (S 23) leider fehlt in der zugehoumlrigen Anmerkung der Verweis auf Michael Klein Formen epigonaler Verwertung humanistischer Schriften und ihr Publi-kum Die sbquoLuumlgenchronikenrsquo von Jakob Beyrlin (1576ndash1618) in Kurt Andermann (Hg) Historiographie am Oberrhein im spaumlten Mittelalter und in der fruumlhen Neuzeit (Ober-rheinische Studien Bd 7) Sigmaringen 1988 S 247ndash273 Einen Schwerpunkt bildet die Gruumlndung des Casimirianums 1578 durch Pfalzgraf Johann Casimir als (calvinisti-sche) Nebenuniversitaumlt der schon bei Andreae vorhandene Abdruck der Gruumlndungsur-kunde (in deutscher Sprache) wurde S 44ndash48 wiederholt ohne dass klar wird ob das Exemplar im Stadtarchiv Neustadt dabei kollationiert wurde Dessen ungeachtet bringen die anschlieszligenden vielfach auch Persoumlnlichkeiten gewidmeten Partien auch dank aus-fuumlhrlicher Anmerkungen einen relativ hohen Ertrag Indessen koumlnnen Einwaumlnde gegen den editorischen Umgang mit einer solchen Quelle nicht unterdruumlckt werden Man mag auf dem Standpunkt stehen dass eine (philologisch) bdquorichtigeldquo Uumlbersetzung genuumlge Dann mag wenn es um die Neustadter Stiftskirche geht bdquoEcclesiam cathedralem S Aegidio consecratamldquo (S 79)ldquo mit bdquoKathedralkirche die dem hl Aegidius geweiht wurdeldquo (S 29)ldquo uumlbersetzt werden Wenn jedoch auch bdquoerlaumlutertldquo wird haumltte es hier der sachlichen Richtigstellung bedurft dass es sich eben nicht um eine Bischofskirche (Andreae duumlrfte kaum geahnt haben dass seine Formulierung zu den landeskirchenherr-lichen Bestrebungen der Kurfuumlrsten gepasst haumltte) handelte sondern um die Gruumlndung einer Stiftskirche was auch einen Patroziniumswechsel von Aumlgidius zu Unserer Lieben Frau nach sich zog Und wenn ndash ebenda ndash bdquosedecim praebendisldquo mit bdquo16 Praumlbendenldquo (weshalb nicht bdquoPfruumlndenldquo) uumlbersetzt und dieser Begriff mit bdquoEinkommen aus einem kirchlichen Amtldquo erklaumlrt wird wuumlnscht man sich auch die Richtigstellung in der Sache denn es gab nie mehr als 14 Stiftsherrenpfruumlnden von denen ndash im Ergebnis ndash nur drei

725Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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bauliche und personelle Veraumlnderungen die Einfuumlhrung der EDV verschiedene Zerti- fizierungen der Schule und andere Gegenstaumlnde der Gesamtlehrerkonferenzen deren Protokolle hier akribisch ausgewertet worden sind in einer tendenziell eher chrono- logisch und dadurch manchmal etwas unsystematisch wirkenden Abfolge praumlsentiert Im letzten Abschnitt zur Gegenwart der Schule werden die an der ZGB angebotenen Schularten aufgelistet und kurz charakterisiert wobei dem Leser u a die Aufschluumlsselung manch krude klingender Abkuumlrzung geboten wird ndash oder haumltten Sie gewusst dass sich hinter bdquo1BKFHTldquo das bdquoEinjaumlhrige Berufskolleg Technikldquo verbirgt dessen erfolg- reiche Absolvierung zur Fachhochschulreife fuumlhrt Mit einer Namensliste des aktu- ellen Kollegiums und einem beinahe ebenso aktuellen Kollegiumsfoto (aus dem Jahr 2016) schlieszligt der darstellende Teil der Untersuchung dem noch ein Anhang mit Quel-lenteil folgt

Angesichts der Tatsache dass eigentlich kein Jubilaumlumsjahr der Schule begangen wird ist es umso bemerkenswerter mit welchem Elan und mit welcher Bereitschaft zur Investition von (Frei-)Zeit und Energie die Verfasserin hier eine historische Darstellung erarbeitet hat wie sie sich jede Bildungseinrichtung im Kampf um oumlffentliche Praumlsenz und gegen ndash im Schlusswort beklagte (vgl S 93) und wohl nur auf dem Wege verstaumlrkten Marketings umzukehrende ndash sinkende Schuumllerzahlen nur wuumlnschen kann Einen Eindruck von der Bedeutung einer solchen Studie fuumlr die mit der Schule verbundenen Menschen der Region vermitteln auch die beiden geradezu enthusiastischen Gruszligworte des aktuellen Schulleiters Konrad Trabold und des Landrats Achim Broumltel dessen Vater die Geschicke der ZGB ein Vierteljahrhundert lang gelenkt hat Umfangreiches Bildmaterial insbeson-dere zur Baugeschichte der Schule seit der Nachkriegszeit aber auch einzelne Fotografien aus dem 19 Jahrhundert sowie zu aktuellen Projekten und Entwicklungen erhoumlhen die Anschaulichkeit des Dargestellten Dass die Publikation praktisch keine syntaktischen oder sonstigen grammatikalischen Fehler aufweist und auch orthographisch nichts zu be-anstanden ist sollte eigentlich selbstverstaumlndlich sein hebt das Buch aber in der heutigen Zeit haumlufig fehlender Lektorate aus der breiten Masse deutlich heraus und rundet den positiven Gesamteindruck ab

Heiko Ullrich

Gabriela SIGNORI (Hg) Inselkloumlster ndash Klosterinseln Topographie und Toponymie einer monastischen Formation (Studien zur Germania Sacra NF Bd 9) BerlinBoston De Gruyter Akademie Forschung 2019 VI 254 Seiten Abb Kt geb EUR 11995 ISBN 978-3-11-064266-7

Der vorliegende Sammelband widmet sich der Topographie und Toponymie von bdquoInselkloumlstern ndash Klosterinselnldquo und ist das Ergebnis einer internationalen Tagung die unter gleichnamigem Titel vom 27 bis 28 Januar 2017 auf der Insel Reichenau statt- gefunden hat Untersuchungsgegenstand dieser Publikation ist ndash wie die Herausgeberin in einer kurzen Einleitung (S 1ndash12) erlaumlutert ndash grundsaumltzlich die Verbindung von Moumlnch-tum und Natur beziehungsweise die Frage inwieweit bei fruumlhen Klostergruumlndungen be-wusst Orte die bdquoGrenzen zwischen Natur und Kultur markierenldquo (S 3) gewaumlhlt wurden Daneben geht es um die Symbolik der Insellage (Ausgangspunkt fuumlr Mission oder Welt-flucht) Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Klosterinseln bzw zwischen den Inseln und ihren GruumlndernStiftern Ziel der Publikation ist aufgrund der bisherigen For-schungslage weniger eine systematische Erforschung dieser Fragestellung als zunaumlchst ein europaumlischer Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

740 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

zugunsten der Universitaumlt Heidelberg abgegeben werden mussten was uumlbrigens auch in der Einleitung im Abriss der Geschichte von Neustadt (S 12) unzutreffend dargestellt wurde Ein Fallstrick war leider auch der (auszugsweise) Abdruck der Urkunde Graf Walrams von Zweibruumlcken aus dem Jahr 1291 mit der dieser seine Aufnahme als Burg-mann bestaumltigte Hier haumltte sich der Hinweis auf Carl PoumlhlmannAnton Doll Regesten der Grafen von Zweibruumlcken (Veroumlffentlichungen der Pfaumllzischen Gesellschaft zur Foumlr-derung der Wissenschaften Bd 42) Speyer 1962 Nr 331 empfohlen denn dann waumlre wohl auch die Tagesdatierung (S 81) bdquo4 Kal Augustildquo (= 29 Juli) nicht mit bdquoam 4 Au-gustldquo (S 32) uumlbersetzt worden ndash Ausleitend ist ein bdquoProgramm der Redner (offenbar Schuumller) und Themenldquo wiedergegeben was darauf schlieszligen laumlsst dass der Anlass der Entstehung von Andreaes Werken dieser Art wohl Schulveranstaltungen in Heidelberg waren Ein Register (S 101ndash115) schlieszligt in willkommener Weise geographische Namen Institutionen und Personen auf gefolgt von einem Verzeichnis der Sekundaumlrliteratur und zwei auch abgebildeten Kirchenbucheintraumlgen

Volker Roumldel

Reiner HAEHLING VON LANZENAUER Der badische Jurist Reichlin von Meldegg und seine Zeit (Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe Bd 35) Karlsruhe Verlag der Gesellschaft fuumlr Kulturhistorische Dokumentation e V 2019 141 S Abb Brosch EUR 25ndash ISBN 978-3-922596-28-8

Der badische Jurist und Beamte Joseph Reichlin von Meldegg (1806ndash1876) ist keine historisch herausragende Persoumlnlichkeit kein Mittermaier Rotteck oder Welcker Gerade deshalb eignet er sich als Figur um die Landes- und Rechtsgeschichte Badens vom Ende des Alten bis hin zur Gruumlndung des Neuen Reiches plastisch nachzuzeichnen Bei Reich-lin von Meldegg verstellt keine uumlbergroszlige Figur den Blick auf das aus Sicht der Sozial- und Kulturgeschichte durchaus interessante Alltagsleben in den badischen Amtsstuben des 19 Jahrhunderts Zugleich ist er nicht derart unbedeutend dass wir nichts uumlber ihn wissen koumlnnten er hat deutliche Fuszligspuren in der Geschichte hinterlassen Seine ge-druckten Lebenserinnerungen heben Reichlin von Meldegg aus der gesichtslosen Masse badischer Juristen hervor Gleichwohl genuumlgt eine geeignete Figur allein selbstverstaumlnd-lich nicht Der Autor Reiner Haehling von Lanzenauer ist nicht nur ein versierter Lan-deshistoriker sondern als ehemaliger Leitender Oberstaatsanwalt sozusagen auch Insider des regionalen Staatsapparates und uumlberdies ein talentierter Erzaumlhler

Die Geschichten des Buches spielen in Mittel- und vor allem in Suumldbaden Im Zentrum steht der Lebensweg eines Verwaltungsjuristen vom Studium im Breisgau in den 1820er Jahren bis zum Amt eines Geheimen Regierungsrates in der Konstanzer Kreisregierung von 1859 bis 1862 Der Autor versteht es kunstvoll die allgemeine Geschichte von Land und Recht in seine Erzaumlhlung einzuweben Ruumlck- und Seitenblicke beispielsweise zum Rastatter Gesandtenmord im Jahr 1799 komplettieren die Geschichte von Reichlin von Meldegg Zahlreiche Anekdoten zu Charakterkoumlpfen in Verwaltung Justiz und Gesell-schaft lockern den Text auf und gewaumlhren interessante Einblicke in die Sozialstruktur des Vormaumlrz und der Restaurationszeit Aus heutiger Sicht moumlgen manche Schilderungen beispielsweise zum Auspeitschen als Kriminalstrafe oder zu erpressten Gestaumlndnissen anachronistisch erscheinen Viele andere Beobachtungen indessen wie die eigenwillige Auslegung des Verfahrensrechtes oder demotivierte Beamte in der Provinz duumlrften dem heutigen Leser durchaus vertraut sein

726 Buchbesprechungen

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Jahr 1844 bis zur endguumlltigen Gruumlndung am 6 Dezember 1847 nach und beschreibt die grundsaumltzliche Funktionsweise der neugegruumlndeten Schule Den naumlchsten Schritt in der Entwicklung der Gewerbeschule stellt die vom Innenministerium geforderte Trennung der Gewerbeschulen von den Houmlheren Buumlrgerschulen dar der Erlass von 1851 wurde in Buchen bis 1853 umgesetzt wenn auch eine Verflechtung der beiden Schulen durch das teils identische Lehrpersonal noch bis 1872 fortbestand Detaillierte Informationen zu Stundentafel Schulgeld Koordination von Unterricht und Arbeit der Lehrlinge im Be-trieb sowie Schuumllerzahlen vermitteln hier einen differenzierten Einblick in den Alltag an der Buchener Gewerbeschule Im Mittelpunkt des naumlchsten Abschnitts stehen erneut zwei wichtige Gesetze aus den Jahren 1868 und 1872 die im Umfeld der Reichsgruumlndung entscheidende Bedeutung fuumlr die badischen und deutschen Gewerbeschulen erlangen sollten Insbesondere im Gefolge der Gewerbeordnung von 1872 etablierte sich die Ge-werbeschule im Kontext einer gesamtdeutschen Konsolidierung dieses Schulkonzeptes ndash eine Entwicklung der Arnstein durch eine abwechselnde Betrachtung der reichsweiten und regionalen Tendenzen gerecht wird Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war gepraumlgt von ersten Zentralisierungstendenzen aus denen die Standort Buchen und Wallduumlrn gestaumlrkt hervorgingen waumlhrend kleinere und schlechter ausgestattete Schulorte wie Hettingen aufgegeben wurden Hier uumlberzeugt Arnsteins Darstellung in besonderem Maszlige durch eine mithilfe einer Vielzahl von Quellen ndash Statistiken Gesetzestexten ver-schiedenen Zeitdokumenten ndash erreichte Anschaulichkeit die zudem stets im Blick behaumllt inwiefern die damals eingeleiteten Veraumlnderungen in der gewerblichen Bildung noch heute nachwirken

Waumlhrend der Herrschaft der Nationalsozialisten unterlag das Schulwesen wie alle Bereiche des taumlglichen Lebens einer engmaschigen staatlichen Kontrolle ein Erbe der Zeit das Arnstein besonders hervorhebt ist die pauschale Bezeichnung der verschiedenen Bildungsmoumlglichkeiten im gewerblichen Bereich als bdquoBerufsschuleldquo (S 50) In den Kontext von Entnazifizierungsmaszlignahmen und der Integration zahlreicher Heimat- vertriebener stellt Arnstein dann die Darstellung der Nachkriegszeit die in Buchen zunaumlchst von einer schnellen Wiedereroumlffnung der Schule gepraumlgt war Die bereits 1947 erfolgte und durch Aktenmaterial belegte Erhebung zur Zentralgewerbeschule mit den beiden Standorten Buchen und Wallduumlrn ndash zu Lasten der nach und nach geschlossenen Gewerbeschulen in Mudau Adelsheim Hardheim und Eubigheim ndash zunaumlchst noch als bdquoVersuchsmaszlignahmeldquo (S 55) wird in die Darstellung der oumlkonomischen Gesamtstruktur Buchens integriert wobei insbesondere auf die Einrichtung von Fachklassen eingegangen wird die eine enorme Qualitaumltssteigerung der schulischen Ausbildung und damit wieder eine Staumlrkung des oumlrtlichen Gewerbes bewirkt habe Der Abschnitt zur baulichen Erwei-terung der Schule seit den Fuumlnfzigerjahren beschreibt dann eine quantitative wie quali-tative Weiterentwicklung der Schule auch der naumlchste Abschnitt der eigentlich die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen seit der Gruumlndung des Bundeslandes Baden-Wuumlrttem-berg behandelt und insbesondere die Maszlignahmen zur Schaffung von Akzeptanz in der Bevoumllkerung fuumlr dieses neue politische Konstrukt in den Mittelpunkt ruumlckt geht schlieszlig-lich wieder in die Beschreibung des strukturellen und infrastrukturellen Wandels der Schule uumlber

Dagegen veraumlnderten sich seit den Siebzigerjahren im Zuge der Einfuumlhrung neuer Lehrplaumlne und der Einrichtung neuer Schularten wie der Berufsfachschule verschiedener Richtungen (Metall Koumlrperpflege Holztechnik Elektrotechnik Fahrzeugtechnik) oder des Berufskollegs insbesondere die gelehrten Inhalte daneben werden aber weiter auch

739Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Autorin nicht nur aufgrund ihrer Recherchen sondern auch durch die taumlgliche Arbeit als Lehrkraft der ZGB aus eigener Anschauung genauestens kennt

Der Hauptteil ihrer Studie der dem letztlich gewaumlhlten Titel nun vollstaumlndig entspricht gliedert die Schulgeschichte in klassischer chronologischer Weise nach Gruumlndungsphase Anfangsjahren und der Erlangung der Selbstaumlndigkeit bevor dann weltgeschichtliche Ereignisse wie der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik die Zeit des National- sozialismus und der Zweite Weltkrieg die Schulentwicklung auch in Buchen maszliggeblich praumlgten schlieszliglich leiten die Betrachtungen zur Wiedereroumlffnung der Schule nach dem Krieg der Eingliederung in die Schullandschaft des neugegruumlndeten Bundeslandes Baden-Wuumlrttemberg und einer als bdquoPhase der Expansionldquo titulierten Zeitspanne ab den Siebzigerjahren zur Gegenwart uumlber (S 23ndash95) Der Anhang versammelt dann etwas heterogenes Material ndash eine chronologische Liste der Schulleiter Zeitzeugen- und Erfahrungsberichte sowie Anekdotisches ndash umfasst aber auch einen Quellenteil in dem zunaumlchst die wichtigsten Erlasse zur Gewerbeschule im Baden des 19 und fruumlhen 20 Jahrhunderts abgedruckt werden bevor die bdquoQuellen zur Geschichte der Zentral- gewerbeschule Buchenldquo neben die Satzung der Schule aus dem Jahr 1924 die Abschieds-rede des langjaumlhrigen 1994 pensionierten Schulleiters Erhard Broumltel stellen

Im ersten Abschnitt legt Arnstein in einer komprimierten Darstellung der badischen Geschichte im 19 Jahrhundert den Fokus auf die Reformbestrebungen eines der moder-neren deutschen Kleinstaaten in den fuumlr ihre Untersuchung zentralen Bereichen der Oumlkonomie und des Bildungswesens Indem die Verfasserin betont das Groszligherzog- tum sei in dieser Zeit zum bdquoVorreiter in der Hebung des Bildungsniveaus im Bereich des Gewerbesldquo geworden (S 4) stellt sie dabei strategisch geschickt die exemplarische Bedeutung ihrer Studie fuumlr die Entwicklung des deutschen Gewerbeschulwesens ins- gesamt heraus Der zweite Abschnitt setzt dann zunaumlchst in der fruumlhen Neuzeit an und referiert einige wichtige Entwicklungen des allgemeinen Bildungsgedankens waumlhrend der Zeit des Renaissancehumanismus und der Reformation Dabei werden beide Be- wegungen in ihrer Relevanz fuumlr die ideelle Begruumlndung bzw die institutionelle Etab- lierung neuer schulischer Konzepte gewuumlrdigt bevor Arnstein sich den weiteren Aus- formulierungen und Erweiterungen dieser Konzepte im 18 Jahrhundert zuwendet die dann im 19 Jahrhundert zur Einrichtung gewerblicher Sonntags- und Winterschulen fuumlhrten

Nach dieser ersten Verortung ihres Themas in den grundsaumltzlichen Bildungsdiskursen der Zeit wendet sich Arnstein dem fuumlr die Geschichte der gewerblichen Schulbildung zentralen Konflikt zwischen dem uumlberkommenen Zunftwesen und staatlichen Vorstel-lungen von oumlkonomischer Effizienz zu die einen weiten Bogen vom (eher kursorisch behandelten) Mittelalter uumlber die wichtigen Reformen des bereits vom Geist einer fruumlhen Aufklaumlrung gepraumlgten Reichsgesetzes von 1731 bis in die Gruumlndungszeit der ZGB in der Mitte des 19 Jahrhunderts spannt Dabei stehen die Entwicklungen in Baden zunehmend im Vordergrund sodass die Betrachtung der Bestrebungen im Umfeld des spaumlteren Staats-ministers Carl Friedrich Nebenius und der Polytechnischen Hochschule Karlsruhe uumlber den Gruumlndungserlass der badischen Gewerbeschulen von 1834 unmittelbar zum dritten Abschnitt der Untersuchung uumlberleitet

Die Geschichte der ZGB beginnt mit der gleichzeitigen Einrichtung einer houmlheren Buumlr-gerschule und einer Gewerbeschule in Buchen Arnstein zeichnet den ndash insbesondere aufgrund der vorerst ungeklaumlrten Finanzierung ndash schwierigen Gang der staumldtischen Initiatoren durch die Behoumlrden des badischen Staatsapparats von der ersten Eingabe im

738 Buchbesprechungen

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Trotz der hohen Erzaumlhlkunst bleibt die Lektuumlre voraussetzungsreich Aus Sicht des Rezensenten ist zu ergaumlnzen dass Reichlin von Meldegg keine zweite juristische Staats-pruumlfung absolvieren musste Baden ging in der ersten Haumllfte des 19 Jahrhunderts eigene Wege Das 5 Organisationsedikt vom 24 Februar 1803 uumlber die bdquoVorbereitung weltlicher Staatsdienerldquo begnuumlgte sich mit einer einzigen Pruumlfung vor dem Hofgericht nach dem Studium Bei Reichlin von Meldegg schloss sich an das Examen eine rund vierjaumlhrige unbezahlte Praktikantenzeit bei den unteren Justiz- und Verwaltungsbehoumlrden an Erst die Verordnung vom 16 Dezember 1853 fuumlhrte in Baden das preuszligische Ausbildungs-modell mit zwei Staatsexamina und allen damit zusammenhaumlngenden Nachteilen ein Sachliche Gruumlnde fuumlr den Sinneswandel gab es keine nur den Druck der Vormacht Preuszligens zur Gleichschaltung der Justiz im Deutschen Bund

Nach diesem kleinen Exkurs zuruumlck auf den Hauptweg In der Summe liefert Haehling von Lanzenauer einen sowohl profunden als auch abwechslungsreichen Beitrag zur badischen Landes- und Rechtsgeschichte Sein Buch schaumllt fuumlr Baden als Musterland des deutschen Liberalismus den Kern der Entwicklung im Deutschen Bund heraus weg vom Staumlndestaat mit all seinen Privilegien hin zu Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit vor dem Gesetz

Frank L Schaumlfer

Bernd MARTIN Die Freiburger Pathologie in Kriegs- und Nachkriegszeiten (1906ndash1963) Konstitutionspathologie Wehrpathologie und Menschenversuche bdquoPathologieldquo des Verdraumlngens Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2018 144 S Abb Brosch EUR 1990 ISBN 978-3-95505-067-2

75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Auseinandersetzung mit der Medizin in Krieg und NS-Zeit ferner die daran anschlieszligende bdquoGeschichtspolitikldquo so aktuell wie eh und je Insofern ist das Buumlchlein des ehemaligen Freiburger Historikers Bernd Martin ein interessanter Diskussionsbeitrag und zugleich selbst ein Element der erwaumlhnten Geschichtspolitik Die Broschuumlre besteht fast zur Haumllfte (S 77ndash141) aus in Faksimile abgedruckten Dokumenten uumlberwiegend Aktenstuumlcken die sich auf Franz Buumlchner beziehen

(Haupt-)Gegenstand des Buches ist das Wirken zweier bedeutender Pathologen des 20 Jahrhunderts ndash die Rede ist von Ludwig Aschoff (1866ndash1942) Leiter der Freiburger Pathologie von 1906 bis 1936 und von Franz Buumlchner (1895ndash1991) seinem Nachfolger in den Jahren von 1936 bis 1963 In einem Vorwort legt Martin seine eigene Motivation dar sich des Themas anzunehmen Dass der Verfasser die Geschichte der Medizin als Betaumltigungsfeld der Medizinhistoriker und sich selbst als bdquoLaienldquo bezeichnet weist auf ein problematisches Selbstverstaumlndnis der eigenen Rolle Seit Jahrzehnten wird was Mar-tin entgangen zu sein scheint die Geschichte der Medizin in Deutschland und weltweit uumlberwiegend von HistorikerInnen bearbeitet Entscheidend fuumlr den wissenschaftlichen Wert medizinhistorischer Arbeiten sind nicht medizinische Spezialkenntnisse sondern die in der Geschichtswissenschaft uumlblichen Standards

Worum es Martin geht wird in der Einleitung recht schnell deutlich Er beklagt das Fehlen einer bdquoEinsicht in eine Art akademische Kollektivschuldldquo (S 9) der deutschen Professoren allgemein und Franz Buumlchners im Besonderen Weniger klar scheint jedoch die Argumentation oder liegt vielleicht ein Versaumlumnis des Lektorats vor () wenn es weiter heiszligt bdquoDieser Irrweg der Freiburger Pathologie [hellip] endete nicht 1945 [hellip] son-dern haumllt als fruchtbare Diskussion zum Nutzen der historischen und auch medizinischen

727Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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historische Phase an Optionen erinnert und somit die Zukunftsoffenheit schulpolitischer Fragen im Bewusstsein gehalten Auch wenn der Aufbau des Werkes grundsaumltzlich einer Chronologie verpflichtet ist brechen immer wieder gekonnt thematische Schwerpunkt-setzungen ndash wie etwa die Geschlechterspezifik konfessionelle Bildung Privatschulen oder das heil- und sonderpaumldagogische Angebot ndash vorschnell imaginierte zeitliche Stringenzen So wird die politikgeschichtlich getriebene Tendenz schulhistorische Epochenabgrenzungen seit der zweiten Haumllfte des 19 Jahrhundert entlang der Amts- perioden von jeweiligen Erziehungsdirektoren vorzunehmen gleichsam selbstreflexiv bearbeitet auch wenn eine gewisse Bewunderung fuumlr die den Erziehungsdirektoren Klein und Hauser zugeschriebenen Leistungen zu bemerken ist Die Einteilung einer Bil-dungsgeschichtsschreibung mit klar abgrenzbaren Zeitabschnitten wird abgeschwaumlcht zugunsten einer Darstellung mit ausgefransten Raumlndern unerwarteten Bruumlchen und holprigen Uumlbergaumlngen

Zum Schluss seien noch wenige Kritikpunkte genannt die auf die Auslotung weiteren Potentials dieses verlaumlsslichen Zugriffs zielen Das von Felder herangezogene vielfaumlltige Material haumltte es zugelassen noch deutlicher von den Versuchen zu berichten politische Entscheidungen durch wissenschaftliche zu ersetzen Andeutungen hierzu finden sich durchaus im Buch z B hinsichtlich des fruumlhen Sprachenlernens Der problematische Gebrauch von (Bildungs-) Wissenschaften als Wahrheitsinstanz in der Bildungspolitik und das Aufkommen von alternativen Epistemologien in einigen reformpaumldagogischen Ansaumltzen sowie die damit zusammenhaumlngende Abkehr von Wissenschaftsexpertise haumltte man als Untersuchungsgegenstand das Volksschulfeld in seinem Gewordensein und als Verhandlungsort gesellschaftlicher Uumlberzeugungen noch schaumlrfer konturieren koumlnnen Diese gewisse Unschaumlrfe gegenuumlber der Frage wie das weite Feld der Volksschule durch verschiedene Akteure Wissen und Kulturen gemeinsame Deutungen scharfe Konflikte und kaum hinterfragte Alltagsroutinen angetrieben wurde und wird koumlnnte Anlass sein die Studie Felders der viele Leserinnen und Leser zu wuumlnschen sind als Ausgangspunkt fuumlr weitere Forschungsbewegungen zu sehen

Andreas Hoffmann-Ocon

Isabell ARNSTEIN Die Geschichte der Zentralgewerbeschule Buchen (Zwischen Neckar und Main Schriften des Vereins Bezirksmuseum Buchen eV Bd 36) Baden-Baden Tectum-Verlag 2019 160 S Abb geb EUR 36ndash ISBN 978-3-8288-4334-9

Ein wenig widersprechen Titel und Abstract der vorliegenden Publikation einander schon wenn zu Beginn des letzteren formuliert wird die Studie gehe bdquoauf die Entwick-lung des Gewerbeschulwesens in Baden ein und leg[e] dabeildquo (lediglich) bdquoein besonde-res Augenmerk auf die Entwicklung der heutigen Zentralgewerbeschule Buchen (ZGB)ldquo (S XIII) Doch die Frage ob man es nun mit einer klassischen Schulchronik zu tun hat wie der Titel indiziert oder mit einer exemplarischen historischen Untersuchung wie es das Abstract nahelegt muss vielleicht gar nicht entschieden werden ndash zumal die doppelte Ausrichtung als Zielsetzung und wesentliche Staumlrke des Buches zugleich verstanden wer-den darf So gelingt es Arnstein die Schulgeschichte durch zwei einfuumlhrende Abschnitte zur historischen Situation im Groszligherzogtum Baden um die Entstehungszeit der Schule Mitte des 19 Jahrhunderts herum (S 35) sowie zur Entwicklung der gewerblichen Bil-dungsidee vom Mittelalter bis zur Institutionalisierung der Gewerbeschule in Baden (S 7ndash22) nicht nur zu kontextualisieren sondern sie schaumlrft auch immer wieder den Blick fuumlr Besonderheiten Chancen und Probleme dieses innovativen Konzepts das die

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Wissenschaft bis heute anldquo Nachdem solcherart (un-)klar ist worauf die Publikation zielt skizziert das erste Kapitel sehr knapp die bdquoPathologie im Wandel der Zeitldquo Die fuumlr die Pathologie vor und nach 1900 wesentliche Methode der Erkenntnisgewinnung die klinische Sektion erscheint bei Martin in einem merkwuumlrdigen Licht Einige Motive die mehr uumlber den Verfasser als uumlber die Pathologie verraten kehren hier und spaumlter immer wieder So erfaumlhrt man der Pathologe sei keine bdquoeinfuumlhlsame mitleidende Be-zugspersonldquo gewesen Dass die Pathologie seinerzeit und bis heute in der klinischen Diagnostik und Therapie eine entscheidende Rolle spielt ist Martin nicht klar Fuumlr ihn sind Pathologen bdquoetwas zuruumlckhaltende Menschenldquo die auf Forschung fixiert (gewesen) seien An anderer Stelle heiszligt es apodiktisch bdquoAuf dem Irrweg der Pathologie Forschung uumlber den Menschen zu stellen folgte Buumlchner seinem Lehrer Aschoffldquo (S 73)

Solcherart eingestimmt wird der Leser im zweiten kurzen Kapitel mit Ludwig Aschoff konfrontiert Die folgenden Abschnitte circa zwei Drittel des Textes (S 21ndash75) befassen sich mit dem Wirken Franz Buumlchners Martin stuumltzt sich hierzu auf archivalische Quellen darunter den Nachlass Franz Buumlchners und zeichnet insbesondere die Geschichte des von Buumlchner geleiteten bdquoInstituts fuumlr Luftfahrtmedizinische Pathologie des Reichsluft-fahrtministeriumsldquo nach Hier geht es dem Verfasser neben einer historischen Rekon-struktion von Forschungsfragen und -verbuumlnden insbesondere darum Buumlchner in die Naumlhe von Menschenversuchen zu bringen Die Rede ist von den Dachauer Menschen-versuchen zu Unterdruck und Unterkuumlhlung Martin referiert zum einen auf der Basis von archivalischen Quellen und (aumllterer) Forschungsliteratur die erwaumlhnten Human- experimente die auch Gegenstand des Nuumlrnberger Aumlrzteprozesses waren Zum ande- ren versucht er Franz Buumlchner den er schlankweg als bdquoaumlrztlichen Vorgesetzte[n] von Rascherldquo (S 43) bezeichnet in eine direkte Naumlhe der KZ-Versuche zu bringen Martin nennt dies bdquonicht leicht zu beantwortende Fragenldquo (S 43) aber in Wirklichkeit handelt es sich um Spekulationen ohne Quellenbasis Charakteristisch fuumlr die Arbeitsweise des Autors ist dass er derartige Spekulationen geschickt vermischt mit historisch beleg- ten Ereignissen wie Buumlchners Teilnahme an der Nuumlrnberger Tagung im Oktober 1942 waumlhrend der die Dachauer Menschenversuche referiert wurden Bekannt und in der Forschungsliteratur oft und ausfuumlhrlich behandelt ist die Kontroverse um die Frage ob bzw dass Buumlchner nicht offiziell gegen die Menschenversuche protestiert habe Martin stellt die Zusammenhaumlnge verkuumlrzt dar ihm geht es darum dass Buumlchner ruumlckblickend eine bdquoFalschaussageldquo gemacht habe Die Quellenverweise lassen jedoch Fragen offen da Martin nicht genau zitiert Wenn es konkret werden sollte verwendet er gerne Aus-fluumlchte Ein wichtiges Detail bdquoist nicht zu klaumlrenldquo (S 46) im naumlchsten Satz erwaumlhnt er bdquoweitere Indizien fuumlr eine moumlgliche Verstrickung Buumlchnersldquo Hier geht es um einen Aufsatz im Zentralblatt fuumlr Chirurgie (Bd 70 1943 S 1553ndash1557) Im Aufsatz so Martin verfasst von August Weltz bdquokommen die Namen von Rascher Holzloumlhner und Buumlchner in losem Zusammenhang vorldquo (S 46) Und fast triumphierend fuumlgt er hinzu bdquoDer entsprechende Zeitschriftenband fehlt sowohl in der Freiburger Universitaumltsbiblio-thek als auch in der Bibliothek der Chirurgieldquo Ob das stimmt konnte ich nicht pruumlfen aber darum scheint es auch nicht zu gehen Vielmehr soll die Phantasie des Lesers in eine bestimmte Richtung gelenkt werden vom bdquolosen Zusammenhangldquo zum Verschwin-den eines Bandes Doch bleibt es nicht beim Spekulieren Martin behauptet (S 43) bdquoein Professor Buumlchnerldquo sei in einem Schreiben an Himmler als Referent einer Tagung genannt Das als Quelle angegebene Dokument ist in der Broschuumlre in Faksimile (S 93) abgebildet Dort sind einige Namen erwaumlhnt aber derjenige Buumlchners ist nicht darunter

728 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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weiteren Skizzierung des zeitgenoumlssischen bildungspolitischen Klimas zieht der Autor die Aufbruchstimmung rund um die eidgenoumlssische Abstimmung zum nationalen Frauenstimmrecht aber auch einen ersten Gesamtschulversuch im Kanton Solothurn oder den Cycle drsquoorientation in Genf als Umsetzung hinzu die Volksschuloberstufe durch- laumlssiger zu gestalten Eine neue Subjektkultur fuumlhrte zur Veraumlnderung der Schuumllerrolle traditionelle Unterrichtsformen wurden durch neue ergaumlnzt auch durch die visionaumlr erscheinende Einrichtung von Sprachlaboratorien in den 1960er- und 1970er Jahren Diese versprachen zunaumlchst mit einer neuen Sprachdidaktik effizientes und individua- lisiertes Lernen ndash werden aus der Retrospektive dennoch treffend als dem Zeitgeist ge-schuldeten Ausdruck technokratischer Begeisterung gedeutet (S 234) Die Einfuumlhrung von Versuchsschulen fand zu Beginn der 1970 Jahre in Basel kaum Akzeptanz eine wei-tere Mobilisierung der an Schule beteiligten Akteure reichte lediglich fuumlr eine defensive bdquoinnere Schulreformldquo (S 248) die das Basler Problem der Fruumlhselektion nach vier Pri-marschuljahren unbearbeitet belieszlig Eine durch die Politik angestoszligene Mittelstufen- reform ndash die Einfuumlhrung einer dreijaumlhrigen Orientierungsschule an welche mit dem gym-nasialen Bildungsgang oder mit dem Besuch einer zweijaumlhrigen Weiterbildungsschule angeschlossen werden konnte ndash erschien 1988 zunaumlchst als kompromisshafter Weg fand jedoch auf Dauer keine Akzeptanz (S 264) Wie eine gut gemeinte zusaumltzliche Maszlig-nahme die Einfuumlhrung von Klassen mit erweiterten Musikunterricht von privilegierten Eltern zur Distinktion gegenuumlber Migrationsfamilien die weniger Naumlhe zur schweizeri-schen Musikkultur aufwiesen obstruktiv genutzt wurde und so die weitere Erosion der neuen Orientierungsschule vorantrieb zeigt Felder feinsinnig auf Damit regt der Autor zum weiteren Nachdenken uumlber Bildungsreformen an die Chancengerechtigkeit in einer integrativ gedachten Schulform anpeilen und trotzdem soziale Selektionen ohne recht- lich definierte Leistungskriterien nach sich ziehen (S 270) Felders eingangs erfolgter Hinweis auf den politisch verbraumlmten und sbquoverbranntenlsquo Begriff der Volksschule an der Schwelle zum 20 Jahrhundert scheint sich ebenfalls als weiterfuumlhrend hinsichtlich des Begriffs bdquoVersuchsschuleldquo zu Beginn des 21 Jahrhunderts zu bestaumltigen Um Detailliert-heit bemuumlht hebt er hervor dass die Schulgesetzgebung oftmals jahrelang bewaumlhrter Praxis folgte und verweist auf die seit 2010 bestehende Moumlglichkeit im Kanton Basel-Stadt eine bdquoErfahrungsschuleldquo einzurichten wie dies inzwischen mit einem befristeten Projekt geschehen ist das altersdurchmischte Klassen und offene Lernateliers vorsieht (S 310)

Insgesamt widersteht das Uumlberblickswerk Felders uumlberzeugend der Versuchung eine unkritische Erfolgsgeschichte der Volksschule zu leisten um etwa die jeweiligen reform-skeptischen Akteure als Statisten nachtraumlglich in das bereits feststehende Bild zu inte-grieren Der Autor wendet sich gegen vorschnelle Synthesen und weicht dem Eindruck eines geschlossenen Modells von Schulentwicklung aus Auch wenn Uumlberblicksdar- stellungen zur vergangenen Lehrpersonenbildung gehoumlrten handelt es sich mit dieser Studie nicht um eine sbquoSchulmaumlnnerlehrelsquo die etwa ein Berufsverstaumlndnis zukuumlnftig Unterrichtender stabilisieren und in eine Richtung leiten moumlchte Vielmehr legt Felder eine materialnahe und streckenweise mikroskopische Beschreibung vor die auch viel Neues aus bildungspolitischen und schulkulturellen Spannungen und zeitgenoumlssische Wahrnehmungen der untersuchten Perioden herausdestilliert das aus aktuellen Schul- debatten nicht einfach ableitbar ist Widerspruumlche in ihrer Zeit werden betont ohne eine Gegengeschichte von eigensinnigen oder widerstaumlndigen Alternativen anzustreben Mit einem beachtlichen Rechercheaufwand wird in der Annaumlherung an die jeweilige

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Martin hat also so der ernuumlchternde Befund seine eigenen Quellen an den entscheiden-den Punkten nicht (richtig) gelesen Andere Kapitel der Broschuumlre haben mit Buumlchner nichts und mit der Freiburger Pathologie wenig zu tun Deutlich wird dass der Autor fuumlr das Fach Pathologie kein Verstaumlndnis hat denn er bemaumlngelt entsprechend dem schon erwaumlhnten Grundmotiv nach dem 27 November 1944 blieben die bdquoPathologen die ohnehin als praktische Aumlrzte kaum eingesetzt werden konnten noch immer staumlrker auf die Forschung fixiert als auf die (leidenden) Menschenldquo (S 53) Dass sich Buumlchner durch die Explosion einer Zeitzuumlnderbombe in den Truumlmmern seines Instituts erheblich verletzt nach Hinterzarten begab nennt Martin ein bdquoAbtauchenldquo woruumlber bdquovermutlich [] auch in den Reihen der houmlheren Sanitaumltsoffiziere Geruumlchte kursiertenldquo (S 53) Ein im Januar 1945 von Buumlchner verfasstes Schreiben an Paul Rostock in dem er die Weiterfuumlhrung seiner pathologischen Taumltigkeit und das Wiedererscheinen medizinischer Fachzeitschriften thematisiert ist fuumlr Martin bdquoeine Loyalitaumltsadresse an das Regimeldquo (S 54) Die Werturteile von Martin uumlber Buumlchner sind uumlberwiegend negativ und nicht historisch sondern moralisch belegt Allerdings stellt er auch fest dass Buumlchner weder an toumldlichen Menschenversuchen teilgenommen noch sie gebilligt oder angeordnet habe (S 74)

Eingestreut in die Arbeit finden sich einige Bemerkungen zu Buumlchners oumlffentlichem Vortrag bdquoDer Eid des Hippokratesldquo vom 18 November 1941 den Martin bdquoungewoumlhnlich aumluszligerst mutigldquo nennt (S 35) Ungeachtet dieser recht positiven Einschaumltzung ist die Dar-stellung die er gibt tendenzioumls verkuumlrzend und nicht dem Forschungsstand entspre-chend Auch hinsichtlich der sog bdquoAktion T 4ldquo (Krankenmord) und deren Fortsetzung seit Herbst 1941 scheint Martin nicht recht im Bild zu sein Die Fehler stecken im Detail und sie sind (zu) zahlreich So ist der Titel des Vortrags nicht richtig wiedergegeben er lautete auch am 18 November 1941 bdquoDer Eid des Hippokratesldquo und nicht erst nach Kriegsende bei der Erstpublikation (S 59) Der in der NS-Zeit singulaumlre Protest eines Medizinprofessors gegen den Krankenmord denn darum handelte es sich bei Buumlchners Vortrag hatte in der Tat eine breite Rezeptionsgeschichte nach 1945 Martin bemerkt hierzu malizioumls Buumlchner habe sich mit der Publikation bdquoein Denkmal als Widerstands-kaumlmpferldquo gesetzt dem Autor sind die komplexen Vorgaumlnge und Strukturen der bdquoVergan-genheitsbewaumlltigungldquo die seit 1945 und bis heute in Schuumlben verlaumluft offensichtlich unklar geblieben Buumlchner hatte die ambivalente Rolle der Medizin im NS-Staat nicht nur bemerkt und in seiner eigenen Person mitgetragen sondern er hatte unmittelbar nach Kriegsende auch innerhalb der Medizinischen Fakultaumlt fuumlr eine differenzierte Auseinan-dersetzung geworben Dass eher die NS-Vergangenheit verdraumlngt und Belastete weit- gehend reintegriert wurden gehoumlrt zur problematischen Geschichte der Medizinischen Fakultaumlt der Freiburger und aller anderen im Kontext der ersten Nachkriegsjahre Be-sonders fuumlr Freiburg war dass mit dem Vortrag Buumlchners vom November 1941 ein dokumentierter Protest vorlag der ruumlckschauend als eine Art bdquoGemeinschaftsleistungldquo der Fakultaumlt ausgegeben wurde Buumlchner hatte jedoch im November 1941 alleine gestan-den und keinerlei Unterstuumltzung vonseiten seiner Fachkollegen erhalten Gleichwohl war er nach 1945 bereit die erwaumlhnte Umdeutung seines Vortrags zu einem gemeinschaft- lichen Protest mit zu tragen Hier erwies er sich als pragmatischer Hochschulpolitiker Die moralisierende Deutung der komplexen Vorgaumlnge wie Martin sie vornimmt greift jedenfalls zu kurz und entspricht nicht dem historischen Forschungsstand Dass der Ver-fasser des Bandes bei dieser Arbeitsweise kein konsistentes Bild Buumlchners schaffen kann liegt auf der Hand

729Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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gesellschaftlichen Kreisen Aumlngste vor der Entchristlichung der Schule oder vor der Dominanz des Kognitiven ausloumlsen

Mit welchen paumldagogischen Maszlignahmen im Unterricht oder institutionell mit (priva-ten) Schulneugruumlndungen nach einer kindgerechten Erziehung gesucht wie mit dem Schulgesetz von 1929 mehr Mitsprache von Lehrpersonen Eltern sowie Schuumllern erzielt wurde und wie in Kriegs- und Krisenzeiten der Schulbetrieb sich veraumlnderte sind Fragen denen in den Kapiteln 7 8 und 9 nachgegangen wird Der Bogen vielgestaltiger Strouml-mungen der Reformpaumldagogik und ihrer Kritiker wird hier weit gespannt Waumlhrend die Prinzipien der Arbeitsschule die Volksschule derart praumlgen konnten dass Handarbeits-unterricht nach 1929 als Pflichtfach in die Volksschule ndash jedoch geschlechtsspezifisch ausgerichtet ndash aufgenommen wurde (S 166) fuumlhrten andere Ausrichtungen zu Gruumlndun-gen von Privatschulen etwa zu den Rudolf-Steiner-Schulen die wiederum Einfluss auf die oumlffentliche Volksschule nahmen Das Schulgesetz von 1929 wird nicht nur einfach mit seinen Ergaumlnzungen zum Schulsystem von 1880 abgehandelt sondern mit der Ver-schiebung des fruumlheren auch in die Bildungspolitik hineinspielenden Gegensatzes von bdquoliberal gegen konservativldquo hin zur bdquoPolarisierung zwischen sozialistisch und buumlrgerlichldquo breit kontextualisiert (S 188) Dem sozialdemokratisch pragmatisch agierenden Erzie-hungsdirektor Fritz Hauser gelang es ein Schulgesetz vorzulegen gegen das kein Refe-rendum ergriffen wurde Aus seiner Sicht hatte die gewuumlnschte Akzeptanz ihren Preis Zwar konnten u a Maturitaumltskurse fuumlr Berufstaumltige eingefuumlhrt die bisher freiwillige Schulsynode in ein staatliches bdquolegales Parlament der Lehrerschaftldquo (S 196) uumlberfuumlhrt Mitspracherechte fuumlr Eltern sowie Schuumller und Schuumllerinnen etabliert und eine Lehrer-bildungsinstitution fuumlr alle Schultypen aufgebaut werden Aber buumlrgerliche Kreise bekaumlmpften weiterhin eine zeitliche Verkuumlrzung der Maturitaumltsschulen zugunsten einer laumlngeren Phase der Volksschuloberstufe resp spaumlteren Sekundarstufe I Die Gymnasien wurden in verschiedene Typen differenziert zu denen nun auch das Maumldchengymnasium als ehemalige Toumlchterschule gehoumlrte Mit dem Blick auf Kriegs- und Krisenzeiten wird deutlich wie der Unterrichtsalltag durch Unterbrechungen und Ausfall gepraumlgt sein konnte Anlaumlsslich der Spanischen Grippe zum Ende des Ersten Weltkrieges fiel die Schule fuumlr acht Wochen aus und ein Schulhaus musste zum Grippespital umgeruumlstet werden (S 203) Als in einer wahrgenommenen Phase der sozialen Not 1922 das Berufs-verbot fuumlr verheiratete Lehrerinnen eingefuumlhrt wurde konnte es sich bis 1965 halten Eindruumlcklich ist wie deutlich die Schulrituale mit Gedenkfeiern Ausfluumlgen und Geschen-ken ab den 1930er Jahren von der Geistigen Landesverteidigung beeinflusst waren (S 209)

Die letzten fuumlnf Kapitel befassen sich mit der Bildungsexpansion in der Nachkriegs-zeit der damit zusammenhaumlngenden Mittelstufenreform der kulturellen Heterogenitaumlt und dem (limitierten) Beitrag der Volksschule zur sozialen Kohaumlsion dem Reformmodell der teilautonomen Lern- und Lebensraumlume der Sonderpaumldagogik zwischen Aussonde-rung und Integration und dem Anschluss der Volksschule des Kantons Basel-Stadt an die gesamtschweizerische Entwicklung seit den 1970er Jahren Um die zweite Haumllfte des 20 und die knapp ersten beiden Jahrzehnte des 21 Jahrhunderts schulgeschichtlich pro-duktiv zu erschlieszligen hat Felder mit dem vom Bevoumllkerungswachstum getriebenen Anstieg der Schuumllerzahlen und beschaumlftigten Lehrpersonen mit der Verlaumlngerung der Schullaufbahnen und der Oumlffnung der Schulangebote fuumlr neue Gruppen sowie mit der Ausschoumlpfung der Begabungsreserven als (wiederkehrendes) Gebot der Stunde einen plausiblen Hintergrund fuumlr eine umfassende Betrachtung geschaffen (S 220) Zur

735Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Viele in der Forschungsliteratur unterdessen genau rekonstruierte Vorgaumlnge werden von Martin vergroumlbernd unscharf dargestellt wofuumlr noch ein Beispiel genuumlgen moumlge dem KZ-Arzt Hoven der in Freiburg 1943 mit der Bestnote promoviert worden war wurde im April 1947 der Doktorgrad entzogen Martin behauptet dies sei geschehen bdquoals er wegen toumldlicher Fleckfieberversuche an Haumlftlingen im Nuumlrnberger Aumlrzteprozess zum Tode verurteilt worden warldquo (S 65) Richtig ist dass Hoven depromoviert wurde aber wegen Betrugs ndash ein anderer hatte seine Dissertation geschrieben Im April 1947 befand sich Hoven in amerikanischer Haft der Prozess begann erst im Dezember 1947 Von der neueren Literatur vermisse ich unter anderem die Arbeit von Nadine Kopp Die Medizinische Fakultaumlt Freiburg 1945 bis 19691970 Entwicklungslinien und Prota- gonisten im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Oumlffentlichkeit Frankfurt am MainBerlinBern u a 2015 ferner den Katalog der Ausstellung zur NS-Zeit in Freiburg (2016) und die daran anknuumlpfende Publikation von P Kalchthaler T v Stockhausen (Hg) Freiburg im Nationalsozialismus Freiburg 2017 Ungenauigkeiten und Fehler bei der Schreibweise von Namen historischer Personen und Autoren der Sekundaumlrliteratur sind bei Martin auszligerordentlich haumlufig und haumltten von einem Lektorat profitiert Buumlchner der ein Universitaumltsinstitut leitete wird als bdquoChef einer Universitaumltsklinikldquo (S 72) und als bdquoKlinikchefldquo (S 72) bezeichnet Das Buumlchlein ist leider auch technisch recht nach-laumlssig gefertigt die Klebebindung loumlst sich nach einmaligem Lesen auf Fazit Martin hat ein quellenreiches Buumlchlein uumlber Franz Buumlchner vorgelegt das seinem Anspruch ndash der Uumlberfuumlhrung der Hauptperson ndash allerdings nicht gerecht wird nicht gerecht werden kann sei hinzugefuumlgt Drei Generationen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die historische Forschung weiter geschritten Martins moralisierender Standpunkt wirkt ana-chronistisch Auszligerdem merkt man zu deutlich dass er den Protagonisten seines Buches nicht mag Das muss auch nicht sein sollte aber die historische Kritikfaumlhigkeit nicht beeinflussen Eine Chance vertan

Karl-Heinz Leven

Clemens BRODKORB Dominik BURKARD (Hg) Der Kardinal der Einheit Zum 50 Todes-tag des Jesuiten Exegeten und Oumlkumenikers Augustin Bea (1881ndash1968) (Jesuitica Bd 22) Regensburg Schnell amp Steiner 2018 512 S Abb geb EUR 4995 ISBN 978-3-7954-3350-5

In Augustin Beas Geburtsort Riedboumlhringen wo ein ruumlhriger Foumlrderverein u a durch das im Geburtshaus des Kardinals eingerichtete Museum die Erinnerung an den groszligen Kirchenmann wachhaumllt konnte im November 2018 anlaumlsslich der Gedenkfeier zum 50 Todestag des Kardinals in Anwesenheit des Freiburger Erzbischofs Stephan Burger der vorliegende Band der Oumlffentlichkeit vorgestellt werden Es handelt sich dabei um eine nicht nur aumluszligerlich gewichtige Veroumlffentlichung die die bisherige Bea-Forschung buumlndelt und um wesentliche neue Erkenntnisse ergaumlnzt Sie bildet somit eine solide und detailreiche Grundlage fuumlr weitere Studien uumlber das Wirken des Kardinals als Jesuit Exeget und Oumlkumeniker ndash so der Untertitel ndash sowie als Mann der Kurie Wenn in seinem Wirken sein Einsatz als Praumlsident des damaligen Sekretariats fuumlr die Einheit der Christen fuumlr das Zweite Vatikanische Konzil in einer gewissen Weise im Mittelpunkt steht so ver-weist dies darauf dass mit dem Andenken Beas auch die ihm mitzuverdankende bdquooumlku-menische Grundausrichtung der Konzilsbeschluumlsseldquo (so Beas Nachfolger Kurt Kardinal KOCH in seinem Gruszligwort S 7) bleibende Verpflichtung ist

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Die 16 Beitraumlge des Bandes sind in drei Abschnitte unterteilt die sich Beas Dienst am Orden an der Weltkirche und an der Verstaumlndigung widmen Damit ergibt sich eine klar gegliederte und profunde Zusammenschau eines weitverzweigten Schaffens Den ersten Teil eroumlffnet Clemens BRODKORB mit einer ausfuumlhrlichen Praumlsentation der Taumltigkeiten Beas im und fuumlr den Jesuitenorden und arbeitet dabei insbesondere auch die jesuitische Praumlgung des Bauernsohnes von der Baar heraus Klaus SCHATZ widmet sich Beas Zeit als Provinzial in den zwanziger Jahren Franz-Josef MOHR und Dominik BURKARD seiner Japan-Visitation am Ende dieses Jahrzehnts Mit den 1930er Jahren beginnt der Einsatz Beas fuumlr die Weltkirche zunaumlchst als Rektor des Paumlpstlichen Bibelinstituts und Konsultor der Paumlpstlichen Bibelkommission Klemens STOCK kann hier zeigen wie das beharrliche und praumlzise Arbeiten Beas dazu beitrug die katholische Exegese langsam aber sicher zu veraumlndern und jene Oumlffnungen vorzubereiten die das Zweite Vatikanische Konzil dann ermoumlglichte Michael PFISTERS Beitrag uumlber Beas Bibelauslegung am Beispiel der Sintfluterzaumlhlung der um die entscheidenden Details ebenso weiszlig wie um deren Zusam-menhang mit den groszligen Linien ist ein gelungenes Beispiel fuumlr eine theologiegeschicht-liche Einordnung des Wirkens Beas in einem Gelaumlnde das vor dem Konzil in mehrfacher Hinsicht vermint war Matthias DAUFRATSHOFER und Dominik Burkard gehen in zwei Beitraumlgen Beas Wirken im Umfeld Piuslsquo XII sowie des Sanctum Officium nach und zeigen wie Bea sowohl offiziell wie auch informell und gelegentlich unter Nutzung bdquoflacher Hierarchienldquo (vgl S 188) Loyalitaumlt und Situationsoffenheit zu verbinden wusste ndash zwar in den vor dem Konzil gesetzten Grenzen aber durchaus auch die grundsaumltzlichen Prob-leme der kirchlichen und theologischen Ablaumlufe vor dem Konzil erspuumlrend Bei-spielsweise zeigt sich im Briefwechsel mit dem Oumlkumeniker Otto Karrer dessen Werk indiziert wurde der lange Atem des Bauernsohnes von der Baar wenn Bea Karrer troumlstet bdquoIch darf Ihnen aber doch sagen dass wir uns (gewisse Kreise) bemuumlhen gewissen Un-zutraumlglichkeiten den Boden zu entziehen Aber das geht langsam Jahrhunderte ziehen tiefe Furchenldquo (S 202) Nicht zuletzt solches Gespuumlr machte Bea die epochale Bedeutung des Konzils bewusst Sandra MAROTTAS gelungener und hintergruumlndiger Beitrag widmet sich der Zusammenarbeit Beas mit Lorenz Kardinal Jaeger einem weiteren wichtigen Impulsgeber und Schrittmacher der Oumlkumene Dabei weist sie aufgrund neuer Archiv- recherchen nach dass wohl doch Bea bei der lange Zeit eher Kardinal Jaeger zugeschrie-benen Initiative Papst Johannes XXIII eine bdquoCommissioldquo zur Foumlrderung der Einheit der Christen zu errichten der entscheidende Anteil zukommt Wie dem auch sei das bdquoTandemldquo Bea-Jaeger konnte nicht zuletzt dank Beas Einvernehmen mit Johannes XXIII wirkungsvoll agieren ndash obwohl Marotta Hinweise ausmacht dass Bea zunaumlchst bdquoeher zufaumlllig und ohne unmittelbare Veranlassung auf die Liste der neuen Kardinaumlle gelangt istldquo (S 232) dann freilich uumlber die erste Begegnung mit dem Papst sagte bdquoWir haben uns vollkommen verstandenldquo (S 233) Ein besonderes Kleinod insbesondere fuumlr Leserinnen aus dem Erzbistum Freiburg stellt die ausfuumlhrliche Untersuchung von Dominik Burkard und Christoph SCHMIDER dar in der sie akribisch Beas Positionierungen und Aktivitaumlten rund um die Freiburger Bischofswahl des Jahres 1958 nachgehen und dabei sowohl ein aufschlussreiches Portraumlt des Kirchenpolitikers Bea als auch ndash geradezu ein kleines Freiburger bdquowho is wholdquo beinhaltend ndash der Stimmungslage in dessen Hei-matbistum vorlegen Bei aller Freude an den hervorragend dargestellten dioumlzesan- geschichtlichen Details ist dieser Beitrag aber auch grundsaumltzlich fuumlr das Verstaumlndnis der Kirche am Vorabend des Konzils von Interesse an dem der schlieszliglich gewaumlhlte Erz- bischof Hermann Schaumlufele dann als Konzilsvater teilnahm Weniger uumlberraschend aber

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einander existierenden teilweise sich konkurrierenden Praktiken des Schulehaltens zur Sprache bringen und ins Bild setzen will wie Lehren und Lernen sich im Alltag abge-spielt haben koumlnnte So wird deutlich dass Liederbuumlchlein Katechismen Psalmensamm-lungen oder das Evangelium zur Grundlage eines repetitiven elementaren Unterricht- ganges zumeist nur fuumlr Knaben und somit als Lehrmittel fuumlr den Leseerwerb verwendet wurden obgleich sie nicht fuumlr diesen Gebrauch geschaffen waren (S 26 f) Neben Ab-bildungen zu diesen bdquouneigentlichenldquo Schulbuumlchern taucht wenige Seiten spaumlter ein Bild mit Silbermuumlnzen auf welche mit einem Baselstab dem Muumlnster oder einer Minerva versehen waren mit denen der Schulordnung des Gymnasiums zufolge besonders fleissige Schuumller belohnt wurden (S 41) In der Verbindung der Unterrichtsalltaumlglichkei-ten mit den seinerzeit der Schulkommission des Grossen Rates vorgelegten Vorschlaumlgen des christlich-humanistischen Aufklaumlrers Isaak Iselins fuumlr eine Schulreform ndash also mit den geteilten Deutungen und Ordnungsvorstellungen einer kritischen buumlrgerlich-geistigen Elite die trotz Standes- und geschlechtertypologischen Uumlberlegungen zentrale Gedanken einer Volksschule vorwegnahmen ndash entwickelt Felder sachkundig eine fast historisch-praxeologische Perspektive

Die Kapitel 4 5 und 6 widmen sich in der Interpretation des Autors einem bildungs-historischen Kippmoment und den daran anschlieszligenden Folgekonflikten der Begruumln-dung der Volksschule welche im Schulgesetz von 1880 Ausdruck fand dem Streit um Laizismus und Religion sowie der Konsolidierung des neuen Unterrichtswesens bis in die 1930er Jahre Mit dem ersten linksfreisinnigen Vorsteher des Erziehungsdeparte-ments Wilhelm Klein tauchten nach der Abschaffung des Ratsherrenregimes durch die Kantonsverfassung von 1875 neue Optionen und neues Wissen auf das Bildungswesen weiterzudenken Kleins erster Entwurf sah vor dass alle Basler Kinder gemeinsam fuumlnf Jahre in die Primarschule und drei Jahre in die Sekundarschule gehen waumlhrend die Auf-teilung in parallele leistungsdifferenzierte Schultypen erst danach erfolgen sollte Das Gymnasium so zur nachobligatorischen Schulstufe zu bdquodegradierenldquo galt in der Zeit davor als unsagbar und wurde von der standesbewussten staumldtischen Buumlrgerschaft auch als Affront aufgefasst (S 85) Derartige Beispiele nimmt Felder gekonnt auf und weitet das Blickfeld indem er die historischen Bedingungen aufzeigt wie eine fruumlhe Idee von der Ausschoumlpfung der Begabungsreserven mit Verweis auf das Zuumlrcher Unterrichtsgesetz von 1832 erst Relevanz bekommen konnte um dann in einer einsetzenden Polyphonie von Gegenstimmen abgeschliffen zu werden und in Kleins Abwahl zu enden Mit der- artigen Zugriffen betont der Autor dass neue Konzeptionen im Bildungsbereich nicht in einem Vakuum auftreten Zuvor ereignen sich auf politischen kulturellen und wissen-schaftlichen Feldern Abloumlsungen und Verschiebungen Bildungspolitische Verfechter des Neuen benoumltigen vorgaumlngige leidenschaftliche Debatten und neues Wissen eben Mate-rial das dann weiter umgestaltet als vorbildhaft und traditionsorientiert markiert werden kann so dass etwa ein Schulgesetzentwurf nicht zu sehr als Zaumlsur wahrgenommen wird Der Ausbau der Volksschule nach 1880 wurde durch ein allgemeines Erneuerungsklima beguumlnstigt So wurden Lehrmittel die den Unterrichtsalltag staumlrker praumlgen als Lehrplaumlne (S 121) unentgeltlich abgegeben nur noch Lehrpersonen mit Lehrpatent angestellt repraumlsentative bdquoSchulpalaumlsteldquo ndash welche mit neuen Schulbaumlnken und Duschen im Zeichen hygienischen Fortschritts versehen waren ndash angesichts des exorbitanten Bevoumllkerungs-wachstums errichtet und Spezialklassen fuumlr schwach begabte Kinder eingefuumlhrt (S 134) Die diesen Wandel begleitenden Sozialtechnologien und paumldagogischen Interventionen u a der Aufbau von schulaumlrztlichen und -psychologischen Diensten konnten je nach

734 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 734

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

nicht weniger informiert sind die Beitraumlge von Nikolaus KLEIN zu Beas Wirken im Ein-heitssekretariat und Joachim BUumlRKLES exemplarische Studie zu den Aktivitaumlten Beas als Konzilsvater

Der dritte und letzte Teil enthaumllt eine wiederum sehr ausfuumlhrliche Studie Dominik Bur-kards uumlber Beas fruumlhe Sondierungen im Umfeld der spaumlteren oumlkumenischen Partner eine von Margarethe HOPF verfasste konzis und kompetent dargestellte bdquofremdprophetischeldquo Perspektive des Heidelberger Theologen und Konzilsbeobachter der EKD Edmund Schlink auf Bea (dieser konnte als Schlinks bdquoSprachrohrldquo [S 455] auf dem Konzil fun-gieren Schlink wiederum als Beas bdquoFuumlrsprecherldquo [S 457] bei den evangelischen Theo-logenkollegen) sowie einen englischsprachigen Beitrag von Susannah HESCHEL uumlber die Freundschaft Beas mit ihrem Vater dem Rabbiner Abraham Joshua Heschel der sich im Umfeld des Konzils groszlige Verdienste um das juumldisch-christliche Verstaumlndnis erworben hat Ulrich RUH schlieszliglich praumlsentiert in gleichsam kongenialer Weise Bea als bdquoMann der Medienldquo

Ein ausfuumlhrlicher Anhang mit Autorenverzeichnis Personen- und Ortsregister macht aus dem Band ein veritables Nachschlagewerk nicht nur fuumlr die Bea-Forschung sondern auch fuumlr die Geschichte der Oumlkumene im 20 Jahrhundert Der Fuumllle der Ergebnisse und Erkenntnisse die fuumlr viele Bereiche der Kirchen- und Theologiegeschichte Froumlmmig-keits- und Mentalitaumltsgeschichte Weiterfuumlhrendes und Bedenkenswertes bereithalten kann man an dieser Stelle nur exemplarisch gerecht werden Umso mehr bleibt als Bilanz der Dank fuumlr eine verdiente und verdienstvolle Wuumlrdigung eines der bedeutendsten Oumlku-meniker des 20 Jahrhunderts Dass dessen Wirken aufbauend auf dem hier dargelegten Wissensstand weiter erforscht wird und somit Inspiration fuumlr weitere Schritte auf dem Weg zur Einheit bleibt kann man den Kirchen und Theologien im 21 Jahrhundert nur wuumlnschen

Michael Quisinsky

Pierre FELDER Fuumlr alle Die Basler Volksschule seit ihren Anfaumlngen (Neujahrsblatt der Gesellschaft fuumlr das Gute und Gemeinnuumltzige Basel Bd 197) Basel Schwabe 2019 382 S Abb Brosch EUR 35ndash ISBN 978-3-7965-3907-7

Historische Abhandlungen zu regionalen oder nationalen Bildungsraumlumen wurden in den letzten Jahren zumeist in Form von Sammelbaumlnden herausgegeben Vielfach wei-sen diese zwar facettenreiche Perspektiven auf laufen teilweise aber auch Gefahr mit einem eher schwachen inhaltlichen Kern Redundanzen zu erzeugen Die einzelnen Beitraumlge sind dann haumlufig auf abgrenzbare bildungshistorische Gegenstaumlnde konzen- triert ndash etwa auf spezifische Schultypen in einer ausgewaumlhlten Epoche auf Lehrmittel zu einem bestimmten Unterrichtsfach auf Lehrpersonenbiographien etc ndash die dann mit recht enggefassten Fragestellungen und Perspektivierungen forschend umkreist werden jedoch weniger dazu geeignet erscheinen einen ganzen Horizont aufzuspannen Pierre Felder Historiker und ehemaliger Leiter der Volksschulen im Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt hat nun eine Geschichte der Basler Volksschule auf knapp 400 Seiten im Alleingang zusammengestellt ndash ein Uumlberblickswerk wie es vom Genre her fruumlher in der Lehrpersonenbildung sehr gebraumluchlich war Auch wenn der zeitliche Rahmen mit der Angabe bdquoseit ihren Anfaumlngenldquo weit gesteckt ist gibt es deutliche Fokus-sierungen u a auf ausgewaumlhlte historische Perioden in der in 15 Kapiteln gegliederten Darstellung Ein Hauptaugenmerk gilt den Zeiten in denen sich in einem Zustand der Unsicherheit in Unterricht Schule Bildungsadministration und -politik konflikthaft

732 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 732

eine neue Praxis zu etablieren beginnt die spaumlter oftmals eine Grundlage fuumlr die Schul-gesetzgebung bildet Zahlreiche Grafiken welche uumlber den geplanten oder beschlossenen Aufbau des Schulsystems nach einer Bildungsreform orientieren Bilder und Quellen-auszuumlge ergaumlnzen Felders Studie die ebenfalls als Nachschlagewerk genutzt werden koumlnnte

Es geht Felder darum generell aufzuzeigen wie sehr sich die Volksschule zu verschie-denen Zeiten als Streitobjekt in der oumlffentlichen Diskussion befand und bildungspoliti-sche Entscheide immer dann auf Akzeptanz bei den je vorherrschenden Entscheidungs- traumlgern aber auch bei dem Souveraumln stieszligen wenn diese offen genug angelegt waren um fuumlr unterschiedliche Interessengruppen Anknuumlpfungspunkte zu bieten Dabei setzt der Autor auf eine nur moderat ausgepraumlgte Theorie- und Thesenleitung die im Ausblick noch einmal bestaumltigt wird Die Herstellung von Homogenitaumlt im Volksschulwesen im Allgemeinen und in Jahrgangsklassen im Speziellen sei ndash trotz haumlufiger Klagen ndash nicht nur eine Illusion sondern auch dysfunktional gegenuumlber unterschiedlichen Bildungs- beduumlrfnissen Um der paradoxen fundamentalen Frage historisch nachzuspuumlren wie die auf Langfristigkeit angelegte individuelle Foumlrderung von Heranwachsenden und ihre Selektion angesichts bildungsbegrenzender Barrieren gegenuumlber sozial marginalisierten Kreisen zugleich in der Volksschule zu gestalten sind sei es lohnend zu erschlieszligen ob und wie in vergangenen Zeiten eine Durchlaumlssigkeit zwischen den verschiedenen Bil-dungswegen hergestellt wurde

In der Einleitung stellt der Autor quasi als Selbstbegrenzung gegenuumlber dem Wunsch nach einer bdquototalen Geschichteldquo (Koselleck 2006) der Volksschule die Differenz von Begriffs- Politik- und Sozialgeschichte dar indem er aufzeigt dass im Kanton Basel faktisch eine Volksschule seit den 1880er Jahren vorherrschte auch wenn der Begriff aus politischen Gruumlnden in den Schulgesetzen bis 1929 nicht erwaumlhnt werden konnte Was sich langfristig ereignet aber sprachlich nicht niedergeschlagen hat das muss einer Quellenkontrolle unterworfen werden Felders Hauptaugenmerk gilt einer auch kultur-geschichtlich sensiblen Praumlsentation der gegenwaumlrtigen Schule als etwas Gewordenes ndash bdquogerade in einer Zeit in der die Schule von einem beispiellosen Wandel ergriffen scheint und den Aumllteren fremd zu werden drohtldquo (S 14) Die einem solchen Prinzip der Gegen-wartsdiagnose innewohnenden normativen Implikationen Schulgeschichtsschreibung etwa als kritische Begleiterin von Bildungsreformen zu verstehen begegnet Felder mit der Reflexion seiner Sprecherposition und Standortgebundenheit Nicht auf eine ein- gaumlngige fortschrittsgeschichtliche Narration in der Art einer Darstellung der immer mehr Bildungsgerechtigkeit und Integration gewaumlhrleistenden Volksschule zielt Felders Zugang sondern vielmehr auf Verflechtungen laufend extern in den Schulbetrieb ein-greifender Kraumlfte die eine Kontinuitaumlt von Konflikten bis heute begruumlnden Mit diesen nicht uumlberbordenden theoretischen Markierungen zeigt Felder einen Weg auf wie die Geschichte der Volksschule im Kanton Basel quellennah zwar in chronologischer Linienfuumlhrung aber dennoch mit dem Blick auf Diskontinuitaumlten Bruumlche und Krisen-momente erzaumlhlt werden kann

Die ersten drei Kapitel befassen sich mit den zeitlichen Abschnitten vor der Begruumln-dung der Volksschule ndash und zwar mit den kaum aufeinander abgestimmten Schulen im Ancien Reacutegime ndash also der Zeit vor der Helvetischen Revolution 1798 ndash mit den Ideen und Plaumlnen zur Bildungsreform waumlhrend der Aufklaumlrung sowie der Phase von Aufbruch und Verweltlichung staumldtischer und laumlndlicher Schulen vor und nach der Kantonstrennung zu Beginn der 1830er Jahre Auffaumlllig ist dass Felder von Beginn an die vielen neben-

733Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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eine neue Praxis zu etablieren beginnt die spaumlter oftmals eine Grundlage fuumlr die Schul-gesetzgebung bildet Zahlreiche Grafiken welche uumlber den geplanten oder beschlossenen Aufbau des Schulsystems nach einer Bildungsreform orientieren Bilder und Quellen-auszuumlge ergaumlnzen Felders Studie die ebenfalls als Nachschlagewerk genutzt werden koumlnnte

Es geht Felder darum generell aufzuzeigen wie sehr sich die Volksschule zu verschie-denen Zeiten als Streitobjekt in der oumlffentlichen Diskussion befand und bildungspoliti-sche Entscheide immer dann auf Akzeptanz bei den je vorherrschenden Entscheidungs- traumlgern aber auch bei dem Souveraumln stieszligen wenn diese offen genug angelegt waren um fuumlr unterschiedliche Interessengruppen Anknuumlpfungspunkte zu bieten Dabei setzt der Autor auf eine nur moderat ausgepraumlgte Theorie- und Thesenleitung die im Ausblick noch einmal bestaumltigt wird Die Herstellung von Homogenitaumlt im Volksschulwesen im Allgemeinen und in Jahrgangsklassen im Speziellen sei ndash trotz haumlufiger Klagen ndash nicht nur eine Illusion sondern auch dysfunktional gegenuumlber unterschiedlichen Bildungs- beduumlrfnissen Um der paradoxen fundamentalen Frage historisch nachzuspuumlren wie die auf Langfristigkeit angelegte individuelle Foumlrderung von Heranwachsenden und ihre Selektion angesichts bildungsbegrenzender Barrieren gegenuumlber sozial marginalisierten Kreisen zugleich in der Volksschule zu gestalten sind sei es lohnend zu erschlieszligen ob und wie in vergangenen Zeiten eine Durchlaumlssigkeit zwischen den verschiedenen Bil-dungswegen hergestellt wurde

In der Einleitung stellt der Autor quasi als Selbstbegrenzung gegenuumlber dem Wunsch nach einer bdquototalen Geschichteldquo (Koselleck 2006) der Volksschule die Differenz von Begriffs- Politik- und Sozialgeschichte dar indem er aufzeigt dass im Kanton Basel faktisch eine Volksschule seit den 1880er Jahren vorherrschte auch wenn der Begriff aus politischen Gruumlnden in den Schulgesetzen bis 1929 nicht erwaumlhnt werden konnte Was sich langfristig ereignet aber sprachlich nicht niedergeschlagen hat das muss einer Quellenkontrolle unterworfen werden Felders Hauptaugenmerk gilt einer auch kultur-geschichtlich sensiblen Praumlsentation der gegenwaumlrtigen Schule als etwas Gewordenes ndash bdquogerade in einer Zeit in der die Schule von einem beispiellosen Wandel ergriffen scheint und den Aumllteren fremd zu werden drohtldquo (S 14) Die einem solchen Prinzip der Gegen-wartsdiagnose innewohnenden normativen Implikationen Schulgeschichtsschreibung etwa als kritische Begleiterin von Bildungsreformen zu verstehen begegnet Felder mit der Reflexion seiner Sprecherposition und Standortgebundenheit Nicht auf eine ein- gaumlngige fortschrittsgeschichtliche Narration in der Art einer Darstellung der immer mehr Bildungsgerechtigkeit und Integration gewaumlhrleistenden Volksschule zielt Felders Zugang sondern vielmehr auf Verflechtungen laufend extern in den Schulbetrieb ein-greifender Kraumlfte die eine Kontinuitaumlt von Konflikten bis heute begruumlnden Mit diesen nicht uumlberbordenden theoretischen Markierungen zeigt Felder einen Weg auf wie die Geschichte der Volksschule im Kanton Basel quellennah zwar in chronologischer Linienfuumlhrung aber dennoch mit dem Blick auf Diskontinuitaumlten Bruumlche und Krisen-momente erzaumlhlt werden kann

Die ersten drei Kapitel befassen sich mit den zeitlichen Abschnitten vor der Begruumln-dung der Volksschule ndash und zwar mit den kaum aufeinander abgestimmten Schulen im Ancien Reacutegime ndash also der Zeit vor der Helvetischen Revolution 1798 ndash mit den Ideen und Plaumlnen zur Bildungsreform waumlhrend der Aufklaumlrung sowie der Phase von Aufbruch und Verweltlichung staumldtischer und laumlndlicher Schulen vor und nach der Kantonstrennung zu Beginn der 1830er Jahre Auffaumlllig ist dass Felder von Beginn an die vielen neben-

733Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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einander existierenden teilweise sich konkurrierenden Praktiken des Schulehaltens zur Sprache bringen und ins Bild setzen will wie Lehren und Lernen sich im Alltag abge-spielt haben koumlnnte So wird deutlich dass Liederbuumlchlein Katechismen Psalmensamm-lungen oder das Evangelium zur Grundlage eines repetitiven elementaren Unterricht- ganges zumeist nur fuumlr Knaben und somit als Lehrmittel fuumlr den Leseerwerb verwendet wurden obgleich sie nicht fuumlr diesen Gebrauch geschaffen waren (S 26 f) Neben Ab-bildungen zu diesen bdquouneigentlichenldquo Schulbuumlchern taucht wenige Seiten spaumlter ein Bild mit Silbermuumlnzen auf welche mit einem Baselstab dem Muumlnster oder einer Minerva versehen waren mit denen der Schulordnung des Gymnasiums zufolge besonders fleissige Schuumller belohnt wurden (S 41) In der Verbindung der Unterrichtsalltaumlglichkei-ten mit den seinerzeit der Schulkommission des Grossen Rates vorgelegten Vorschlaumlgen des christlich-humanistischen Aufklaumlrers Isaak Iselins fuumlr eine Schulreform ndash also mit den geteilten Deutungen und Ordnungsvorstellungen einer kritischen buumlrgerlich-geistigen Elite die trotz Standes- und geschlechtertypologischen Uumlberlegungen zentrale Gedanken einer Volksschule vorwegnahmen ndash entwickelt Felder sachkundig eine fast historisch-praxeologische Perspektive

Die Kapitel 4 5 und 6 widmen sich in der Interpretation des Autors einem bildungs-historischen Kippmoment und den daran anschlieszligenden Folgekonflikten der Begruumln-dung der Volksschule welche im Schulgesetz von 1880 Ausdruck fand dem Streit um Laizismus und Religion sowie der Konsolidierung des neuen Unterrichtswesens bis in die 1930er Jahre Mit dem ersten linksfreisinnigen Vorsteher des Erziehungsdeparte-ments Wilhelm Klein tauchten nach der Abschaffung des Ratsherrenregimes durch die Kantonsverfassung von 1875 neue Optionen und neues Wissen auf das Bildungswesen weiterzudenken Kleins erster Entwurf sah vor dass alle Basler Kinder gemeinsam fuumlnf Jahre in die Primarschule und drei Jahre in die Sekundarschule gehen waumlhrend die Auf-teilung in parallele leistungsdifferenzierte Schultypen erst danach erfolgen sollte Das Gymnasium so zur nachobligatorischen Schulstufe zu bdquodegradierenldquo galt in der Zeit davor als unsagbar und wurde von der standesbewussten staumldtischen Buumlrgerschaft auch als Affront aufgefasst (S 85) Derartige Beispiele nimmt Felder gekonnt auf und weitet das Blickfeld indem er die historischen Bedingungen aufzeigt wie eine fruumlhe Idee von der Ausschoumlpfung der Begabungsreserven mit Verweis auf das Zuumlrcher Unterrichtsgesetz von 1832 erst Relevanz bekommen konnte um dann in einer einsetzenden Polyphonie von Gegenstimmen abgeschliffen zu werden und in Kleins Abwahl zu enden Mit der- artigen Zugriffen betont der Autor dass neue Konzeptionen im Bildungsbereich nicht in einem Vakuum auftreten Zuvor ereignen sich auf politischen kulturellen und wissen-schaftlichen Feldern Abloumlsungen und Verschiebungen Bildungspolitische Verfechter des Neuen benoumltigen vorgaumlngige leidenschaftliche Debatten und neues Wissen eben Mate-rial das dann weiter umgestaltet als vorbildhaft und traditionsorientiert markiert werden kann so dass etwa ein Schulgesetzentwurf nicht zu sehr als Zaumlsur wahrgenommen wird Der Ausbau der Volksschule nach 1880 wurde durch ein allgemeines Erneuerungsklima beguumlnstigt So wurden Lehrmittel die den Unterrichtsalltag staumlrker praumlgen als Lehrplaumlne (S 121) unentgeltlich abgegeben nur noch Lehrpersonen mit Lehrpatent angestellt repraumlsentative bdquoSchulpalaumlsteldquo ndash welche mit neuen Schulbaumlnken und Duschen im Zeichen hygienischen Fortschritts versehen waren ndash angesichts des exorbitanten Bevoumllkerungs-wachstums errichtet und Spezialklassen fuumlr schwach begabte Kinder eingefuumlhrt (S 134) Die diesen Wandel begleitenden Sozialtechnologien und paumldagogischen Interventionen u a der Aufbau von schulaumlrztlichen und -psychologischen Diensten konnten je nach

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gesellschaftlichen Kreisen Aumlngste vor der Entchristlichung der Schule oder vor der Dominanz des Kognitiven ausloumlsen

Mit welchen paumldagogischen Maszlignahmen im Unterricht oder institutionell mit (priva-ten) Schulneugruumlndungen nach einer kindgerechten Erziehung gesucht wie mit dem Schulgesetz von 1929 mehr Mitsprache von Lehrpersonen Eltern sowie Schuumllern erzielt wurde und wie in Kriegs- und Krisenzeiten der Schulbetrieb sich veraumlnderte sind Fragen denen in den Kapiteln 7 8 und 9 nachgegangen wird Der Bogen vielgestaltiger Strouml-mungen der Reformpaumldagogik und ihrer Kritiker wird hier weit gespannt Waumlhrend die Prinzipien der Arbeitsschule die Volksschule derart praumlgen konnten dass Handarbeits-unterricht nach 1929 als Pflichtfach in die Volksschule ndash jedoch geschlechtsspezifisch ausgerichtet ndash aufgenommen wurde (S 166) fuumlhrten andere Ausrichtungen zu Gruumlndun-gen von Privatschulen etwa zu den Rudolf-Steiner-Schulen die wiederum Einfluss auf die oumlffentliche Volksschule nahmen Das Schulgesetz von 1929 wird nicht nur einfach mit seinen Ergaumlnzungen zum Schulsystem von 1880 abgehandelt sondern mit der Ver-schiebung des fruumlheren auch in die Bildungspolitik hineinspielenden Gegensatzes von bdquoliberal gegen konservativldquo hin zur bdquoPolarisierung zwischen sozialistisch und buumlrgerlichldquo breit kontextualisiert (S 188) Dem sozialdemokratisch pragmatisch agierenden Erzie-hungsdirektor Fritz Hauser gelang es ein Schulgesetz vorzulegen gegen das kein Refe-rendum ergriffen wurde Aus seiner Sicht hatte die gewuumlnschte Akzeptanz ihren Preis Zwar konnten u a Maturitaumltskurse fuumlr Berufstaumltige eingefuumlhrt die bisher freiwillige Schulsynode in ein staatliches bdquolegales Parlament der Lehrerschaftldquo (S 196) uumlberfuumlhrt Mitspracherechte fuumlr Eltern sowie Schuumller und Schuumllerinnen etabliert und eine Lehrer-bildungsinstitution fuumlr alle Schultypen aufgebaut werden Aber buumlrgerliche Kreise bekaumlmpften weiterhin eine zeitliche Verkuumlrzung der Maturitaumltsschulen zugunsten einer laumlngeren Phase der Volksschuloberstufe resp spaumlteren Sekundarstufe I Die Gymnasien wurden in verschiedene Typen differenziert zu denen nun auch das Maumldchengymnasium als ehemalige Toumlchterschule gehoumlrte Mit dem Blick auf Kriegs- und Krisenzeiten wird deutlich wie der Unterrichtsalltag durch Unterbrechungen und Ausfall gepraumlgt sein konnte Anlaumlsslich der Spanischen Grippe zum Ende des Ersten Weltkrieges fiel die Schule fuumlr acht Wochen aus und ein Schulhaus musste zum Grippespital umgeruumlstet werden (S 203) Als in einer wahrgenommenen Phase der sozialen Not 1922 das Berufs-verbot fuumlr verheiratete Lehrerinnen eingefuumlhrt wurde konnte es sich bis 1965 halten Eindruumlcklich ist wie deutlich die Schulrituale mit Gedenkfeiern Ausfluumlgen und Geschen-ken ab den 1930er Jahren von der Geistigen Landesverteidigung beeinflusst waren (S 209)

Die letzten fuumlnf Kapitel befassen sich mit der Bildungsexpansion in der Nachkriegs-zeit der damit zusammenhaumlngenden Mittelstufenreform der kulturellen Heterogenitaumlt und dem (limitierten) Beitrag der Volksschule zur sozialen Kohaumlsion dem Reformmodell der teilautonomen Lern- und Lebensraumlume der Sonderpaumldagogik zwischen Aussonde-rung und Integration und dem Anschluss der Volksschule des Kantons Basel-Stadt an die gesamtschweizerische Entwicklung seit den 1970er Jahren Um die zweite Haumllfte des 20 und die knapp ersten beiden Jahrzehnte des 21 Jahrhunderts schulgeschichtlich pro-duktiv zu erschlieszligen hat Felder mit dem vom Bevoumllkerungswachstum getriebenen Anstieg der Schuumllerzahlen und beschaumlftigten Lehrpersonen mit der Verlaumlngerung der Schullaufbahnen und der Oumlffnung der Schulangebote fuumlr neue Gruppen sowie mit der Ausschoumlpfung der Begabungsreserven als (wiederkehrendes) Gebot der Stunde einen plausiblen Hintergrund fuumlr eine umfassende Betrachtung geschaffen (S 220) Zur

735Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 735

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weiteren Skizzierung des zeitgenoumlssischen bildungspolitischen Klimas zieht der Autor die Aufbruchstimmung rund um die eidgenoumlssische Abstimmung zum nationalen Frauenstimmrecht aber auch einen ersten Gesamtschulversuch im Kanton Solothurn oder den Cycle drsquoorientation in Genf als Umsetzung hinzu die Volksschuloberstufe durch- laumlssiger zu gestalten Eine neue Subjektkultur fuumlhrte zur Veraumlnderung der Schuumllerrolle traditionelle Unterrichtsformen wurden durch neue ergaumlnzt auch durch die visionaumlr erscheinende Einrichtung von Sprachlaboratorien in den 1960er- und 1970er Jahren Diese versprachen zunaumlchst mit einer neuen Sprachdidaktik effizientes und individua- lisiertes Lernen ndash werden aus der Retrospektive dennoch treffend als dem Zeitgeist ge-schuldeten Ausdruck technokratischer Begeisterung gedeutet (S 234) Die Einfuumlhrung von Versuchsschulen fand zu Beginn der 1970 Jahre in Basel kaum Akzeptanz eine wei-tere Mobilisierung der an Schule beteiligten Akteure reichte lediglich fuumlr eine defensive bdquoinnere Schulreformldquo (S 248) die das Basler Problem der Fruumlhselektion nach vier Pri-marschuljahren unbearbeitet belieszlig Eine durch die Politik angestoszligene Mittelstufen- reform ndash die Einfuumlhrung einer dreijaumlhrigen Orientierungsschule an welche mit dem gym-nasialen Bildungsgang oder mit dem Besuch einer zweijaumlhrigen Weiterbildungsschule angeschlossen werden konnte ndash erschien 1988 zunaumlchst als kompromisshafter Weg fand jedoch auf Dauer keine Akzeptanz (S 264) Wie eine gut gemeinte zusaumltzliche Maszlig-nahme die Einfuumlhrung von Klassen mit erweiterten Musikunterricht von privilegierten Eltern zur Distinktion gegenuumlber Migrationsfamilien die weniger Naumlhe zur schweizeri-schen Musikkultur aufwiesen obstruktiv genutzt wurde und so die weitere Erosion der neuen Orientierungsschule vorantrieb zeigt Felder feinsinnig auf Damit regt der Autor zum weiteren Nachdenken uumlber Bildungsreformen an die Chancengerechtigkeit in einer integrativ gedachten Schulform anpeilen und trotzdem soziale Selektionen ohne recht- lich definierte Leistungskriterien nach sich ziehen (S 270) Felders eingangs erfolgter Hinweis auf den politisch verbraumlmten und sbquoverbranntenlsquo Begriff der Volksschule an der Schwelle zum 20 Jahrhundert scheint sich ebenfalls als weiterfuumlhrend hinsichtlich des Begriffs bdquoVersuchsschuleldquo zu Beginn des 21 Jahrhunderts zu bestaumltigen Um Detailliert-heit bemuumlht hebt er hervor dass die Schulgesetzgebung oftmals jahrelang bewaumlhrter Praxis folgte und verweist auf die seit 2010 bestehende Moumlglichkeit im Kanton Basel-Stadt eine bdquoErfahrungsschuleldquo einzurichten wie dies inzwischen mit einem befristeten Projekt geschehen ist das altersdurchmischte Klassen und offene Lernateliers vorsieht (S 310)

Insgesamt widersteht das Uumlberblickswerk Felders uumlberzeugend der Versuchung eine unkritische Erfolgsgeschichte der Volksschule zu leisten um etwa die jeweiligen reform-skeptischen Akteure als Statisten nachtraumlglich in das bereits feststehende Bild zu inte-grieren Der Autor wendet sich gegen vorschnelle Synthesen und weicht dem Eindruck eines geschlossenen Modells von Schulentwicklung aus Auch wenn Uumlberblicksdar- stellungen zur vergangenen Lehrpersonenbildung gehoumlrten handelt es sich mit dieser Studie nicht um eine sbquoSchulmaumlnnerlehrelsquo die etwa ein Berufsverstaumlndnis zukuumlnftig Unterrichtender stabilisieren und in eine Richtung leiten moumlchte Vielmehr legt Felder eine materialnahe und streckenweise mikroskopische Beschreibung vor die auch viel Neues aus bildungspolitischen und schulkulturellen Spannungen und zeitgenoumlssische Wahrnehmungen der untersuchten Perioden herausdestilliert das aus aktuellen Schul- debatten nicht einfach ableitbar ist Widerspruumlche in ihrer Zeit werden betont ohne eine Gegengeschichte von eigensinnigen oder widerstaumlndigen Alternativen anzustreben Mit einem beachtlichen Rechercheaufwand wird in der Annaumlherung an die jeweilige

736 Buchbesprechungen

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historische Phase an Optionen erinnert und somit die Zukunftsoffenheit schulpolitischer Fragen im Bewusstsein gehalten Auch wenn der Aufbau des Werkes grundsaumltzlich einer Chronologie verpflichtet ist brechen immer wieder gekonnt thematische Schwerpunkt-setzungen ndash wie etwa die Geschlechterspezifik konfessionelle Bildung Privatschulen oder das heil- und sonderpaumldagogische Angebot ndash vorschnell imaginierte zeitliche Stringenzen So wird die politikgeschichtlich getriebene Tendenz schulhistorische Epochenabgrenzungen seit der zweiten Haumllfte des 19 Jahrhundert entlang der Amts- perioden von jeweiligen Erziehungsdirektoren vorzunehmen gleichsam selbstreflexiv bearbeitet auch wenn eine gewisse Bewunderung fuumlr die den Erziehungsdirektoren Klein und Hauser zugeschriebenen Leistungen zu bemerken ist Die Einteilung einer Bil-dungsgeschichtsschreibung mit klar abgrenzbaren Zeitabschnitten wird abgeschwaumlcht zugunsten einer Darstellung mit ausgefransten Raumlndern unerwarteten Bruumlchen und holprigen Uumlbergaumlngen

Zum Schluss seien noch wenige Kritikpunkte genannt die auf die Auslotung weiteren Potentials dieses verlaumlsslichen Zugriffs zielen Das von Felder herangezogene vielfaumlltige Material haumltte es zugelassen noch deutlicher von den Versuchen zu berichten politische Entscheidungen durch wissenschaftliche zu ersetzen Andeutungen hierzu finden sich durchaus im Buch z B hinsichtlich des fruumlhen Sprachenlernens Der problematische Gebrauch von (Bildungs-) Wissenschaften als Wahrheitsinstanz in der Bildungspolitik und das Aufkommen von alternativen Epistemologien in einigen reformpaumldagogischen Ansaumltzen sowie die damit zusammenhaumlngende Abkehr von Wissenschaftsexpertise haumltte man als Untersuchungsgegenstand das Volksschulfeld in seinem Gewordensein und als Verhandlungsort gesellschaftlicher Uumlberzeugungen noch schaumlrfer konturieren koumlnnen Diese gewisse Unschaumlrfe gegenuumlber der Frage wie das weite Feld der Volksschule durch verschiedene Akteure Wissen und Kulturen gemeinsame Deutungen scharfe Konflikte und kaum hinterfragte Alltagsroutinen angetrieben wurde und wird koumlnnte Anlass sein die Studie Felders der viele Leserinnen und Leser zu wuumlnschen sind als Ausgangspunkt fuumlr weitere Forschungsbewegungen zu sehen

Andreas Hoffmann-Ocon

Isabell ARNSTEIN Die Geschichte der Zentralgewerbeschule Buchen (Zwischen Neckar und Main Schriften des Vereins Bezirksmuseum Buchen eV Bd 36) Baden-Baden Tectum-Verlag 2019 160 S Abb geb EUR 36ndash ISBN 978-3-8288-4334-9

Ein wenig widersprechen Titel und Abstract der vorliegenden Publikation einander schon wenn zu Beginn des letzteren formuliert wird die Studie gehe bdquoauf die Entwick-lung des Gewerbeschulwesens in Baden ein und leg[e] dabeildquo (lediglich) bdquoein besonde-res Augenmerk auf die Entwicklung der heutigen Zentralgewerbeschule Buchen (ZGB)ldquo (S XIII) Doch die Frage ob man es nun mit einer klassischen Schulchronik zu tun hat wie der Titel indiziert oder mit einer exemplarischen historischen Untersuchung wie es das Abstract nahelegt muss vielleicht gar nicht entschieden werden ndash zumal die doppelte Ausrichtung als Zielsetzung und wesentliche Staumlrke des Buches zugleich verstanden wer-den darf So gelingt es Arnstein die Schulgeschichte durch zwei einfuumlhrende Abschnitte zur historischen Situation im Groszligherzogtum Baden um die Entstehungszeit der Schule Mitte des 19 Jahrhunderts herum (S 35) sowie zur Entwicklung der gewerblichen Bil-dungsidee vom Mittelalter bis zur Institutionalisierung der Gewerbeschule in Baden (S 7ndash22) nicht nur zu kontextualisieren sondern sie schaumlrft auch immer wieder den Blick fuumlr Besonderheiten Chancen und Probleme dieses innovativen Konzepts das die

737Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Autorin nicht nur aufgrund ihrer Recherchen sondern auch durch die taumlgliche Arbeit als Lehrkraft der ZGB aus eigener Anschauung genauestens kennt

Der Hauptteil ihrer Studie der dem letztlich gewaumlhlten Titel nun vollstaumlndig entspricht gliedert die Schulgeschichte in klassischer chronologischer Weise nach Gruumlndungsphase Anfangsjahren und der Erlangung der Selbstaumlndigkeit bevor dann weltgeschichtliche Ereignisse wie der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik die Zeit des National- sozialismus und der Zweite Weltkrieg die Schulentwicklung auch in Buchen maszliggeblich praumlgten schlieszliglich leiten die Betrachtungen zur Wiedereroumlffnung der Schule nach dem Krieg der Eingliederung in die Schullandschaft des neugegruumlndeten Bundeslandes Baden-Wuumlrttemberg und einer als bdquoPhase der Expansionldquo titulierten Zeitspanne ab den Siebzigerjahren zur Gegenwart uumlber (S 23ndash95) Der Anhang versammelt dann etwas heterogenes Material ndash eine chronologische Liste der Schulleiter Zeitzeugen- und Erfahrungsberichte sowie Anekdotisches ndash umfasst aber auch einen Quellenteil in dem zunaumlchst die wichtigsten Erlasse zur Gewerbeschule im Baden des 19 und fruumlhen 20 Jahrhunderts abgedruckt werden bevor die bdquoQuellen zur Geschichte der Zentral- gewerbeschule Buchenldquo neben die Satzung der Schule aus dem Jahr 1924 die Abschieds-rede des langjaumlhrigen 1994 pensionierten Schulleiters Erhard Broumltel stellen

Im ersten Abschnitt legt Arnstein in einer komprimierten Darstellung der badischen Geschichte im 19 Jahrhundert den Fokus auf die Reformbestrebungen eines der moder-neren deutschen Kleinstaaten in den fuumlr ihre Untersuchung zentralen Bereichen der Oumlkonomie und des Bildungswesens Indem die Verfasserin betont das Groszligherzog- tum sei in dieser Zeit zum bdquoVorreiter in der Hebung des Bildungsniveaus im Bereich des Gewerbesldquo geworden (S 4) stellt sie dabei strategisch geschickt die exemplarische Bedeutung ihrer Studie fuumlr die Entwicklung des deutschen Gewerbeschulwesens ins- gesamt heraus Der zweite Abschnitt setzt dann zunaumlchst in der fruumlhen Neuzeit an und referiert einige wichtige Entwicklungen des allgemeinen Bildungsgedankens waumlhrend der Zeit des Renaissancehumanismus und der Reformation Dabei werden beide Be- wegungen in ihrer Relevanz fuumlr die ideelle Begruumlndung bzw die institutionelle Etab- lierung neuer schulischer Konzepte gewuumlrdigt bevor Arnstein sich den weiteren Aus- formulierungen und Erweiterungen dieser Konzepte im 18 Jahrhundert zuwendet die dann im 19 Jahrhundert zur Einrichtung gewerblicher Sonntags- und Winterschulen fuumlhrten

Nach dieser ersten Verortung ihres Themas in den grundsaumltzlichen Bildungsdiskursen der Zeit wendet sich Arnstein dem fuumlr die Geschichte der gewerblichen Schulbildung zentralen Konflikt zwischen dem uumlberkommenen Zunftwesen und staatlichen Vorstel-lungen von oumlkonomischer Effizienz zu die einen weiten Bogen vom (eher kursorisch behandelten) Mittelalter uumlber die wichtigen Reformen des bereits vom Geist einer fruumlhen Aufklaumlrung gepraumlgten Reichsgesetzes von 1731 bis in die Gruumlndungszeit der ZGB in der Mitte des 19 Jahrhunderts spannt Dabei stehen die Entwicklungen in Baden zunehmend im Vordergrund sodass die Betrachtung der Bestrebungen im Umfeld des spaumlteren Staats-ministers Carl Friedrich Nebenius und der Polytechnischen Hochschule Karlsruhe uumlber den Gruumlndungserlass der badischen Gewerbeschulen von 1834 unmittelbar zum dritten Abschnitt der Untersuchung uumlberleitet

Die Geschichte der ZGB beginnt mit der gleichzeitigen Einrichtung einer houmlheren Buumlr-gerschule und einer Gewerbeschule in Buchen Arnstein zeichnet den ndash insbesondere aufgrund der vorerst ungeklaumlrten Finanzierung ndash schwierigen Gang der staumldtischen Initiatoren durch die Behoumlrden des badischen Staatsapparats von der ersten Eingabe im

738 Buchbesprechungen

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ISSN 0044-2607

Jahr 1844 bis zur endguumlltigen Gruumlndung am 6 Dezember 1847 nach und beschreibt die grundsaumltzliche Funktionsweise der neugegruumlndeten Schule Den naumlchsten Schritt in der Entwicklung der Gewerbeschule stellt die vom Innenministerium geforderte Trennung der Gewerbeschulen von den Houmlheren Buumlrgerschulen dar der Erlass von 1851 wurde in Buchen bis 1853 umgesetzt wenn auch eine Verflechtung der beiden Schulen durch das teils identische Lehrpersonal noch bis 1872 fortbestand Detaillierte Informationen zu Stundentafel Schulgeld Koordination von Unterricht und Arbeit der Lehrlinge im Be-trieb sowie Schuumllerzahlen vermitteln hier einen differenzierten Einblick in den Alltag an der Buchener Gewerbeschule Im Mittelpunkt des naumlchsten Abschnitts stehen erneut zwei wichtige Gesetze aus den Jahren 1868 und 1872 die im Umfeld der Reichsgruumlndung entscheidende Bedeutung fuumlr die badischen und deutschen Gewerbeschulen erlangen sollten Insbesondere im Gefolge der Gewerbeordnung von 1872 etablierte sich die Ge-werbeschule im Kontext einer gesamtdeutschen Konsolidierung dieses Schulkonzeptes ndash eine Entwicklung der Arnstein durch eine abwechselnde Betrachtung der reichsweiten und regionalen Tendenzen gerecht wird Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war gepraumlgt von ersten Zentralisierungstendenzen aus denen die Standort Buchen und Wallduumlrn gestaumlrkt hervorgingen waumlhrend kleinere und schlechter ausgestattete Schulorte wie Hettingen aufgegeben wurden Hier uumlberzeugt Arnsteins Darstellung in besonderem Maszlige durch eine mithilfe einer Vielzahl von Quellen ndash Statistiken Gesetzestexten ver-schiedenen Zeitdokumenten ndash erreichte Anschaulichkeit die zudem stets im Blick behaumllt inwiefern die damals eingeleiteten Veraumlnderungen in der gewerblichen Bildung noch heute nachwirken

Waumlhrend der Herrschaft der Nationalsozialisten unterlag das Schulwesen wie alle Bereiche des taumlglichen Lebens einer engmaschigen staatlichen Kontrolle ein Erbe der Zeit das Arnstein besonders hervorhebt ist die pauschale Bezeichnung der verschiedenen Bildungsmoumlglichkeiten im gewerblichen Bereich als bdquoBerufsschuleldquo (S 50) In den Kontext von Entnazifizierungsmaszlignahmen und der Integration zahlreicher Heimat- vertriebener stellt Arnstein dann die Darstellung der Nachkriegszeit die in Buchen zunaumlchst von einer schnellen Wiedereroumlffnung der Schule gepraumlgt war Die bereits 1947 erfolgte und durch Aktenmaterial belegte Erhebung zur Zentralgewerbeschule mit den beiden Standorten Buchen und Wallduumlrn ndash zu Lasten der nach und nach geschlossenen Gewerbeschulen in Mudau Adelsheim Hardheim und Eubigheim ndash zunaumlchst noch als bdquoVersuchsmaszlignahmeldquo (S 55) wird in die Darstellung der oumlkonomischen Gesamtstruktur Buchens integriert wobei insbesondere auf die Einrichtung von Fachklassen eingegangen wird die eine enorme Qualitaumltssteigerung der schulischen Ausbildung und damit wieder eine Staumlrkung des oumlrtlichen Gewerbes bewirkt habe Der Abschnitt zur baulichen Erwei-terung der Schule seit den Fuumlnfzigerjahren beschreibt dann eine quantitative wie quali-tative Weiterentwicklung der Schule auch der naumlchste Abschnitt der eigentlich die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen seit der Gruumlndung des Bundeslandes Baden-Wuumlrttem-berg behandelt und insbesondere die Maszlignahmen zur Schaffung von Akzeptanz in der Bevoumllkerung fuumlr dieses neue politische Konstrukt in den Mittelpunkt ruumlckt geht schlieszlig-lich wieder in die Beschreibung des strukturellen und infrastrukturellen Wandels der Schule uumlber

Dagegen veraumlnderten sich seit den Siebzigerjahren im Zuge der Einfuumlhrung neuer Lehrplaumlne und der Einrichtung neuer Schularten wie der Berufsfachschule verschiedener Richtungen (Metall Koumlrperpflege Holztechnik Elektrotechnik Fahrzeugtechnik) oder des Berufskollegs insbesondere die gelehrten Inhalte daneben werden aber weiter auch

739Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

bauliche und personelle Veraumlnderungen die Einfuumlhrung der EDV verschiedene Zerti- fizierungen der Schule und andere Gegenstaumlnde der Gesamtlehrerkonferenzen deren Protokolle hier akribisch ausgewertet worden sind in einer tendenziell eher chrono- logisch und dadurch manchmal etwas unsystematisch wirkenden Abfolge praumlsentiert Im letzten Abschnitt zur Gegenwart der Schule werden die an der ZGB angebotenen Schularten aufgelistet und kurz charakterisiert wobei dem Leser u a die Aufschluumlsselung manch krude klingender Abkuumlrzung geboten wird ndash oder haumltten Sie gewusst dass sich hinter bdquo1BKFHTldquo das bdquoEinjaumlhrige Berufskolleg Technikldquo verbirgt dessen erfolg- reiche Absolvierung zur Fachhochschulreife fuumlhrt Mit einer Namensliste des aktu- ellen Kollegiums und einem beinahe ebenso aktuellen Kollegiumsfoto (aus dem Jahr 2016) schlieszligt der darstellende Teil der Untersuchung dem noch ein Anhang mit Quel-lenteil folgt

Angesichts der Tatsache dass eigentlich kein Jubilaumlumsjahr der Schule begangen wird ist es umso bemerkenswerter mit welchem Elan und mit welcher Bereitschaft zur Investition von (Frei-)Zeit und Energie die Verfasserin hier eine historische Darstellung erarbeitet hat wie sie sich jede Bildungseinrichtung im Kampf um oumlffentliche Praumlsenz und gegen ndash im Schlusswort beklagte (vgl S 93) und wohl nur auf dem Wege verstaumlrkten Marketings umzukehrende ndash sinkende Schuumllerzahlen nur wuumlnschen kann Einen Eindruck von der Bedeutung einer solchen Studie fuumlr die mit der Schule verbundenen Menschen der Region vermitteln auch die beiden geradezu enthusiastischen Gruszligworte des aktuellen Schulleiters Konrad Trabold und des Landrats Achim Broumltel dessen Vater die Geschicke der ZGB ein Vierteljahrhundert lang gelenkt hat Umfangreiches Bildmaterial insbeson-dere zur Baugeschichte der Schule seit der Nachkriegszeit aber auch einzelne Fotografien aus dem 19 Jahrhundert sowie zu aktuellen Projekten und Entwicklungen erhoumlhen die Anschaulichkeit des Dargestellten Dass die Publikation praktisch keine syntaktischen oder sonstigen grammatikalischen Fehler aufweist und auch orthographisch nichts zu be-anstanden ist sollte eigentlich selbstverstaumlndlich sein hebt das Buch aber in der heutigen Zeit haumlufig fehlender Lektorate aus der breiten Masse deutlich heraus und rundet den positiven Gesamteindruck ab

Heiko Ullrich

Gabriela SIGNORI (Hg) Inselkloumlster ndash Klosterinseln Topographie und Toponymie einer monastischen Formation (Studien zur Germania Sacra NF Bd 9) BerlinBoston De Gruyter Akademie Forschung 2019 VI 254 Seiten Abb Kt geb EUR 11995 ISBN 978-3-11-064266-7

Der vorliegende Sammelband widmet sich der Topographie und Toponymie von bdquoInselkloumlstern ndash Klosterinselnldquo und ist das Ergebnis einer internationalen Tagung die unter gleichnamigem Titel vom 27 bis 28 Januar 2017 auf der Insel Reichenau statt- gefunden hat Untersuchungsgegenstand dieser Publikation ist ndash wie die Herausgeberin in einer kurzen Einleitung (S 1ndash12) erlaumlutert ndash grundsaumltzlich die Verbindung von Moumlnch-tum und Natur beziehungsweise die Frage inwieweit bei fruumlhen Klostergruumlndungen be-wusst Orte die bdquoGrenzen zwischen Natur und Kultur markierenldquo (S 3) gewaumlhlt wurden Daneben geht es um die Symbolik der Insellage (Ausgangspunkt fuumlr Mission oder Welt-flucht) Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Klosterinseln bzw zwischen den Inseln und ihren GruumlndernStiftern Ziel der Publikation ist aufgrund der bisherigen For-schungslage weniger eine systematische Erforschung dieser Fragestellung als zunaumlchst ein europaumlischer Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

740 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Der erste Beitrag von Anne-Marie HELVEacuteTIUS beschaumlftigt sich mit den ersten Kloster-inseln Galliens (S 13ndash38) insbesondere mit den Anfaumlngen der Abtei Leacuterins auf der Insel Saint-Honorat in Suumldfrankreich Hanna NUumlLLEN (S 39ndash63) untersucht im Anschluss daran die Definition und Klassifizierung von Inseln in der Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum von Beda Venerabilis und geht dabei besonders auf die fruumlheste Phase der angelsaumlchsischen Inselkloumlster ein die sie in zwei Gruppen ndash eine noumlrdliche Gruppe mit Iona Lindisfarne Hartlepool den beiden Eremitagen Farn Island und St Herbert sowie dem iroschottischen Kloster Inishbofin und eine suumldliche Gruppe mit Ely Chertsey Selsey sowie Bosanham ndash unterteilt Im folgenden Beitrag fragt Janet BURTON nach der zeitgenoumlssischen Wahrnehmung bezuumlglich Angemessenheit und Zweckmaumlszligigkeit von Inselkloumlstern im mittelalterlichen England (S 65ndash81) und kommt dabei zu der interessanten Feststellung dass Inselstandorte bevorzugt fuumlr weibliche Religiose aus dem Aspekt der Isolation gewaumlhlt wurden waumlhrend sie fuumlr Zisterzienser oder Regu- larkanoniker nicht in Frage kamen In bewusster Abgrenzung zur englischen Situa- tion beschaumlftigt sich Karen STOumlBER mit sechs Inselkloumlstern im mittelalterlichen Wales (S 83ndash99) die in den nach der normannischen Eroberung entstandenen historiographi-schen Quellen beschrieben werden und kann dabei herausarbeiten dass es sich bei vier von sechs Kloumlstern um Augustinerchorherren handelt Der Studie von Annette KEHNEL (S 101ndash120) die sich den mittelalterlichen Inselkloumlstern in Irland zuwendet ist im Anhang eine Liste mit wichtigen Informationen zur Entstehungszeit und Ordenszugehouml-rigkeit der irischen Inselkloumlster beigefuumlgt Im Kontrast zu den vorherigen Beitraumlgen zum angelsaumlchsischen Raum steht der Untersuchungsbefund von Anne DIEKJOBST zu den frie-sischen Kloumlstern im Mittelalter (S 121ndash148) da sich dort fuumlr das 1213 Jahrhundert keine Inselkloumlster nachweisen lassen Zwar gab es in Friesland Inseln die im Kloster- besitz standen doch aufgrund der durch die extreme Gefaumlhrdungslage gepraumlgten Wahr-nehmung dieser Gebiete kam es nicht zur Ansiedlung monastischer Gemeinschaften auf friesischen Inseln Ganz anders gestaltet sich hingegen die Situation auf den Bodensee-inseln Reichenau und Mainau die fuumlr die mittelalterlichen Zeitgenossen durchaus als geeignete Klosterstandorte erachtet wurden wie Harald DERSCHKA im Anschluss (S 149ndash165) zeigen kann Der Beitrag von Johannes LANG ist der Entstehung altbayeri-scher Inselkloumlster gewidmet von denen er exemplarisch Frauen- und Herrenchiemsee Woumlrth im Staffelsee Maria Woumlrth Seeon und Houmlglwoumlrth behandelt (S 167ndash183) Einen ganz anderen Aspekt kann Hedwig ROumlCKELEIN anhand der Klosterinsel Stuben aufzeigen (S 185ndash205) Das Augustinerchorfrauenstift Stuben das auf einer Halbinsel bei Bremm an der Mosel gelegen war schien trotz der Insellage kein Ort der Isolation sondern ein wichtiges Bindeglied fuumlr die Verbreitung der Springiersbacher Reform und eine beliebte Pilgeranlaufstelle gewesen zu sein Der abschlieszligende Beitrag dieses Sammelbandes von Uwe ISRAEL widmet sich unter dem Titel bdquoKloumlster-Archipel in der Lagune ndash ein Schutz-schild fuumlr Venedigldquo (S 207ndash224) der Frage inwieweit man im Mittelalter versuchte durch den Kranz von heiligen Inseln um die Lagunenstadt die sich im Laufe der Jahre von zunaumlchst isolierten Klosterinseln durch Aufschuumlttungen mit dem Stadtkoumlrper ver-bunden hatten Venedig zur bdquogottgewollten Stadt im Wasserldquo als Abbild des himmlischen Jerusalems zu stilisieren

Dieser sorgfaumlltig konzipierte Tagungsband zeigt eindrucksvoll die Symbolkraft von Inseln und die zeitgenoumlssischen Motivationen fuumlr die Insellage von Kloumlstern auf ndash wie beispielsweise die bewusste Isolation von allem Irdischen Ruumlckzug in die Askese Nach-ahmung der Wuumlstenvaumlter oder Mission Durch den europaumlischen Vergleich verschiedener

741Orden Kloumlster und Stifte

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horizonten und in verwandten Gelaumlndereliefsldquo (S 13) Von der Burg Stallegg berichtet Weis beispielsweise bdquoOb ein Bergfried vorhanden war ein Palas eine Vorburg eine Wehrmauer ndash wir wissen es nichtldquo (S 113) Dennoch sind alle diese Bauteile auf der Rekonstruktionszeichnung drei Seiten davor dargestellt

Etliche Befunde und Darstellungen des Bandes sind fragwuumlrdig ndash hier einige Beispiele Am Weg von Huumlfingen nach Riegel vermutet Weis bdquoRoumlmertuumlrmeldquo die der bdquoReiselfinger Dorflehrer Theodor Laubenbergerldquo am Standort der andernorts im Band behandelten Burgen Stahleck und Tanneck bereits im Jahr 1908 angenommen hatte (S 42 f) Dass in den uumlber 100 Jahren seither keinerlei Uumlberreste oder Spuren dieser Tuumlrme aufgefunden werden konnten ficht Weis nicht an bdquoDas Fehlen solcher Beweise ndash nach denen auch noch nie gesucht wurde ndash beweist natuumlrlich noch lange nicht das Fehlen an sichldquo Diese Argumentation ist wohlfeil Seine bdquoSpekulationldquo uumlber die Roumlmertuumlrme versucht Weis mit der Herleitung des Namens der Freiburger Patrizierfamilie Turner von einem Roumlmerturm zu unterfuumlttern den Joseph Bader im Jahr 1866 auf der Schwarzwaldhoumlhe Thurner annahm In der Freiburger stadtgeschichtlichen und burgenkundlichen Literatur besteht allerdings schon seit langem Konsens dass der Name der Familie von einem ndash mittel- alterlichen ndash Turm im ehemals im heutigen Stadtteil Wiehre gelegenen Turnsee herzu-leiten ist

Die Burg Wiesneck zaumlhlt zu den aumlltesten historisch belegten Burgen am Oberrhein Ihre erste Erwaumlhnung findet sich zum Jahr 1079 Die Entstehung der Burg wird zu einem nicht genauer eingrenzbaren Zeitpunkt im 11 Jahrhundert vor diesem Datum angenom-men wobei insbesondere archaumlologische Funde aus dieser Entstehungsphase bislang feh-len Nachdem Weis wohl auf Grundlage der einschlaumlgigen Literatur die Geschichte der Burg in Eckdaten nachzeichnet (S 54 ff) widmet er sich der Frage nach ihrem bdquowahren Alterldquo (S 56) Ohne Naumlheres auszufuumlhren schreibt er von vielen Indizien die fuumlr eine bdquofraumlnkische alemannische oder gar keltische Vergangenheit des Burgplatzesldquo spraumlchen Im Kern argumentiert er dass es in jenen Zeiten bereits Wege uumlber den Schwarzwald ge-geben habe die von der Burg Wiesneck aus bereits damals geschuumltzt worden sein koumlnnten (bdquoDie Burg Wiesneck haumltte dazu an der richtigen Stelle gestandenldquo) und bringt als Er-bauer bdquokleinadelige Pioniereldquo ins Gespraumlch die hier die Funktion der Schutzherren uumlber-nommen haumltten

Unter dem Namen bdquoKasteleckldquo fuumlhrt Weis eine kleine Motte bei Oberried ein (S 59 ff) die jedoch unter diesem Namen in den Quellen gar nicht auftaucht Das Toponym gehoumlrt zu einer Bergnase gegenuumlber der in der Ebene gelegenen Burgstelle und in ca 500 m Entfernung In einer nicht nachvollziehbaren Argumentation vermischt er den Flurnamen ein in der Literatur genanntes festes Haus das bei diesem Kasteleck gelegen haben soll und eben die namenlose Motte bei Oberried Zudem plaumldiert Weis auch hier fuumlr ein deutlich houmlheres Alter als bislang angenommen Hierzu fuumlhrt ihn die Annahme eines Wegenetzes auf den Hochschwarzwald wie bereits bei der Burg Wies-neck postuliert das von der Motte aus geschuumltzt werden sollte

Auf den Anhoumlhen zwischen dem Houmlllental und dem Weilersbacher-Zastlertal gibt es die Toponyme Roteck und Schwarzeck Wegen in der Gegend gelaumlufiger Sagen nimmt Weis auch hier die Existenz zweier Burgen an Obwohl es keinerlei archaumlologische oder historische Quellen gibt wird auch diesem Artikel eine Rekonstruktion einer der beiden Burgen vorangestellt (S 67) Zudem verunsichert es Weis nicht dass in der Sage die vom Schwarzeck uumlberliefert ist gar keine Burg vorkommt Die Sage vom Roteck ndash hier gibt es immerhin eine stereotype Erzaumlhlung von einem grausamen Burgherrn der mitsamt

756 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Inselkloumlster oder Klosterinseln koumlnnen dem Leser zahlreiche teilweise auch unerwartete Perspektiven eroumlffnet werden Abgerundet wird diese Publikation durch ein Personen- und Ortsregister (S 231ndash254) sowie durch einen Tafelteil der insgesamt 22 qualitativ hochwertige Abbildungen umfasst

Julia Becker

Jutta KRIMM-BEUMANN (Bearb) Die Benediktinerabtei St Peter im Schwarzwald (Germania Sacra Dritte Folge Bd 17 Die Bistuumlmer der Kirchenprovinz Mainz Das Bistum Konstanz Bd 7) BerlinBoston De Gruyter Akademie Forschung 2018 XV 633 S Abb Kt geb EUR 16995 ISBN 978-3-11-063082-4

Sieben Jahre nach der Edition der Guumlterverzeichnisse des Klosters St Peter im Schwarzwald hat Jutta Krimm-Beumann eine groszlige Monographie uumlber diese jahrhun-dertelang bedeutsame religioumlse Institution des deutschen Suumldwestens vorgelegt Die gruumlndliche Bearbeitung folgt dabei dem stark ausdifferenzierten Schema der Germania Sacra Im einleitenden Teil geraten nach der Uumlbersicht zu Quellen und Literatur zunaumlchst die Denkmaumller in den Blick und dabei in erster Linie Kirche und Abteigebaumlude Hierzu aumluszligert Krimm-Beumann die ansprechende Vermutung dass die zeitlich eng getakteten Weihedaten 1093 1113 und 1148 nicht jeweils neue Gebaumlude betrafen sondern eher ein sukzessiv wachsender Kirchenbau anzunehmen ist (S 17 f) In der historischen Uumlbersicht bringt sie eine bislang nicht beachtete Quellennotiz zu den Umstaumlnden der Verlegung der Weilheimer Propstei an den Rand des suumldlichen Schwarzwalds ins Spiel (S 62) Im Uumlbrigen ist der historische Abriss recht kurz gehalten mit zahlreichen Verweisen auf den personengeschichtlichen Teil Das macht die Lektuumlre mitunter etwas muumlhsam ist aber dem Gesamtkonzept der bdquohistorisch-statistischen Beschreibung der Kirche des Alten Reichesldquo wie der fruumlhere Reihentitel der Germania Sacra lautete geschuldet

Der folgende Abschnitt bdquoVerfassung und Verwaltungldquo beschreibt die Aumlmterstruktur der Institution wie ihr Verhaumlltnis zu kirchlichen und weltlichen Herrschaftstraumlgern Wenn S 83 davon die Rede ist dass die bdquoMehrzahl der Sanpetriner Aumlbte [hellip] soweit sich das nachweisen laumlsst buumlrgerlicher Herkunftldquo war so trifft dies aufs Ganze gesehen sicher zu doch waumlre zu beruumlcksichtigen dass bis ca 1300 Nachrichten zur sozialen Herkunft der Aumlbte fast voumlllig fehlen Abt Rudolf von Reutenhalden im spaumlten 12 Jahrhundert war jedenfalls adliger Abstammung (S 356) Sehr informativ und gelungen ist die ausfuumlhr- liche Passage uumlber das Verhaumlltnis des Klosters zu Reich und Landesherrn (S 121ndash135) Hier geht es um die Vogtei ausgehend von den Zaumlhringern deren distanziertes Verhaumlltnis zu ihrem bdquoHausklosterldquo ab der zweiten Haumllfte des 12 Jahrhunderts hervorgehoben wird bis zu den spaumlteren komplizierten Verhaumlltnissen in der fruumlhen Neuzeit mit dem doppelten Schutzschirm von Reichsunmittelbarkeit und Landsaumlssigkeit den die Abtei je nach Interessenlage zu nutzen suchte

Auf das Kapitel bdquoReligioumlses und geistiges Lebenldquo mit einem Uumlberblick u a zu den An-niversarstiftungen zur Klosterschule seit dem spaumlten Mittelalter zum kloumlsterlichen Gym-nasium im 18 Jahrhundert zur wissenschaftlichen Ausbildung der Moumlnche und zu der aus Sorge um die Daseinsberechtigung gepflegten Historiographie im 18 Jahrhundert fol-gen dann die beiden Abschnitte bdquoBesitzldquo (S 165ndash339) und bdquoPersonallistenldquo (S 341ndash587) die den Hauptanteil des Werkes ausmachen Nach einem instruktiven Abriss zu Erwerb und Entwicklung des Besitzes dessen Entwicklung von Krisenphasen und Neuauf-schwung im 17 Jahrhundert infolge der Inkorporation des Priorats St Ulrich und der Propstei Soumllden gepraumlgt ist werden die Besitzungen nach Regionen gegliedert alphabe-

742 Buchbesprechungen

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Diese gut mit Abbildungen und Plaumlnen ausgestattete Publikation vermag den derzei-tigen Stand der Burgenforschung naumlmlich ihre interdisziplinaumlre und diachrone Leistungs-faumlhigkeit ihre Themen- und Methodenvielfalt aber auch ihre Probleme gut bewusst zu machen Sie verdient daher Aufmerksamkeit weit uumlber dieses Fachgebiet hinaus ebenso auch raumlumlich weit uumlber die im Titel suggerierte Beschraumlnkung auf die Pfalz

Volker Roumldel

Roland WEIS Burgen im Hochschwarzwald Ostfildern Thorbecke 2019 240 S Abb

geb EUR 29ndash ISBN 978-3-7995-1368-5

Das von dem Neustaumldter Autor und Historiker Roland Weis vorgelegte Buch uumlber Burgen im Hochschwarzwald behandelt das Gebiet zwischen dem Dreisambecken im Westen der Schluchsee-Gegend im Suumlden dem Uumlbergangsbereich von Schwarzwald und Baar im Osten und bis Voumlhrenbach im Norden Hier liegt ein Interessenschwerpunkt des Autors der neben etlichem anderen bereits mehrere Baumlnde uumlber den Hochschwarzwald mit der zeitlichen Ausdehnung von der Praumlhistorie bis heute aber auch mehrere Hoch-schwarzwald-Wanderfuumlhrer und -Kriminalromane veroumlffentlicht hat Der Band will mit bdquopopulaumlrwissenschaftlichem Ansatz als Lese- und Einfuumlhrungsbuch verstanden seinldquo Zur leichteren Lesbarkeit wurde auf Fuszlignoten im Text verzichtet wobei der Autor den bdquowissenschaftlichen Anspruchldquo dadurch nicht geschmaumllert sieht (S 15) Der Band ist mit einem Literaturverzeichnis und einem Orts- und Personenregister ausgestattet

Eine definitorische Eingrenzung was eine Burg ist wird nicht vorgenommen Daher werden vielfaumlltige Formen von Befestigungen und repraumlsentativen Gebaumluden behandelt die in der Fachliteratur gewoumlhnlich unterschieden werden Das chronologisch geordnete Buch beginnt mit praumlhistorischen Anlagen die bis ca 800 n Chr datiert werden gefolgt von weiteren zeitlichen Kategorien bdquobis 1000 nach Christusldquo bdquobis 1300 nach Christusldquo bdquobis 1500 nach Christusldquo und bdquobis heuteldquo (Kartierung auf S 8 f) Unter den aumlltesten Anlagen finden sich eisen- und voumllkerwanderungszeitliche darunter Tarodunum im Drei-samtal und das Roumlmerkastell in Huumlfingen Die drei mittleren zeitlichen Kategorien behandeln mittelalterliche Adelsburgen wobei besonders bei den aumllteren die zeitliche Einreihung mitunter deutlich von der bisherigen burgenkundlichen Literatur abweicht die keinen Anlass sieht fuumlr diese Burgen eine Entstehung vor dem mittleren 11 Jahrhun-dert anzunehmen In der letzten Kategorie werden vier Schloumlsser bzw Amtshaumluser behandelt von denen drei auf aumlltere herrschaftliche Gebaumlude folgten

Der Band behandelt insgesamt 52 Anlagen denen fast durchgaumlngig Fotografien des Autors beigegeben werden Diese sind mal mehr mal weniger aussagekraumlftig was mit der teils schwer fotografierbaren Situation vor Ort zu tun haben mag Die vom Autor in den Bildern festgestellten Befunde koumlnnen vom Betrachter nicht immer nachvollzogen werden Eigene Grundrisszeichnungen die diesbezuumlglich vielleicht haumltten Abhilfe schaf-fen koumlnnen fehlen Ebenfalls beigegeben werden zu fast allen Anlagen Rekonstruktions-zeichnungen die das Laienpublikum gerne sieht die Fachwelt jedoch ablehnt Weis ist sich der Problematik bewusst dass die archaumlologischen und baukundlichen Befunde solche Rekonstruktionen so gut wie nie zulassen moumlchte aber dennoch in Anlehnung an Arthur Hauptmanns populaumlre Darstellung bdquoBurgen einst und jetztldquo nicht darauf verzich-ten da auf diese Weise bdquoromantisierende Annaumlherungenldquo moumlglich seien bdquodie bis zu einem gewissen Grad hohe Plausibilitaumlt in sich bergenldquo Dabei stuumltzt er sich auf aumlltere Darstel-lungen der Anlagen oder orientiert sich an bdquovergleichbaren Bauten in vergleichbaren Zeit-

755Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

reichen adligen Burggruumlndungen die als eigenstaumlndig und nicht (mehr) von der Kaiser- pfalz Hagenau abhaumlngend qualifiziert werden

In seinem Beitrag bdquoDie Bedeutung von Burgen fuumlr den Niederadel an der Wende vom 15 zum 16 Jahrhundertldquo vermag Joachim SCHNEIDER auch dank eines prosopographi-schen Ansatzes Wertvolles zum Wesen der Ganerbenburgen ndash bdquoKristallisationskernen adliger Vergesellschaftungldquo (S 173) ndash beizubringen naumlmlich hinsichtlich eines Inte- ressenausgleichs untereinander Schaffung einer gemeinsamen Identitaumlt und Foumlrderung gemeinsamer standespolitischer Zielsetzungen Nur dass ebenso wie Franz von Sickingen 1510 auch Koumlnig Maximilian I 1505 (nur) aus Prestigegruumlnden in die Ganerbschaft Drachenfels eingetreten sei moumlchte man hinterfragen

Aus eigener editorischer Erfahrung speist Hans-Joachim KUumlHN seinen Beitrag bdquoPfalz-Zweibruumlcker Burgbesatzungen im Spiegel spaumltmittelalterlicher Rechnungenldquo (S 175ndash200) als mit uumlberraschend wenig und noch dazu mehrfunktional eingesetztem Personal der Wandel sogar von Residenzburgen von der Wehrhaftigkeit zum Verwal-tungssitz zu organisieren war

Anders als im Fall der klassischen Ministerialenburg Muumlnzenberg in der Wetterau ist von der Burg (Neu-)Bolanden des mindestens ebenso prominenten am Donnersberg beheimateten Ministerialengeschlechts der Bolanden fast nichts Aufgehendes mehr zu sehen Aus dieser Not machen Olaf WAGENER und Achim WENDT (S 201ndash272 ebenso ein Wiederabdruck) eine Tugend indem sie aus Anlass und dank einer 2014 begonnenen umfassenden Untersuchung musterhaft alle Informationen zur Geschichte Abbildungen und Karten eine geophysikalische Prospektion und den Baubefund systematisch zu einer eindrucksvollen Synthese verdichten gefolgt von einer Abschichtung von der aumllteren wohl um 1200 aufgegebenen Niederungsburg Alt-Bolanden und im Vergleich mit Burg Muumlnzenberg mit der das Ermittelte ndash naumlmlich die bauliche Dimension eines Grafensitzes mit einem Bergfried von 13 m Seitenlaumlnge und groszligem Palasbau ndash keinen Vergleich zu scheuen braucht ein Essay zur imperialen Architekturrepraumlsentation mit einer Warnung vor Uumlberinterpretationen kroumlnt das Ganze

Die ideologische Indienstnahme von Burgen thematisiert Fabian LINK der die durch den bayrischen Ministerpraumlsidenten Ludwig Siebert betriebene nicht konservierende sondern bdquoim staufischen Geistldquo Neues schaffen wollende Wiederrichtung des Trifels als Zeugnis eines bdquonationalsozialistischen Mediaumlvalismus und der NS-Kulturpolitik in der Pfalzldquo (S 273ndash298) beschreibt und dabei auch auf die Herleitung solchen Gedankenguts aus der aumllteren Heimatbewegung und auf Parallelen im spanischen und italienischen Faschismus hinweist so wundert es nicht dass 1948 ein Komitee zur Fertigstellung der Baumaszlignahme Rudolf Esterers aufrief die von 1955 bis 1966 stattfand

Musterhaft stellen Bernhard METZ und Thomas BILLER (S 299ndash344) die Geschichte und Bauanalyse der als Schutz von Rodungsgebiet angelegten Burg Hohnack hoch ober-halb Colmar dar die Mitte des 14 Jahrhunderts als Nebensitz der Rappoltsteiner aufge-geben aber um 147080 als im Unterschied zu deren Stammburgen kanonensicherer Sitz gleichsam zur Proto-Festung umgestaltet wurde was 1655 Frankreich zur ihrer Schlei-fung veranlasste Schlieszliglich widmet sich Stefan ULRICH akribisch der Erforschung der gegenuumlber Neuleiningen gelegenen und viele Raumltsel aufgebenden bdquoAlten Burg zu Bat-tenbergldquo (S 345ndash384) sie duumlrfte zunaumlchst um 1200 auf Besitz der Abtei Murbach wohl unberechtigt erbaut und daher bald wieder niedergelegt worden sein um etwa 1600 durch die Grafen von Leiningen-Hardenberg als Sitz wiedererrichtet und nach Teilzerstoumlrungen wohl 1689 1747 erneut aufgegeben zu werden

754 Buchbesprechungen

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tisch aufgelistet Dabei sind die Orte an denen das Kloster in der Zaumlhringerzeit Besitz erhalten bzw erworben hat mit einem Sternchen gekennzeichnet Mit Hilfe der Karten am Ende des Bandes entsteht das Bild dass auf der Baar und am mittleren Neckar fast keine Position fuumlr die Zeit nach 1218 belegt ist waumlhrend insbesondere am Oberrhein der dichtesten Besitzlandschaft des Klosters ndash die Ortsliste umfasst mehr als 100 Seiten ndash aber auch in der Schweiz zahlreiche Besitztitel die erst ab dem spaumlteren Mittelalter haupt-saumlchlich in Zinsroumldeln und Berainen erwaumlhnt werden verzeichnet sind Mancher Erwerb koumlnnte auch noch in die spaumlte Zaumlhringerzeit zuruumlckgehen aus der sich ein Traditionsbuch der Abtei nur fragmentarisch erhalten hat (S 174) Insofern waumlre bei den Karten statt von bdquoBesitzerwerb nach 1218ldquo vorsichtiger von bdquoErwaumlhnung nach 1218ldquo zu sprechen

Eine wahre Fundgrube sind die Personallisten geordnet nach Aumlbten Konventualen und Konversen natuumlrlich in erster Linie die Listen der Aumlbte die sich auf fast 150 Seiten verteilen Hier werden die groszligen geschichtlichen Linien des Klosters im Spiegel der Viten seiner Vorsteher ausgezogen Im 12 Jahrhundert ragen Eppo (1109ndash1132) und Gozmann (1137ndash1154) der den beruumlhmten Rotulus Sanpetrinus anlegen lieszlig heraus Im spaumlten 13 Jahrhundert wirkte Eberhard (1291ndash1295) der in fuumlr die Abtei schwierigen Zeiten die Stiftermemoria maszliggeblich erneuerte Um 1500 sorgte Peter III Gremmels-bach (1496ndash1512) fuumlr den Wiederaufbau der brandgeschaumldigten Kirche aber auch mit seinem Liber vitae fuumlr die Stiftermemoria uumlberdies legte er den Grund fuumlr die wirtschaft-liche Konsolidierung der Abtei Daniel Wehinger (1566ndash1580) erlieszlig eine erste Polizei-ordnung fuumlr die kloumlsterlichen Untertanen und im 18 Jahrhundert der letzten Bluumlte- zeit des Klosters wirkten die bedeutenden drei Aumlbte Ulrich Buumlrgi (1719ndash1739) der den Anstoszlig zum Neubau von Kirche und Konventsgebaumlude gab Philipp Jakob Steyrer (1749ndash1795) der die Verbindung zum Markgrafenhaus als willkommener weltlicher Stuumltze des Klosters pflegte und Ignaz Speckle (1795ndash1806) der das bittere Ende von St Peter begleiten musste Die Liste der Konventualen laumlsst schlieszliglich deutlich werden wie haumlufig in der Zaumlhringerzeit Angehoumlrige der herzoglichen Klientel in das Kloster eintraten worauf bereits Joachim Wollasch aufmerksam gemacht hat So vermitteln die Personallisten ein farbiges Bild der rund siebenhundertjaumlhrigen Klostergeschichte

Ein ausfuumlhrliches Register Abbildungen und Besitzkarten runden dieses Werk ab das von der jahrzehntelangen Arbeit der Autorin an diesem Thema eindrucksvoll Zeugnis ablegt Fuumlr Paul Fridolin Kehr den groszligen Organisator der Germania Sacra in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts waren die Erzeugnisse dieses wissenschaftlichen Unterneh-mens lediglich ein bdquoHalbfabrikatldquo als Vorstufe fuumlr ein spaumlteres Endprodukt Trifft diese mindere Einschaumltzung ohnehin fuumlr die meisten Baumlnde der Germania Sacra nicht zu so ganz gewiss nicht fuumlr das vorliegende Buch das dem Kloster St Peter auf dem Schwarz-wald ein wuumlrdiges Denkmal setzt

Thomas Zotz

Dieter LAMMERS Kloster Lorsch ndash die archaumlologischen Untersuchungen der Jahre 2010ndash2016 Zehntscheune und Forstgarten (Schriften zum Kloster Lorsch Bd 2) Regensburg Schnell amp Steiner 2018 324 S Abb geb EUR 59ndash ISNB 978-3-7954-3348-2

Wie aus dem Titel hervorgeht sind in diesem Band die Grabungen im Bereich der Zehntscheune (Kap 1 S 9ndash92) und im Forstgarten (Kap 2 suumldwestlicher Forstgarten S 93ndash176 Kap 3 uumlbriger Forstgarten S 177ndash216 Kap 4 zusammenfassende Inter-pretation S 217ndash248) enthalten Die Vorlage ausgewaumlhlter Funde (uumlberwiegend Fotos

743Orden Kloumlster und Stifte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Juumlrgen KEDDIGKEIT Stefan ULRICH (Hg) Ausgewaumlhlte Beitraumlge der pfaumllzischen Bur-genforschung 2014ndash2018 (Burgen in der Pfalz Reihe F Bd 1) Neustadt an der Wein-straszlige Selbstverlag der Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung 2018 XXXIV 385 S Abb geb EUR 43ndash ISBN 978-3-942189-24-8

Seit 1993 finden mit wechselnd zusammengesetzter Ausrichterschaft bdquoPfaumllzische Burgensymposienldquo statt Das 25 bot Anlass deren Programme zu publizieren (S IXndashXXXIV) und erstmals ausgewaumlhlte Referate im Sinne einer bdquohaptischen Plattformldquo ndash so das Vorwort der Herausgeber ndash zum Abdruck zu bringen Zunaumlchst gibt (S 1ndash30) Juumlrgen KEDDIGKEIT einen Uumlberblick uumlber die Burgenforschung dieses historischen Raums beginnend 1726 mit einer Zweibruumlcker Schuumllerarbeit zur Geschichte des Trifels von Johannes Schlaaff (vgl dazu die Rezension der Neuedition von 2016 in ZGO 165 [2017] S 544 f) und spaumlter gepraumlgt durch das unverbundene und daher unfruchtbare Neben- einander von geschichtlich und baugeschichtlich orientierten Werken darunter auch badischer Autoren wie J Naeher was im Grunde neuerdings erst durch das Zusammen-wirken von Thomas Biller und Bernhard Metz uumlberwunden wurde bestaumltigt durch die Bearbeitung des Pfaumllzischen Burgenlexikons (1999ndash2007) das seinerseits weitere Aktivitaumlten wie Fuumlhrer und Quelleneditionen anregte

Es folgt (S 31ndash56) der Wiederabdruck eines Beitrags bdquoBerg Burg und Herrschaft im hohen Mittelalterldquo von Stefan WEINFURTER (dagger) der eine Feststellung Manfred Grotens fuumlr den Raum des Erzstifts Koumlln aufgreifend die eigentliche Adelsburg als Gipfelburg ca 1080 also im Investiturstreit entstanden sah als Manifestation hochadligen Aufstei-gertums und Kern spaumlterer Territorialstaatlichkeit zu Lasten der hergebrachten Land-rechtspraxis

Andreas Urban FRIEDMANN konnte einen 2014 unter dem Titel bdquoDer Enthalt in den pfaumllzischen Burgfriedensurkundenldquo gehaltenen Vortrag dank seiner 2018 erschienenen Quellenedition (vgl die Rezension in ZGO 167 [2019] S 458ndash460) nun umarbeiten zu bdquoBurg und Fehde im Spiegel der pfaumllzischen Burgfriedensurkundenldquo (S 57ndash92) und ver-steht dabei ndash viel zu eng gefuumlhrt ndash die Burgfriedensurkunde bdquowesentlich als fehderecht-liche Ausnahme- persoumlnliche eben und oumlrtliche Unterlassungserklaumlrungldquo (S 58 vgl auch S 87) Da der Rezensent 2009 in einem Aufsatz auf der Grundlage von 80 Burg-friedensurkunden das Phaumlnomen der Burgfrieden systematisch zu beschreiben versucht hat diese Arbeit von Friedmann jedoch lediglich einmal an entlegener Stelle (Anm 96) erwaumlhnt wird um eine dort nur in Anlehnung an fruumlhere Arbeiten getroffene Feststellung zur Dauer des Enthalts zu verwerfen (was Anm 100 in bdquoUnsinn solch traditionell gewordener Wertungldquo gipfelt) nimmt er wegen Befangenheit zu diesem Beitrag nicht weiter Stellung

Mit Vergnuumlgen nimmt man dagegen zur Kenntnis was Martin ARMGART (S 93ndash116) uumlber bdquoDie Schenken von Ramberg und ihre Stiftung Muszligbachldquo ndash im bdquoHerrenhofldquo dort finden neuerdings die Burgensymposien statt ndash auszufuumlhren weiszlig naumlmlich zur Rolle des Johanniterordens und seiner Kommende Heimbach deren membrum Muszligbach aus jener Stiftung entstand und ndash neu ndash zum mutmaszliglich Hochstift-Speyerer Schenkenamt des der Reichsministerialitaumlt entstammenden Familie von Ramberg Die hier schon sichtbar ge-wordene ertragreiche Verschraumlnkung mit der Bearbeitung des Pfaumllzischen Klosterlexikons bestaumltigt auch Ulrich BURKHARTS Beitrag (S 117ndash150) uumlber das von der lothringischen Herzogsfamilie ndash sogar zeitweise als Grablege ndash gegruumlndete Zisterzienserkloster Stuumlr-zelbronn (zwischen Weiszligenburg im Elsass und Bitsch) im Kontext der benachbarten zahl-

753Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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wenige Zeichnungen) erfolgt in Kapitel 5 (S 249ndash321) Die wichtigste Keramik wird bei den Befunden abgebildet Ein Verzeichnis der abgekuumlrzten Literatur sowie die Abbildungsnachweise bilden den Abschluss Die Lage aller Grabungsschnitte findet sich auf dem hinteren Buchdeckel in gruumln sind hier die der Zehntscheune und des Forst- gartens markiert

Die bearbeiteten Grabungen im Bereich des Klosters Lorsch erfolgten in den Jahre 2010 bis 2016 durch das Institut fuumlr Europaumlische Kunstgeschichte der Universitaumlt Heidelberg Der Autor Dieter Lammers ist seit vielen Jahren zusammen mit Matthias Untermann Leiter des Projektes und hat die Auswertung der Grabungen sowie die Publi-kation der Ergebnisse durchgefuumlhrt Dass jahrelange archaumlologische Grabungen zeitnah ausgewertet und vorgelegt werden ist bekanntlich eher die Ausnahme Umso erfreulicher ist es wenn dies bei einem der bedeutendsten fruumlhmittelalterlichen Kloumlster des noumlrdlichen Oberrheingebietes erfolgt Die Veroumlffentlichung war in drei Teilen geplant von denen der erste und der zweite Band 2018 und der dritte Band 2019 erschienen sind Diese Kon-zeption erklaumlrt weshalb die Baumlnde aufeinander aufbauen und inhaltlich miteinander verwoben sind Sie ergaumlnzen auch die 2004 von I Ericsson und M Sanke vorgelegten Ergebnisse des Forschungsprojektes der Universitaumlt Bamberg (1998ndash2008) auf die in der vorliegenden Publikation immer wieder Bezug genommen wird So findet man bei Sanke Ausfuumlhrungen zu Fundgruppen die vorzugsweise im Bereich der Klausur gefun-den wurden und die deswegen im zweiten Band nicht besprochen werden (Ofenkacheln opus-sectile- und andere Steine sowie ornamentierte Bodenfliesen) Die Informationen uumlber das juumlngere Projekt selbst finden sich nur im ersten Band Dies ist kein Mangel weil dadurch Redundanzen vermieden werden erklaumlrt aber weshalb die Baumlnde nicht fuumlr sich alleine stehen koumlnnen Wer sich mit dem Projekt und den Ergebnissen beschaumlftigen will muss alle drei Baumlnde und die Publikationen von M Sanke zu Rate ziehen

Das erste Kapitel widmet sich zunaumlchst dem bestehenden Bau der mit 785 x 115 m sehr groszligen Zehntscheune die durch Bauforscher untersucht wurde Sie wurde am Ende des 16 Jahrhunderts als 63 m langes Gebaumlude errichtet und um 1720 erweitert Da das Kloster schon 1556 aufgeloumlst worden war ist sie dem danach gegruumlndeten landwirtschaft-lichen Betrieb zuzuweisen In diesem Gebaumlude wurde das archaumlologische Schaudepot eingerichtet was zu zahlreichen baubedingten Bodeneingriffen insbesondere im suumld- lichen Drittel gefuumlhrt hat Archaumlologische oder bauhistorische Fragestellungen spielten bei der Anlage der Schnitte keine Rolle Deshalb wundert es nicht wenn nur wenige Schnitte die Schichten erreichen in denen Funde aus der Zeit der Klostergruumlndung ent-halten sind Alle wesentlichen Schnitte werden mit Fotos umgezeichneten Profilzeich-nungen sowie einer knappen Befundbeschreibung inklusive Angabe der enthaltenen Funde sowie der wichtigsten Keramik vorgestellt wobei verstaumlndlicherweise die Wie-dergabe der klosterzeitlichen Keramik uumlberwiegt Die Grabungen im Bereich der Zehnt-scheune erbrachten keine Baubefunde Ein grabenfoumlrmiger Befund koumlnnte noch fruumlh- mittelalterlich sein Ansonsten zeigt sich das Areal bis zur Erbauung der Scheune als Freiflaumlche

Auch im Forstgarten erreichten nur wenige Schnitte den gewachsenen Boden Sie lassen aber erkennen dass der heutige Forstgarten den Bereich einer ehemaligen Senke zwischen Spittelsberg und der Klosterkirche einnimmt Pfostenspuren belegen das Vor-handensein von einfachen Holzgebaumluden die hier im 7ndash9 Jahrhundert standen Dabei muss offenbleiben ob diese Besiedlung vor der Klostergruumlndung zu datieren ist oder danach Das Gelaumlnde wurde in den folgenden Jahrhunderten um bis zu zwei Meter auf-

744 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

lungen fassen Diese Veraumlnderungen sieht Bloumlck mit dem Zuzug germanischer Bevoumllke-rungsgruppen in Zusammenhang stehend

Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Autor eine archaumlologisch wie auch histo-risch uumlberaus anregende Siedlungsgeschichte des suumldlichen rechten Oberrheingebiets vorgelegt hat die sowohl fuumlr zukuumlnftige archaumlologische wie auch historische Forschun-gen zu diesem Gebiet aber auch zu Obergermanien als Ganzem ein wichtiges Referenz-werk sein wird Daruumlber hinaus duumlrften von dieser Arbeit ebenfalls Impulse fuumlr weitere uumlbergeordnete Fragen wie beispielsweise dem Ablauf der sogenannten Reichskrise des 3 Jh n Chr im Norden des Imperium Romanum oder der Ausgestaltung roumlmischer Grenzzonen ausgehen

Markus Zimmermann

Francisca FERAUDI-GRUEacuteNAIS Renate LUDWIG Die Heidelberger Roumlmersteine Bild-werke Architekturteile und Inschriften im Kurpfaumllzischen Museum Heidelberg Heidelberg Kurpfaumllzisches Museum u a 2017 123 S Brosch EUR 16ndash ISBN 978-3-8253-6693-3

Schon der im fruumlhen 3 Jh n Chr schreibende Historiker Cassius Dio haumllt in seinem Werk fest dass in den Provinzen taumlglich Dinge geschehen wuumlrden von denen man in Rom nichts erfahre (Cass Dio 53 19 4 f) Diese Ausgangslage ist fuumlr die heutzutage an der roumlmischen Geschichte Suumlddeutschlands Interessierten durch die fragmentarische Uumlberlieferung der antiken Literatur und deren Rom-Zentrierung nicht gerade besser ge-worden und so waumlre unsere Kenntnis der Geschichte des rechtsrheinischen Obergerma-nien ohne die Archaumlologie und die Epigraphik recht gering Es ist deshalb uumlberaus zu begruumlszligen dass Francisca Feraudi-Grueacutenais und Renate Ludwig mit den im Kurpfaumllzi-schen Museum ausgestellten Steindenkmaumllern sowie einigen Kleininschriften diese fuumlr die Geschichte des Heidelberger Raumes in roumlmischer Zeit so wichtige Quellengruppe der Oumlffentlichkeit in einem mit einleitenden Erlaumluterungen versehenen Katalog zugaumlng-lich gemacht haben

In den einfuumlhrenden Kapiteln (S 9ndash20) werden knapp aber konzise die Forschungs- und Sammlungsgeschichte die Funktion von roumlmischen Inschriften der archaumlologische Kenntnisstand zum antiken Heidelberg und die Aussagekraft der Heidelberger Inschriften fuumlr unsere Kenntnis der dortigen Verhaumlltnisse in roumlmischer Zeit skizziert Die Fachwis-senschaft wird in diesem Teil nichts Neues finden Die interessierte Oumlffentlichkeit jedoch an die sich das Werk laut Vorwort richtet bekommt hier das Ruumlstzeug auf den Weg mit-gegeben das fuumlr ein Verstaumlndnis der im Katalog vorgestellten Denkmaumller notwendig ist Der ausfuumlhrliche Katalog (S 21ndash106) bildet das Herzstuumlck des Buches und praumlsentiert die einzelnen Denkmaumller Diese sind mit Farbfotographien abgebildet Sollte eine In-schrift vorhanden sein was bei der Mehrzahl der Denkmaumller der Fall ist so ist dieser eine deutsche Uumlbersetzung beigegeben Ein Kommentar sowie ein kleiner Infokasten zu jedem Denkmal liefern weitere nuumltzliche Informationen Insgesamt ist der Katalogteil als sehr gelungen zu bezeichnen und liefert alle Informationen die man fuumlr eine weitere Beschaumlftigung mit den Denkmaumllern benoumltigt Abgeschlossen wird das Buch durch ein hilfreiches und ausfuumlhrliches Register (S 107ndash122) und den Abbildungsnachweis (S 123) Insgesamt haben die Autorinnen ein informatives Werk vorgelegt wobei der Katalogteil nicht nur der interessierten Oumlffentlichkeit sondern bestimmt auch Studieren-den oder Forschenden die sich einen Uumlberblick uumlber die Ausstellungsstuumlcke des Mu- seums verschaffen wollen gute Dienste leisten wird Markus Zimmermann

752 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 752

gefuumlllt Bemerkenswert sind die nicht wenigen Hinweise auf die Verarbeitung von Steinen wie Porphyr und Glas Offenbar befanden sich in diesem Bereich spaumltestens im aus- gehenden Mittelalter Handwerksbetriebe Dies belegen auch zwei Buntmetalloumlfen Weiter ist auf den Nachweis von Leistenziegel in karolingerzeitlichem Kontext hinzuweisen (S 286ndash289) Ob sie damals hergestellt wurden oder ob roumlmisches Baumaterial zweitverwendet wurde laumlsst sich nicht entscheiden Eine tabellarische Auflistung der Befunde ihrer Datierung und der Angabe wo man sie im Planum findet und wo sie im Buch besprochen werden erleichtert sehr die Handhabung (suumldwestlicher Forstgarten S 121ndash123 Forsthaus S 201)

Dass man nicht nur die (schematisierten) Umzeichnungen der Profile und Plana abge-bildet sondern auch sehr viele Fotos der Befunde und diese zudem mit den zugehoumlrigen Befunden beschriftet hat ist besonders erwaumlhnenswert Die Legende zu den Umzeich-nungen jedoch nur auf der hinteren Buchklappe anzubringen ist etwas ungeschickt Zu-sammenfassend zeigt sich im Bereich der untersuchten Flaumlchen eine insgesamt geringe klosterzeitliche Bebauung Die Areale duumlrften uumlberwiegend Freiflaumlchen gewesen sein die mehrheitlich gaumlrtnerisch genutzt wurden Denkmalpflegerisch interessant ist die Be-obachtung dass die fruumlhmittelalterlichen Schichten und Befunde hier vielfach unter zum Teil maumlchtigen Auffuumlllungen liegen und somit von oberflaumlchennahen Bodeneingriffen nicht betroffen sind Dies ist fuumlr zukuumlnftige Bau-Planungen im Bereich des Weltkultur-erbes nicht unwesentlich

Dass die Aufmachung das Papier und die Abbildungen eine hohe Qualitaumlt aufweisen ist im Hinblick auf den Verlag Schnell amp Steiner nicht uumlberraschend

Andreas Haasis-Berner

Harald DERSCHKA (Bearb) Die Reichenauer Lehenbuumlcher der Aumlbte Friedrich von Zollern

(1402ndash1427) und Friedrich von Wartenberg (1428ndash1453) (Veroumlffentlichungen der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Reihe A Quel-len Bd 61) Stuttgart Kohlhammer 2018 LXXXVI 416 S Abb Kt geb EUR 48ndash ISBN 978-3-17-033573-8

Die Benediktinerabtei Reichenau befand sich im Spaumltmittelalter in einer Phase des Wandels und nicht in einer Phase des Niedergangs wie Thomas Kreutzer in seiner 2008 veroumlffentlichten Dissertation herausarbeitet hat Damit relativierte er aumlltere Forschungen zur Geschichte der Reichenau die das 14 und 15 Jahrhundert als Krisenzeit fuumlr die Abtei brandmarkten Die hier zu besprechende Edition der Reichenauer Lehenbuumlchern der Aumlbte Friedrich von Zollern (1402ndash1427) und Friedrich von Wartenberg (1428ndash1453) die von Harald Derschka angefertigt und ausgewertet wurde unterstuumltzt die Befunde von Kreutzer Die sorgfaumlltige Grundlagenarbeit zu den aumlltesten erhaltenen Lehenbuumlchern zeigt dass die Abtei auch im Spaumltmittelalter und besonders waumlhrend des Abbatiats Friedrichs von Wartenberg noch uumlber einigen machtpolitischen Einfluss in der Region verfuumlgte

Die Edition ist von 2013ndash2016 im Rahmen eines DFG-gestuumltzten Forschungsprojektes an der Universitaumlt Konstanz entstanden Beide edierten Lehenbuumlcher werden im Gene-rallandesarchiv Karlsruhe aufbewahrt (GLA 671690 und GLA 671099) Sie verzeichnen Eintraumlge uumlber Lehen im Umkreis der Insel Reichenau und zwar sowohl auf deutscher als auch auf schweizerischer Seite wobei der Untersee einen Schwerpunkt des Lehen-besitzes bildet

745Orden Kloumlster und Stifte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 745

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

ausgingen und das Militaumlr daran beteiligt sahen festhaumllt dass die dortige Besiedlung erst in neronisch-fruumlhflavischer Zeit eingesetzt habe und zivil gepraumlgt gewesen sei In diesem Teil des Arbeitsgebiets seien dann aber nicht nur villae sondern mit dem vicus Riegel auch gleich ein wichtiger Zentralort errichtet worden Der Autor kann ferner wahrschein-lich machen dass im Zuge dieser Besiedlung umfangreiche Rodungsmaszlignahmen durch-gefuumlhrt worden sein duumlrften und zumindest ein Groszligteil der fruumlhen Siedler im suumldlichen Teil des Untersuchungsgebiets aus dem nahegelegenen linksrheinischen helvetisch- raurakischen Gebiet gestammt haben duumlrfte Im spaumlten 1 und fruumlhen 2 Jh n Chr habe sich die Anzahl der Siedlungen vermehrt Es seien weitere vici gegruumlndet und auch wei-tere villae errichtet sowie schon bestehende teilweise vergroumlszligert worden wie z B die Axialhofvilla von Heitersheim Teilweise habe man im 2 Jh n Chr in den Siedlungen repraumlsentative Bauten errichtet wie die um 120 n Chr fertiggestellte Basilika in Riegel oder die wahrscheinlich ebenfalls in der ersten Haumllfte des 2 Jh n Chr errichtete Ther-menanlage in Badenweiler In der zweiten Haumllfte des 2 Jh n Chr sei es zu einer weiteren infrastrukturellen Erschlieszligung des Gebiets gekommen was beispielsweise aus der Gruumln-dung der Bergbausiedlung in Sulzburg hervorgehe Gleichzeitig duumlrfte der Ruumlckgang der Bestattungen darauf hindeuten dass auch manche Siedlungsstelle verlassen worden sei Im 3 Jh n Chr habe eine Siedlungsreduktion eingesetzt deren genauer chronologischer Ablauf aber schwer zu rekonstruieren sei Neben einer Reduktion des Siedlungsareals wie es sich im vicus von Riegel nachweisen lieszlige habe man mehrere andere vici im ersten Drittel des 3 Jh n Chr ganz aufgegeben Ebenso duumlrften einige villae in diesem Zeitraum verlassen worden sein in anderen habe eine Reduktion und Umnutzung der Baustruktur stattgefunden Allerdings seien auch vereinzelte Beispiele fuumlr repraumlsentative Umbauten an villae feststellbar so dass kein gleichmaumlszligiger krisenhafter Verfallsprozess zu konstatieren sei Es lasse sich auch kein Zusammenhang mit den historisch bekannten Germaneneinfaumlllen herstellen weshalb Bloumlck von einem Transformationsprozess der Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen ausgeht der zur Aufgabe oder Reduktion einiger Siedlungsstellen gefuumlhrt habe Um die Mitte des 3 Jh n Chr sei es zu weiteren Reduk-tionen im Siedlungsbild gekommen Hierbei habe keine komplette Raumlumung des Gebiets im Zuge des sogenannten Limesfalls in den Jahren um 260 n Chr stattgefunden sondern einige Siedlungen vici wie auch villae haumltten noch bis in die Zeit um 28090 n Chr Be-stand gehabt Ein endguumlltiger Abbruch der roumlmischen Besiedlung des Untersuchungs- gebiets sei erst in tetrarchischer Zeit im Zuge des militaumlrischen Ausbaus des Rheins als Grenze feststellbar Nachdem man den Rhein unter der Tetrarchie als Grenzzone ein-gerichtet habe und die zivile roumlmische Besiedlung im Untersuchungsgebiet abgebrochen war koumlnne man in der ersten Haumllfte des 4 Jh n Chr Militaumlrplaumltze in Grenzach-Wyhlen und vielleicht in Bad Saumlckingen und Riegel nachweisen Da diese Orte an wichtigen Verkehrsknotenpunkten des rechtsrheinischen Gebiets lagen vermutet Bloumlck dass das Verkehrsnetz aus roumlmischer Zeit in der ersten Haumllfte des 4 Jh n Chr noch funktioniert habe und durch die Militaumlrplaumltze kontrolliert worden sei Ebenso seien weiterhin Roh-stoffe im Rechtsrheinischen gewonnen worden was vom Tuniberg im Kaiserstuhl stam-mende Steine belegen die man fuumlr den Bau des praetorium in Breisach verwendet habe Uumlber die laumlndliche Besiedlung zu dieser Zeit sei wenig bekannt die bekannten Funde koumlnnten jedoch die Vermutung unterstuumltzen dass germanische Siedler sich an einigen zuvor roumlmischen Siedlungsplaumltzen niedergelassen haumltten Einen wirklichen Wandel in der Besiedlung koumlnne man aber erst im spaumlten 4 Jh n Chr und im fruumlhen 5 Jh n Chr mit der Errichtung von Houmlhensiedlungen und laumlndlichen germanisch gepraumlgten Sied-

751Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 751

Harald Derschka hat seiner Edition eine ausfuumlhrliche Einleitung (S XXIndashLXXXVI) vorgeschaltet in der er zunaumlchst die Quellen unter formalen und quellenkundlichen Aspekten vorstellt Daran schlieszligen sich inhaltliche Ausfuumlhrungen zu Lehenobjekten zur Reichenauer Lehenmannschaft Lehenrecht und Lehenpflichten sowie generell zur Lehenschriftlichkeit an

Nach kurzen Hinweisen zur Datierung herangezogene Feier- und Heiligentage zu Karten Textgestaltung und Registern folgen die Editionen der Lehenbuumlcher sowie die ausfuumlhrlichen Register

In der hinteren Einbandinnenseite befindet sich zudem eine uumlbersichtliche Karte von Orten mit Reichenauer Lehenobjekten sodass sich die (in den Lehenbuumlchern leider nur inkonsequent angewandte) geographische Anordnung der Lehenbuumlcher gut nachvoll- ziehen laumlsst Zugleich verdeutlicht die Karte den umfangreichen und weit verstreuten Besitz der Abtei

Angefertigt anlaumlsslich des jeweiligen Amtsantritts der Aumlbte Friedrich von Zollern und Friedrich von Wartenberg bieten die Lehenbuumlcher einen guten Uumlberblick uumlber den Reichenauer Lehenbesitz Personenkreise und Einzelinformationen in der ersten Haumllfte des 15 Jahrhunderts Vor allem Abt Friedrich von Wartenberg eine der herausragenden Fuumlhrungspersoumlnlichkeiten der Reichenau bemuumlhte sich durch klosterinterne Reform-maszlignahmen und Ausloumlsung von Pfandschaften und Lehen um Konsolidierung der tief verschuldeten Abtei Harald Derschka traumlgt mit seiner Edition nun dazu bei diese Be-muumlhungen im Rahmen der Lehenschriftlichkeit mitverfolgen zu koumlnnen

Terminologisch rechnet der Editor beide Lehenbuumlcher die jeweils kurze Eintraumlge uumlber den vollzogenen Belehnungsakt verzeichnen unter die Lehenaktregister Das aumlltere Lehenaktregister (Edition S 1ndash87) das unter Abt Friedrich von Zollern angelegt wurde ist ein gut erhaltener Pergamentcodex und verzeichnet auf 36 Blatt 704 Lehenaktnotizen von insgesamt 708 Eintraumlgen der Jahre 1402ndash1427 Neben Eintraumlgen uumlber erfolgte Beleh-nungen Notizen uumlber Huldigung des Abtes durch die Buumlrger von Frauenfeld die Freiheit der Stadt Radolfzell sowie den Eid der Reichenauer Gotteshausleute findet sich unter Ein-trag Nr 707 auch die auf Latein verfasste Nachricht Koumlnig Sigismund habe im Jahr 1415 mit seiner Gattin Barbara von Cilli die Reichenau besucht und im Kloster uumlbernachtet

Das Lehenbuch des Abtes Friedrich von Wartenberg (Edition S 89ndash278) hingegen weist im Vergleich mit den Handschriften der Vorgaumlnger bereits eine fortgeschrittene Schriftlichkeit und Systematisierung des Reichenauer Lehenhofes auf So handelt es sich bei diesem Lehenaktregister um einen 179 Blatt umfassenden Papierkodex der 1169 Lehenaktnotizen von insgesamt 1186 Eintraumlgen der Jahre 1428ndash1453 enthaumllt Auszligerdem wurden unter anderem paumlpstliche Zustimmungen zum Verkauf Reichenauer Lehen sowie eine Einladung zum Lehengerichtstag des Jahres 1448 vermerkt Letztere listet in staumln-discher Gliederung 59 Vasallen auf zu denen eine Markgraumlfin und ihr Traumlger sowie vier Grafen vier Freiherren fuumlnf Ritter und 44 niederadelige Vasallen gehoumlren (Nr 1183) Insgesamt ergeben die Auswertungen Derschkas zu den Reichenauer Lehenleuten das Bild eines heterogen zusammengesetzten Lehenhofes Erste Ergebnisse dazu hatte der Editor bereits in einem 2017 erschienenen Aufsatz vorgelegt Neben adligen und nieder-adligen Vasallen setzte sich der Lehenhof zudem aus Buumlrgern besonders aus Konstanz und sogar aus Reichenauer Eigenleuten zusammen

Die Reichenauer Lehenobjekte hat Harald Derschka sorgfaumlltig nach den Kategorien Grundbesitz Herrschaftsrechte Abgaben und Menschen (Eigenleute) aufgelistet und aus-gewertet Zur raumlumlichen Verteilung der Lehenobjekte erhob der Editor die Befunde

746 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 746

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

dass es sich bei den meisten ausgegebenen Lehen um Reichenauer Besitz handelte Dem-entsprechend lassen sich die Lehenobjekte gehaumluft in den Orten der fruumlh- und hoch- mittelalterlichen Grundherrschaft verorten Als weiterer Befund wurde vermerkt dass sich die Gebiete innerhalb und auszligerhalb der Reichenauer Niedergerichtsherrschaft hin-sichtlich ihrer Lehen unterschieden So handelte es sich bei den Lehenobjekten innerhalb der Niedergerichtsherrschaft welche die Abtei vor allem auf der Insel Reichenau und in Bereichen des Untersees ausuumlbte groumlszligtenteils um Grundbesitz und Abgaben waumlhrend auszligerhalb der Niedergerichtsherrschaft auch Herrschaftsrechte groszligzuumlgig verliehen wur-den Als Grund fuumlr diese Schwerpunktsetzung fuumlhrt der Editor an dass die Abtei wohl die Herrschaft uumlber die Gebiete im Nahbereich der Abtei nicht durch lehnrechtliche Ver-leihungen habe verlieren wollen Des Weiteren haumltten sich die Aumlbte erfolgreich um Ruumlck-erwerb einstmals verlorener Herrschaftsrechte verdient gemacht und auch wie im Fall Abt Friedrichs von Wartenberg im Jahr 1446 aktiv Pfandausloumlsungen am Untersee betrieben (S XLII)

Trotz der zeitlich nahen Entstehungszeit der beiden Handschriften wurden im Vergleich Unvollstaumlndigkeiten in der Lehenschriftlichkeit bemerkt (S LXXII) Dabei lieszligen sich nicht nur zwischen den beiden Lehenbuumlchern Abweichungen hinsichtlich der Eintraumlge feststellen sondern auch im Abgleich mit erhaltenen Lehenurkunden in den verstreuten Urkundenbestaumlnden saumlmtlicher Archive

Die auf die Einleitung folgenden Editionen werden ihrem Ziel bdquodie beiden Lehen- buumlcher in einer leicht handhabbaren und selbsterklaumlrenden Form zu erschlieszligenldquo (S LXXXI) mehr als gerecht Als besonders nutzerfreundlich erweist sich die Entschei-dung des Editors Nachtraumlge in den Lehenbuumlchern durch Einruumlckungen kenntlich zu ma-chen Die fortlaufenden Nummerierungen der Eintraumlge die teils vorhanden teils ergaumlnzt wurden tragen ebenfalls zur Lesbarkeit bei Die Gestaltung der Editionen und der dazu-gehoumlrenden Apparate wurden in der Einleitung gut vorbereitet und erlaumlutert (S LXXXI) sodass sich auf formaler Ebene die Texte mit ihren Anmerkungen dem Leser leicht erschlieszligen

Den groumlszligten Gewinn dieser Editionen stellen jedoch die sauber gearbeiteten Register dar die sich aus Orts- Personen- und Sachregister zusammensetzen und fuumlr beide Le-henbuumlcher einzeln erarbeitet wurden Das Sachregister zum Lehenbuch Abt Friedrichs von Wartenberg foumlrdert dabei manch kurioses Lemma zu Tage (z B im Eintrag Nr 820)

Abschlieszligend sei der im Vorwort geaumluszligerten Bemerkung des Editors es handele sich bei dieser Quellenedition um eine bdquoeher unspektakulaumlre Grundlagenforschungldquo vehement widersprochen Solide Grundlagenforschung wurde zwar tatsaumlchlich betrieben jedoch ist diese dank der gewinnbringenden und nutzerfreundlichen Aufarbeitung insbesondere durch die sorgfaumlltigen Register und das Kartenmaterial auf ihre Art und Weise spekta-kulaumlr Hinsichtlich des dreizehnhundertjaumlhrigen Gruumlndungsjubilaumlums des Inselklosters im Jahr 2024 und daruumlber hinaus duumlrfte diese Edition die Basis fuumlr weiterfuumlhrende Studien geschaffen haben

Barbara Frenk

Ruth WIEDERKEHR Lesen schreiben beten heilen Die Bibliothek des mittelalterlichen Klosters Hermetschwil (Murensia Bd 6) Zuumlrich Chronos-Verlag 2018 65 S Abb Brosch EUR 12ndash ISBN 978-3-0340-1494-6

Das seit 1985 wieder bestehende Benediktinerinnenkloster Hermetschwil im schwei-zerischen Kanton Aargau geht auf ein Doppelkloster in Muri zuruumlck um 1200 siedelten

747Orden Kloumlster und Stifte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 747

teten Provinz Obergermanien wurden waumlre ohne die archaumlologische Erforschung dieser Gebiete um ein vielfaches geringer Jedoch ist allein durch Ausgrabungen noch nichts gewonnen erst Bearbeitung Auswertung und Publikation des archaumlologischen Fund- materials erschlieszligen diese wichtige Informationsquelle der Forschung Aus diesem Grund ist das Erscheinen der umfangreichen und detaillierten Monographie von Lars Bloumlck uumlber die roumlmerzeitliche Besiedlung des rechten suumldlichen Oberrheingebiets sehr erfreulich Der Autor praumlsentiert die Siedlungsgeschichte des Raumes in klarer und uumlbersichtlicher Art und Weise Das Buch teilt sich in einen ausfuumlhrlichen Analyseteil (S 13ndash283) und einen umfangreichen Katalogteil (S 284ndash464) in dem alle roumlmerzeit-lichen Fundstellen des Untersuchungsgebiets mit den jeweils wichtigsten Informatio- nen praumlsentiert werden Abgeschlossen wird die Arbeit durch Listen (S 465ndash470) die die gezielte Suche im Katalogteil erleichtern ein Quellen- und Literaturverzeichnis (S 471ndash510) und einen Abbildungsnachweis (S 511) Ferner sind dem Buch mehrere Karten beigegeben

Auf eine instruktive Einleitung (S 13ndash28) in der das Untersuchungsgebiet die Fragestellung und die Forschungsgeschichte naumlher vorgestellt werden und einige Bemerkungen zur Genese des Quellenbestandes (S 29ndash39) folgt mit dem Kapitel bdquoTypologie und Auswertung der Plaumltze mit roumlmerzeitlichen Befunden bzw Fundenldquo (S 40ndash201) das Herzstuumlck des Analyseteils In diesem Kapitel wird dem Leser die im Katalogteil steckende Masse an Informationen durch eine detaillierte wissenschaftliche Auswertung der Befunde und Funde uumlbersichtlich praumlsentiert Daran anschlieszligend wird naumlher auf die Chronologie eingegangen (S 202ndash222) und eine archaumlologisch-historische Auswertung bezuumlglich der Siedlungsgeschichte des Arbeitsgebiets vorgenommen (S 223ndash277) Abgeschlossen wird der Analyseteil durch eine Zusammenfassung (S 278ndash283) Im Analyseteil seiner Arbeit liefert Bloumlck eine Vielzahl an interessanten Beobachtungen zu den Siedlungsarten und den einzelnen Siedlungsstellen Im Folgenden sollen nur die wichtigsten siedlungsgeschichtlichen und historischen Schlussfolgerungen des Autors zusammengefasst werden da sie nicht nur fuumlr die Lokalgeschichte sondern auch fuumlr uumlbergeordnete Fragen wie der Bedeutung des Rheins als Grenze der sogenann-ten Reichskrise des 3 Jh n Chr und den damit zusammenhaumlngenden Komplexen des sogenannten Limesfalls und der sogenannten Alemannischen Landnahme von Interesse sind Nach Meinung des Rezensenten legt der Autor eine schluumlssige Rekonstruktion der Siedlungsgeschichte seines Untersuchungsraumes vor In seinem Arbeitsgebiet habe laut Bloumlck die spaumltlategravenezeitliche Besiedlung gegen 80 v Chr und somit schon vor dem Ein-treffen der Roumlmer groumlszligtenteils ein Ende gefunden so dass diese bei der Ankunft Caesars am Rhein einen mehr oder weniger siedlungsleeren Raum vorgefunden haumltten Im Zuge der Feldzuumlge unter Augustus haumltten die Roumlmer deshalb ohne Probleme temporaumlre Mili-taumlranlagen im rechtsrheinischen Gebiet anlegen koumlnnen Obwohl sich die rechtsrheini-schen Gebiete noch offiziell auszligerhalb des Roumlmischen Reiches befanden habe eine zivile roumlmische Besiedlung im suumldlichen Teil des Untersuchungsgebiets in tiberisch-fruumlhclau-discher Zeit eingesetzt In dieser Zeitspanne seien ausschlieszliglich villae gegruumlndet worden ndash die noumlrdlichste in Heitersheim ndash die ihre Waren ins linksrheinische Gebiet von Augusta Raurica abgesetzt haben duumlrften waumlhrend vici dieser Zeitstellung nicht nachweisbar seien In claudisch-fruumlhflavischer Zeit habe die dortige Besiedlung zugenommen und es seien nun auch die ersten vici errichtet worden Etwas anders habe es sich im noumlrd- lichen Teil des Untersuchungsgebiets verhalten wo Bloumlck entgegen fruumlherer Forschungs-meinungen die von einer beginnenden Erschlieszligung dieses Gebiets in claudischer Zeit

750 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 750

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

die Nonnen nach Hermetschwil uumlber Ab dem 14 Jahrhundert eigenstaumlndig wurde das Kloster von der Reformation in Mitleidenschaft gezogen erlebte aber in der zweiten Haumllfte des 16 Jahrhunderts einen Wiederaufstieg Nach einem Brand in den 1670er Jahren entstand ein Archivturm der auch die Bibliothek aufnahm Ein Verzeichnis aus dem Jahre 1697 fuumlhrt drei Buumlchergestelle auf die 380 handschriftliche und gedruckte Buumlcher enthielten Vergleichsweise wenige Buumlcherkataloge aus Frauenkloumlstern haben sich erhalten

Die Hermetschwiler Nonnen stammten aus habsburgischen Verwalterfamilien und aus dem Stadtadel Ihr Kloster gehoumlrte zu den spezifisch suumlddeutschen Einrichtungen die wichtige Uumlberlieferer mystischer und anderer volkssprachiger Literatur des Mittelalters waren Quellengrundlage der Publikation sind 56 Handschriften des 12 bis 16 Jahr- hunderts die sich ein Sonderfall in der Schweiz vor Ort erhalten haben

Dieser Handschriftenfonds laumlsst mit seinen Besitzeintraumlgen das konkrete Interesse ein-zelner Nonnen an bestimmten Texten erkennen Schenkungsvermerke beispielsweise Widmungen von Buumlchern an einzelne Nonnen oder an den Konvent sind Quellen fuumlr die Netzwerke in die das Kloster eingebunden war Besonders beliebte Buumlcher waren das sbquoBuumlchlein der ewigen Weisheitlsquo des aus Konstanz stammenden Dominikaners Heinrich Seuse sowie die sbquo24 Altenlsquo des in Basel wirkenden Franziskaners Otto von Passau In der Summe dominiert auch sonst die deutsche Literatur Zu nennen waumlren als Grundlage des monastischen Lebens Bibeln liturgische Buumlcher Predigten und Ordensregeln Eine zweite Gruppe bildeten Chroniken Heiligenviten und Mirakelbuumlcher Von besonderer Wichtigkeit sind innerhalb dieses Fonds die 17 meist deutschsprachigen Gebets- und Andachtsbuumlcher die etwa im Zeitraum von 1380 bis 1520 entstanden sind 1697 waren es noch 30 Exemplare dieser Art Auf der Grundlage liturgischer Texte entstanden indi-viduelle Zusammenstellungen die Gebete zu den Tagzeiten Fuumlrbitten Passionsandach-ten Traktate zur Marienverehrung zur Eucharistie und anderes mehr enthalten Meist handelt es sich um kleinformatige Baumlnde in schlichten Einbaumlnden deren starke Abnut-zungsspuren einen intensiven Gebrauch uumlber Generationen hinweg bezeugen Diese Buumlcher wurden von den Nonnen selbst geschrieben die den Sprachstand ihrem eigenen Dialekt anpassten Vorlagen kamen aus anderen geistlichen Einrichtungen der Region Der wichtigste Repraumlsentant dieser Gattung ist das aus dem ersten Viertel des 15 Jahr-hunderts stammende sbquoHermetschwiler Gebetbuchlsquo Cod Chart 208 mit 101 Blaumlttern in einem Kopertumschlag Die dort uumlberlieferten Texte sind teils Uumlbersetzungen aus dem Lateinischen teils lassen sich die Quellen nicht naumlher bestimmen

Auch andere Textsorten erhellen den Alltag des einen landwirtschaftlichen Eigen- betrieb fuumlhrenden Klosters Arzneibuumlcher mit Rezepten und Aderlassbuumlcher dienten der Bekaumlmpfung von Krankheiten Prognostiken sollten die Organisation der Landwirtschaft im Jahreslauf erleichtern Hinzu kamen Beschwoumlrungen Heil- und Wettersegen Grund-lagenwissen uumlberlieferten auch Kalendarien die die Struktur des monastischen Jahres vorgaben und Abecedarien die in einpraumlgsamer Form Anweisungen fuumlr ein gutes Leben boten

Das Buch zieren 35 farbige Abbildungen fast alle aus den 56 Handschriften des 12 bis 16 Jahrhunderts aus Hermetschwil Sie uumlberliefern eine volkssprachige typisch weib-liche Bibliothek des Glaubens weltliche Literatur fehlt hier ganz Von lateinischen aus Muri stammenden Liturgica abgesehen handelt es sich hier um eine wichtige Quelle fuumlr den monastischen Alltag gebildeter Nonnen in einem laumlndlichen Raum zwar existierten Netzwerke in der Region der Alltag musste aber vor Ort organisiert werden Persoumlnliche

748 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 748

individuell zusammengestellte Gebetbuumlcher lassen die tagtaumlgliche intensive und mysti-sche Andachts- und Gebetspraxis der Hermetschwiler Benediktinerinnen nachvollziehen die ein Zentrum ihres monastischen Lebens bildete Armin Schlechter

Johannes MEYER Das Amptbuch Ed by Sarah Glenn DEMARIS (Monumenta Ordinis

Fratrum Praedicatorum historica Bd 31) Rom Angelicum University Press 2015 XXXII 538 S Abb Brosch EUR 65ndash ISBN 978-88-88660-66-0

Sarah Glenn DeMaris ist es gelungen mit der kritischen Editon des bdquoAmptbuchsldquo von Johannes Meyer OP (1422ndash1485) eine zentrale Quelle des Dominikanerordens vorzu- legen die insgesamt fuumlr die Kirchen- und Ordensgeschichte aber auch fuumlr die Germa- nistik von groszligem Interesse ist Johannes Meyer verfasste in der Mitte des 15 Jahrhun-derts fuumlr reformierte Frauenkloumlster dieses Werk das unter verschiedenen Titeln bekannt ist (z B bdquoBuch der Aumlmterldquo oder bdquoAumlmterbuchldquo) Die Frauen sollten nicht nur ein regel-treues Leben fuumlhren sondern auch uumlber die Gewohnheiten und die Geschichte ihres Ordens informiert werden

Als Leithandschrift waumlhlte DeMaris die aumllteste uumlberlieferte Handschrift die im Besitz des Reformklosters Schoumlnensteinbach war im Kloster St Katharina in Nuumlrnberg uumlber-liefert wurde (daher die Sigel N erhielt) und heute im Besitz der Lilly Library in Bloo-mington Indiana ist (Ricketts 198) Die Edition basiert auf insgesamt sechs Hand- schriften (die neben Nuumlrnberg urspruumlnglich aus Medlingen Zoffingen Pforzheim und Freiburg im Breisgau stammen und die DeMaris in Teil III fundiert beschreibt) DeMaris legt nicht nur eine musterguumlltige Edition vor sondern fuumlhrt zuerst umfassend in Meyers Leben Werk und seine Bedeutung fuumlr die Dominikanerobservanz ein (Teil I) Mit dem bdquoAmptbuchldquo wurden wiederholt noch weitere zentrale Texte zur Observanz uumlberliefert z B Meyers bdquoBuch der Ersetzungldquo oder Konrad von Preuszligens bdquoOrdnung des Dominika-nerinnenklosters Schoumlnensteinbachldquo sowie Exzerpte aus dem bdquoAdelshauser Schwes- ternbuchldquo Diese stellt DeMaris ebenso kenntnisreich vor wie die Verbreitung des bdquoAmptbuchesldquo (Teil II) Der Abbildungsteil (S 107ndash120) zeigt zum ersten Mal atembe-raubend bebilderte Initialen der edierten Handschriften die vor allem Nonnen darstellen und diese werden hoffentlich noch von Kunsthistorikern und -historikerinnen untersucht

Der Band bietet nicht nur die Edition sondern endet mit einer Uumlbersetzung des bdquoAmptbuchesldquo ins Englische diese Entscheidung ist ein kluger Schachzug um deutsch-sprachigen Quellen auch in Zukunft eine breite internationale Rezeption zu garantieren denn im englischsprachigen Raum wird der Kreis der Akademiker und Akademikerinnen zusehends kleiner der des Deutschen noch maumlchtig ist und hier auch noch in einer aumllteren Sprachstufe Da hilft kein Jammern viel mehr helfen konstruktive Loumlsungen wie diese Uumlbersetzung So bleibt zu hoffen dass der angezeigte Band in Forschung und Lehre eine breite Rezeption erfaumlhrt Sabine von Heusinger

Lars BLOumlCK Die roumlmerzeitliche Besiedlung im rechten suumldlichen Oberrheingebiet (For-

schungen und Berichte zur Archaumlologie in Baden-Wuumlrttemberg Bd 1) Wiesbaden Reichert 2016 511 S Abb Kt geb EUR 79ndash ISBN 978-3-95490-215-6 kostenlose Online-Ressource httpsbooksubuni-heidelbergdepropylaeumcatalogbook503 ISBN 978-3-947450-46-6

Unsere Kenntnis uumlber die rechtsrheinischen im heutigen Baden-Wuumlrttemberg gelege-nen Gebiete des Imperium Romanum die unter Kaiser Domitian Teil der neu eingerich-

749Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 749

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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individuell zusammengestellte Gebetbuumlcher lassen die tagtaumlgliche intensive und mysti-sche Andachts- und Gebetspraxis der Hermetschwiler Benediktinerinnen nachvollziehen die ein Zentrum ihres monastischen Lebens bildete Armin Schlechter

Johannes MEYER Das Amptbuch Ed by Sarah Glenn DEMARIS (Monumenta Ordinis

Fratrum Praedicatorum historica Bd 31) Rom Angelicum University Press 2015 XXXII 538 S Abb Brosch EUR 65ndash ISBN 978-88-88660-66-0

Sarah Glenn DeMaris ist es gelungen mit der kritischen Editon des bdquoAmptbuchsldquo von Johannes Meyer OP (1422ndash1485) eine zentrale Quelle des Dominikanerordens vorzu- legen die insgesamt fuumlr die Kirchen- und Ordensgeschichte aber auch fuumlr die Germa- nistik von groszligem Interesse ist Johannes Meyer verfasste in der Mitte des 15 Jahrhun-derts fuumlr reformierte Frauenkloumlster dieses Werk das unter verschiedenen Titeln bekannt ist (z B bdquoBuch der Aumlmterldquo oder bdquoAumlmterbuchldquo) Die Frauen sollten nicht nur ein regel-treues Leben fuumlhren sondern auch uumlber die Gewohnheiten und die Geschichte ihres Ordens informiert werden

Als Leithandschrift waumlhlte DeMaris die aumllteste uumlberlieferte Handschrift die im Besitz des Reformklosters Schoumlnensteinbach war im Kloster St Katharina in Nuumlrnberg uumlber-liefert wurde (daher die Sigel N erhielt) und heute im Besitz der Lilly Library in Bloo-mington Indiana ist (Ricketts 198) Die Edition basiert auf insgesamt sechs Hand- schriften (die neben Nuumlrnberg urspruumlnglich aus Medlingen Zoffingen Pforzheim und Freiburg im Breisgau stammen und die DeMaris in Teil III fundiert beschreibt) DeMaris legt nicht nur eine musterguumlltige Edition vor sondern fuumlhrt zuerst umfassend in Meyers Leben Werk und seine Bedeutung fuumlr die Dominikanerobservanz ein (Teil I) Mit dem bdquoAmptbuchldquo wurden wiederholt noch weitere zentrale Texte zur Observanz uumlberliefert z B Meyers bdquoBuch der Ersetzungldquo oder Konrad von Preuszligens bdquoOrdnung des Dominika-nerinnenklosters Schoumlnensteinbachldquo sowie Exzerpte aus dem bdquoAdelshauser Schwes- ternbuchldquo Diese stellt DeMaris ebenso kenntnisreich vor wie die Verbreitung des bdquoAmptbuchesldquo (Teil II) Der Abbildungsteil (S 107ndash120) zeigt zum ersten Mal atembe-raubend bebilderte Initialen der edierten Handschriften die vor allem Nonnen darstellen und diese werden hoffentlich noch von Kunsthistorikern und -historikerinnen untersucht

Der Band bietet nicht nur die Edition sondern endet mit einer Uumlbersetzung des bdquoAmptbuchesldquo ins Englische diese Entscheidung ist ein kluger Schachzug um deutsch-sprachigen Quellen auch in Zukunft eine breite internationale Rezeption zu garantieren denn im englischsprachigen Raum wird der Kreis der Akademiker und Akademikerinnen zusehends kleiner der des Deutschen noch maumlchtig ist und hier auch noch in einer aumllteren Sprachstufe Da hilft kein Jammern viel mehr helfen konstruktive Loumlsungen wie diese Uumlbersetzung So bleibt zu hoffen dass der angezeigte Band in Forschung und Lehre eine breite Rezeption erfaumlhrt Sabine von Heusinger

Lars BLOumlCK Die roumlmerzeitliche Besiedlung im rechten suumldlichen Oberrheingebiet (For-

schungen und Berichte zur Archaumlologie in Baden-Wuumlrttemberg Bd 1) Wiesbaden Reichert 2016 511 S Abb Kt geb EUR 79ndash ISBN 978-3-95490-215-6 kostenlose Online-Ressource httpsbooksubuni-heidelbergdepropylaeumcatalogbook503 ISBN 978-3-947450-46-6

Unsere Kenntnis uumlber die rechtsrheinischen im heutigen Baden-Wuumlrttemberg gelege-nen Gebiete des Imperium Romanum die unter Kaiser Domitian Teil der neu eingerich-

749Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 749

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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teten Provinz Obergermanien wurden waumlre ohne die archaumlologische Erforschung dieser Gebiete um ein vielfaches geringer Jedoch ist allein durch Ausgrabungen noch nichts gewonnen erst Bearbeitung Auswertung und Publikation des archaumlologischen Fund- materials erschlieszligen diese wichtige Informationsquelle der Forschung Aus diesem Grund ist das Erscheinen der umfangreichen und detaillierten Monographie von Lars Bloumlck uumlber die roumlmerzeitliche Besiedlung des rechten suumldlichen Oberrheingebiets sehr erfreulich Der Autor praumlsentiert die Siedlungsgeschichte des Raumes in klarer und uumlbersichtlicher Art und Weise Das Buch teilt sich in einen ausfuumlhrlichen Analyseteil (S 13ndash283) und einen umfangreichen Katalogteil (S 284ndash464) in dem alle roumlmerzeit-lichen Fundstellen des Untersuchungsgebiets mit den jeweils wichtigsten Informatio- nen praumlsentiert werden Abgeschlossen wird die Arbeit durch Listen (S 465ndash470) die die gezielte Suche im Katalogteil erleichtern ein Quellen- und Literaturverzeichnis (S 471ndash510) und einen Abbildungsnachweis (S 511) Ferner sind dem Buch mehrere Karten beigegeben

Auf eine instruktive Einleitung (S 13ndash28) in der das Untersuchungsgebiet die Fragestellung und die Forschungsgeschichte naumlher vorgestellt werden und einige Bemerkungen zur Genese des Quellenbestandes (S 29ndash39) folgt mit dem Kapitel bdquoTypologie und Auswertung der Plaumltze mit roumlmerzeitlichen Befunden bzw Fundenldquo (S 40ndash201) das Herzstuumlck des Analyseteils In diesem Kapitel wird dem Leser die im Katalogteil steckende Masse an Informationen durch eine detaillierte wissenschaftliche Auswertung der Befunde und Funde uumlbersichtlich praumlsentiert Daran anschlieszligend wird naumlher auf die Chronologie eingegangen (S 202ndash222) und eine archaumlologisch-historische Auswertung bezuumlglich der Siedlungsgeschichte des Arbeitsgebiets vorgenommen (S 223ndash277) Abgeschlossen wird der Analyseteil durch eine Zusammenfassung (S 278ndash283) Im Analyseteil seiner Arbeit liefert Bloumlck eine Vielzahl an interessanten Beobachtungen zu den Siedlungsarten und den einzelnen Siedlungsstellen Im Folgenden sollen nur die wichtigsten siedlungsgeschichtlichen und historischen Schlussfolgerungen des Autors zusammengefasst werden da sie nicht nur fuumlr die Lokalgeschichte sondern auch fuumlr uumlbergeordnete Fragen wie der Bedeutung des Rheins als Grenze der sogenann-ten Reichskrise des 3 Jh n Chr und den damit zusammenhaumlngenden Komplexen des sogenannten Limesfalls und der sogenannten Alemannischen Landnahme von Interesse sind Nach Meinung des Rezensenten legt der Autor eine schluumlssige Rekonstruktion der Siedlungsgeschichte seines Untersuchungsraumes vor In seinem Arbeitsgebiet habe laut Bloumlck die spaumltlategravenezeitliche Besiedlung gegen 80 v Chr und somit schon vor dem Ein-treffen der Roumlmer groumlszligtenteils ein Ende gefunden so dass diese bei der Ankunft Caesars am Rhein einen mehr oder weniger siedlungsleeren Raum vorgefunden haumltten Im Zuge der Feldzuumlge unter Augustus haumltten die Roumlmer deshalb ohne Probleme temporaumlre Mili-taumlranlagen im rechtsrheinischen Gebiet anlegen koumlnnen Obwohl sich die rechtsrheini-schen Gebiete noch offiziell auszligerhalb des Roumlmischen Reiches befanden habe eine zivile roumlmische Besiedlung im suumldlichen Teil des Untersuchungsgebiets in tiberisch-fruumlhclau-discher Zeit eingesetzt In dieser Zeitspanne seien ausschlieszliglich villae gegruumlndet worden ndash die noumlrdlichste in Heitersheim ndash die ihre Waren ins linksrheinische Gebiet von Augusta Raurica abgesetzt haben duumlrften waumlhrend vici dieser Zeitstellung nicht nachweisbar seien In claudisch-fruumlhflavischer Zeit habe die dortige Besiedlung zugenommen und es seien nun auch die ersten vici errichtet worden Etwas anders habe es sich im noumlrd- lichen Teil des Untersuchungsgebiets verhalten wo Bloumlck entgegen fruumlherer Forschungs-meinungen die von einer beginnenden Erschlieszligung dieses Gebiets in claudischer Zeit

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ISSN 0044-2607

ausgingen und das Militaumlr daran beteiligt sahen festhaumllt dass die dortige Besiedlung erst in neronisch-fruumlhflavischer Zeit eingesetzt habe und zivil gepraumlgt gewesen sei In diesem Teil des Arbeitsgebiets seien dann aber nicht nur villae sondern mit dem vicus Riegel auch gleich ein wichtiger Zentralort errichtet worden Der Autor kann ferner wahrschein-lich machen dass im Zuge dieser Besiedlung umfangreiche Rodungsmaszlignahmen durch-gefuumlhrt worden sein duumlrften und zumindest ein Groszligteil der fruumlhen Siedler im suumldlichen Teil des Untersuchungsgebiets aus dem nahegelegenen linksrheinischen helvetisch- raurakischen Gebiet gestammt haben duumlrfte Im spaumlten 1 und fruumlhen 2 Jh n Chr habe sich die Anzahl der Siedlungen vermehrt Es seien weitere vici gegruumlndet und auch wei-tere villae errichtet sowie schon bestehende teilweise vergroumlszligert worden wie z B die Axialhofvilla von Heitersheim Teilweise habe man im 2 Jh n Chr in den Siedlungen repraumlsentative Bauten errichtet wie die um 120 n Chr fertiggestellte Basilika in Riegel oder die wahrscheinlich ebenfalls in der ersten Haumllfte des 2 Jh n Chr errichtete Ther-menanlage in Badenweiler In der zweiten Haumllfte des 2 Jh n Chr sei es zu einer weiteren infrastrukturellen Erschlieszligung des Gebiets gekommen was beispielsweise aus der Gruumln-dung der Bergbausiedlung in Sulzburg hervorgehe Gleichzeitig duumlrfte der Ruumlckgang der Bestattungen darauf hindeuten dass auch manche Siedlungsstelle verlassen worden sei Im 3 Jh n Chr habe eine Siedlungsreduktion eingesetzt deren genauer chronologischer Ablauf aber schwer zu rekonstruieren sei Neben einer Reduktion des Siedlungsareals wie es sich im vicus von Riegel nachweisen lieszlige habe man mehrere andere vici im ersten Drittel des 3 Jh n Chr ganz aufgegeben Ebenso duumlrften einige villae in diesem Zeitraum verlassen worden sein in anderen habe eine Reduktion und Umnutzung der Baustruktur stattgefunden Allerdings seien auch vereinzelte Beispiele fuumlr repraumlsentative Umbauten an villae feststellbar so dass kein gleichmaumlszligiger krisenhafter Verfallsprozess zu konstatieren sei Es lasse sich auch kein Zusammenhang mit den historisch bekannten Germaneneinfaumlllen herstellen weshalb Bloumlck von einem Transformationsprozess der Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen ausgeht der zur Aufgabe oder Reduktion einiger Siedlungsstellen gefuumlhrt habe Um die Mitte des 3 Jh n Chr sei es zu weiteren Reduk-tionen im Siedlungsbild gekommen Hierbei habe keine komplette Raumlumung des Gebiets im Zuge des sogenannten Limesfalls in den Jahren um 260 n Chr stattgefunden sondern einige Siedlungen vici wie auch villae haumltten noch bis in die Zeit um 28090 n Chr Be-stand gehabt Ein endguumlltiger Abbruch der roumlmischen Besiedlung des Untersuchungs- gebiets sei erst in tetrarchischer Zeit im Zuge des militaumlrischen Ausbaus des Rheins als Grenze feststellbar Nachdem man den Rhein unter der Tetrarchie als Grenzzone ein-gerichtet habe und die zivile roumlmische Besiedlung im Untersuchungsgebiet abgebrochen war koumlnne man in der ersten Haumllfte des 4 Jh n Chr Militaumlrplaumltze in Grenzach-Wyhlen und vielleicht in Bad Saumlckingen und Riegel nachweisen Da diese Orte an wichtigen Verkehrsknotenpunkten des rechtsrheinischen Gebiets lagen vermutet Bloumlck dass das Verkehrsnetz aus roumlmischer Zeit in der ersten Haumllfte des 4 Jh n Chr noch funktioniert habe und durch die Militaumlrplaumltze kontrolliert worden sei Ebenso seien weiterhin Roh-stoffe im Rechtsrheinischen gewonnen worden was vom Tuniberg im Kaiserstuhl stam-mende Steine belegen die man fuumlr den Bau des praetorium in Breisach verwendet habe Uumlber die laumlndliche Besiedlung zu dieser Zeit sei wenig bekannt die bekannten Funde koumlnnten jedoch die Vermutung unterstuumltzen dass germanische Siedler sich an einigen zuvor roumlmischen Siedlungsplaumltzen niedergelassen haumltten Einen wirklichen Wandel in der Besiedlung koumlnne man aber erst im spaumlten 4 Jh n Chr und im fruumlhen 5 Jh n Chr mit der Errichtung von Houmlhensiedlungen und laumlndlichen germanisch gepraumlgten Sied-

751Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 751

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

lungen fassen Diese Veraumlnderungen sieht Bloumlck mit dem Zuzug germanischer Bevoumllke-rungsgruppen in Zusammenhang stehend

Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Autor eine archaumlologisch wie auch histo-risch uumlberaus anregende Siedlungsgeschichte des suumldlichen rechten Oberrheingebiets vorgelegt hat die sowohl fuumlr zukuumlnftige archaumlologische wie auch historische Forschun-gen zu diesem Gebiet aber auch zu Obergermanien als Ganzem ein wichtiges Referenz-werk sein wird Daruumlber hinaus duumlrften von dieser Arbeit ebenfalls Impulse fuumlr weitere uumlbergeordnete Fragen wie beispielsweise dem Ablauf der sogenannten Reichskrise des 3 Jh n Chr im Norden des Imperium Romanum oder der Ausgestaltung roumlmischer Grenzzonen ausgehen

Markus Zimmermann

Francisca FERAUDI-GRUEacuteNAIS Renate LUDWIG Die Heidelberger Roumlmersteine Bild-werke Architekturteile und Inschriften im Kurpfaumllzischen Museum Heidelberg Heidelberg Kurpfaumllzisches Museum u a 2017 123 S Brosch EUR 16ndash ISBN 978-3-8253-6693-3

Schon der im fruumlhen 3 Jh n Chr schreibende Historiker Cassius Dio haumllt in seinem Werk fest dass in den Provinzen taumlglich Dinge geschehen wuumlrden von denen man in Rom nichts erfahre (Cass Dio 53 19 4 f) Diese Ausgangslage ist fuumlr die heutzutage an der roumlmischen Geschichte Suumlddeutschlands Interessierten durch die fragmentarische Uumlberlieferung der antiken Literatur und deren Rom-Zentrierung nicht gerade besser ge-worden und so waumlre unsere Kenntnis der Geschichte des rechtsrheinischen Obergerma-nien ohne die Archaumlologie und die Epigraphik recht gering Es ist deshalb uumlberaus zu begruumlszligen dass Francisca Feraudi-Grueacutenais und Renate Ludwig mit den im Kurpfaumllzi-schen Museum ausgestellten Steindenkmaumllern sowie einigen Kleininschriften diese fuumlr die Geschichte des Heidelberger Raumes in roumlmischer Zeit so wichtige Quellengruppe der Oumlffentlichkeit in einem mit einleitenden Erlaumluterungen versehenen Katalog zugaumlng-lich gemacht haben

In den einfuumlhrenden Kapiteln (S 9ndash20) werden knapp aber konzise die Forschungs- und Sammlungsgeschichte die Funktion von roumlmischen Inschriften der archaumlologische Kenntnisstand zum antiken Heidelberg und die Aussagekraft der Heidelberger Inschriften fuumlr unsere Kenntnis der dortigen Verhaumlltnisse in roumlmischer Zeit skizziert Die Fachwis-senschaft wird in diesem Teil nichts Neues finden Die interessierte Oumlffentlichkeit jedoch an die sich das Werk laut Vorwort richtet bekommt hier das Ruumlstzeug auf den Weg mit-gegeben das fuumlr ein Verstaumlndnis der im Katalog vorgestellten Denkmaumller notwendig ist Der ausfuumlhrliche Katalog (S 21ndash106) bildet das Herzstuumlck des Buches und praumlsentiert die einzelnen Denkmaumller Diese sind mit Farbfotographien abgebildet Sollte eine In-schrift vorhanden sein was bei der Mehrzahl der Denkmaumller der Fall ist so ist dieser eine deutsche Uumlbersetzung beigegeben Ein Kommentar sowie ein kleiner Infokasten zu jedem Denkmal liefern weitere nuumltzliche Informationen Insgesamt ist der Katalogteil als sehr gelungen zu bezeichnen und liefert alle Informationen die man fuumlr eine weitere Beschaumlftigung mit den Denkmaumllern benoumltigt Abgeschlossen wird das Buch durch ein hilfreiches und ausfuumlhrliches Register (S 107ndash122) und den Abbildungsnachweis (S 123) Insgesamt haben die Autorinnen ein informatives Werk vorgelegt wobei der Katalogteil nicht nur der interessierten Oumlffentlichkeit sondern bestimmt auch Studieren-den oder Forschenden die sich einen Uumlberblick uumlber die Ausstellungsstuumlcke des Mu- seums verschaffen wollen gute Dienste leisten wird Markus Zimmermann

752 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Juumlrgen KEDDIGKEIT Stefan ULRICH (Hg) Ausgewaumlhlte Beitraumlge der pfaumllzischen Bur-genforschung 2014ndash2018 (Burgen in der Pfalz Reihe F Bd 1) Neustadt an der Wein-straszlige Selbstverlag der Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung 2018 XXXIV 385 S Abb geb EUR 43ndash ISBN 978-3-942189-24-8

Seit 1993 finden mit wechselnd zusammengesetzter Ausrichterschaft bdquoPfaumllzische Burgensymposienldquo statt Das 25 bot Anlass deren Programme zu publizieren (S IXndashXXXIV) und erstmals ausgewaumlhlte Referate im Sinne einer bdquohaptischen Plattformldquo ndash so das Vorwort der Herausgeber ndash zum Abdruck zu bringen Zunaumlchst gibt (S 1ndash30) Juumlrgen KEDDIGKEIT einen Uumlberblick uumlber die Burgenforschung dieses historischen Raums beginnend 1726 mit einer Zweibruumlcker Schuumllerarbeit zur Geschichte des Trifels von Johannes Schlaaff (vgl dazu die Rezension der Neuedition von 2016 in ZGO 165 [2017] S 544 f) und spaumlter gepraumlgt durch das unverbundene und daher unfruchtbare Neben- einander von geschichtlich und baugeschichtlich orientierten Werken darunter auch badischer Autoren wie J Naeher was im Grunde neuerdings erst durch das Zusammen-wirken von Thomas Biller und Bernhard Metz uumlberwunden wurde bestaumltigt durch die Bearbeitung des Pfaumllzischen Burgenlexikons (1999ndash2007) das seinerseits weitere Aktivitaumlten wie Fuumlhrer und Quelleneditionen anregte

Es folgt (S 31ndash56) der Wiederabdruck eines Beitrags bdquoBerg Burg und Herrschaft im hohen Mittelalterldquo von Stefan WEINFURTER (dagger) der eine Feststellung Manfred Grotens fuumlr den Raum des Erzstifts Koumlln aufgreifend die eigentliche Adelsburg als Gipfelburg ca 1080 also im Investiturstreit entstanden sah als Manifestation hochadligen Aufstei-gertums und Kern spaumlterer Territorialstaatlichkeit zu Lasten der hergebrachten Land-rechtspraxis

Andreas Urban FRIEDMANN konnte einen 2014 unter dem Titel bdquoDer Enthalt in den pfaumllzischen Burgfriedensurkundenldquo gehaltenen Vortrag dank seiner 2018 erschienenen Quellenedition (vgl die Rezension in ZGO 167 [2019] S 458ndash460) nun umarbeiten zu bdquoBurg und Fehde im Spiegel der pfaumllzischen Burgfriedensurkundenldquo (S 57ndash92) und ver-steht dabei ndash viel zu eng gefuumlhrt ndash die Burgfriedensurkunde bdquowesentlich als fehderecht-liche Ausnahme- persoumlnliche eben und oumlrtliche Unterlassungserklaumlrungldquo (S 58 vgl auch S 87) Da der Rezensent 2009 in einem Aufsatz auf der Grundlage von 80 Burg-friedensurkunden das Phaumlnomen der Burgfrieden systematisch zu beschreiben versucht hat diese Arbeit von Friedmann jedoch lediglich einmal an entlegener Stelle (Anm 96) erwaumlhnt wird um eine dort nur in Anlehnung an fruumlhere Arbeiten getroffene Feststellung zur Dauer des Enthalts zu verwerfen (was Anm 100 in bdquoUnsinn solch traditionell gewordener Wertungldquo gipfelt) nimmt er wegen Befangenheit zu diesem Beitrag nicht weiter Stellung

Mit Vergnuumlgen nimmt man dagegen zur Kenntnis was Martin ARMGART (S 93ndash116) uumlber bdquoDie Schenken von Ramberg und ihre Stiftung Muszligbachldquo ndash im bdquoHerrenhofldquo dort finden neuerdings die Burgensymposien statt ndash auszufuumlhren weiszlig naumlmlich zur Rolle des Johanniterordens und seiner Kommende Heimbach deren membrum Muszligbach aus jener Stiftung entstand und ndash neu ndash zum mutmaszliglich Hochstift-Speyerer Schenkenamt des der Reichsministerialitaumlt entstammenden Familie von Ramberg Die hier schon sichtbar ge-wordene ertragreiche Verschraumlnkung mit der Bearbeitung des Pfaumllzischen Klosterlexikons bestaumltigt auch Ulrich BURKHARTS Beitrag (S 117ndash150) uumlber das von der lothringischen Herzogsfamilie ndash sogar zeitweise als Grablege ndash gegruumlndete Zisterzienserkloster Stuumlr-zelbronn (zwischen Weiszligenburg im Elsass und Bitsch) im Kontext der benachbarten zahl-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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reichen adligen Burggruumlndungen die als eigenstaumlndig und nicht (mehr) von der Kaiser- pfalz Hagenau abhaumlngend qualifiziert werden

In seinem Beitrag bdquoDie Bedeutung von Burgen fuumlr den Niederadel an der Wende vom 15 zum 16 Jahrhundertldquo vermag Joachim SCHNEIDER auch dank eines prosopographi-schen Ansatzes Wertvolles zum Wesen der Ganerbenburgen ndash bdquoKristallisationskernen adliger Vergesellschaftungldquo (S 173) ndash beizubringen naumlmlich hinsichtlich eines Inte- ressenausgleichs untereinander Schaffung einer gemeinsamen Identitaumlt und Foumlrderung gemeinsamer standespolitischer Zielsetzungen Nur dass ebenso wie Franz von Sickingen 1510 auch Koumlnig Maximilian I 1505 (nur) aus Prestigegruumlnden in die Ganerbschaft Drachenfels eingetreten sei moumlchte man hinterfragen

Aus eigener editorischer Erfahrung speist Hans-Joachim KUumlHN seinen Beitrag bdquoPfalz-Zweibruumlcker Burgbesatzungen im Spiegel spaumltmittelalterlicher Rechnungenldquo (S 175ndash200) als mit uumlberraschend wenig und noch dazu mehrfunktional eingesetztem Personal der Wandel sogar von Residenzburgen von der Wehrhaftigkeit zum Verwal-tungssitz zu organisieren war

Anders als im Fall der klassischen Ministerialenburg Muumlnzenberg in der Wetterau ist von der Burg (Neu-)Bolanden des mindestens ebenso prominenten am Donnersberg beheimateten Ministerialengeschlechts der Bolanden fast nichts Aufgehendes mehr zu sehen Aus dieser Not machen Olaf WAGENER und Achim WENDT (S 201ndash272 ebenso ein Wiederabdruck) eine Tugend indem sie aus Anlass und dank einer 2014 begonnenen umfassenden Untersuchung musterhaft alle Informationen zur Geschichte Abbildungen und Karten eine geophysikalische Prospektion und den Baubefund systematisch zu einer eindrucksvollen Synthese verdichten gefolgt von einer Abschichtung von der aumllteren wohl um 1200 aufgegebenen Niederungsburg Alt-Bolanden und im Vergleich mit Burg Muumlnzenberg mit der das Ermittelte ndash naumlmlich die bauliche Dimension eines Grafensitzes mit einem Bergfried von 13 m Seitenlaumlnge und groszligem Palasbau ndash keinen Vergleich zu scheuen braucht ein Essay zur imperialen Architekturrepraumlsentation mit einer Warnung vor Uumlberinterpretationen kroumlnt das Ganze

Die ideologische Indienstnahme von Burgen thematisiert Fabian LINK der die durch den bayrischen Ministerpraumlsidenten Ludwig Siebert betriebene nicht konservierende sondern bdquoim staufischen Geistldquo Neues schaffen wollende Wiederrichtung des Trifels als Zeugnis eines bdquonationalsozialistischen Mediaumlvalismus und der NS-Kulturpolitik in der Pfalzldquo (S 273ndash298) beschreibt und dabei auch auf die Herleitung solchen Gedankenguts aus der aumllteren Heimatbewegung und auf Parallelen im spanischen und italienischen Faschismus hinweist so wundert es nicht dass 1948 ein Komitee zur Fertigstellung der Baumaszlignahme Rudolf Esterers aufrief die von 1955 bis 1966 stattfand

Musterhaft stellen Bernhard METZ und Thomas BILLER (S 299ndash344) die Geschichte und Bauanalyse der als Schutz von Rodungsgebiet angelegten Burg Hohnack hoch ober-halb Colmar dar die Mitte des 14 Jahrhunderts als Nebensitz der Rappoltsteiner aufge-geben aber um 147080 als im Unterschied zu deren Stammburgen kanonensicherer Sitz gleichsam zur Proto-Festung umgestaltet wurde was 1655 Frankreich zur ihrer Schlei-fung veranlasste Schlieszliglich widmet sich Stefan ULRICH akribisch der Erforschung der gegenuumlber Neuleiningen gelegenen und viele Raumltsel aufgebenden bdquoAlten Burg zu Bat-tenbergldquo (S 345ndash384) sie duumlrfte zunaumlchst um 1200 auf Besitz der Abtei Murbach wohl unberechtigt erbaut und daher bald wieder niedergelegt worden sein um etwa 1600 durch die Grafen von Leiningen-Hardenberg als Sitz wiedererrichtet und nach Teilzerstoumlrungen wohl 1689 1747 erneut aufgegeben zu werden

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Diese gut mit Abbildungen und Plaumlnen ausgestattete Publikation vermag den derzei-tigen Stand der Burgenforschung naumlmlich ihre interdisziplinaumlre und diachrone Leistungs-faumlhigkeit ihre Themen- und Methodenvielfalt aber auch ihre Probleme gut bewusst zu machen Sie verdient daher Aufmerksamkeit weit uumlber dieses Fachgebiet hinaus ebenso auch raumlumlich weit uumlber die im Titel suggerierte Beschraumlnkung auf die Pfalz

Volker Roumldel

Roland WEIS Burgen im Hochschwarzwald Ostfildern Thorbecke 2019 240 S Abb

geb EUR 29ndash ISBN 978-3-7995-1368-5

Das von dem Neustaumldter Autor und Historiker Roland Weis vorgelegte Buch uumlber Burgen im Hochschwarzwald behandelt das Gebiet zwischen dem Dreisambecken im Westen der Schluchsee-Gegend im Suumlden dem Uumlbergangsbereich von Schwarzwald und Baar im Osten und bis Voumlhrenbach im Norden Hier liegt ein Interessenschwerpunkt des Autors der neben etlichem anderen bereits mehrere Baumlnde uumlber den Hochschwarzwald mit der zeitlichen Ausdehnung von der Praumlhistorie bis heute aber auch mehrere Hoch-schwarzwald-Wanderfuumlhrer und -Kriminalromane veroumlffentlicht hat Der Band will mit bdquopopulaumlrwissenschaftlichem Ansatz als Lese- und Einfuumlhrungsbuch verstanden seinldquo Zur leichteren Lesbarkeit wurde auf Fuszlignoten im Text verzichtet wobei der Autor den bdquowissenschaftlichen Anspruchldquo dadurch nicht geschmaumllert sieht (S 15) Der Band ist mit einem Literaturverzeichnis und einem Orts- und Personenregister ausgestattet

Eine definitorische Eingrenzung was eine Burg ist wird nicht vorgenommen Daher werden vielfaumlltige Formen von Befestigungen und repraumlsentativen Gebaumluden behandelt die in der Fachliteratur gewoumlhnlich unterschieden werden Das chronologisch geordnete Buch beginnt mit praumlhistorischen Anlagen die bis ca 800 n Chr datiert werden gefolgt von weiteren zeitlichen Kategorien bdquobis 1000 nach Christusldquo bdquobis 1300 nach Christusldquo bdquobis 1500 nach Christusldquo und bdquobis heuteldquo (Kartierung auf S 8 f) Unter den aumlltesten Anlagen finden sich eisen- und voumllkerwanderungszeitliche darunter Tarodunum im Drei-samtal und das Roumlmerkastell in Huumlfingen Die drei mittleren zeitlichen Kategorien behandeln mittelalterliche Adelsburgen wobei besonders bei den aumllteren die zeitliche Einreihung mitunter deutlich von der bisherigen burgenkundlichen Literatur abweicht die keinen Anlass sieht fuumlr diese Burgen eine Entstehung vor dem mittleren 11 Jahrhun-dert anzunehmen In der letzten Kategorie werden vier Schloumlsser bzw Amtshaumluser behandelt von denen drei auf aumlltere herrschaftliche Gebaumlude folgten

Der Band behandelt insgesamt 52 Anlagen denen fast durchgaumlngig Fotografien des Autors beigegeben werden Diese sind mal mehr mal weniger aussagekraumlftig was mit der teils schwer fotografierbaren Situation vor Ort zu tun haben mag Die vom Autor in den Bildern festgestellten Befunde koumlnnen vom Betrachter nicht immer nachvollzogen werden Eigene Grundrisszeichnungen die diesbezuumlglich vielleicht haumltten Abhilfe schaf-fen koumlnnen fehlen Ebenfalls beigegeben werden zu fast allen Anlagen Rekonstruktions-zeichnungen die das Laienpublikum gerne sieht die Fachwelt jedoch ablehnt Weis ist sich der Problematik bewusst dass die archaumlologischen und baukundlichen Befunde solche Rekonstruktionen so gut wie nie zulassen moumlchte aber dennoch in Anlehnung an Arthur Hauptmanns populaumlre Darstellung bdquoBurgen einst und jetztldquo nicht darauf verzich-ten da auf diese Weise bdquoromantisierende Annaumlherungenldquo moumlglich seien bdquodie bis zu einem gewissen Grad hohe Plausibilitaumlt in sich bergenldquo Dabei stuumltzt er sich auf aumlltere Darstel-lungen der Anlagen oder orientiert sich an bdquovergleichbaren Bauten in vergleichbaren Zeit-

755Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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horizonten und in verwandten Gelaumlndereliefsldquo (S 13) Von der Burg Stallegg berichtet Weis beispielsweise bdquoOb ein Bergfried vorhanden war ein Palas eine Vorburg eine Wehrmauer ndash wir wissen es nichtldquo (S 113) Dennoch sind alle diese Bauteile auf der Rekonstruktionszeichnung drei Seiten davor dargestellt

Etliche Befunde und Darstellungen des Bandes sind fragwuumlrdig ndash hier einige Beispiele Am Weg von Huumlfingen nach Riegel vermutet Weis bdquoRoumlmertuumlrmeldquo die der bdquoReiselfinger Dorflehrer Theodor Laubenbergerldquo am Standort der andernorts im Band behandelten Burgen Stahleck und Tanneck bereits im Jahr 1908 angenommen hatte (S 42 f) Dass in den uumlber 100 Jahren seither keinerlei Uumlberreste oder Spuren dieser Tuumlrme aufgefunden werden konnten ficht Weis nicht an bdquoDas Fehlen solcher Beweise ndash nach denen auch noch nie gesucht wurde ndash beweist natuumlrlich noch lange nicht das Fehlen an sichldquo Diese Argumentation ist wohlfeil Seine bdquoSpekulationldquo uumlber die Roumlmertuumlrme versucht Weis mit der Herleitung des Namens der Freiburger Patrizierfamilie Turner von einem Roumlmerturm zu unterfuumlttern den Joseph Bader im Jahr 1866 auf der Schwarzwaldhoumlhe Thurner annahm In der Freiburger stadtgeschichtlichen und burgenkundlichen Literatur besteht allerdings schon seit langem Konsens dass der Name der Familie von einem ndash mittel- alterlichen ndash Turm im ehemals im heutigen Stadtteil Wiehre gelegenen Turnsee herzu-leiten ist

Die Burg Wiesneck zaumlhlt zu den aumlltesten historisch belegten Burgen am Oberrhein Ihre erste Erwaumlhnung findet sich zum Jahr 1079 Die Entstehung der Burg wird zu einem nicht genauer eingrenzbaren Zeitpunkt im 11 Jahrhundert vor diesem Datum angenom-men wobei insbesondere archaumlologische Funde aus dieser Entstehungsphase bislang feh-len Nachdem Weis wohl auf Grundlage der einschlaumlgigen Literatur die Geschichte der Burg in Eckdaten nachzeichnet (S 54 ff) widmet er sich der Frage nach ihrem bdquowahren Alterldquo (S 56) Ohne Naumlheres auszufuumlhren schreibt er von vielen Indizien die fuumlr eine bdquofraumlnkische alemannische oder gar keltische Vergangenheit des Burgplatzesldquo spraumlchen Im Kern argumentiert er dass es in jenen Zeiten bereits Wege uumlber den Schwarzwald ge-geben habe die von der Burg Wiesneck aus bereits damals geschuumltzt worden sein koumlnnten (bdquoDie Burg Wiesneck haumltte dazu an der richtigen Stelle gestandenldquo) und bringt als Er-bauer bdquokleinadelige Pioniereldquo ins Gespraumlch die hier die Funktion der Schutzherren uumlber-nommen haumltten

Unter dem Namen bdquoKasteleckldquo fuumlhrt Weis eine kleine Motte bei Oberried ein (S 59 ff) die jedoch unter diesem Namen in den Quellen gar nicht auftaucht Das Toponym gehoumlrt zu einer Bergnase gegenuumlber der in der Ebene gelegenen Burgstelle und in ca 500 m Entfernung In einer nicht nachvollziehbaren Argumentation vermischt er den Flurnamen ein in der Literatur genanntes festes Haus das bei diesem Kasteleck gelegen haben soll und eben die namenlose Motte bei Oberried Zudem plaumldiert Weis auch hier fuumlr ein deutlich houmlheres Alter als bislang angenommen Hierzu fuumlhrt ihn die Annahme eines Wegenetzes auf den Hochschwarzwald wie bereits bei der Burg Wies-neck postuliert das von der Motte aus geschuumltzt werden sollte

Auf den Anhoumlhen zwischen dem Houmlllental und dem Weilersbacher-Zastlertal gibt es die Toponyme Roteck und Schwarzeck Wegen in der Gegend gelaumlufiger Sagen nimmt Weis auch hier die Existenz zweier Burgen an Obwohl es keinerlei archaumlologische oder historische Quellen gibt wird auch diesem Artikel eine Rekonstruktion einer der beiden Burgen vorangestellt (S 67) Zudem verunsichert es Weis nicht dass in der Sage die vom Schwarzeck uumlberliefert ist gar keine Burg vorkommt Die Sage vom Roteck ndash hier gibt es immerhin eine stereotype Erzaumlhlung von einem grausamen Burgherrn der mitsamt

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seinem Schloss am Ende in einem unterhalb der Burgstelle gelegenen See versank ndash ist der einzige Hinweis auf eine an dieser Stelle gelegene Burg Dies nimmt Weis als Indiz fuumlr das hohe Alter der Anlage die hier einst gestanden habe bdquoin [der] Zeit vor den urkundlichen Belegenldquo (S 70) Dass die Sage eines historischen Kerns entbehren koumlnnte wird dagegen nicht in Erwaumlgung gezogen

Weis geht generell von einer fruumlheren Besiedlung des Hochschwarzwalds aus als weit-hin angenommen Dies wirkt vor allem in die Diskussionen um die Entstehungszeit der aumlltesten Burgen hinein Fuumlr die dabei ins Gespraumlch gebrachten Zeitraumlume kann Weis dann allerdings keine validen Belege beibringen so dass diese Abschnitte spekulativ sind ndash in aller Regel durchaus auch so gekennzeichnet bzw bezeichnet Hinzu kommt eine weithin unkritische Einstellung der aumllteren und aumlltesten Literatur sowie an den Orten gelaumlufigen Sagen gegenuumlber denen Weis stets bereitwillig vertraut wenn sie einen Hinweis auf eine Burg liefern Damit bleibt ein kritisches Fazit zu ziehen

Boris Bigott

Joumlrg KREUTZ Berno MUumlLLER (Hg) Sakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreis Heidelberg Eigenverlag Rhein-Neckar-Kreis 2018 613 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-932102-39-4

Einem Messbuch gleich liegt der groszligformatige Band auf dem Tisch 616 Seiten mit ca 1400 Abbildungen 38 kg Gewicht lila Hardcover Lesebaumlndchen in Lila und Gelb Auf dem Einband eine kreuzfoumlrmige Fotocollage mit Werken kirchlicher Kunst aus ver-schiedenen Jahrhunderten Kruzifix Wand- und Deckenmalerei Madonnenfigur Glas-fenster Kanzel Orgel Glocke Damit ist der Inhalt des Buches umrissen bdquoSakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreisldquo Das Werk vereint eine riesige uumlber Jahre hinweg zusammen-getragene und beschriebene Materialfuumllle ndash eine Leistung fuumlr die den Herausgebern dem Autorenteam aus verschiedenen fuumlr das Thema relevanten Fachgebieten und der Foto-grafin groszliger Respekt zu zollen ist

Der Band erlaumlutert Architektur und kuumlnstlerische Ausstattung von 210 katholischen und evangelischen Kirchen aus den 54 Staumldten und Gemeinden des Rhein-Neckar- Kreises Gleichzeitig beschreibt er rund tausend Jahre religioumlse Architektur und Kunst-geschichte Von der auf einer roumlmischen Marktbasilika basierenden Kirche St Gallus in Ladenburg deren Krypta im 11 Jahrhundert erbaut wurde bis zum evangelischen Pau-lushaus in Malsch das 2016 fertiggestellt wurde Zudem ist es den Machern des Buches wichtig die Kirchen als Orte der Froumlmmigkeit und des geistlichen Lebens vorzustellen und zum Besuch derselben einzuladen

Den Anfang machen zwei Beitraumlge von Hans GERKE Der ehemalige Direktor des Hei-delberger Kunstvereins hat sich lange mit Kirchen beschaumlftigt In der renommierten Reihe der Kunstfuumlhrer des Verlags Schnell amp Steiner hat Gerke seit 1970 Kirchenfuumlhrer ver- oumlffentlicht und schoumlpft fuumlr den vorliegenden Band aus diesem Wissensspeicher Er erlaumlutert die Konfessions- und Kirchengeschichte des Rhein-Neckar-Kreises und bettet sie in die uumlber die Jahrhunderte hinweg sich wandelnde politische wirtschaftliche und kulturelle Geschichte der Kurpfalz ein Gerke beschreibt das Nebeneinander der katho-lischen und evangelischen (lutherischen und reformierten) Konfessionen und Kirchen-gemeinden was sich in zahlreichen Simultankirchen manifestierte Seine Abhandlung macht aber auch deutlich dass die Verwaltungseinheit des Rhein-Neckar-Kreises die dem Band konzeptionell zugrunde liegt nur ein Ausschnitt aus der ehemaligen Kurpfalz und dem Oberrheingebiet ist So bleiben insbesondere die Kirchen in den heute kreis-

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In den Norden des Reichs fuumlhrt die Geschichte der bdquoLuumlbischen Waumlhrungsunionldquo in der sich zwischen 1379 und der Mitte des 16 Jahrhunderts Luumlbeck Hamburg Luumlneburg und Wismar sowie andere wechselnde Partner zusammenfanden Die Partner legten ge-meinsam den Muumlnzfuszlig fuumlr bestimmte Praumlgungen fest Luumlbeck dominierte den Verbund in Zeiten in denen die Stadt sich fernhielt funktionierte die Union eher schlecht

Deventer in einem anscheinend kaiserfernen Raum gelegen erhielt 1486 ein Muumlnz-privileg Kaiser Friedrichs III fuumlr die Praumlgung von Goldmuumlnzen Damit stellt sich die Frage nach dem Status der Stadt zumal die Initiative offenbar von ihr ausging Evelien TIMPENER sieht aber auch die Interessen Friedrichs III an den Niederlanden und die Reichsferne Deventers als ausschlaggebend an Praumlgungen solch weit entfernter Kom-munen beeinflussten den Geldumlauf im Innern des Reiches kaum

Dortmund geriet durch die bdquoGroszlige Fehdeldquo von 138889 gegen den Grafen von Mark und den Erzbischof von Koumlln in eine Schuldenfalle Vor der Auseinandersetzung hatte sich die Stadt im Wesentlichen aus indirekten Steuern finanziert die allerdings stark im Steigen begriffen waren Das fuumlhrte zu innerstaumldtischen Auseinandersetzungen zwischen Rat und Buumlrgerschaft uumlber die dann notwendige direkte Besteurung und den noumltigen Steuersatz wie Thomas Schilp schreibt Anschlieszligend uumlberstand Dortmund die Bedro-hung zwar siegreich sah sich aber mit gewaltigen Schulden konfrontiert Der Rat fuumlhrte eine hohe Akzise ein und verlangte eine Vermoumlgensteuer von fuumlnf Prozent wofuumlr die Zustimmung der Buumlrger einzuholen war Die Zuumlnfte verlangten detaillierte Rechenschaft des Rates und besetzten schlieszliglich das Rathaus Am Ende stand ein Kompromiss der den Buumlrgervertretern eine direkte Mitwirkung im Rat zugestand

Dass Staumldte auch ohne den Erwerb direkter Herrschaftsrechte ein Territorium kon- trollieren konnten zeigt das von Stefan SONDEREGGER geschilderte Beispiel der Stadt St Gallen Ihre Buumlrgerinnen und Buumlrger erwarben zahlreiche Rechte im Herrschafts- bereich der Abtei St Gallen ndash trotz des konfessionellen Gegensatzes Die einzelnen Rechte dienten dabei unterschiedlichen Zielen ein Hafen gehoumlrte ebenso dazu wie Rechte an Bauernhoumlfen die Wein oder Getreide produzierten und fuumlr Versorgung der Stadt dienten Private Landsitze und Schloumlsser schlieszliglich hatten wirtschaftliche Aufgaben unterstrichen aber auch das Prestige der Besitzerfamilien

Staumldte wie Konstanz und Esslingen hatten zunaumlchst Interesse an der finanziellen Aus-beutung ihrer juumldischen Gemeinden Im 15 Jahrhundert wurden die Juden weitgehend aus beiden Staumldten vertrieben Die von Christian HAGEN vorgestellte Auswertung des Konstanzer Ammanngerichtsbuch zeigt tatsaumlchlich die schwindende Bedeutung juumldischer Kreditgeber die wohl zunehmend in den Bereich Kleinkredite abgedraumlngt wurden

Muumlhlhausen in Thuumlringen und Nordhausen feierten am Freitag vor Palmsonntag die Erinnerung an die Abwehr zweier Versuche die Staumldte zu erobern Sie riefen dazu Ge-daumlchtnisspenden ins Leben die der Verteilung von Brot und Heringen an Arme gewidmet waren Die Spenden uumlberdauerten die Zeiten die Erinnerung an ihren Anlass aber ver-schwand wie Julia MANDRY darlegt Die Stadtgesellschaft inszenierte sich bei der Spen-denverteilung selbst Einbezogen wurden zunehmend groszlige Teile der Stadtbevoumllkerung auch die Baumlcker profitierten wohl

In Windsheim sind Stadtrechnungen ab 139394 erhalten die auch Nachweise der Haushalte dieser kleinen Reichsstadt enthalten Gabriel ZEILINGER lotet die Moumlglichkeiten aus solche Quellen zu analysieren Rechnungen sind oft die fruumlhesten erhaltenen Quellen und ermoumlglichen auch detaillierte Einblicke in die Politik- und Kommunikations- geschichte ndash uumlber ihre wirtschaftlichen und sozialen Informationen hinaus

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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freien Staumldten Heidelberg und Mannheim und damit die weltlichen religioumlsen und kulturellen Zentren des Gebietes von der Beschreibung ausgeschlossen Mehrfach eingestreute kleine Texte mit der Uumlberschrift bdquoBlick nach Heidelbergldquo suchen dies aus-zugleichen

Gerkes zweiter rund 250 Seiten umfassender Beitrag ist regional gegliedert und bietet Einzelbeschreibungen der Kirchen mit ihrer jeweiligen Geschichte Architektur und kuumlnstlerischen Ausstattung Dabei stuumltzt sich der Autor weitgehend auf vorliegende Sekundaumlrliteratur so dass ndash so Gerke S 37 ndash bdquonicht alle Kirchen gleichermaszligen und gleich ausfuumlhrlich beruumlcksichtigtldquo werden Die Vorlage eines umfassenden wissenschaft-lich bewerteten Inventars war nicht geplant So kommt zwangslaumlufig manche Kirche zu kurz z B die Evangelische Martin-Luther-Kirche in Ilvesheim Obwohl sie in einer neugierig machenden Bildunterschrift (S 50) als eine der bdquointeressantesten Kirchen- neubauten des 20 Jahrhunderts im Rhein-Neckar-Kreisldquo beschrieben ist umfasst ihre Beschreibung nur zwoumllf Zeilen

Es folgen mehrere Beitraumlge zu Einzelaspekten Dabei werden zum einen konfessionelle Gesichtspunkte angesprochen So beschreibt die Kunsthistorikerin Maria Lucia Weigel bdquoReformatoren im Bildnisldquo Der Kirchenbaudirektor Werner WOLF-HOLZAumlPFEL erlaumlutert bdquoKatholische Sakralraumlume im Spannungsfeld von Kunst Liturgie und Denkmalpflegeldquo Dass die Erhaltung der Kirchen eine groszlige Aufgabe und dauerhafte Herausforderung fuumlr die Denkmalpflege darstellt ist immer wieder deutlich dokumentiert Exemplarisch herausgehoben wird dieser Aspekt im Beitrag der beiden Restauratoren Karin und Ray-mond BUNZ uumlber bdquoDie Konservierung und Restaurierung der Jugendstilkirche St Georg in Hockenheimldquo Auch ruft der Band ins Bewusstsein dass Kirchen und ihre Ausstattung ndash dass religioumlse Kunst ndash bis heute ein wesentliches Arbeitsfeld der bildenden Kuumlnstler sind Hans-Michael KISSEL Guumlnter BRAUN Madeleine DIETZ und Clapeco VAN DER HEIDE erlaumlutern in kurzen Beitraumlgen aus Kuumlnstlersicht die konzeptionellen Hintergruumlnde zu Kunstwerken die sie fuumlr Kirchen geschaffen haben

Berno MUumlLLER der Referent fuumlr historische und politische Bildung am Archiv des Rhein-Neckar-Kreises ist stellt in einem weiteren Hauptbeitrag uumlber rund 150 Seiten in persoumlnlich getroffenen Werkzusammenstellungen kirchliche Ausstattungsstuumlcke vor Kir-chenportale Malereien an Waumlnden und Decken Kirchenfenster Prinzipalien Kreuze Tabernakel Kreuzwege Heiligenfiguren und Christusbilder

Michael Gerhard KAUFMANN Orgelsachverstaumlndiger der Erzdioumlzese Freiburg und fuumlr die Evangelische Landeskirche Baden erlaumlutert die wichtigsten Orgeln im Land- kreis bdquoals Kunstwerk[e] im Kirchenraumldquo Und schlieszliglich beschreibt Kurt KRAMER ehemaliger Glockensachverstaumlndiger der Erzdioumlzese Freiburg und einer der weltweit fuumlhrenden Experten auf diesem Gebiet die Geschichte der Kirchenglocken im Land-kreis

Ein Verzeichnis aller Kirchen mit jeweils zwei Abbildungen und den wichtigsten Daten schlieszligt das Werk ab

Der Band waumlre nicht denkbar ohne die rund 1400 eindrucksvollen Abbildungen fuumlr die die Fotografin des Rhein-Neckar-Kreises Dorothea BURKHARDT sorgte Sie zeigt die Kirchen in ihrer Architektur und sakralen Ausstattung und ruumlckt sie als Gesamtkunst-werke in sehr gutes Licht

Trotz aller fachlicher Kompetenz der Autorinnen erhebt das Buch keinen wissen-schaftlichen Anspruch wie die Herausgeber in ihrem Vorwort (S 11) betonen Deshalb gibt es keine Fuszlignoten und keine Quellennachweise Die Literaturangaben beschraumlnken

758 Buchbesprechungen

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Die Geldgeschichte wird von vier Faktoren bestimmt herrschaftlichen theologischen naturraumlumlichen und wirtschaftlichen Herrschaftstraumlger lieszligen ihre Symbole auf Muumlnzen praumlgen womit sie ihre Intentionen propagierten und behaupteten die Waumlhrungssicherheit zu garantieren Edelmetalle mussten oft von weither bezogen werden Bargeldlose Zah-lungsverfahren wie die Verrechnung von Krediten und Wechsel entstanden in den mit-telalterlichen Staumldten Geld wurde zum Maszligstab fuumlr Erfolg Die Herrschaft von Reichs- staumldten uumlber ihr Umland manifestiert sich auch in der Kontrolle der Zahlungsstroumlme Die Theologen schlieszliglich hielten an der Ablehnung von Kredit und Wucher fest was auch als Appell verstanden werden kann die Ungerechtigkeiten der sich durchsetzenden Geld-wirtschaft durch taumltige Fuumlrsorge fuumlr die Armen zu mildern

Steuern kamen in mittelalterlichen Staumldten in vielen Formen vor Die Reichsstaumldte mussten an ihren Stadtherrn den Koumlnig Abgaben entrichten die Freien Staumldte konnten nur in Ausnahmesituationen in Anspruch genommen werden was Eberhard ISENMANN in seinem Beitrag ausdifferenziert Die Staumldte selbst erhoben aber auch fuumlr eigene Be-lange zunehmend Steuern (Vermoumlgensteuern und indirekte Steuern) ndash angefangen mit der Finanzierung des Baus von Stadtmauern Die Reichssteuern wurden im 15 Jahrhun-dert entweder als Matrikularbeitraumlge der Reichsstaumlnde oder als allgemeine Vermoumlgen-steuern konzipiert Letztere mussten durch eine Notlage des Reiches in den Hussiten- bzw Tuumlrkenkriegen begruumlndet werden Eine komplizierte Steuerordnung wurde 1471 dis-kutiert eine einfache kam dann 1495 mit dem Gemeinen Pfennig zum Zuge Schlieszliglich setzten sich doch die Matrikularbeitraumlge durch Die kommunalen Steuern wiederum wur-den als solidarische Zwangsabgabe eingefuumlhrt und dienten der Finanzierung unspezifi-zierter Aufgaben Die Staumldte finanzierten sich in unterschiedlichem Maszlig aus direkten oder indirekten Steuern Zur Bekaumlmpfung von Steuerhinterziehung gab es elaborierte Verfahren

Die Staumldte brauchten schon fruumlh Kredite um ihre Aufgaben zu finanzieren Schulden-freiheit blieb zwar ein Ideal wie Hans-Joumlrg GILOMEN am Beispiel der Schweizer Reichs-staumldte schildert aber die Realitaumlt sah oft anders aus Basel etablierte sich fruumlh als wichtigster Finanzplatz fuumlr die Schweiz (neben Straszligburg) Die Stadtrechnungen zu ent-schluumlsseln stellt sich als schwierige Aufgabe heraus Es gab zahlreiche separate Kassen mit eigenen Rechnungen die nicht zu einer Gesamtrechnung zusammengefuumlhrt wurden Anleihen waren oft das Mittel der Wahl wenn auszligergewoumlhnliche Belastungen (in der Regel Kriege oder Ankaumlufe von Herrschaftsrechten) zu bewaumlltigen waren Hier gab es die Alternative zwischen Leibrenten und Wiederkaufsrenten Zinssaumltze waren bis zu einem gewissen Grad Verhandlungssache Auch Wohnort des Glaumlubigers und die Stuumlcke-lung der Anleihen mussten bedacht werden Fuumlr viele Schweizer Staumldte spielten Pen- sionszahlungen Frankreichs des Papstes etc eine herausragende Rolle fuumlr die Finanzie-rung ihrer Haushalte

Im Falle ernster Probleme konnten staumldtische Solidaritaumlten mobilisiert werden Muumlhlhausen im Elsass steckte in der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts in ernst- haften Zahlungsschwierigkeiten die seinen Status als Reichsstadt bedrohten Laurence BUCHHOLZER-REMY zeigt wie sich andere Staumldte engagierten um den Zugriff von Fuumlrsten auf die Stadt abzuwenden Sie gewaumlhrten Muumlhlhausen Kredite Tilgungsplaumlne wurden gemeinsam festgelegt Ausgaben der Stadt gekuumlrzt Die Befriedigung der Anspruumlche der eigenen Buumlrger spielte dabei nicht die wichtigste Rolle sondern die politischen Ziele standen im Vordergrund

771Allgemeine Stadtgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Verhaumlltnis zur Entstehungszeit gespannt war) Gleichwohl bleibt nach der Lektuumlre dieses spannenden Beitrags die Frage offen ob der Aspekt der materiellen Kultur hier nicht gegenuumlber der Ikonographie nachrangig ist

Fuumlr das spaumltmittelalterliche Oberrheingebiet untersucht Olivier RICHARD Funktion und Bedeutung von Objekten im Kontext von Eidesleistungen Waumlhrend res sacrae wie Reliquiare und Evangelien welche die Akteure bdquoberuumlhren halten oder anschauenldquo konn-ten (S 96) die Eide bekraumlftigen sollten erhielten die gesprochenen Formeln in Statu-tenbuumlchern Schwoumlrbriefen und Eidbuumlchern ihrerseits eine materielle Form Als bdquoRequi- siten der Eidesleistungldquo (S 116) nimmt Richard zudem Waffen Tuumlren und die in Basel an Kinder verschenkten Birnen in den Blick Die materiellen Objekte eroumlffnen somit interessante Perspektiven auf bdquodas Verhaumlltnis zwischen Religion sozialen Beziehungen und Politikldquo (S 120) Julia BRUCH naumlhert sich der Materialitaumlt zweier staumldtischer Chro-niken des 16 Jahrhunderts der Ulmer Chronik des Schuhmachers Sebastian Fischer und der Esslinger Chronik des Handwerkers Dionysius Dreytwein kodikologisch und palaumlo-graphisch an Sie kann dadurch unterschiedliche Vorgehensweisen der Schreiber ndash einen bdquolinearen Schreibprozessldquo im Esslinger Fall im Gegensatz zur bdquovorausplanenden Anlageldquo und nichtlinearen Arbeitsweise des Ulmer Chronisten ndash nachweisen und zeigen wie die Autoren ihr Material ordneten

Birgitt BORKOPP-RESTLE stellt die reiche Uumlberlieferung kostbarer Textilien vor die spaumltmittelalterliche Individuen und Korporationen in die Danziger Marienkirche stifteten Die Paramente aus zentralasiatischen und italienischen Seidenstoffen verdeutlichen Wohlstand Leistungsfaumlhigkeit und Repraumlsentationsbeduumlrfnis der Stifter zeigen aber auch die weitreichenden Beziehungen der Ostseestadt an Anna PAWLIK zeichnet anhand ver-schiedener Medien und Objekte ndash Geschlechterbuumlcher Stammbaumlume Totenschilde und Pokale ndash nach wie Nuumlrnberger Patrizier des 15 und 16 Jahrhunderts nach hochadeligen Vorbildern den bdquoSpitzenahnldquo ihres jeweiligen Geschlechts imaginierten und in Gestalt der Figur eines schlafenden bzw lagernden Ritters darstellen lieszligen Regula SCHMID rekonstruiert den Bestand von ndash materiell kaum uumlberlieferten ndash Alltagswaffen in spaumlt-mittelalterlichen Schweizer Staumldten anhand sogenannter Harnischroumldel Bei genauer Lek-tuumlre geben diese auf den ersten Blick sproumlden und stereotypen Listen bemerkenswerte Hinweise auf Qualitaumlt Zustand Gebrauch und Weitergabe der Harnische Kettenhemden Hieb- und Stichwaffen in eidgenoumlssischen Haushalten

Jan KEUPPS abschlieszligendes Resuumlmee erinnert unter dem schoumlnen Titel bdquoDie Stadt ding-fest machenldquo daran dass Georg Simmels bdquoEinsicht in die Macht des Materiellen nach-gerade am Beginn sozialwissenschaftlicher Staumldteforschungldquo gestanden habe (S 227) Indem sie sich nun wieder verstaumlrkt der materiellen Kultur zuwendet kehrt die Stadt- geschichtsforschung also gleichsam zu ihren Anfaumlngen zuruumlck Dies bedeutet freilich nicht dass Forscherinnen und Forscher die sich dem sbquomaterial turnlsquo verschreiben ledig-lich alten Wein in neue Schlaumluche fuumlllen Vielmehr vermoumlgen die Beitraumlge dieses lesens-werten Bandes gerade dort am meisten zu uumlberzeugen wo sie bekannte Quellen und etablierte Methoden mit neuen Fragestellungen kombinieren

Mark Haumlberlein

Michael ROTHMANN Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt und Geld 5 Tagung des Muumlhl-haumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte Muumlhlhausen 27 Februar bis 1 Maumlrz 2017 (Studien zur Reichsstadtgeschichte Bd 5) Petersberg Imhof 2018 397 S Abb geb EUR 2995 ISBN 978-3-7319-0651-3

770 Buchbesprechungen

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sich auf Nennungen im Kirchenverzeichnis Misslich ist dass das Ortsregister auf der Ebene der Staumldte und Gemeinden stehen bleibt und nicht auf die einzelnen Kirchen heruntergebrochen ist Dies erschwert doch erheblich das Zusammensuchen der uumlber die verschiedenen Buchbeitraumlge verstreuten Informationen und Abbildungen zu den einzel-nen Kirchen

Die bdquoSakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreisldquo dokumentiert den groszligen Reichtum der Region an wandfester Kirchenausstattung Renommierte Kuumlnstler sind hier mit Werken der angewandten Kunst vertreten die dem uumlblicherweise auf die akademischen Kuumlnste (Malerei Bildhauerei Graphik) gerichteten Blick der Kunstrezeption gerne verborgen bleiben Uumlber sein Kuumlnstlerregister laumldt der Band zum entsprechenden Stoumlbern ein Aus dem Bereich der Glasmalerei finden sich beispielsweise herausragende Werke von Klaus Arnold Franz Dewald Peter Dreher Theacuteo Kerg (von ihm vor allem der 1960 entstan-dene radikal abstrakte Kreuzweg aus Betonglas in St Andreas in Edingen-Neckarhau-sen) Harry McLean Emil Wachter Raphael Seitz Rosemarie Vollmer und anderen mehr Auch diese Zusammenstellungen sind ein Verdienst dieser Publikation

Jutta Dresch

Hans Rudolf SENNHAUSER Hans Rudolf COURVOISIER (dagger) in Zusammenarbeit mit Alfred HIDBER Eckart KUumlHNE Werner PETER Das Basler Muumlnster Die fruumlhen Kathedralen und der Heinrichsdom Ausgrabungen 1966 und 197374 Ostfildern Thorbecke 2018 454 S Abb Kt Plaumlne geb EUR 80ndash ISBN 978-3-7995-1265-7

Das Jubilaumlum der groszligen Basler Domweihe von 1019 hat Anlass gegeben zu zwei kon-kurrierenden Auswertungen der umfangreichen Ausgrabungen von 1966 und 197374 die die gesamte Domkirche umfasst haben Da der damalige Grabungsleiter Hans Rudolf Sennhauser mit seinem (2013 verstorbenen) Grabungstechniker Hans Rudolf Courvoisier uumlber viele Jahrzehnte hinweg die Grabungspublikation nicht vorlegte wurde fuumlr den ebenso lang erwarteten im Herbst 2019 erschienenen Inventarband der bdquoKunstdenkmaumller der Schweizldquo zum Basler Muumlnster der junge Archaumlologe Marco Bernasconi mit einer eigenen knappen Ausarbeitung der Grabungsergebnisse beauftragt Als Sennhauser 2017 schlieszliglich doch sein umfangreiches Manuskript abschloss wurde ihm laut Vorwort eine Publikation in Basel erst nach dem Muumlnsterjubilaumlum zugesagt so dass er das Werk 2018 in einem deutschen Verlag veroumlffentlichte In nicht unwesentlichen Details unter-scheiden sich die beiden Grabungsauswertungen ndash ein genauer Vergleich kann aber nicht Aufgabe dieser Rezension sein Die Benutzer des hier anzuzeigenden Bands sollten diesen Hintergrund jedenfalls kennen und beruumlcksichtigen

Der hochverdiente Mittelalterarchaumlologe und Kunsthistoriker Sennhauser legt mit diesem Band erstmals eine seiner zahlreichen groszligen Ausgrabungen vollstaumlndig und detailliert vor Gegenuumlber den wenigen Vorberichten haben sich einige jeweils kritisch reflektierte Aumlnderungen ergeben Die Praumlsentation der Grabungsbefunde wurde von Courvoisier erarbeitet ihre Interpretation von Sennhauser Der Band richtet sich mit den detaillierten Argumentationen und komplexen Nummern- und Abbildungssystemen an Mittelalterarchaumlologen er bietet eine umfangreiche Begruumlndung aller Aussagen zu Periodisierung Datierung und Rekonstruktion der Grabungsbefunde im Basler Muumlnster Wesentliches Ziel ist daruumlber hinaus die Grabungsdokumentation in ihren wesentlichen Elementen nachhaltig zu sichern und oumlffentlich verfuumlgbar zu machen Bekanntlich sind bei jeder Ausgrabung die Befunde und Kontexte nur kurzzeitig sichtbar und bdquolesbarldquo werden dann aber ganz oder teilweise zerstoumlrt so dass nur Publikationen dieser Art als

759Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

gehaltenen Siechenhaumluser Leprosorien auszligerhalb von Staumldten Im Fall von Festungs-staumldten waren andererseits der fruumlhneuzeitlichen Entwicklung von Vororten oft enge Grenzen gesetzt

Der internationale und gleichsam regionalgeschichtliche Ansatz des Konferenzbandes bietet eine spannende und facettenreiche interdisziplinaumlre Lektuumlre fuumlr deren Herausgabe und Bearbeitung Guy Thewes (Staumldtisches Museum Luxemburg) und Martin Uhrmacher (Assistenzprofessor an der Universitaumlt Luxemburg Institut fuumlr Geschichte) nur zu danken ist Der mit nicht wenigen und durchaus qualitaumltvollen farbigen Abbildungen versehene Band hat natuumlrlich in gedruckter Form seinen Preis weshalb auch auf die minimal guumlns-tigere E-Book-Variante hingewiesen werden soll Ein Verzeichnis der Ortsnamen am Ende des Bandes schlieszligt einen gehaltvollen Sammelband ab

Joachim Kemper

Sabine VON HEUSINGER Susanne WITTEKIND (Hg) Die materielle Kultur der Stadt in Spaumltmittelalter und Fruumlher Neuzeit (Staumldteforschung Reihe A Darstellungen Bd 100) Wien Koumlln Weimar Boumlhlau 2019 256 S Abb geb EUR 35ndash ISBN 978-3-412-51612-3

Der vorliegende Sammelband greift den seit einigen Jahren in den Kulturwissenschaf-ten intensiv diskutierten sbquomaterial turnlsquo auf und sucht ihn fuumlr die vormoderne Stadtge-schichtsforschung fruchtbar zu machen Wie Sabine von Heusinger und Susanne Wittekind in ihrer ndash leider recht knappen ndash Einleitung schreiben sollen die von ihnen herausgegebenen zehn Texte bdquozu einer objektbasierten Kulturanalyse beitragen die anhand von Objekten und Artefakten die Verflechtung von materiellen kulturellen reli-gioumlsen sozio-politischen und wirtschaftlichen Aspekten einer Zeit und eines Ortes erschlieszligt und damit fuumlr die Stadtgeschichte der Vormoderne neue Forschungsfelder eroumlffnetldquo (S 18)

Im ersten dieser zehn Beitraumlge geht Julia A SCHMIDT-FUNKE der Frage nach ob es bdquoeine spezifische Materialitaumlt des Urbanenldquo gibt (S 19) Ihr Vorschlag bdquodie historische Stadt von den Dingen her zu denkenldquo (S 21) gliedert sich in zwei Teile Zum einen gehe es darum bdquodie Bedeutung von Dingen in Prozessen staumldtischer Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu analysierenldquo (ebd) was Schmidt-Funke am Beispiel der Kleidung sowie des Waffenbesitzes und -gebrauchs exemplifiziert Zum anderen koumlnnten Staumldte bdquoals Orte erhoumlhter Dingverfuumlgbarkeitldquo (S 34) in den Blick genommen werden in denen Objekte in wesentlich groumlszligerer Anzahl und Vielfalt vorhanden waren als auf dem Lande Schmidt-Funke verweist dazu beispielhaft auf Sammlungen Kunst- und Naturalienkam-mern die es freilich auch auf manchen laumlndlichen Adelssitzen gab

Elisabeth GRUBER untersucht anschlieszligend in welcher Form Objekte in der staumldtischen Rechnungsfuumlhrung des 15 Jahrhunderts erscheinen Die Ausstattung der Wiener Rats-stube gibt ihr zufolge subtile Hinweise auf soziale und funktionale Differenzierungen innerhalb der staumldtischen Elite sowie auf das Selbstverstaumlndnis der Ratsherren Susanne WITTEKIND thematisiert anhand von Beispielen aus Buumldingen Frankfurt am Main und Coventry die Rolle von Wappen als bdquoMedien der symbolischen Kommunikationldquo (S 52) und entschluumlsselt ihre heraldischen Botschaften Kirsten Lee BIERBAUM bietet eine scharf-sinnige Analyse des um 1500 entstandenen Bildprogramms des bdquoHuldigungssaalsldquo im Goslarer Rathaus Sie weist strukturelle Aumlhnlichkeiten des Saalprogramms mit dem Bild-programm der Schedelschen Weltchronik nach und argumentiert uumlberzeugend dass der Goslarer Rat seine Legitimation staumlrker von Gott herleitete als vom Kaiser (zu dem das

769Allgemeine Stadtgeschichte

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bdquoarchaumlologisches Urkundenbuchldquo eine Nachvollziehbarkeit sicherstellen und eine quali-fizierte Debatte archaumlologischer Aussagen ermoumlglichen Diesen Zielen dienen einleitende Aussagen zum Messsystem ebenso wie die Wiedergabe zahlreicher Handskizzen der Katalog der bdquoPositionsnummernldquo mit denen alle Befunde bezeichnet wurden und zwoumllf groszligformatige Plaumlne Die ausfuumlhrlichen Aufzeichnungen in den Tagebuumlchern der Grabung sind in den erlaumluternden Text eingeflossen Bei den Fotos wurde nur eine ndash vergleichs-weise ndash kleine Auswahl abgedruckt meist in Schwarzweiszlig ndash Farbdias duumlrften aber verfuumlgbar sein Nicht leicht ist der Uumlberblick zu gewinnen welche Zeichnungen wo abgebildet sind viele Rekonstruktionsversuche und Vergleichsabbildungen finden sich zusaumltzlich im Anhang oder sogar bei den 28 losen Beilagen alle jedoch (ggf verkleinert und mehrfach) im laufenden Text

Entgegen Erwartungen an moderne Archaumlologie argumentieren Courvoisier und Senn-hauser nicht mit Erdschichten und Funden sondern fast ausschlieszliglich mit Mauern bzw deren Anschluumlssen Moumlrtelqualitaumlten und Fuszligboumlden Zum Teil ist dies im Befund begruumln-det Umfangreicher Bodenabtrag im 11 Jahrhundert die ausgedehnte Krypta und zahl-reiche Graumlber haben die fruumlh- bis hochmittelalterlichen Erdschichten weitestgehend zerstoumlrt so dass gleich unter dem Boden des 11 Jahrhunderts roumlmische und noch aumlltere Befunde lagen Im Basler Muumlnster erlaubten die Moumlrtelqualitaumlten eine Zuordnung der Mauern nach bdquoroumlmischldquo bdquokarolingischldquo bdquoottonischldquo und bdquospaumltromanischldquo Juumlngere Befunde werden nicht diskutiert sind aber in den Plaumlnen zu finden hier ist auf die Publikation von Bernasconi zu verweisen Aumlrgerlich ist dass Keramik- und Glasfunde nicht abgebildet werden auch dann nicht wenn sie fuumlr die Deutung der Stratigraphie relevant sind

Die Befunde werden nach Bau- und Nutzungsperioden vorgelegt und diskutiert die begleitenden Bauphasenplaumlne sind im Anhang S 355ndash362 nochmals zusammengefasst In allen Plaumlnen und vielen Fotos werden die gleichen Farben benutzt um Bauphasen zu bezeichnen dies erleichtert die Orientierung sehr teilweise sind allerdings nur die Posi-tionsnummern entsprechend gefaumlrbt Nicht immer gluumlcklich ist die von der Autoritaumlt der beiden Autoren gepraumlgte enge Verquickung von Befundbeschreibung Diskussion und Rekonstruktion dies macht ihre Gedanken nachvollziehbar erschwert aber allzu oft den Zugriff auf Befundsituationen und verschlieszligt an wichtigen Stellen den Blick auf moumlg-liche Deutungsalternativen

Die parallel arbeitende zweite Grabungsequipe unter Andres Furger hat die vor- bis fruumlhmittelalterlichen Befunde dokumentiert und in zwei Baumlnden vorgelegt (Bd 1 1979 Bd 2 19832000 fertiggestellt ca 2011 digital publiziert academiaedu5676125) Sennhauser legt ergaumlnzende Beobachtungen zu den Mauern des groszligen roumlmischen Baukomplexes vor die nicht einheitlich sind und distanziert sich damit implizit von dessen Deutung als bdquooumlffentlicher Repraumlsentationsbauldquo oder gar bdquoPraumltoriumldquo Dies ist von Relevanz fuumlr die Frage ob die erste Basler Bischofskirche einen herausgehobe- nen Standort in der Stadt erhielt oder doch ndash wie andernorts ndash in einem eher untergeord- net genutzten Areal errichtet wurde Von beiden Equipen dokumentiert wurden auch die spaumlrlichen fruumlhmittelalterlichen Reste im Muumlnster Sie erlauben nur indirekt den Schluss auf die Existenz einer vorkarolingischen Kirche die Rekonstruktion einer bdquoOstkircheldquo auszligerhalb des Muumlnsters wird erst S 80 im Kontext der Auszligenkrypta dis- kutiert Vergleichbar mit den duumlnnen schwach fundamentierten mit Spolien gebauten Mauern die Sennhauser Nebengebaumluden einer fruumlhen Kirche zuweist sind die Mauern des fruumlhmittelalterlichen Wormser Doms und jetzt auch die neuen Befunde im bdquoAlten

760 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 760

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Durch den Aufbau von Verteidigungssystemen oumlffentlicher Ordnung Brandschutz sozialer Fuumlrsorge Hygiene Ver- und Entsorgung sowie Schulwesen kam mittelalterlichen Staumldten eine Vorbildfunktion bei der Leistungsverwaltung zu Staumldtebuumlnde und Land- friedensbuumlnde waren Zeichen einer zunehmenden kommunalen Autonomie und Zeichen politischer Selbstaumlndigkeit Staumldte wurden aufgrund ihrer Wirtschaftskraft zu Kultur- traumlgern Orten kultureller Produktion sowie Mittelpunkt von Wissenschaft Kuumlnsten und Unterhaltung verschiedenster Art Als raumpraumlgende durch Zentralitaumlt geformte Siedlung als im Kern immer noch erkennbare bauliche Entitaumlt als Ort wirtschaftlicher Innovation einer differenzierten sich immer wieder erneuernden Gesellschaft und kul-turellen Vielfalt vor allem aber als kleinraumlumiges Modell selbstverwalteter Ordnung und politischer Partizipation wirken in der modernen Stadt immer noch mittelalterliche Phaumlnomene nach

Ein ausfuumlhrlicher Anmerkungsapparat praumlsentiert grundlegende und weiterfuumlhrende Literatur Auf komprimiertem Raum praumlgnant zusammengefasst bietet der kleine Beitrag einen fulminanten und aumluszligerst lesenswerten Einstieg in die aktuelle Stadtgeschichtsfor-schung sowie in das Phaumlnomen der europaumlischen Stadt

Juumlrgen Treffeisen

Guy THEWES Martin UHRMACHER (Hg) Extra muros Vorstaumldtische Raumlume in Spaumlt- mittelalter und fruumlher Neuzeit Espaces suburbains au bas Moyen Acircge et agrave lrsquoeacutepoque moderne (Staumldteforschung Reihe A Darstellungen Bd 91) Wien Koumlln Weimar Boumlhlau 2019 521 S Abb Kt geb EUR 70ndash ISBN 978-3-412-22273-4 E-Book EUR 5999 ISBN 978-3-412-51517-1

Der hier anzuzeigende voluminoumlse Band geht auf eine gleichnamige internationale Konferenz der Universitaumlt Luxemburg und des staumldtischen Historischen Museums der Hauptstadt des Groszligherzogtums zuruumlck die im Jahr 2013 veranstaltet worden war Nun sind sechs Jahre bis zum Erscheinen eines Konferenzbandes keine kurze Zeit es bleibt aber durchaus festzuhalten Das Warten auf den Sammelband mit seinen 19 Beitraumlgen hat sich gelohnt zumal sich einige Bezuumlge zum Oberrhein bieten Die Beitraumlge spiegeln die Bandbreite und diversen wissenschaftlichen Disziplinen der Autorinnen von den Geschichtswissenschaften (mit zahlreichen regionalen bzw landeskundlichen Aspekten) uumlber die Kunstgeschichte bis hin zur Archaumlologie und Baugeschichte Neben Beitraumlgen von deutschen und franzoumlsischen Autorinnen stehen Texte aus Luxemburg Belgien Italien Oumlsterreich Polen und Ungarn Die Beitraumlge selbst sind dem uumlberregionalen europaumlischen Rahmen verpflichtet in deutscher franzoumlsischer oder (weniger haumlufig) eng-lischer Sprache verfasst die Abstracts bieten (dreisprachig) einen vereinfachten Zugang zu allen Beitraumlgen

Im Zentrum des Bandes stehen das staumldtische Umland bzw konkreter bdquovorstaumldtische Raumlumeldquo die in acht Kapiteln behandelt werden Die kartographische Repraumlsentation vor-staumldtischer Raumlume Festungsstaumldte und vorstaumldtische Raumlume Vorstaumldte Sozialtopogra-phie vorstaumldtischer Raumlume Inklusion Exklusion Kontrolle Staumldtische Einflussgebiete Vorstaumldtische Raumlume kleiner Staumldte Zwei Fallstudien Bereits in der Einleitung der Herausgeber wird auf die Ambivalenz der Vorstaumldte hingewiesen die von Desintegra- tion bzw abgestufter Bindung an die Kernstaumldte (typische Merkmale Zuwanderung Randgruppen Kranke und Arme) bis hin zum Bild einer positiv konnotierten laumlnd- lichen Gegend (Stichworte Gaumlrten Idylle Gasthaumluser adlige Sommersitze etc) reichen Bemerkenswert sind sicherlich in diesem Kontext auch die nicht selten repraumlsentativ

768 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 768

Domldquo zu Mainz die dort tatsaumlchlich zu fruumlhmittelalterlichen Groszligbauten gehoumlren Ein-geschoben werden allgemeinere Uumlberlegungen zum Alter der Basler Pfarrkirche St Mar-tin und zum moumlglichen Alter einer Bischofskirche in Basel ndash das Bistum wurde vor dem fruumlhen 7 Jahrhundert von Augst nach Basel verlegt entsprechend alt muumlsste eine erste Kirche auf dem Muumlnsterhuumlgel sein Die Grabungsbefunde im Umfeld des Muumlnsters 1991 vorgelegt von Guido Helmig u a und 2005 von Karin Leuch-Bartels werden nur knapp genannt die Neuauswertung von Markus Asal 2017 wird im Resuumlmee noch erwaumlhnt (S 236 f) Fuumlr ein Bild des Muumlnsterhuumlgels und seiner Kirchen im Fruumlhmittel- alter bleibt der weitere interdisziplinaumlre Abgleich von Befunden und Interpretationen notwendig

Der erste im Befund fassbare groszlige Dombau wird aufgrund der Schriftquellen Bischof HaitoHeito zugewiesen (Bischof 806 dagger 836) und dementsprechend bdquokarolingischldquo da-tiert Er erscheint sbquodreischiffiglsquo mit breiten tiefen Fundamenten zwei Rundtuumlrmen im Westen und einer Krypta im Osten von der nur die Eingaumlnge erhalten sind Zwei Punkt-fundamente gehoumlren wohl zu einer Schranke die den Mittelraum teilte Waumlhrend die Sei-tenraumlume gerade enden ist die entsprechende Rekonstruktion eines geraden Abschlusses fuumlr den Mittelraum nicht bdquooffenbarldquo (S 49) ndash im Bereich der juumlngeren Krypta waumlre durch-aus ein eingezogener Altarraum oder eine Apsis rekonstruierbar Sennhauser argumentiert hier mit der Bischofskirche in Konstanz und der Klosterkirche in St Gallen (deren Be-funde allerdings nicht ausreichend publiziert sind) Die Laumlngsmauern waren nur im Fun-dament erhalten das karolingische Fuszligbodenniveau wurde im 11 Jahrhundert abgeraumlumt In bemerkenswerter Weise ummanteln die spaumltromanischen Fundamente diese aumllteren Mauern wie dies an den Domen in Mainz nachgewiesen in Worms wahrscheinlich ist ndash dort allerdings erst fuumlr die Fundamente des 11 Jahrhunderts Die aumluszligeren Mauern gehoumlren in Basel nicht zum urspruumlnglichen Bau und sehen sogar bdquoottonischldquo aus (S 62) so dass die karolingische Bischofskirche ein groszliger Saalraum ohne Seitenschiffe war ndash auch wenn die Tuumlrme mit dem Anschluss solcher Seitenraumlume rechneten Sennhauser legt unterschiedliche Rekonstruktionen vor mit und ohne noumlrdlichen Anraum mit und ohne Arkaden Irritierend ist dass die juumlnger aussehenden Mauern nicht entsprechend farblich markiert und einer juumlngeren Phase zugeordnet werden ndash die weitere Argumentation folgt erst S 118 Aus den Krypteneingaumlngen sind jedenfalls Annexraumlume im Osten zu erschlie-szligen Insgesamt bleibt die Rekonstruktion dieser Kirche zu diskutieren und festzuhalten ist auch dass Sennhausers Datierung dieser Bauphase nicht auf archaumlologischen Argu-menten und tragfaumlhigen Vergleichen beruht

Die bdquoAuszligenkryptaldquo oumlstlich des Muumlnsters ist anders orientiert als der bdquokarolingischeldquo Groszligbau Aufgrund historischer Uumlberlegungen datiert Sennhauser sie ins fruumlhe 10 Jahr-hundert und deutet sie als Grablege fuumlr Bischof Rudolf (dagger 91718) ausfuumlhrlich setzt er sich dann ndash offenbar nach erster Fertigstellung des Manuskripts ndash mit der Neuinterpre-tation der Situation durch Furger auseinander Die Verteilung von Plaumlnen und Befund-diskussion auf zwei Kapitel erschwert dabei den Nachvollzug Eingefuumlhrt wird hier eine fruumlhmittelalterliche bdquoOstkircheldquo auf die sich diese Auszligenkrypta als Anbau ndash unstrittig ndash beziehen muss Deren freie Rekonstruktion als kleine Saalkirche mit Annexraumlumen ist seltsamerweise nicht an fruumlhen Bischofskirchen sondern an kleinen Kloster- und Pfarr-kirchen orientiert Erneut scheinen ndash zumal bei der ungeloumlsten Frage des Ostabschlusses der bdquokarolingischenldquo Kirche ndash ganz andere Loumlsungen denkbar

Die Darstellung des 1019 in Anwesenheit Kaiser Heinrichs II geweihten und von ihm mit der bdquoGoldenen Tafelldquo ausgestatteten bdquoHeinrichsmuumlnstersldquo beginnt mit historischen

761Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 761

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Michel PAULY Martina STERCKEN Stadtentwicklung im vormodernen Europa Beob-achtungen zu Kontinuitaumlt und Bruumlchen (Mediaumlvistische Perspektiven Bd 8) Zuumlrich Chronos-Verlag 2019 96 S Abb Brosch EUR 15ndash ISBN 978-3-0340-1549-3

Die beiden kompetenten Autoren ndash Michel Pauly und Martina Stercken ndash praumlsentieren Permanenzen und Wandel der europaumlischen Stadt von deren Anfaumlngen bis ins 19 Jahr-hundert in Teilen bis heute Mit den fruumlhen Bischofsstaumldten und Marktorten entstanden die ersten regionalen sowie uumlberregionalen Zentren die ihren urbanen Charakter in der Regel bis heute bewahren konnten Mit der Entfaltung des Staumldtewesens verdichteten sich durch den Anschluss an den uumlberregionalen Handelsverkehr die urbanen Raumlume Es entstanden Staumldtenetze die allerdings infolge von Neugruumlndungen wieder ausgeduumlnnt werden konnten Die Entstehung der Nationalstaaten im 19 Jahrhundert bedingte die Ausbildung von Metropolen mit groszliger politischer wirtschaftlicher kultureller und ver-kehrstechnischer Ausstrahlung

Um 1200 entstand aufbauend auf bereits bestehenden Siedlungen die neue Lebensform Stadt Im Spaumltmittelalter und der fruumlhen Neuzeit bauten einzelne Kommunen ein eigenes Territorium auf Der innerstaumldtische Raum wurde durch das Rathaus die Marktplaumltze die Kaufhaumluser die Kirchen die Kloumlster das Hospital die Wohntuumlrme sowie Befestigung mit den Tuumlrmen gepraumlgt Die Entfestigung der Staumldte im ausgehenden 18 sowie im 19 Jahrhundert veraumlnderte das Stadtbild nachhaltig

Wohn- und Arbeitsbereich gehoumlrten zusammen Der Marktplatz kristallisierte sich als raumlumliches oumlkonomisches und soziales Zentrum heraus Marktraumlume lagen grundsaumltzlich an Knotenpunkten von Uumlberlandverbindungen Jahrmaumlrkte und Messen etablierten sich hingegen wegen des nur temporaumlr notwendigen Platzbedarfs auszligerhalb der Stadtmauern

Eine besondere Form des Wirtschaftens gilt vielfach als das entscheidende Charakte-ristikum der mittelalterlichen Stadt Der taumlgliche Markt und der Wochen- sowie Jahrmarkt in der Stadt stellten zunaumlchst einen Nahmarkt fuumlr die laumlndliche Bevoumllkerung des staumldti-schen Um- und Hinterlandes dar auf dem agrarische Produkte und gewerbliche Erzeug-nisse aus der Stadt ebenso abgesetzt wurden wie unter Umstaumlnden Fernhandelsguumlter Durch den Fernhandel wurden Staumldte in Partnerschaften mit anderen Kommunen einge-bunden so dass sich urbane Netzwerke knuumlpfen lieszligen Gewerbetreibende stellten den groumlszligten Teil der hochmittelalterlichen Stadtbevoumllkerung Das Vorhandensein bestimmter naturraumlumlicher Gegebenheiten beguumlnstigte die Entstehung besonderer Gewerbeland-schaften mit spezialisierter Produktion Zuumlnfte partizipierten in unterschiedlichem Maszlige an der Stadtherrschaft

Im Spaumltmittelalter und der fruumlhen Neuzeit etablierten sich mit den Bergbaustaumldten Festungs- und Residenzstaumldten Wallfahrtsorten Kur- und Baumlderstaumldten neue funktionale Stadttypen Seit dem 19 Jahrhundert kamen Industriestaumldte sowie Finanzzentren hinzu

Das Buumlrgertum entwickelte sich sukzessive seit dem 11 Jahrhundert als Rechts- gemeinschaft Die groumlszligte Autonomie gewaumlhrten die norditalienischen Staumldte sowie die Reichsstaumldte Die mittelalterliche Stadtgesellschaft war dabei nicht nur durch unterschied-liche Formen der Freiheit sowie Moumlglichkeiten der Partizipation differenziert sondern auch durch raumlumlich bestimmte soziale Entitaumlten (Stadtviertel Pfarrgemeinde)

In Italien hatte die Stadt uumlber den Untergang des roumlmischen Reiches hinaus eine erhebliche Permanenz Groumlszligere sowie wirtschaftlich potente Staumldte entwickelten sich oft zu freien Staumldten mit einer zum Teil betraumlchtlichen eigenen Herrschaft uumlber ihr Hinter-land Stadtherren von kleineren Staumldten tendierten eher zum eigenen Stadtregiment und beeinflussten die Besetzung der Schaltstellen der Buumlrgergemeinden selbst

767Allgemeine Stadtgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 767

Hypothesen zu Altarweihen in der Krypta und mit einer Neuinterpretation der bemer-kenswerten bdquoBaumeistertafelldquo Im Osten weist Sennhauser den gesamten heutigen Grund-riss mit zweiraumlumiger Binnenkrypta Kryptenumgang Vierung und Querarmen dem 1019 geweihten Dombau zu In Langhaus wurde nach Abtrag des aumllteren Bodens ein neuer Estrich gegossen die aumllteren Laumlngsmauern hat man fuumlr die Auszligenwaumlnde und fuumlr die Stuumltzen des Mittelschiffs weiterbenutzt Mit weit ausgreifenden Hypothesen rekonstruiert er schon fuumlr diesen Bau Langhaus-Emporen und stellt schriftlich uumlberlieferte Bauzeiten anderer Kirchen zusammen um die Bauzeit vor 1019 erschlieszligen zu koumlnnen Auch hier fehlen archaumlologische Datierungshinweise die komplexe Ostanlage findet in der Tat um 10001010 gute Parallelen Der Bau der fruumlhromanischen Doppelturmfassade leitet dann uumlber zur letzten behandelten Bauphase mit den archaumlologischen Befunden zum Brand von 1185 und dem nachfolgenden spaumltromanischen Neubau

Da die Graumlber 2013 durch Christine Ochsner publiziert wurden werden nur bauhisto-risch relevante Graumlber diskutiert und Korrekturen angemerkt Die bdquokarolingischeldquo Kirche uumlberlagert einige fruumlhmittelalterliche Bestattungen bemerkenswert sind aber wenige Graumlber die aufgrund der 14C-Daten dieser Epoche zugeordnet werden koumlnnen ndash trotz des grundsaumltzlich befolgten Verbots von Kirchenbestattungen Hervorzuheben sind dann etwas juumlngere Graumlber am Kreuzaltar und in den Chorflankentuumlrmen

Die Kontinuitaumlt vom bdquokarolingischenldquo Kirchenbau zum bdquoottonischen Heinrichs- muumlnsterldquo und zum spaumltromanischen Dom ist eine zentrale These des Resuumlmees und fuumlgt sich in vergleichbare juumlngere Forschungsthesen zur hochrangigen Sakralarchitektur des 1213 Jahrhunderts

Mit diesem Band ist ein sehr gewichtiger Baustein fuumlr die weitere Forschung zum Basler Muumlnster gewonnen Nicht alle Schlussfolgerungen werden sich durchsetzen und die architekturgeschichtliche Stellung des Muumlnsters im Reigen der Bischofskirchen des deutschen Reichs Burgunds und Oberitaliens bleibt weiter zu diskutieren

Matthias Untermann

Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften in den Kreuzgaumlngen des

Basler Muumlnsters Basel Schwabe 2016 407 S Abb geb EUR 58ndash ISBN 978-3-7965-3558-1

Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften der Basler Kirchen Bd 2 Muumlnster und Martinskirche Muttenz Schwabe 2019 312 S Abb geb EUR 48ndash ISBN 978-3-7965-3883-4

Basel verfuumlgt uumlber eine faszinierende zu wesentlichen Teilen gluumlcklicherweise auch edierte Uumlberlieferung seines mittelalterlichen Totengedenkens erinnert sei hier nur an das Anniversarbuch (ed Paul Bloesch 1975) und an das Graumlberbuch des Domstifts (ed Lisa Roumlthinger und Gabriela Signori 2009) beide im Bestand des Generallandesarchivs Karlsruhe Und tief beeindruckend ist nicht zuletzt der im Muumlnster und seinen Kreuz-gaumlngen bewahrte reiche Denkmaumllerbestand vom 12 bis ins 19 Jahrhundert ein getreuer Spiegel des der fruumlhneuzeitlichen Basler Oberschicht eigenen Selbstbewusstseins Dass dieser Schatz der dem Betrachter nicht nur manche sprachliche Schwierigkeit bereitet sondern sich bisweilen auch nur unter koumlrperlichen Verrenkungen oder mit Hilfe eines Fernglases entziffern laumlsst nunmehr sehr bequem zugaumlnglich ist hat man dem Basler Altphilologen Andreas PRONAY zu verdanken der einer Anregung seines Lehrers Peter Buxtorf (dagger1971) folgend und den eigenen Ruhestand nutzend sich der muumlhsamen Inven-

762 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 762

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

tarisation und Bearbeitung der vielen Inschriften unterzogen hat Die durchweg farbigen Photographien stammen von Jens Roth Erklaumlrter Zweck der beiden so entstande- nen Baumlnde ist es bdquodie lateinischen Grabinschriften der Basler Kirchen einer groumlsseren Leserschaft zugaumlnglich zu machen und zugleich die Grundlage fuumlr weiterfuumlhrende Stu-dien zu diesen Texten zu schaffenldquo Allein in den Kreuzgaumlngen des Muumlnsters werden damit 119 Inschriften gewuumlrdigt im Muumlnster selbst und seiner Krypta 35 in der Mar- tinskirche 28 Die Betrachtung der Denkmaumller geschieht in Rundgaumlngen durch die ein-zelnen Kreuzgaumlnge Kirchen und Kapellen Die Praumlsentation eines jeden Epitaphis be-ginnt mit seiner photographischen Abbildung und einer exakten Standortskizze die das Auffinden vor Ort ganz wesentlich erleichtert Darauf folgen die Wiedergabe des latei-nischen Texts und dessen Uumlbersetzung sowie in Gestalt von Zeilenkommentaren laumlngere oder kuumlrzere Erlaumluterungen zu Sprache und Inhalt Den Schluss bilden knappe Angaben zur Person und Bedeutung des jeweiligen Verstorbenen sowie Hinweise auf die einschlauml-gige Literatur Die Einleitungen beider Baumlnde beschraumlnken sich auf die noumltigsten Infor-mationen zur Geschichte der betrachteten Kirchen und zu den in ihnen gepflegten Bestattungsgewohnheiten In einer Zeit in der auf die Herstellung von Buumlchern be- dauerlicherweise nicht immer die groumlszligte Sorgfalt verwendet wird darf schlieszliglich noch hervorgehoben werden dass diese beiden Buumlcher auch bibliophilen Anspruumlchen genuumlgen das beginnt mit einem gefaumllligen Papier und reicht uumlber Typographie und Layout bis hin zur Fadenheftung Wer die Basler Kirchen besucht und sich ihren groszligartigen Denk- maumllerbestand erschlieszligen will wird sich dieser hilfreichen Inventare gern bedienen aber auch der wissenschaftlich Forschende wird sie mit Gewinn zu Rate ziehen In den Basler Kirchen sollen rund 350 lateinische Grabinschriften erhalten sein Dem Autor bleibt also die Kraft zu wuumlnschen dass er auch die restlichen 170 Inschriften noch zu bewaumlltigen vermag

Kurt Andermann

Hans Joachim HILDENBRAND Grabplatten Epitaphien und Gedenktafeln im Konstanzer Muumlnster Konstanz Hartung-Gorre 2019 152 S Abb Brosch EUR 3480 ISBN 978-3-86628-630-6

Das Konstanzer Muumlnster besitzt als historische Kathedralkirche des Bodenseebistums einen reichen Bestand an fruumlhneuzeitlichen Grabdenkmaumllern die nicht nur als Beispiele konfessioneller Memorialkultur gedeutet sondern auch als Reflex der adligen Netzwerke am Domstift und dessen Umfeld interpretiert werden koumlnnen Der reformatorische Bildersturm hinterlieszlig auch im Bereich der Grabmale in der Kathedrale seine Spuren lediglich rund zehn Epitaphien entstammen dem Spaumltmittelalter waumlhrend der Hauptteil (ca 115 Stuumlck) in die Zeit zwischen der Ruumlckkehr des Domkapitels nach der Rekatholi-sierung der ehemaligen Reichsstadt in der Mitte des 16 Jahrhunderts und der Aufhebung der Dioumlzese im fruumlhen 19 Jahrhundert zu datieren ist

Heribert Reiners hat bereits 1955 (Die Kunstdenkmaumller Suumldbadens Bd 1) die Inschrif-ten aller Grabstaumltten und Epitaphien im Druck publiziert Der Altphilologe Hans Joachim Hildenbrand hat sich nun der Muumlhe unterzogen die Texte in Verbindung mit Farbfoto-grafien zu publizieren Die zum Teil nicht einfach zu entschluumlsselnden Kuumlrzel hat er auf-geloumlst und die lateinischen Inschriften die den Hauptteil des Textbestandes ausmachen ins Deutsche uumlbertragen

Bescheiden bezeichnet der Autor die Publikation als bdquoArbeit eines Amateursldquo (S 10) Zurecht weist er im gleichen Satz auf die zum Teil mangelhafte Qualitaumlt der Abbildungen

763Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 763

Orgeln breiter Raum zu uumlber andere Kunstwerke erfaumlhrt man Naumlheres nur im Rahmen des Rundgangs

Der Band ist sorgfaumlltig gemacht Durch sein groszligzuumlgiges Format kommen die Groszlig-teils juumlngeren Aufnahmen sehr gut zur Geltung so dass man das Buch auch ohne es lesen zu wollen gerne zur Hand nimmt Der Rezensent vermisst jedoch einen brauch- baren Grundriss und Laumlngsschnitt des Doms der auch dem interessierten Leser zur besseren Orientierung verholfen haumltte Trotzdem kann man das Projekt bdquoFestschriftldquo als ein insgesamt gelungenes Unternehmen bezeichnen

Wolfgang Schenkluhn

Gerhard FOUQUET Ferdinand OPLL Sven RABELER Martin SCHEUTZ (Hg) Social

Functions of Urban Spaces through the Ages Soziale Funktionen staumldtischer Raumlume im Wandel (Residenzenforschung Neue Folge Stadt und Hof Bd 5) Ostfildern Thorbecke 2018 288 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-7995-4534-1

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung der Internationalen Kommission fuumlr Staumldtegeschichte zuruumlck die als gemeinschaftliche Veranstaltung des Goumlttinger Aka- demieprojekts bdquoResidenzstaumldte im Alten Reichldquo (Arbeitsstelle Kiel) sowie des Instituts fuumlr Oumlsterreichische Geschichtsforschung vom 15 bis 16 September 2016 in Kiel statt-fand was sich auch in der Herausgeberschaft widerspiegelt Gleichwohl ein internatio-naler Tagungsband ist die uumlberwiegende Mehrzahl der Beitraumlge des Sammelbandes in deutscher Sprache gehalten namentlich die (englische) Einfuumlhrung der Herausgeber wird aber zweifellos die uumlberregionale Rezeption befoumlrdern Neben der Einfuumlhrung stehen zehn weitere Beitraumlge die abgesehen von der uumlbergreifenden Perspektive Pierre MONNETS (Raum und Stadt Raum der Stadt Eine staumldtische Sozialgeschichte zwischen Verortung und Verordnung) mit den Schlagwoumlrtern bdquoMitte und Randldquo bdquoOben und Untenldquo sowie bdquoInnen und Auszligenldquo ganz treffend beschrieben sind Das Spektrum reicht dabei von polnischen juumldischen Gemeinden und Spitaumllern in adligen boumlhmischen Residenzstaumldten uumlber kommunale soziale Konflikte in Flandern im spaumlten Mittelalter bis hin zu den Um-weltbeziehungen der Krainer Hauptstadt LaibachLjubljana (Wasser Wald Agrargesell-schaft im Umland) Auch houmlfische Orte in Staumldten des spaumlten Mittelalters und namentlich die Staumldte Regensburg (als Reichs- wie auch Reichstags- und Residenzstadt) und Weil-burg werden betrachtet (Harriet RUDOLPH bzw Matthias MUumlLLER) Hervorgehoben sei dabei auch dass der Blick weit in das 19 und sogar bis ins 20 Jahrhundert geht etwa bei den Beitraumlgen von Friedrich LENGER (Cities as Sites of Social Protest) bzw von An-drea PUumlHRINGER und Holger Th GRAumlF (Orte der Fuumlrsorge im Stadtraum der Kurstadt Das Beispiel Bad Homburg vor der Houmlhe) Ein opulenter und teils farbiger Abbildungsteil (S 243ndash288) beschlieszligt einen stadt- wie sozialhistorisch sehr lesenswerten Sammelband der es auch vermag regional einen weiten Bogen zu uumlberspannen Die einzelnen Beitraumlge sind mit jeweils eigenen Literatur- und Quellenverzeichnissen versehen Sie ermoumlglichen so einen bequemen Zugang und weitere Forschungsmoumlglichkeiten das Fehlen eines Registers faumlllt dagegen kaum ins Gewicht Soweit man an den neueren Publikationen des Projekts bdquoResidenzstaumldte im Alten Reichldquo ersehen kann (httpsadw-goede forschungforschungsprojekte-akademienprogrammresidenzstaedtepublikationen) ist mit einer baldigen Online-Bereitstellung des Bandes (Open Access) uumlber den Doku- mentenserver der Akademie der Wissenschaften zu Goumlttingen zu rechnen was nur zu begruumlszligen ist

Joachim Kemper

766 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 766

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

hin (haumltte hier nicht der Verlag helfen koumlnnen) Man bedauert auch dass Hildenbrand ndash im Gegensatz zu Heribert Reiners ndash darauf verzichtet in der Wiedergabe der Inschriften deutlich zu machen was tatsaumlchlicher Buchstabenbestand der Vorlage ist und was von ihm als aufgeloumlste Kuumlrzung ergaumlnzt wurde Bei manchen Stellen wuumlrde man schon gern wissen ob die Bezeichnung des Verstorbenen als Canonicus oder als Custos tatsaumlchlich auf dem Grabmal steht oder durch die Aufloumlsung eines C durch den Autor erst so gedeutet wurde Leider verzichtet die Arbeit darauf jeweils auf die Beschreibung bei Reiners zu verweisen (dies hat der Leser selbst herzustellen) ebenso fehlen knappe Angaben zu den Bestatteten die uumlber den eigentlichen Text der Inschrift hinausgehen Auch waumlren manche Worterklaumlrungen zu praumlzisieren (canonicus ist nicht zwangslaumlufig ein Domherr sondern lediglich ein Mitglied eines Stiftskapitels ndash wie z B St Stephan oder St Johann in Konstanz)

Der eigentliche Wert der Publikation liegt in den zum Teil freien aber sprachlich sehr gelungenen Uumlbersetzungen der Inschriften die auch fuumlr einen des Latein maumlchtigen Be-trachter nicht so leicht zu verstehen sind Formen der adligen Repraumlsentation im Kontext der Reichskirche werden in den Texten ebenso erkennbar wie Strategien des Umgangs mit Tod und Auferstehungshoffnung im konfessionellen Zeitalter Deshalb wird man kuumlnftig bei einem Rundgang durch das Muumlnster gern den kleinen Band bei sich fuumlhren

Wolfgang Zimmermann

Peter KOHLGRAF Tobias SCHAumlFER Felicitas JANSON (Hg) Der Dom zu Worms Krone

der Stadt Festschrift zum 1000-jaumlhrigen Weihejubilaumlum des Doms Regensburg Schnell amp Steiner 2018 247 S Abb geb EUR 3495 ISBN 978-3-7954-3146-4

Der vorliegende Band wurde anlaumlsslich der 1000-jaumlhrigen Wiederkehr der Weihe der Wormser Kathedrale unter Bischof Burchard (1000ndash1025) veroumlffentlicht Diese fand den Quellen nach am 9 Juni 1018 unter Anwesenheit Kaiser Heinrichs II statt Allerdings dient das hochrangige Ereignis dem Werk nur als Referenzpunkt da es dem Dom einen bunten Strauszlig an Beitraumlgen zu verschiedenen Aspekten der Kirche und ihrer Ausstattung widmet Das Bukett umfasst meist kurze Abhandlungen zur Bauforschung Geschichte Kunstgeschichte Denkmalpflege bis hin zur Theologie und Seelsorge unserer Tage Im Kern handelt es sich wie im Vorwort vermerkt um Vortraumlge aus Festveranstaltungen der Katholischen Akademie der Jahre 201011 sowie ergaumlnzende Aufsaumltze die alle den Kennt-nisstand von 201516 spiegeln So wird die vom Mainzer Bischof Peter Kohlgraf dem Domprobst Tobias Schaumlfer und der Studienleiterin der Katholischen Akademie Felicitas Janson herausgegebene Publikation zu Recht als bdquoFestschriftldquo tituliert

Gleichsam eingebunden sind die Beitraumlge durch einen Vortrag des bekannten 2018 verstorbenen Mainzer Bischofs Kardinal LEHMANN der aus der Perspektive des geist- lichen Hirten einen einleitenden Uumlberblick zur Geschichte des Verhaumlltnisses des Wormser Bistums zu seinem Dom gibt und durch kurze Beitraumlge seines Nachfolgers und des Wormser Domprobstes zum Gemeindeleben am heutigen Dom am Ende der Publikation Dazwischen befinden sich die fachwissenschaftlichen Beitraumlge mit einem Schwerpunkt auf den baugeschichtlichen Untersuchungen der letzten Jahre insbesondere im Bereich des Ostchors zu seiner Bauabfolge und Datierung Fuumlr bauforscherisch Unerfahrene zum Einstieg keine leichte Kost die durch eine nur spaumlrliche Bebilderung den Nachvollzug der Schlussfolgerungen zusaumltzlich schwermacht Gleichwohl stellen sie ein Exempel fuumlr die Bemuumlhungen um die Aufklaumlrung der Baugeschichte dar die den Wormser Dom aus

764 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 764

der Sphaumlre des kleinen Nachzuumlglers im Konzert der rheinischen Kaiserdome zu einem wichtigen Akteur in der architekturhistorischen Entwicklung gemacht hat Respekt auch fuumlr den Mut eine fachspezifische Grundsatzkontroverse (Matthias UNTERMANN Dethard VON WINTERFELD) um die Ausfuumlhrung des Ostchors und seine zeitliche Einordnung in die Abfolge des romanischen Neubaus in einer an eine breite Oumlffentlichkeit gerichteten Publikation zu dokumentieren

Wer hingegen den Jubilar zunaumlchst einmal kennenlernen will dem sei der Domrund-gang von Irene SPILLE in der Mitte der Publikation ans Herz gelegt In anschaulicher Weise wird hier in Wort und Bild die Kirche sowohl am Aumluszligeren als auch im Innern dem Leser vorgestellt Danach sollte man den Aufsatz des kuumlrzlich verstorbenen Historikers Stephan WEINFURTER lesen der ein spannendes Kapitel aus der Herrschaftsgeschichte der Staufer vor dem Hintergrund des Wormser Doms erzaumlhlt In seiner unnachahmlichen Art laumlsst er den Kampf zwischen Kaiser und Koumlnig zwischen Vater und Sohn sowie den beteiligten weltlich wie kirchlich Maumlchtigen vor den Augen des Lesers entstehen der mehr uumlber die Bedeutung von Worms und seiner Bischofskirche aussagt als manch fach-wissenschaftlich fokussierte Detailanalyse

Ebenso spannend aber leider viel zu kurz sind die Einlassungen zur funktionalen Nut-zung des Kirchenraums durch Clemens KOSCH Sein Interesse gilt vor allem dem West-chor im Rahmen der Doppelchoranlage die am Mittel- und Oberrhein bzw in Suumld- deutschland nicht selten vorkommt und einen wichtigen Ausgangspunkt um 800 in der Errichtung der Ratgarbasilika in Fulda hatte Dort fand der hl Bonifatius seinen Grab- legeort im Westchor in Worms wurde ein solcher erst unter Bischof Burchard nach 1000 angelegt Er diente wohl als Bischofsmemorie gar als Gedaumlchtnisort fuumlr den Bauherrn was bemerkenswert ist wohingegen das Domkapitel traditionell im Ostchor ansaumlssig war Damit ist die uumlbliche Deutung von Doppelchoranlagen als Ausdruck von Regnum und Sacerdotium auch fuumlr Worms hinfaumlllig Unerwaumlhnt bleibt die Nutzung der beiden Chorseiten anlaumlsslich des ersten Provinzkapitels der Franziskaner in Deutschland 1221 das mit Erlaubnis durch Bischof und Domkapitel im Wormser Dom stattfand wie Jordan von Giano in seiner 1262 geschriebenen Chronik zur Ausbreitung seines Ordens noumlrdlich der Alpen berichtet Zur Messe und Predigt kam man in der Domkirche zusammen bdquowo die Kanoniker sich mit der einen Chorseite begnuumlgten und die andere den Bruumldern uumlber-lieszligen Ein Bruder des Ordens feierte die Messe und die eine Chorseite sang mit der anderen Chorseite um die Wette []ldquo

Die kunsthistorischen Beitraumlge fallen dagegen durch ihre stark stilgeschichtliche Ausrichtung auf und durch den Versuch die der Forschung im Grunde gelaumlufige Verbin-dung zur lombardischen Baukunst am Mittel- und Oberrhein im 11 und 12 Jahrhundert auch fuumlr Worms naumlher zu bestimmen Dabei werden auch ikonographische Hinweise gegeben Was allerdings eine bdquoNixeldquo in der mittelalterlichen Bauplastik sein soll siehe die Abb 18 auf S 53 ist unklar Die an ihrer Brust sich naumlhrenden Schlangen weisen eher auf eine Darstellung der Luxuria hin

Mit den Abbildungen in dem vorliegenden Band zu arbeiten ist nicht ganz einfach da sie uumlber die Beitraumlge hinweg durchnummeriert und nicht im Text verortet sind Das erleichtert zwar den Bildnachweis doch der Leser muss das passende Bild oft suchen ja manchmal erraten Schlieszliglich sind die Beitraumlge zur Denkmalpflege in ihrer nuumlch- ternen Berichtsform zu erwaumlhnen die das restauratorische Geschehen um den Dom in den letzten Jahren informativ erlaumlutern Aus der Fuumllle der Ausstattung der Wormser Kathedrale kommt insbesondere dem barocken Hauptaltar dem Chorgestuumlhl und den

765Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 765

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

der Sphaumlre des kleinen Nachzuumlglers im Konzert der rheinischen Kaiserdome zu einem wichtigen Akteur in der architekturhistorischen Entwicklung gemacht hat Respekt auch fuumlr den Mut eine fachspezifische Grundsatzkontroverse (Matthias UNTERMANN Dethard VON WINTERFELD) um die Ausfuumlhrung des Ostchors und seine zeitliche Einordnung in die Abfolge des romanischen Neubaus in einer an eine breite Oumlffentlichkeit gerichteten Publikation zu dokumentieren

Wer hingegen den Jubilar zunaumlchst einmal kennenlernen will dem sei der Domrund-gang von Irene SPILLE in der Mitte der Publikation ans Herz gelegt In anschaulicher Weise wird hier in Wort und Bild die Kirche sowohl am Aumluszligeren als auch im Innern dem Leser vorgestellt Danach sollte man den Aufsatz des kuumlrzlich verstorbenen Historikers Stephan WEINFURTER lesen der ein spannendes Kapitel aus der Herrschaftsgeschichte der Staufer vor dem Hintergrund des Wormser Doms erzaumlhlt In seiner unnachahmlichen Art laumlsst er den Kampf zwischen Kaiser und Koumlnig zwischen Vater und Sohn sowie den beteiligten weltlich wie kirchlich Maumlchtigen vor den Augen des Lesers entstehen der mehr uumlber die Bedeutung von Worms und seiner Bischofskirche aussagt als manch fach-wissenschaftlich fokussierte Detailanalyse

Ebenso spannend aber leider viel zu kurz sind die Einlassungen zur funktionalen Nut-zung des Kirchenraums durch Clemens KOSCH Sein Interesse gilt vor allem dem West-chor im Rahmen der Doppelchoranlage die am Mittel- und Oberrhein bzw in Suumld- deutschland nicht selten vorkommt und einen wichtigen Ausgangspunkt um 800 in der Errichtung der Ratgarbasilika in Fulda hatte Dort fand der hl Bonifatius seinen Grab- legeort im Westchor in Worms wurde ein solcher erst unter Bischof Burchard nach 1000 angelegt Er diente wohl als Bischofsmemorie gar als Gedaumlchtnisort fuumlr den Bauherrn was bemerkenswert ist wohingegen das Domkapitel traditionell im Ostchor ansaumlssig war Damit ist die uumlbliche Deutung von Doppelchoranlagen als Ausdruck von Regnum und Sacerdotium auch fuumlr Worms hinfaumlllig Unerwaumlhnt bleibt die Nutzung der beiden Chorseiten anlaumlsslich des ersten Provinzkapitels der Franziskaner in Deutschland 1221 das mit Erlaubnis durch Bischof und Domkapitel im Wormser Dom stattfand wie Jordan von Giano in seiner 1262 geschriebenen Chronik zur Ausbreitung seines Ordens noumlrdlich der Alpen berichtet Zur Messe und Predigt kam man in der Domkirche zusammen bdquowo die Kanoniker sich mit der einen Chorseite begnuumlgten und die andere den Bruumldern uumlber-lieszligen Ein Bruder des Ordens feierte die Messe und die eine Chorseite sang mit der anderen Chorseite um die Wette []ldquo

Die kunsthistorischen Beitraumlge fallen dagegen durch ihre stark stilgeschichtliche Ausrichtung auf und durch den Versuch die der Forschung im Grunde gelaumlufige Verbin-dung zur lombardischen Baukunst am Mittel- und Oberrhein im 11 und 12 Jahrhundert auch fuumlr Worms naumlher zu bestimmen Dabei werden auch ikonographische Hinweise gegeben Was allerdings eine bdquoNixeldquo in der mittelalterlichen Bauplastik sein soll siehe die Abb 18 auf S 53 ist unklar Die an ihrer Brust sich naumlhrenden Schlangen weisen eher auf eine Darstellung der Luxuria hin

Mit den Abbildungen in dem vorliegenden Band zu arbeiten ist nicht ganz einfach da sie uumlber die Beitraumlge hinweg durchnummeriert und nicht im Text verortet sind Das erleichtert zwar den Bildnachweis doch der Leser muss das passende Bild oft suchen ja manchmal erraten Schlieszliglich sind die Beitraumlge zur Denkmalpflege in ihrer nuumlch- ternen Berichtsform zu erwaumlhnen die das restauratorische Geschehen um den Dom in den letzten Jahren informativ erlaumlutern Aus der Fuumllle der Ausstattung der Wormser Kathedrale kommt insbesondere dem barocken Hauptaltar dem Chorgestuumlhl und den

765Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 765

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Orgeln breiter Raum zu uumlber andere Kunstwerke erfaumlhrt man Naumlheres nur im Rahmen des Rundgangs

Der Band ist sorgfaumlltig gemacht Durch sein groszligzuumlgiges Format kommen die Groszlig-teils juumlngeren Aufnahmen sehr gut zur Geltung so dass man das Buch auch ohne es lesen zu wollen gerne zur Hand nimmt Der Rezensent vermisst jedoch einen brauch- baren Grundriss und Laumlngsschnitt des Doms der auch dem interessierten Leser zur besseren Orientierung verholfen haumltte Trotzdem kann man das Projekt bdquoFestschriftldquo als ein insgesamt gelungenes Unternehmen bezeichnen

Wolfgang Schenkluhn

Gerhard FOUQUET Ferdinand OPLL Sven RABELER Martin SCHEUTZ (Hg) Social

Functions of Urban Spaces through the Ages Soziale Funktionen staumldtischer Raumlume im Wandel (Residenzenforschung Neue Folge Stadt und Hof Bd 5) Ostfildern Thorbecke 2018 288 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-7995-4534-1

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung der Internationalen Kommission fuumlr Staumldtegeschichte zuruumlck die als gemeinschaftliche Veranstaltung des Goumlttinger Aka- demieprojekts bdquoResidenzstaumldte im Alten Reichldquo (Arbeitsstelle Kiel) sowie des Instituts fuumlr Oumlsterreichische Geschichtsforschung vom 15 bis 16 September 2016 in Kiel statt-fand was sich auch in der Herausgeberschaft widerspiegelt Gleichwohl ein internatio-naler Tagungsband ist die uumlberwiegende Mehrzahl der Beitraumlge des Sammelbandes in deutscher Sprache gehalten namentlich die (englische) Einfuumlhrung der Herausgeber wird aber zweifellos die uumlberregionale Rezeption befoumlrdern Neben der Einfuumlhrung stehen zehn weitere Beitraumlge die abgesehen von der uumlbergreifenden Perspektive Pierre MONNETS (Raum und Stadt Raum der Stadt Eine staumldtische Sozialgeschichte zwischen Verortung und Verordnung) mit den Schlagwoumlrtern bdquoMitte und Randldquo bdquoOben und Untenldquo sowie bdquoInnen und Auszligenldquo ganz treffend beschrieben sind Das Spektrum reicht dabei von polnischen juumldischen Gemeinden und Spitaumllern in adligen boumlhmischen Residenzstaumldten uumlber kommunale soziale Konflikte in Flandern im spaumlten Mittelalter bis hin zu den Um-weltbeziehungen der Krainer Hauptstadt LaibachLjubljana (Wasser Wald Agrargesell-schaft im Umland) Auch houmlfische Orte in Staumldten des spaumlten Mittelalters und namentlich die Staumldte Regensburg (als Reichs- wie auch Reichstags- und Residenzstadt) und Weil-burg werden betrachtet (Harriet RUDOLPH bzw Matthias MUumlLLER) Hervorgehoben sei dabei auch dass der Blick weit in das 19 und sogar bis ins 20 Jahrhundert geht etwa bei den Beitraumlgen von Friedrich LENGER (Cities as Sites of Social Protest) bzw von An-drea PUumlHRINGER und Holger Th GRAumlF (Orte der Fuumlrsorge im Stadtraum der Kurstadt Das Beispiel Bad Homburg vor der Houmlhe) Ein opulenter und teils farbiger Abbildungsteil (S 243ndash288) beschlieszligt einen stadt- wie sozialhistorisch sehr lesenswerten Sammelband der es auch vermag regional einen weiten Bogen zu uumlberspannen Die einzelnen Beitraumlge sind mit jeweils eigenen Literatur- und Quellenverzeichnissen versehen Sie ermoumlglichen so einen bequemen Zugang und weitere Forschungsmoumlglichkeiten das Fehlen eines Registers faumlllt dagegen kaum ins Gewicht Soweit man an den neueren Publikationen des Projekts bdquoResidenzstaumldte im Alten Reichldquo ersehen kann (httpsadw-goede forschungforschungsprojekte-akademienprogrammresidenzstaedtepublikationen) ist mit einer baldigen Online-Bereitstellung des Bandes (Open Access) uumlber den Doku- mentenserver der Akademie der Wissenschaften zu Goumlttingen zu rechnen was nur zu begruumlszligen ist

Joachim Kemper

766 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 766

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Michel PAULY Martina STERCKEN Stadtentwicklung im vormodernen Europa Beob-achtungen zu Kontinuitaumlt und Bruumlchen (Mediaumlvistische Perspektiven Bd 8) Zuumlrich Chronos-Verlag 2019 96 S Abb Brosch EUR 15ndash ISBN 978-3-0340-1549-3

Die beiden kompetenten Autoren ndash Michel Pauly und Martina Stercken ndash praumlsentieren Permanenzen und Wandel der europaumlischen Stadt von deren Anfaumlngen bis ins 19 Jahr-hundert in Teilen bis heute Mit den fruumlhen Bischofsstaumldten und Marktorten entstanden die ersten regionalen sowie uumlberregionalen Zentren die ihren urbanen Charakter in der Regel bis heute bewahren konnten Mit der Entfaltung des Staumldtewesens verdichteten sich durch den Anschluss an den uumlberregionalen Handelsverkehr die urbanen Raumlume Es entstanden Staumldtenetze die allerdings infolge von Neugruumlndungen wieder ausgeduumlnnt werden konnten Die Entstehung der Nationalstaaten im 19 Jahrhundert bedingte die Ausbildung von Metropolen mit groszliger politischer wirtschaftlicher kultureller und ver-kehrstechnischer Ausstrahlung

Um 1200 entstand aufbauend auf bereits bestehenden Siedlungen die neue Lebensform Stadt Im Spaumltmittelalter und der fruumlhen Neuzeit bauten einzelne Kommunen ein eigenes Territorium auf Der innerstaumldtische Raum wurde durch das Rathaus die Marktplaumltze die Kaufhaumluser die Kirchen die Kloumlster das Hospital die Wohntuumlrme sowie Befestigung mit den Tuumlrmen gepraumlgt Die Entfestigung der Staumldte im ausgehenden 18 sowie im 19 Jahrhundert veraumlnderte das Stadtbild nachhaltig

Wohn- und Arbeitsbereich gehoumlrten zusammen Der Marktplatz kristallisierte sich als raumlumliches oumlkonomisches und soziales Zentrum heraus Marktraumlume lagen grundsaumltzlich an Knotenpunkten von Uumlberlandverbindungen Jahrmaumlrkte und Messen etablierten sich hingegen wegen des nur temporaumlr notwendigen Platzbedarfs auszligerhalb der Stadtmauern

Eine besondere Form des Wirtschaftens gilt vielfach als das entscheidende Charakte-ristikum der mittelalterlichen Stadt Der taumlgliche Markt und der Wochen- sowie Jahrmarkt in der Stadt stellten zunaumlchst einen Nahmarkt fuumlr die laumlndliche Bevoumllkerung des staumldti-schen Um- und Hinterlandes dar auf dem agrarische Produkte und gewerbliche Erzeug-nisse aus der Stadt ebenso abgesetzt wurden wie unter Umstaumlnden Fernhandelsguumlter Durch den Fernhandel wurden Staumldte in Partnerschaften mit anderen Kommunen einge-bunden so dass sich urbane Netzwerke knuumlpfen lieszligen Gewerbetreibende stellten den groumlszligten Teil der hochmittelalterlichen Stadtbevoumllkerung Das Vorhandensein bestimmter naturraumlumlicher Gegebenheiten beguumlnstigte die Entstehung besonderer Gewerbeland-schaften mit spezialisierter Produktion Zuumlnfte partizipierten in unterschiedlichem Maszlige an der Stadtherrschaft

Im Spaumltmittelalter und der fruumlhen Neuzeit etablierten sich mit den Bergbaustaumldten Festungs- und Residenzstaumldten Wallfahrtsorten Kur- und Baumlderstaumldten neue funktionale Stadttypen Seit dem 19 Jahrhundert kamen Industriestaumldte sowie Finanzzentren hinzu

Das Buumlrgertum entwickelte sich sukzessive seit dem 11 Jahrhundert als Rechts- gemeinschaft Die groumlszligte Autonomie gewaumlhrten die norditalienischen Staumldte sowie die Reichsstaumldte Die mittelalterliche Stadtgesellschaft war dabei nicht nur durch unterschied-liche Formen der Freiheit sowie Moumlglichkeiten der Partizipation differenziert sondern auch durch raumlumlich bestimmte soziale Entitaumlten (Stadtviertel Pfarrgemeinde)

In Italien hatte die Stadt uumlber den Untergang des roumlmischen Reiches hinaus eine erhebliche Permanenz Groumlszligere sowie wirtschaftlich potente Staumldte entwickelten sich oft zu freien Staumldten mit einer zum Teil betraumlchtlichen eigenen Herrschaft uumlber ihr Hinter-land Stadtherren von kleineren Staumldten tendierten eher zum eigenen Stadtregiment und beeinflussten die Besetzung der Schaltstellen der Buumlrgergemeinden selbst

767Allgemeine Stadtgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Durch den Aufbau von Verteidigungssystemen oumlffentlicher Ordnung Brandschutz sozialer Fuumlrsorge Hygiene Ver- und Entsorgung sowie Schulwesen kam mittelalterlichen Staumldten eine Vorbildfunktion bei der Leistungsverwaltung zu Staumldtebuumlnde und Land- friedensbuumlnde waren Zeichen einer zunehmenden kommunalen Autonomie und Zeichen politischer Selbstaumlndigkeit Staumldte wurden aufgrund ihrer Wirtschaftskraft zu Kultur- traumlgern Orten kultureller Produktion sowie Mittelpunkt von Wissenschaft Kuumlnsten und Unterhaltung verschiedenster Art Als raumpraumlgende durch Zentralitaumlt geformte Siedlung als im Kern immer noch erkennbare bauliche Entitaumlt als Ort wirtschaftlicher Innovation einer differenzierten sich immer wieder erneuernden Gesellschaft und kul-turellen Vielfalt vor allem aber als kleinraumlumiges Modell selbstverwalteter Ordnung und politischer Partizipation wirken in der modernen Stadt immer noch mittelalterliche Phaumlnomene nach

Ein ausfuumlhrlicher Anmerkungsapparat praumlsentiert grundlegende und weiterfuumlhrende Literatur Auf komprimiertem Raum praumlgnant zusammengefasst bietet der kleine Beitrag einen fulminanten und aumluszligerst lesenswerten Einstieg in die aktuelle Stadtgeschichtsfor-schung sowie in das Phaumlnomen der europaumlischen Stadt

Juumlrgen Treffeisen

Guy THEWES Martin UHRMACHER (Hg) Extra muros Vorstaumldtische Raumlume in Spaumlt- mittelalter und fruumlher Neuzeit Espaces suburbains au bas Moyen Acircge et agrave lrsquoeacutepoque moderne (Staumldteforschung Reihe A Darstellungen Bd 91) Wien Koumlln Weimar Boumlhlau 2019 521 S Abb Kt geb EUR 70ndash ISBN 978-3-412-22273-4 E-Book EUR 5999 ISBN 978-3-412-51517-1

Der hier anzuzeigende voluminoumlse Band geht auf eine gleichnamige internationale Konferenz der Universitaumlt Luxemburg und des staumldtischen Historischen Museums der Hauptstadt des Groszligherzogtums zuruumlck die im Jahr 2013 veranstaltet worden war Nun sind sechs Jahre bis zum Erscheinen eines Konferenzbandes keine kurze Zeit es bleibt aber durchaus festzuhalten Das Warten auf den Sammelband mit seinen 19 Beitraumlgen hat sich gelohnt zumal sich einige Bezuumlge zum Oberrhein bieten Die Beitraumlge spiegeln die Bandbreite und diversen wissenschaftlichen Disziplinen der Autorinnen von den Geschichtswissenschaften (mit zahlreichen regionalen bzw landeskundlichen Aspekten) uumlber die Kunstgeschichte bis hin zur Archaumlologie und Baugeschichte Neben Beitraumlgen von deutschen und franzoumlsischen Autorinnen stehen Texte aus Luxemburg Belgien Italien Oumlsterreich Polen und Ungarn Die Beitraumlge selbst sind dem uumlberregionalen europaumlischen Rahmen verpflichtet in deutscher franzoumlsischer oder (weniger haumlufig) eng-lischer Sprache verfasst die Abstracts bieten (dreisprachig) einen vereinfachten Zugang zu allen Beitraumlgen

Im Zentrum des Bandes stehen das staumldtische Umland bzw konkreter bdquovorstaumldtische Raumlumeldquo die in acht Kapiteln behandelt werden Die kartographische Repraumlsentation vor-staumldtischer Raumlume Festungsstaumldte und vorstaumldtische Raumlume Vorstaumldte Sozialtopogra-phie vorstaumldtischer Raumlume Inklusion Exklusion Kontrolle Staumldtische Einflussgebiete Vorstaumldtische Raumlume kleiner Staumldte Zwei Fallstudien Bereits in der Einleitung der Herausgeber wird auf die Ambivalenz der Vorstaumldte hingewiesen die von Desintegra- tion bzw abgestufter Bindung an die Kernstaumldte (typische Merkmale Zuwanderung Randgruppen Kranke und Arme) bis hin zum Bild einer positiv konnotierten laumlnd- lichen Gegend (Stichworte Gaumlrten Idylle Gasthaumluser adlige Sommersitze etc) reichen Bemerkenswert sind sicherlich in diesem Kontext auch die nicht selten repraumlsentativ

768 Buchbesprechungen

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gehaltenen Siechenhaumluser Leprosorien auszligerhalb von Staumldten Im Fall von Festungs-staumldten waren andererseits der fruumlhneuzeitlichen Entwicklung von Vororten oft enge Grenzen gesetzt

Der internationale und gleichsam regionalgeschichtliche Ansatz des Konferenzbandes bietet eine spannende und facettenreiche interdisziplinaumlre Lektuumlre fuumlr deren Herausgabe und Bearbeitung Guy Thewes (Staumldtisches Museum Luxemburg) und Martin Uhrmacher (Assistenzprofessor an der Universitaumlt Luxemburg Institut fuumlr Geschichte) nur zu danken ist Der mit nicht wenigen und durchaus qualitaumltvollen farbigen Abbildungen versehene Band hat natuumlrlich in gedruckter Form seinen Preis weshalb auch auf die minimal guumlns-tigere E-Book-Variante hingewiesen werden soll Ein Verzeichnis der Ortsnamen am Ende des Bandes schlieszligt einen gehaltvollen Sammelband ab

Joachim Kemper

Sabine VON HEUSINGER Susanne WITTEKIND (Hg) Die materielle Kultur der Stadt in Spaumltmittelalter und Fruumlher Neuzeit (Staumldteforschung Reihe A Darstellungen Bd 100) Wien Koumlln Weimar Boumlhlau 2019 256 S Abb geb EUR 35ndash ISBN 978-3-412-51612-3

Der vorliegende Sammelband greift den seit einigen Jahren in den Kulturwissenschaf-ten intensiv diskutierten sbquomaterial turnlsquo auf und sucht ihn fuumlr die vormoderne Stadtge-schichtsforschung fruchtbar zu machen Wie Sabine von Heusinger und Susanne Wittekind in ihrer ndash leider recht knappen ndash Einleitung schreiben sollen die von ihnen herausgegebenen zehn Texte bdquozu einer objektbasierten Kulturanalyse beitragen die anhand von Objekten und Artefakten die Verflechtung von materiellen kulturellen reli-gioumlsen sozio-politischen und wirtschaftlichen Aspekten einer Zeit und eines Ortes erschlieszligt und damit fuumlr die Stadtgeschichte der Vormoderne neue Forschungsfelder eroumlffnetldquo (S 18)

Im ersten dieser zehn Beitraumlge geht Julia A SCHMIDT-FUNKE der Frage nach ob es bdquoeine spezifische Materialitaumlt des Urbanenldquo gibt (S 19) Ihr Vorschlag bdquodie historische Stadt von den Dingen her zu denkenldquo (S 21) gliedert sich in zwei Teile Zum einen gehe es darum bdquodie Bedeutung von Dingen in Prozessen staumldtischer Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu analysierenldquo (ebd) was Schmidt-Funke am Beispiel der Kleidung sowie des Waffenbesitzes und -gebrauchs exemplifiziert Zum anderen koumlnnten Staumldte bdquoals Orte erhoumlhter Dingverfuumlgbarkeitldquo (S 34) in den Blick genommen werden in denen Objekte in wesentlich groumlszligerer Anzahl und Vielfalt vorhanden waren als auf dem Lande Schmidt-Funke verweist dazu beispielhaft auf Sammlungen Kunst- und Naturalienkam-mern die es freilich auch auf manchen laumlndlichen Adelssitzen gab

Elisabeth GRUBER untersucht anschlieszligend in welcher Form Objekte in der staumldtischen Rechnungsfuumlhrung des 15 Jahrhunderts erscheinen Die Ausstattung der Wiener Rats-stube gibt ihr zufolge subtile Hinweise auf soziale und funktionale Differenzierungen innerhalb der staumldtischen Elite sowie auf das Selbstverstaumlndnis der Ratsherren Susanne WITTEKIND thematisiert anhand von Beispielen aus Buumldingen Frankfurt am Main und Coventry die Rolle von Wappen als bdquoMedien der symbolischen Kommunikationldquo (S 52) und entschluumlsselt ihre heraldischen Botschaften Kirsten Lee BIERBAUM bietet eine scharf-sinnige Analyse des um 1500 entstandenen Bildprogramms des bdquoHuldigungssaalsldquo im Goslarer Rathaus Sie weist strukturelle Aumlhnlichkeiten des Saalprogramms mit dem Bild-programm der Schedelschen Weltchronik nach und argumentiert uumlberzeugend dass der Goslarer Rat seine Legitimation staumlrker von Gott herleitete als vom Kaiser (zu dem das

769Allgemeine Stadtgeschichte

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Verhaumlltnis zur Entstehungszeit gespannt war) Gleichwohl bleibt nach der Lektuumlre dieses spannenden Beitrags die Frage offen ob der Aspekt der materiellen Kultur hier nicht gegenuumlber der Ikonographie nachrangig ist

Fuumlr das spaumltmittelalterliche Oberrheingebiet untersucht Olivier RICHARD Funktion und Bedeutung von Objekten im Kontext von Eidesleistungen Waumlhrend res sacrae wie Reliquiare und Evangelien welche die Akteure bdquoberuumlhren halten oder anschauenldquo konn-ten (S 96) die Eide bekraumlftigen sollten erhielten die gesprochenen Formeln in Statu-tenbuumlchern Schwoumlrbriefen und Eidbuumlchern ihrerseits eine materielle Form Als bdquoRequi- siten der Eidesleistungldquo (S 116) nimmt Richard zudem Waffen Tuumlren und die in Basel an Kinder verschenkten Birnen in den Blick Die materiellen Objekte eroumlffnen somit interessante Perspektiven auf bdquodas Verhaumlltnis zwischen Religion sozialen Beziehungen und Politikldquo (S 120) Julia BRUCH naumlhert sich der Materialitaumlt zweier staumldtischer Chro-niken des 16 Jahrhunderts der Ulmer Chronik des Schuhmachers Sebastian Fischer und der Esslinger Chronik des Handwerkers Dionysius Dreytwein kodikologisch und palaumlo-graphisch an Sie kann dadurch unterschiedliche Vorgehensweisen der Schreiber ndash einen bdquolinearen Schreibprozessldquo im Esslinger Fall im Gegensatz zur bdquovorausplanenden Anlageldquo und nichtlinearen Arbeitsweise des Ulmer Chronisten ndash nachweisen und zeigen wie die Autoren ihr Material ordneten

Birgitt BORKOPP-RESTLE stellt die reiche Uumlberlieferung kostbarer Textilien vor die spaumltmittelalterliche Individuen und Korporationen in die Danziger Marienkirche stifteten Die Paramente aus zentralasiatischen und italienischen Seidenstoffen verdeutlichen Wohlstand Leistungsfaumlhigkeit und Repraumlsentationsbeduumlrfnis der Stifter zeigen aber auch die weitreichenden Beziehungen der Ostseestadt an Anna PAWLIK zeichnet anhand ver-schiedener Medien und Objekte ndash Geschlechterbuumlcher Stammbaumlume Totenschilde und Pokale ndash nach wie Nuumlrnberger Patrizier des 15 und 16 Jahrhunderts nach hochadeligen Vorbildern den bdquoSpitzenahnldquo ihres jeweiligen Geschlechts imaginierten und in Gestalt der Figur eines schlafenden bzw lagernden Ritters darstellen lieszligen Regula SCHMID rekonstruiert den Bestand von ndash materiell kaum uumlberlieferten ndash Alltagswaffen in spaumlt-mittelalterlichen Schweizer Staumldten anhand sogenannter Harnischroumldel Bei genauer Lek-tuumlre geben diese auf den ersten Blick sproumlden und stereotypen Listen bemerkenswerte Hinweise auf Qualitaumlt Zustand Gebrauch und Weitergabe der Harnische Kettenhemden Hieb- und Stichwaffen in eidgenoumlssischen Haushalten

Jan KEUPPS abschlieszligendes Resuumlmee erinnert unter dem schoumlnen Titel bdquoDie Stadt ding-fest machenldquo daran dass Georg Simmels bdquoEinsicht in die Macht des Materiellen nach-gerade am Beginn sozialwissenschaftlicher Staumldteforschungldquo gestanden habe (S 227) Indem sie sich nun wieder verstaumlrkt der materiellen Kultur zuwendet kehrt die Stadt- geschichtsforschung also gleichsam zu ihren Anfaumlngen zuruumlck Dies bedeutet freilich nicht dass Forscherinnen und Forscher die sich dem sbquomaterial turnlsquo verschreiben ledig-lich alten Wein in neue Schlaumluche fuumlllen Vielmehr vermoumlgen die Beitraumlge dieses lesens-werten Bandes gerade dort am meisten zu uumlberzeugen wo sie bekannte Quellen und etablierte Methoden mit neuen Fragestellungen kombinieren

Mark Haumlberlein

Michael ROTHMANN Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt und Geld 5 Tagung des Muumlhl-haumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte Muumlhlhausen 27 Februar bis 1 Maumlrz 2017 (Studien zur Reichsstadtgeschichte Bd 5) Petersberg Imhof 2018 397 S Abb geb EUR 2995 ISBN 978-3-7319-0651-3

770 Buchbesprechungen

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Die Geldgeschichte wird von vier Faktoren bestimmt herrschaftlichen theologischen naturraumlumlichen und wirtschaftlichen Herrschaftstraumlger lieszligen ihre Symbole auf Muumlnzen praumlgen womit sie ihre Intentionen propagierten und behaupteten die Waumlhrungssicherheit zu garantieren Edelmetalle mussten oft von weither bezogen werden Bargeldlose Zah-lungsverfahren wie die Verrechnung von Krediten und Wechsel entstanden in den mit-telalterlichen Staumldten Geld wurde zum Maszligstab fuumlr Erfolg Die Herrschaft von Reichs- staumldten uumlber ihr Umland manifestiert sich auch in der Kontrolle der Zahlungsstroumlme Die Theologen schlieszliglich hielten an der Ablehnung von Kredit und Wucher fest was auch als Appell verstanden werden kann die Ungerechtigkeiten der sich durchsetzenden Geld-wirtschaft durch taumltige Fuumlrsorge fuumlr die Armen zu mildern

Steuern kamen in mittelalterlichen Staumldten in vielen Formen vor Die Reichsstaumldte mussten an ihren Stadtherrn den Koumlnig Abgaben entrichten die Freien Staumldte konnten nur in Ausnahmesituationen in Anspruch genommen werden was Eberhard ISENMANN in seinem Beitrag ausdifferenziert Die Staumldte selbst erhoben aber auch fuumlr eigene Be-lange zunehmend Steuern (Vermoumlgensteuern und indirekte Steuern) ndash angefangen mit der Finanzierung des Baus von Stadtmauern Die Reichssteuern wurden im 15 Jahrhun-dert entweder als Matrikularbeitraumlge der Reichsstaumlnde oder als allgemeine Vermoumlgen-steuern konzipiert Letztere mussten durch eine Notlage des Reiches in den Hussiten- bzw Tuumlrkenkriegen begruumlndet werden Eine komplizierte Steuerordnung wurde 1471 dis-kutiert eine einfache kam dann 1495 mit dem Gemeinen Pfennig zum Zuge Schlieszliglich setzten sich doch die Matrikularbeitraumlge durch Die kommunalen Steuern wiederum wur-den als solidarische Zwangsabgabe eingefuumlhrt und dienten der Finanzierung unspezifi-zierter Aufgaben Die Staumldte finanzierten sich in unterschiedlichem Maszlig aus direkten oder indirekten Steuern Zur Bekaumlmpfung von Steuerhinterziehung gab es elaborierte Verfahren

Die Staumldte brauchten schon fruumlh Kredite um ihre Aufgaben zu finanzieren Schulden-freiheit blieb zwar ein Ideal wie Hans-Joumlrg GILOMEN am Beispiel der Schweizer Reichs-staumldte schildert aber die Realitaumlt sah oft anders aus Basel etablierte sich fruumlh als wichtigster Finanzplatz fuumlr die Schweiz (neben Straszligburg) Die Stadtrechnungen zu ent-schluumlsseln stellt sich als schwierige Aufgabe heraus Es gab zahlreiche separate Kassen mit eigenen Rechnungen die nicht zu einer Gesamtrechnung zusammengefuumlhrt wurden Anleihen waren oft das Mittel der Wahl wenn auszligergewoumlhnliche Belastungen (in der Regel Kriege oder Ankaumlufe von Herrschaftsrechten) zu bewaumlltigen waren Hier gab es die Alternative zwischen Leibrenten und Wiederkaufsrenten Zinssaumltze waren bis zu einem gewissen Grad Verhandlungssache Auch Wohnort des Glaumlubigers und die Stuumlcke-lung der Anleihen mussten bedacht werden Fuumlr viele Schweizer Staumldte spielten Pen- sionszahlungen Frankreichs des Papstes etc eine herausragende Rolle fuumlr die Finanzie-rung ihrer Haushalte

Im Falle ernster Probleme konnten staumldtische Solidaritaumlten mobilisiert werden Muumlhlhausen im Elsass steckte in der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts in ernst- haften Zahlungsschwierigkeiten die seinen Status als Reichsstadt bedrohten Laurence BUCHHOLZER-REMY zeigt wie sich andere Staumldte engagierten um den Zugriff von Fuumlrsten auf die Stadt abzuwenden Sie gewaumlhrten Muumlhlhausen Kredite Tilgungsplaumlne wurden gemeinsam festgelegt Ausgaben der Stadt gekuumlrzt Die Befriedigung der Anspruumlche der eigenen Buumlrger spielte dabei nicht die wichtigste Rolle sondern die politischen Ziele standen im Vordergrund

771Allgemeine Stadtgeschichte

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In den Norden des Reichs fuumlhrt die Geschichte der bdquoLuumlbischen Waumlhrungsunionldquo in der sich zwischen 1379 und der Mitte des 16 Jahrhunderts Luumlbeck Hamburg Luumlneburg und Wismar sowie andere wechselnde Partner zusammenfanden Die Partner legten ge-meinsam den Muumlnzfuszlig fuumlr bestimmte Praumlgungen fest Luumlbeck dominierte den Verbund in Zeiten in denen die Stadt sich fernhielt funktionierte die Union eher schlecht

Deventer in einem anscheinend kaiserfernen Raum gelegen erhielt 1486 ein Muumlnz-privileg Kaiser Friedrichs III fuumlr die Praumlgung von Goldmuumlnzen Damit stellt sich die Frage nach dem Status der Stadt zumal die Initiative offenbar von ihr ausging Evelien TIMPENER sieht aber auch die Interessen Friedrichs III an den Niederlanden und die Reichsferne Deventers als ausschlaggebend an Praumlgungen solch weit entfernter Kom-munen beeinflussten den Geldumlauf im Innern des Reiches kaum

Dortmund geriet durch die bdquoGroszlige Fehdeldquo von 138889 gegen den Grafen von Mark und den Erzbischof von Koumlln in eine Schuldenfalle Vor der Auseinandersetzung hatte sich die Stadt im Wesentlichen aus indirekten Steuern finanziert die allerdings stark im Steigen begriffen waren Das fuumlhrte zu innerstaumldtischen Auseinandersetzungen zwischen Rat und Buumlrgerschaft uumlber die dann notwendige direkte Besteurung und den noumltigen Steuersatz wie Thomas Schilp schreibt Anschlieszligend uumlberstand Dortmund die Bedro-hung zwar siegreich sah sich aber mit gewaltigen Schulden konfrontiert Der Rat fuumlhrte eine hohe Akzise ein und verlangte eine Vermoumlgensteuer von fuumlnf Prozent wofuumlr die Zustimmung der Buumlrger einzuholen war Die Zuumlnfte verlangten detaillierte Rechenschaft des Rates und besetzten schlieszliglich das Rathaus Am Ende stand ein Kompromiss der den Buumlrgervertretern eine direkte Mitwirkung im Rat zugestand

Dass Staumldte auch ohne den Erwerb direkter Herrschaftsrechte ein Territorium kon- trollieren konnten zeigt das von Stefan SONDEREGGER geschilderte Beispiel der Stadt St Gallen Ihre Buumlrgerinnen und Buumlrger erwarben zahlreiche Rechte im Herrschafts- bereich der Abtei St Gallen ndash trotz des konfessionellen Gegensatzes Die einzelnen Rechte dienten dabei unterschiedlichen Zielen ein Hafen gehoumlrte ebenso dazu wie Rechte an Bauernhoumlfen die Wein oder Getreide produzierten und fuumlr Versorgung der Stadt dienten Private Landsitze und Schloumlsser schlieszliglich hatten wirtschaftliche Aufgaben unterstrichen aber auch das Prestige der Besitzerfamilien

Staumldte wie Konstanz und Esslingen hatten zunaumlchst Interesse an der finanziellen Aus-beutung ihrer juumldischen Gemeinden Im 15 Jahrhundert wurden die Juden weitgehend aus beiden Staumldten vertrieben Die von Christian HAGEN vorgestellte Auswertung des Konstanzer Ammanngerichtsbuch zeigt tatsaumlchlich die schwindende Bedeutung juumldischer Kreditgeber die wohl zunehmend in den Bereich Kleinkredite abgedraumlngt wurden

Muumlhlhausen in Thuumlringen und Nordhausen feierten am Freitag vor Palmsonntag die Erinnerung an die Abwehr zweier Versuche die Staumldte zu erobern Sie riefen dazu Ge-daumlchtnisspenden ins Leben die der Verteilung von Brot und Heringen an Arme gewidmet waren Die Spenden uumlberdauerten die Zeiten die Erinnerung an ihren Anlass aber ver-schwand wie Julia MANDRY darlegt Die Stadtgesellschaft inszenierte sich bei der Spen-denverteilung selbst Einbezogen wurden zunehmend groszlige Teile der Stadtbevoumllkerung auch die Baumlcker profitierten wohl

In Windsheim sind Stadtrechnungen ab 139394 erhalten die auch Nachweise der Haushalte dieser kleinen Reichsstadt enthalten Gabriel ZEILINGER lotet die Moumlglichkeiten aus solche Quellen zu analysieren Rechnungen sind oft die fruumlhesten erhaltenen Quellen und ermoumlglichen auch detaillierte Einblicke in die Politik- und Kommunikations- geschichte ndash uumlber ihre wirtschaftlichen und sozialen Informationen hinaus

772 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Zwei Muumlnzschatzfunden in Muumlhlhausen in Thuumlringen widmen sich die Beitraumlge von Paul LAUERWALD und Martin SUumlNDER Letzterer versucht auch den Verberger des Schatzes zu identifizieren

Den Kreditbeziehungen und der Bezahlung koumlniglicher Schulden auf dem Konstanzer Konzil wendet sich Mathias KLUGE zu Koumlnig Sigismund repraumlsentierte bei seinen Auf-enthalten in der Stadt groszligzuumlgig Er kuumlmmerte sich aber auch selbst um Preise fuumlr Ein-kaumlufe und Budgets Glaumlubiger erhielten Schuldurkunden in denen je nach Schuldsumme Buumlrgen genannt waren In die Abrechnungen wurden auch die Angehoumlrigen des Hofes einbezogen Vor allem Konrad von Weinsberg spielte eine wichtige Rolle Ruumlckzahlungen erfolgten dann oft in Teilzahlungen Die Realisierung hing auch vom Status des Glaumlubi-gers ab Schulden vor Faumllligkeit einzuklagen galt als Affront gegenuumlber dem Koumlnig Uumlbergeordnetes Ziel war die Aufrechterhaltung der Kreditwuumlrdigkeit

Noumlrdlingen und Muumlhlhausen waren im 17 und 18 Jahrhundert so hoch verschuldet dass Debitkommissionen des Reichshofrates sich ihrer finanziellen Angelegenheiten annehmen mussten Antje SCHLOMS schildert detailliert das Vorgehen der Kommissare und die vereinbarten Rezesse die zu vermehrter Mitsprache der Buumlrger fuumlhrten Das Schuldenwesen der Staumldte lieszlig sich durchaus erfolgreich regeln auch weil sich die Rech-nungsfuumlhrung deutlich verbesserte

Am Ende des Alten Reiches waren allerdings zahlreiche Reichsstaumldte wieder hoch ver-schuldet wofuumlr weiterhin die Lasten durch Kriege (dann vor allem der Revolutions-kriege) verantwortlich waren Interne Reformen konnten allerdings den Schuldendienst stabilisieren wie Hans-Werner HAHN am Beispiel Wetzlar erlaumlutert Die Mediatisierung brachte dann einen definitiven Einschnitt der oft die Staumldte auf den alten Schulden sitzen lieszlig ihnen aber die Einnahmen entzog Manchmal konnte Jahre oder Jahrzehnte spaumlter wie im Falle Rottweils oder Reutlingen ein Ausgleich erzielt werden Wetzlar dagegen litt noch lange wogegen die Buumlrgerschaft politisch mobilisierte

Insgesamt bietet der vorliegende Band eine ansprechende Einfuumlhrung anhand von Ein-zelbeispielen ins Thema bdquoReichsstadt und Geldldquo wenn er auch etwas mittelalterlastig ist und die neuzeitliche Entwicklung nur wenig thematisiert wird

Andreas Maisch

Mathias KAumlLBLE Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt als Argument 6 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte Muumlhlhausen 12 bis 14 Februar 2018 (Studien zur Reichsstadtgeschichte Bd 6) Petersberg Imhof 2019 316 S Abb geb EUR 2995 ISBN 978-3-7319-0818-0

Das von Mathias Kaumllble und Helge Wittmann herausgegebene Buch versammelt die 14 Beitraumlge der 6 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreise fuumlr Reichsstadtgeschichte aus dem Jahr 2018

In seiner Einfuumlhrung der Tagung erinnert Mathias KAumlLBLE daran dass die spaumltmittel-alterlichen und neuzeitlichen Reichsstaumldte eher eine politische als eine rechtliche Realitaumlt waren Vom Spaumltmittelalter bis zum Ende des Alten Reichs praumlgte sich der Status bdquoReichsstadtldquo immer staumlrker aus Verstehen inwieweit die Reichstaumldte in verschieden Kontexten ihren Status als Argument benutzen konnten bedeutet also ihre Beziehungen zum Kaiser dem Koumlnig den Fuumlrsten aber auch die Situation der bischoumlflichen und landesfuumlrstlichen Staumldte zu begreifen

Die zwei ersten Aufsaumltze untersuchen die progressive Staumlrkung der Reichsstaumldte durch ihre Partizipation in den Reichsversammlungen und die Argumentation der verschiedenen

773Allgemeine Stadtgeschichte

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oder die von Doumllf WILD beschriebenen um 1330 entstandenen spektakulaumlren Wand- fresken aus dem Haus bdquoZum Brunnenhofldquo in Zuumlrich Die dort der bdquoBilderwelt der houmlfi-schen Kulturldquo entnommenen Motive fanden uumlbrigens 100 Jahre spaumlter mit dem Groszlig-fresko in dem zentralen Gebaumludekomplex der Humpisgesellschaft in Ravensburg einen prominenten Nachahmer

Eine bdquoaktuelle und um Vollstaumlndigkeit bemuumlhte Bibliographie der Veroumlffentlichungen zu den Juden am Bodenseeldquo (S 203ndash215) rundet den Band an dem insgesamt 33 Auto-rinnen und Autoren mitgewirkt haben ab Den zahlreichen Abbildungen haumltten ein grouml-szligeres Format und eine Wiedergabe auf Kunstdruckpapier gutgetan Die vielfach zu klein und durchweg zu dunkel geratenen Reproduktionen truumlben den Genuss der Betrachtung doch merklich Auch haumltte man sich ein sattelfesteres Lektorat gewuumlnscht Fluumlchtigkeits-fehler wie der unschoumlne Pleonasmus bdquozeitlich befristetldquo (S 140 142) verungluumlckte Satz-gefuumlge (S 136) der Schnitzer bdquoservi camerae nostrildquo[] (S 140) oder mehrere Trennfehler haumltten dann vielleicht vermieden werden koumlnnen Ganz bestimmt aber waumlre aufgefallen dass der in drei verschiedenen Beitraumlgen (S 12 162 166) verwendete Quellenbeleg aus dem Konzeptbuch B der Konstanzer Kurie zum Kartenspielen des Klerikers Wilhelm von Imbuch ndash angeblich ndash mit einem Juden in einem Karmeliterkloster gleich mehrfach fehlinterpretiert wurde Auch wenn das Regest von Karl Rieder noch von einem Kolle-giatstift Ehingen bei Ravensburg [] spricht so haumltte spaumltestens beim Blick in die auf S 175 abgedruckte Originalquelle die topographische Ungereimtheit auffallen muumlssen Dort hat eine spaumltere Hand mit Bleistift den offenkundigen palaumlographischen Befund korrekt mit Ehingen bei Rottenburg wiedergegeben Mit der Lokalisierung des Kolle- giatstifts St Moritz im Rottenburger Stadtteil Ehingen wird auch plausibel warum sich der Konstanzer Generalvikar ndash wie im Regest erwaumlhnt ndash in dieser Angelegenheit an den Tuumlbinger Dekan wendet Zudem hat besagter Wilhelm von Imbuch bdquoan Weihnachten mit einem Juden oumlffentlich Karten gespieltldquo ohne dass wir Naumlheres uumlber den Tatort erfahren nicht aber im bdquoKarmeliterklosterldquo und schon gar nicht im Ravensburger

Franz-Josef Ziwes

Peter KOumlRNER bdquoJetzt ist es mit Dir aushellipldquo 10 November 1938 in Aschaffenburg Opfer

Taumlter Ahndung und Erinnerung (Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaf-fenburg Beiheft Bd 5) Aschaffenburg Stadt- und Stiftsarchiv 2019 299 S Abb geb EUR 22ndash ISBN 978-3-922355-35-9

Die neueste Veroumlffentlichung aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg beschaumlf-tigt sich intensiv mit der bdquoReichspogromnachtldquo die erst seit etwa 40 Jahren so genannt wird mit ihrer bdquoBewaumlltigungldquo und der Erinnerung daran Der seit Jahrzehnten mit der Lokalgeschichte vertraute und selbst in der Erinnerungskultur aktive Historiker und Jour-nalist Peter Koumlrner hat auf einen griffigeren Titel verzichtet und stattdessen seine me-thodischen Uumlberlegungen im Buchtitel wiedergegeben

Der Autor legt einen Schwerpunkt auf die Taumlter ohne sie zu entmenschlichen oder zu daumlmonisieren wie es im Gedenkgenre nicht selten vorkommt Der Autor seziert die Ermittlungen zu den begangenen Verbrechen justiziable Prozesse und die Erinnerung seit 194546 bis heute quasi in einem Laumlngsschnitt

Die Ansicht dass die bdquoReichspogromnachtldquo meistenorts gut erforscht sei hinterfragt Koumlrner kritisch Entgegen perpetuierter Erzaumlhlungen fanden die terroristischen Ereig-nisse jener Nacht allerorten fruumlhestens eine Weile nach Mitternacht jedenfalls am

788 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 788

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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politischen Akteure im Spaumltmittelalter Helmut G WALTHER analysiert die Vielfalt und die fluumlchtigen Konturen des mittelalterlichen Stadtstatus die bis in die Reichsmatrikel des beginnenden 15 Jahrhunderts erkennbar waren Die Reichspolitik fuumlr die Staumldte (z B am Oberrhein) die Konflikte und die rechtlichen Debatten zwischen Staumldten Kaiser und Fuumlrsten das immer ausgepraumlgtere staumldtische Reichsbewusstsein (wie in Nuumlrn- berg) fixierten dennoch den Status und die Zustaumlndigkeitsbereiche der Reichsstaumldte in der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts Gabriele ANAS untersucht eine andere wich-tige Frage die Reichsstaumldte in Reichsversammlungen Sie konstatiert die bdquoJanuskoumlpfig-keitldquo (S 53) der Argumentation des Koumlnigs und der Reichsfuumlrsten Sie schlossen die Reichsstaumldte nach ihren eigenen Beduumlrfnissen ein oder aus Am Ende des 15 Jahrhunderts wurde progressiv bdquoeine herrscherliche Ladungspflichtldquo (S 44) durchgesetzt Auch inner-halb der Reichstaumldte bestanden deutliche Unterschiede in ihrer Haltung Die kleinen Reichsstaumldte besuchten fast nie Reichsversammlungen waumlhrend die groumlszligten sehr aktiv waren

Die naumlchsten Beitraumlge bieten Einblick in die Vielfalt der Situationen in denen die deut-schen Staumldte das Argument bdquoReichsstadtldquo verwendeten Olivier RICHARD beweist dass die spaumltmittelalterlichen elsaumlssischen Reichsstaumldte je nach Zielsetzung und ihrem Gegenuumlber mit ihren multiplen Identitaumlten spielten Das Argument bdquoReichsstadtldquo das in den Stadtbuumlchern auf dem Stadtsiegel auf den Mauern der Stadtgebaumlude stand wurde benutzt um die Interessen die Reichsunmittelbarkeit und die Freiheiten der Stadt ins-besondere in Steuerfragen zu schuumltzen Wenn das Argument unrelevant war z B im Fall Muumllhausen gegenuumlber den Habsburgern suchten die Staumldte andere Unterstuumltzer als den Kaiser Die Versuche kleiner Staumldte wie Ammerschweier Reichsstadt zu werden zeigen jedoch einen prestigevollen Status Der Wormser Rat benutzte das als Argument im Spaumltmittelalter Gerold BOumlNNEN findet zwei Gruumlnde dafuumlr das Ende der bischoumlflichen Schutzherrschaft vor allem in den Jahren 1480ndash1500 und die Legitimation der Rats-macht gegenuumlber den inneren Oppositionen z B waumlhrend den Unruhen 1513ndash1514 Der Rat mobilisierte alle moumlglichen Medien Muumlnzen Stadtsiegel Stadtraum Jedoch war das Schriftmaterial die bessere Waffe Der Rat benutzte die Archivalien und entwickelte eine echte Geschichtspolitik unter anderem durch Chroniken Obwohl andere Medien (Waffen Bilder) benutzt wurden standen die Schrift und die Archivalien im Mittelpunkt des Konflikts zwischen der Stadt St Gallen und dem Abt der ihr waumlhrend der zweiten Haumllfte des 15 und am Beginn des 16 Jahrhunderts den Reichsstadtstatus verweigerte Rudolf GAMPERT erklaumlrt wie der Abt die alten Archivalien und die St Galler Geschichte vor allem in der Denkschrift von 1480 manipulierte Seine Strategie war erfolgreich vor den eidgenoumlssischen Schiedsrichtern Trotzdem bezeichnete sich die Stadt St Gallen immer noch als Reichsstadt z B in Schriften von Joachim Vadian Antje SCHLOMS erklaumlrt die zwei verschiedenen Kontexte in denen die Stadt Muumllhausen das Argument bdquoReichs-stadtldquo mobilisierte Die Ratsoligarchie benutzte es gegenuumlber den Reformationsanhaumln-gern um ihre Macht zu legitimieren und um die Buumlrger zur Einheit gegen die Herrschaftsbedrohungen anzurufen Nach ihrer Niederlage im Jahr 1525 wurde Muumllhau-sen von Fuumlrsten kontrolliert und verweigerte die finanziellen Einschraumlnkungen im Reichs-dienst weil sie keine Reichsstadt war Deshalb unternahm der Kaiser Schritte um ihr den Status zuruumlckzugeben 1542 gab Koumlnig Ferdinand I Muumllhausen die Privilegien einer Reichsstadt Henning STEINFUumlHRER erklaumlrt die Faumllle von Magdeburg und Braunschweig zwei norddeutschen Autonomiestaumldten die schon seit dem 15 Jahrhundert von der Kon-solidierung der fuumlrstlichen Staaten bedroht wurden Die beiden Staumldte hatten kein Inte-

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dennoch fuumlr den Verlauf des 15 Jahrhunderts eine deutliche Entwicklung hin zu Diskri-minierung Ausgrenzung und Ghettoisierung der juumldischen Bevoumllkerung nachzeichnen

Insbesondere in den 1430er Jahren kommt es aufgrund mehrerer Krisen und bdquounter-schiedlich gelagerter Reformbestrebungen in Kirche und Weltldquo zu einem bdquostrukturellen Bruch im nordalpinen Reichsgebietldquo mit dem die bdquoHochphase des sozialen Ausschlusses von Judenldquo eingelaumlutet wird wie Christian JOumlRG feststellt (Christen und Juden im Europa der ersten Haumllfte des 15 Jahrhunderts Zur Ausgrenzung von Juden im Umfeld der groszligen Reformkonzilien S 79ndash86) Damit einher gingen nach Christian SCHOLL auch die Be-strebungen christlicher Korporationen die bis dahin bdquokeineswegs hohlenldquo Buumlrgerrechte der Juden zu beschraumlnken und die andersglaumlubigen Konkurrenten von den Erwerbszwei-gen in Handwerk und Handel weitgehend auszuschlieszligen (Als Rechtlose in die Geldleihe abgedraumlngt Zur rechtlichen Stellung und wirtschaftlichen Taumltigkeit von Juden in den suumlddeutschen Reichsstaumldten des spaumlten Mittelalters S 24ndash31)

Die mit den Umbruumlchen im 14 und 15 Jahrhundert verbundenen Konflikte und Ge-waltausbruumlche thematisieren Martha KEIL (Im Westen von Aschkenas Aspekte von Kon-flikt und Religion im juumldischen Bodenseeraum S 70ndash78) und Johannes HEIL (Gewalt gegen Juden und Konflikte in der Stadt Uumlberlegungen zu einer verstoumlrenden bdquoNormali-taumltldquo am Beispiel der Stadt Konstanz und des Bodenseeraums S 87ndash96) Erstere kann anhand Zuumlricher Gerichtsquellen eine bdquoirritierendeldquo intensive Anrufung des Stadtgerichts bei innerjuumldischen Konflikten feststellen die im Gegensatz zu der bdquoerkaumlmpften juumldisch-rechtlichen Autonomie und in Opposition zum Anspruch der Rabbiner standldquo Diese Ent-wicklung deckt sich allerdings mit den auch andernorts nach den Pestpogromen erkennbaren Tendenzen die bis dahin weitgehend stabile innerjuumldische Gemeindeauto-nomie durch ein Regulierungsmonopol der christlichen Obrigkeit zu ersetzen Wurden die Konflikte auf der politischen Ebene ausgetragen bei der den Juden bdquojede direkte Mit-wirkungsmoumlglichkeit am andauernden innerstaumldtischen Kraumlftemessen versagt warldquo konnte dies nach Johannes Heil fuumlr die juumldische Bevoumllkerung in spezifischen Konstella-tionen ndash wie vor allem in der Mitte des 14 Jahrhunderts ndash toumldliche Konsequenzen haben Die vielen Pogrome wirkten sich nachhaltig auf die juumldische Siedlungsstruktur aus wie Michael SCHLACHTER in seinem Aufsatz bdquoSiedlungsgeschichte und Verfolgungen der Juden im Bodenseegebiet bis zum spaumlten 14 Jahrhundertldquo (S 60ndash69) ausfuumlhrt Leider verzichtet der lesenswerte Beitrag wie der gesamte Begleitband auf eine anschauliche kartographische Umsetzung der Befunde

An die Uumlberblicksartikel schlieszligen sich 14 kleinere Beitraumlge als Forschungsberichte an teilweise aus der Feder Studierender oder junger Forschender Sie behandeln neben den oben bereits erwaumlhnten kunstgeschichtlichen Artikeln von Ingrid KAUFMANN und Meygrav LEVY archaumlologische und museologische Befunde Judensiegel bildliche Dar-stellungen von Juden und von Judenhuumlten juumldische Siedlungstopographie und Friedhoumlfe besondere Quellengruppen die rechtliche Stellung der Juden sowie einen Abriss zur kurzen Geschichte der mittelalterlichen Ravensburger Judengemeinde Eine Studie von Miriam BASTIAN und Mareike HARTMANN befasst sich mit bdquoFesten und Spielen Geselli-ges Beisammensein zwischen Juden und Christenldquo (S 159ndash163)

Unter den Beschreibungen der Exponate von Leihgebern aus Frankreich Groszligbritan-nien der Schweiz Ungarn und Deutschland (S 167ndash202) finden sich neben den Pracht-kodizes weitere Highlights etwa die sogenannten bdquoKopfziegelldquo aus dem Ravensburg des 15 Jahrhunderts mit der Darstellung von Personen mit Bart und Judenhut (Caroline KLATT) regionale Urkunden mit hebraumlischen Dorsualvermerken von Andreas LEHNERTZ

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung und des hier anzuzeigenden Begleitbandes sind einige juumldische Prachthandschriften die zum Teil noch vor den groszligen Pestverfolgungen von 134849 im Bodenseeraum als Gemeinschaftswerke eines juumldischen Schreibers sowie einer kloumlsterlichen Malwerkstatt entstanden sind Sarit SHALEV-EYNI (Hebrew Illuminated Manuscripts from Lake Constance before 1348 S 32ndash47) und Katrin KOGMAN-APPEL (Juumldische Bildkultur im mittelalterlichen Deutschland S 48ndash59) bringen uns die bildli-chen Darstellungen der hebraumlischen Kodizes in ihrer Motivik und Charakteristik naumlher indem sie diese als Teil einer bdquoBildkulturldquo erkennbar werden lassen die bdquointegraler Bestandteil der Kultur ihrer Umgebungldquo ist Diese Bildkultur verlangt nach einer Wuumlr-digung die uumlber die religioumlse Identitaumlt des Kuumlnstlers hinaus auch Auftraggeber und Betrachter in den Blick nimmt (S 59) Anhand der raumltselhaften vier ganzseitigen Illu-strationen in der Darmstaumldter Haggadah demonstriert Meyrav LEVY (Enigmatic Illustra-tions in the Darmstadt Haggada A Chivalric Version of Olam ha-Ba S 132ndash139) wie die Auftraggeberin der wohl um 1430 entstandenen Handschrift durch den christlichen Illustrator modische Ideale der ritterlich-houmlfischen Kultur mit auf den ersten Blick be-fremdlichen Motiven paradiesischer Jenseitsvorstellungen des Judentums zum Ausdruck bringen lieszlig Die fuumlr juumldische Illuminationen ungewoumlhnlich bdquoliberalenldquo Darstellungen von Frauen in einem ebenso ungewoumlhnlichen chevalresken Kontext lassen auf eine Besitzerin schlieszligen die sich mit einer herausgehobenen sozialen Schicht identifiziert wissen wollte (S 138 f) Vielleicht gehoumlrte die Dame ndash der Hinweis sei an dieser Stelle erlaubt ndash zum Kreis jener Juumldinnen die im spaumlten 14 und im 15 Jahrhundert als uumlber-durchschnittlich erfolgreiche Geschaumlftsfrauen ihren Ehemaumlnnern ein Leben mit religioumlsen Studien abseits des Broterwerbs ermoumlglichen konnten und dabei ein robustes Selbst- bewusstsein entwickelten

Die bdquohoumlchst eigensinnige Teilhabe der Juden an der Welt der Gotik [hellip] als zwei Seiten derselben Kulturldquo (WELTECKE S 11) uumlberdauerte mithin die Verwerfungen die als Folge der verheerenden Pestpogrome in der Mitte des 14 Jahrhunderts zu einer merklichen Verschlechterung in der Gemeindestruktur des aschkenasischen Judentums fuumlhrten Den weitreichenden Beschraumlnkungen in der juumldischen Gemeindeautonomie standen durchaus beachtliche Karrieren gegenuumlber Dies gilt auch fuumlr die bdquoMedinat Bodaseldquo also jene gemeindeuumlbergreifende regionale Identitaumlt in der sich die Juumldinnen und Juden der Bodenseeregion von Zuumlrich bis Ravensburg miteinander verbunden fuumlhlten Zwar blieben die hiesigen Judengemeinden zahlenmaumlszligig und kulturell stets im Schatten der mittel- rheinischen Zentren gleichwohl entwickelten sich auch hier Potenziale mit kultureller Strahlkraft wie Ingrid KAUFMANN am Beispiel der Verbreitung des Zuumlrcher SeMaK in Oberitalien aufzeigt (Ein sbquoZuumlrcherlsquo jenseits der Alpen Der Zuumlrcher SeMaK als Zeugnis juumldischer Mobilitaumlt im Mittelalter S 116ndash119)

Nicht nur die kulturellen Aspekte lohnen eine genauere Betrachtung der mittelalter- lichen Bodenseeregion unter juumldischen Vorzeichen Neben den Darstellungen von Sarit SHALEV-EYNI und Katrin KOGMAN-APPEL beleuchten sechs weitere Uumlberblicksbeitraumlge die juumldische Lebenswelt im Hoch- und Spaumltmittelalter aus unterschiedlichen Perspek- tiven Markus J WENNINGER beschreibt bdquoJuden und Christen im Mittelalter Facetten ihres Zusammenlebens unter besonderer Beruumlcksichtigung des Bodenseeraumsldquo (S 14ndash23) Auch wenn Zufaumllle und strukturelle Bedingtheiten der Quellensituation haumlufig zu einer Verzerrung der Wahrnehmung fuumlhren wenn etwa allein aus dem Mehr an gericht-licher Uumlberlieferung auf eine Zunahme an Konflikten geschlossen wird so laumlsst sich

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resse Reichsstadt zu werden Trotzdem stuumltzten sie sich auf die Reichunmittelbarkeit auf die vom Kaiser gegebenen oder bestaumltigten Privilegien Ihr Bestreben nach Stadtfrei-heit wurde noch durch die Einfuumlhrung der Reformation erhoumlht Dank der Privilegien und des Buumlndnisses mit den Hansestaumldten blieben sie autonom bis zur Mitte des 17 Jahrhun-derts Nach dem Dreiszligigjaumlhrigen Krieg war die Macht der Fuumlrsten so stark dass Magde-burg und Braunschweig ihren nun nicht mehr so attraktiven Reichsstadtstatus in den 1660er Jahren verloren Im Gegensatz zu Magdeburg und Braunschweig bekam Hamburg den Status einer Reichsstadt erst in der Neuzeit nach einem von Oliver AUGE beschrie-benen langen und nicht geradlinigen Prozess Das Reich und der daumlnische Koumlnig begehr-ten die hamburgische Unterstuumltzung wegen des Wohlstandes der Stadt Die Frage der Reichsunmittelbarkeit stand im Mittelpunkt der Unruhen von 168486 Auch nach ihrem Sieg 1686 rechtfertigte der Rat seine Allianz mit dem Reich durch die hochmittelalter- lichen Freiheiten in allen moumlglichen Medien vor allem in Druckschriften Auszliger waumlhrend der Hamburger 750-Jahrfeier wird das Argument bdquoReichsstadtldquo im 20 Jahrhundert und heutzutage nicht mehr verwendet

Die folgenden zwei Aufsaumltze analysieren inwieweit das Argument bdquoReichsstadtldquo vor dem Reichskammergericht und in den internationalen Verhandlungen mobilisiert wurde Im 16 Jahrhundert spielten die von Evelien TIMPENER untersuchten Augenscheinkarten eine wichtige Rolle in den Prozessen vor dem Reichskammergericht Drei Augenschein-karten wurden gemalt um die Territorialkonflikte zwischen der Reichsstadt Frankfurt am Main und den Grafen von Hanau-Muumlnzenberg zu regeln Das Zusammenspiel des Texts und der Zeichnung auf der Karte konstituiert eine vorteilhafte Argumentation fuumlr den Kommanditaumlr Die Details vor allem die Grenzsteine oder die Identitaumltssymbole beziehungsweise das Bild der Gerichtskommission bei der Arbeit sollten die Richter beeinflussen Anhand des Protokolls der Osnabruumlcker Reichsstaumldtekurie und der Berichte des kaiserlichen Gesandten Krane an den Kaiser erneuert Siegrid WESTPHAL den Blick uumlber die Rolle der Reichsstaumldte waumlhrend den Verhandlungen des Westfaumllischen Friedens-kongresses Aktiv versuchten die Reichsstaumldte die gleiche Anerkennung wie die anderen Staaten zu erlangen Sie brauchten einen schnellen und wirksamen Frieden aus wirt-schaftlichen und politischen Gruumlnden Dank ihrer Rolle waren die Verhandlungen mit Schweden erfolgreich Im Gegensatz zu den anderen Reichsstaumlnden bekraumlftigten die Reichsstaumldte nach langen Diskussionen ihre Loyalitaumlt zum Kaiser als Garant ihrer Reichs-unmittelbarkeit in den Verhandlungen mit Frankreich Deshalb wurden die Friedens- instrumente von allen Akteuren des Dreiszligigjaumlhrigen Kriegs unterschrieben

Die drei letzten Studien stellen das Thema bdquoReichstadt als Argumentldquo in einen breiten historischen und historiographischen Kontext Steffen KRIEB untersucht nicht direkt die Argumentation der Reichsstaumldte sondern ergaumlnzt diese durch die der Ritterschaft Wie die Reichsstaumldte verlangte die Reichsritterschaft ihre Steuern direkt ans Reich zu bezah-len Waumlhrend die Reichstaumldte in derselben Situation ihre Reichsunmittelbarkeit benutzen setzte die Reichsritterschaft ihren Kriegsdienst ein den sie durch Herkommenserzaumlhlun-gen und die Fuumlhrung des Georgsbanners unterstrich Joachim J HALBEKANN legt einen historiographischen Aufsatz vor indem er einen Uumlberblick uumlber das Schaffen von Otto Borst (1924ndash2001) verfasst Als Archivar Lehrer und Professor Inhaber des Lehrstuhls fuumlr Landesgeschichte der Universitaumlt Stuttgart trug Otto Borst zur Gruumlndung von quali-tativen wissenschaftlichen Zeitschriften bei Den Esslinger Studien und der Zeitschrift fuumlr Stadtgeschichte Stadtsoziologie und Denkmalpflege Dank dieser Publikationen seiner Monografien der Gruumlndung von Forschungsgruppen und der Organisation von

775Allgemeine Stadtgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Die Schrift stand so zwischen einem eigenstaumlndigen Diskursraum und der Funktion als Element der Face-to-Face-Kommunikation Dies erlaumlutert Arlinghaus anhand des Stadtschreiberamtes des Archivs sowie der Kanzlei Trotz des Anwachsens des auf- zubewahrenden Schriftguts bevorzugte man bis zum beginnenden 15 Jahrhundert die Verwahrung der Unterlagen in Privathaumlusern Allerdings wurden diese Raumlumlichkeiten durch drei an verschiedene Personen ausgegebene Schluumlssel gesichert Die Stadtschrei-ber hatten seit dem 14 Jahrhundert haumlufig eine Universitaumlt besucht und nicht selten ein Rechtsstudium abgeschlossen manchmal mit Promotion Anders als beim Ratsherrn war das Verhaumlltnis des Schreibers zum Rat nicht das eines Mitglieds zum genossenschaft- lichen Verband sondern das eines Untergebenen zum Dienstherrn Wurden Schriftstuumlcke in Verfahren vor den Ratsgerichten oder dem Rat eingebracht wurden sie in der Regel vorgelesen und somit in die angestrebte Face-to-Face-Kommunikation eingebunden

Als bdquoFormen manifestierter Exklusionldquo (S 306ndash355) sieht Arlinghaus den Stadtver-weis und die Hinrichtung Strafe war bei Stadtverweisen nicht das klassische Motiv Die Abschiebung von Randgruppen insbesondere seit dem endenden 15 Jahrhundert sollte die Gefahr der Stoumlrung der inneren Ordnung minimieren Die Ausweisung einflussreicher materiell gesicherter Buumlrger konnte hingegen die Situation unter Umstaumlnden eher noch verschaumlrfen Mit der Verbannung ging der Stadt die Kontrolle uumlber den Delinquenten verloren Der Exilierte konnte falls er uumlber die noumltigen Ressourcen verfuumlgte auf den Rat von auszligen Druck ausuumlben Aus der Perspektive der Stadt kam der Stadtverweis einer Exkommunikation gleich Hinrichtungen die nicht vor sondern in der Stadt vollzogen wurden stehen meistens in Zusammenhang mit Revolten beziehungsweise sind primaumlr politisch einzustufen Wollte man den Hinzurichtenden aus der Gesellschaft ausschlieszligen reichte das einfache Toumlten nicht aus Erst uumlber die besondere Zurichtung des Koumlrpers und des Leichnams konnte eine vollstaumlndige Exklusion erreicht werden

Eine umfassende Zusammenfassung (S 356ndash374) sowie ein bdquoenglisch Summaryldquo (S 375ndash392) schlieszligen die aumluszligerst detailreiche und anschauliche Arbeit ab Das obliga-torische Abkuumlrzungsverzeichnis ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister beenden die weiterfuumlhrende die Mediaumlvistik anregende Abhand-lung

Juumlrgen Treffeisen

Dorothea WELTECKE (Hg) unter Mitarbeit von Mareike HARTMANN Zu Gast bei Juden Leben in der mittelalterlichen Stadt Begleitband zur Ausstellung Konstanz Stadler 2017 216 S Abb Brosch EUR 1980 ISBN 978-3-7977-0734-5

bdquoDie Ausstellung Zu Gast bei Juden leistet [hellip] etwas ungeheuer Wertvolles Sie wech-selt die Blickrichtung Sie eroumlffnet eine ganz neue Perspektive auf das juumldische Leben im Mittelalter [hellip] Die Ausstellung verdeutlicht Juden und Christen sind zwei Seiten derselben Kulturldquo Mit diesen Worten aus seinem Gruszligwort bringt der Schirmherr Josef SCHUSTER Praumlsident des Zentralrats der Juden in Deutschland die Intention der Ausstel-lung auf den Punkt Allein schon der Ausstellungstitel ist Programm und haumltte nicht besser gewaumlhlt werden koumlnnen Dorothea WELTECKE und Mareike HARTMANN wollen am Bei-spiel der juumldischen Gemeinden in der mittelalterlichen Bodenseeregion das bdquoradikale Umdenkenldquo veranschaulichen das dank der kunstgeschichtlichen Forschungen der letzten Jahre zu einer Neubewertung des Zusammenlebens von Juden und Christen gefuumlhrt haben soll und gleichzeitig falsche Vorstellungen sowie Scheintatsachen bzw Scheinfakten an der Uumlberlieferung uumlberpruumlfen (S 6 11)

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Gedenkveranstaltungen spielte Otto Borst eine wichtige Rolle beim Aufbau des Themas bdquoReichsstadtldquo und dann bdquoStadtldquo im Allgemeinen in der deutschen Forschung Zum Schluss setzt Stephen SELZER die Reichsstaumldte in den historiographischen Kontext des 20 Jahrhunderts Dann fasst er die Grundaspekte der Tagung und des Buchs zusammen die progressive Ausarbeitung einer Definition der Reichsstaumldte die Wichtigkeit der Reichsversammlungen die Behauptung aumluszligerer Autonomie gegen die Fuumlrsten oder den Kaiser aber auch die Behauptung der inneren Souveraumlnitaumlt der Ratsoligarchie durch das Argument bdquoReichsstadtldquo die Vielfalt der chronologischen und geopolitischen Stadtsitua-tionen in der Zeit und die Spezifizitaumlt der noumlrdlichen Autonomiestaumldte die Verwendung aller moumlglichen Medien aber vor allem des Schriftmaterials Er eroumlffnet Arbeitsperspek-tiven die Prosopographie der gelehrten Raumlte den systematischen Vergleich der Argu-mentation der Reichsstaumldte die soziale Vielfalt in jeder Reichsstadt

Dieses sehr reiche und spannende Buch das sich fuumlr einen langen Zeitraum und alle Reichsraumlume interessiert beschreibt die vielfaumlltigen Verwendungen des Arguments Reichsstadt Es schreibt also eine Geschichte der Reichsverfassung zwischen den Zeilen und es oumlffnet neue Forschungsperspektiven uumlber die Reichsstaumldte selbst insbesondere uumlber die inneren Beziehungen die hier weniger als die aumluszligeren Beziehungen studiert wurden

Anne Rauner

Roland DEIGENDESCH Christian JOumlRG (Hg) Staumldtebuumlnde und staumldtische Auszligenpolitik ndash Traumlger Instrumentarien und Konflikte waumlhrend des hohen und spaumlten Mittelalters 55 Arbeitstagung des Suumldwestdeutschen Arbeitskreises Stadtgeschichtsforschung in Reutlingen 18ndash20 November 2016 (Stadt in der Geschichte Bd 44) Ostfildern Thorbecke 2019 322 S Abb Kt Brosch EUR 34ndash 978-3-7995-6444-1

In einer Einfuumlhrung in das Thema (bdquoZur Einleitung Staumldtebuumlnde und staumldtische Au-szligenpolitik waumlhrend des Hoch- und Spaumltmittelaltersldquo S 7ndash17) bieten die beiden Heraus-geber einen Forschungsuumlberblick sowie eine Kurzzusammenfassung der einzelnen Beitraumlge Roland DEIGENDESCH schildert bdquoDie Schlacht bei Reutlingen 1377ldquo unter den Aspekten bdquoGeschichte ndash Wirkung ndash Erinnerungldquo (S 19ndash44) Er ordnet die Schlacht in den Zeithorizont ein schildert die Vorgeschichte und den Verlauf sowie abschlieszligend die Bedeutung des aumluszligerst brutal gefuumlhrten Kampfes fuumlr das Selbstverstaumlndnis Reutlingens Die verschriftlichte Erinnerungskultur in den Chroniken der oberdeutschen Staumldte sowie in der wuumlrttembergischen Annalistik wurde durch die jahrhundertelange Praumlsentation der eroberten Waffen und Ausruumlstungsgegenstaumlnde im Rathaus ergaumlnzt

Zwei Beitraumlge bilden die Sektion 1 bdquoStaumldtische Buumlnde in Italienldquo (S 47ndash85) Zunaumlchst beschaumlftigt sich Christoph DARTMANN mit dem Lombardenbund (bdquoRegionale Koordi- nation und mediterrane Bezuumlge im hochmittelalterlichen Oberitalienldquo S 47ndash65) In einem Uumlberblick stellt er die deutschen sowie italienischen Forschungsschwerpunkte seit dem 19 Jahrhundert vor Als neuen Ansatz sieht er die Aspekte der adligen Praumlgung der dortigen kommunalen Gesellschaft die mediterrane Dimension der Kriege mit den Stauferkoumlnigen die Vorherrschaft der Meere sowie weitere Formen regionaler Koordi- nation neben dem Lombardenbund Die benachbarten Staumldte waren miteinander verfein-det und fanden in den Nachbarn der Nachbarn ihre Verbuumlndeten Dieser Bund war auch eine Adelsgenossenschaft deren Angehoumlrige kommunale Mechanismen nutzten bdquoKommunale Buumlndnisse in Mittelitalien im spaumlteren 13 Jahrhundertldquo nimmt Christina ABEL unter den Aspekten bdquoPraxis Schriftlichkeit und Recht im Spiegel administrativer

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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waren die einzelnen Gerichtsraumlume innerhalb des Gebaumludes in groumlszligere auch anderweitig genutzte Raumlume integriert Durch Offenheit und Verzicht auf raumlumliche Ausgrenzung vermied man eine Separierung des Diskurses uumlber das Recht Rechtsprechung war somit kommunikatives Geschehen das zwar einen eigenen durchaus festen Ort beanspruchte aber auch durch seine Offenheit in das kommunale Umfeld eingeschlossen blieb Die juristische Amtshandlung wurde so als Teil des genossenschaftlichen Aktionsfeldes betrachtet

Auch das Personal der Koumllner Gerichte nimmt Arlinghaus in den Blick Dabei sieht er die Hochgerichtsschoumlffen zwischen Patriziat und Professionalisierung (S 118ndash137) Zunaumlchst rekrutierten sich die Urteiler aus dem Kreis der Koumllner Buumlrger so dass auch das Hochgericht trotz aller Kontroversen mit dem Rat eng verknuumlpft war Die Schoumlffen kooptierten sich bis in das spaumlte Mittelalter aus dem Meliorat Bis ins 16 Jahrhundert hinein war fachwissenschaftliches Studium nicht notwendig allerdings stellte seit der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts der Besuch der Artistenfakultaumlt fuumlr einen Schoumlffen keine Besonderheit mehr dar Rechtsexperten konnten als Gutachter hinzugezogen werden

Das Kapitel bdquoRichter als Deputierte des Rates Urteiler Laien und gelehrte Juristenldquo (S 137ndash176) zeigt in der zweiten Haumllfte des 16 Jahrhunderts Juristen als Richter bei den Ratsgerichten In anderen Bereichen ndash z B bei den Stadtschreibern ndash findet man schon fruumlher eine deutliche Hinwendung zu studierten Fachleuten Koumllner Juristen gaben fast ausschlieszliglich in den Faumlllen Rechtsauskunft in denen auswaumlrtige oder geistliche Gerichte oder Institutionen involviert waren Bei der Auswahl der Richter war im 17 Jahrhundert die Ratszugehoumlrigkeit beziehungsweise Deputation das wichtigste Kriterium

Breiten Raum nimmt das Kapitel bdquoKommunikationsformen Gesten Rituale Sprach-formen und Schriftldquo (S 177ndash305) ein Zunaumlchst stehen die Hochgerichtsverfahren und deren bdquoRituale Sprachformeln Eidhelfer und sbquoUmstandlsquoldquo (S 177ndash196) im Fokus Viel-faumlltige Rituale und ein stark formalisierter Verfahrensablauf praumlgten das vormoderne Pro-zessgeschehen denn jedes gesprochene Wort erzielte bereits eine unmittelbare Wirkung Daher war auch auf jedes Wort jede Geste zu achten

Erst im Verlauf des 13 Jahrhunderts gewannen die Schreinsbucheintragungen an rechtsichernder Bedeutung wobei allerdings erst fuumlr das 14 Jahrhundert eine vollguumlltige Beweiskraft zu konstatieren ist Zuvor kam diesen Dokumenten lediglich gedaumlchtnis- stuumltzende Funktion zu Ab der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts war dann der Eintrag im Schreinsbuch neben der Uumlbergabe- und Verzichtserklaumlrung ein zentraler Bestand der Liegenschaftsuumlbertragung Im 15 und 16 Jahrhundert laumlsst sich dann eine Zunahme der waumlhrend der Prozesse erzeugten und wieder in das Prozessgeschehen eingebrachten Schriftstuumlcke beobachten

Der Rechtsstreit vor den Ratsgerichten erfolgte hingegen als formloses Verfahren (bdquoDie Ratsgerichte Kommunikationsstrukturen im formlosen Verfahrenldquo S 219ndash305) Bei den vom Stadtrat initiierten Gerichten fehlten neben den Urteilern auch Vorsprecher und sonstige Prozessvertreter Diese Verfahren zielten eher auf Schlichtung ab weniger auf eine richterliche Entscheidung

Kommunikation uumlber Schickung war fuumlr den Rat eine Moumlglichkeit im staumldtischen Raum Praumlsenz zu zeigen und seinen Anordnungen entsprechendes Gewicht zu verleihen Um 1400 setzte eine breitere Schriftverwendung bei den einzelnen Gerichten ein Der Einbezug von Schriftstuumlcken veranschaulicht die Tendenz der Herausloumlsung der Streit-parteien aus ihrem sozialen Umfeld

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Quellenldquo (S 67ndash85) in den Blick Sie rekapituliert die Verhandlungen zwischen Perugia Orvieto und Spoleto 1277 und bietet uns dabei einen fast mikroskopischen Einblick Auch die Beweggruumlnde der Kommunen und die Argumentationsstraumlnge der Gesandten werden teilweise nachvollziehbar

Die zweite Sektion bdquoKommunikation und Konfliktldquo widmet sich den bdquoGrundlagen der Auszligenpolitik und Buumlndnis-Beziehungen an Fallbeispielen des Spaumltmittelaltersldquo (S 89ndash186) Bernhard KREUTZ eroumlffnet mit seinem Beitrag bdquoDer Bund der Staumldte Mainz Worms und Speyer von 1293 ndash Chancen und Grenzen staumldtebuumlndischer Politik zwischen Bischofsherrschaft und Thronstreitldquo (S 89ndash102) den Reigen der insgesamt fuumlnf Beitraumlge Die Bildung eines weitgehend autonomen buumlrgerlich dominierten Stadtrates und damit die Moumlglichkeit als Gemeinde unabhaumlngig vom Stadtherrn sowie im Konfliktfall auch gegen ihn zu handeln war eine wichtige Voraussetzung fuumlr staumldtebuumlndische Politik Staumldtebuumlnde des Mittelalters ndash so zeigt die Analyse des Bundes von 1293 ndash ihre Pro-grammatik und die tatsaumlchlichen Umsetzungschancen sind nur im Zusammenhang mit der innerstaumldtischen Geschichte und mit der jeweiligen Staumldtelandschaft zu verstehen bdquoDie Grafen von Wuumlrttemberg die schwaumlbischen Reichsstaumldte und Kaiser Karl IV in Konflikt und Kooperationldquo (S 103ndash124) zeigt uns Peter RUumlCKERT und stellt die Perspek-tive eines fuumlrstlichen Territorialherren in den Mittelpunkt seiner Ausfuumlhrungen Fuumlr den Ausbau der wuumlrttembergischen Territorialherrschaft war das Verhaumlltnis der Wuumlrttember-ger zu Koumlnig und Reich von entscheidender Bedeutung Die Wuumlrttemberger und die Reichsstaumldte waren sich uumlber die Reichslandvogtei wechselseitig verpflichtet Dem ver-trauten Verhaumlltnis zwischen Kaiser und den Grafen konnten die schwaumlbischen Reichs-staumldte nur distanziert gegenuumlberstehen und sich in Selbsthilfe staumlrken bdquoStaumldtische Diplomatie und Kriegldquo uumlberschreibt Simon LIENING seinen Beitrag und aumluszligert sich bdquoZur Verflechtung zweier Aufgabenbereiche in der Straszligburger Auszligenpolitik zur Zeit des Rheinisch-Schwaumlbischen Staumldtebundesldquo (S 125ndash137) Nicht immer wurde der Anforde-rung zur militaumlrischen Hilfe im Rahmen eines Buumlndnisses auch Folge geleistet Wichtig war dabei die diplomatische Kommunikation Neben den kommunalen Gesandten traten auch Hauptleute der staumldtischen Truppen diplomatisch in Erscheinung Ebenso begleite-ten staumldtische Gesandte das Bundesheer um gegebenenfalls im Falle von Verhandlungen schnelle und kompetente Entscheidungen treffen zu koumlnnen Florian DIRKS wendet unseren Blick in den Norden Deutschlands und behandelt bdquoStaumldte und staumldtische Fuumlh-rungsgruppen des Hanseraumes und ihre Buumlndnisse ndash Die Ratssendeboten des Spaumlt- mittelalters zwischen Kooperation und Konfliktldquo (S 139ndash151) Nach einem Forschungs-uumlberblick zeigt er Typen sowie Zusammensetzung der Ratssendeboten die eine eigene Gruppe innerhalb der kommunalen Fuumlhrungsgruppe darstellten Sie waren Fernhandels-kaufleute Ratsherren und Reisediplomaten Im Laufe des 15 Jahrhunderts trat eine zunehmende Spezialisierung und Professionalisierung ein Grundsaumltzlich schickte man ein aumllteres und ein juumlngeres Ratsmitglied gemeinsam auf Reisen Akribisch und detail-reich analysiert Patrizia HARTICH bdquoDie Rechnungslegung des Schwaumlbischen Staumldte- bundes nach dem suumlddeutschen Staumldtekrieg 144950 am Beispiel der Reichsstadt Ess- lingenldquo (S 153ndash186) Die Rechnungslegung wurde regelmaumlszligig vorgenommen wobei man die Ausgaben der einzelnen Mitglieder auf den ganzen Bund umlegte Nach Be- endigung des Konflikts verrechnete man nicht nur die Ausgaben der verbuumlndeten Staumldte sondern auch die an den Gegner geleistete Entschaumldigung Die Edition der Esslinger Rechnungen sowie dreier Briefe runden den aumluszligerst ertragreichen sowie weiterfuumlhrenden Beitrag ab

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Bausteine der suumldwestdeutschen mediaumlvistischen Landesgeschichte bilden Sie kann uneingeschraumlnkt als Vorbild fuumlr weitere derartige Dissertationsvorhaben gelten In den groszligen weitestgehend unzerstoumlrten Archiven der Staumldte Freiburg Basel und eben Straszlig-burg sowie weiteren vor allem elsaumlssischen Archiven lagern noch unzaumlhlige Archivalien die der wissenschaftlichen Auswertung harren

Juumlrgen Treffeisen

Franz-Joseph ARLINGHAUS InklusionndashExklusion Funktion und Formen des Rechts in der spaumltmittelalterlichen Stadt Das Beispiel Koumlln (Norm und Struktur Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Fruumlher Neuzeit Bd 48) Koumlln Boumlhlau 2018 439 S Abb geb EUR 70ndash ISBN 978-3-412-51165-4 kostenlose Online- Ressource httpswwwvr-elibrarydedoibook1077889783412504397 ISBN 978-3-412-50439-7

Die vorliegende Arbeit wurde 2006 als Habilitationsschrift an der Universitaumlt Kassel eingereicht Sie untersucht die Beziehung des Einzelnen zum genossenschaftlichen Verband In der mittelalterlichen Stadt war ein Konflikt immer auch eine Frage nach der Zugehoumlrigkeit so dass dem Verhaumlltnis der Streitenden zu einem Verband eine entschei-dende Bedeutung zukam Unter diesem Blickwinkel sind die Gerichte nicht als eigen-staumlndige Rechtsinstitutionen zu sehen sondern vor allem als Teil des genossenschaft- lichen Verbandes

Zunaumlchst erlaumlutert Arlinghaus ausfuumlhrlich seinen theoretischen Ansatz (S 17ndash50) Es geht um den einzelnen Menschen der Teil des Personenverbandes der kommunalen Gemeinschaft war Die an den Einzelnen gerichteten Erwartungshaltungen sowie die Kommunikation insgesamt orientierten sich an der Position die der Einzelne in der Gesellschaft insgesamt einnahm Daher wurde das Individuum ndash anders als in der Mo-derne ndash erst uumlber die Zugehoumlrigkeit (Inklusion) zu einem Verband definiert Im Umkehr-schluss war der Ausschluss (Exklusion) aus einer Gemeinschaft ein die Existenz bedrohender Akt

Arlinghaus beginnt die Untersuchung mit einem detaillierten und fundierten bdquoUumlber-blick uumlber die Gerichte in Koumllnldquo (S 60ndash74) Das erzbischoumlfliche Hochgericht reicht in seinem Ursprung bis ins 11 Jahrhundert zuruumlck und umfasste in der Regel 25 Schoumlffen Neben der Blutgerichtsbarkeit war es zunaumlchst auch fuumlr Zivilgerichtsbarkeit und die frei-willige Gerichtsbarkeit der Koumllner Altstadt zustaumlndig So verstanden sich die hier seitens des Erzbischofs installierten Schoumlffen auch als Vertreter der Koumllner Buumlrgerschaft Mit der Durchsetzung der Zunftherrschaft zu Ende des 14 Jahrhunderts war es nur noch fuumlr die Rechtsprechung vorgesehen Im 15 Jahrhundert bildete sich dann eine pragmatische Zusammenarbeit zwischen Rat und Hochgericht heraus

In einem umfangreichen Kapitel thematisiert Arlinghaus den organisatorischen Rah-men und nimmt bdquoGerichtsorte und Personalldquo in den Blick (S 75ndash176) Das Hochgericht tagte unter freiem Himmel auf dem Domhof bekam im Laufe des Spaumltmittelalters ein eigenes Gebaumlude blieb aber auf dem Domhof lokalisiert Es war durch die raumlumliche Unausgegrenztheit weiterhin integraler Teil sowohl des Stadtraumes wie des Personen-verbandes

Die Einrichtung von Ratsgerichten sowie die Integration bereits bestehender Gerichte zeigt den Anspruch des Rates als dominierender Instanz innerhalb der Stadtgemeinschaft auf Diese Gerichte lassen sich meist in unmittelbarer raumlumlicher Naumlhe zum Rathaus lokalisieren Bei der Uumlbernahme behielt man allerdings den alten Gerichtsort bei Zudem

783Allgemeine Stadtgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 783

Die Sektion 3 fuumlhrt unter der Thematik bdquoRegionale Buumlndnisstrukturen im Vergleichldquo (S 187ndash310) insgesamt fuumlnf Beitraumlge zusammen Unter der Praumlmisse bdquoZwischen Staumldtebund und Landfriedenldquo stellt uns Katharina HUSS den bdquoZuumlricher Bund von 1351ldquo vor (S 189ndash212) Der Bund diente dem Ziel der Friedenswahrung aber auch der Herr-schaftssicherung und -ausdehnung Stefanie RUumlTHER zeigt uns unter der Uumlberschrift bdquoDer Buumlndnisfallldquo die bdquoOrdnung und Organisation der Kriegsfuumlhrung des schwaumlbischen Staumldtebundes (1376ndash1390)ldquo (S 213ndash232) Zwischen 1376 und 1390 kaumlmpften die Mit-glieder des Bundes in unterschiedlichen Konstellationen gegen die Adligen der Region Der Beitrag untersucht die Koordinierung und Organisation des Krieges seitens der Staumldte So mussten die Buumlrger beispielsweise den Umgang mit Waffen lernen und uumlben um die angeworbenen Soumlldner zu unterstuumltzen Adlige Aus- und Pfahlbuumlrger vervollstaumln-digten das kommunale Kontingent Bei einem bdquoSpruchldquo genannten Gremium liefen alle Anfragen und Mahnungen zusammen In Briefen informierten sich die Staumldte uumlber den Verlauf militaumlrischer Aktionen und uumlber den Aufenthalt sowie die Staumlrke des Gegners Militaumlrische und politische Entscheidungsfindung waren personell und raumlumlich getrennt bdquoNuumlrnberg und seine Beziehungen zu den fraumlnkischen Reichsstaumldten im spaumlten Mittel- alterldquo nimmt Reinhard SEYBOTT unter den Stichworten bdquoPolitik ndash Information ndash Kom-munikationldquo in den Blick (S 233ndash259) Die fuumlnf fraumlnkischen Reichsstaumldte Nuumlrnberg Rothenburg ob der Tauber Windsheim Weiszligenburg am Nordgau und Schweinfurt schlos-sen sich trotz intensiven Beziehungen nie zu einem festen laumlnger andauernden Bund zusammen Die Rangunterschiede und die differenzierende Wirtschaftskraft der einzelnen Staumldte bedingte eine klare Rangabstufung und Hierarchie wobei Nuumlrnberg als eine der groumlszligten und einflussreichsten deutschen Staumldte unangefochten an der Spitze rangierte Trotzdem fand ein reger Austausch zwischen diesen Staumldten statt Man holte beispiels-weise in Nuumlrnberg Entscheidungshilfen in verschiedensten Angelegenheiten ein ebenso pflegte man verwandtschaftliche Beziehungen Bei Abkommen behielt Nuumlrnberg die eindeutige Fuumlhrungsposition inne wobei Nuumlrnberg in Fragen der Politik Diplomatie des Rechtswesens und bei innerstaumldtischen Konflikten beriet manchmal auch durch finanzielles Engagement unter die Arme griff Mit Philipp HOumlHNS Beitrag bdquoPluralismus und Homogenitaumlt ndash Hanse Konfliktraumlume und Rechtspluralismus im vormodernen Nord-europa (1400ndash1600)ldquo (S 261ndash290) wird der Blick nochmals in den Norden Deutschlands gerichtet Die Hanse war keine zentralisierte Organisation sondern eine flexible sich immer wieder von neuem findende Gruppe von Kaufleuten Sie war somit eine Schnitt-stelle im vormodernen Europa Aus der Perspektive der Konfliktregulierung erscheint die Hanse als ein dynamisches in Interaktionen immer wieder neu modelliertes System rechtlicher sozialer und politischer Beziehungen Abschlieszligend stellt uns HOumlHN den Prozess des Danziger Kaufmanns Eckart Westranse vor der sich uumlber mehr als 50 Jahre hinzog wobei er gegen die Hansestaumldte Luumlbeck Wismar und spaumlter auch Rostock klagte Jelle HAEMERS (im Inhaltsverzeichnis lesen wir bdquoHamersldquo) nimmt mit dem Aufsatz bdquoLugravenion fait la force ndash Ideology and the social history of urban leagues in Brabant (13th ndash 14th centuriesldquo) (S 291ndash310) eine wirtschaftlich und kulturell dominierende Region in Nordwesteuropa in den Blick Buumlndnispolitik staumldtischer Eliten konnte sich hier auch gegen die nach Emanzipation strebenden Handwerker richten

Die detaillierte Auflistung der Autorinnen und Autoren mit deren Kommunikations-daten ein eigenes Orts- sowie Personenregister runden die fundierte Publikation ab die sich in die von Erich Maschke und Juumlrgen Sydow begruumlndete Reihe mit dem anfaumlnglichen Fokus auf der mittelalterlichen Stadtgeschichte einreihen laumlsst Juumlrgen Treffeisen

778 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Gabriel ZEILINGER Verhandelte Stadt Herrschaft und Gemeinde in der fruumlhen Urbani-sierung des Oberelsass vom 12 bis 14 Jahrhundert (Mittelalter-Forschung Bd 60) Ostfildern Thorbecke 2018 272 S 1 Kt geb EUR 40ndash ISBN 978-3-7995-4380-4

Die vorliegende Arbeit von Gabriel Zeilinger wurde 2013 an der Philosophischen Fakultaumlt der Christian-Albrechts-Universitaumlt zu Kiel als Habilitationsschrift vorgelegt Sie versteht Urbanisierung als Veraumlnderung ganzer Raumlume durch Staumldte sowie als Ver-breitung urbaner Lebensformen in weiteren Lebensbereichen und bezeichnet so die Ent-stehung und Entwicklung von Staumldten und deren Durchdringung und Praumlgung der sie umgebenden Raumlume Zeilinger nimmt das Oberelsass des 12 bis beginnenden 14 Jahr-hunderts in den Blick vor allem die verschriftlicht fassbare Interaktion zwischen Herr-schaft und Gemeinde zur Frage der Funktion und Qualitaumlt eines Ortes

In einem umfassenden einleitenden Kapitel bdquoStaumldte in der Landschaft ndash Die mittel- alterliche Urbanisierung im Elsass im Spiegel von Uumlberlieferung und Forschungldquo (S 19ndash54) stellt Zeilinger bdquoThemen und Thesen der Forschungldquo (S 23ndash49) eine Forschungs- geschichte zur Urbanisierung Zentraleuropas und besonders des Elsass vor bdquoMethodische Uumlberlegungen und Fragestellungldquo (S 49ndash54) schlieszligen den (uumlber)langen einleitenden Teil ab Mit dem Kapitel bdquoFruumlhe Staumldte ndash viele Herren Schlettstadt Colmar Muumlhlhausen und Kaysersbergldquo (S 55ndash128) beginnen die eigenen Auswertungen des Autors Ein erster kurzer Blick gilt dem auszligerhalb des Untersuchungsraumes liegenden Hagenau (S 56ndash60) wo eine genossenschaftliche Formierung sowie die Ausbildung einer Fuumlh-rungsgruppe mit der Ausgestaltung der staumldtischen Institutionen erst fuumlr das 13 Jahrhun-dert nachzuweisen ist

In Schlettstadt (S 60ndash72) bestand 1241 ein Akteursdreieck aus den Vertretern des Koumlnigs dem Probst des Priorats St Fides und der sich allmaumlhlich zu einer Gemeinde formierenden Bewohnerschaft In die folgenden Jahre zwischen 1250 und 1280 ist der Beginn der Kommunalisierung zu datieren in der die Verfasstheit der Stadt ausgehandelt worden war Fuumlr Colmar (S 72ndash100) konstatiert Zeilinger ab der Mitte des 13 Jahrhun-derts in Folge der Konflikte im Reich und der Landschaft eine Spaltung innerhalb der kommunalen Elite Diese wurden zu interessengeleiteten sozialen und politischen Ak-teuren Der Buumlrgermeister wurde ab den 1330er Jahren seitens des koumlniglichen Stadtherrn anerkannt Mit diesen sozialen Verwerfungen ging ein wirtschaftlicher Aufschwung ein-her Colmar entwickelte sich zum wirtschaftlichen Zentrum des Oberelsass mit spaumlter drei Jahrmaumlrkten Weinhandel kommerzielle Gartenwirtschaft sowie Textilgewerbe bil-deten die Basis der kommunalen Wirtschaft Zu Ende des 13 Jahrhunderts standen hier circa 1000 Haumluser mit insgesamt ungefaumlhr 5000 Einwohnern Muumlhlhausen (S 101ndash118) heute die groumlszligte Stadt im Oberelsass wurde von einer Elite ministerialer und adliger Herkunft gefuumlhrt Das koumlnigliche Stadtrecht von 1293 bildete den Schlusspunkt der fruumlhen kommunalen Entwicklung wobei sich das staumldtische Leben in den folgenden Jahrhunderten weiter ausdifferenzierte Mit Kaysersberg (S 119ndash128) nimmt Zeilinger eine Siedlung in den Blick die allein in der Verfuumlgungskompetenz der Staufer stand und auch als deren bewusste Gruumlndung anzusehen ist Kaysersberg kann ndash neben Hagenau ndash als zweites allerdings deutlich kleineres staufisches Herrschaftszentrum nun im Ober- elsass angesehen werden 1299 bestand der Kaysersberger Rat aus fuumlnf Rittern und sieben Buumlrgern die unter dem Vorsitz des Landvogts gewaumlhlt wurden Zusammenfassend betrachtet sieht Zeilinger die Staufer als die ersten umfassenderen Staumldtefoumlrderer in der untersuchten Region

779Allgemeine Stadtgeschichte

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mende Missionen selbst aus und legten sie kommunalen Gremien zur finalen Entschei- dung vor

Gesandte Stadtschreiber und Boten erhielten unterschiedliche Bezuumlge in Form von Lohn Tagegeld Tuch fuumlr Kleidung und zusaumltzliche Absicherung Regelmaumlszligigen Lohn erhielten lediglich die von der Stadt fest angestellten Boten und Stadtschreiber Staumldtische Gesandte agierten hingegen ohne Bezahlung Nur ein Tagsatz zur Deckung der Unkosten wurde gewaumlhrt Einer der Gesandten war fuumlr die Verwaltung des Geldes zustaumlndig Es wurde auch festgelegt was die Gesandten auf ihren Reisen mitfuumlhren durften Reisemittel und Bereitstellung von Pferden oder Schiffen waren zwischen der Stadt und den Gesand-ten zum Teil detailliert abzusprechen Damit die Gesandten fuumlr die Nachrichtenuumlbermitt-lung schneller ausfindig gemacht werden konnten wurde vielfach an der Auszligenseite der Unterkunft das Stadtwappen angebracht

Eine Gruppe von wenigen Gesandten war haumlufiger fuumlr die Stadt unterwegs so dass eine personelle Kontinuitaumlt im Gesandtschaftswesen zu Beginn des 15 Jahrhunderts in Straszligburg bestand

Straszligburger Gesandte und Gesandtschaften agierten als Vertreter im auszligerstaumldtischen Bereich waren Teil politischer Handlungen und somit auch potenzielle Rezipienten Teil-nehmer und Initiatoren symbolischer Kommunikation In Zusammenhang mit Eid und Huldigung konnten Gesandte als Schwoumlrende in verschiedenen Situationen auftreten Zudem verhandelten Gesandte im Vorfeld von Huldigungen und Eidesleistungen uumlber deren Bedingungen und Ablaumlufe

Der Austausch von Geschenken spielte im diplomatischen Dienst eine wichtige Rolle Straszligburger Gesandte registrierten Geschenkvergaben politischer Akteure genau und meldeten dies der Stadt Vielfach waren dadurch Ruumlckschluumlsse auf politische Konstella-tionen moumlglich Da ein gemeinsames Mahl auch ein symbolischer Akt war berichteten die Straszligburger Gesandten daruumlber entweder aus beobachtender oder teilnehmender Perspektive

In Zusammenhang mit dem Thronwechsel 1400 wird deutlich dass sich Gesandte auch mit symbolischen Handlungen auskennen mussten um diese zum richtigen Zeitpunkt und Kontext anwenden zu koumlnnen Dabei waren auch Dokumentation Planung und recht-liche Absicherung wichtig Staumldtische Gesandte verbuumlndeter Staumldte berieten relevante Fragen gemeinsam holten sich rechtlichen Beistand informierten sich gegenseitig genau uumlber den jeweiligen Stand und richteten ihre diplomatische Taumltigkeit danach aus

Gesandtenberichte lassen auch Ruumlckschluumlsse auf die generelle Verfasstheit einer Stadt zu die sich mit anderen Quellen nur schwer erreichen lassen Da vor allem Gesandten-berichte und Protokolle innerstaumldtischer Gremien zu auszligenpolitischen Angelegenheiten Einblicke in die tatsaumlchlichen politischen Aktivitaumlten einer Stadt ermoumlglichen koumlnnen Aussagen zur politischen Praxis getroffen werden was etwa anhand kommunaler Ver-ordnungen nur bedingt moumlglich ist Gesandte waren vielseitig und anpassungsfaumlhig sie fuumlhrten ihre Taumltigkeiten sehr bewusst und planvoll durch Einzelne Handlungsschritte wurden vielfach durch Informationsbeschaffung und zwischenstaumldtischen Absprachen sowie die Hinzuziehung juristischer Experten vorbereitet und akribisch umgesetzt So war das Nachrichtenwesen Straszligburgs zu Beginn des 15 Jahrhunderts sehr gut organi-siert

Das uumlbliche Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister schlieszligen diese beeindruckende Arbeit ab Es sind genau diese die archivischen Quellen systematisch und intensiv auswertenden Arbeiten die wichtige geradezu unersetzliche

782 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Unter der Uumlberschrift bdquoKommunen unterm Krummstab Die Bischoumlfe von Straszligburg und die Staumldte in der Obermundatldquo (S 128ndash148) werden geistliche Staumldtefoumlrderer in den Blick genommen Die fuumlr 1106 vermutete Notgemeinschaft der verschiedenen Herrschaf-ten zuzuordnenden Bewohner Rufachs (S 130ndash142) deutet auf eine zumindest temporaumlr vorhandene herrschaftsuumlbergreifende Bewohnergemeinde hin sowie eine gewisse zen-traloumlrtliche Funktion Weitere evolutionaumlre Schritte zur Stadt sind fuumlr das 13 Jahrhundert zu konstatieren Allerdings zeigen stadtrechtliche Bestimmungen aus den 1420er Jahren trotz der Nennung von Zuumlnften und Rat keine wirklich autonome Gemeinde Obwohl fuumlr Egisheim (S 142ndash146) zur Mitte des 12 Jahrhunderts Ansaumltze fuumlr eine Gemeinde-bildung vorliegen ist fuumlr das 14 Jahrhundert nur ein uumlberschaubares urbanes Gepraumlge festzustellen Der Ort stand weiterhin unter der Kontrolle bischoumlflicher Amtstraumlger Sulz (S 146ndash148) zeigt gleichfalls im 13 Jahrhundert eine beginnende urbane Verdichtung und gewisse zentraloumlrtliche Funktionen

Die Staumldte der bdquoHabsburger und Bergheimerldquo (S 149ndash168) analysiert das folgende Kapitel Ensisheim verzeichnete parallel zum Koumlnigtum Rudolfs von Habsburg in den 1270er Jahren eine Intensivierung der herrschaftlichen Maszlignahmen Trotz einer damals gleichfalls zu beobachtenden Foumlrderung der Bewohnerschaft ist Ensisheim als klassisches Beispiel einer Landstadt mit fester Einbindung in den herrschaftlichen Rahmen und mit eher bescheidener kommunaler Rechtsausstattung zu sehen Die Herren von Rappoltstein werden im folgenden Kapitel bdquoFuumlnf Burgen anderthalb Staumldte Rappoltsweiler Gemar und die Herren von Rappoltsteinldquo (S 169ndash180) praumlsentiert Fuumlr Rappoltsweiler ist eine sich ausdifferenzierende Wirtschaft festzustellen auch wenn die um den Wein sich grup-pierenden Gewerbe dominierten Ein Stadtrecht ist hingegen nicht uumlberliefert wohl nicht einmal eine statutorische Befreiung der Einwohner Gemar blieb im Wesentlichen ein von Bauern und Fischern bewohnter Ort mit gering ausgebildeter vor allem fast aus-schlieszliglich herrschaftlich- administrativen Zentralfunktionen Fuumlr derartige Kleinststaumldte konstatiert Zeilinger zutreffend bdquoDie fortschreitende Urbanisierung einer Region mani-festiert sich eben auch darin dass selbst kleinere bis kleinste (noch) stark herrschaftlich gepraumlgte Orte sukzessive aber nicht unbeschraumlnkte staumldtische Praktiken des oumlffentlichen und privaten Lebens uumlbernahmenldquo (S 179) Als letztes Beispiel nimmt Zeilinger Tuumlrk-heim ins Visier (bdquoStadt durch Verhandlung Tuumlrkheim zwischen Kloster Koumlnig und Gemeinde 1308ndash1315ldquo S 181ndash186) Um die Wende zum 14 Jahrhundert emanzipierte sich die Gemeinde in Abgrenzung zu den Rechten des Klosters St Gregor zu Muumlnster im Muumlnstertal und dessen Dinghof

Im bdquoSchlussldquo-Kapitel (S 198ndash202) fasst der Autor seine Forschungsergebnisse zusammen Die Staumldte des Oberelsass sind der zweiten und dritten Phase der mittelalter-lichen Urbanisierungswelle in Europa zuzuordnen Auffallend ist dass bei vielen Staumldten in der vorurbanen Zeit mehrere Herren mit machtvollen Herrschaftsrechten und Vertre-tungen vor Ort praumlsent waren Dies bedeutete oftmals mehr Freiheiten fuumlr die jeweiligen Gemeinden und deren Fuumlhrungspersonen Eine wichtige Rolle bei der Kommunalisierung kam den Voumlgten Schultheiszligen Schaffnern und Ratsleuten zu Die Verfuumlgungskompetenz uumlber die lokale Kirche sowie die Allmend lieszligen sich als Ausgangspunkte fuumlr die Ver- gemeinschaftung verifizieren Die Kleinstaumldte um 1300 definierten ihren Staumldtestatus oft durch den Mauerbau Fuumlr alle Staumldte ist eine deutlich ausgebildetere Schriftlichkeit gegenuumlber den Landgemeinden zu konstatieren

Ein umfangreiches Verzeichnis der ungedruckten und gedruckten Quellen sowie der Literatur (S 204ndash262) beschlieszligt die Monographie die durch ein Orts- und Personen-

780 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 780

register (S 263ndash270) abgerundet wird Eine Karte zu den Zentren im Oberrhein um 1350 schlieszligt den Band ab

Vielfach bleiben die lateinischen und mittelalterlich-deutschen Urkundenzitate unuumlbersetzt und werden nicht eindeutig interpretiert Dies macht zum einen die Abhand-lung nur fuumlr einen kleinen inneren Zirkel von Mediaumlvisten verstaumlndlich zum anderen umgeht der Verfasser damit aber auch ndash und dies gilt es hier zu bemaumlngeln ndash eine ein- gehende verantwortliche Interpretation der einzelnen Zitate Der Leser darf so jeder fuumlr sich die einzelnen Originalzitate selbst interpretieren Zeilinger legte ansonsten eine aus-fuumlhrliche Zusammenfassung der vorhandenen Orts- und regionalgeschichtlichen Literatur zum Elsass und deren Staumldte vor Die bekannte Forschung wird zum Teil neu bewertet aus einem weiteren Blickwinkel betrachtet und in die allgemeine Stadtgeschichtsfor-schung eingeordnet

Juumlrgen Treffeisen

Simon LIENING Das Gesandtschaftswesen der Stadt Straszligburg zu Beginn des 15 Jahr-hunderts (Mittelalter-Forschungen Bd 63) Ostfildern Thorbecke 2019 248 S geb EUR 34ndash ISBN 978-3-7995-4384-2

Die im Sommersemester 2017 als Dissertation eingereichte Arbeit die somit schon zwei Jahre spaumlter in gedruckter Fassung vorliegt beginnt mit einer Begriffsbestimmung Simon Liening hebt die Unterscheidung zwischen Boten und Gesandten hervor Die staumld-tischen Gesandten rekrutieren sich aus der Reihe der Stadtbuumlrger hatten in der Regel einen Sitz im Rat und uumlbten zum Teil hohe kommunale Aumlmter aus Sie waren oumlkonomisch unabhaumlngig und abkoumlmmlich Der Untersuchungszeitraum umfasst die ersten beiden Jahr-zehnte des 15 Jahrhunderts Ausgehend von den drei Ereignissen ndash Thronwechsel im deutschen Reich (1400) Marbacher Bund (1405ndash1410) Konstanzer Konzil (1414ndash1418) ndash untersucht die vorliegende Studie die innerstaumldtischen Voraussetzungen Organisa- tionsformen und Rahmenbedingungen staumldtischer Auszligenpolitik sowie die Perspektive der Gesandtschaften ihre Akteure und Taumltigkeiten Als erstes praumlsentiert der Autor den Forschungsstand dieses relativ jungen Untersuchungsgebietes Dabei gelingt ihm der zu erwartende umfassende Uumlberblick Auch die bislang entstandenen Untersuchungen zur Straszligburger Auszligenpolitik und Gesandtschaften werden vorgestellt

Gesandte versuchten Informationen zu steuern gegebenenfalls Nachrichten geheim zu halten oder nur einem ausgesuchten Personenkreis zur Kenntnis zu bringen Daruumlber hinaus ist immer wieder der Versuch zu sehen den Kreis der Mitwissenden klein zu halten In der Regel berichteten die Gesandten dem Rat der Stadt als auch gesondert dem Ammeister der als wichtigster Amtstraumlger im Grunde immer informiert sein musste Berichte der Gesandten verschickte man beispielsweise wenn eine Kurskorrektur der bisherigen Zielvorgabe notwendig wurde zusaumltzliche Informationen Beschluumlsse oder Instruktionen uumlbermittelt werden mussten oder die Akteure selbst Neuigkeiten von den Gesandten einforderten Der Informationsfluss verlief natuumlrlich auch in umgekehrter Richtung Gesandte bekamen Informationen Beschluumlsse und Instruktionen uumlbermittelt wobei dieser Quellentypus deutlich geringer uumlberliefert ist Inhaltlich findet man die Auf-forderung an einen bestimmten Ort zu reisen die Ruumlckreise anzutreten die Bitte nach weiteren Informationen bis hin zu Absprachen und Kurskorrekturen bezuumlglich der lau-fenden Verhandlungen

Die Gesandten selbst waren vielfach in die innerstaumldtischen Beratungen und Entschei-dungsfindungsprozesse aktiv eingebunden Sie arbeiteten auch Instruktionen fuumlr kom-

781Allgemeine Stadtgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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register (S 263ndash270) abgerundet wird Eine Karte zu den Zentren im Oberrhein um 1350 schlieszligt den Band ab

Vielfach bleiben die lateinischen und mittelalterlich-deutschen Urkundenzitate unuumlbersetzt und werden nicht eindeutig interpretiert Dies macht zum einen die Abhand-lung nur fuumlr einen kleinen inneren Zirkel von Mediaumlvisten verstaumlndlich zum anderen umgeht der Verfasser damit aber auch ndash und dies gilt es hier zu bemaumlngeln ndash eine ein- gehende verantwortliche Interpretation der einzelnen Zitate Der Leser darf so jeder fuumlr sich die einzelnen Originalzitate selbst interpretieren Zeilinger legte ansonsten eine aus-fuumlhrliche Zusammenfassung der vorhandenen Orts- und regionalgeschichtlichen Literatur zum Elsass und deren Staumldte vor Die bekannte Forschung wird zum Teil neu bewertet aus einem weiteren Blickwinkel betrachtet und in die allgemeine Stadtgeschichtsfor-schung eingeordnet

Juumlrgen Treffeisen

Simon LIENING Das Gesandtschaftswesen der Stadt Straszligburg zu Beginn des 15 Jahr-hunderts (Mittelalter-Forschungen Bd 63) Ostfildern Thorbecke 2019 248 S geb EUR 34ndash ISBN 978-3-7995-4384-2

Die im Sommersemester 2017 als Dissertation eingereichte Arbeit die somit schon zwei Jahre spaumlter in gedruckter Fassung vorliegt beginnt mit einer Begriffsbestimmung Simon Liening hebt die Unterscheidung zwischen Boten und Gesandten hervor Die staumld-tischen Gesandten rekrutieren sich aus der Reihe der Stadtbuumlrger hatten in der Regel einen Sitz im Rat und uumlbten zum Teil hohe kommunale Aumlmter aus Sie waren oumlkonomisch unabhaumlngig und abkoumlmmlich Der Untersuchungszeitraum umfasst die ersten beiden Jahr-zehnte des 15 Jahrhunderts Ausgehend von den drei Ereignissen ndash Thronwechsel im deutschen Reich (1400) Marbacher Bund (1405ndash1410) Konstanzer Konzil (1414ndash1418) ndash untersucht die vorliegende Studie die innerstaumldtischen Voraussetzungen Organisa- tionsformen und Rahmenbedingungen staumldtischer Auszligenpolitik sowie die Perspektive der Gesandtschaften ihre Akteure und Taumltigkeiten Als erstes praumlsentiert der Autor den Forschungsstand dieses relativ jungen Untersuchungsgebietes Dabei gelingt ihm der zu erwartende umfassende Uumlberblick Auch die bislang entstandenen Untersuchungen zur Straszligburger Auszligenpolitik und Gesandtschaften werden vorgestellt

Gesandte versuchten Informationen zu steuern gegebenenfalls Nachrichten geheim zu halten oder nur einem ausgesuchten Personenkreis zur Kenntnis zu bringen Daruumlber hinaus ist immer wieder der Versuch zu sehen den Kreis der Mitwissenden klein zu halten In der Regel berichteten die Gesandten dem Rat der Stadt als auch gesondert dem Ammeister der als wichtigster Amtstraumlger im Grunde immer informiert sein musste Berichte der Gesandten verschickte man beispielsweise wenn eine Kurskorrektur der bisherigen Zielvorgabe notwendig wurde zusaumltzliche Informationen Beschluumlsse oder Instruktionen uumlbermittelt werden mussten oder die Akteure selbst Neuigkeiten von den Gesandten einforderten Der Informationsfluss verlief natuumlrlich auch in umgekehrter Richtung Gesandte bekamen Informationen Beschluumlsse und Instruktionen uumlbermittelt wobei dieser Quellentypus deutlich geringer uumlberliefert ist Inhaltlich findet man die Auf-forderung an einen bestimmten Ort zu reisen die Ruumlckreise anzutreten die Bitte nach weiteren Informationen bis hin zu Absprachen und Kurskorrekturen bezuumlglich der lau-fenden Verhandlungen

Die Gesandten selbst waren vielfach in die innerstaumldtischen Beratungen und Entschei-dungsfindungsprozesse aktiv eingebunden Sie arbeiteten auch Instruktionen fuumlr kom-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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mende Missionen selbst aus und legten sie kommunalen Gremien zur finalen Entschei- dung vor

Gesandte Stadtschreiber und Boten erhielten unterschiedliche Bezuumlge in Form von Lohn Tagegeld Tuch fuumlr Kleidung und zusaumltzliche Absicherung Regelmaumlszligigen Lohn erhielten lediglich die von der Stadt fest angestellten Boten und Stadtschreiber Staumldtische Gesandte agierten hingegen ohne Bezahlung Nur ein Tagsatz zur Deckung der Unkosten wurde gewaumlhrt Einer der Gesandten war fuumlr die Verwaltung des Geldes zustaumlndig Es wurde auch festgelegt was die Gesandten auf ihren Reisen mitfuumlhren durften Reisemittel und Bereitstellung von Pferden oder Schiffen waren zwischen der Stadt und den Gesand-ten zum Teil detailliert abzusprechen Damit die Gesandten fuumlr die Nachrichtenuumlbermitt-lung schneller ausfindig gemacht werden konnten wurde vielfach an der Auszligenseite der Unterkunft das Stadtwappen angebracht

Eine Gruppe von wenigen Gesandten war haumlufiger fuumlr die Stadt unterwegs so dass eine personelle Kontinuitaumlt im Gesandtschaftswesen zu Beginn des 15 Jahrhunderts in Straszligburg bestand

Straszligburger Gesandte und Gesandtschaften agierten als Vertreter im auszligerstaumldtischen Bereich waren Teil politischer Handlungen und somit auch potenzielle Rezipienten Teil-nehmer und Initiatoren symbolischer Kommunikation In Zusammenhang mit Eid und Huldigung konnten Gesandte als Schwoumlrende in verschiedenen Situationen auftreten Zudem verhandelten Gesandte im Vorfeld von Huldigungen und Eidesleistungen uumlber deren Bedingungen und Ablaumlufe

Der Austausch von Geschenken spielte im diplomatischen Dienst eine wichtige Rolle Straszligburger Gesandte registrierten Geschenkvergaben politischer Akteure genau und meldeten dies der Stadt Vielfach waren dadurch Ruumlckschluumlsse auf politische Konstella-tionen moumlglich Da ein gemeinsames Mahl auch ein symbolischer Akt war berichteten die Straszligburger Gesandten daruumlber entweder aus beobachtender oder teilnehmender Perspektive

In Zusammenhang mit dem Thronwechsel 1400 wird deutlich dass sich Gesandte auch mit symbolischen Handlungen auskennen mussten um diese zum richtigen Zeitpunkt und Kontext anwenden zu koumlnnen Dabei waren auch Dokumentation Planung und recht-liche Absicherung wichtig Staumldtische Gesandte verbuumlndeter Staumldte berieten relevante Fragen gemeinsam holten sich rechtlichen Beistand informierten sich gegenseitig genau uumlber den jeweiligen Stand und richteten ihre diplomatische Taumltigkeit danach aus

Gesandtenberichte lassen auch Ruumlckschluumlsse auf die generelle Verfasstheit einer Stadt zu die sich mit anderen Quellen nur schwer erreichen lassen Da vor allem Gesandten-berichte und Protokolle innerstaumldtischer Gremien zu auszligenpolitischen Angelegenheiten Einblicke in die tatsaumlchlichen politischen Aktivitaumlten einer Stadt ermoumlglichen koumlnnen Aussagen zur politischen Praxis getroffen werden was etwa anhand kommunaler Ver-ordnungen nur bedingt moumlglich ist Gesandte waren vielseitig und anpassungsfaumlhig sie fuumlhrten ihre Taumltigkeiten sehr bewusst und planvoll durch Einzelne Handlungsschritte wurden vielfach durch Informationsbeschaffung und zwischenstaumldtischen Absprachen sowie die Hinzuziehung juristischer Experten vorbereitet und akribisch umgesetzt So war das Nachrichtenwesen Straszligburgs zu Beginn des 15 Jahrhunderts sehr gut organi-siert

Das uumlbliche Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister schlieszligen diese beeindruckende Arbeit ab Es sind genau diese die archivischen Quellen systematisch und intensiv auswertenden Arbeiten die wichtige geradezu unersetzliche

782 Buchbesprechungen

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Bausteine der suumldwestdeutschen mediaumlvistischen Landesgeschichte bilden Sie kann uneingeschraumlnkt als Vorbild fuumlr weitere derartige Dissertationsvorhaben gelten In den groszligen weitestgehend unzerstoumlrten Archiven der Staumldte Freiburg Basel und eben Straszlig-burg sowie weiteren vor allem elsaumlssischen Archiven lagern noch unzaumlhlige Archivalien die der wissenschaftlichen Auswertung harren

Juumlrgen Treffeisen

Franz-Joseph ARLINGHAUS InklusionndashExklusion Funktion und Formen des Rechts in der spaumltmittelalterlichen Stadt Das Beispiel Koumlln (Norm und Struktur Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Fruumlher Neuzeit Bd 48) Koumlln Boumlhlau 2018 439 S Abb geb EUR 70ndash ISBN 978-3-412-51165-4 kostenlose Online- Ressource httpswwwvr-elibrarydedoibook1077889783412504397 ISBN 978-3-412-50439-7

Die vorliegende Arbeit wurde 2006 als Habilitationsschrift an der Universitaumlt Kassel eingereicht Sie untersucht die Beziehung des Einzelnen zum genossenschaftlichen Verband In der mittelalterlichen Stadt war ein Konflikt immer auch eine Frage nach der Zugehoumlrigkeit so dass dem Verhaumlltnis der Streitenden zu einem Verband eine entschei-dende Bedeutung zukam Unter diesem Blickwinkel sind die Gerichte nicht als eigen-staumlndige Rechtsinstitutionen zu sehen sondern vor allem als Teil des genossenschaft- lichen Verbandes

Zunaumlchst erlaumlutert Arlinghaus ausfuumlhrlich seinen theoretischen Ansatz (S 17ndash50) Es geht um den einzelnen Menschen der Teil des Personenverbandes der kommunalen Gemeinschaft war Die an den Einzelnen gerichteten Erwartungshaltungen sowie die Kommunikation insgesamt orientierten sich an der Position die der Einzelne in der Gesellschaft insgesamt einnahm Daher wurde das Individuum ndash anders als in der Mo-derne ndash erst uumlber die Zugehoumlrigkeit (Inklusion) zu einem Verband definiert Im Umkehr-schluss war der Ausschluss (Exklusion) aus einer Gemeinschaft ein die Existenz bedrohender Akt

Arlinghaus beginnt die Untersuchung mit einem detaillierten und fundierten bdquoUumlber-blick uumlber die Gerichte in Koumllnldquo (S 60ndash74) Das erzbischoumlfliche Hochgericht reicht in seinem Ursprung bis ins 11 Jahrhundert zuruumlck und umfasste in der Regel 25 Schoumlffen Neben der Blutgerichtsbarkeit war es zunaumlchst auch fuumlr Zivilgerichtsbarkeit und die frei-willige Gerichtsbarkeit der Koumllner Altstadt zustaumlndig So verstanden sich die hier seitens des Erzbischofs installierten Schoumlffen auch als Vertreter der Koumllner Buumlrgerschaft Mit der Durchsetzung der Zunftherrschaft zu Ende des 14 Jahrhunderts war es nur noch fuumlr die Rechtsprechung vorgesehen Im 15 Jahrhundert bildete sich dann eine pragmatische Zusammenarbeit zwischen Rat und Hochgericht heraus

In einem umfangreichen Kapitel thematisiert Arlinghaus den organisatorischen Rah-men und nimmt bdquoGerichtsorte und Personalldquo in den Blick (S 75ndash176) Das Hochgericht tagte unter freiem Himmel auf dem Domhof bekam im Laufe des Spaumltmittelalters ein eigenes Gebaumlude blieb aber auf dem Domhof lokalisiert Es war durch die raumlumliche Unausgegrenztheit weiterhin integraler Teil sowohl des Stadtraumes wie des Personen-verbandes

Die Einrichtung von Ratsgerichten sowie die Integration bereits bestehender Gerichte zeigt den Anspruch des Rates als dominierender Instanz innerhalb der Stadtgemeinschaft auf Diese Gerichte lassen sich meist in unmittelbarer raumlumlicher Naumlhe zum Rathaus lokalisieren Bei der Uumlbernahme behielt man allerdings den alten Gerichtsort bei Zudem

783Allgemeine Stadtgeschichte

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waren die einzelnen Gerichtsraumlume innerhalb des Gebaumludes in groumlszligere auch anderweitig genutzte Raumlume integriert Durch Offenheit und Verzicht auf raumlumliche Ausgrenzung vermied man eine Separierung des Diskurses uumlber das Recht Rechtsprechung war somit kommunikatives Geschehen das zwar einen eigenen durchaus festen Ort beanspruchte aber auch durch seine Offenheit in das kommunale Umfeld eingeschlossen blieb Die juristische Amtshandlung wurde so als Teil des genossenschaftlichen Aktionsfeldes betrachtet

Auch das Personal der Koumllner Gerichte nimmt Arlinghaus in den Blick Dabei sieht er die Hochgerichtsschoumlffen zwischen Patriziat und Professionalisierung (S 118ndash137) Zunaumlchst rekrutierten sich die Urteiler aus dem Kreis der Koumllner Buumlrger so dass auch das Hochgericht trotz aller Kontroversen mit dem Rat eng verknuumlpft war Die Schoumlffen kooptierten sich bis in das spaumlte Mittelalter aus dem Meliorat Bis ins 16 Jahrhundert hinein war fachwissenschaftliches Studium nicht notwendig allerdings stellte seit der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts der Besuch der Artistenfakultaumlt fuumlr einen Schoumlffen keine Besonderheit mehr dar Rechtsexperten konnten als Gutachter hinzugezogen werden

Das Kapitel bdquoRichter als Deputierte des Rates Urteiler Laien und gelehrte Juristenldquo (S 137ndash176) zeigt in der zweiten Haumllfte des 16 Jahrhunderts Juristen als Richter bei den Ratsgerichten In anderen Bereichen ndash z B bei den Stadtschreibern ndash findet man schon fruumlher eine deutliche Hinwendung zu studierten Fachleuten Koumllner Juristen gaben fast ausschlieszliglich in den Faumlllen Rechtsauskunft in denen auswaumlrtige oder geistliche Gerichte oder Institutionen involviert waren Bei der Auswahl der Richter war im 17 Jahrhundert die Ratszugehoumlrigkeit beziehungsweise Deputation das wichtigste Kriterium

Breiten Raum nimmt das Kapitel bdquoKommunikationsformen Gesten Rituale Sprach-formen und Schriftldquo (S 177ndash305) ein Zunaumlchst stehen die Hochgerichtsverfahren und deren bdquoRituale Sprachformeln Eidhelfer und sbquoUmstandlsquoldquo (S 177ndash196) im Fokus Viel-faumlltige Rituale und ein stark formalisierter Verfahrensablauf praumlgten das vormoderne Pro-zessgeschehen denn jedes gesprochene Wort erzielte bereits eine unmittelbare Wirkung Daher war auch auf jedes Wort jede Geste zu achten

Erst im Verlauf des 13 Jahrhunderts gewannen die Schreinsbucheintragungen an rechtsichernder Bedeutung wobei allerdings erst fuumlr das 14 Jahrhundert eine vollguumlltige Beweiskraft zu konstatieren ist Zuvor kam diesen Dokumenten lediglich gedaumlchtnis- stuumltzende Funktion zu Ab der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts war dann der Eintrag im Schreinsbuch neben der Uumlbergabe- und Verzichtserklaumlrung ein zentraler Bestand der Liegenschaftsuumlbertragung Im 15 und 16 Jahrhundert laumlsst sich dann eine Zunahme der waumlhrend der Prozesse erzeugten und wieder in das Prozessgeschehen eingebrachten Schriftstuumlcke beobachten

Der Rechtsstreit vor den Ratsgerichten erfolgte hingegen als formloses Verfahren (bdquoDie Ratsgerichte Kommunikationsstrukturen im formlosen Verfahrenldquo S 219ndash305) Bei den vom Stadtrat initiierten Gerichten fehlten neben den Urteilern auch Vorsprecher und sonstige Prozessvertreter Diese Verfahren zielten eher auf Schlichtung ab weniger auf eine richterliche Entscheidung

Kommunikation uumlber Schickung war fuumlr den Rat eine Moumlglichkeit im staumldtischen Raum Praumlsenz zu zeigen und seinen Anordnungen entsprechendes Gewicht zu verleihen Um 1400 setzte eine breitere Schriftverwendung bei den einzelnen Gerichten ein Der Einbezug von Schriftstuumlcken veranschaulicht die Tendenz der Herausloumlsung der Streit-parteien aus ihrem sozialen Umfeld

784 Buchbesprechungen

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Die Schrift stand so zwischen einem eigenstaumlndigen Diskursraum und der Funktion als Element der Face-to-Face-Kommunikation Dies erlaumlutert Arlinghaus anhand des Stadtschreiberamtes des Archivs sowie der Kanzlei Trotz des Anwachsens des auf- zubewahrenden Schriftguts bevorzugte man bis zum beginnenden 15 Jahrhundert die Verwahrung der Unterlagen in Privathaumlusern Allerdings wurden diese Raumlumlichkeiten durch drei an verschiedene Personen ausgegebene Schluumlssel gesichert Die Stadtschrei-ber hatten seit dem 14 Jahrhundert haumlufig eine Universitaumlt besucht und nicht selten ein Rechtsstudium abgeschlossen manchmal mit Promotion Anders als beim Ratsherrn war das Verhaumlltnis des Schreibers zum Rat nicht das eines Mitglieds zum genossenschaft- lichen Verband sondern das eines Untergebenen zum Dienstherrn Wurden Schriftstuumlcke in Verfahren vor den Ratsgerichten oder dem Rat eingebracht wurden sie in der Regel vorgelesen und somit in die angestrebte Face-to-Face-Kommunikation eingebunden

Als bdquoFormen manifestierter Exklusionldquo (S 306ndash355) sieht Arlinghaus den Stadtver-weis und die Hinrichtung Strafe war bei Stadtverweisen nicht das klassische Motiv Die Abschiebung von Randgruppen insbesondere seit dem endenden 15 Jahrhundert sollte die Gefahr der Stoumlrung der inneren Ordnung minimieren Die Ausweisung einflussreicher materiell gesicherter Buumlrger konnte hingegen die Situation unter Umstaumlnden eher noch verschaumlrfen Mit der Verbannung ging der Stadt die Kontrolle uumlber den Delinquenten verloren Der Exilierte konnte falls er uumlber die noumltigen Ressourcen verfuumlgte auf den Rat von auszligen Druck ausuumlben Aus der Perspektive der Stadt kam der Stadtverweis einer Exkommunikation gleich Hinrichtungen die nicht vor sondern in der Stadt vollzogen wurden stehen meistens in Zusammenhang mit Revolten beziehungsweise sind primaumlr politisch einzustufen Wollte man den Hinzurichtenden aus der Gesellschaft ausschlieszligen reichte das einfache Toumlten nicht aus Erst uumlber die besondere Zurichtung des Koumlrpers und des Leichnams konnte eine vollstaumlndige Exklusion erreicht werden

Eine umfassende Zusammenfassung (S 356ndash374) sowie ein bdquoenglisch Summaryldquo (S 375ndash392) schlieszligen die aumluszligerst detailreiche und anschauliche Arbeit ab Das obliga-torische Abkuumlrzungsverzeichnis ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister beenden die weiterfuumlhrende die Mediaumlvistik anregende Abhand-lung

Juumlrgen Treffeisen

Dorothea WELTECKE (Hg) unter Mitarbeit von Mareike HARTMANN Zu Gast bei Juden Leben in der mittelalterlichen Stadt Begleitband zur Ausstellung Konstanz Stadler 2017 216 S Abb Brosch EUR 1980 ISBN 978-3-7977-0734-5

bdquoDie Ausstellung Zu Gast bei Juden leistet [hellip] etwas ungeheuer Wertvolles Sie wech-selt die Blickrichtung Sie eroumlffnet eine ganz neue Perspektive auf das juumldische Leben im Mittelalter [hellip] Die Ausstellung verdeutlicht Juden und Christen sind zwei Seiten derselben Kulturldquo Mit diesen Worten aus seinem Gruszligwort bringt der Schirmherr Josef SCHUSTER Praumlsident des Zentralrats der Juden in Deutschland die Intention der Ausstel-lung auf den Punkt Allein schon der Ausstellungstitel ist Programm und haumltte nicht besser gewaumlhlt werden koumlnnen Dorothea WELTECKE und Mareike HARTMANN wollen am Bei-spiel der juumldischen Gemeinden in der mittelalterlichen Bodenseeregion das bdquoradikale Umdenkenldquo veranschaulichen das dank der kunstgeschichtlichen Forschungen der letzten Jahre zu einer Neubewertung des Zusammenlebens von Juden und Christen gefuumlhrt haben soll und gleichzeitig falsche Vorstellungen sowie Scheintatsachen bzw Scheinfakten an der Uumlberlieferung uumlberpruumlfen (S 6 11)

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Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung und des hier anzuzeigenden Begleitbandes sind einige juumldische Prachthandschriften die zum Teil noch vor den groszligen Pestverfolgungen von 134849 im Bodenseeraum als Gemeinschaftswerke eines juumldischen Schreibers sowie einer kloumlsterlichen Malwerkstatt entstanden sind Sarit SHALEV-EYNI (Hebrew Illuminated Manuscripts from Lake Constance before 1348 S 32ndash47) und Katrin KOGMAN-APPEL (Juumldische Bildkultur im mittelalterlichen Deutschland S 48ndash59) bringen uns die bildli-chen Darstellungen der hebraumlischen Kodizes in ihrer Motivik und Charakteristik naumlher indem sie diese als Teil einer bdquoBildkulturldquo erkennbar werden lassen die bdquointegraler Bestandteil der Kultur ihrer Umgebungldquo ist Diese Bildkultur verlangt nach einer Wuumlr-digung die uumlber die religioumlse Identitaumlt des Kuumlnstlers hinaus auch Auftraggeber und Betrachter in den Blick nimmt (S 59) Anhand der raumltselhaften vier ganzseitigen Illu-strationen in der Darmstaumldter Haggadah demonstriert Meyrav LEVY (Enigmatic Illustra-tions in the Darmstadt Haggada A Chivalric Version of Olam ha-Ba S 132ndash139) wie die Auftraggeberin der wohl um 1430 entstandenen Handschrift durch den christlichen Illustrator modische Ideale der ritterlich-houmlfischen Kultur mit auf den ersten Blick be-fremdlichen Motiven paradiesischer Jenseitsvorstellungen des Judentums zum Ausdruck bringen lieszlig Die fuumlr juumldische Illuminationen ungewoumlhnlich bdquoliberalenldquo Darstellungen von Frauen in einem ebenso ungewoumlhnlichen chevalresken Kontext lassen auf eine Besitzerin schlieszligen die sich mit einer herausgehobenen sozialen Schicht identifiziert wissen wollte (S 138 f) Vielleicht gehoumlrte die Dame ndash der Hinweis sei an dieser Stelle erlaubt ndash zum Kreis jener Juumldinnen die im spaumlten 14 und im 15 Jahrhundert als uumlber-durchschnittlich erfolgreiche Geschaumlftsfrauen ihren Ehemaumlnnern ein Leben mit religioumlsen Studien abseits des Broterwerbs ermoumlglichen konnten und dabei ein robustes Selbst- bewusstsein entwickelten

Die bdquohoumlchst eigensinnige Teilhabe der Juden an der Welt der Gotik [hellip] als zwei Seiten derselben Kulturldquo (WELTECKE S 11) uumlberdauerte mithin die Verwerfungen die als Folge der verheerenden Pestpogrome in der Mitte des 14 Jahrhunderts zu einer merklichen Verschlechterung in der Gemeindestruktur des aschkenasischen Judentums fuumlhrten Den weitreichenden Beschraumlnkungen in der juumldischen Gemeindeautonomie standen durchaus beachtliche Karrieren gegenuumlber Dies gilt auch fuumlr die bdquoMedinat Bodaseldquo also jene gemeindeuumlbergreifende regionale Identitaumlt in der sich die Juumldinnen und Juden der Bodenseeregion von Zuumlrich bis Ravensburg miteinander verbunden fuumlhlten Zwar blieben die hiesigen Judengemeinden zahlenmaumlszligig und kulturell stets im Schatten der mittel- rheinischen Zentren gleichwohl entwickelten sich auch hier Potenziale mit kultureller Strahlkraft wie Ingrid KAUFMANN am Beispiel der Verbreitung des Zuumlrcher SeMaK in Oberitalien aufzeigt (Ein sbquoZuumlrcherlsquo jenseits der Alpen Der Zuumlrcher SeMaK als Zeugnis juumldischer Mobilitaumlt im Mittelalter S 116ndash119)

Nicht nur die kulturellen Aspekte lohnen eine genauere Betrachtung der mittelalter- lichen Bodenseeregion unter juumldischen Vorzeichen Neben den Darstellungen von Sarit SHALEV-EYNI und Katrin KOGMAN-APPEL beleuchten sechs weitere Uumlberblicksbeitraumlge die juumldische Lebenswelt im Hoch- und Spaumltmittelalter aus unterschiedlichen Perspek- tiven Markus J WENNINGER beschreibt bdquoJuden und Christen im Mittelalter Facetten ihres Zusammenlebens unter besonderer Beruumlcksichtigung des Bodenseeraumsldquo (S 14ndash23) Auch wenn Zufaumllle und strukturelle Bedingtheiten der Quellensituation haumlufig zu einer Verzerrung der Wahrnehmung fuumlhren wenn etwa allein aus dem Mehr an gericht-licher Uumlberlieferung auf eine Zunahme an Konflikten geschlossen wird so laumlsst sich

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dennoch fuumlr den Verlauf des 15 Jahrhunderts eine deutliche Entwicklung hin zu Diskri-minierung Ausgrenzung und Ghettoisierung der juumldischen Bevoumllkerung nachzeichnen

Insbesondere in den 1430er Jahren kommt es aufgrund mehrerer Krisen und bdquounter-schiedlich gelagerter Reformbestrebungen in Kirche und Weltldquo zu einem bdquostrukturellen Bruch im nordalpinen Reichsgebietldquo mit dem die bdquoHochphase des sozialen Ausschlusses von Judenldquo eingelaumlutet wird wie Christian JOumlRG feststellt (Christen und Juden im Europa der ersten Haumllfte des 15 Jahrhunderts Zur Ausgrenzung von Juden im Umfeld der groszligen Reformkonzilien S 79ndash86) Damit einher gingen nach Christian SCHOLL auch die Be-strebungen christlicher Korporationen die bis dahin bdquokeineswegs hohlenldquo Buumlrgerrechte der Juden zu beschraumlnken und die andersglaumlubigen Konkurrenten von den Erwerbszwei-gen in Handwerk und Handel weitgehend auszuschlieszligen (Als Rechtlose in die Geldleihe abgedraumlngt Zur rechtlichen Stellung und wirtschaftlichen Taumltigkeit von Juden in den suumlddeutschen Reichsstaumldten des spaumlten Mittelalters S 24ndash31)

Die mit den Umbruumlchen im 14 und 15 Jahrhundert verbundenen Konflikte und Ge-waltausbruumlche thematisieren Martha KEIL (Im Westen von Aschkenas Aspekte von Kon-flikt und Religion im juumldischen Bodenseeraum S 70ndash78) und Johannes HEIL (Gewalt gegen Juden und Konflikte in der Stadt Uumlberlegungen zu einer verstoumlrenden bdquoNormali-taumltldquo am Beispiel der Stadt Konstanz und des Bodenseeraums S 87ndash96) Erstere kann anhand Zuumlricher Gerichtsquellen eine bdquoirritierendeldquo intensive Anrufung des Stadtgerichts bei innerjuumldischen Konflikten feststellen die im Gegensatz zu der bdquoerkaumlmpften juumldisch-rechtlichen Autonomie und in Opposition zum Anspruch der Rabbiner standldquo Diese Ent-wicklung deckt sich allerdings mit den auch andernorts nach den Pestpogromen erkennbaren Tendenzen die bis dahin weitgehend stabile innerjuumldische Gemeindeauto-nomie durch ein Regulierungsmonopol der christlichen Obrigkeit zu ersetzen Wurden die Konflikte auf der politischen Ebene ausgetragen bei der den Juden bdquojede direkte Mit-wirkungsmoumlglichkeit am andauernden innerstaumldtischen Kraumlftemessen versagt warldquo konnte dies nach Johannes Heil fuumlr die juumldische Bevoumllkerung in spezifischen Konstella-tionen ndash wie vor allem in der Mitte des 14 Jahrhunderts ndash toumldliche Konsequenzen haben Die vielen Pogrome wirkten sich nachhaltig auf die juumldische Siedlungsstruktur aus wie Michael SCHLACHTER in seinem Aufsatz bdquoSiedlungsgeschichte und Verfolgungen der Juden im Bodenseegebiet bis zum spaumlten 14 Jahrhundertldquo (S 60ndash69) ausfuumlhrt Leider verzichtet der lesenswerte Beitrag wie der gesamte Begleitband auf eine anschauliche kartographische Umsetzung der Befunde

An die Uumlberblicksartikel schlieszligen sich 14 kleinere Beitraumlge als Forschungsberichte an teilweise aus der Feder Studierender oder junger Forschender Sie behandeln neben den oben bereits erwaumlhnten kunstgeschichtlichen Artikeln von Ingrid KAUFMANN und Meygrav LEVY archaumlologische und museologische Befunde Judensiegel bildliche Dar-stellungen von Juden und von Judenhuumlten juumldische Siedlungstopographie und Friedhoumlfe besondere Quellengruppen die rechtliche Stellung der Juden sowie einen Abriss zur kurzen Geschichte der mittelalterlichen Ravensburger Judengemeinde Eine Studie von Miriam BASTIAN und Mareike HARTMANN befasst sich mit bdquoFesten und Spielen Geselli-ges Beisammensein zwischen Juden und Christenldquo (S 159ndash163)

Unter den Beschreibungen der Exponate von Leihgebern aus Frankreich Groszligbritan-nien der Schweiz Ungarn und Deutschland (S 167ndash202) finden sich neben den Pracht-kodizes weitere Highlights etwa die sogenannten bdquoKopfziegelldquo aus dem Ravensburg des 15 Jahrhunderts mit der Darstellung von Personen mit Bart und Judenhut (Caroline KLATT) regionale Urkunden mit hebraumlischen Dorsualvermerken von Andreas LEHNERTZ

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oder die von Doumllf WILD beschriebenen um 1330 entstandenen spektakulaumlren Wand- fresken aus dem Haus bdquoZum Brunnenhofldquo in Zuumlrich Die dort der bdquoBilderwelt der houmlfi-schen Kulturldquo entnommenen Motive fanden uumlbrigens 100 Jahre spaumlter mit dem Groszlig-fresko in dem zentralen Gebaumludekomplex der Humpisgesellschaft in Ravensburg einen prominenten Nachahmer

Eine bdquoaktuelle und um Vollstaumlndigkeit bemuumlhte Bibliographie der Veroumlffentlichungen zu den Juden am Bodenseeldquo (S 203ndash215) rundet den Band an dem insgesamt 33 Auto-rinnen und Autoren mitgewirkt haben ab Den zahlreichen Abbildungen haumltten ein grouml-szligeres Format und eine Wiedergabe auf Kunstdruckpapier gutgetan Die vielfach zu klein und durchweg zu dunkel geratenen Reproduktionen truumlben den Genuss der Betrachtung doch merklich Auch haumltte man sich ein sattelfesteres Lektorat gewuumlnscht Fluumlchtigkeits-fehler wie der unschoumlne Pleonasmus bdquozeitlich befristetldquo (S 140 142) verungluumlckte Satz-gefuumlge (S 136) der Schnitzer bdquoservi camerae nostrildquo[] (S 140) oder mehrere Trennfehler haumltten dann vielleicht vermieden werden koumlnnen Ganz bestimmt aber waumlre aufgefallen dass der in drei verschiedenen Beitraumlgen (S 12 162 166) verwendete Quellenbeleg aus dem Konzeptbuch B der Konstanzer Kurie zum Kartenspielen des Klerikers Wilhelm von Imbuch ndash angeblich ndash mit einem Juden in einem Karmeliterkloster gleich mehrfach fehlinterpretiert wurde Auch wenn das Regest von Karl Rieder noch von einem Kolle-giatstift Ehingen bei Ravensburg [] spricht so haumltte spaumltestens beim Blick in die auf S 175 abgedruckte Originalquelle die topographische Ungereimtheit auffallen muumlssen Dort hat eine spaumltere Hand mit Bleistift den offenkundigen palaumlographischen Befund korrekt mit Ehingen bei Rottenburg wiedergegeben Mit der Lokalisierung des Kolle- giatstifts St Moritz im Rottenburger Stadtteil Ehingen wird auch plausibel warum sich der Konstanzer Generalvikar ndash wie im Regest erwaumlhnt ndash in dieser Angelegenheit an den Tuumlbinger Dekan wendet Zudem hat besagter Wilhelm von Imbuch bdquoan Weihnachten mit einem Juden oumlffentlich Karten gespieltldquo ohne dass wir Naumlheres uumlber den Tatort erfahren nicht aber im bdquoKarmeliterklosterldquo und schon gar nicht im Ravensburger

Franz-Josef Ziwes

Peter KOumlRNER bdquoJetzt ist es mit Dir aushellipldquo 10 November 1938 in Aschaffenburg Opfer

Taumlter Ahndung und Erinnerung (Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaf-fenburg Beiheft Bd 5) Aschaffenburg Stadt- und Stiftsarchiv 2019 299 S Abb geb EUR 22ndash ISBN 978-3-922355-35-9

Die neueste Veroumlffentlichung aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg beschaumlf-tigt sich intensiv mit der bdquoReichspogromnachtldquo die erst seit etwa 40 Jahren so genannt wird mit ihrer bdquoBewaumlltigungldquo und der Erinnerung daran Der seit Jahrzehnten mit der Lokalgeschichte vertraute und selbst in der Erinnerungskultur aktive Historiker und Jour-nalist Peter Koumlrner hat auf einen griffigeren Titel verzichtet und stattdessen seine me-thodischen Uumlberlegungen im Buchtitel wiedergegeben

Der Autor legt einen Schwerpunkt auf die Taumlter ohne sie zu entmenschlichen oder zu daumlmonisieren wie es im Gedenkgenre nicht selten vorkommt Der Autor seziert die Ermittlungen zu den begangenen Verbrechen justiziable Prozesse und die Erinnerung seit 194546 bis heute quasi in einem Laumlngsschnitt

Die Ansicht dass die bdquoReichspogromnachtldquo meistenorts gut erforscht sei hinterfragt Koumlrner kritisch Entgegen perpetuierter Erzaumlhlungen fanden die terroristischen Ereig-nisse jener Nacht allerorten fruumlhestens eine Weile nach Mitternacht jedenfalls am

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10 November statt so auch in Aschaffenburg dort ab 300 Uhr Collageartig zeigt er durch Vergleiche mit anderen Orten wie aus Erinnerungen als Hauptquelle falsche Ablaumlufe rekonstruiert werden und wie haumlufig sie kontrafaktisch kolportiert werden Er fordert statt emotional orientierter Gedenkrituale exakte zeitlich differenzierende Beschreibungen zu erarbeiten plaumldiert gegen unreflektierte Empathie fuumlr mehr Wissen-schaft also eine fundierte Gedenkkultur Dabei bezieht er sich selbstkritisch mit ein und versucht seinen postulierten Anspruch in der Studie einzuloumlsen

Zerstoumlrungen und Brandstiftungen waren typisch fuumlr den Ablauf jenes 10 November 1938 Schuumlsse mit zwei Verletzten wie in Aschaffenburg von denen einer an Komplika-tionen im Krankenhaus starb stellen vergleichsweise eine Besonderheit dar Das schlieszligt die betraumlchtliche Zahl Toter uumlberwiegend in der KZ-Haft im Anschluss des 10 November nicht aus Koumlrner geht dem Ablauf der Geschehnisse in Aschaffenburg nicht chronolo-gisch nach sondern gestuumltzt auf Quellen dem Vorgehen der drei beteiligten Trupps Der eine ein SS-Trupp drang in ausgewaumlhlte Wohnungen ein um die Bewohner zu bedrohen und zu terrorisieren ein anderer Mitglieder des SA-Musikzugs von dessen 25 Mitglie-dern sich zehn zum verabredeten Treffen um 300 Uhr zusammenfanden zog marodie-rend durch die Straszligen waumlhrend der dritte Trupp gleichfalls SA fuumlr die Synagogen- zerstoumlrung zustaumlndig war Fuumlr Aschaffenburg stellt sich die Quellenlage besonders gut dar Gestapoermittlungen zum SS-Trupp als Zulieferung fuumlr die anschlieszligende Verhand-lung vor dem Oberparteigericht im Januar 1939 sind im Staatsarchiv Wuumlrzburg uumlber- liefert Uumlberlieferungen zu Verfahren und Spruchkammerverfahren nach 1945 zu Taumltern sind aber auch andernorts haumlufig uumlberliefert Gegen Beteiligte der beiden SA-Trupps wurde nach 1945 ermittelt und Anklage erhoben Diese Uumlberlieferung stuumltzt die Re- konstruktion der Vorgaumlnge jener Nacht reich an Details aus den Verfahren nach 1945 gegen 15 Beteiligte Diese Methode ergibt profunde Ergebnisse bedeutet aber auch dass die Geschehnisse nicht allumfassend sichtbar gemacht werden koumlnnen Zusammen mit den Spruchkammerakten gelingt es dem Autor differenzierte Taumlterbiographien zu erstel-len Die Auseinandersetzung damit haumllt er fuumlr essentiell fuumlr eine reflektierte Erinnerungs-kultur Denn sichtbar wird bei den Unterschieden charakterlicher Art sozialer Herkunft und Politisierung zu verschiedenen Zeiten und unterschiedlicher Tiefe dass die Taumlter sozusagen aus der Mitte der Gesellschaft stammten Der SS-Fuumlhrer als Hauptanstifter blieb durch Selbstbelastung anderer unbehelligt im Buch werden seine Verstrickungen aufbereitet Koumlrner gelingt es Momente der Handlungswendungen herauszuarbeiten so wird deutlich dass jene Nacht nicht einfach wie nach einem Drehbuch ablief Dass das Pogrom von oben kein spontaner bdquoVolkszornldquo war ist Allgemeinwissen Doch das Han-deln der NS-Taumlter hatte durchaus Spontaneitaumlten Wie der Autor feststellt sollte dem angekuumlndigten bdquoVolkszornldquo mit Zerstoumlrungen und Brandstiftungen nicht entgegengetre-ten werden doch lautete die Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei Heydrich um 120 Uhr dass Verbrechen wie Toumltungen schwere Koumlrperverletzung Erpressung Ver-gewaltigung oder Pluumlnderungen durch die Gestapo aufzuklaumlren waumlren Das war vor der Zeit als die Trupps in Aschaffenburg wie fast uumlberall anderswo erst noch im Begriff waren sich zur Aktion zu sammeln oder loszulegen Die Taumlter mussten annehmen be-langt werden zu koumlnnen und daraufhin gleicht der Autor ihre Handlungen ab Nur die Schuumlsse des SS-Trupps wurden von der Gestapo untersucht die beiden SA-Trupps hatten innerhalb des bdquomoumlglichen Rahmensldquo gehandelt Vor dem Parteigericht fanden Verfahren gegen fuumlnf SS-Maumlnner statt Wie fast uumlberall wurden sie eingestellt bis auf eine Ver- urteilung mit milder Strafe

789Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

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Das fuumlnfte Kapitel beleuchtet das Kriegsende und die Nachkriegszeit Heiko Haumann skizziert das Kriegsende in Waldkirch und im Elztal Wolfram Wette erinnert an die im Januar und April in Waldkirch als Deserteure erschossenen deutschen Soldaten ndash und den lokalen Umgang mit diesen Verbrechen Martin HOFFMANN wiederum wirft einen Blick auf zivile wie militaumlrische Todesopfer die die Stadt Waldkirch (und ihre fruumlher eigenstaumlndigen Ortsteile) zu beklagen hatte und wie mit dieser Erbschaft nach 1945 um-gegangen wurde Das abschlieszligende sechste Kapitel beschaumlftigt sich mit der Aufarbei-tung der NS-Vergangenheit Neben Beitraumlgen zum Umgang mit NS-Ikonographien und NS-Kriegerdenkmaumllern werden verschiedene lokalhistorische Ereignisse und Projekte der vergangenen Jahrzehnte nochmals in den Blick genommen

Die Beitraumlge dieses Sammelbandes sind hinsichtlich ihrer Qualitaumlt ihrer Originalitaumlt ihres Umfanges und des damit verbundenen Erkenntnisgewinnes recht unterschiedlich Aber etwas Anderes waumlre bei einem Projekt das engagierte und interessierte Laien Historiker und Fachwissenschaftler anderer Disziplinen sowie Nachwuchswissenschaft-ler (pensionierte) Lehrer und emeritierte Universitaumltsprofessoren zusammenfuumlhrt auch kaum denkbar Entstanden ist ein materialreiches lokalhistorisches Lesebuch das zu wei-teren Forschungen einlaumldt Es ist zu hoffen dass der Band nicht nur in der engeren Region zu Kenntnis genommen wird sondern auch als Anregung fuumlr vergleichbare Projekte anderswo dienlich ist

Christoph Kopke

Juliane GEIKE Andreas HAASIS-BERNER (Hg) Menschen in Bewegung (Lebenswelten im laumlndlichen Raum Historische Erkundungen in Mittel- und Suumldbaden Bd 4) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 237 S Abb geb EUR 2280 ISBN 978-3-95505-123-5

Unter dem Sammelbegriff bdquoWanderungsforschungldquo hat sich im deutschen Sprachraum seit der Wende vom 18 zum 19 Jahrhundert die Bewegung von Menschen in Zeit und Raum zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt Daran hatten die regionale Ge-schichtsschreibung in Form der Landesgeschichte sowie die lokale heimatgeschichtlich ausgerichtete bdquoLiebhaber-Historieldquo wie sie auch genannt wird einen besonderen Anteil Nach der Reichsgruumlndung gerieten sie und auch die am Forschungsgegenstand nun ver-staumlrkt interessierte universitaumlre Forschung in nationales zu Beginn des 20 Jahrhunderts in voumllkisches und schlieszliglich in den dreiszligiger Jahren in nationalsozialistisches Fahr- wasser Als Folge dieser Hypothek konnte die Wanderungsforschung nach 1945 nicht an ihre Traditionen anknuumlpfen sondern erfuhr als bdquoImportldquo unter dem Begriff der Migra- tionsforschung in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren einen zunaumlchst sozialhisto-risch gepraumlgten Neuanfang Mittlerweile ist die historische Migrationsforschung ob auf universitaumlrer landesgeschichtlicher oder heimatgeschichtlicher Ebene ein boomendes Feld auf dem es wuumlnschenswert waumlre wenn der Austausch zwischen den drei Ebenen verstaumlrkt wuumlrde

In diesem Kontext ist der vierte Tag fuumlr Regionalgeschichte im Juni 2017 in Yach im Landkreis Emmendingen zu sehen Auch vor dem Hintergrund des Migrationsgeschehens der Gegenwart versammelte er unter dem Thema bdquoMigration im laumlndlichen Raumldquo HistorikerInnen ArchivarInnen LehrerInnen HeimatforscherInnen und Geschichts- interessierte Der vorliegende Band spiegelt die Ergebnisse der Tagung Dabei folgen die Herausgeber der Erkenntnis bdquoMigration war und ist ein Teil unserer Geschichte die eine in Zeit und Raum variantenreiche Dynamik entfaltetldquo (S 8) Der Band umfasst elf Bei-

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31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 804

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Die etwa 25 maumlnnlichen juumldischen Opfer der Verhaftungen durch die Polizei am 10 November die schlieszliglich in das KZ Dachau uumlberstellt wurden sind mit Personen-daten und ihrem weiteren Weg aufgelistet Mit der Ahndung nach 1945 und den Prozessen breitet Koumlrner die Ablaumlufe der Nacht nochmals gewissenhaft aus Die Taumlter des SS-Trupps erhielten fuumlnf bis sieben Jahre Zuchthausstrafe der Haupttaumlter gar 15 Jahre Im Prozess gegen die SA-Beteiligten lag das Strafmaszlig zwischen sechs und 15 Monaten Zuchthaus bei drei Freispruumlchen Der Autor bewertet die Strafverfolgung so kurz nach dem Ende des NS-Regimes als erste Phase der Erinnerung die sogenannte Bewaumlltigung die auch die zeitlich etwas spaumlteren Spruchkammerverfahren miteinbezieht Hier erfolgte fast durchweg die Einstufung als Minderbelastete Auch weil die Kammern ungeeignet zur Feststellung schuldhaften Verhaltens waren und bdquoPersilscheinenldquo keine Ermittlungen entgegensetzen konnten oder wollten Die sogenannte Entnazifizierung der unmittelbaren Nachkriegszeit ging mit ihnen und dem beginnenden Kalten Krieg bereits in die Phase des Verdraumlngens und Schlussstrichdenkens uumlber

Auf 15 Seiten zeigt der Autor so komprimiert wie instruktiv die Entwicklung der Ge-denkkultur in der Bundesrepublik Deutschland der letzten Jahrzehnte auf die Teil deut-scher Identitaumltsstiftung geworden ist Koumlrner kommt Unbehagen gegen oberflaumlchliche Rituale vordergruumlndige Betroffenheit und bisweilen verbraumlmte Manipulationen auf denen er sein Credo eines reflektierten Geschichtsbewusstseins entgegenstellt

Quasi als Anhang sind die bdquoGedenktermineldquo der Aschaffenburger Erinnerungskultur beginnend mit der Gruumlnanlage am Platz der zerstoumlrten Synagoge und Aufstellung einer Gedenkstele 1946 bis heute aufgelistet auch die seit 1999 jaumlhrlich stattfindenden Ta-gungen des Vereins Haus Wolfsthalplatz an diesem Erinnerungsort

Mit diesem Buch liegt sicherlich keine bequeme Veroumlffentlichung vor Koumlrner selbst loumlst seinen Anspruch kritisch-reflektierter Erinnerung souveraumln ein Diese Studie zu Aschaffenburg kann fuumlr Forschungen an anderen Orten eine motivierende und sinnvolle Blaupause abgeben

Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer

Hermann EHMER Helfenberg Geschichte von Burg Schloss und Weiler Ostfildern Thorbecke 2019 307 S Abb 5 Stammtafeln geb EUR 30ndash ISBN 978-3-7995- 1458-3

Hermann Ehmer einst erster Leiter des neugegruumlndeten Staatsarchivs Wertheim dann viele Jahre lang Leiter des zentralen Archivs der wuumlrttembergischen Evangelischen Lan-deskirche in Stuttgart ist seit Jahrzehnten weithin bekannt als unermuumldlicher Erforscher und Erzaumlhler der wuumlrttembergischen Kirchen- und Reformationsgeschichte Daneben ist er aber auch ein uumlberaus produktiver Historiograph des Bottwartals in dem seine per-soumlnlichen Wurzeln liegen Bereits 1991 erschien sein Buch uumlber den Gleiszligenden Wolf von Wunnenstein und ein Vierteljahrhundert spaumlter seine Geschichte des Klosters und adligen Fraumluleinstifts Oberstenfeld jeweils mehrhundertseitige in den Quellen gegruumln-dete Darstellungen seine regional einschlaumlgigen Aufsaumltze und Miszellen koumlnnen hier im einzelnen gar nicht aufgezaumlhlt werden Mit der nun vorgelegten Geschichte von Burg Schloss und Weiler Helfenberg (Auenstein Ilsfeld Landkreis Heilbronn) erschlieszligt er sich die Vergangenheit einer weiteren historischen Staumltte seiner engeren Heimat und laumlsst seine Landsleute sowie alle landeskundlich Interessierten landauf landab daran teilhaben Dass es dem Autor dabei scheinbar muumlhelos gelingt mit der rund achthundertjaumlhrigen Geschichte einer Burgruine und des ihr zugehoumlrigen Weilers nicht weniger als dreihundert

790 Buchbesprechungen

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die Enthuumlllungen uumlber die Rolle des Waldkircher Buumlrgers und SS-Standartenfuumlhrers Karl Jaumlger gewesen sein Dieser war Organisator und Vollstrecker des Massenmordes an den Juden Litauens Wolfram Wette hat zu dessen Biographie 2011 eine Monografie vorgelegt und auch im vorliegenden Band findet sich ein Text zu Karl Jaumlger Dass die notwendige Beschaumlftigung mit der regionalen NS-Geschichte kein einfaches Unterfangen ist reflek-tiert auch der zweite einleitende Beitrag von Heiko HAUMANN der auf bdquodie Schwierig-keiten die Waldkircher Geschichte im sbquoDritten Reichlsquo angemessen darzustellenldquo (S 27 ff) eingeht

Die Beitraumlge des ersten Kapitels widmen sich der Vorkriegsgeschichte Ralph BERN-HARD beispielsweise beleuchtet die Fruumlhgeschichte der NSDAP seit 1920 So gab es zwar Aktivitaumlten voumllkischer Vorlaumluferparteien aber vor dem auch in Baden geltenden Verbot von 1923 scheint es in Waldkirch keine eigenstaumlndige NSDAP-Ortsgruppe gegeben zu haben Gleichwohl waren einige Waldkircher Nationalsozialisten schon 1923 Parteimit-glieder geworden hatten sich aber Wuumlrttemberger Ortsgruppen angeschlossen wo die Behoumlrden das geltende NSDAP-Verbot kaum umsetzten Aus den verschiedenen Beitrauml-gen etwa zu den Wahlergebnissen der NSDAP in Waldkirch dem lokalen Machtwechsel 1933 auf Buumlrgermeisterebene oder zur Biographie des Waldkircher NS-Buumlrgermeisters stechen vor allem zwei Aufsaumltze hervor Wolfgang Wette rekonstruiert die lokale Buumlcherverbrennung die am 8 Juli 1933 auf dem Gipfel des Kandels inszeniert wurde Die Waldkircher Buumlcherverbrennung ist wie mutmaszliglich die meisten der oumlffentlichen Verbrennungsaktionen des Jahres 1933 in vielen Staumldten und groumlszligeren Gemeinden des Dritten Reiches von der einschlaumlgigen Forschung bislang nicht beruumlcksichtigt worden (vgl Julius H Schoeps Werner Tress (Hg) Orte der Buumlcherverbrennungen in Deutsch-land 1933 Hildesheim 2008) Mit der Darstellung der Geschichte der Waldkircher Schutzstaffel rekonstruiert Heiko WEGMANN erstmals die Zusammensetzung und die Ak-tivitaumlten der beruumlchtigten NS-Untergliederung auf lokaler Ebene Bis zu seinem Weggang im November 1936 wurde die oumlrtliche SS vom bereits erwaumlhnten Karl Jaumlger angefuumlhrt ihr gehoumlrten in jener Zeit rund 100 Maumlnner an

Das zweite Kapitel des Bandes nimmt sich der Zeit des Weltkrieges an Zwei Beitraumlge beschaumlftigen sich mit dem Bild und den Narrativen des Krieges in lokalen Feldpost- beziehungsweise Soldatenbriefen weitere Texte befassen sich unter anderem mit einzel-nen Biographien und Firmen mit der Zusammensetzung der oumlrtlichen NSDAP-Orts-gruppe oder mit den Vorgaumlngen rund um die NS-bdquoEuthanasieldquo Allein in der Toumltungs- anstalt Grafeneck fanden mindestens 14 Personen den Tod die aus Waldkirch stammten oder dort geboren waren Mutmaszliglich waren von den Euthanasieverbrechen noch mehr Menschen aus Waldkirch betroffen

Kapitel III versammelt sechs biographisch ausgerichtete Beitraumlge die Personen vor-stellen die aus unterschiedlichen Motiven und weltanschaulichen Hintergruumlnden Wider-stand gegen das NS-Regime leisteten Auch im vierten Kapitel (bdquoSchulen und Kirchenldquo) geht es um Beispiele widerstaumlndigen Verhaltens und vor allem um das Spannungsver-haumlltnis von Widerstand Resistenz Anpassung und Mitmachen Dabei sind nicht alle Texte primaumlr lokalhistorisch oder biographisch ausgerichtet Ausfuumlhrlich rekonstruiert und diskutiert etwa der Soziologe Herbert SCHWEIZER nach seiner Emeritierung 2006 bis zu seinem Tode 2017 Einwohner Waldkirchs grundsaumltzlich das Verhaumlltnis von Ka-tholischer Kirche und Nationalsozialismus wohingegen Ralph BERNHARD die oumlrtliche katholische Kirche einer kritischen Untersuchung unterzieht

803Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

ihren Funktionstraumlgerinnen und -traumlgern sowie den beigefuumlgten Statuten es gab nur zwei Den bdquoIsraelitischen Frauenvereinldquo seit 1868 und als Pendant den 1875 gegruumlndeten Maumln-nerverein bdquoVerein fuumlr heilige edle Zweckeldquo Unter Abschnitt 10 befindet sich eine schmale Information zu juumldischen Gastwirtschaften der elfte und letzte Abschnitt Feste und Ehrungen ist leer

Der Hauptteil mit dem eigentlichen Familienbuch im achten Abschnitt macht uumlber die Haumllfte des Bandes aus Im Original ist eine Seite jeweils fuumlr eine Familie vorbehalten insgesamt sind es 106 Aufgefuumlhrt sind bdquoHausvaterldquo und Hausmutterldquo mit ihrer Verhei-ratung samt Lebensdaten und Angaben zu den Eltern Aufgefuumlhrt werden die am Ort geborenen Kinder mit ihren Lebensdaten sowie Heiratsangaben soweit moumlglich Bei Heirat eines Schwetzinger Juden und anschlieszligendem Familienleben andernorts bleibt es bisweilen bei diesem alleinigen Eintrag So fuumlr die Schwetzingerin Marie Henriette Trautmann die den Karlsruher und spaumlteren badischen Finanzminister Moritz Ellstaumltter 1864 in Heidelberg heiratete Insgesamt liegt fuumlr ortsgeschichtliche und familienkund- liche Fragestellungen eine wunderbare Quellengrundlage vor die zum Teil die muumlh- seligere Recherche in den einzelnen Standesregistern erspart Das Namenregister dieses Abschnitts im Familienbuch ist gemaumlszlig dem Original enthalten

Daruumlber hinaus ist dem Band insgesamt ein Personen- und Ortsregister beigegeben worden was den Anspruch des Buches unterstreicht und es gut nutzbar macht So etwas ist wie Forschende wissen keine Selbstverstaumlndlichkeit Die zahlreichen kleinen Abbil-dungen illustrieren einerseits Ausschnitte der Geschichte der juumldischen Gemeinde allge-mein zu ihren Mitgliedern schlieszliglich auch zu Uumlberlebenden sind andererseits immer wieder Faksimiles aus dem Mikrofilm Das Buch wird fuumlr die lokale Geschichts- und Er-innerungskultur sicherlich eine wertvolle Grundlage sein Dieser Funktion entspricht die einfache Aufmachung Fuumlr diesen Zweck ist es nicht notwendig und unrealistisch den-noch moumlchte der Rezensent seinen insgeheim aufgekommenen Wunsch aussprechen Eine bibliophile Gestaltung fuumlr Quelleneditionen dieser Art waumlre etwas Erfreuliches

Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer

Wolfram WETTE (Hg) in Verbindung mit der Stadt Waldkirch und der Ideenwerkstatt

Waldkirch in der NS-Zeit bdquoHier war doch nichtsldquondashWaldkirch im Nationalsozialis- mus Bremen Donat-Verlag 2019 528 S Abb geb EUR 2980 ISBN 978-3-943425-86-4

27 Autorinnen und Autoren gehen in annaumlhernd fuumlnfzig Beitraumlgen zahlreichen Aspek-ten und Themen der Geschichte der suumldbadischen Stadt Waldkirch im Nationalsozialis-mus beziehungsweise der oumlrtlichen Nachwirkung der NS-Zeit nach Viele der Beitraumlge sind biographisch ausgerichtet Die Aufsaumltze des umfangreichen und reich illustrierten Bandes sind ndash nach zwei einleitenden Beitraumlgen ndash in sechs groszlige Kapitel uumlbersichtlich gegliedert Das Werk ist durch ein Abkuumlrzungsverzeichnis und ein Personenregister vor-bildlich erschlossen

Herausgeber Wolfgang WETTE eroumlffnet den Band und ordnet die Bestrebungen auch die NS-Geschichte Waldkirchs mit einer umfangreichen Darstellung zu beleuchten ein Auch in dieser Stadt wurde die NS-Geschichte bis weit in die 1980er Jahre uumlberwiegend beschwiegen Das aumlnderte sich ndash wie andernorts ndash erst durch zaumlhes Ringen und ge-schichtspolitische Initiativen aus der Buumlrgerschaft Eine erste Broschuumlre aus dem Jahr 1989 dokumentiert die bis dato erfolgten Bemuumlhungen Ein weiterer Meilenstein duumlrften

802 Buchbesprechungen

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Seiten zu fuumlllen erklaumlrt sich vor allem aus den ungewoumlhnlich zahlreichen Besitzerwech-seln auf Helfenberg und aus den zeitweise dort bestehenden Ganerbschaften beziehungs-weise Kondominaten sowie aus immer wieder vorkommenden Konflikten um vielfaumlltige herrschaftliche Befugnisse und Gerechtsame woraus naturgemaumlszlig eine besonders dichte schriftliche Uumlberlieferung erwuchs deren Ermittlung und Auswertung freilich alles andere als muumlhelos gewesen sein duumlrfte Vermutlich im fruumlhen 13 Jahrhundert gegruumlndet findet Burg Helfenberg mit einem nach ihr benannten Urkundszeugen aus dem Umkreis der Markgrafen von Baden 1259 ihre erste Erwaumlhnung Auf die Bischoumlfe von Wuumlrzburg als Lehnsherren (1330) folgten spaumltestens in der ersten Haumllfte des 15 Jahrhunderts die Grafen spaumlter Herzoumlge von Wuumlrttemberg Die Abfolge der tatsaumlchlichen Besitzer des im Lauf der Zeit mit allerlei Eigenguumltern angereicherten Erblehens koumlnnte wechsel- voller kaum sein gleichwohl muss an dieser Stelle eine bloszlige Aufzaumlhlung der beteiligten Familien genuumlgen Sturmfeder von Heinriet von Weiler von Talheim Nothaft von Hohenberg Rauch von Winnenden von Wittstadt gen Hagenbach von Helmstatt von Hoheneck von Buchholz Pflaumer Boumlcklin von Boumlcklinsau Horneck von Hornberg von Reichau von Dachroumlden von Bouwinghausen und schlieszliglich von Gaisberg Seit der Mitte des 16 Jahrhunderts war das Rittergut Helfenberg beim Kanton Kocher der Schwaumlbischen Reichsritterschaft immatrikuliert Wie kompliziert die oumlrtlichen Besitz-verhaumlltnisse im Detail waren kommt 1844 zum Ausdruck als zwar am Lehen Helfenberg bdquonurldquo vier Ganerben beteiligt waren je zwei zu 412 und zu 212 am gemeinschaftlichen Allod hingegen sogar sieben Erben von denen einer allein 4272 zu beanspruchen hatte die anderen sechs aber jeweils nur 572 Zwei Jahre spaumlter als das Ganze zum Verkauf stand umfasste es neben den Wohn- und Oumlkonomiegebaumluden mit Kuumlchen- und Obstgar-ten 8 Morgen Gras- und Baumgaumlrten 55 Morgen Ackerfeld 12 Morgen Wiesen 9 Mor-gen Weinberge und 102 Morgen Laubwald

Die Perspektive der materialreichen Darstellung die zeitlich bis zur Zerstoumlrung Hel-fenbergs im April 1945 und zur Sanierung der Burgruine im Sommer 1981 reicht ist inhaltlich denkbar weit gefasst Im Fokus stehen mitnichten allein die adligen Besitzer die wo immer moumlglich auch biographische Wuumlrdigung finden ndash was mitunter weit uumlber das Bottwartal hinausfuumlhrt ndash vielmehr kommen ebenso die Baugeschichte die Wirt-schafts- und Sozialgeschichte sowie allfaumlllige Untertanenkonflikte zur Sprache daneben nicht zuletzt mancherlei kulturgeschichtliche Beobachtungen so beispielsweise wenn von einem adligen Goldmacher aus der Familie Gaisberg zu berichten ist Eine uumlppige Bebilderung sowohl mit Photographien als auch mit Bauzeichnungen Plaumlnen und Gra-phiken dazu hilfreiche Tabellen und Stammtafelauszuumlge dienen der Veranschaulichung und erleichtern das Verstaumlndnis komplexer Zusammenhaumlnge Ein ins Einzelne gehendes Inhaltsverzeichnis sowie Register der Orte und Personen erschlieszligen den reichen fuumlr unterschiedlichste Interessen ergiebigen Informationsgehalt

Kurt Andermann

Ernst Otto BRAumlUNCHE Frank ENGEHAUSEN Juumlrgen SCHUHLADEN-KRAumlMER (Hg) Aufbruumlche und Krisen Karlsruhe 1918ndash1933 (Veroumlffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs Bd 35) Bretten Info-Verlag 2020 519 S Abb EUR 2490 ISBN 978-3-96308-051-7

Der Umbruch der Jahre 191819 bedeutete zugleich einen Einschnitt in der Karlsruher Stadtgeschichte Anders als von manchen Beteiligten erwartet machte sich der Sturz der Monarchie und damit der Wegzug des Hofes kaum negativ fuumlr die Stadt bemerkbar

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Schwetzingen ndash Verein fuumlr regionale Zeitgeschichte eV einschlieszliglich den regionalen Gliederungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der Gewerkschaft verdi Entstan-den ist das Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzingen die zu ihrem Houmlhepunkt 1880 fast 120 Mitglieder zaumlhlte durch den Lehrer Simon Eichstetter (1865ndash1927) seit seinem Amtsantritt 1886 Nach dessen Tod fuumlhrte sein Nachfolger Lehrer und Kantor Henri Bloch bis zum erzwungenen Wegzug 1938 das Buch fort Der Band wurde nach dem gewaltsamen Ende der juumldischen Gemeinde wie uumlberall im Deutschen Reich fuumlr das Reichssippenamt (RSA) beschlagnahmt Unter den geraubten Gedaumlchtnissen der ver-schiedenen zerstoumlrten juumldischen Gemeinden befanden sich haumlufig gemeindeinterne Stan-desregister Friedhofslisten Uumlbersichten zu Funktionstraumlgern Insassen von Einrichtungen oder Mitgliederlisten religioumlser Vereinigungen und anderes Darunter bisweilen wie in Schwetzingen auch sogenannte Familienbuumlcher Fuumlr Schwetzingen ist das Familienbuch neben der Uumlbersicht zur Nachnamenannahme 18091810 die einzige Uumlberlieferung der Gemeinde in diesem Bestand Allein dadurch kommt ihm groszlige Bedeutung zu Die be-schlagnahmten Dokumente wurden waumlhrend des Zweiten Weltkriegs von der privaten Firma Gattermann fuumlr das RSA mikroverfilmt das Schwetzinger Familienbuch noch am 16 Maumlrz 1945 Waumlhrend das Original wie die geraubten Dokumente andernorts verloren ist liegt der Mikrofilm heute im Bestand J 386 des Hauptstaatsarchivs Stuttgart vor Die-ser Bestand zu den juumldischen Gemeinden in Wuumlrttemberg Baden und Hohenzollern kann inzwischen digitalisiert online eingesehen werden Zwar koumlnnen die in Baden seit 1809 vorgeschriebenen Standesregister der Konfessionen bis 1869 bevor in Baden seit 1870 kommunale Standesregister gefuumlhrt wurden inzwischen auch online eingesehen werden (Generallandesarchiv Karlsruhe Bestand 390 fuumlr Schwetzingen die laufenden Nummern 4625ndash4635 in Vereinigung mit den christlichen Standesregistern gefuumlhrt allerdings vom katholischen Pfarrer) doch geht das Familienbuch daruumlber hinaus und erleichtert familienkundliche Nachforschungen

Vor dem Editionsteil informiert Betz auf rund acht Seiten uumlber das Familienbuch zu den Verfassern und in komprimierter Form zur oumlrtlichen juumldischen Gemeinde bis zu deren Ende Auf zwei Seiten beschreibt er den Umgang mit den Uumlberlebenden und die Erinne-rungskultur am Ort Fast vier Seiten umfassen seine editorischen Hinweise was der auf-gewandten Muumlhe und Sorgfalt entspricht Die fast 650 Fuszlignoten im Quellenteil mit seinen rund 83 Seiten (das Original umfasst 115 Seiten) unterstreichen den wissenschaftlichen Anspruch stoumlren den Lesefluss fuumlr daran weniger Interessierte nicht

Das Familienbuch reicht mit seinen elf Abschnitten uumlber den angegebenen Zweck hinaus Im ersten Abschnitt behandelt Eichstetter kurz die Geschichte des Orts und seiner Juden Umfangreich ist der zweite zur bdquoSynagogeldquo beziehungsweise dass die arme Gemeinde trotz Bemuumlhungen nie einen eigenen Bau errichten konnte Seit 1897 war es ihnen durch Entgegenkommen des Hofamts moumlglich Raumlumlichkeiten im Schwetzinger Schloss zu belegen Deutlich wird in den Ausfuumlhrungen samt wiedergegebenen Doku-menten dabei auch die Verbundenheit von Groszligherzog Friedrich I und Groszligherzogin Luise zum Judentum insgesamt Auch zum eigenen Friedhof seit 1892 finden sich detaillierte Informationen einschlieszliglich Leichen- und Begraumlbnisordnung Im vierten und fuumlnften Abschnitt sind die Lehrer sowie Gemeindevorstaumlnde und ihr Wirken beschrie-ben Ein kurzer Abschnitt geht allgemein auf die Annahme erblicher Nachnamen ein Ebenso kurz weist der siebte Abschnitt uumlber die Standesbuumlcher auf die gesetzliche Grund-lage hin und zaumlhlt die Eintraumlge Diese hatte fuumlr die Schwetzinger Gemeinde der katholi-sche Pfarrer zu erledigen Der neunte Abschnitt behandelt die juumldischen Vereine mitsamt

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da diese ja weiterhin Hauptstadt des Landes Baden der Weimarer Republik blieb Weit staumlrker fiel dagegen der Verlust des vormaligen Reichslandes Elsass-Lothringen an Frank-reich ins Gewicht Nunmehr fehlte insbesondere fuumlr die Karlsruher Maschinenbauer ein Hinterland als Absatzmarkt was entsprechend negative wirtschaftliche Folgen hatte Kri-senhaft verliefen vor allem die ersten Nachkriegsjahre mit der Inflation als negativem Houmlhepunkt Gerade in diesen Jahren kam es auch wiederholt zu Versorgungsschwierig-keiten Nach einer kurzen Bluumltephase Mitte der 1920er Jahre hatte ab 1929 die Weltwirt-schaftskrise Karlsruhe fest im Griff In den 1920er Jahren wandelte sich auch die Struktur der Stadt War im Kaiserreich Karlsruhe vor allem Beamtenstadt mit zudem einem star-ken Maschinenbau so dominierten jetzt der Handel und das Dienstleistungsgewerbe

In gleicher Weise veraumlnderten sich auch die politischen Mehrheiten Auf die Dominanz der Nationalliberalen im Kaiserreich folgte in den Jahren bis 1933 die Zusammenarbeit der Parteien der Weimarer Koalition an der Stadtspitze Unter dem Eindruck der Welt-wirtschaftskrise stiegen jedoch ab 1930 die Nationalsozialisten zur staumlrksten politischen Kraft in der badischen Landeshauptstadt auf

Die wesentlichen Entwicklungen der Weimarer Zeit die hier nur angerissen werden koumlnnen hat Ernst Otto Braumlunche bereits 1998 in seiner Karlsruher Stadtgeschichte nach-gezeichnet (Ernst Otto Braumlunche Susanne Asche u a Karlsruhe ndash die Stadtgeschichte Karlsruhe 1998 S 357 ff) Inzwischen sind jedoch wie BRAumlUNCHE und Frank ENGE- HAUSEN in ihrer Einleitung (S 11ndash15) aufzeigen eine Reihe neuer Quellen ins Stadtarchiv gelangt bzw wurden dort aufbereitet Hierzu gehoumlren u a die Personalakten der Spit-zenbeamten der Karlsruher Kommunalverwaltung waumlhrend der Weimarer Republik der Nachlass des Reichsbannerfuumlhrers Erwin Sammet (1887ndash1973) oder die Sammlung Boess in der sich wichtige Zeugnisse eines fruumlhen Antisemitismus und zur Geschichte der Parteien in Karlsruhe befinden In gleicher Weise sind die Beschlussvorlagen des Buumlrgerausschusses inzwischen archivarisch erschlossen im Zusammenspiel mit der Badischen Landesbibliothek wurden schlieszliglich die Karlsruher Zeitungen digitalisiert Mit Hilfe dieser erweiterten Quellengrundlage legen die insgesamt 15 Beitraumlge drei Schwerpunkte

Dabei geht es erstens um die Taumltigkeit der Kommunalverwaltung und deren Ausbau zu einer modernen Leistungsverwaltung Unter anderem legt Braumlunche einen enzyklo-paumldischen Beitrag (S 197ndash245) vor in dessen Rahmen er die Karlsruher Stadtoberhaumlup-ter und Buumlrgermeister sowie das leitende staumldtische Personal vorstellt genauso wie er einen Blick auf die einzelnen Leistungszweige der Karlsruher Stadtverwaltung wirft Zu den schwerwiegendsten Problemen mit denen sich die Karlsruher Kommunalverwaltung auseinanderzusetzen hatte gehoumlrte die draumlngende Wohnungsnot Juumlrgen SCHUHLADEN-KRAumlMER zeigt auf (S 277ndash323) wie die Stadtverwaltung in den ersten Jahren nach dem Krieg versuchte mit Hilfe von Zwangsbewirtschaftungsmaszlignahmen der Wohnungsnot Herr zu werden Ab 1923 gelang es jedoch der Stadt Karlsruhe durch die Beteiligung bzw Kooperation an bzw mit Baugenossenschaften den Wohnungsbau erfolgreich voranzutreiben Harald RINGLER beschaumlftigt sich schlieszliglich in seinen Ausfuumlhrungen mit der staumldtebaulichen Entwicklung Karlsruhes (S 247ndash275) In diesem Zusammenhang stellt er das Strandbad Rappenwoumlrt und die dortige Vogelwarte als Beispiel fuumlr Bauen im Stil des Bauhauses vor genauso wie er auf Probleme der Stadtentwicklung waumlhrend der Weimarer Zeit eingeht

Der zweite Schwerpunkt des Bandes ist der politischen Entwicklung in Karlsruhe ge-widmet Hier legt Ernst Otto Braumlunche wiederum einen Uumlberblicksaufsatz zu Parteien in

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

ausbesserungswerke an die zu einem wichtigen Arbeitgeber in der Stadt werden Die Bedeutung von Bahnanschluumlssen an Privatgelaumlnde zeigt Maurer in seinem zweiten Bei-trag in welchem er mit Pfaudler (Biertanks) Bassermann (Konserven) sowie Neuhaus (Tabak) beispielhaft drei wichtige Industrieunternehmen vorstellt Die Ansiedlung der amerikanischen Firma Pfaudler 1907 gelang nur weil die Stadt bereit war ein Bahngleis zum Firmengelaumlnde legen zu lassen

Unter dem Oberthema bdquoKunst- und Kulturgeschichteldquo beschreibt Hans-Erhard LESSING die Bedeutung Schwetzingens fuumlr die Erfindung des Fahrrads Hier lernte Karl Drais als Forstpraktikant den aus England importierten Gartenphaeton von Kurfuumlrst Carl Theodor kennen der ihm Inspiration bot fuumlr seine spaumltere wegweisende Erfindung Und schlieszlig-lich darf auch nicht unerwaumlhnt bleiben dass die erste oumlffentliche Ausfahrt von Drais mit dem Fahrrad zwar in Mannheim begann aber auf dem Gebiet des Schwetzinger Bezirks wo seinerzeit das Relaishaus stand endete Kunst und Gedenken im oumlffentlichen Raum sind Thema des Beitrags von Barbara GILSDORF Mit zahlreichen Bildern zeigt sie auf wie reich Schwetzingen an Denkmalen und oumlffentlicher Kunst ist ndash angefangen von spaumlt-mittelalterlichen Wegkreuzen uumlber Kunstwerke aus der Reihe bdquoim Wege stehendldquo bis zu Denkmalen der modernen Erinnerungskultur

Im abschlieszligenden Oberthema bdquoTypisch Schwetzingenldquo finden sich weitere Beitraumlge zu historischen bis in die Gegenwart reichenden Spezifika der Stadt Dies gilt fuumlr die geographische Lage am Hardtwald (Karl-Heinz SOumlHNER) der eine naturraumlumliche Be-sonderheit wie auch ein wirtschaftliches Fundament des Ortes war ebenso aber fuumlr die Bedeutung des Spargelanbaus der heute neben dem Schloss sicherlich der wichtigste Botschafter der Stadt ist (Elfriede FACKEL-KRETZ-KELLER) Juumlrgen GRULER beschreibt die Entwicklung der Schwetzinger Zeitung (seit 1880) waumlhrend die Schwetzinger Fest-spiele im Mittelpunkt des Beitrags von Peter STIEBER stehen Die Vorstellung der Part-nerstaumldte Schwetzingens (FredericksburgUSA Karlshuld-NeuschwetzingenBayern LuneacutevilleFrankreich PaacutepaUngarn SchrobenhausenBayern SpoletoItalien Wachen-heim a d WeinstraszligePfalz) rundet das Oberthema wie auch den Band ab

Die beiden Baumlnde sind reich bebildert was zum Lesen oder einfach auch nur zum Schmoumlkern einlaumldt Ein Register haumltte dem Doppelband sicher gutgetan ebenfalls eine kurze uumlberblicksartige Vorstellung der Autorinnen und Autoren Dennoch ist es impo-nierend zu sehen was Schwetzingen die eigene Geschichte wert ist und dass es den Be-arbeitern gelungen ist rechtzeitig zum Jubilaumlum zu liefern Hierzu kann nur gratuliert werden Es waumlre dennoch wuumlnschenswert die oben angesprochenen teilweise doch sehr umfangreichen inhaltlichen Luumlcken zu fuumlllen Daher sei dem Herausgeber vorgeschlagen den Jubilaumlumsruumlckenwind und die sehr positive oumlffentliche Resonanz auf die Buumlcher zu nutzen und bdquoSchwetzingen ndash Geschichte(n) einer Stadtldquo mit einem weiteren Band fort-zusetzen Eine positiv gestimmte Leserschaft waumlre garantiert

Harald Stockert

Simon EICHSTETTER Geschichte und Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzin-gen (17 Jhndash1927) ndash aktualisiert von HenriHeinrich BLOCH (1928ndash1938) ndash Transkrip-tion und Einfuumlhrung Frank-Uwe BETZ Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2017 110 S Abb Brosch EUR 1490 ISBN 978-3-95505-020-7

In dem kompakten Baumlndchen liegt eine bemerkenswerte Quellenedition vor in der umfangreiche Arbeit steckt Verantwortlich zeichnet der mit der regionalen Geschichts- und Erinnerungskultur vertraute Frank-Uwe Betz mit dem Arbeitskreis Freundliches

800 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 800

Karlsruhe vor (S 17ndash67) waumlhrend Leonie RICHTER einen Blick auf die Biographien der bdquoStadtraumltinnen der Weimarer Jahreldquo wirft (S 181ndash196)

Viktor FICHTENAU und Elias HANSEN beschaumlftigen sich in ihren Aufsaumltzen mit den Geg-nern der Weimarer Demokratie d h mit der Karlsruher DNVP (S 141ndash161) bzw mit der bdquopolitische(n) Gewalt der NSDAP in Karlsruheldquo (S 163ndash180) Demgegenuumlber analysiert Bernd BRAUN wie seitens der badischen Staatsregierung und der Parteien der Weimarer Koalition im Rahmen der Verfassungsfeiern fuumlr ein republikanisch-demokratisches Be-wusstsein geworben wurde (S 117ndash140) Frank Engehausen zeigt auf wie die badische Regierung mit Hilfe von Aufmarsch- und Uniformverboten sowie auf der Grundlage der Bestimmungen des Straf- und Beamtenrechts versucht hat dem Aufstieg der National-sozialisten entgegenzutreten (S 89ndash115)

Der dritte Schwerpunkt des Bandes widmet sich dem Bereich Kunst und Kultur wobei insbesondere der Beitrag von Sven GAREIS zum Badischen Landestheater zu uumlberzeugen weiszlig (S 351ndash368) Das Hoftheater seit 1918 Landestheater hatte seine groszlige Bluumlte in der zweiten Haumllfte des 19 Jahrhunderts erlebt Doch bereits vor dem Ersten Weltkrieg war es finanziell in die Krise gerutscht Der Hof konnte das Defizit des Theaters durch seine Zuschuumlsse nicht mehr auffangen so dass neben dem Staat seit 1916 die Stadt Karls-ruhe einsprang Vor allem in den ersten Jahren der Weimarer Republik hatten die finan-ziellen Probleme in Verbindung mit den allgemeinen Versorgungsproblemen schwerwie- gende Folgen Im Winter 191819 musste das Landestheater aufgrund Kohlemangels seine Vorstellungen zeitweilig einstellen Waumlhrend der gesamten Weimarer Zeit so Gareis erwirtschaftete das Theater massive Defizite die teilweise die Millionengrenze uumlber-schritten Die Kosten wurden letztlich zwischen Staat und Stadt geteilt wobei die Stadt zunaumlchst die Haumllfte ab 1930 schlieszliglich 60 uumlbernahm Auch personelle Querelen in der ersten Haumllfte der 1920er Jahre erschwerten die Situation des Theaters

Trotz dieser Schwierigkeiten kommt Gareis insgesamt zu einer positiven Bewertung der Entwicklung des Theaters in den Jahren 1919ndash1933 So bildete die Schaffung einer Theaterakademie in Karlsruhe einen Neuansatz Als die Nachwuchskuumlnstler erstmals 1932 mit einem eigenen Programm an die Oumlffentlichkeit traten traf dies auf ein positives Echo beim Publikum Uumlberhaupt hatte das Landestheater bei der Karlsruher Bevoumllkerung einen guten Ruumlckhalt Die Teiluumlbernahme der Kosten fuumlr die Kulturinstitution durch die Stadt und auch das damit verbundene Defizit waren durchaus akzeptiert Das Programm des Theaters charakterisiert Gareis als bdquoohne groszlige Houmlhepunkte und Experimente aber dennoch mit Bemuumlhung um ein umfangreiches Angebotldquo (S 359) in jedem Fall wurde es vom Publikum anerkannt

Schlieszliglich beschritt das Theater neue Wege in der Vermarktung Hierzu gehoumlrten Gastkonzerte in Baden-Baden und Pforzheim aber auch die Einrichtung einer Buslinie nach Philippsburg speziell fuumlr Theaterbesuche Daneben schloss das Theater einen Ver-trag mit dem Suumlddeutschen Rundfunk zur Uumlbertragung von Buumlhnendarbietungen aber auch zur Werbung im Suumlddeutschen Rundfunk Im Rahmen der seit 1920 jeweils im Sep-tember veranstalteten bdquoBadischen Wochenldquo bildeten die Vorstellungen des Landestheaters Houmlhepunkte Hier wurden nunmehr vor allem Werke von Schriftstellern und Kompo- nisten aus Baden gespielt

Durch die Kooperation mit dem Verein Volksbuumlhne eV gelang es dem Landestheater schlieszliglich breitere Bevoumllkerungskreise zu erreichen

Die insgesamt positive Entwicklung des Karlsruher Landestheaters wurde freilich durch die NS-Machtuumlbernahme abgebrochen Schon am Beginn der 1930er Jahre hatte

793Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Andreas HENSEN zu den im 18 Jahrhundert durchgefuumlhrten Ausgrabungen im Schloss-garten mit den oben genannten Funden zur Roumlmer- und Merowingerzeit die das Selbst-bild von Kurfuumlrst und Hof als Traditionstraumlger fruumlherer Kulturen unterstuumltzten Kai BUDDE weist in seinem Beitrag schlieszliglich auf technische Innovationen am Schloss hin dessen Wasserwerk dem Versailler Vorbild folgte sowie auf die Bedeutung der Stern-warte als astronomisch-meteorologischem Forschungsort

Rein quantitativ dominiert im zweiten Band das Oberthema bdquoPolitikgeschichteldquo Joa-chim Kresin gibt einen guten Uumlberblick zur Entwicklung Schwetzingens im 19 Jahrhun-dert das 1803 als badische Amtsstadt eine neue Funktion erhaumllt und 1833 die Stadtrechte verliehen bekommt Parallel dazu steigt die wirtschaftliche Bedeutung des Ortes dank der Intensivierung der Sonderkulturen Hopfen Tabak und auch Spargel Frank ENGE-HAUSEN widmet sich der politischen Bedeutung Schwetzingens fuumlr das Groszligherzogtum Waumlhrend der Wahlkreis bis in die 1840er Jahre mit dem Abgeordneten Itzstein gewisser-maszligen an der Spitze des Fortschritts und der liberalen Opposition stand gewannen nach einer umstrittenen Wahl 1842 die konservativen Kraumlfte die Oberhand und behielten sie uumlber die folgenden Jahrzehnte Dennoch blieb auch Schwetzingen von der Revolution der Jahre 184849 nicht unberuumlhrt (Wilhelm KREUTZ) gab es hier doch mit dem Arzt Heinrich Tiedemann einen Hecker-Sympathisanten an prominenter Stelle Eine Konse-quenz der Niederschlagung der Revolution war auch hier eine verstaumlrkte Auswanderung Der Wegzug war freilich kein neues Phaumlnomen in der Ortsgeschichte wie Roland PAUL uumlberblicksartig herausarbeitet und unter anderem aumlltere Schwetzinger Spuren in den USA Russland Juumltland sowie in Bayern vorstellt Es folgen Beitraumlge uumlber die Zeit Schwetzin-gens in den beiden Weltkriegen (Karl-Heinz SOumlHNER) der auf deren tiefe Einschnitte fuumlr den Ort hinweist sowie ndash ausgesprochen militaumlrtechnokratisch ndash zur Geschichte der 1938 eingerichteten Panzerkaserne (Karlheinz MUumlNCH) Etwas aus dem Rahmen faumlllt der Bei-trag von Cord ARENDES zur Geschichte Schwetzingens in der Zeit des Nationalsozialis-mus Gekonnt beschreibt hier der Autor moderne Herangehensweisen und methodische Fragestellungen zur Erforschung der NS-Zeit auf lokaler Basis so die Bedeutung von Sprache von Bildern wie auch deren notwendige Kontextualisierung Dies zeichnet er anhand der Inszenierung der nationalsozialistischen bdquoVolksgemeinschaftldquo sowie des Schwetzinger Spargelfestes beispielhaft nach Diese Schlaglichter sind ausgesprochen erhellend allerdings waumlre in einem Werk wie dem vorliegenden ein eher faktenorientier-ter Uumlberblick zur NS-Zeit aus Sicht des Rezensenten wuumlnschenswert gewesen Wie ver-gleichsweise gut das Schicksal von Zwangsarbeitern in Schwetzingen erforscht ist zeigt der Beitrag von Irene WACHTEL Gestuumltzt auf eine Datenbank mit uumlber 1500 Namen (die nach Einschaumltzung der Autorin nur die bdquoSpitze des Eisbergsldquo darstellen Band 2 S 183) gelingt es ihr dieses Thema nicht nur quantitativ zu fassen sondern auch den Blick auf Zwangsarbeiter einsetzende Betriebe Lebensbedingungen vor Ort und nicht zuletzt auf Einzelschicksale freizugeben Schwetzingen zeigt sich bei der Aufarbeitung dieses The-mas als ausgesprochen vorbildlich fuumlr eine Stadt dieser Groumlszlige Die Guumlte und Tiefe dieses Beitrags kontrastiert etwas irritierend mit dem uumlber Heimatvertriebene in Schwetzingen (Peter KAISER) der nicht einmal zwei Seiten einnimmt

Das Oberthema bdquoWirtschaftsgeschichteldquo wird im Wesentlichen von Lars Maurer bearbeitet Mit der Anbindung Schwetzingens an das Eisenbahn- und Straszligenbahnnetz (Rheinbahn 1870 Strecke HeidelbergndashSpeyer 1873 Strecke SchwetzingenndashFriedrichs-feld 1880) identifiziert er den maszliggeblichen Beschleuniger fuumlr die Industrialisierung der Stadt Am Knotenpunkt Schwetzingen siedeln sich zudem ab 1913 die Eisenbahn-

799Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

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das NS-Organ bdquoDer Fuumlhrerldquo einen Skandal am Landestheater (ein Ballettmeister hatte ein Verhaumlltnis mit zwei Taumlnzerinnen) weidlich ausgeweitet Unmittelbar nach der NS-Machtuumlbernahme in Karlsruhe entlieszlig der kommissarische NS-Kultusminister Otto Wacker (1899ndash1940) den Intendanten sowie alle juumldischen Schauspieler denen pauschal der Bezug uumlberhoumlhter Gehaumllter vorgeworfen wurde

Ebenfalls bereits im April 1933 wurde durch Wacker im Zusammenspiel mit dem neuen Direktor der Kunsthalle Hans-Adolf Buumlhler (1877ndash1951) die sogenannte bdquoSchand-ausstellungldquo bdquoRegierungskunst 1918ndash1933ldquo inszeniert die nach Uumlberzeugung Engehau-sens eine dreifache Stoszligrichtung hatte (vgl die Ausfuumlhrungen Engehausens S 399ndash411) So sollte den Weimarer Regierungen vorgeworfen werden fuumlr schlechte Kunst Steuer-mittel verschwendet zu haben Auch sollten die personellen bdquoSaumluberungenldquo im Kunst- betrieb begruumlndet werden genauso wie mittels der Ausstellung die Abwendung der staat-lichen Kunstfoumlrderung von der Unterstuumltzung der Moderne eingelaumlutet werden sollte

Gleich zu Beginn seiner Amtszeit setzte Wacker die Leiterin der Kunsthalle Lilli Fischel (1891ndash1978) ab und ersetzte sie durch Buumlhler der bereits im bdquoKampfbund fuumlr deutsche Kulturldquo gewirkt hatte Fischel wurde zur Last gelegt zeitgenoumlssische Kuumlnstler aus Baden nicht protegiert zu haben zudem missfiel Wacker dass Fischel moderne insbesondere impressionistische Kunst bei ihren Erwerbungen bevorzugt hatte Fuumlr Wacker war Kunstpolitik in der Folge bdquoChefsacheldquo (S 401) Durch Buumlhler lieszlig er sich bereits im Maumlrz durch die bislang gezeigte Ausstellung zu Emil Bizer fuumlhren wobei Buumlhler die Arbeiten Bizers als bdquoBelanglosigkeitldquo (S 402) abqualifiziert und polemisch davon sprach Kunstbolschewismus werde zukuumlnftig beseitigt Die Ausfuumlhrungen Wackers und Buumlhlers flankierte bdquoDer Fuumlhrerldquo durch Polemiken gegen die Entwicklung der Kunsthalle seit 1921

Ab 8 April 1933 organisierte Buumlhler dann auch eine Zusammenstellung von als bolschewistisch und krankhaft diffamierter Bilder die von den Weimarer Regierungen angekauft wurden und in deren Rahmen u a 18 Bilder und 79 Zeichnungen von Max Slevogt Karl Hofer Emil Bizer Hans Purrmann Edvard Munch Otto Dix und Paul Nolde gezeigt wurden Um die Weimarer Regierungen zu diskreditieren wurde der Preis und der Name des jeweils fuumlr die Erwerbung verantwortlichen Ministers aufgefuumlhrt waumlh-rend gleichzeitig der bdquoFuumlhrerldquo wie auch die inzwischen gleichgeschaltete Karlsruher Zei-tung kraumlftig gegen die gezeigten Kunstwerke polemisierten Eine Kritik der Ausstellung musste schon allein deshalb ausfallen da wie Engehausen aufzeigt die Blaumltter von Zen-trum und Sozialdemokratie zum Zeitpunkt der Ausstellungseroumlffnung verboten waren

Fuumlr Wacker und Buumlhler als Initiatoren der Ausstellung hatte diese unterschiedliche Folgen Wacker konnte sich innerhalb des NS-Systems profilieren Durch offenbar hohe Besucherzahlen wie auch angesichts aumlhnlicher Ausstellungen in anderen Mittelstaaten praumlgte Wacker 1933 die NS-Kunstpolitik gleichsam mit was ihm die endguumlltige Bestal-lung als Kultusminister und uumlbergangsweise auch die Leitung des Justizministeriums einbrachte Buumlhler konnte sich dagegen nicht dauerhaft als Leiter der Kunsthalle halten Dies hing u a damit zusammen dass er im Rahmen der bdquoSchandausstellungldquo auch Werke von Alexander Kanoldt (1881ndash1939) gezeigt hatte Dieser war jedoch seit 1932 NSDAP-Mitglied und war im Fruumlhjahr 1933 zum Direktor der Berliner Hochschule der Bildenden Kuumlnste aufgestiegen Selbstverstaumlndlich beklagte sich Kanoldt beim badischen Kultus-ministerium uumlber Buumlhler dem er auch mit Blick auf andere in der bdquoSchandausstellungldquo gezeigten Kunstwerke fehlende Sachkompetenz nachwies 1934 musste Buumlhler seinen Posten an der Spitze der Kunsthalle raumlumen nachdem er ein Gemaumllde von Munch das

794 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 794

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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ebenfalls in der bdquoSchandausstellungldquo praumlsentiert worden war veraumluszligert hatte und es hieruumlber zu oumlffentlicher Empoumlrung gekommen war

Die Autoren legen einen lesenswerten Sammelband zu bislang noch nicht in diesem Maszlige gewuumlrdigten Aspekten der Karlsruher Stadtgeschichte waumlhrend der Weimarer Jahre vor zugleich gibt die abschlieszligende Auswahlbibliographie (S 484ndash491) Hinweise fuumlr eine weitere wissenschaftliche Vertiefung

Michael Kitzing

Peter KALCHTHALER Robert NEISEN Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Nationalsozia-lismus in Freiburg Begleitbuch zur Ausstellung des Augustinermuseums in Koopera-tion mit dem Stadtarchiv Petersberg Imhof 2016 286 S Abb Brosch EUR 2480 ISBN 978-3-7319-0362-8

Peter KALCHTHALER Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Freiburg im Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Badischen Heimat Bd 12) Freiburg Rombach 2017 191 S Abb Brosch EUR 26ndash ISBN 978-3-7930-5163-3

Beide vorzustellende Publikationen stehen im Zusammenhang mit der groszligen stadt-geschichtlichen Ausstellung die das Freiburger Augustinermuseum in Zusammenarbeit mit dem Freiburger Stadtarchiv von November 2016 bis zum Oktober 2017 gezeigt hat Dabei bildet gerade der als Begleitbuch konzipierte Ausstellungskatalog bdquoNationalsozia-lismus in Freiburgldquo eine sinnvolle Ergaumlnzung zur Ausstellung die wie heutzutage uumlblich vor allem zahlreiche Objekte und wenig erlaumluternden Text praumlsentierte Nicht immer so die vielleicht antiquierte Auffassung des Rezensenten (und Ausstellungsbesuchers) erschlieszligen sich daraus fuumlr den durchschnittlich informierten Betrachter hinreichend die zeithistorischen Zusammenhaumlnge Umso erfreulicher ist es dass der von Kalchthaler Neisen und Stockhausen herausgegebene Band opulent mit Abbildungen ausgestattet hier Abhilfe schafft Bevor bdquoausgewaumlhlte Objekte Themen und Personenldquo die in der Ausstellung praumlsentiert wurden naumlher erlaumlutert werden sind fuumlnf kuumlrzere Aufsaumltze vorangestellt Heiko HAUMANN skizziert die Geschichte Freiburgs in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus Ulrich HERBERT wiederum ordnet die lokalhisto-rischen Ereignisse insofern ein als dass sein Beitrag einen Blick auf bdquodie deutsche Gesellschaft im sbquoDritten Reichlsquoldquo wirft Sinnvoll ist auch der Verweis auf den Versailler Friedensvertrag und das damit verbundene sbquonationale Traumalsquo Damit verbunden so Joumlrn LEONHARD waren von Beginn an bdquodie Anhaumlnger der jungen Republik in eine defensive Position gedraumlngtldquo (S 33) was den steten Aufstieg der radikalen Rechten beguumlnstigte Die beiden abschlieszligenden Aufsaumltze widmen sich wieder Freiburger Per-spektiven Bernd MARTIN untersucht das Milieu der Freiburger Intelligenz mit ihren besonderen politischen und konfessionellen Grenzziehungen Unter den Bedingungen einer bdquoselbst gleichgeschalteten katholischen Kirche einer radikal umgestalteten Uni-versitaumltldquo (S 37) und dem Machtgewinn der sogenannten sbquoDeutschen Christenlsquo innerhalb des Protestantismus konnte sich mit dem bdquoFreiburger Kreisldquo eine kleine Gruppe evan-gelischer Universitaumltsprofessoren bilden die sich schlieszliglich dem buumlrgerlichen Wider-stand gegen den Nationalsozialismus anzuschlieszligen suchte Heinrich SCHWENDEMANN wiederum gibt einen knappen Uumlberblick uumlber den Verlauf der Entrechtung Diskriminie-rung und Verfolgung (auch) der Freiburger Juumldinnen und Juden der schlieszliglich in der Deportation der in der Stadt Verbliebenen in das franzoumlsische Camp de Gurs und von dort meist in das Vernichtungslager Auschwitz gipfelte In den nachfolgenden kurzen

795Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 795

fessionsgeschichte und hier vor allem der im 18 Jahrhundert erfolgte Bau der Gottes-haumluser die Schwetzingen seine heute noch praumlgende Silhouette verleihen werden von Otto THILEMANN (Katholiken) bzw Johanna BAUMANN (Protestanten) behandelt Otto GLOumlCKLER beschaumlftigt sich mit der Geschichte der Juden dabei sehr stark fokussierend auf die Ausgrenzungs- und Verfolgungsgeschichte im 20 Jahrhundert und anhand von Einzelschicksalen Gleich mehrere Beitraumlge sind der Geschichte des Schlosses gewidmet Peter KNOCH und Robert ERB stellen in ihrem etwas unkonventionell gegliederten den-noch bemerkenswerten Beitrag aktuelle archaumlologische Forschungsergebnisse zur Bau-geschichte vor durch die manche bislang nur archivalisch eher pauschal begruumlndete Datierung mittels dendrochronologischer Untersuchungen des Bauholzes praumlzisiert und teilweise auch korrigiert werden konnte Demnach wurde etwa mit den Bauten um den Schlosshof (170910 statt 1711) wie auch des Theaters (175051 statt 1752) fruumlher begon-nen als bisher angenommen Stadtbaugeschichte beschreibt Joachim Kresin mit seinen Ausfuumlhrungen uumlber die Entstehung der Schwetzinger Neustadt um den Schlossplatz ab 1748 der dem Ort ein voumlllig neues Gepraumlge gab und an fruumlhneuzeitliche Planstaumldte erinnert Spannend aber nicht weiter ausgefuumlhrt erscheint in diesem Zusammenhang die Frage warum Schwetzingen in jener Zeit nicht die Stadtrechte verliehen bekam und lediglich den Rechtstatus eines weniger privilegierten Marktfleckens erhielt Untrennbar mit dem Schloss verbunden ist der zugehoumlrige Garten dessen Entwicklung die uumlber das Jahr 1778 hinausreicht detailliert und kenntnisreich von Uta SCHMITT beschrieben wird (auch wenn man nicht ihre Einschaumltzung teilen mag dass Schwetzingen von 1720 bis 1731 alleinige Residenz der Kurpfalz gewesen ist S 124)

Das zweite Oberthema gilt der fruumlhen Besiedlung und Entwicklung von Schwetzingen Hier wird gezeigt dass die Geschichte des Ortes eben nicht mit der Ersterwaumlhnung im Lorscher Kodex beginnt Hiervon zeugen diverse archaumlologische Funde etwa aus der Jungsteinzeit (vgl Beitrag von Claudia GERLING zur Bandkeramikkultur) wie auch aus der Roumlmer- wie der Merowingerzeit Im 6 Jahrhundert und damit mehr als 200 Jahre vor der Lorscher Erwaumlhnung gab es demnach einen fraumlnkischen Militaumlrstuumltzpunkt auf der heutigen Gemeindegemarkung (Ursula KOCH) Das Dokument das den Anlass fuumlr das Jubilaumlum wie auch fuumlr den vorliegenden Band bot wird von Hermann SCHEFERS beschrie-ben und analysiert Demzufolge war Agana die dem Kloster Lorsch ihren Grundbesitz in bdquosuezzingenldquo schenkte vermutlich keine Ortsansaumlssige und damit keine Schwetzin-gerin was freilich 2016 die Feiernden nicht davon abhielt sich als ihre Nachfahren zu sehen Der mit uumlber fuumlnfzig Seiten bei weitem umfangreichste Beitrag entstammt der Feder von Stefan BAUST der die Entwicklung Schwetzingens im Mittelalter sehr quel-lennah und ausgesprochen dicht beschreibt Hier zeigt sich das sehr breite Spektrum in der fachlichen Tiefe der Beitraumlge waumlhrend hier annaumlhend 300 Fuszlignoten aufgelistet sind finden sich in anderen Faumlllen nur knapp ein Dutzend

bdquoKurpfaumllzischer Hof und Residenzstadtldquo lautet das letzte Oberthema des ersten Bandes Stefan Moumlrz gilt landlaumlufig als der Experte zur Carl-Theodor-Zeit in der Kurpfalz und wird diesem Ruf auch in seinem Beitrag zur houmlfischen Welt bdquozwischen Absolutismus und Aufklaumlrungldquo gerecht Schwetzingen war im Sommer das beliebte Refugium von Kur-fuumlrst und Hofstaat und damit auch ein kleines Abbild des Mannheimer Hofes der als ein kulturelles und wissenschaftliches Zentrum von nationalem Rang gelten konnte Dies zeigte sich etwa im 1752 erbauten Schwetzinger Rokokotheater das einen eindrucks- vollen Spielplan aufweisen konnte und zum Anziehungspunkt einer ganzen Kolonie von Musikanten avancierte (Baumlrbel PELKER) Spannend zu lesen sind die Ausfuumlhrungen von

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31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 798

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Beitraumlgen wird nicht nur die Deportation der Freiburger Juumldinnen und Juden nach Gurs nochmals eigens aufgegriffen es werden zahlreiche recht unterschiedliche Themen behandelt wie etwa die Verfolgung der Freiburger Homosexuellen oder die 1938 erfolgte Zwangseingemeindung St Georgens Aus verschiedenen Perspektiven werden Vorge-schichte Aufstieg und die Machtdurchsetzung des Nationalsozialismus gezeigt sowie zahlreiche Facetten von Inszenierung und Heilsversprechen auf der einen Seite Diskri-minierung Herabwuumlrdigung und Verfolgung auf der anderen Seite beleuchtet Sehr zahl-reich finden sich auch Einzelbiographien Vordenker Taumlter und Mitlaumlufer Verfolgte Beschaumldigte Opfer ndash im Einzelnen freilich nicht immer zweifelsfrei und unumstritten zuzuordnen

Der Band bdquoNationalsozialismus in Freiburgldquo ist ebenfalls im Kontext der Ausstellung entstanden und versammelt einige der Beitraumlge die im Rahmen zweier Vortragreihen praumlsentiert wurden Sie beschreiben nicht nur den beziehungsweise die bdquoWeg(e) zu einer Ausstellungldquo wie es im Titel des einfuumlhrenden Beitrages von Robert Neisen heiszligt son-dern ergaumlnzen und vertiefen wichtige Themen und Fragestellungen Heiko HAUMANN widmet sich ausfuumlhrlich der Verfolgung der Sinti und geht auf einzelne Verfolgungs-schicksale Ortsansaumlssiger ein Auch in Freiburg und Umgebung wurden Sinti-Familien bdquorassischldquo erfasst einzelne Maumlnner zwangssterilisiert und die Familien schlieszliglich in die Vernichtungslager verschleppt Zu Recht verweist der Autor auf die beschaumlmende Tat- sache des Weiterlebens antiziganistischer Vorurteile bis in die Nachkriegszeit so etwa durch die bis in die fruumlhen 1960er Jahre erfolgten Bemuumlhungen der Freiburger Stadt- verwaltung den Zuzug von bdquoZigeunernldquo nach Freiburg zu unterbinden Weitere Studien befassen sich mit der bdquoFaszlignacht in Freiburg zwischen Volksbrauch und sbquoVolkstumlsquoldquo (Peter KALCHTHALER) der Baupolitik in der NS-Zeit und ihren Auswirkungen auf die staumldtebauliche Entwicklung (Heinrich SCHWENDEMANN) mit dem Volkskundler Johannes Kuumlnzig (Werner MEZGER) und dem Augustinermuseum im Nationalsozialismus (Tilmann VON STOCKHAUSEN) Karl-Heinz LEVEN widmet sich der Darstellung der Rolle der Me-dizinischen Fakultaumlt waumlhrend der NS-Zeit Hier geht er unter anderem auf die Personalie des KZ-Arztes Waldemar Hoven ein der 1943 an dieser Fakultaumlt promovierte Sein Bei-spiel zeigt bdquodass die Freiburger Medizinische Fakultaumlt von den KZ-Versuchen nicht nur wusste sondern keine Bedenken trug eine derartige Dissertation zu akzeptierenldquo (S 96) Der Fall Hoven das sei hier am Rande angemerkt wurde auch in der Ausstellung und im Begleitband thematisiert Zwei Beitraumlge zeigen wie schwierig das historische Urteil zu zwei so bekannten wie umstrittenen Freiburger Akteuren auch heute noch faumlllt Chris-toph SCHMIDER breitet den Verlauf der Debatte um das Verhaumlltnis des seinerzeitigen Erz-bischofs Conrad Groumlber zum Nationalsozialismus aus Bemuumlht kein abschlieszligendes Urteil zur Rolle Groumlbers geben zu wollen werden auch die schwierigen Punkte in Grouml-bers Biographie nicht ausgeklammert Dass die Debatte wohl noch zu keinem Schluss gekommen ist verdeutlicht nicht zuletzt die Nachbemerkung Schmiders in der er auf eine zwischenzeitlich erfolgte Publikation hinweist die eine schaumlrfere Verurteilung Groumlbers einfordert Nicht weniger umstritten ist auch die Personalie Martin Heideggers Ruumldiger SAFRANSKI vertritt hier die These dass die antisemitischen Texte Heideggers zwar bdquoAspekteldquo seien die zum Bild dazu gehoumlrten aber bdquomehr nichtldquo (S 133) Es ist ein durchschaubarer Versuch der beilaumlufigen Ehrenrettung des Philosophen der sich tief mit dem Nationalsozialismus eingelassen hat und dessen im Mai 1933 erfolgte Antrittsrede an der Freiburger Universitaumlt Christian Graf von Krockow einmal treffend als bdquoVer- flachung durch Tiefsinnldquo charakterisiert hat Alles in allem zeigen die Beitraumlge beider

796 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 796

Publikationen die Ausdifferenzierung der historischen Forschung verweisen aber auch auf Desiderata und anhaltende Kontroversen Nicht zuletzt zeugen beide Titel und das seinerzeit groszlige oumlffentliche Interesse an der Ausstellung von der anhaltenden geschichts-politischen Brisanz und der Notwendigkeit mit der Aufarbeitung und der Auseinander-setzung mit der NS-Geschichte gerade auf regionaler Ebene fortzufahren

Christoph Kopke

Stadt Schwetzingen (Hg) Schwetzingen Geschichte(n) einer Stadt 2 Baumlnde (Schwet-

zinger historische Schriften Bd 1) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2016 und 2018 XI 318 XI 441 S zahlr Abb geb EUR 2280 und 2980 ISBN 978-3-89735-984-0 und 978-3-89735-985-7

Wie zahlreiche andere Gemeinden der Region nahm auch Schwetzingen seine Erst- erwaumlhnung vor 1250 Jahren zum Anlass ein opulentes Jubilaumlum mit zahlreichen Feier-lichkeiten zu begehen Dabei nutzte die Spargelstadt die Gelegenheit nicht nur auf die Ortsgeschichte zuruumlckzublicken sondern diese auch wissenschaftlich aufzuarbeiten Herausgekommen ist ein bemerkenswerter Doppelband dessen ersterer im Wesentlichen der Zeit bis etwa 1800 gewidmet ist waumlhrend der zweite die Entwicklung des modernen Schwetzingen beschreibt Bewusst haben sich dabei die Bearbeiter Joachim KRESIN und Lars MAURER gegen eine strikte chronologische Struktur entschieden Stattdessen wird die Geschichte des Orts in insgesamt 39 Einzelbeitraumlgen meist unterschiedlicher Auto-rinnen und Autoren erarbeitet die jeweils eigene Themenschwerpunkte verfolgen und unabhaumlngig voneinander sind Ergaumlnzt werden diese Kapitel von sogenannten Fenster-texten (in der Regel zwei bis drei Seiten) die entweder Personenportraumlts oder aber klei-nere mit dem jeweiligen Hauptkapitel sachverwandte Exkurse beinhalten Dabei weisen die Bearbeiter darauf hin dass sowohl Akademikerinnen und Akademiker wie auch kenntnisreiche Heimatforscherinnen und -forscher als Beitragende gewonnen werden konnten ndash ein Faktum das eine gewisse Diskrepanz (Formulierungen Anmerkungs- apparate) der Beitraumlge untereinander zu erklaumlren vermag

Diese Herangehensweise offenbart Staumlrken und Schwaumlchen gleichermaszligen So werden die meisten zentralen Themen der Stadtgeschichte gut abgehandelt Zusaumltzlich gibt es Raum fuumlr Einzelaspekte die nun geschlossen dargestellt werden (z B Geschichte des Spargels des Hardtwalds der Kirchen in Schwetzingen) ndash mithin Themen die Gefahr laufen in einer strikt chronologischen Darstellung erwaumlhnt aber nicht hinreichend ge-wuumlrdigt zu werden Auf diese Weise wird die Geschichte Schwetzingens hauptsaumlchlich in Geschichten erzaumlhlt was so die Bearbeiter ein bdquoLesen nach Bedarfldquo (Band I S VIII) ermoumlglicht Demgegenuumlber birgt dieses kleinteilige Konzept freilich auch die Gefahren von Redundanzen in sich (z B wird die Ersterwaumlhnung 766 mehrmals dargestellt) aber auch von inhaltlichen Luumlcken So wird beispielsweise der Sozialgeschichte Schwetzin-gens im 19 aber auch im 20 Jahrhundert wenig Raum geboten ebenso der Geschichte der Stadt in der Weimarer Zeit sowie seit 1945 (z B wie wurde gewaumlhlt wer waren die (Ober-)Buumlrgermeister bzw politischen Mandatstraumlger wie entwickelte sich die Bevoumll-kerung ndash Stichwort Migration)

Als Gliederung der Beitraumlge dienen Oberthemen startend im ersten Band mit bdquoGe-schichtliche Grundlagen ndash ein Uumlberblickldquo Einleitend gibt hier Joachim Kresin einen kurzen Abriss der Ortsgeschichte ehe Stefan MOumlRZ den politischen Rahmen von Schwet-zingen als Teil der Kurpfalz im Mittelalter und der Fruumlhen Neuzeit absteckt Die Kon-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Publikationen die Ausdifferenzierung der historischen Forschung verweisen aber auch auf Desiderata und anhaltende Kontroversen Nicht zuletzt zeugen beide Titel und das seinerzeit groszlige oumlffentliche Interesse an der Ausstellung von der anhaltenden geschichts-politischen Brisanz und der Notwendigkeit mit der Aufarbeitung und der Auseinander-setzung mit der NS-Geschichte gerade auf regionaler Ebene fortzufahren

Christoph Kopke

Stadt Schwetzingen (Hg) Schwetzingen Geschichte(n) einer Stadt 2 Baumlnde (Schwet-

zinger historische Schriften Bd 1) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2016 und 2018 XI 318 XI 441 S zahlr Abb geb EUR 2280 und 2980 ISBN 978-3-89735-984-0 und 978-3-89735-985-7

Wie zahlreiche andere Gemeinden der Region nahm auch Schwetzingen seine Erst- erwaumlhnung vor 1250 Jahren zum Anlass ein opulentes Jubilaumlum mit zahlreichen Feier-lichkeiten zu begehen Dabei nutzte die Spargelstadt die Gelegenheit nicht nur auf die Ortsgeschichte zuruumlckzublicken sondern diese auch wissenschaftlich aufzuarbeiten Herausgekommen ist ein bemerkenswerter Doppelband dessen ersterer im Wesentlichen der Zeit bis etwa 1800 gewidmet ist waumlhrend der zweite die Entwicklung des modernen Schwetzingen beschreibt Bewusst haben sich dabei die Bearbeiter Joachim KRESIN und Lars MAURER gegen eine strikte chronologische Struktur entschieden Stattdessen wird die Geschichte des Orts in insgesamt 39 Einzelbeitraumlgen meist unterschiedlicher Auto-rinnen und Autoren erarbeitet die jeweils eigene Themenschwerpunkte verfolgen und unabhaumlngig voneinander sind Ergaumlnzt werden diese Kapitel von sogenannten Fenster-texten (in der Regel zwei bis drei Seiten) die entweder Personenportraumlts oder aber klei-nere mit dem jeweiligen Hauptkapitel sachverwandte Exkurse beinhalten Dabei weisen die Bearbeiter darauf hin dass sowohl Akademikerinnen und Akademiker wie auch kenntnisreiche Heimatforscherinnen und -forscher als Beitragende gewonnen werden konnten ndash ein Faktum das eine gewisse Diskrepanz (Formulierungen Anmerkungs- apparate) der Beitraumlge untereinander zu erklaumlren vermag

Diese Herangehensweise offenbart Staumlrken und Schwaumlchen gleichermaszligen So werden die meisten zentralen Themen der Stadtgeschichte gut abgehandelt Zusaumltzlich gibt es Raum fuumlr Einzelaspekte die nun geschlossen dargestellt werden (z B Geschichte des Spargels des Hardtwalds der Kirchen in Schwetzingen) ndash mithin Themen die Gefahr laufen in einer strikt chronologischen Darstellung erwaumlhnt aber nicht hinreichend ge-wuumlrdigt zu werden Auf diese Weise wird die Geschichte Schwetzingens hauptsaumlchlich in Geschichten erzaumlhlt was so die Bearbeiter ein bdquoLesen nach Bedarfldquo (Band I S VIII) ermoumlglicht Demgegenuumlber birgt dieses kleinteilige Konzept freilich auch die Gefahren von Redundanzen in sich (z B wird die Ersterwaumlhnung 766 mehrmals dargestellt) aber auch von inhaltlichen Luumlcken So wird beispielsweise der Sozialgeschichte Schwetzin-gens im 19 aber auch im 20 Jahrhundert wenig Raum geboten ebenso der Geschichte der Stadt in der Weimarer Zeit sowie seit 1945 (z B wie wurde gewaumlhlt wer waren die (Ober-)Buumlrgermeister bzw politischen Mandatstraumlger wie entwickelte sich die Bevoumll-kerung ndash Stichwort Migration)

Als Gliederung der Beitraumlge dienen Oberthemen startend im ersten Band mit bdquoGe-schichtliche Grundlagen ndash ein Uumlberblickldquo Einleitend gibt hier Joachim Kresin einen kurzen Abriss der Ortsgeschichte ehe Stefan MOumlRZ den politischen Rahmen von Schwet-zingen als Teil der Kurpfalz im Mittelalter und der Fruumlhen Neuzeit absteckt Die Kon-

797Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

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fessionsgeschichte und hier vor allem der im 18 Jahrhundert erfolgte Bau der Gottes-haumluser die Schwetzingen seine heute noch praumlgende Silhouette verleihen werden von Otto THILEMANN (Katholiken) bzw Johanna BAUMANN (Protestanten) behandelt Otto GLOumlCKLER beschaumlftigt sich mit der Geschichte der Juden dabei sehr stark fokussierend auf die Ausgrenzungs- und Verfolgungsgeschichte im 20 Jahrhundert und anhand von Einzelschicksalen Gleich mehrere Beitraumlge sind der Geschichte des Schlosses gewidmet Peter KNOCH und Robert ERB stellen in ihrem etwas unkonventionell gegliederten den-noch bemerkenswerten Beitrag aktuelle archaumlologische Forschungsergebnisse zur Bau-geschichte vor durch die manche bislang nur archivalisch eher pauschal begruumlndete Datierung mittels dendrochronologischer Untersuchungen des Bauholzes praumlzisiert und teilweise auch korrigiert werden konnte Demnach wurde etwa mit den Bauten um den Schlosshof (170910 statt 1711) wie auch des Theaters (175051 statt 1752) fruumlher begon-nen als bisher angenommen Stadtbaugeschichte beschreibt Joachim Kresin mit seinen Ausfuumlhrungen uumlber die Entstehung der Schwetzinger Neustadt um den Schlossplatz ab 1748 der dem Ort ein voumlllig neues Gepraumlge gab und an fruumlhneuzeitliche Planstaumldte erinnert Spannend aber nicht weiter ausgefuumlhrt erscheint in diesem Zusammenhang die Frage warum Schwetzingen in jener Zeit nicht die Stadtrechte verliehen bekam und lediglich den Rechtstatus eines weniger privilegierten Marktfleckens erhielt Untrennbar mit dem Schloss verbunden ist der zugehoumlrige Garten dessen Entwicklung die uumlber das Jahr 1778 hinausreicht detailliert und kenntnisreich von Uta SCHMITT beschrieben wird (auch wenn man nicht ihre Einschaumltzung teilen mag dass Schwetzingen von 1720 bis 1731 alleinige Residenz der Kurpfalz gewesen ist S 124)

Das zweite Oberthema gilt der fruumlhen Besiedlung und Entwicklung von Schwetzingen Hier wird gezeigt dass die Geschichte des Ortes eben nicht mit der Ersterwaumlhnung im Lorscher Kodex beginnt Hiervon zeugen diverse archaumlologische Funde etwa aus der Jungsteinzeit (vgl Beitrag von Claudia GERLING zur Bandkeramikkultur) wie auch aus der Roumlmer- wie der Merowingerzeit Im 6 Jahrhundert und damit mehr als 200 Jahre vor der Lorscher Erwaumlhnung gab es demnach einen fraumlnkischen Militaumlrstuumltzpunkt auf der heutigen Gemeindegemarkung (Ursula KOCH) Das Dokument das den Anlass fuumlr das Jubilaumlum wie auch fuumlr den vorliegenden Band bot wird von Hermann SCHEFERS beschrie-ben und analysiert Demzufolge war Agana die dem Kloster Lorsch ihren Grundbesitz in bdquosuezzingenldquo schenkte vermutlich keine Ortsansaumlssige und damit keine Schwetzin-gerin was freilich 2016 die Feiernden nicht davon abhielt sich als ihre Nachfahren zu sehen Der mit uumlber fuumlnfzig Seiten bei weitem umfangreichste Beitrag entstammt der Feder von Stefan BAUST der die Entwicklung Schwetzingens im Mittelalter sehr quel-lennah und ausgesprochen dicht beschreibt Hier zeigt sich das sehr breite Spektrum in der fachlichen Tiefe der Beitraumlge waumlhrend hier annaumlhend 300 Fuszlignoten aufgelistet sind finden sich in anderen Faumlllen nur knapp ein Dutzend

bdquoKurpfaumllzischer Hof und Residenzstadtldquo lautet das letzte Oberthema des ersten Bandes Stefan Moumlrz gilt landlaumlufig als der Experte zur Carl-Theodor-Zeit in der Kurpfalz und wird diesem Ruf auch in seinem Beitrag zur houmlfischen Welt bdquozwischen Absolutismus und Aufklaumlrungldquo gerecht Schwetzingen war im Sommer das beliebte Refugium von Kur-fuumlrst und Hofstaat und damit auch ein kleines Abbild des Mannheimer Hofes der als ein kulturelles und wissenschaftliches Zentrum von nationalem Rang gelten konnte Dies zeigte sich etwa im 1752 erbauten Schwetzinger Rokokotheater das einen eindrucks- vollen Spielplan aufweisen konnte und zum Anziehungspunkt einer ganzen Kolonie von Musikanten avancierte (Baumlrbel PELKER) Spannend zu lesen sind die Ausfuumlhrungen von

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Andreas HENSEN zu den im 18 Jahrhundert durchgefuumlhrten Ausgrabungen im Schloss-garten mit den oben genannten Funden zur Roumlmer- und Merowingerzeit die das Selbst-bild von Kurfuumlrst und Hof als Traditionstraumlger fruumlherer Kulturen unterstuumltzten Kai BUDDE weist in seinem Beitrag schlieszliglich auf technische Innovationen am Schloss hin dessen Wasserwerk dem Versailler Vorbild folgte sowie auf die Bedeutung der Stern-warte als astronomisch-meteorologischem Forschungsort

Rein quantitativ dominiert im zweiten Band das Oberthema bdquoPolitikgeschichteldquo Joa-chim Kresin gibt einen guten Uumlberblick zur Entwicklung Schwetzingens im 19 Jahrhun-dert das 1803 als badische Amtsstadt eine neue Funktion erhaumllt und 1833 die Stadtrechte verliehen bekommt Parallel dazu steigt die wirtschaftliche Bedeutung des Ortes dank der Intensivierung der Sonderkulturen Hopfen Tabak und auch Spargel Frank ENGE-HAUSEN widmet sich der politischen Bedeutung Schwetzingens fuumlr das Groszligherzogtum Waumlhrend der Wahlkreis bis in die 1840er Jahre mit dem Abgeordneten Itzstein gewisser-maszligen an der Spitze des Fortschritts und der liberalen Opposition stand gewannen nach einer umstrittenen Wahl 1842 die konservativen Kraumlfte die Oberhand und behielten sie uumlber die folgenden Jahrzehnte Dennoch blieb auch Schwetzingen von der Revolution der Jahre 184849 nicht unberuumlhrt (Wilhelm KREUTZ) gab es hier doch mit dem Arzt Heinrich Tiedemann einen Hecker-Sympathisanten an prominenter Stelle Eine Konse-quenz der Niederschlagung der Revolution war auch hier eine verstaumlrkte Auswanderung Der Wegzug war freilich kein neues Phaumlnomen in der Ortsgeschichte wie Roland PAUL uumlberblicksartig herausarbeitet und unter anderem aumlltere Schwetzinger Spuren in den USA Russland Juumltland sowie in Bayern vorstellt Es folgen Beitraumlge uumlber die Zeit Schwetzin-gens in den beiden Weltkriegen (Karl-Heinz SOumlHNER) der auf deren tiefe Einschnitte fuumlr den Ort hinweist sowie ndash ausgesprochen militaumlrtechnokratisch ndash zur Geschichte der 1938 eingerichteten Panzerkaserne (Karlheinz MUumlNCH) Etwas aus dem Rahmen faumlllt der Bei-trag von Cord ARENDES zur Geschichte Schwetzingens in der Zeit des Nationalsozialis-mus Gekonnt beschreibt hier der Autor moderne Herangehensweisen und methodische Fragestellungen zur Erforschung der NS-Zeit auf lokaler Basis so die Bedeutung von Sprache von Bildern wie auch deren notwendige Kontextualisierung Dies zeichnet er anhand der Inszenierung der nationalsozialistischen bdquoVolksgemeinschaftldquo sowie des Schwetzinger Spargelfestes beispielhaft nach Diese Schlaglichter sind ausgesprochen erhellend allerdings waumlre in einem Werk wie dem vorliegenden ein eher faktenorientier-ter Uumlberblick zur NS-Zeit aus Sicht des Rezensenten wuumlnschenswert gewesen Wie ver-gleichsweise gut das Schicksal von Zwangsarbeitern in Schwetzingen erforscht ist zeigt der Beitrag von Irene WACHTEL Gestuumltzt auf eine Datenbank mit uumlber 1500 Namen (die nach Einschaumltzung der Autorin nur die bdquoSpitze des Eisbergsldquo darstellen Band 2 S 183) gelingt es ihr dieses Thema nicht nur quantitativ zu fassen sondern auch den Blick auf Zwangsarbeiter einsetzende Betriebe Lebensbedingungen vor Ort und nicht zuletzt auf Einzelschicksale freizugeben Schwetzingen zeigt sich bei der Aufarbeitung dieses The-mas als ausgesprochen vorbildlich fuumlr eine Stadt dieser Groumlszlige Die Guumlte und Tiefe dieses Beitrags kontrastiert etwas irritierend mit dem uumlber Heimatvertriebene in Schwetzingen (Peter KAISER) der nicht einmal zwei Seiten einnimmt

Das Oberthema bdquoWirtschaftsgeschichteldquo wird im Wesentlichen von Lars Maurer bearbeitet Mit der Anbindung Schwetzingens an das Eisenbahn- und Straszligenbahnnetz (Rheinbahn 1870 Strecke HeidelbergndashSpeyer 1873 Strecke SchwetzingenndashFriedrichs-feld 1880) identifiziert er den maszliggeblichen Beschleuniger fuumlr die Industrialisierung der Stadt Am Knotenpunkt Schwetzingen siedeln sich zudem ab 1913 die Eisenbahn-

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ausbesserungswerke an die zu einem wichtigen Arbeitgeber in der Stadt werden Die Bedeutung von Bahnanschluumlssen an Privatgelaumlnde zeigt Maurer in seinem zweiten Bei-trag in welchem er mit Pfaudler (Biertanks) Bassermann (Konserven) sowie Neuhaus (Tabak) beispielhaft drei wichtige Industrieunternehmen vorstellt Die Ansiedlung der amerikanischen Firma Pfaudler 1907 gelang nur weil die Stadt bereit war ein Bahngleis zum Firmengelaumlnde legen zu lassen

Unter dem Oberthema bdquoKunst- und Kulturgeschichteldquo beschreibt Hans-Erhard LESSING die Bedeutung Schwetzingens fuumlr die Erfindung des Fahrrads Hier lernte Karl Drais als Forstpraktikant den aus England importierten Gartenphaeton von Kurfuumlrst Carl Theodor kennen der ihm Inspiration bot fuumlr seine spaumltere wegweisende Erfindung Und schlieszlig-lich darf auch nicht unerwaumlhnt bleiben dass die erste oumlffentliche Ausfahrt von Drais mit dem Fahrrad zwar in Mannheim begann aber auf dem Gebiet des Schwetzinger Bezirks wo seinerzeit das Relaishaus stand endete Kunst und Gedenken im oumlffentlichen Raum sind Thema des Beitrags von Barbara GILSDORF Mit zahlreichen Bildern zeigt sie auf wie reich Schwetzingen an Denkmalen und oumlffentlicher Kunst ist ndash angefangen von spaumlt-mittelalterlichen Wegkreuzen uumlber Kunstwerke aus der Reihe bdquoim Wege stehendldquo bis zu Denkmalen der modernen Erinnerungskultur

Im abschlieszligenden Oberthema bdquoTypisch Schwetzingenldquo finden sich weitere Beitraumlge zu historischen bis in die Gegenwart reichenden Spezifika der Stadt Dies gilt fuumlr die geographische Lage am Hardtwald (Karl-Heinz SOumlHNER) der eine naturraumlumliche Be-sonderheit wie auch ein wirtschaftliches Fundament des Ortes war ebenso aber fuumlr die Bedeutung des Spargelanbaus der heute neben dem Schloss sicherlich der wichtigste Botschafter der Stadt ist (Elfriede FACKEL-KRETZ-KELLER) Juumlrgen GRULER beschreibt die Entwicklung der Schwetzinger Zeitung (seit 1880) waumlhrend die Schwetzinger Fest-spiele im Mittelpunkt des Beitrags von Peter STIEBER stehen Die Vorstellung der Part-nerstaumldte Schwetzingens (FredericksburgUSA Karlshuld-NeuschwetzingenBayern LuneacutevilleFrankreich PaacutepaUngarn SchrobenhausenBayern SpoletoItalien Wachen-heim a d WeinstraszligePfalz) rundet das Oberthema wie auch den Band ab

Die beiden Baumlnde sind reich bebildert was zum Lesen oder einfach auch nur zum Schmoumlkern einlaumldt Ein Register haumltte dem Doppelband sicher gutgetan ebenfalls eine kurze uumlberblicksartige Vorstellung der Autorinnen und Autoren Dennoch ist es impo-nierend zu sehen was Schwetzingen die eigene Geschichte wert ist und dass es den Be-arbeitern gelungen ist rechtzeitig zum Jubilaumlum zu liefern Hierzu kann nur gratuliert werden Es waumlre dennoch wuumlnschenswert die oben angesprochenen teilweise doch sehr umfangreichen inhaltlichen Luumlcken zu fuumlllen Daher sei dem Herausgeber vorgeschlagen den Jubilaumlumsruumlckenwind und die sehr positive oumlffentliche Resonanz auf die Buumlcher zu nutzen und bdquoSchwetzingen ndash Geschichte(n) einer Stadtldquo mit einem weiteren Band fort-zusetzen Eine positiv gestimmte Leserschaft waumlre garantiert

Harald Stockert

Simon EICHSTETTER Geschichte und Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzin-gen (17 Jhndash1927) ndash aktualisiert von HenriHeinrich BLOCH (1928ndash1938) ndash Transkrip-tion und Einfuumlhrung Frank-Uwe BETZ Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2017 110 S Abb Brosch EUR 1490 ISBN 978-3-95505-020-7

In dem kompakten Baumlndchen liegt eine bemerkenswerte Quellenedition vor in der umfangreiche Arbeit steckt Verantwortlich zeichnet der mit der regionalen Geschichts- und Erinnerungskultur vertraute Frank-Uwe Betz mit dem Arbeitskreis Freundliches

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Schwetzingen ndash Verein fuumlr regionale Zeitgeschichte eV einschlieszliglich den regionalen Gliederungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der Gewerkschaft verdi Entstan-den ist das Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzingen die zu ihrem Houmlhepunkt 1880 fast 120 Mitglieder zaumlhlte durch den Lehrer Simon Eichstetter (1865ndash1927) seit seinem Amtsantritt 1886 Nach dessen Tod fuumlhrte sein Nachfolger Lehrer und Kantor Henri Bloch bis zum erzwungenen Wegzug 1938 das Buch fort Der Band wurde nach dem gewaltsamen Ende der juumldischen Gemeinde wie uumlberall im Deutschen Reich fuumlr das Reichssippenamt (RSA) beschlagnahmt Unter den geraubten Gedaumlchtnissen der ver-schiedenen zerstoumlrten juumldischen Gemeinden befanden sich haumlufig gemeindeinterne Stan-desregister Friedhofslisten Uumlbersichten zu Funktionstraumlgern Insassen von Einrichtungen oder Mitgliederlisten religioumlser Vereinigungen und anderes Darunter bisweilen wie in Schwetzingen auch sogenannte Familienbuumlcher Fuumlr Schwetzingen ist das Familienbuch neben der Uumlbersicht zur Nachnamenannahme 18091810 die einzige Uumlberlieferung der Gemeinde in diesem Bestand Allein dadurch kommt ihm groszlige Bedeutung zu Die be-schlagnahmten Dokumente wurden waumlhrend des Zweiten Weltkriegs von der privaten Firma Gattermann fuumlr das RSA mikroverfilmt das Schwetzinger Familienbuch noch am 16 Maumlrz 1945 Waumlhrend das Original wie die geraubten Dokumente andernorts verloren ist liegt der Mikrofilm heute im Bestand J 386 des Hauptstaatsarchivs Stuttgart vor Die-ser Bestand zu den juumldischen Gemeinden in Wuumlrttemberg Baden und Hohenzollern kann inzwischen digitalisiert online eingesehen werden Zwar koumlnnen die in Baden seit 1809 vorgeschriebenen Standesregister der Konfessionen bis 1869 bevor in Baden seit 1870 kommunale Standesregister gefuumlhrt wurden inzwischen auch online eingesehen werden (Generallandesarchiv Karlsruhe Bestand 390 fuumlr Schwetzingen die laufenden Nummern 4625ndash4635 in Vereinigung mit den christlichen Standesregistern gefuumlhrt allerdings vom katholischen Pfarrer) doch geht das Familienbuch daruumlber hinaus und erleichtert familienkundliche Nachforschungen

Vor dem Editionsteil informiert Betz auf rund acht Seiten uumlber das Familienbuch zu den Verfassern und in komprimierter Form zur oumlrtlichen juumldischen Gemeinde bis zu deren Ende Auf zwei Seiten beschreibt er den Umgang mit den Uumlberlebenden und die Erinne-rungskultur am Ort Fast vier Seiten umfassen seine editorischen Hinweise was der auf-gewandten Muumlhe und Sorgfalt entspricht Die fast 650 Fuszlignoten im Quellenteil mit seinen rund 83 Seiten (das Original umfasst 115 Seiten) unterstreichen den wissenschaftlichen Anspruch stoumlren den Lesefluss fuumlr daran weniger Interessierte nicht

Das Familienbuch reicht mit seinen elf Abschnitten uumlber den angegebenen Zweck hinaus Im ersten Abschnitt behandelt Eichstetter kurz die Geschichte des Orts und seiner Juden Umfangreich ist der zweite zur bdquoSynagogeldquo beziehungsweise dass die arme Gemeinde trotz Bemuumlhungen nie einen eigenen Bau errichten konnte Seit 1897 war es ihnen durch Entgegenkommen des Hofamts moumlglich Raumlumlichkeiten im Schwetzinger Schloss zu belegen Deutlich wird in den Ausfuumlhrungen samt wiedergegebenen Doku-menten dabei auch die Verbundenheit von Groszligherzog Friedrich I und Groszligherzogin Luise zum Judentum insgesamt Auch zum eigenen Friedhof seit 1892 finden sich detaillierte Informationen einschlieszliglich Leichen- und Begraumlbnisordnung Im vierten und fuumlnften Abschnitt sind die Lehrer sowie Gemeindevorstaumlnde und ihr Wirken beschrie-ben Ein kurzer Abschnitt geht allgemein auf die Annahme erblicher Nachnamen ein Ebenso kurz weist der siebte Abschnitt uumlber die Standesbuumlcher auf die gesetzliche Grund-lage hin und zaumlhlt die Eintraumlge Diese hatte fuumlr die Schwetzinger Gemeinde der katholi-sche Pfarrer zu erledigen Der neunte Abschnitt behandelt die juumldischen Vereine mitsamt

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ihren Funktionstraumlgerinnen und -traumlgern sowie den beigefuumlgten Statuten es gab nur zwei Den bdquoIsraelitischen Frauenvereinldquo seit 1868 und als Pendant den 1875 gegruumlndeten Maumln-nerverein bdquoVerein fuumlr heilige edle Zweckeldquo Unter Abschnitt 10 befindet sich eine schmale Information zu juumldischen Gastwirtschaften der elfte und letzte Abschnitt Feste und Ehrungen ist leer

Der Hauptteil mit dem eigentlichen Familienbuch im achten Abschnitt macht uumlber die Haumllfte des Bandes aus Im Original ist eine Seite jeweils fuumlr eine Familie vorbehalten insgesamt sind es 106 Aufgefuumlhrt sind bdquoHausvaterldquo und Hausmutterldquo mit ihrer Verhei-ratung samt Lebensdaten und Angaben zu den Eltern Aufgefuumlhrt werden die am Ort geborenen Kinder mit ihren Lebensdaten sowie Heiratsangaben soweit moumlglich Bei Heirat eines Schwetzinger Juden und anschlieszligendem Familienleben andernorts bleibt es bisweilen bei diesem alleinigen Eintrag So fuumlr die Schwetzingerin Marie Henriette Trautmann die den Karlsruher und spaumlteren badischen Finanzminister Moritz Ellstaumltter 1864 in Heidelberg heiratete Insgesamt liegt fuumlr ortsgeschichtliche und familienkund- liche Fragestellungen eine wunderbare Quellengrundlage vor die zum Teil die muumlh- seligere Recherche in den einzelnen Standesregistern erspart Das Namenregister dieses Abschnitts im Familienbuch ist gemaumlszlig dem Original enthalten

Daruumlber hinaus ist dem Band insgesamt ein Personen- und Ortsregister beigegeben worden was den Anspruch des Buches unterstreicht und es gut nutzbar macht So etwas ist wie Forschende wissen keine Selbstverstaumlndlichkeit Die zahlreichen kleinen Abbil-dungen illustrieren einerseits Ausschnitte der Geschichte der juumldischen Gemeinde allge-mein zu ihren Mitgliedern schlieszliglich auch zu Uumlberlebenden sind andererseits immer wieder Faksimiles aus dem Mikrofilm Das Buch wird fuumlr die lokale Geschichts- und Er-innerungskultur sicherlich eine wertvolle Grundlage sein Dieser Funktion entspricht die einfache Aufmachung Fuumlr diesen Zweck ist es nicht notwendig und unrealistisch den-noch moumlchte der Rezensent seinen insgeheim aufgekommenen Wunsch aussprechen Eine bibliophile Gestaltung fuumlr Quelleneditionen dieser Art waumlre etwas Erfreuliches

Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer

Wolfram WETTE (Hg) in Verbindung mit der Stadt Waldkirch und der Ideenwerkstatt

Waldkirch in der NS-Zeit bdquoHier war doch nichtsldquondashWaldkirch im Nationalsozialis- mus Bremen Donat-Verlag 2019 528 S Abb geb EUR 2980 ISBN 978-3-943425-86-4

27 Autorinnen und Autoren gehen in annaumlhernd fuumlnfzig Beitraumlgen zahlreichen Aspek-ten und Themen der Geschichte der suumldbadischen Stadt Waldkirch im Nationalsozialis-mus beziehungsweise der oumlrtlichen Nachwirkung der NS-Zeit nach Viele der Beitraumlge sind biographisch ausgerichtet Die Aufsaumltze des umfangreichen und reich illustrierten Bandes sind ndash nach zwei einleitenden Beitraumlgen ndash in sechs groszlige Kapitel uumlbersichtlich gegliedert Das Werk ist durch ein Abkuumlrzungsverzeichnis und ein Personenregister vor-bildlich erschlossen

Herausgeber Wolfgang WETTE eroumlffnet den Band und ordnet die Bestrebungen auch die NS-Geschichte Waldkirchs mit einer umfangreichen Darstellung zu beleuchten ein Auch in dieser Stadt wurde die NS-Geschichte bis weit in die 1980er Jahre uumlberwiegend beschwiegen Das aumlnderte sich ndash wie andernorts ndash erst durch zaumlhes Ringen und ge-schichtspolitische Initiativen aus der Buumlrgerschaft Eine erste Broschuumlre aus dem Jahr 1989 dokumentiert die bis dato erfolgten Bemuumlhungen Ein weiterer Meilenstein duumlrften

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die Enthuumlllungen uumlber die Rolle des Waldkircher Buumlrgers und SS-Standartenfuumlhrers Karl Jaumlger gewesen sein Dieser war Organisator und Vollstrecker des Massenmordes an den Juden Litauens Wolfram Wette hat zu dessen Biographie 2011 eine Monografie vorgelegt und auch im vorliegenden Band findet sich ein Text zu Karl Jaumlger Dass die notwendige Beschaumlftigung mit der regionalen NS-Geschichte kein einfaches Unterfangen ist reflek-tiert auch der zweite einleitende Beitrag von Heiko HAUMANN der auf bdquodie Schwierig-keiten die Waldkircher Geschichte im sbquoDritten Reichlsquo angemessen darzustellenldquo (S 27 ff) eingeht

Die Beitraumlge des ersten Kapitels widmen sich der Vorkriegsgeschichte Ralph BERN-HARD beispielsweise beleuchtet die Fruumlhgeschichte der NSDAP seit 1920 So gab es zwar Aktivitaumlten voumllkischer Vorlaumluferparteien aber vor dem auch in Baden geltenden Verbot von 1923 scheint es in Waldkirch keine eigenstaumlndige NSDAP-Ortsgruppe gegeben zu haben Gleichwohl waren einige Waldkircher Nationalsozialisten schon 1923 Parteimit-glieder geworden hatten sich aber Wuumlrttemberger Ortsgruppen angeschlossen wo die Behoumlrden das geltende NSDAP-Verbot kaum umsetzten Aus den verschiedenen Beitrauml-gen etwa zu den Wahlergebnissen der NSDAP in Waldkirch dem lokalen Machtwechsel 1933 auf Buumlrgermeisterebene oder zur Biographie des Waldkircher NS-Buumlrgermeisters stechen vor allem zwei Aufsaumltze hervor Wolfgang Wette rekonstruiert die lokale Buumlcherverbrennung die am 8 Juli 1933 auf dem Gipfel des Kandels inszeniert wurde Die Waldkircher Buumlcherverbrennung ist wie mutmaszliglich die meisten der oumlffentlichen Verbrennungsaktionen des Jahres 1933 in vielen Staumldten und groumlszligeren Gemeinden des Dritten Reiches von der einschlaumlgigen Forschung bislang nicht beruumlcksichtigt worden (vgl Julius H Schoeps Werner Tress (Hg) Orte der Buumlcherverbrennungen in Deutsch-land 1933 Hildesheim 2008) Mit der Darstellung der Geschichte der Waldkircher Schutzstaffel rekonstruiert Heiko WEGMANN erstmals die Zusammensetzung und die Ak-tivitaumlten der beruumlchtigten NS-Untergliederung auf lokaler Ebene Bis zu seinem Weggang im November 1936 wurde die oumlrtliche SS vom bereits erwaumlhnten Karl Jaumlger angefuumlhrt ihr gehoumlrten in jener Zeit rund 100 Maumlnner an

Das zweite Kapitel des Bandes nimmt sich der Zeit des Weltkrieges an Zwei Beitraumlge beschaumlftigen sich mit dem Bild und den Narrativen des Krieges in lokalen Feldpost- beziehungsweise Soldatenbriefen weitere Texte befassen sich unter anderem mit einzel-nen Biographien und Firmen mit der Zusammensetzung der oumlrtlichen NSDAP-Orts-gruppe oder mit den Vorgaumlngen rund um die NS-bdquoEuthanasieldquo Allein in der Toumltungs- anstalt Grafeneck fanden mindestens 14 Personen den Tod die aus Waldkirch stammten oder dort geboren waren Mutmaszliglich waren von den Euthanasieverbrechen noch mehr Menschen aus Waldkirch betroffen

Kapitel III versammelt sechs biographisch ausgerichtete Beitraumlge die Personen vor-stellen die aus unterschiedlichen Motiven und weltanschaulichen Hintergruumlnden Wider-stand gegen das NS-Regime leisteten Auch im vierten Kapitel (bdquoSchulen und Kirchenldquo) geht es um Beispiele widerstaumlndigen Verhaltens und vor allem um das Spannungsver-haumlltnis von Widerstand Resistenz Anpassung und Mitmachen Dabei sind nicht alle Texte primaumlr lokalhistorisch oder biographisch ausgerichtet Ausfuumlhrlich rekonstruiert und diskutiert etwa der Soziologe Herbert SCHWEIZER nach seiner Emeritierung 2006 bis zu seinem Tode 2017 Einwohner Waldkirchs grundsaumltzlich das Verhaumlltnis von Ka-tholischer Kirche und Nationalsozialismus wohingegen Ralph BERNHARD die oumlrtliche katholische Kirche einer kritischen Untersuchung unterzieht

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Das fuumlnfte Kapitel beleuchtet das Kriegsende und die Nachkriegszeit Heiko Haumann skizziert das Kriegsende in Waldkirch und im Elztal Wolfram Wette erinnert an die im Januar und April in Waldkirch als Deserteure erschossenen deutschen Soldaten ndash und den lokalen Umgang mit diesen Verbrechen Martin HOFFMANN wiederum wirft einen Blick auf zivile wie militaumlrische Todesopfer die die Stadt Waldkirch (und ihre fruumlher eigenstaumlndigen Ortsteile) zu beklagen hatte und wie mit dieser Erbschaft nach 1945 um-gegangen wurde Das abschlieszligende sechste Kapitel beschaumlftigt sich mit der Aufarbei-tung der NS-Vergangenheit Neben Beitraumlgen zum Umgang mit NS-Ikonographien und NS-Kriegerdenkmaumllern werden verschiedene lokalhistorische Ereignisse und Projekte der vergangenen Jahrzehnte nochmals in den Blick genommen

Die Beitraumlge dieses Sammelbandes sind hinsichtlich ihrer Qualitaumlt ihrer Originalitaumlt ihres Umfanges und des damit verbundenen Erkenntnisgewinnes recht unterschiedlich Aber etwas Anderes waumlre bei einem Projekt das engagierte und interessierte Laien Historiker und Fachwissenschaftler anderer Disziplinen sowie Nachwuchswissenschaft-ler (pensionierte) Lehrer und emeritierte Universitaumltsprofessoren zusammenfuumlhrt auch kaum denkbar Entstanden ist ein materialreiches lokalhistorisches Lesebuch das zu wei-teren Forschungen einlaumldt Es ist zu hoffen dass der Band nicht nur in der engeren Region zu Kenntnis genommen wird sondern auch als Anregung fuumlr vergleichbare Projekte anderswo dienlich ist

Christoph Kopke

Juliane GEIKE Andreas HAASIS-BERNER (Hg) Menschen in Bewegung (Lebenswelten im laumlndlichen Raum Historische Erkundungen in Mittel- und Suumldbaden Bd 4) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 237 S Abb geb EUR 2280 ISBN 978-3-95505-123-5

Unter dem Sammelbegriff bdquoWanderungsforschungldquo hat sich im deutschen Sprachraum seit der Wende vom 18 zum 19 Jahrhundert die Bewegung von Menschen in Zeit und Raum zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt Daran hatten die regionale Ge-schichtsschreibung in Form der Landesgeschichte sowie die lokale heimatgeschichtlich ausgerichtete bdquoLiebhaber-Historieldquo wie sie auch genannt wird einen besonderen Anteil Nach der Reichsgruumlndung gerieten sie und auch die am Forschungsgegenstand nun ver-staumlrkt interessierte universitaumlre Forschung in nationales zu Beginn des 20 Jahrhunderts in voumllkisches und schlieszliglich in den dreiszligiger Jahren in nationalsozialistisches Fahr- wasser Als Folge dieser Hypothek konnte die Wanderungsforschung nach 1945 nicht an ihre Traditionen anknuumlpfen sondern erfuhr als bdquoImportldquo unter dem Begriff der Migra- tionsforschung in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren einen zunaumlchst sozialhisto-risch gepraumlgten Neuanfang Mittlerweile ist die historische Migrationsforschung ob auf universitaumlrer landesgeschichtlicher oder heimatgeschichtlicher Ebene ein boomendes Feld auf dem es wuumlnschenswert waumlre wenn der Austausch zwischen den drei Ebenen verstaumlrkt wuumlrde

In diesem Kontext ist der vierte Tag fuumlr Regionalgeschichte im Juni 2017 in Yach im Landkreis Emmendingen zu sehen Auch vor dem Hintergrund des Migrationsgeschehens der Gegenwart versammelte er unter dem Thema bdquoMigration im laumlndlichen Raumldquo HistorikerInnen ArchivarInnen LehrerInnen HeimatforscherInnen und Geschichts- interessierte Der vorliegende Band spiegelt die Ergebnisse der Tagung Dabei folgen die Herausgeber der Erkenntnis bdquoMigration war und ist ein Teil unserer Geschichte die eine in Zeit und Raum variantenreiche Dynamik entfaltetldquo (S 8) Der Band umfasst elf Bei-

804 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 804

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

FRENK Barbara Ruprecht-Karls-Universitaumlt Heidelberg Zentrum fuumlr Europaumlische Geschichts- und Kulturwissenschaften Historisches Seminar Grabengasse 3ndash5 69117 Heidelberg 745ndash747

FURTWAumlNGLER Dr Martin Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Eugenstraszlige 7 70182 Stuttgart 686 f 690ndash694

GAumlDEKE Dr Nora Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Niedersaumlchsische Landesbibliothek Waterloostraszlige 8 30169 Hannover 285ndash306

HAAG Prof Dr Norbert Landeskirchliches Archiv Balinger Straszlige 331 70567 Stuttgart 623 f

HAASIS-BERNER Dr Andreas Landesamt fuumlr Denkmalpflege im Regierungspraumlsidium Stuttgart Dienstsitz Freiburg Guumlnterstalstraszlige 67 79100 Freiburg im Breisgau 743ndash745

HAumlBERLEIN Prof Dr Mark Universitaumlt Bamberg Institut fuumlr Geschichtswissenschaften und Europaumlische Ethnologie Lehrstuhl fuumlr Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte Fischstraszlige 57 96045 Bamberg 769 f

HAINMUumlLLER Dr Bernd Blaues Haus Breisach Radbrunnenallee 15 79206 Breisach am Rhein 559ndash576

HAUG-MORITZ Prof Dr Gabriele Karl-Franzens-Universitaumlt Graz Institut fuumlr Geschichte Attemsgasse 8 8010 Graz Oumlsterreich 676 f

HEILBRONNER Oded Prof Dr Senior Lecture for Cultural Studies and History The Hebrew University Shenkar College for Industry Design amp Art Anna Frank St 12 Ramat Gan Israel 439ndash498

HEUSINGER Prof Dr Sabine von Universitaumlt zu Koumlln Historisches Seminar Albertus-Magnus-Platz 50923 Koumlln 749

HIRBODIAN Prof Dr Sigrid Eberhard-Karls-Universitaumlt Tuumlbingen Historisches Seminar Institut fuumlr Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften Wilhelmstraszlige 36 72074 Tuumlbingen 141ndash146

HOCHSTUHL Dr Kurt co Staatsarchiv Freiburg Colombistraszlige 4 79098 Freiburg im Breisgau 707

HOFFMANN-OCON Prof Dr Andreas Paumldagogische Hochschule Zuumlrich F-FE-ZSG (Schulgeschichte) Fachgruppe Erziehungs- und Sozialwissenschaften Lagerstraszlige 2 8090 Zuumlrich Schweiz 732ndash737

HOLZ Stefan G MA Landesarchiv Baden-Wuumlrttemberg Hauptstaatsarchiv Stuttgart Konrad-Adenauer-Straszlige 4 70173 Stuttgart 65ndash114

HUTHWELKER Dr Thorsten Ruprecht-Karls-Universitaumlt Heidelberg Universitaumltsbibliothek Ploumlck 107ndash109 69117 Heidelberg 649 f

KEMPER Dr Joachim Stadt- und Stiftsarchiv der Stadt Aschaffenburg Wermbachstraszlige 15 63739 Aschaffenburg 766ndash769

KITZING Dr Michael Samlandstraszlige 31 78224 Singen (Hohentwiel) 687ndash690 705 f 791ndash795

KOPKE Prof Dr Christoph Hochschule fuumlr Wirtschaft und Recht Berlin FB 5 Polizei und Sicherheitsmanagement Alt Friedrichsfelde 60 10315 Berlin 795ndash797 802ndash804

KRETZSCHMAR Prof Dr Robert Fuchsgrabenweg 8 74379 Ingersheim 628ndash630

KRIEB Prof Dr Steffen Johannes-Gutenberg-Universitaumlt Mainz Historisches Seminar Jakob-Welder-Weg 18 55128 Mainz 632ndash635

KRIMM Prof Dr Konrad co Generallandesarchiv Karlsruhe Noumlrdliche Hildapromenade 3 76133 Karlsruhe 65ndash114

LEVEN Prof Dr Karl-Heinz Friedrich-Alexander-Universitaumlt Erlangen-Nuumlrnberg Medizinische Fakultaumlt Institut fuumlr Geschichte und Ethik der Medizin Gluumlckstraszlige 10 91054 Erlangen 727ndash730

808

32 Verzeichnis der Mitarbeiter S807-810qxp_Layout 1 030221 0952 Seite 808

traumlge zu verschiedenen Migrationsformen (Aus- und Einwanderung Binnen- und Fern-migration lokale und transatlantische Migrationen Arbeits- und Zwangsmigration Ein-zel- und Gruppenmigration usw) der Zeit zwischen dem 18 und 20 Jahrhundert Die Beitraumlge ob von ausgebildeten ArchivarInnen und HistorikerInnen oder interessierten historischen Laien fuszligen auf Archivrecherchen vor allem auf Literaturstudien die oft nicht dem aktuellen Forschungsstand entsprechen auf Presseauswertung und Oral History Ebenso unterschiedlich sind die verwendeten Zugaumlnge zum jeweiligen Thema Sie reichen von historischen Analysen uumlber referierende Darstellungen bis hin zu Bei-traumlgen die vor allem Ego-Dokumente sprechen lassen

Migration ist wie die Beitraumlge des Bandes erkennen lassen ein komplexes alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beruumlhrendes Phaumlnomen Dadurch entzieht es sich einer klaren Differenzierung und Kategorisierung Das zeigt der Beitrag zum bdquoFah-renden Volkldquo (mit dem der Autor u a Jenische Zigeuner Sinti und Roma zusammen-fasst) der die Migration dieser Gruppen in und aus dem alemanischen Raum im 19 und 20 Jahrhundert thematisiert Dessen ungeachtet und immer unter Beruumlcksichtigung der Uumlberschneidungen die Migrationsprozesse charakterisieren lassen sich die weite- ren Beitraumlge des Bandes grob zwei Gruppen zuordnen ndash Auswanderungen und Zuwan-derungen

Auswanderungen aus der untersuchten Region stehen im Mittelpunkt von sechs Auf-saumltzen Dabei werden hier in chronologischer Reihenfolge angefuumlhrt Migrationen von ehemaligen Leibeigenen und freien Untertanen aus dem Stift Waldkirch in Tri- berg Kinzigtaumller Floumlszliger an der oumlsterreichischen Ybbs und vor allem Auswanderungen im 19 Jahrhundert nach Nordamerika untersucht Gleich vier Beitraumlge sind diesem Kom-plex verpflichtet Sie betrachten die Auswanderungen aus drei Perspektiven der Mas- senemigration aus Baden der Auswanderer aus Simonswald darunter auch jene die sich in Australien niederlieszligen sowie eines Denzlinger Seilers und eines Buchholzer Buumlrgers die in der zweiten Haumllfte des 19 Jahrhunderts in die USA ausgewandert sind

Einwanderungen des 19 und 20 Jahrhunderts in die Region die im Mittelpunkt des Bandes steht thematisieren drei Beitraumlge Neben der italienischen Arbeitsmigration ins Elztal vor allem im 19 Jahrhundert werden in einem Beitrag die Evakuierten zeit- genoumlssisch als bdquoWestwallzigeunerldquo bezeichnet untersucht die mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs aus den westlichen Grenzregionen des Deutschen Reiches auch nach Elzach und Yach umgesiedelt wurden Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf deutschen Fluumlchtlingen und Vertriebenen die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den beiden Orten aufgenommen werden mussten Ein Beitrag stellt die Lebensgeschichte einer Frau aus Ostpreuszligen vor die in Friesenheim eine neue Heimat gefunden hat

Der Band beleuchtet anschaulich unterschiedliche Migrationsformen ihre Motive sowie ihre persoumlnlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen und bietet damit im Sinne der Herausgeber ein vielfaumlltiges Bild der Wanderungen mit Ausgang und Ziel in der Region Er verdeutlicht Staumlrken und Schwaumlchen eines regional- und lokalhistorischen Zugangs zu Migrationsphaumlnomenen bdquoMenschen in Bewegungldquo ist dabei der kleinste gemeinsame Nenner der die Beitraumlge vereint Ein einleitender migrationstheoretischer Beitrag haumltte helfen koumlnnen die Fallstudien zu einem regionalen migrationsgeschicht- lichen Mosaik zu verbinden In diesem Sinn ist den Herausgebern zuzustimmen wenn sie hoffen mit dem Band weitere vertiefende Forschungen zum Thema anzuregen

Mathias Beer

805Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 805

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 807 Inhalt der Revue drsquoAlsace 2020 811 Bericht der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg fuumlr das Jahr 2019 815 Richtlinien zur Einreichung und Gestaltung von Manuskripten 819

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 12

Buchbesprechungen Autoren bzw Herausgeber der besprochenen Werke 607 1 Gesamtdarstellungen

Alois SCHMID (Hg) Das alte Bayern Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter (Christof Paulus) 609

Horst Wolfgang BOumlHME Claus DOBIAT (Hg) Handbuch der hessischen Geschichte Grundlagen und Anfaumlnge hessischer Geschichte bis 900 (Alfons Zettler) 610

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 5

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Sabine von HEUSINGER Susanne WITTEKIND (Hg) Die materielle Kultur der Stadt in Spaumltmittelalter und Fruumlher Neuzeit (Mark Haumlberlein) 769

Michael ROTHMANN Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt und Geld 5 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte(Andreas Maisch) 770

Mathias KAumlLBLE Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt als Argument 6 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte(Anne Rauner) 773

Roland DEIGENDESCH Christian JOumlRG (Hg) Staumldtebuumlnde und staumldtische Auszligenpolitik ndash Traumlger Instrumentarien und Konflikte waumlhrend des hohen und spaumlten Mittelalters 55 Arbeitstagung des Suumldwestdeutschen Arbeitskreises fuumlr Stadtgeschichtsforschung (Juumlrgen Treffeisen) 776

Gabriel ZEILINGER Verhandelte Stadt Herrschaft und Gemeinde in der fruumlhen Urbanisierung des Oberelsass vom 12 bis 14 Jahrhundert (Juumlrgen Treffeisen) 779

Simon LIENING Das Gesandtschaftswesen der Stadt Straszligburg zu Beginn des 15 Jahrhunderts (Juumlrgen Treffeisen) 781

Franz-Joseph ARLINGHAUS InklusionndashExklusion Funktion und Formen des Rechts in der spaumltmittelalterlichen Stadt Das Beispiel Koumlln (Juumlrgen Treffeisen) 783

Dorothea WELTECKE (Hg) Zu Gast bei Juden Leben in der mittelalterlichen Stadt (Franz-Josef Ziwes) 785

10 Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

Peter KOumlRNER bdquoJetzt ist es mit Dir aushellipldquo 10 November 1938 in AschaffenburgOpfer Taumlter Ahndung und Erinnerung (Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer) 788

Hermann EHMER Helfenberg Geschichte von Burg Schloss und Weiler (Kurt Andermann) 790

Ernst Otto BRAumlUNCHE Frank ENGEHAUSEN Juumlrgen SCHUHLADEN-KRAumlMER (Hg) Aufbruumlche und Krisen Karlsruhe 1918ndash1933 (Michael Kitzing) 791

Peter KALCHTHALER Robert NEISEN Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Nationalsozialismus in Freiburg Begleitbuch zur Ausstellung des Augustinermuseums in Kooperation mit dem Stadtarchiv ndash Peter KALCHTHALER Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Freiburg im Nationalsozialismus (Christoph Kopke) 795

Schwetzingen Geschichte(n) einer Stadt (Harald Stockert) 797

Simon EICHSTETTER Geschichte und Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzingen (17 Jhndash1927) ndash aktualisiert von HenriHeinrich BLOCH

(1928ndash1938) ndash Transkription und Einfuumlhrung Frank-Uwe BETZ

(Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer) 800

Wolfram WETTE (Hg) bdquoHier war doch nichtsldquondash Waldkirch im Nationalsozialismus (Christoph Kopke) 802

Juliane GEIKE Andreas HAASIS-BERNER (Hg) Menschen in Bewegung (Mathias Beer) 804

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 11

Soumlnke LORENZ (dagger) Oliver AUGE Sigrid HIRBODIAN (Hg) Handbuch der Stiftskirchen in Baden-Wuumlrttemberg (Helmut Flachenecker) 612

Sigrid HIRBODIAN Rolf KIESSLING Edwin Ernst WEBER (Hg) Herrschaft Markt und Umwelt Wirtschaft in Oberschwaben 1300 bis 1600 (Kurt Andermann) 614

Marie-Louise VON PLESSEN (Hg) Der Rhein Eine europaumlische Flussbiografie Begleitbuch zur Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Armin Schlechter) 615

Ruth CONRAD Volker Henning DRECOLL Sigrid HIRBODIAN (Hg) Saumlkulare Prozessionen Zur religioumlsen Grundierung von Umzuumlgen Einzuumlgen und Aufmaumlrschen (Daniela Blum) 617

Klaus HERBERS Andreas NEHRING Karin STEINER (Hg) Sakralitaumlt und Macht (Julia Burkhardt) 620

Erik BECK Eva-Maria BUTZ (Hg) Von Gruppe und Gemeinschaft zu Akteur und Netzwerk Netzwerkforschung in der Landesgeschichte Festschrift fuumlr Alfons Zettler zum 60 Geburtstag (Juumlrgen Treffeisen) 621

Eike WOLGAST Aufsaumltze zur Reformations- und Reichsgeschichte (Norbert Haag) 623

Juumlrgen DENDORFER Birgit STUDT (Hg) Zum Gedenken an Dieter Mertens Ansprachen und Vortraumlge beim Trauergottesdienst in der Liebfrauenkirche zu Guumlnterstal (17 Oktober 2014) und der Akademischen Gedenkfeier an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt (13 November 2015) (Volker Roumldel) 624

Konrad KRIMM Heinz MAAG (dagger) Siegfried RUPP 300 Jahre Kraichgauer Adeliges Damenstift (Harald Stockert) 625

Gerd F HEPP Paul-Ludwig WEINACHT (Hg) Heimat in Bewegung Heimatbewusstsein in Baden im Zeitalter von Mobilitaumlt und Migration (Reinhold Weber) 626

2 Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

Konrad KRIMM Ludger SYREacute (Hg) Herrschaftswissen Bibliotheks- undArchivbauten im Alten Reich (Robert Kretzschmar) 628

Cornel DORA (Hg) Geschichte machen Handschriften erzaumlhlen Vergangenheit (Annika Stello) 630

Thomas JUST Kathrin KININGER Andrea SOMMERLECHNER Herwig WEIGL (Hg) Privilegium maius Autopsie Kontext und Karriere der Faumllschungen Rudolfs IV von Oumlsterreich (Steffen Krieb) 632

Joumlrg W BUSCH Juumlrgen TREFFEISEN (Bearb) Die Urkunden der Stadt Neuenburg am Rhein Bd 3 (Hans-Peter Widmann) 635

Bernhard KREUTZ (Bearb) Reutlinger Urkundenbuch Teil 1 Die Urkunden bis 1399 (Juumlrgen Treffeisen) 636

Die Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgart beschrieben von Armin RENNER unter Mitarbeit von Christian HERRMANN und Eberhard ZWINK (Johannes Mangei) 637

Martin LEHMANN (Hg) Der Globus Mundi Martin Waldseemuumlllers aus dem Jahre 1509 Text ndash Uumlbersetzung ndash Kommentar (Jan Mokre) 639

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 6

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Helmut FRUumlHAUF Barbara KOELGES Armin SCHLECHTER Rheinstrom Deszlig beruumlhmten und herrlichen Flusses eigentliche und wahrhafftige Beschreibung Die Kartensammlung Hellwig im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Rheinische Landesbibliothek Koblenz (Gabriele Wuumlst) 640

3 Mittelalter

Juumlrgen DENDORFER (Hg) Erinnerungsorte des Mittelalters am Oberrhein(Boris Bigott) 641

Heidrun OCHS Gabriel ZEILINGER (Hg) Kaufhaumluser an Mittel- und Oberrhein im Spaumltmittelalter (Juumlrgen Treffeisen) 644

Masaki TAGUCHI Koumlnigliche Gerichtsbarkeit und regionale Konfliktbeilegung im deutschen Spaumltmittelalter Die Regierungszeit Ludwigs des Bayern (1314ndash1347) (Raimund J Weber) 646

Gero SCHREIER Ritterhelden Rittertum Autonomie und Fuumlrstendienst in niederadligen Lebenszeugnissen des 14 bis 16 Jahrhunderts (Thorsten Huthwelker) 649

Michael BUumlHLER Existenz Freiheit und Rang Handlungsmuster des Ortenauer Niederadels am Ende des Mittelalters (Gerhard Fouquet) 650

Johannes HELMRATH Ursula KOCHER Andrea SIEBER (Hg) Maximilians Welt Kaiser Maximilian I im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition (Kurt Andermann) 652

4 Fruumlhe Neuzeit

Martin WALLRAFF Silvana SEIDEL MENCHI Kaspar VON GREYERZ (Hg)Basel 1516 Erasmusrsquo Edition of the New Testament (Matthias DallrsquoAsta) 653

Guumlnter FRANK (Hg) Philipp Melanchthon Der Reformator zwischen Glauben und Wissen Ein Handbuch (Hermann Ehmer) 656

Philipp MELANCHTHON Texte 5011ndash5343 (JanuarndashOktober 1548) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK ndash Philipp MELANCHTHON Texte 5344ndash5642 (November 1548ndashSeptember 1549) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Hermann Ehmer) 659

Philipp MELANCHTHON Texte 5643ndash5969 (Oktober 1549ndashDezember 1550) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Hermann Ehmer) 660

Frank MULLER Images poleacutemiques images dissidentes Art et Reacuteforme agrave Strasbourg (1520ndashvers 1550) (Alexandra C Axtmann) 661

Wolfgang BREUL Kurt ANDERMANN (Hg) Ritterschaft und Reformation (Paul Warmbrunn) 664

Olga WECKENBROCK (Hg) Ritterschaft und Reformation Der niedere Adel im Mitteleuropa des 16 und 17 Jahrhunderts (Kurt Andermann) 666

Tilman G MORITZ Autobiographik als ritterschaftliche Selbstverstaumlndigung Ulrich von Hutten Goumltz von Berlichingen Sigmund von Herberstein (Kurt Andermann) 667

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 7

Dieter LAMMERS Kloster Lorsch ndash die archaumlologischen Untersuchungen der Jahre 2010ndash2016 Zehntscheune und Forstgarten (Andreas Haasis-Berner) 743

Harald DERSCHKA (Bearb) Die Reichenauer Lehenbuumlcher der Aumlbte Friedrich von Zollern (1402ndash1427) und Friedrich von Wartenberg (1428ndash1453) (Barbara Frenk) 745

Ruth WIEDERKEHR Lesen schreiben beten heilen Die Bibliothek des mittelalterlichen Klosters Hermetschwil (Armin Schlechter) 747

Johannes MEYER Das Amptbuch Ed by Sarah Glenn DEMARIS

(Sabine von Heusinger) 749

8 Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

Lars BLOumlCK Die roumlmerzeitliche Besiedlung im rechten suumldlichen Oberrheingebiet(Markus Zimmermann) 749

Francisca FERAUDI-GRUEacuteNAIS Renate LUDWIG Die Heidelberger Roumlmersteine Bildwerke Architekturteile und Inschriften im Kurpfaumllzischen Museum Heidelberg (Markus Zimmermann) 752

Juumlrgen KEDDIGKEIT Stefan ULRICH (Hg) Ausgewaumlhlte Beitraumlge der pfaumllzischen Burgenforschung 2014ndash2018 (Volker Roumldel) 753

Roland WEIS Burgen im Hochschwarzwald (Boris Bigott) 755

Joumlrg KREUTZ Berno MUumlLLER (Hg) Sakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreis (Jutta Dresch) 757

Hans Rudolf SENNHAUSER Hans Rudolf COURVOISIER (dagger) in Zusammenarbeit mit Alfred HIDBER Eckart KUumlHNE Werner PETER Das Basler Muumlnster Die fruumlhen Kathedralen und der Heinrichsdom Ausgrabungen 1966 und 197374 (Matthias Untermann) 759

Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften in den Kreuzgaumlngen des Basler Muumlnsters ndash Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften der Basler Kirchen Bd 2 Muumlnster und Martinskirche (Kurt Andermann) 762

Hans Joachim HILDENBRAND Grabplatten Epitaphien und Gedenktafeln im Konstanzer Muumlnster (Wolfgang Zimmermann) 763

Peter KOHLGRAF Tobias SCHAumlFER Felicitas JANSON (Hg) Der Dom zu Worms Krone der Stadt Festschrift zum 1000-jaumlhrigen Weihejubilaumlum des Doms (Wolfgang Schenkluhn) 764

9 Allgemeine Stadtgeschichte

Gerhard FOUQUET Ferdinand OPLL Sven RABELER Martin SCHEUTZ (Hg)Social Functions of Urban Spaces through the Ages Soziale Funktionenstaumldtischer Raumlume im Wandel (Joachim Kemper) 766

Michel PAULY Martina STERCKEN Stadtentwicklung im vormodernen Europa Beobachtungen zu Kontinuitaumlt und Bruumlchen (Juumlrgen Treffeisen) 767

Guy THEWES Martin UHRMACHER (Hg) Extra muros Vorstaumldtische Raumlume in Spaumltmittelalter und fruumlher Neuzeit Espaces suburbains au bas Moyen Acircge et agrave lrsquoeacutepoque moderne (Joachim Kemper) 768

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 10

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Damaris GRIMMSMANN Krieg mit dem Wort Tuumlrkenpredigten des 16 Jahrhunderts im Alten Reich (Wolfgang Zimmermann) 669

Jean-Pierre KINTZ La Conquecircte de lrsquoAlsace Le triomphe de Louis XIV diplomate et guerrier (Volker Roumldel) 671

Oliver FIEG (Hg) Rastatt 1714 und der Traum vom Frieden (Bernd Wunder) 673

Bettina BRAUN Eine Kaiserin und zwei Kaiser Maria Theresia und ihre Mitregenten Franz Stephan und Joseph II (Gabriele Haug-Moritz) 676

5 19 und 20 Jahrhundert

Senta HERKLE Sabine HOLTZ Gert KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP (Hg)1816 ndash Das Jahr ohne Sommer Krisenwahrnehmung und Krisenbewaumlltigungim deutschen Suumldwesten (Ina Ulrike Paul) 677

Hans FENSKE Auf dem Weg zur Demokratie Das Streben nach deutscher Einheit 1792ndash1871 (Christopher Dowe) 681

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Nation im Siegesrausch Wuumlrttemberg und die Gruumlndung des Deutschen Reiches 187071 (Michael Wettengel) 682

Carl PISTER Tagebuch 1914ndash1918 hg von Volker KRONEMAYER (Michael Bock) 684

Walter MUumlHLHAUSEN Friedrich Ebert Sein Leben in Bildern (Martin Furtwaumlngler) 686

Andreas MORGENSTERN (Hg) Revolutionaumlre Jahre auf dem Land Vom Kriegsende 1918 zur Weimarer Republik in Mittel- und Suumldbaden (Michael Kitzing) 687

Bernd BRAUN Ulrike HOumlRSTER-PHILIPPS In jeder Stunde Demokratie Joseph Wirth (1879ndash1956) Ein politisches Portraumlt in Bildern und Dokumenten (Martin Furtwaumlngler) 690

Carola HOEacuteCKER Vom Freischaumlrler zum Parlamentarier Briefe des Reichstagsabgeordneten Marcus Pfluumlger (1824ndash1907) (Martin Furtwaumlngler) 692

Karlheinz LIPP Religioumlser Sozialismus in der Pfalz in der Weimarer Republik Ein Lesebuch (Frank Engehausen) 694

Frank ENGEHAUSEN Sylvia PALETSCHEK Wolfram PYTA (Hg) Die badischen und wuumlrttembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus (Christopher Dowe) 695

Christoph RAICHLE Die Finanzverwaltung in Baden und Wuumlrttemberg im Nationalsozialismus (Martin Stingl) 697

Pia NORDBLOM Walter RUMMEL Barbara SCHUumlTTPELZ (Hg) Josef Buumlrckel Nationalsozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz (Frank Engehausen) 699

Theacuteregravese REYNAUD Georges REYNAUD Henri MOOS Les Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949) (Brigitte und Gerhard Braumlndle) 701

Michael KITZING (Bearb) Die Protokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden Bd 1 Das erste Kabinett Maier 1945ndash1946 (Michael Bock) 703

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 8

Reneacute GILBERT Franz Gurk (Michael Kitzing) 705

Natalie POHL Atomprotest am Oberrhein Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970ndash1985) (Kurt Hochstuhl) 707

6 Bildungs- und WissenschaftsgeschichteMartina BACKES Juumlrgen DENDORFER (Hg) Nationales Interesse undideologischer Missbrauch Mittelalterforschung in der ersten Haumllfte des20 Jahrhunderts ndash Vortraumlge zum 75jaumlhrigen Bestehen der AbteilungLandesgeschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-UniversitaumltFreiburg (Juumlrgen Treffeisen) 707

Wilhelm KUumlHLMANN (Hg) unter Mitarbeit von Ladislaus LUDESCHER und mit einem Vorwort von Hermann WIEGAND Prata Florida Neue Studien anlaumlsslich des dreiszligigjaumlhrigen Bestehens der Heidelberger Sodalitas Neolatina (1988ndash2018) (Heiko Ullrich) 710

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Spaumltrenaissance in Schwaben Wissen ndash Literatur ndash Kunst (Eike Wolgast) 713

Klaus ARNOLD Franz FUCHS (Hg) Johannes Trithemius (1462ndash1516) Abt und Buumlchersammler Humanist und Geschichtsschreiber (Magnus Ulrich Ferber) 717

Joachim KNAPE Thomas WILHELMI (Hg) Sebastian Brant Bibliographie Forschungsliteratur bis 2016 Unter Mitarbeit von Gloria ROumlPKE-MARFURT und mit einem Beitrag von Nikolaus HENKEL (Michael Rupp) 719

Urs B LEU Peter OPITZ (Hg) Conrad Gessner (1516ndash1565) Die Renaissance der Wissenschaften The Renaissance of Learning (Matthias DallrsquoAsta) 721

Sven GUumlTERMANN Matern Hatten Ein Intellektuellenleben zwischen Humanismus und Reformation am Oberrhein (Klaus Buumlmlein) 723

Johann Heinrich ANDREAE Neapolis Nemetum Palatina uumlbersetzt und erlaumlutert von Lenelotte MOumlLLER (Volker Roumldel) 724

Reiner HAEHLING VON LANZENAUER Der badische Jurist Reichlin von Meldegg und seine Zeit (Frank L Schaumlfer) 726

Bernd MARTIN Die Freiburger Pathologie in Kriegs- und Nachkriegszeiten (1906ndash1963) Konstitutionspathologie Wehrpathologie und Menschenversuche bdquoPathologieldquo des Verdraumlngens (Karl-Heinz Leven) 727

Clemens BRODKORB Dominik BURKARD (Hg) Der Kardinal der Einheit Zum 50 Todestag des Jesuiten Exegeten und Oumlkumenikers Augustin Bea (1881ndash1968) (Michael Quisinsky) 730

Pierre FELDER Fuumlr alle Die Basler Volksschule seit ihren Anfaumlngen (Andreas Hoffmann-Ocon) 732

Isabell ARNSTEIN Die Geschichte der Zentralgewerbeschule Buchen (Heiko Ullrich) 737

7 Orden Kloumlster und StifteGabriela SIGNORI (Hg) Inselkloumlster ndash Klosterinseln Topographie und Toponymieeiner monastischen Formation (Julia Becker) 740

Jutta KRIMM-BEUMANN (Bearb) Die Benediktinerabtei St Peter im Schwarzwald (Thomas Zotz) 742

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 9

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Reneacute GILBERT Franz Gurk (Michael Kitzing) 705

Natalie POHL Atomprotest am Oberrhein Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970ndash1985) (Kurt Hochstuhl) 707

6 Bildungs- und WissenschaftsgeschichteMartina BACKES Juumlrgen DENDORFER (Hg) Nationales Interesse undideologischer Missbrauch Mittelalterforschung in der ersten Haumllfte des20 Jahrhunderts ndash Vortraumlge zum 75jaumlhrigen Bestehen der AbteilungLandesgeschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-UniversitaumltFreiburg (Juumlrgen Treffeisen) 707

Wilhelm KUumlHLMANN (Hg) unter Mitarbeit von Ladislaus LUDESCHER und mit einem Vorwort von Hermann WIEGAND Prata Florida Neue Studien anlaumlsslich des dreiszligigjaumlhrigen Bestehens der Heidelberger Sodalitas Neolatina (1988ndash2018) (Heiko Ullrich) 710

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Spaumltrenaissance in Schwaben Wissen ndash Literatur ndash Kunst (Eike Wolgast) 713

Klaus ARNOLD Franz FUCHS (Hg) Johannes Trithemius (1462ndash1516) Abt und Buumlchersammler Humanist und Geschichtsschreiber (Magnus Ulrich Ferber) 717

Joachim KNAPE Thomas WILHELMI (Hg) Sebastian Brant Bibliographie Forschungsliteratur bis 2016 Unter Mitarbeit von Gloria ROumlPKE-MARFURT und mit einem Beitrag von Nikolaus HENKEL (Michael Rupp) 719

Urs B LEU Peter OPITZ (Hg) Conrad Gessner (1516ndash1565) Die Renaissance der Wissenschaften The Renaissance of Learning (Matthias DallrsquoAsta) 721

Sven GUumlTERMANN Matern Hatten Ein Intellektuellenleben zwischen Humanismus und Reformation am Oberrhein (Klaus Buumlmlein) 723

Johann Heinrich ANDREAE Neapolis Nemetum Palatina uumlbersetzt und erlaumlutert von Lenelotte MOumlLLER (Volker Roumldel) 724

Reiner HAEHLING VON LANZENAUER Der badische Jurist Reichlin von Meldegg und seine Zeit (Frank L Schaumlfer) 726

Bernd MARTIN Die Freiburger Pathologie in Kriegs- und Nachkriegszeiten (1906ndash1963) Konstitutionspathologie Wehrpathologie und Menschenversuche bdquoPathologieldquo des Verdraumlngens (Karl-Heinz Leven) 727

Clemens BRODKORB Dominik BURKARD (Hg) Der Kardinal der Einheit Zum 50 Todestag des Jesuiten Exegeten und Oumlkumenikers Augustin Bea (1881ndash1968) (Michael Quisinsky) 730

Pierre FELDER Fuumlr alle Die Basler Volksschule seit ihren Anfaumlngen (Andreas Hoffmann-Ocon) 732

Isabell ARNSTEIN Die Geschichte der Zentralgewerbeschule Buchen (Heiko Ullrich) 737

7 Orden Kloumlster und StifteGabriela SIGNORI (Hg) Inselkloumlster ndash Klosterinseln Topographie und Toponymieeiner monastischen Formation (Julia Becker) 740

Jutta KRIMM-BEUMANN (Bearb) Die Benediktinerabtei St Peter im Schwarzwald (Thomas Zotz) 742

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 9

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Dieter LAMMERS Kloster Lorsch ndash die archaumlologischen Untersuchungen der Jahre 2010ndash2016 Zehntscheune und Forstgarten (Andreas Haasis-Berner) 743

Harald DERSCHKA (Bearb) Die Reichenauer Lehenbuumlcher der Aumlbte Friedrich von Zollern (1402ndash1427) und Friedrich von Wartenberg (1428ndash1453) (Barbara Frenk) 745

Ruth WIEDERKEHR Lesen schreiben beten heilen Die Bibliothek des mittelalterlichen Klosters Hermetschwil (Armin Schlechter) 747

Johannes MEYER Das Amptbuch Ed by Sarah Glenn DEMARIS

(Sabine von Heusinger) 749

8 Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

Lars BLOumlCK Die roumlmerzeitliche Besiedlung im rechten suumldlichen Oberrheingebiet(Markus Zimmermann) 749

Francisca FERAUDI-GRUEacuteNAIS Renate LUDWIG Die Heidelberger Roumlmersteine Bildwerke Architekturteile und Inschriften im Kurpfaumllzischen Museum Heidelberg (Markus Zimmermann) 752

Juumlrgen KEDDIGKEIT Stefan ULRICH (Hg) Ausgewaumlhlte Beitraumlge der pfaumllzischen Burgenforschung 2014ndash2018 (Volker Roumldel) 753

Roland WEIS Burgen im Hochschwarzwald (Boris Bigott) 755

Joumlrg KREUTZ Berno MUumlLLER (Hg) Sakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreis (Jutta Dresch) 757

Hans Rudolf SENNHAUSER Hans Rudolf COURVOISIER (dagger) in Zusammenarbeit mit Alfred HIDBER Eckart KUumlHNE Werner PETER Das Basler Muumlnster Die fruumlhen Kathedralen und der Heinrichsdom Ausgrabungen 1966 und 197374 (Matthias Untermann) 759

Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften in den Kreuzgaumlngen des Basler Muumlnsters ndash Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften der Basler Kirchen Bd 2 Muumlnster und Martinskirche (Kurt Andermann) 762

Hans Joachim HILDENBRAND Grabplatten Epitaphien und Gedenktafeln im Konstanzer Muumlnster (Wolfgang Zimmermann) 763

Peter KOHLGRAF Tobias SCHAumlFER Felicitas JANSON (Hg) Der Dom zu Worms Krone der Stadt Festschrift zum 1000-jaumlhrigen Weihejubilaumlum des Doms (Wolfgang Schenkluhn) 764

9 Allgemeine Stadtgeschichte

Gerhard FOUQUET Ferdinand OPLL Sven RABELER Martin SCHEUTZ (Hg)Social Functions of Urban Spaces through the Ages Soziale Funktionenstaumldtischer Raumlume im Wandel (Joachim Kemper) 766

Michel PAULY Martina STERCKEN Stadtentwicklung im vormodernen Europa Beobachtungen zu Kontinuitaumlt und Bruumlchen (Juumlrgen Treffeisen) 767

Guy THEWES Martin UHRMACHER (Hg) Extra muros Vorstaumldtische Raumlume in Spaumltmittelalter und fruumlher Neuzeit Espaces suburbains au bas Moyen Acircge et agrave lrsquoeacutepoque moderne (Joachim Kemper) 768

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 10

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Sabine von HEUSINGER Susanne WITTEKIND (Hg) Die materielle Kultur der Stadt in Spaumltmittelalter und Fruumlher Neuzeit (Mark Haumlberlein) 769

Michael ROTHMANN Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt und Geld 5 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte(Andreas Maisch) 770

Mathias KAumlLBLE Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt als Argument 6 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte(Anne Rauner) 773

Roland DEIGENDESCH Christian JOumlRG (Hg) Staumldtebuumlnde und staumldtische Auszligenpolitik ndash Traumlger Instrumentarien und Konflikte waumlhrend des hohen und spaumlten Mittelalters 55 Arbeitstagung des Suumldwestdeutschen Arbeitskreises fuumlr Stadtgeschichtsforschung (Juumlrgen Treffeisen) 776

Gabriel ZEILINGER Verhandelte Stadt Herrschaft und Gemeinde in der fruumlhen Urbanisierung des Oberelsass vom 12 bis 14 Jahrhundert (Juumlrgen Treffeisen) 779

Simon LIENING Das Gesandtschaftswesen der Stadt Straszligburg zu Beginn des 15 Jahrhunderts (Juumlrgen Treffeisen) 781

Franz-Joseph ARLINGHAUS InklusionndashExklusion Funktion und Formen des Rechts in der spaumltmittelalterlichen Stadt Das Beispiel Koumlln (Juumlrgen Treffeisen) 783

Dorothea WELTECKE (Hg) Zu Gast bei Juden Leben in der mittelalterlichen Stadt (Franz-Josef Ziwes) 785

10 Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

Peter KOumlRNER bdquoJetzt ist es mit Dir aushellipldquo 10 November 1938 in AschaffenburgOpfer Taumlter Ahndung und Erinnerung (Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer) 788

Hermann EHMER Helfenberg Geschichte von Burg Schloss und Weiler (Kurt Andermann) 790

Ernst Otto BRAumlUNCHE Frank ENGEHAUSEN Juumlrgen SCHUHLADEN-KRAumlMER (Hg) Aufbruumlche und Krisen Karlsruhe 1918ndash1933 (Michael Kitzing) 791

Peter KALCHTHALER Robert NEISEN Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Nationalsozialismus in Freiburg Begleitbuch zur Ausstellung des Augustinermuseums in Kooperation mit dem Stadtarchiv ndash Peter KALCHTHALER Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Freiburg im Nationalsozialismus (Christoph Kopke) 795

Schwetzingen Geschichte(n) einer Stadt (Harald Stockert) 797

Simon EICHSTETTER Geschichte und Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzingen (17 Jhndash1927) ndash aktualisiert von HenriHeinrich BLOCH

(1928ndash1938) ndash Transkription und Einfuumlhrung Frank-Uwe BETZ

(Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer) 800

Wolfram WETTE (Hg) bdquoHier war doch nichtsldquondash Waldkirch im Nationalsozialismus (Christoph Kopke) 802

Juliane GEIKE Andreas HAASIS-BERNER (Hg) Menschen in Bewegung (Mathias Beer) 804

00 Titelei ZGO 2020 Band 168 - 12 Sqxp_Layout 1 030221 0844 Seite 11

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Andermann Kurt 664 Andreae Johann Heinrich 724 Arlinghaus Franz-Joseph 783 Arnold Klaus 717 Arnstein Isabell 737 Auge Oliver 612 Backes Martina 707 Beck Erik 621 Betz Frank-Uwe 800 Bloch HeinrichHenri 800 Bloumlck Lars 749 Boumlhme Horst Wolfgang 610 Braumlunche Ernst Otto 791 Braun Bernd 690 Braun Bettina 676 Breul Wolfgang 664 Brodkorb Clemens 730 Buumlhler Michael 650 Burkard Dominik 730 Busch Joumlrg W 635 Butz Eva-Maria 621 Conrad Ruth 617 Courvoisier Hans Rudolf dagger 759 DallrsquoAsta Matthias 659 660 Deigendesch Roland 776 DeMaris Sarah Glenn 749 Dendorfer Juumlrgen 624 641 707 Derschka Harald 745 Dobiat Claus 610 Dora Cornel 630 Drecoll Volker Henning 617 Ehmer Hermann 790 Eichstetter Simon 800 Engehausen Frank 695 791 Felder Pierre 732 Fenske Hans 681 Feraudi-Grueacutenais Francisca 752 Fieg Oliver 673 Fouquet Gerhard 766 Frank Guumlnter 656 Fruumlhauf Helmut 640 Fuchs Franz 717

Geike Juliane 804 Gilbert Reneacute 705 Greyerz Kaspar von 653 Grimmsmann Damaris 669 Guumltermann Sven 723 Haasis-Berner Andreas 804 Haehling von Lanzenauer Reiner 726 Hartmann Mareike 785 Hein Heidi 659 660 Helmrath Johannes 652 Henkel Nikolaus 719 Hepp Gerd F 626 Herbers Klaus 620 Herkle Senta 677 Herrmann Christian 637 Heusinger Sabine von 769 Hidber Alfred 759 Hildenbrand Hans Joachim 763 Hirbodian Sigrid 612 614 617 Hoeacutecker Carola 692 Houmlrster-Philipps Ulrike 690 Holtz Sabine 677 Janson Felicitas 764 Joumlrg Christian 776 Just Thomas 632 Kaumllble Mathias 773 Kalchthaler Peter 795 Keddigkeit Juumlrgen 753 Kieszligling Rolf 614 Kininger Kathrin 632 Kintz Jean-Pierre 671 Kitzing Michael 703 Knape Joachim 719 Kocher Ursula 652 Koelges Barbara 640 Koumlrner Peter 788 Kohlgraf Peter 764 Kollmer-von Oheimb-Loup Gert 677 Kowark Hannsjoumlrg 637 Kreutz Bernhard 636 Kreutz Joumlrg 757 Krimm Konrad 625 628

607BUCHBESPRECHUNGEN

Index der Autoren bzw Herausgeber der besprochenen Werke

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 607

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Krimm-Beumann Jutta 742 Kronemayer Volker 684 Kuumlhlmann Wilhelm 710 Kuumlhne Eckart 759 Lammers Dieter 743 Lange Axel 656 Lehmann Martin 639 Leu Urs B 721 Liening Simon 781 Lipp Karlheinz 694 Lorenz Soumlnke dagger 612 Ludescher Ladislaus 710 Ludwig Renate 752 Maag Heinz dagger 625 Maumlhrle Wolfgang 682 713 Martin Bernd 727 Melanchthon Philipp 659 660 Meyer Johannes 749 Moumlller Lenelotte 724 Moos Henri 701 Morgenstern Andreas 687 Moritz Tilman G 667 Muumlhlhausen Walter 686 Muumlller Berno 757 Muller Frank 661 Mundhenk Christine 659 660 Nehring Andreas 620 Neisen Robert 795 Nordblom Pia 699 Ochs Heidrun 644 Opitz Peter 721 Opll Ferdinand 766 Paletschek Sylvia 695 Pauly Michel 767 Peter Werner 759 Pister Carl 684 Plessen Marie-Louise von 615 Pohl Natalie 707 Pronay Andreas 762 Pyta Wolfram 695 Rabeler Sven 766 Raichle Christoph 697 Renner Armin 637 Reynaud Georges 701

Reynaud Theacuteregravese 701 Roumlpke-Marfurt Gloria 719 Rothmann Michael 770 Rummel Walter 699 Rupp Siegfried 625 Schaumlfer Tobias 764 Scheutz Martin 766 Schlechter Armin 640 Schmid Alois 609 Schreier Gero 649 Schuumlttpelz Barbara 699 Schuhladen-Kraumlmer Juumlrgen 791 Seidel Menchi Silvana 653 Sennhauser Hans Rudolf 759 Sieber Andrea 652 Signori Gabriela 740 Sommerlechner Andrea 632 Steiner Karin 620 Stercken Martina 767 Stockhausen Tilmann von 795 Studt Birgit 624 Syreacute Ludger 628 Taguchi Masaki 646 Thewes Guy 768 Treffeisen Juumlrgen 635 Uhrmacher Martin 768 Ulrich Stefan 753 Wallraff Martin 653 Weber Edwin Ernst 614 Weckenbrock Olga 666 Weigl Herwig 632 Weinacht Paul-Ludwig 626 Weis Roland 755 Weltecke Dorothea 785 Wette Wolfram 802 Wiegand Hermann 710 Wiederkehr Ruth 747 Wilhelmi Thomas 719 Wittekind Susanne 769 Wittmann Helge 770 773 Wolgast Eike 623 Zeilinger Gabriel 644 779 Zwink Eberhard 637

608 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 608

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Alois SCHMID (Hg) Das alte Bayern Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter (Handbuch der bayerischen Geschichte Bd 11) Muumlnchen Beck 2017 XX 724 S geb EUR 4995 ISBN 978-3-406-68325-1

Wohl fuumlr kein weiteres Bundesland steht einem breiten Publikum eine aumlhnlich groszlige Anzahl an Buumlchern zur Auswahl um sich uumlber die Geschichte gediegen zu informieren wie fuumlr Bayern Ob kurz und kompakt (Wilhelm Volkert) ob als an Studienzwecken orientiertes Nachschlagewerk (Peter Claus Hartmann) ob in den ganz unterschiedlich gearteten Gesamtdarstellungen aus den Federn Benno Hubensteiners von Friedrich Prinz und Andreas Kraus u a m Die landeshistorische Forschung indes griff zunaumlchst stets zum bdquoSpindlerldquo Der Inhaber des Lehrstuhls fuumlr bayerische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universitaumlt Muumlnchen Max Spindler (1894ndash1986) hatte 1967 den ersten Teilband des bdquoHandbuchs der bayerischen Geschichteldquo vorgelegt Bis 1975 gestuumltzt auf ein Team houmlchstkompetenter Autoren konnte das Gesamtwerk ndash vier Baumlnde in sechs Teilbaumlnden ndash publiziert werden Der ungewoumlhnliche Erfolg gab Anlass zu einer Neuauf-lage zunaumlchst unter Herausgeberschaft Spindlers dann von dessen Schuumller Andreas Kraus und wiederum dessen Schuumller Alois Schmid 2007 war ndash mit Einzelbaumlnden zu den bayerischen Regionen Schwaben Oberpfalz und Franken ndash dann auch diese zweite uumlber-arbeitete Neuauflage komplett auf dem Markt Spindlers Unternehmen war zunaumlchst nahezu einzigartig im geteilten Deutschland (etwa gleichzeitig wurde eine Geschichte Thuumlringens in Angriff genommen 1968ndash1984) und beeinflusste vergleichbare Hand-buchprojekte in anderen Bundeslaumlndern die teilweise auch andere Schwerpunkte setzten inhaltlich wie zeitlich zT auch Laumlndergrenzen uumlberschreitend (Rheinische Geschichte [1976ndash1983] Niedersachsen [1977ndash2010] Westfaumllische Geschichte [1982ndash1984] Baden-Wuumlrttemberg [1992ndash2007] oder Rheinland-Pfalz [1977ndash2012])

Seit 2017 liegt nun der bdquoSchmidldquo vor der die Zweitauflage zur altbayerischen Ge-schichte (1981) bis zum Herrschaftsantritt der Wittelsbacher 1180 ersetzt Elf Autorinnen und Autoren ndash bemerkenswerterweise allesamt keine Inhaber landesgeschichtlicher Lehr-stuumlhle bzw Professuren in Bayern ndash haben mitgewirkt die Geschichte von der Fruumlhzeit bis ins Hochmittelalter darzustellen Monographischen Zuschnitt hat die Darstellung zur Roumlmerzeit (Karlheinz DIETZ) Das bdquoMittelalterldquo geteilt haben sich Roman DEUTINGER (Agilolfingerzeit politische Entwicklung bis 1180) und Juumlrgen DENDORFER (innere Ent-wicklung ab 788) auf knapp 300 Seiten ndash und damit an der schon den bdquoSpindlerldquo kenn-zeichnenden Zweiteilung festgehalten Genaue Absprachen halten die Doppelungen in Grenzen die noch in der Erst- und Zweitauflage nicht selten waren und die unterschied-lichen landeshistorischen Schulen spiegelten Die systematischen Beitraumlge stammen aus der Feder von Ludwig HOLZFURTNER (Wissenschaft und Bildung Welt der Juden) Hans und Mechthild POumlRNBACHER (Literatur) Heidrun STEIN-KECKS und David HILEY (Kunst bzw Musik) Den Abschluss bilden Stammtafeln und Bibliographien zur gesamtbayeri-schen Geschichte einschlieszliglich elektronischer Hilfsmittel (Christof PAULUS Selbst- anzeige) Eingeleitet wird der Band mit Ausfuumlhrungen zu den naturraumlumlichen Bedin- gungen (Hansjoumlrg KUumlSTER) sowie zur Geschichte bis zum Ende der Keltenreiche verfasst von der Praumlhistorikerin Amei LANG Insgesamt ist der Band handlicher ausgefallen als sein Vorgaumlnger Die Fuszlignoten erscheinen als Endnoten was zweifellos dem marktorien-tieren Verlagskonzept eines Lesebuchs (zuungunsten des wissenschaftlichen Arbeits-buchs) geschuldet ist

Entscheidend muss die inhaltliche Beurteilung sein Auf erster Ebene mag auffallen dass Kaiser Arnulf von Kaumlrnten nun durchgehend Arnolf die ehedem Luitpoldinger jetzt

609Gesamtdarstellungen

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Liutpoldinger heiszligen (so auch Markgraf Liutpold) oder manch Agilolfingerherzog nun die richtigen Lebensdaten hat (die aus dem alten bdquoSpindlerldquo vielfach falsch weitertradiert wurden) Zentraler indes sind die deutlichen inhaltlichen Schwerpunktverlagerungen Transdisziplinaumlr wird die Ethnogenese vorgetragen die Darstellung zur Lex Baioariorum ist juumlngeren Forschungen zu den sogenannten Stammesrechten verpflichtet die Bedeu-tung der Karolingerzeit wird staumlrker konturiert die liutpoldingischen Neuansaumltze sind deutlich markiert die Mittel zur Sichtbarmachung von Herrschaft werden thematisiert Ansaumltze der Neuen Verfassungsgeschichte zu Amt und Rang sind umfaumlnglich beruumlck-sichtigt oder die komparatistische Darstellung des hochmittelalterlichen bayerischen Dynastenadels integriert gekonnt die breite mediaumlvistische Forschung der letzten Jahre Stets ist die groszlige Kennerschaft der Autorinnen und Autoren zu spuumlren denen es gelingt aus eigenen Forschungsfeldern wie aus der Literatur wesentliche Entwicklungslinien herauszuschaumllen und sie zu einem Gesamtbild zu formen und dies auf hochreflektierte Weise und erfreulich oft mit Blick uumlber die Grenzen Bayerns hinaus Der Schwerpunkt wird dabei auf juumlngste Literatur gelegt was einerseits den Angabenapparat verschlankt andererseits einen ndash wie fuumlr Handbuumlcher nicht unuumlblich ndash zum Teil unterschiedlichen Ab-gabetermin der Typoskripte und grundsaumltzlich forschungsgeschichtlich den Blick auch in aumlltere Auflagen des Handbuchs sinnvoll macht

Es ist leicht einem Handbuch Desiderata oder Missverhaumlltnisse vorzuwerfen Ist die Seitenzahl zwischen Roumlmerzeit und den Jahrtausenden davor ausgeglichen Ist die Auf-loumlsung in verschiedene Literaturapparate (Grundliteratur zu den einzelnen Paragraphen Endnoten) nicht unpraktisch Kommt eine Gliederung nach den Dynastien Agilolfinger Karolinger Liutpoldinger Welfen zuletzt auf den Fixpunkt 1180 zulaufend nicht einem remonarchisierenden Geschichtsverstaumlndnis recht nahe Ist ein an modern-staatlichen Grenzen orientiertes Raumverstaumlndnis als Untersuchungsgebiet noch tragfaumlhig Ein Handbuch muss stets Kompromisse eingehen zwischen Tiefenerschlieszligung und Reprauml-sentativitaumlt zwischen Eroumlrterung zentraler Forschungsfragen und Aufzeigen der groszligen Entwicklungslinien Ein Handbuch muss sich auf einen inhaltlichen Schwerpunkt kon-zentrieren den der bdquoSchmidldquo auf die politische Geschichte gelegt hat Dies geht not- gedrungen zu Lasten der Kulturgeschichte mit all ihren verschiedenen Tendenzen und Methoden Eine moderne Kulturgeschichte Bayerns zu schreiben ist demnach in der Viel-zahl der genannten Gesamtdarstellungen ein noch uneingeloumlstes Vorhaben Insgesamt ist das neue Handbuch der bayerischen Geschichte gerade in den Mittelalterteilen die allein der Rezensent beurteilen kann eine vorzuumlgliche Neuerscheinung Dass diese nur durch privates Maumlzenatentum veroumlffentlicht werden konnte liest man mit Erstaunen vor allem aber mit Dankbarkeit

Christof Paulus

Horst Wolfgang BOumlHME Claus DOBIAT (Hg) Handbuch der hessischen Geschichte Grundlagen und Anfaumlnge hessischer Geschichte bis 900 (Veroumlffentlichungen der His-torischen Kommission fuumlr Hessen Bd 635) Marburg Historische Kommission fuumlr Hessen 2018 X 728 S Abb geb EUR 48ndash ISBN 978-3-942225-43-4

Als fuumlnfter Band des sbquoHandbuchs der hessischen Geschichtelsquo ist nun das Grundlagen- und Nachschlagewerk zu den fruumlhen geschichtlichen Epochen auf dem Boden dieses Bundeslandes erschienen ndash fast gar zum Abschluss des Gesamtwerks Von diesem liegen bereits Baumlnde uumlber Hessen im Deutschen Bund und Deutschen Kaiserreich (erschienen 2003) sowie uumlber Bevoumllkerung Wirtschaft und Staat respektive Bildung Kunst und

610 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 610

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Kultur in der Periode von 1806 bis 1945 vor (erschienen 2010) Ein weiterer im Jahr 2014 veroumlffentlichter Teil des Handbuchs betrifft die kleineren nicht-kirchlichen Terri- torialstaaten im Bereich des aktuellen Landes Hessen vom zentralen Mittelalter bis zum Ende des Heiligen Roumlmischen Reiches im Jahre 1806 aber die sbquoGrundlagen und Anfaumlnge hessischer Geschichte bis 900lsquo kommen erst jetzt in dem hier zu besprechenden Band 5 zur Darstellung Dieser auf den ersten Blick etwas verwirrende Umstand ist der Tatsache geschuldet dass die Planungen fuumlr das Handbuch bis in das Jahr 1986 zuruumlckreichen und dass die verantwortliche Historische Kommission fuumlr Hessen ihr urspruumlngliches Kon-zept fuumlr das Werk im Jahr 2010 insgesamt revidierte Seither wird bei der Erstellung des Handbuchs eine offenere Konzeption gefahren die nun eher auch thematisch orien-tierte Kapitel zulaumlsst Auch der vorliegende Band uumlber die Grundlagen und Anfaumlnge der hessischen Geschichte verlaumlsst hie und da die alten Maszliggaben fuumlr das Handbuch und folgt den neuen Maximen indem gelegentlich thematische Schwerpunkte gesetzt und neue Forschungstendenzen aufgegriffen werden Im Ganzen bleibt aber das Prinzip der chronologischen Gliederung im Sinn einer historischen Epochenabfolge gewahrt ebenso erfuumlllt der Band die Anforderungen der traditionellen Auffassung Handbuumlcher haumltten groszlige uumlbergreifende und alle Themenbereiche einer Epoche abdeckende Werke zu sein

Am Anfang der fuumlnf behandelten Zeitabschnitte und Themen steht Hessens Vorge-schichte die der Natur der Sache gemaumlszlig einen sehr langen Zeitraum von zig-Tausenden von Jahren umspannt und von den ersten Spuren menschlicher Existenz in der Steinzeit bis zur (vorroumlmischen) Eisenzeit reicht also etwa bis zum Jahr 50 vor unserer Zeitrech-nung Dieses Kapitel das sachgemaumlszlig ungefaumlhr ein Drittel des Buches einnimmt ndash durch-aus anders als bei vergleichbaren landesgeschichtlichen Handbuumlchern ndash und so seinem groszligen Sujet auch gerecht werden kann ist wiederum sinnvoll und leserfreundlich untergliedert in die Abschnitte bdquoFruumlhzeit ndash Jaumlger und Sammlerldquo bdquoFruumlhe baumluerliche Kul-turentwicklungldquo bdquoMetall veraumlndert die Gesellschaftldquo (Claus DOBIAT S 3) sowie bdquoNeue Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturenldquo in der bdquokeltischenldquo Eisenzeit (Frank VERSE S 157) Eingangs des vorgeschichtlichen Teils wird zudem eindringlich bdquoder Genese eines archaumlologisch-historischen Bewusstseins in Hessenldquo nachgespuumlrt ndash und auch das ist ein besonders hervorzuhebendes Moment gerade dieses Handbuchbandes das sich keineswegs von selbst versteht Andererseits vermisst man eine nennenswerte Einfuumlhrung in bdquoRaum und Umweltldquo zu Beginn wie sie beispielsweise das neue bayerische Handbuch bietet respektive einen naumlheren Einblick in bdquoNaturraumlumliche Grundlagen [hellip]ldquo des Lan-des wie sie auf den ersten Seiten des baden-wuumlrttembergischen Handbuchs thematisiert werden Zum urgeschichtlichen Teil gehoumlrt auszligerdem ein kurzer Abschnitt uumlber bdquoFruumlhe sbquoGermanenlsquo in Hessenldquo ndash ein besonders heikles Thema das der Autor anhand der neue-ren Forschungsergebnisse klug auf den wissenschaftlichen Sachstand reduziert darstellt unter anderem indem er aufzeigt wie die bdquoGermanentheseldquo mit der fruumlher verbreiteten ethnischen Deutung archaumlologischer Befunde zusammenhaumlngt (Michael MEYER S 247) Einen weiteren betraumlchtlichen Teil des Bandes wiederum fast ein Drittel seines Umfangs nimmt die roumlmische Epoche ein in der das Land unter anderem durch die Einrichtung des Limes gepraumlgt wurde (Margot KLEE S 271 hier sind fuumlr die abgekuumlrzten Literatur-angaben andere Konventionen gewaumlhlt worden als sonst) Und die roumlmische Periode wird noch einmal aufgegriffen im Kapitel bdquoHessen in den Jahrhunderten zwischen Spaumltantike und fruumlhem Mittelalterldquo (Horst Wolfgang Boumlhme S 471) Vor solch gewaltiger praumlhis-torisch-protohistorischer Kulisse nimmt sich der Beitrag bdquoHessen im fruumlhen Mittelalterldquo

611Gesamtdarstellungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

der bis zur Formierung des Deutschen Reichs an der Wende des neunten zum zehnten Jahrhundert fuumlhrt und den Band abschlieszligt eher bescheiden aus (Matthias HARDT S 635) Es folgt dann noch das Ortsregister (S 715)

Der fuumlnfte Band des hessischen Handbuchs (im Sinn der Chronologie eigentlich der erste Band) ist von einem durch umfassende Expertise ausgewiesenen Autorenteam mit groszliger Sorgfalt erstellt worden Das Werk mag insbesondere auch von der generellen Uumlberarbeitung des hessischen Handbuchkonzepts im Jahr 2010 profitiert haben als die Ausrichtung und Zielsetzung des Gesamtwerks grundsaumltzliche Veraumlnderungen erfuhren Jedenfalls gibt es wenig Grund die langwierigen und verwickelten Planungen und Ver-zoumlgerungen im Werdegang des Buches (S VI) zu beklagen sie haben sich in diesem Fall so scheint es mir durchaus positiv ausgewirkt Im Mittelpunkt des Buchs steht noch dem urspruumlnglichen Konzept folgend eine chronologisch aufgebaute Darstellung der Anfaumlnge hessischer Geschichte eben der vor- und fruumlhgeschichtlichen Perioden bdquoDie Erkenntnisse uumlber diese lange historische Phase beruhen fast ausschlieszliglich auf archaumlo-logischen Quellen Daher steht die Ereignisgeschichte zugunsten einer Kulturgeschichte zuruumlck die sich insbesondere mit dem Stand der sich permanent entwickelnden mate-riellen Zivilisation befasst und am Ende im buchstaumlblichen Sinne Worte findet und erste Schriftquellen hervorbringtldquo (Claus Dobiat)

Unter solchen Vorzeichen ergab sich die Notwendigkeit und andererseits auch die Chance die herkoumlmmlichen Handbuchkonventionen aufzuweichen und zu neuen Hori-zonten aufzubrechen Beispielsweise gewinnt das Buch ganz erheblich durch den Ent-schluss der Herausgeber ndash beides namhafte Archaumlologen und Kulturwissenschaftler ndash den praumlhistorischen und archaumlologischen Kapiteln wenigstens ein Mindestmaszlig an Kar-tenskizzen und Abbildungen beizugeben Das gilt fuumlr saumlmtliche Teile des Buchs bis auf den fuumlnften und letzten Abschnitt uumlber bdquoHessen im fruumlhen Mittelalterldquo Dafuumlr ist der Leser dankbar und dies mag dem Band der sich streckenweise geradezu spannend liest viel-leicht auch zu einem zahlreicheren Publikum mit Interesse an der fruumlhen Geschichte des Landes Hessen verhelfen Wenn es um die Benutzung und Erschlieszligung des gewichtigen Werks geht so ist zum Schluss ein kleiner Kritikpunkt doch noch anzubringen Das beigegebene Register scheint nur rudimentaumlr ausgebildet es ist ein bloszliges bdquoOrtsregisterldquo (S 715ndash728 von Aachen bis Zwesten) Ein solch knapper Index duumlrfte die Benutzung und Erschlieszligung dieses wichtigen Grundlagenwerks nicht gerade erleichtern Aber dies kann die Freude uumlber das Erscheinen des Bands der auch im Aumluszligeren ansprechend gestaltet und gediegen ausgestattet ist nicht wirklich truumlben

Alfons Zettler

Soumlnke LORENZ (dagger) Oliver AUGE Sigrid HIRBODIAN (Hg) Handbuch der Stiftskirchen in Baden-Wuumlrttemberg Ostfildern Thorbecke 2019 720 S Abb Kt geb EUR 58ndash ISBN 978-3-7995-1154-4

Ein langer Entstehungsweg ist erfolgreich zu Ende gegangen Das Stiftshandbuch fuumlr Baden-Wuumlrttemberg ist nach einer langen Zeit fertiggeworden Die Geschichte der Ent-stehung spiegelt die bedingte Planbarkeit von solchen Mammutunternehmen wider die nicht zuletzt durch den allzu fruumlhen Tod des sbquoAntreiberslsquo Prof Dr Soumlnke Lorenz gelitten hat So ist den beiden anderen Herausgebern sehr zu danken dass sie das Werk trotz aller Widrigkeiten zu Ende gebracht haben Die circa 140 Stiftsartikel die auf dem For-schungsstand um das Jahr 2000 uumlberwiegend rekurrieren zeigen die wissenschaftlichen Staumlrken wie auch Desiderata bei diesen geistlichen Institutionen Die groumlszligten Luumlcken

612 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 612

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

liegen hier wie haumlufig auch in der Klostergeschichtsschreibung in der Fruumlhen Neuzeit Handbuumlcher spiegeln damit den Forschungsstand ziemlich eindeutig wider

In diesem Band sind alle Kanonikerstifte im Raum des heutigen Bundeslandes Baden-Wuumlrttemberg vereinigt von Kanonikern und Kanonissen Saumlkular- und Regularkanoni-kerstiften (Augustinerchorfrauen bzw -herren Praumlmonstratenserinnen und Praumlmonstra- tensern) aber auch von Antonitern und Heiliggeist-Spitalorden Kamillianern und Pia- risten Damit sind viele geistliche Institutionen in das Blickfeld geraten die haumlufig nur in der zweiten oder dritten Reihe der Beobachtung stehen Die Umschreibung bdquoWas ist ein Stiftldquo bleibt eine groszlige Herausforderung sie unterliegt enormen Unterschieden in den jeweiligen Zeitlaumluften Stift und Kloster werden bei der Wortwahl manchmal iden-tisch behandelt der Stiftsbegriff ist demnach sbquoschillerndlsquo Allein schon deshalb ist dieser Band wichtig fuumlr die weitere Stiftskirchenforschung (im Anschluss an Peter Moraw Irene Crusius u a) weil er unterschiedliche lokale wie regionale Zugaumlnge liefert die in kom-pakter Form bisher allenfalls in Ansaumltzen vorliegen Die ausfuumlhrliche Einleitung von Soumlnke LORENZ uumlberarbeitet von Oliver AUGE fuumlhrt intensiv in den bisherigen For-schungsstand zur Stiftskirchenforschung ein Chronologisch gegliedert wird versucht die allgemeinen Entwicklungen mit den regionalen Besonderheiten in Beziehung zu setzen

Die beigefuumlgten Karten zeigen deren Lage im heutigen Bundesland die dabei genutz-ten aktuellen Grenzziehungen helfen nur zur genauen Bestimmung der geographischen Lage geben aber keine Auskunft zur Gruumlndungs- und Schlieszligungszeit bzw zu den fruuml-heren Bistums- und Herrschaftsgrenzen Somit fehlen ndash bis auf Konstanz und dem 1828 gegruumlndeten Rottenburg ndash alle Domkapitel bzw Bistuumlmer die allesamt auszligerhalb des neuen Bundeslandes liegen in den Jahrhunderten vor Saumlkularisation und Mediatisierung jedoch die Geschichte der Stiftskollegien mitbestimmten Eine spezifische bdquosuumldwestdeut-sche Stiftslandschaftldquo kann damit nicht inhaltlich begriffen werden da das historisch Konstituierende fehlt der Stiftslandschaftsbegriff kann daher hier nur metaphorisch benutzt werden auszliger der zufaumllligen Lage im Bundesland hat die Gruppe der Stifte keine Gemeinsamkeit Dieses Manko findet sich in vielen Handbuumlchern die Gruumlnde hierfuumlr sind bekannt So kann die Einbindung der einzelnen Stiftsgeschichten in die allgemeine wie die regionale Geschichte nur am Einzelbeispiel geklaumlrt und eventuell diskutiert wer-den Die einzelnen Artikel sind in ihrem Umfang ein Reflex auf bdquodie Verweildauer des Einzelobjektes in der Geschichteldquo (Soumlnke Lorenz) Eine regionale Sakrallandschaft laumlsst sich allenfalls auf der Reichenau mit seiner Abtei und den fuumlnf benachbarten Stiftskirchen dichter beschreiben In Konstanz gab es neben dem Domstift noch drei weitere Saumlkular-kanonikerstifte eines uumlberdauerte das 12 Jahrhundert nicht (St Mauritius) Die Zusam-menschau der Einzelinstitutionen ergeben veraumlnderte Einsichten So hat die evangelische Reichsstadt Ulm nicht nur mit dem vorgestellten Augustinerchorherrenstift St Michael zu den Wengen eine katholische Enklave sondern mit der Deutschordenskommende eine zweite

Das Schema der Artikel ist an Vorbildern wie der Germania Sacra Helvetia Sacra und anderen Klosterhandbuumlchern angelehnt und erlaubt daher eine gewisse Vergleich-barkeit Wichtig und fuumlr die Forschung weiterfuumlhrend sind die Hinweise auf Ansichten Plaumlne Archivalien und eine Auswahlbibliographie Die Patrozinienangaben geben Fin-gerzeige auf die Heiligenverehrungen und deren Verbreitungen Fuumlr die Sphragistik geist-licher Institutionen wertvoll sind die Angaben bzw Abbildungen von Siegeln Natuumlrlich waumlre eine Online-Version des Handbuches sehr wuumlnschenswert diese Forderung wird

613Gesamtdarstellungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 613

Konrad KRIMM Ludger SYREacute (Hg) Herrschaftswissen Bibliotheks- und Archivbauten im Alten Reich (Oberrheinische Studien Bd 37) Ostfildern Thorbecke 2018 272 S Abb geb EUR 34ndash ISBN 978-3-7995-7839-4

Obwohl die Geschichte des Archivierens und der Institution bdquoArchivldquo nun schon einige Zeit verstaumlrkt das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat und insbesondere die Kultur- und Medienwissenschaften das Thema entdeckt haben ist jenseits von Publikationen zu einzelnen Gebaumluden die zumeist anlaumlsslich von bdquoArchivjubilaumlenldquo oder Fertigstellungen von Neubauten entstanden sind wenig aus uumlbergreifender Sicht zur Unterbringung von Archiven publiziert worden Markus Friedrich hat in seinem kultur-wissenschaftlich ausgerichteten Buch uumlber die bdquoGeburt des Archivsldquo (Muumlnchen 2013) zu Recht auf die bdquobisher fehlende Architekturgeschichte der Archiveldquo hingewiesen (S 160) und ndash ohne die Absicht eine solche vorzulegen ndash fuumlr die Fruumlhe Neuzeit unter den Stichworten bdquoArchive als Raumstrukturenldquo bdquoArchivraumlume Schutzhuumlllen fuumlr fragile Beschreibstoffeldquo bdquodas wohlgeordnete Archiv als Raumidealldquo bdquoArchive als Teile von Gebaumludenldquo bdquoArchivmoumlbelldquo und bdquoArchivmobilitaumltldquo wichtige Beobachtungen angestellt (vgl ebd S 159ndash191)

Waumlhrend Friedrich mit vielen Beispielen aus der weiteren europaumlischen Perspektive spezifische Phaumlnomene der Unterbringung von Archiven beschrieben hat werden in dem hier zu besprechenden Band sowohl einzelne Bibliotheks- als auch Archivbauten im Alten Reich in den Blick genommen ebenfalls aus kulturwissenschaftlicher Sicht jedoch fokussiert auf einen bestimmten Aspekt wie schon der Obertitel anzeigt Denn Ziel dabei war bdquoauf die Zeichenhaftigkeit auch von Gebaumluden zu achtenldquo und bdquoBauprogramme zu sbquolesenlsquoldquo um die bdquoarchitektonische Huumllle von Buumlchern und Archivalienldquo als Repraumlsen- tanz von bdquoHerrschaft im weitesten Sinneldquo zu verstehen so Konrad KRIMM im Vorwort (vgl S 8)

Erwachsen ist die Publikation aus einer Tagung die 2015 gemeinsam von der Arbeits-gemeinschaft fuumlr geschichtliche Landeskunde am Oberrhein und der Badischen Biblio-theksgesellschaft im Schloss Altdorf veranstaltet wurde Vereint sind darin die folgenden elf Aufsaumltze von denen sieben auf Vortraumlge in Altdorf zuruumlckgehen und vier zusaumltzlich aufgenommen wurden Erich FRANZ Der Altdorfer Bibliotheksbau und das Werk Pierre Michel drsquoIxnards Julian HANSCHKE Archiv- und Schreibraumlume Kunstkammern und Bibliotheken auf dem Heidelberger Schloss Ludger SYREacute Kurpfaumllzische Pracht und badische Bescheidenheit Die Hofbibliotheken in Mannheim und Karlsruhe Hans-Otto MUumlHLEISEN Voneinander gelernt Ein vergleichender Blick auf die Bildprogramme der Klosterbibliotheken von Wiblingen St Peter auf dem Schwarzwald Bad Schussenried und ein Exkurs zu Weissenau Wolfgang WIESE bdquoWissen ist Machtldquo ndash Buumlcherschraumlnke als Herrschaftssymbole Konrad Krimm Klosterarchive Versuch einer Typologie Lea DIRKS Der Archivraum im Schloss Weikersheim Andreas WILTS bdquoEin solid- und von anderen abgesondertes Gebaumluldquo Das Fuumlrstlich Fuumlrstenbergische Archiv in Donaueschin-gen als wegweisender Archivbau des 18 Jahrhunderts Rouven PONS Sicherheit in schwerer Zeit Der Bau des Dillenburger Archivs 1764ndash1766 Joachim KEMPER bdquoder stat briefe mit laden zu ordenenldquo Beispiele reichsstaumldtischer Archivbauten und Archivein-richtungen Walter LIEHNER Pfennigturm am Rathaus und Stadtkanzlei Zwei Archiv-bauten aus reichsstaumldtischer Zeit in Uumlberlingen

Der uumlbergreifende und damit auch vergleichende Blick auf die beiden verwandten und historisch im Einzelfall sogar oft unmittelbar verbundenen Sphaumlren der Bibliotheken und Archive hat sich ndash wie der Band anschaulich zeigt ndash als uumlberaus tragfaumlhig erwiesen Denn

628 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

bei allen anderen entsprechenden Handbuumlchern ebenfalls immer wieder erhoben Dabei soll und darf man nicht vergessen dass der Informationsreichtum der in einem solchen stattlichen Band geboten wird unschaumltzbar groszlig ist und es soll auch noch Benutzerinnen bzw Benutzer geben die gerne ein Buch zur Hand nehmen und sich von scheinbar Nebensaumlchlichen inspirieren lassen Diese vielen Einzelinformationen erfolgreich zusammenbekommen zu haben vor dieser Leistung der Autorinnen und Autoren bzw Herausgeber sollte jede Leserin jeder Leser den Hut ziehen Damit waumlren wir wieder am Beginn der kurzen Besprechung Nicht nur dieser Band macht deutlich wie unendlich muumlhsam Grundlagenforschung und deren Koordinierung sein kann aber auch wie not-wendig und kostbar

Helmut Flachenecker

Sigrid HIRBODIAN Rolf KIESSLING Edwin Ernst WEBER (Hg) Herrschaft Markt und Umwelt Wirtschaft in Oberschwaben 1300 bis 1600 (Oberschwaben Forschungen zu Landschaft Geschichte und Kultur Bd 3) Stuttgart Kohlhammer 2019 384 S Abb geb EUR 29ndash ISBN 978-3-17-037333-4

Als Ertrag einer im Oktober 2015 in Bad Waldsee veranstalteten Tagung legt die Ge-sellschaft Oberschwaben fuumlr Geschichte und Kultur ein sowohl physisch als auch inhalt-lich gewichtiges uumlberdies musterguumlltig ausgestattetes Buch vor dessen redaktionelle Betreuung in den bewaumlhrten Haumlnden des Sigmaringer Kreisarchivars und Kulturreferen-ten Edwin Ernst Weber lag Unter dem Titel Umwelt und Bevoumllkerunglsquo geht es im ersten Themenblock mit Beitraumlgen von Josef MERKT Peter RUumlCKERT und Wolfgang SCHEFF-KNECHT gewissermaszligen um die natur- und kulturlandschaftlichen Voraussetzungen von Leben und Wirken in Oberschwaben insbesondere um Schwankungen im Klima und ihre Folgen fuumlr den Menschen und seine Gesundheit fuumlr die Konjunkturen der Wirtschaft fuumlr die Siedlungsentwicklung und fuumlr das Erscheinungsbild der Landschaft insgesamt Die folgenden Beitraumlge widmen sich den die derart aufgeschlagene Buumlhne bespielenden Akteuren aus Geistlichkeit Adel Stadtbuumlrgertum Bauerntum und Judenschaft Katherin BRUN stellt das Kloster Salem als bedeutende Wirtschaftsmacht im Bodenseeraum vor Edwin Ernst Weber und Manfred WASSNER tragen am Beispiel der Grafen von Zimmern und der ritteradligen Speth von Zwiefalten zur Revision herkoumlmmlicher Vorstellungen von adligem Wirtschaften und seinen Bedingungen bei Stefan SONDEREGGER thematisiert den Austausch zwischen einer stark spezialisierten Landwirtschaft in der Ostschweiz und dem hauptsaumlchlich Getreide produzierenden Ackerbau in Oberschwaben Martin ZUumlRN skizziert am Exempel der Gemeinde Unlingen in der Herrschaft Bussen baumluerliche Hand-lungsfelder zwischen Familie Herrschaft Gemeinde und Markt im 16 und 17 Jahr- hundert und Stefan LANG schildert die Voraussetzungen fuumlr juumldisches Wirtschafts- und Sozialleben in Oberschwaben das erst seit dem 16 Jahrhundert von einer groumlszligeren Rechtssicherheit profitierte Der dritte Themenbereich gilt mit fuumlnf Aufsaumltzen Maumlrkten und Gewerbenlsquo Anke SCZESNY fragt hier nach kulturgeschichtlichen Aspekten des Struk-turwandels in der oberschwaumlbischen Textillandschaft waumlhrend des 15 und 16 Jahrhun-derts Franz IRSIGLER handelt vor dem Hintergrund eigener einschlaumlgiger Forschungen im mittel- und niederrheinischen Raum uumlber Getreidemaumlrkte und Getreidepreise in Ober-schwaben Anna-Maria GRILLMAIER uumlber oberschwaumlbischen Ochsenimport und Fleisch-versorgung dazu passen die folgenden Beobachtungen Michael BARCZYKS zu Essen und Trinken im mittelalterlichen Oberschwaben und schlieszliglich betrachtet Rolf KIESSLING den oberschwaumlbischen Wirtschaftsraum der Vormoderne im uumlberregionalen Kontext

614 Buchbesprechungen

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Wie wurden sie empfangen Wie war die badische Bevoumllkerung auf die Zuwanderer ein-gestellt und welche Auswirkungen hatte die Tatsache dass Deutschland es sich jahrzehn-telang mit seiner Lebensluumlge bequem gemacht hatte kein Einwanderungsland zu sein Und lief es demgegenuumlber auf der lokalen Ebene nicht ganz anders wo kluge und prag-matische Kommunalpolitiker schon viel fruumlher verstanden hatten dass Deutschland de facto laumlngst schon ein Einwanderungsland war und dass Integration vorwiegend auf der lokalen Ebene geschieht Fragen gaumlbe es genug Antworten findet man in diesem Buch nur wenige

Was nun folgt sind mehrere Beitraumlge zu den Themen Heimat und Heimatbewusstsein die den Leser jedoch immer wieder vor die Frage stellen ob er nicht in die Achtzigerjahre zuruumlckversetzt wurde Saumltze wie bdquoBodenstaumlndige Heimat ist nicht nur Bauernland son-dern auch die Stadt der Buumlrgerldquo (S 107) Elogen auf den badischen Staatspraumlsidenten Leo Wohleb Seitenhiebe besser Breitseiten auf die bdquoStuttgarter Buumlrokratieldquo eine Aus-einandersetzung mit der Suumldweststaatgruumlndung die einen an die Debatten zu Beginn der 1950er Jahre erinnert und nicht zuletzt ein politisch gepraumlgter Kampfjargon sorgen fuumlr Irritationen Die bdquoTraumlger des ideologisch progressiven Kulturtypusldquo der 1970er Jahre sind demnach diejenigen die bdquoheute von innen und ganz obenldquo gruumlszligen und bdquodie oumlffentliche Meinungldquo sowie bdquodie Grenzen sbquopolitischer Korrektheitlsquo bestimmenldquo (S 111) Zur Erklauml-rung Gemeint sind Aktivisten aus der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung die sich in den 1970er Jahren gegen das Kernkraftwerk in Wyhl wehrten und ihr eigenes Heimat-verstaumlndnis hatten das aber so der Autor Paul-Ludwig WEINACHT keine bdquobleibende Gegenwartsform von Heimat am Kaiserstuhlldquo geworden sei Belege fuumlr solche pauscha-len Aussagen sucht man vergebens

Es folgen Beitraumlge von Jean-Marie WOEHRLING und Gerd F HEPP zum Heimatbewusst-sein im Elsass und zu den kulturellen Beziehungen zwischen Baden und dem Elsass die interessante Aspekte bieten bevor Robert MUumlRB aus seiner persoumlnlichen Perspektive nochmals in die Gruumlndungsgeschichte Baden-Wuumlrttembergs fuumlhrt Hier liest man vom bdquoberechtigten Unbehagen in weiten Teilen der badischen Bevoumllkerungldquo gegen den Stutt-garter Zentralismus vom bdquozentralistisch orientierten Verwaltungsdenken Alt-Wuumlrttem-bergsldquo das in Stuttgart Tradition habe und man lernt der Stuttgarter Landtag geriere sich bdquowie der Gemeinderat von Stuttgartldquo (S 145) Statt mit einer Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff endet das Buch also mit Verbandspolitik

Kein Zweifel Heimat ist wieder bdquoinldquo Lange Zeit war sie fuumlr viele ein toxischer Be-griff entweder altmodisch und hinterwaumlldlerisch konnotiert oder aufgrund der deutschen Geschichte belastet und nicht salonfaumlhig Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend veraumlndert Die Gruumlnde sind vielfaumlltig und hier nicht im Einzelnen zu erlaumlutern Sie reichen von der Zuwanderung uumlber die Globalisierung bis hin zur Digitalisierung Vor diesem Hintergrund gaumlbe es Dutzende interessanter Fragen wie mit dem schillernden und doch wichtigen Begriff der Heimat umzugehen ist in Staumldten in denen fast die Haumllfte der Be-voumllkerung einen sogenannten Migrationshintergrund hat genauso wie auf dem vermeint-lichen bdquoLandldquo das ja von ebendiesen Entwicklungen keinesfalls abgeschnitten ist Wie sieht ein offener Heimatbegriff aus der nicht ausschlieszligt sondern integriert Auf welchen Wertvorstellungen basiert er Und wie ist er zu fuumlllen damit er nicht von Populisten und Rechtsextremen missbraucht werden kann Antworten auf diese Fragen die gerade auch im regionalen Kontext von aktuellem Interesse sind findet man in diesem Band nur wenige

Reinhold Weber

627Gesamtdarstellungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Finanzbesitz stuumltzen konnte Diese beiden gut recherchierten Beitraumlge werden ergaumlnzt von einer Edition der Stiftsstatuten von 1721

Die juumlngere Geschichte des Damenstifts bis in die Gegenwart wird von Heinz Maag und Siegfried Rupp nachgezeichnet Der Fokus liegt dabei auf dem Grundbesitz vor-nehmlich in Groumlberndorf urspruumlnglich ein Hofgut heute als Golfplatz verpachtet Dieser Beitrag ist wie auch die vorherigen mit zumeist farbigem Bildmaterial reichhaltig illustriert Eine Portraumltserie der Aumlbtissinnen sowie Listen der Stiftsdamen Familienrats-mitglieder und Stiftsverwalter runden die Darstellung ab

Harald Stockert

Gerd F HEPP Paul-Ludwig WEINACHT (Hg) Heimat in Bewegung Heimatbewusstsein in Baden im Zeitalter von Mobilitaumlt und Migration (Schriftenreihe des Landesvereins Badische Heimat Bd 14) Freiburg i Br Berlin Rombach 2018 178 S Abb Kt Brosch EUR 24ndash ISBN 978-3-7930-5166-4

Es ist wie so oft bei Sammelbaumlnden Die einzelnen Beitraumlge wirken irgendwie zusam-mengewuumlrfelt und man sucht den roten Faden Der Band bdquoHeimat in Bewegungldquo geht auf eine Vortragsreihe aus dem Jahr 2017 zuruumlck die im Rahmen der Heimattage Baden-Wuumlrttemberg in Karlsruhe stattfand Der Titel des Bandes verspricht eine Art Migra- tionsgeschichte des badischen Landesteils Das waumlre zu begruumlszligen denn vergleichbare Arbeiten gibt es nicht Der Titel verspricht aber auch eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff bzw dem Heimatbewusstsein in Baden arbeitet hierbei aber ohne theoretische Grundlage sieht man von dem einleitenden Beitrag von Arnold STADLER zum Begriff Heimat ab der aber eher eine persoumlnliche Annaumlherung an das Thema ist Letztendlich bietet der Band ndash man muss es leider sagen ndash beides nicht Manche der Bei-traumlge sind dennoch lesenswert

Thomas SCHNABEL bietet zunaumlchst einen kursorischen Uumlberblick uumlber die badische Auswanderungsgeschichte ndash ein Parforceritt uumlber rund 200 Jahre (wohlgemerkt auf elf Seiten) der das Thema lediglich grob umreiszligt Profunder erweist sich der Beitrag von Alexandra Fies die die Auswanderung aus Karlsruhe im spaumlten 19 Jahrhundert darstellt und dabei auf ihre eigenen Forschungen zuruumlckgreifen kann Der Beitrag ist gut strukturiert datengesaumlttigt und auch methodisch uumlberzeugend Der Band springt nun um rund 100 Jahre weiter zur Integration der Fluumlchtlinge und Vertriebenen in Karlsruhe nach 1945 mit einem Beitrag von Hans-Juumlrgen VOGT der den Begriff des bdquoIntegrationswundersldquo thematisiert aber letztlich kaum problematisiert Zum Thema liegen zahlreiche neue Forschungserkenntnisse vor deren Uumlberpruumlfung an den Karls- ruher Gegebenheiten sich angeboten haumltte Alfred EISFELD behandelt dann die bdquoalte und neue Heimat der Russlanddeutschenldquo und beginnt mit der Auswanderung von Badenern im Zuge der Kolonisationspolitik der Zarin Katharina II die im vorhergehen-den Beitrag von Thomas Schnabel noch bdquoeine unbedeutende Rolleldquo fuumlr die Auswande-rung im Suumldwesten gespielt haben soll Spaumltestens nun vermisst der Leser besagten roten Faden

Max MATTER ein ausgewiesener Kenner der Materie befasst sich in seinem Beitrag mit der Zuwanderung von Tuumlrkeistaumlmmigen in der sogenannten Wirtschaftswunderzeit Ein lesenswerter Beitrag aber unter dem Aspekt einer badischen Migrationsgeschichte fragt man sich wo all die anderen Nationalitaumlten und all die anderen Migrantengruppen bleiben die ebenfalls in den letzten rund siebzig Jahren ins Badische eingewandert sind

626 Buchbesprechungen

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wobei es zu differenzieren gilt zwischen dem oumlstlichen und suumldlichen Oberschwaben in dem das Textilgewerbe eine groumlszligere Rolle spielte und dem Westen der Region in dem Getreideanbau und Weinkulturen dominierten In einem Anhang gibt fuumlr den eiligen Leser Edwin Ernst Weber auch noch eine Zusammenfassung und Einordnung des Gebotenen Ein Register der Orte und Personen erschlieszligt das facettenreiche Gebinde dem gezielten Nutzerzugriff Dass in so gut wie allen Beitraumlgen dieses Buchs die traditionelle Perioden-grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit unberuumlcksichtigt bleibt kommt dem Ganzen sehr zugute und ist eigentlich ein Gebot einer wohlverstandenen und zeitgemaumlszligen Lan-desgeschichte Und wieder einmal zeigt sich dass bei der Gesellschaft Oberschwaben fuumlr Geschichte und Kultur auf Qualitaumlt Verlass ist

Kurt Andermann

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Marie-Louise VON PLESSEN (Hg) Der Rhein Eine europaumlische Flussbiografie Begleitbuch zur Ausstel-lung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn 20162017 Muumlnchen London New York Prestel 2016 333 S Abb geb EUR 3995 ISBN 978-3-7913-8308-8

Urspruumlnglich war die Ausstellung die der Katalog dokumentiert 201213 fuumlr das Museacutee de lrsquoHistoire de France in Paris geplant kam hier aber nicht zustande Gezeigt wurde sie dann 201617 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Bonn Diese europaumlische Flussbiografie umspannt einen Rahmen von 2000 Jahren der im Zen-trum von Europa liegende 1250 Kilometer lange Fluss von denen 850 Kilometer von Basel bis zur Nordsee schiffbar sind durchflieszligt die wichtigsten Ballungsraumlume Europas und spielte eine zentrale Rolle bei der europaumlischen Integration

Ein in Straszligburg gefundener Weihe-Altar aus der Zeit um 135 n Chr ist der Flussgott-heit Rheno Patri gewidmet dem Vater Rhein In antiker Zeit war der Fluss die Lebens-ader der Nordwestprovinzen des roumlmischen Imperiums das hier im fruumlhen 5 Jahrhundert zusammenbrach Aus roumlmischen Civitates wurden die Bischofssitze der sich vom 3 bis 5 Jahrhundert entwickelnden rheinischen Bistuumlmer der im Spaumltmittelalter so genannten Pfaffengasse Zusammen mit den Heidelberger Pfalzgrafen lagen mit Koumlln Mainz und Trier vier Kurfuumlrstensitze in der Rheinregion Der Speyerer Dom war ein Herrschafts-zentrum der Salier der Kurverein von Rhense legte 1338 die Modalitaumlten der Wahl des deutschen Koumlnigs fest und der Auftritt von Martin Luther beim Reichstag zu Worms war eines der wichtigsten Ereignisse der Reformation in Deutschland In den Staumldten am Rhein entwickelten sich fruumlh juumldische Gemeinden

Als Handelsweg brachte der Rhein den Staumldten mit ihrem Stapelrecht groszligen Reich-tum Hier wurden Luxuswaren transportiert aber auch der in groszliger Menge angebaute Wein Der sich entwickelnde Buchdruck spielte eine groszlige Rolle in Basel Straszligburg und Koumlln bedeutende Humanisten wie Erasmus von Rotterdam und Sebastian Brant wirkten hier und es entstand die neben Oberitalien bedeutendste Bildungslandschaft der Zeit mit etlichen Universitaumlten Das selbstbewusste wohlhabende Buumlrgertum mit seinem Abbildungs- und Repraumlsentationsbeduumlrfnis fuumlhrte zu einer eigenen Kultur- und Kunst-landschaft

Ab dem 17 Jahrhundert wurde der Rhein zum Kriegsschauplatz zum sbquoKriegs-Thea-trumlsquo Nach dem Dreiszligigjaumlhrigen Krieg mit dessen Ende der Fluss zur Grenze zwischen Deutschland und Frankreich wurde litten die Regionen am Rhein im verheerenden Pfaumll-zischen Erbfolgekrieg unter der franzoumlsischen Reunionspolitik und auch die erste Haumllfte

615Gesamtdarstellungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Mertens vertraut seit Studientagen widmete sich einem aus dem engen Austausch mit diesem gewonnenen Thema naumlmlich der Rolle der Bibel bei der Legitimation von Gewalt im Mittelalter naumlherhin beim Beginn der Kreuzzuumlge und aumlhnlich zur Abwehr der sbquoTuumlr-kengefahrrsquo (S 51ndash59) Als einer seiner Schuumller stellte sich Markus MUumlLLER mit bdquoDer lothringische Landesdiskurs im Zeitalter des Humanismusldquo (S 61ndash75) geistesverwandt thematisch in die Nachfolge von Dieter Mertens indem er das Landesmodell der Histo-riographie am lothringischen Herzogshof wo ein Zusammenhang zwischen Land und Dynastie schwer herzustellen war kundig beschrieb Diese kleine aber feine Publikation dient neben dem erklaumlrten Ziel der Erinnerungspflege noch einem weiteren Auch in spauml-teren Jahren wird man hier dokumentiert finden wie gediegen Geschichtswissenschaft an der Schwelle zum 21 Jahrhundert betrieben und in welcher Weise und auf welch hohem intellektuellen und sprachlichen Niveau ein prominenter Vertreter dieses Fachs nach seinem Tod deswegen gewuumlrdigt wurde

Volker Roumldel

Konrad KRIMM Heinz MAAG (dagger) Siegfried RUPP 300 Jahre Kraichgauer Adeliges Damenstift [Karlsruhe] Selbstverlag des Kraichgauer Adeligen Damenstifts 2018 124 S Abb Brosch EUR 20ndash ISBN 978-3-00-060148-4

Das 300 Jubilaumlum im Jahr 2018 bot dem Kraichgauer Adeligen Damenstift eine will-kommene Gelegenheit in seine wechselvolle Geschichte zuruumlckzublicken Aus diesem Anlass veroumlffentlichte es eine uumlberarbeitete und erweiterte Neuauflage der Festschrift von 1993 wie damals vorrangig aus der Feder von Konrad KRIMM sowie dem aktuellen Stiftsverwalter Siegfried RUPP dem Nachfolger des seinerzeit mitbeteiligten inzwischen verstorbenen Heinz MAAG

Ausgehend von einer intensiven Analyse des Wappens des Damenstifts beschreibt Konrad Krimm die Entstehungsgeschichte sowie die rechtliche Verfasstheit dieser Ein-richtung des Kraichgauer Adels Sie geht zuruumlck auf die Stiftung Amalia Elisabeths von Mentzingen und verfolgte den Zweck unverheirateten evangelischen Frauen aus dem Ritterkanton Kraichgau ein standesgemaumlszliges wenn auch zuruumlckgezogenes Leben in einem weltlichen Stift zu ermoumlglichen Damenstifte dieser Art bildeten keine Seltenheit im Alten Reich meist mit groszliger Tradition ausgestattet Und so war es nur folgerichtig dass sich die Statuten des Kraichgauer Stifts aumlltere Vorbilder heranzogen Dabei orientierte man sich am Damenstift Oberstenfeld das zum Kanton Kocher gehoumlrte und sich 1710 neue Statuten gegeben hatte Diese Statuten wurden nun fuumlr das Kraichgauer Pendant weiter-entwickelt und an dessen spezifische Situation angepasst Letztere findet sich bereits im Stiftswappen dokumentiert wie Krimm detailliert herausarbeitet Denn das neue Kraich-gauer Damenstift befand sich in einer Gemengelage unterschiedlicher Kraumlfte Ein ein-geschriebenes Reichswappen weist auf die Reichsunmittelbarkeit des Stifts hin das den Rang eines Reichsfreiherrn innehatte Andererseits fuumlhren gold-rote Farben die politische Orientierung auf die Markgrafschaft Baden(-Durlach) vor Augen die nicht nur die Schutzmacht des Stifts sein sondern es auch in seinem Territorium beherbergen sollte Denn als Standort wurde 1720 die ehemalige badische Residenzstadt Pforzheim ausge-waumlhlt Baden blieb auch in spaumlteren Jahrhunderten die Heimat des Kraichgauer Damen-stifts Ihre jeweiligen Residenzen stellt Krimm in einem zweiten Beitrag vor Auf Pforzheim folgten im 19 Jahrhundert mehrere Unterkuumlnfte in Karlsruhe ehe 1871 der feste Sitz aufgegeben wurde und sich das Stift gewissermaszligen entmaterialisierte d h in den Zustand eines reinen Versorgungsnetzwerks uumlberging das sich auf Grund- und

625Gesamtdarstellungen

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des 18 Jahrhunderts war durch haumlufige Uumlbergriffe franzoumlsischer Truppen auf das rechts-rheinische Gebiet gekennzeichnet Waumlhrend bis dahin auf beiden Seiten der Bau von Festungen dominierte entwickelten sich in der zweiten Haumllfte des 18 Jahrhunderts in den Rheinresidenzen auch Gaumlrten und Lustschloumlsser

Das naumlchste einschneidende Ereignis war das Ausgreifen Frankreichs im Zuge der Revolutionskriege Bis dahin saumlumten 150 Herrschaften beide Seiten des Stroms Die napoleonische Zeit brachte den linksrheinischen deutschen Territorien eine Fremdherr-schaft aber auch ein Ende des Feudalismus und eine uumlberfaumlllige Modernisierung Als Folge der Befreiungskriege entwickelte sich ein deutscher Nationalismus der sich nach der Reichsgruumlndung verstaumlrkte Frankreich hatte dagegen schon in der Rheinkrise 184041 erneut die Rheingrenze gefordert Die deutsche Einigung und der Krieg 187071 ver-schaumlrften die nationalen Gegensaumltze

Eine tatsaumlchliche Grenzziehung des seinen Lauf haumlufig veraumlndernden Stroms machte uumlberhaupt erst die sich von 1817 bis 1876 erstreckende Rheinbegradigung moumlglich die Johann Gottfried Tulla begonnen hat und die den Rhein in ein maximal 250 Meter breites Bett zwaumlngte ndash mit erheblichen oumlkologischen Folgen 1815 wurde die sbquoZentralkommission fuumlr die Rheinschiffahrtlsquo ins Leben gerufen die erste und aumllteste internationale Kommis-sion aller sieben Uferstaaten 1831 legte die Mainzer Akte die Zollfreiheit fest bis 1789 hatte es allein von Straszligburg bis zur niederlaumlndischen Grenze 32 Zollstationen gegeben

Das 19 Jahrhundert brachte einen wirtschaftlichen Aufschwung am Rhein und den beginnenden Tourismus daneben war der Fluss immer auch kuumlnstlerisch eine bedeutende Inspirationsquelle Neu entdeckt wurde der Rhein in der Romantik Sie idealisierte Natur und Landschaft wies nun aber auch den Kriegsruinen des 17 und 18 Jahrhunderts einen aumlsthetischen Wert zu was dazu beitrug alte Antagonismen zu uumlberwinden Allerdings entdeckte auch die Hohenzollern-Monarchie nach 1815 den Rhein fuumlr sich was ab den 1820er Jahren auch zum Wiederaufbau von zerstoumlrten Rheinburgen fuumlhrte

Mit dem Waffenstillstand Ende 1918 besetzten unter anderem franzoumlsische Truppen die linksrheinischen Gebiete und Frankreich versuchte sie durch Foumlrderung des Separa-tismus oder durch kulturelle Maszlignahmen erfolglos fuumlr sich zu gewinnen Nach dem Zwei-ten Weltkrieg verschob sich der politische Schwerpunkt Deutschlands vom preuszligischen Berlin an den Rhein zur Bonner Republik Der Fluss verband die sechs Gruumlndungslaumlnder der heutigen Europaumlischen Union und einer der Vaumlter der europaumlischen Einigung der franzoumlsische Auszligenminister Robert Schuman hatte in Bonn studiert Mit dem Namen Eucor ist heute die grenzuumlberschreitende Forschung und Lehre der oberrheinischen Uni-versitaumlten verbunden und verschiedene Euregionen stehen fuumlr eine laumlnderuumlbergreifende Zusammenarbeit in kulturellen und anderen Bereichen am Rhein

Der reich illustrierte Ausstellungskatalog und seine etwa 20 Aufsaumltze unterschiedlichen Umfangs die jeweils von einer Zeittafel eingeleitet und um Zitate von Dichtern Philo-sophen und Politikern sowie um Beitraumlge von Kuumlnstlern ergaumlnzt werden beleuchten ganz unterschiedliche Facetten dieses fuumlr Westeuropa wichtigsten Flusses In der Antike und im Mittelalter hatte er groszlige politische kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung zur Neuzeit hin wurde er zudem jedoch mehr und mehr zur trennenden Grenze zwischen Deutschland und Frankreich Dies konnte erst mit der europaumlischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg uumlberwunden werden Hier spielte die bis 1990 bestehende Bonner Republik eine groszlige Rolle die der Katalog auch entsprechend wuumlrdigt

Armin Schlechter

616 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 616

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Die vorliegende Sammlung seiner Aufsaumltze zur Reichs- und Reformationsgeschichte vornehmlich des 16 Jahrhunderts die der Verfasser selbst verantwortete spiegeln also nur einen Ausschnitt allerdings einen houmlchst bedeutsamen Ausschnitt seines Wirkens als Historiker und Universitaumltslehrer Sie lassen sich unterschiedlichen Themenkreisen zu-ordnen allen voran der Interferenz von Religion und Politik in Reich Reichskirche und Territorium den Stellungnahmen zentraler Akteure zu Schluumlsselfragen des reformatori-schen Geschehens (Johannes Brenz Martin Bucer Johannes Bugenhagen Martin Luther Philipp Melanchthon und Thomas Muumlntzer ndash thematisch reicht das Spektrum von ihrer Taumltigkeit als politische Berater bis zu ihren Meinungsaumluszligerungen zu Bauernkrieg Ob-rigkeit und Widerstandsrecht) sowie mehreren Aufsaumltzen die sich mit den Taumlufern und den Juden als religioumlse Minderheiten befassen Eigens aufmerksam gemacht sei uumlberdies auf das gerade mehr als aktuelle Problem des Friedensschlieszligens dem der Verfasser in zwei Aufsaumltzen im zeitlichen Laumlngsschnitt nachgeht Zwischen 1976 und 2012 erstmals veroumlffentlicht haben die Beitraumlge unser Bild des 16 Jahrhunderts teils grundsaumltzlich teils im Detail gepraumlgt Noch heute mehr als lesenswert geben sie einen fundierten Ein-blick in das Werk eines bedeutenden Historikers Sie zeugen vom erfolgreichen Bemuumlhen Reichs- und Landesgeschichte konstruktiv auf einander zu beziehen dem hohen Stellen-wert den Wolgast der Geschichte der religioumlsen und politischen Ideen einraumlumt und von seinem Anliegen dem weiten (religioumlsen) Kosmos des 16 Jahrhunderts gerecht zu wer-den Es ist daher den Herausgebern der Reihe Jus Ecclesiasticum und dem Tuumlbinger Ver-lag Mohr Siebeck zu danken diese Texte bequem zugaumlnglich gemacht zu haben Moumlgen sie weiterhin inspirierend wirken

Norbert Haag

Juumlrgen DENDORFER Birgit STUDT (Hg) Zum Gedenken an Dieter Mertens Ansprachen und Vortraumlge beim Trauergottesdienst in der Liebfrauenkirche zu Guumlnterstal (17 Ok-tober 2014) und der Akademischen Gedenkfeier an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt (13 November 2015) (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelalters Bd 2) Ost-fildern Thorbecke 2019 75 S Brosch EUR 10ndash ISBN 978-3-7995-8551-4

Historiker wissen um die Zeitlichkeit jedes Individuums und wenn fuumlnf Jahre nach dem Tod eines so angesehenen und verdienten Hochschullehrers wie Dieter Mertens (9 1 1940 ndash 4 10 2014) die Nachfolgerin auf seinem Freiburger Lehrstuhl und der Inha-ber des Lehrstuhls fuumlr mittelalterliche Geschichte diese wertvolle Gedenkschrift heraus-gaben hatte das seine guten Gruumlnde Es war ndash so das Vorwort ndash nicht beabsichtigt etwa die zahlreichen Nachrufe auf Dieter Mertens zusammenzufuumlhren bzw aufzulisten (vgl den in ZGO 163 [2015] S 377ndash380) sondern es sollte zu seiner Wuumlrdigung Vorgetrage-nes festgeschrieben werden um die Erinnerung an ihn lebendig zu halten Allen die Die-ter Mertens kannten und schaumltzten tut es gut jetzt uumlber diese Texte verfuumlgen zu koumlnnen im Trauergottesdienst sprachen die Professoren Thomas ZOTZ fuumlr das Historische Semi-nar der Universitaumlt Freiburg Wolfgang ZIMMERMANN fuumlr die Kommission fuumlr geschicht-liche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg und Johannes HELMRATHBerlin als Freund und Fachkollege bei der Akademischen Gedenkfeier Hans-Helmuth GANDER als Dekan Joumlrn LEONHARD als Direktor des Historischen Seminars Birgit STUDT als Sprecherin des Mittelalterzentrums und Anton SCHINDLING (dagger) als Vorsitzender der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde bevor wiederum Thomas ZOTZ ein Wegbegleiter uumlber Jahr-zehnte den Verstorbenen als Kollegen und Forscher wuumlrdigte Es versteht sich dass auch die beiden wissenschaftlichen Vortraumlge hier publiziert wurden Gerd ALTHOFF mit Dieter

624 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 624

Ruth CONRAD Volker Henning DRECOLL Sigrid HIRBODIAN (Hg) Saumlkulare Prozessio-nen Zur religioumlsen Grundierung von Umzuumlgen Einzuumlgen und Aufmaumlrschen (Colloquia historica et theologica Bd 6) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2019 XV 428 S geb EUR 129ndash ISBN 978-3-16-155986-0 Bereits der Klappentext verraumlt dass es in diesem Tagungsband viel um Adjektive

gehen wird religioumls und sakral saumlkular und profan politisch und sozial mehrdimensional und soziokulturell All diese Adjektive beziehen sich auf die Definition von Prozessionen bzw ihrer Funktion ndash der Herstellung Darstellung und Performanz von Werten und Ord-nungen Der Band verfolgt die religioumls-kulturellen Weiterentwicklungen von Prozessio-nen und deren rituelle Dynamisierungsprozesse in (West-)Europa von der Antike bis zur Gegenwart und fokussiert dabei den urbanen Raum in dem Religion Gesellschaft und Politik vielfach verschraumlnkt sind Die Beitraumlge analysieren Saumlkularisierungsprozesse von religioumlsen Riten ebenso wie (zunaumlchst) saumlkular begruumlndete Prozessionen in ihrer religi-oumlsen Performanz Der chronologischen Anordnung der Beitraumlge entspricht eine vierfache Schwerpunktbildung ndash Zeitabschnitte naumlmlich in denen besondere rituelle Dynamisie-rungen von saumlkularen Prozessionen zu beobachten sind (I) Spaumltantike (II) Spaumltmittel-alter und Reformation (III) die Zeit nach der Franzoumlsischen Revolution und (IV) die Gegenwart

Einer offensichtlich fuumlr die Antike typischen saumlkularen Prozession dem Triumphzug der pompa triumphalis widmen sich die ersten drei Autoren Volker Henning DRECOLL betrachtet den Einzug Konstantins in Rom 312 als Umzug sekundaumlrer Religiositaumlt sogar mit bewusst unreligioumlsem bzw ambiguem Charakter der die Offenheit des Kaisers gegenuumlber Christentum wie Heidentum demonstrieren soll Auch der Einzug des sieg-reichen Feldherrn Belisar in Byzanz 534 scheint zunaumlchst ndash gerade im Vergleich zu einem typischen kaiserlichen adventus ndash ohne religioumlse Bezuumlge und ohne Nutzung der Sakral-topographie der Stadt auszukommen sakrale Wuumlrde aber wird in diesem Kontext Justi-nian selbst zuteil so argumentiert Mischa MEIER Dieser Deutung Justinians als imago Dei schlieszligt sich auch Steffen DIEFENBACH an der Rom und Byzanz und das Verhaumlltnis der Kaiser zu ihren Staumldten direkt vergleicht Waumlhrend in Rom der Kaiser nach dem Modell Trajans immer noch als princeps civilis letztlich also als Buumlrger einzog erwies sich der deutungsoffene Einzug der byzantinischen Kaiser in der Spaumltantike als deutlich anschlussfaumlhiger Die gleichzeitig vollzogene christlich motivierte Erniedrigung und Erhoumlhung des byzantinischen Kaisers in der pompa ermoumlglichte eine uumlberzeugende Performanz Hier im Uumlbrigen zeigt sich der Vorteil eines Sammelbandes Drei Autoren argumentieren an aumlhnlichem Quellenmaterial und kommen zu leicht unterschiedlichen aber durchaus miteinander gespraumlchsfaumlhigen Deutungsangeboten Robert KIRSTEIN beendet die Antike-Sektion indem auch er Triumphzuumlge analysiert allerdings im litera-rischen Medium der Gesaumlnge Ovids Waumlhrend Ovid in den Amores den Triumphzug pri-vatisiert und desakralisiert aber gleichzeitig ironisch resakralisiert stellt er in den Tristien die Unterscheidung von Fakt und Fiktion insgesamt in Frage und verweist damit auf den Mediencharakter des von ihm dargestellten Triumphzugs der Caumlsaren

Sabine RUumlCKERT fragt am Beispiel der spaumltmittelalterlichen Reginenprozession in Osnabruumlck in welcher Form eine religioumlse Prozession als bdquoBegleiterscheinung des Ereignissesldquo (S 162) Teil der staumldtischen Erinnerungskultur werden konnte Die sozial binnenfragmentierte aber letztlich doch eine Kultgemeinde darstellende Reginenprozes-sion uumlberfuumlhrte mit den Reliquien die Quelle der Sakralitaumlt in den Laienraum und deutete damit den urbanen Raum sakral um Aumlhnliche Funktionen weist auch Thomas WELLER

617Gesamtdarstellungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 617

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

tete er auch Briefe aus dem Nachlass Tellenbach aus ohne deren Kenntnis sich ein voumlllig anderes Bild der untersuchten Berufungsverfahren ergeben wuumlrde Tellenbach kaumlmpfte bei beiden Berufungsverfahren weniger auf fachlicher sondern auf politischer und wissenschaftspolitischer Ebene

Der von Thomas ZOTZ im Rahmen des Kolloquiums gehaltene Abendvortrag bdquoAle-mannien in der Karolingerzeit ndash Herrschaftstraumlger und politische Vororteldquo (S 145ndash159) wurde praktisch unveraumlndert aber mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat ergaumlnzt wiedergegeben Zotz zeigt immer wieder die Arbeiten Zettlers gewinnbringend und lobend beruumlcksichtigend den groszligen Stellenwert Alemanniens fuumlr die Karolinger Das Herrschergeschlecht fungierte als machtvollster Herrschaftstraumlger in diesem politischen Raum

Ein Verzeichnis der Schriften Alfons Zettlers runden diesen gewinnbringenden Band konsequenterweise ab in dem allerdings nicht alle beim damaligen Anlass gehaltenen Vortraumlge publiziert sind

Juumlrgen Treffeisen

Eike WOLGAST Aufsaumltze zur Reformations- und Reichsgeschichte (Jus Ecclesiasticum Bd 113) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2016 X 581 S geb EUR 99ndash ISBN 978-3-16-154198-8

Eike Wolgast dem die vorliegende Auswahl von Aufsaumltzen zu Reformations- und Reichsgeschichte zu verdanken ist darf als nunmehr uumlber 80-jaumlhriger auf ein reiches wis-senschaftliches Leben zuruumlckblicken Im mecklenburgischen Ludwigslust geboren kehrte er 1976 als nunmehr ordentlicher Professor fuumlr Neuere Geschichte und Direktor des Historischen Seminars nach Heidelberg zuruumlck an den Ort wo neben Goumlttingen 1956 (bis 1962) sein wissenschaftlicher Werdegang mit dem Studium der Geschichte Philo- sophie und lateinischen Philologie begonnen hatte Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2004 hat er zahlreiche Studien vorgelegt die vielfach zu zentralen wissenschaftlichen Referenzwerken avancierten ndash allen voran die Habilitationsschrift aus dem Jahre 1973 bdquoDie Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Staumlndeldquo (Goumlttingen 1977)

Ordentliches Mitglied der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg (seit 1987) der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (seit 1988) der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (seit 1988) sowie der Historischen Kommission fuumlr Mecklenburg (seit 1996) machte sich Eike Wolgast auch als Editor einen Namen insbesondere als verantwortlicher Leiter der Arbeitsstelle bdquoDeutsche Reichtagsaktenldquo deren Mittlere und Juumlngere Reihe er bis heute verantwortet und als Herausgeber der von Emil Sehling begruumlndeten Reihe der bdquoEvan-gelischen Kirchenordnungen des 16 Jahrhundertsldquo Dass seine Freude am wissenschaft-lichen Arbeiten die Emeritierung uumlberdauerte und seine Schaffenskraft ungebrochen anhielt davon zeugen unter anderem die monographischen Werke bdquoDie Geschichte der Menschen- und Buumlrgerrechteldquo (Stuttgart 2009) sowie bdquoDie Einfuumlhrung der Reformation und das Schicksal der Kloumlster im Reich und in Europaldquo (Guumltersloh 2014) Neben insge-samt 14 Monographien verzeichnet das Verzeichnis seiner Werke 10 (Mit)Herausgeber-schaften (ohne Reichsakten und Kirchenordnung) uumlber 200 Aufsaumltze sowie zahlreiche Lexikonartikel Thematisch im Vordergrund stehen Studien zur politischen Geschichte und Geistesgeschichte des 16 bis 20 Jahrhunderts mit einem deutlich erkennbaren Fokus im 16 und im 20 Jahrhundert (Nationalsozialismus) sowie zur (Heidelberger) Univer-sitaumltsgeschichte

623Gesamtdarstellungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 623

spaumltmittelalterlichen Prozession insgesamt zu die Herstellung von (teilnehmender) Inklusion und (zuschauender) Exklusion sowie von Identitaumlt und Gruppenkohaumlsion aber auch die performative Bekraumlftigung nicht nur der politisch-sozialen Ordnung sondern gerade der Hierarchien Der urbane Raum wurde dabei zu einem Raum der zugleich geschrieben und gelesen wird Mit der Zaumlsur der Reformation und ihrem Protest gegen das kirchliche Ritual erhielt die Teilnahme an einer Prozession Bekenntnischarakter wie Weller mit einem Blick auf den spanischen Barockkatholizismus zeigt aber auch die (protestantische) staumldtische Gemeinschaft blieb gerade in Zeiten der Egalisierung staumld-tischer Autonomie durch Staatsbildung auf performative Bekraumlftigung angewiesen Waumlh-rend Weller also keinen fruumlhneuzeitlichen Zug zur Saumlkularisierung erkennt betrachtet Marian FUumlSSEL bei Prozessionen im fruumlhneuzeitlichen Gelehrtenmilieu saumlkulare Aneig-nungs- und Uumlberschreibungsprozesse christlicher Riten und kommt zu dem Schluss dass sich spaumltestens um 1800 in Schuumlben ein akademischer Antiritualismus dieser bdquoformali-sierte[n] Praxisformation[en]ldquo (S 212) beobachten laumlsst bevor im 19 Jahrhundert ein zweites konfessionelles und damit rituelles Zeitalter anbrach

Mit der dritten Sektion und Hans-Ulrich THAMERS ritualtheoretischer Analyse der Fran-zoumlsischen Revolution in Paris beginnt der Terminus der Saumlkularisierung in diesem Band deutlich an Gewicht zu bekommen Den spontan-improvisierten Umzuumlgen der Anfangs-zeit folgten sakrale Aufzuumlge die sich religioumlser Elemente und komplexer Inszenierungen bedienten Erst mit der Machtuumlbernahme Napoleons im weiteren geschichtlichen Verlauf nahmen die Aufmaumlrsche einen insgesamt militaumlrischen Charakter an Lena KRULL fragt nach den saumlkularen Funktionen katholischer Prozessionen in Westfalen um 1850 Sie ermoumlglichten eine Positionierung fuumlr oder gegen den preuszligischen Staat insgesamt aber zeige sich auch hier dass die Unterscheidung von saumlkular und sakral in einer Zeit in der die Kirche selbst politische Positionen vertrat und inszenierte nicht anwendbar sei Man-fred HETTLING zeigt dass sich der Kern der rituellen Ausdrucksformen des Gefallenen-gedenkens in Deutschland bereits um 1813 herausbildete Grab und Begraumlbnis Denkmal und Jubilaumlen Daraus folgten Begraumlbniszuumlge kollektive Gaumlnge zur Kranzniederlegung und Sedanfeiern Ohne die Praxis der Rituale wurden Denkmaumller schnell uumlbersehen wie seit 1945 zu beobachten ist Immer mehr uumlbernehmen verbale Elemente die rituellen Inszenierungen der Gedenkkultur ndash Prozessionen wuumlrden diesen bdquointellektuell kontrol-lierte[n] politisch und normativ gefilterte[n] Aneignungsprozessldquo (S 269) stoumlren Hier wird die emotional-affizierende ndash und damit moumlglicherweise auch irritierende destabi-lisierende ndash Qualitaumlt jeder Form von Prozession angesprochen die sich in vielen Bei- traumlgen zeigt aber erstaunlicherweise nur selten ins Wort gefasst wird Die Berliner Auf-maumlrsche der Arbeiterbewegungen waumlhrend der Weimarer Zeit so analysiert Matthias WARSTAT scheiterten zumindest auch genau an dieser destabilisierenden Dimension an der mangelnden Disziplinierung der Teilnehmer Ebenso aber gelang es in den Arbeiter-aufmaumlrschen nicht die rationale Reserve mancher gegenuumlber prozessionshaften Emotio-nalisierungstendenzen auszuschalten und den fuumlr Prozessionen obligatorischen Modus des Als-ob das heiszligt das Bewusstsein von Artifizialitaumlt hochzuhalten Das gelang ebenso wie die fruumlhe Herausbildung fester Rituale der nationalsozialistischen Bewegung umso besser Thomas ROHRKRAumlMER analysiert den Versuch der Nazis ihre Weltanschau-ung in rituelle Form zu gieszligen und dabei durchaus eine sakrale Komponente zu bewahren naumlmlich bdquodie Vergoumlttlichung des Volkes als houmlchstem und ewigem Gutldquo (S 300) Zu-gleich aber zeigt sich in den Aufmaumlrschen und Festen der Nazis nicht eine direkt religioumlse sondern eine aumlsthetische Symbolisierung mit offenem Wahrheitsanspruch Die Nazis

618 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 618

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

wollten nicht bewusst religioumlsen Raum betreten das demonstriert auch ihr ambigues Ver-halten gegenuumlber den institutionalisierten Kirchen sondern erstrebten vielmehr die Her-stellung von Erfahrungsraumlumen politischer Sinnlichkeit und visueller Performanz die Prozessionselemente konstitutiv beinhalten Dieser Beitrag fuumlhrt aber auch vor Augen dass die Trennung von religioumls und aumlsthetisch wahrscheinlich ebenso wenig moumlglich ist wie die zwischen religioumls und saumlkular

Den Blick in die Gegenwart eroumlffnet Dominik BURKARD mit einer Deutung der Din-kelsbuumlhler Kinderzeche ein bis heute gefeiertes Fest das sein Vorbild in den katholischen Passionsprozessionen der Fruumlhen Neuzeit hat mit der Aufklaumlrung verboten wurde als evangelische Kinderzeche wiederbelebt und schlieszliglich resakralisiert wurde ndash ein wei-terer Beleg fuumlr das 19 Jahrhundert als ritualdynamischem Houmlhepunkt der juumlngeren Geschichte Die von Ronald HITZLER analysierte Loveparade nimmt das Ritual einer Par-tikulargemeinschaft mit gleichwohl hohem Inklusionspotential in den Blick in dem sich nun weniger religioumlse und saumlkulare Elemente verschraumlnken als vielmehr materialistische unternehmerische und stadtpolitische Die technoide Feierlaune habe traditionell einen Hang zur Transzendenzerfahrung und sei damit eine Manifestation religioumlser Erfahrung Umzuumlge so die Definition bieten Menschen bdquoGelegenheiten ihre Gesinnung hinaus zu tragen in das was man gemeinhin die Oumlffentlichkeitlsquo nenntldquo (S 375) Auch in der Ana-lyse des mehrtaumlgigen Protestereignisses bdquoWir haben Agrarindustrie sattldquo auf der Gruumlnen Woche in Berlin spricht Gregor Jonas BETZ kaum von bdquosaumlkularldquo oder bdquoreligioumlsldquo sondern praumlsentiert im Modus der teilnehmenden Beobachtung die Ablaumlufe dieses dicht getak- teten praumlzise choreographierten Rituals Diese bdquoProzessionldquo dient ebenso wie die meisten gegenwaumlrtigen nicht mehr der Stabilisierung oder Performanz einer herrschenden Ord-nung sondern der Auflehnung dagegen auch wenn Betz in ihnen eine Form populaumlrer Religion sieht da sie ein ganzheitliches Weltbild und ein rituell durchtraumlnktes Programm anboumlten Damit haben Bewegungen im oumlffentlichen Raum heute einen grundsaumltzlich anderen Charakter angenommen ndash den des Protests

Zwei Probleme zeigen sich in dieser insgesamt sehr qualitaumltvollen Anthologie dann doch Das eine ist die Deutungsheterogenitaumlt des Religionsbegriffs darauf verweist auch Angela TREIBER in ihrem Schlussbeitrag einem Fazit mit tagungsbeobachtenden Ele-menten Als bdquoLoumlsungldquo plaumldiert Treiber fuumlr einen weiten anthropologisch begruumlndeten Religionsbegriff im Anschluss an Luhmann der Religion als kulturellen Umgang mit der Erfahrung der Transzendenz versteht Sie verschwindet in der Moderne nicht sondern diffundiert in vielfaumlltigen oft gruppenspezifischen Praktiken Wenn die menschliche Faumlhigkeit zum Transzendieren als Grundlage von Religion als sozialem Phaumlnomen ver-standen wird erklaumlrt sich auch die vergemeinschaftende Wirkung von Prozessionen naumlm-lich bdquouumlber kulturell gepraumlgte Handlungsmuster ihres Vollzugsldquo (S 403) Mit diesem Religionsbegriff verabschiedet sich Treiber von beiden Thesen die ihrer Aussage nach die Tagung grundiert haben von der Saumlkularisierungsthese und damit der Vorstellung dass die fuumlr die Vormoderne typische religioumlse Grundierung aller Prozessionen sich in der Moderne aufloumlse ebenso wie von der Kontinuitaumltsthese dass prinzipiell jede Form von Umzug Einzug oder Aufmarsch religioumls konnotiert sei

Ein zweites Problem haumlngt mit dem Religionsbegriff zusammen Wie laumlsst sich eigent-lich die bdquoreligioumlse Grundierungldquo einer Bewegung feststellen von der der Titel spricht und wodurch zeichnet sie sich aus Saumlkulare und religioumlse Prozessionen sind nicht zu unterscheiden gerade dann nicht wenn man wie die Autor(inn)en des Bandes dezidiert auf die Performanz und rituelle Dimension der Bewegungen achtet Dementsprechend

619Gesamtdarstellungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 619

gen Personen die in einem Breve Pippins des Juumlngeren von 751768 und einem Diplom Ludwigs des Frommen von 828 genannt sind Hierbei handelt es sich nicht um Einzel-personen sondern um miteinander eng verbundene houmlherrangige Menschen Sie agierten nicht nur uumlberregional sondern hatten auch beachtliche im Reich weit verstreute Besit-zungen bdquoBurgen als Zentren politischer Netzwerkeldquo fragt Erik BECK und stellt bdquoUumlber-legungen zu einem Bolander Rechnungsfragment von 12581262ldquo an (S 31ndash75) Dieses Schriftstuumlck das als Bucheinband die Zeit uumlberdauerte erfasst uumlber einen Zeitraum von 14 Wochen die Ausgaben an Getreide fuumlr den Hof und das Burgpersonal auf der Burg Neu-Bolanden Es vermerkt die Anwesenheit von Arbeitern Angehoumlrigen der Familie von Bolanden und adligen sowie geistlichen Besuchern ebenso von Schultheiszligen und Bauern die Abgaben aus den umliegenden Doumlrfern ablieferten Dieses fuumlr den deutsch-sprachigen Raum beeindruckende Dokument hielt aber auch die temporaumlre Anwesenheit von Boten fest Mit Hilfe dieser und weiterer Quellen rekonstruiert Beck in uumlberzeugen-der Weise ein mehrere Ebenen umfassendes Beziehungsnetz Es werden verwandtschaft-liche Zusammenhaumlnge Lehensverbindungen sowie die damalige politische Orientierung sichtbar Eine Wiedergabe des Textes in modernem Deutsch sowie eine Zusammenstel-lung der anwesenden Personen schlieszligt die umfangreiche aumluszligerst gewinnbringende Abhandlung ab

Ulrich HUTTNER untersucht bdquoGriechenland an Hoch- und Oberrheinldquo und begibt sich auf bdquoeine Spurensuche zum Kulturtransfer in der Spaumltantikeldquo (S 77ndash91) Als Traumlger dieses spaumltantiken Netzwerkes ermittelt er ndash wenig uumlberraschend ndash Militaumlrs Amtstraumlger und den Klerus Insbesondere Militaumlrangehoumlrige bildeten eine gesellschaftliche Gruppe die sich durch eine groszlige Mobilitaumlt ndash auch zwischen der lateinischen und griechischen Sprachzone wechselnd ndash auszeichnete Den bdquoGesandtenaustausch zwischen Karl dem Groszligen und Harun al-Raschidldquo thematisiert Arne Timm und stellt die Frage nach der bdquoTranskulturelle(n) Vernetzung im fruumlhen Mittelalterldquo (S 93ndash104) Damals verdichteten sich die diplomatischen Kontakte zwischen Bagdad und Aachen auf eine fuumlr das Fruumlhmittelalter besondere Art und Weise die allerdings nur in zeitgenoumlssischen lateini-schen Quellen nicht jedoch in der griechischen oder arabischen Berichterstattung nach-zuweisen sind Dokumentiert wurde besonders der Austausch von Geschenken wobei ein Elefant am karolingischen Hof in Aachen bei den Zeitgenossen besondere Aufmerk-samkeit erzielte Karls Intention war es wohl die Situation der Christen im Orient zu verbessern

Eva-Maria BUTZ stellt in ihrem Beitrag bdquoVon Namenslisten zu Netzwerken Wald- rada Lothar II und der lothringische Adel im Spiegel der Gedenkuumlberlieferungldquo bdquoUumlber-legungen zur Anwendung der Netzwerkmethode in der Gedenkbuchforschungldquo an (S 105ndash117) Sie zeigt Moumlglichkeiten aber vor allem auch Grenzen einer computerge-stuumltzten Netzwerkforschung in Zusammenhang mit der Frage nach dem familiaumlren und sozialen Hintergrund von Waldrada der zweiten Ehefrau Koumlnig Lothars II auf Da diese Analyse auf Gedenkbucheintraumlgen basiert aumluszligert Butz die Hoffnung durch Ausweitung des Quellenmaterials doch noch weiterfuumlhrende Ergebnisse erzielen zu koumlnnen Einen weiten zeitlichen Sprung in die erste Haumllfte des 20 Jahrhunderts vollzieht Andre GUTMANN mit seiner Analyse bdquoNetzwerke im Einsatz ndash Gerd Tellenbachs Weg zur Beru-fung an die Universitaumlt Freiburg i Br 1939 und 19431944ldquo (S 119ndash144) Gutmann zeigt in seiner akribisch recherchierten und spannend zu lesenden Darstellung dass sich im Berufungsverfahren besonders signifikant akademische Netzwerke nachweisen lassen Neben den offiziellen im Freiburger Universitaumltsarchiv verwahrten Berufungsakten wer-

622 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 622

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

werden in diesem Band Prozessionen besprochen die trotz oder gerade wegen eines saumlkularen Anlasses eine religioumlse Kommunikation und Performanz aufweisen aber auch Beobachtungen von Saumlkularisierungsprozessen an christlichen Riten selbst fest- gehalten Und dementsprechend wird die religioumlse Grundierung der besprochenen Prozession nicht bei allen Beitraumlgen deutlich geschweige denn von den Autor(inn)en analysiert

Interessant sind die Perspektiven die Ruth CONRAD am Ende ihrer Einleitung nennt (I) die Verschraumlnkung von religioumls-sakralen und saumlkular-profanen Praktiken als Motor fuumlr Transformationen (II) die Beobachtung einer gegenwaumlrtigen Resakralisierung des urbanen Raumes (III) die noch staumlrker zu beruumlcksichtigende Ebene der Hierarchie zwi-schen den Akteuren einer Prozession und (IV) schlieszliglich die Perspektive dass Prozes-sionen bdquoein Akteur-Netzwerk aus Menschen und Dingenldquo (S 24) darstellen Letzteres bleibt ein Desiderat Zwar betrachtet fast jede(r) Autor(in) auch die materiale neben der koumlrperlichen und performativen Dimension von Prozessionen Fahnen und Plakate mitgetragene Reliquien und Instrumente werden genannt Aber genau diese materialen Elemente in ihrer Akteursrolle wahrzunehmen ndash das bleibt ebenso wie die oben ange-sprochene Analyse der moumlglicherweise auch emotional-affizierenden und damit desta-bilisierenden Wirkung von Prozessionen noch zu leisten

Daniela Blum

Klaus HERBERS Andreas NEHRING Karin STEINER (Hg) Sakralitaumlt und Macht (Beitraumlge zur Hagiographie Bd 22) Stuttgart Steiner 2019 247 S Brosch EUR 49ndash ISBN 978-3-515-12161-3

Was bedeutet Heiligkeit fuumlr Menschen aus unterschiedlichen Epochen und unterschied-lichen Regionen Dieser Frage geht der von Klaus HERBERS Andreas NEHRING und Karin STEINER herausgegebene Sammelband nach Zugleich dokumentiert der Band Diskussio-nen und Ergebnisse des Forschungsprojekts bdquoSakralitaumlt und Sakralisierung in Mittelalter und Fruumlher Neuzeit Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asienldquo das von 2010 bis 2017 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als DFG-Forschergruppe 1533 gefoumlr-dert wurde

Das Thema ist ebenso grundlegend wie anspruchsvoll Ausgehend von der These dass Sakralitaumlt als bdquoZuschreibungs- und Inszenierungsprozessldquo (S 8) in situativ unterschied-lichen Ausformungen zu verstehen ist eroumlrtern die Beitraumlge den Zusammenhang von Sakralitaumlt und einzelnen Personen ihrer Wirkmacht und ihrem sozial-kulturellen Umfeld Der Band nimmt sich folglich groszlige Themen vor Was macht Menschen aber auch Dinge oder Orte sakral Wer bestimmt uumlber die Qualifizierung als bdquosakralldquo mithin uumlber Prozesse und Wandlungen von Sakralisierung Dass die Beitraumlge diesen Fragen mit Einzelstudien aus unterschiedlichen Disziplinen Epochen und Regionen nachgehen ist ebenso char-mant wie methodisch klug Geographisch reicht das behandelte Spektrum von Europa (v a Spanien Italien Deutschland Schweiz) uumlber das Heilige Land bis nach Indien China und Japan zeitlich vom 8 bis zum 21 Jahrhundert Auf diese Weise entsteht ein beachtliches Panorama der mannigfachen Facetten und Nuancierungen von bdquoSakralitaumltldquo Analysiert werden Tempelanlagen fuumlr Flussgottheiten in Shanghai (BERNDT) vormoderne Vorstellungen von sakraler Herrschaft in Japan (SCHLEY) staumldtische Schutzfunktionen von Heiligen in Zuumlrich (NIERS) Konzeptionen des Heiligen Krieges auf der iberischen Halbinsel des Fruumlh- und Hochmittelalters (BRONISCH) die Erzeugung Geltungskraft und Zerstoumlrung von Sakralitaumlt in der Papstliturgie der Renaissance (BOumlLLING) sakrale Orte

620 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 620

in Grenzregionen des Heiligen Landes (DUumlCHTING) Mechanismen der Konstituierung und Stabilisierung sakraler Macht in Suumldindien (STEINER) philosophische Eroumlrterungen uumlber Macht aus Indien im 14 Jahrhundert (AHLBORN) die Ergebnisse von Feldforschun-gen zu religioumlsen Praktiken im heutigen China (CHAU) die potentielle Wirkmacht und Sakralitaumlt von Dingen (THIEL) sowie die Bedeutung sakraler Objekte in fruumlhmittelalter-lichen Riten zur Kirchweihe (CZOCK)

In dieser interkulturellen und diachronen Zusammenschau erweist sich Sakralisierung als dynamischer Prozess der Personen Gegenstaumlnde und Objekte auszeichnet oder sogar mit Alleinstellungsmerkmalen versieht Dieses mehrdimensionale Verstaumlndnis spiegelt sich auch im Aufbau des Buches wider Die elf Beitraumlge sind je nach Schwerpunkt drei verschiedenen Sektionen zugeordnet (1 bdquoHeilige Orte und Machtldquo 2 bdquoHeilige Personen und Machtldquo 3 bdquoHeilige Dinge und Machtldquo) was freilich nicht absolut zu verstehen ist dass etwa Ausfuumlhrungen zur japanischen Herrschersakralitaumlt neben der bdquoHerrschaftskos-mologieldquo (SCHLEY) auch die Diskussion zur Sakralitaumlt von Personen beruumlhren oder dass die Analyse der Sakralitaumlt in Kreuzfahrerstaaten auch sakrale Objekte beruumlcksichtigt (DUumlCHTING) liegt auf der Hand und ermoumlglicht damit fruchtbare Querbezuumlge zwischen den jeweiligen Sektionen

Als Bindeglied zwischen den thematisch notwendigerweise disparaten Beitraumlgen ist der einleitende Essay zur bdquoMacht des Heiligenldquo von Hans Joas gedacht Der lesenswerte Text ist ein gekuumlrzter Auszug aus Joaslsquo gleichnamigem Standardwerk von 2017 und die-sem (wenn auch pragmatischen) Umstand ist es wohl geschuldet dass Anknuumlpfungs-punkte zu den folgenden Beitraumlgen leider ausbleiben

Vor allem die vielschichtigen Verbindungen von Akteuren Orten und Medien die in den einzelnen Beitraumlgen wie auch in der Gesamtschau aufscheinen regen zum weiteren Nachdenken uumlber das Thema bdquoSakralitaumlt und Machtldquo an Damit werden die Herausgeber ihrem Anspruch gerecht neben Ergebnissen auch offene Fragen zu dokumentieren und so Impulse fuumlr zukuumlnftige Debatten zu geben

Julia Burkhardt

Erik BECK Eva-Maria BUTZ (Hg) Von Gruppe und Gemeinschaft zu Akteur und Netz-werk Netzwerkforschung in der Landesgeschichte Festschrift fuumlr Alfons Zettler zum 60 Geburtstag (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelalters Bd 3) Ostfildern Thorbecke 2019 175 S Abb Brosch EUR 20ndash ISBN 978-3-7995-8552-1

In der Einleitung (S 7ndash12) stellen die beiden Herausgeber Erik BECK und Eva-Maria BUTZ den Mediaumlvisten Alfons Zettler vor zu dessen 60 Geburtstag 2013 die im vorlie-genden Sammelband zusammengestellten Beitraumlge vorgetragen worden sind Die eigenen Forschungen des Jubilars sind in die Tradition und Weiterentwicklung der von Gerd Tellenbach und Karl Schmid initiierten Freiburger Schule zu sehen die einzelne Personen in soziale Zusammenhaumlnge und Institutionen einordnete Im Zentrum von Zettlers For-schungen stand und stehen der Adel und die kloumlsterlichen Konvente im Fruumlh- und Hoch-mittelalter Der vorliegende Sammelband praumlsentiert einige der am 25 und 26 Oktober 2013 in Freiburg vorgetragenen Beitraumlge Eine kurze Zusammenfassung der Kernaus- sagen der einzelnen Beitraumlge schlieszligen den Einleitungsteil ab

Den Reigen der Beitraumlge beginnt Martin STROTZ mit einer Untersuchung zu den bdquoKouml-nigzinser(n)lsquo im Breisgauldquo (S 13ndash29) Er analysiert Herkunft und soziale Stellung von vier der insgesamt 23 dem Fiskus beziehungsweise dem Kloster St Gallen zinspflichti-

621Gesamtdarstellungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

in Grenzregionen des Heiligen Landes (DUumlCHTING) Mechanismen der Konstituierung und Stabilisierung sakraler Macht in Suumldindien (STEINER) philosophische Eroumlrterungen uumlber Macht aus Indien im 14 Jahrhundert (AHLBORN) die Ergebnisse von Feldforschun-gen zu religioumlsen Praktiken im heutigen China (CHAU) die potentielle Wirkmacht und Sakralitaumlt von Dingen (THIEL) sowie die Bedeutung sakraler Objekte in fruumlhmittelalter-lichen Riten zur Kirchweihe (CZOCK)

In dieser interkulturellen und diachronen Zusammenschau erweist sich Sakralisierung als dynamischer Prozess der Personen Gegenstaumlnde und Objekte auszeichnet oder sogar mit Alleinstellungsmerkmalen versieht Dieses mehrdimensionale Verstaumlndnis spiegelt sich auch im Aufbau des Buches wider Die elf Beitraumlge sind je nach Schwerpunkt drei verschiedenen Sektionen zugeordnet (1 bdquoHeilige Orte und Machtldquo 2 bdquoHeilige Personen und Machtldquo 3 bdquoHeilige Dinge und Machtldquo) was freilich nicht absolut zu verstehen ist dass etwa Ausfuumlhrungen zur japanischen Herrschersakralitaumlt neben der bdquoHerrschaftskos-mologieldquo (SCHLEY) auch die Diskussion zur Sakralitaumlt von Personen beruumlhren oder dass die Analyse der Sakralitaumlt in Kreuzfahrerstaaten auch sakrale Objekte beruumlcksichtigt (DUumlCHTING) liegt auf der Hand und ermoumlglicht damit fruchtbare Querbezuumlge zwischen den jeweiligen Sektionen

Als Bindeglied zwischen den thematisch notwendigerweise disparaten Beitraumlgen ist der einleitende Essay zur bdquoMacht des Heiligenldquo von Hans Joas gedacht Der lesenswerte Text ist ein gekuumlrzter Auszug aus Joaslsquo gleichnamigem Standardwerk von 2017 und die-sem (wenn auch pragmatischen) Umstand ist es wohl geschuldet dass Anknuumlpfungs-punkte zu den folgenden Beitraumlgen leider ausbleiben

Vor allem die vielschichtigen Verbindungen von Akteuren Orten und Medien die in den einzelnen Beitraumlgen wie auch in der Gesamtschau aufscheinen regen zum weiteren Nachdenken uumlber das Thema bdquoSakralitaumlt und Machtldquo an Damit werden die Herausgeber ihrem Anspruch gerecht neben Ergebnissen auch offene Fragen zu dokumentieren und so Impulse fuumlr zukuumlnftige Debatten zu geben

Julia Burkhardt

Erik BECK Eva-Maria BUTZ (Hg) Von Gruppe und Gemeinschaft zu Akteur und Netz-werk Netzwerkforschung in der Landesgeschichte Festschrift fuumlr Alfons Zettler zum 60 Geburtstag (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelalters Bd 3) Ostfildern Thorbecke 2019 175 S Abb Brosch EUR 20ndash ISBN 978-3-7995-8552-1

In der Einleitung (S 7ndash12) stellen die beiden Herausgeber Erik BECK und Eva-Maria BUTZ den Mediaumlvisten Alfons Zettler vor zu dessen 60 Geburtstag 2013 die im vorlie-genden Sammelband zusammengestellten Beitraumlge vorgetragen worden sind Die eigenen Forschungen des Jubilars sind in die Tradition und Weiterentwicklung der von Gerd Tellenbach und Karl Schmid initiierten Freiburger Schule zu sehen die einzelne Personen in soziale Zusammenhaumlnge und Institutionen einordnete Im Zentrum von Zettlers For-schungen stand und stehen der Adel und die kloumlsterlichen Konvente im Fruumlh- und Hoch-mittelalter Der vorliegende Sammelband praumlsentiert einige der am 25 und 26 Oktober 2013 in Freiburg vorgetragenen Beitraumlge Eine kurze Zusammenfassung der Kernaus- sagen der einzelnen Beitraumlge schlieszligen den Einleitungsteil ab

Den Reigen der Beitraumlge beginnt Martin STROTZ mit einer Untersuchung zu den bdquoKouml-nigzinser(n)lsquo im Breisgauldquo (S 13ndash29) Er analysiert Herkunft und soziale Stellung von vier der insgesamt 23 dem Fiskus beziehungsweise dem Kloster St Gallen zinspflichti-

621Gesamtdarstellungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

gen Personen die in einem Breve Pippins des Juumlngeren von 751768 und einem Diplom Ludwigs des Frommen von 828 genannt sind Hierbei handelt es sich nicht um Einzel-personen sondern um miteinander eng verbundene houmlherrangige Menschen Sie agierten nicht nur uumlberregional sondern hatten auch beachtliche im Reich weit verstreute Besit-zungen bdquoBurgen als Zentren politischer Netzwerkeldquo fragt Erik BECK und stellt bdquoUumlber-legungen zu einem Bolander Rechnungsfragment von 12581262ldquo an (S 31ndash75) Dieses Schriftstuumlck das als Bucheinband die Zeit uumlberdauerte erfasst uumlber einen Zeitraum von 14 Wochen die Ausgaben an Getreide fuumlr den Hof und das Burgpersonal auf der Burg Neu-Bolanden Es vermerkt die Anwesenheit von Arbeitern Angehoumlrigen der Familie von Bolanden und adligen sowie geistlichen Besuchern ebenso von Schultheiszligen und Bauern die Abgaben aus den umliegenden Doumlrfern ablieferten Dieses fuumlr den deutsch-sprachigen Raum beeindruckende Dokument hielt aber auch die temporaumlre Anwesenheit von Boten fest Mit Hilfe dieser und weiterer Quellen rekonstruiert Beck in uumlberzeugen-der Weise ein mehrere Ebenen umfassendes Beziehungsnetz Es werden verwandtschaft-liche Zusammenhaumlnge Lehensverbindungen sowie die damalige politische Orientierung sichtbar Eine Wiedergabe des Textes in modernem Deutsch sowie eine Zusammenstel-lung der anwesenden Personen schlieszligt die umfangreiche aumluszligerst gewinnbringende Abhandlung ab

Ulrich HUTTNER untersucht bdquoGriechenland an Hoch- und Oberrheinldquo und begibt sich auf bdquoeine Spurensuche zum Kulturtransfer in der Spaumltantikeldquo (S 77ndash91) Als Traumlger dieses spaumltantiken Netzwerkes ermittelt er ndash wenig uumlberraschend ndash Militaumlrs Amtstraumlger und den Klerus Insbesondere Militaumlrangehoumlrige bildeten eine gesellschaftliche Gruppe die sich durch eine groszlige Mobilitaumlt ndash auch zwischen der lateinischen und griechischen Sprachzone wechselnd ndash auszeichnete Den bdquoGesandtenaustausch zwischen Karl dem Groszligen und Harun al-Raschidldquo thematisiert Arne Timm und stellt die Frage nach der bdquoTranskulturelle(n) Vernetzung im fruumlhen Mittelalterldquo (S 93ndash104) Damals verdichteten sich die diplomatischen Kontakte zwischen Bagdad und Aachen auf eine fuumlr das Fruumlhmittelalter besondere Art und Weise die allerdings nur in zeitgenoumlssischen lateini-schen Quellen nicht jedoch in der griechischen oder arabischen Berichterstattung nach-zuweisen sind Dokumentiert wurde besonders der Austausch von Geschenken wobei ein Elefant am karolingischen Hof in Aachen bei den Zeitgenossen besondere Aufmerk-samkeit erzielte Karls Intention war es wohl die Situation der Christen im Orient zu verbessern

Eva-Maria BUTZ stellt in ihrem Beitrag bdquoVon Namenslisten zu Netzwerken Wald- rada Lothar II und der lothringische Adel im Spiegel der Gedenkuumlberlieferungldquo bdquoUumlber-legungen zur Anwendung der Netzwerkmethode in der Gedenkbuchforschungldquo an (S 105ndash117) Sie zeigt Moumlglichkeiten aber vor allem auch Grenzen einer computerge-stuumltzten Netzwerkforschung in Zusammenhang mit der Frage nach dem familiaumlren und sozialen Hintergrund von Waldrada der zweiten Ehefrau Koumlnig Lothars II auf Da diese Analyse auf Gedenkbucheintraumlgen basiert aumluszligert Butz die Hoffnung durch Ausweitung des Quellenmaterials doch noch weiterfuumlhrende Ergebnisse erzielen zu koumlnnen Einen weiten zeitlichen Sprung in die erste Haumllfte des 20 Jahrhunderts vollzieht Andre GUTMANN mit seiner Analyse bdquoNetzwerke im Einsatz ndash Gerd Tellenbachs Weg zur Beru-fung an die Universitaumlt Freiburg i Br 1939 und 19431944ldquo (S 119ndash144) Gutmann zeigt in seiner akribisch recherchierten und spannend zu lesenden Darstellung dass sich im Berufungsverfahren besonders signifikant akademische Netzwerke nachweisen lassen Neben den offiziellen im Freiburger Universitaumltsarchiv verwahrten Berufungsakten wer-

622 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 622

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

tete er auch Briefe aus dem Nachlass Tellenbach aus ohne deren Kenntnis sich ein voumlllig anderes Bild der untersuchten Berufungsverfahren ergeben wuumlrde Tellenbach kaumlmpfte bei beiden Berufungsverfahren weniger auf fachlicher sondern auf politischer und wissenschaftspolitischer Ebene

Der von Thomas ZOTZ im Rahmen des Kolloquiums gehaltene Abendvortrag bdquoAle-mannien in der Karolingerzeit ndash Herrschaftstraumlger und politische Vororteldquo (S 145ndash159) wurde praktisch unveraumlndert aber mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat ergaumlnzt wiedergegeben Zotz zeigt immer wieder die Arbeiten Zettlers gewinnbringend und lobend beruumlcksichtigend den groszligen Stellenwert Alemanniens fuumlr die Karolinger Das Herrschergeschlecht fungierte als machtvollster Herrschaftstraumlger in diesem politischen Raum

Ein Verzeichnis der Schriften Alfons Zettlers runden diesen gewinnbringenden Band konsequenterweise ab in dem allerdings nicht alle beim damaligen Anlass gehaltenen Vortraumlge publiziert sind

Juumlrgen Treffeisen

Eike WOLGAST Aufsaumltze zur Reformations- und Reichsgeschichte (Jus Ecclesiasticum Bd 113) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2016 X 581 S geb EUR 99ndash ISBN 978-3-16-154198-8

Eike Wolgast dem die vorliegende Auswahl von Aufsaumltzen zu Reformations- und Reichsgeschichte zu verdanken ist darf als nunmehr uumlber 80-jaumlhriger auf ein reiches wis-senschaftliches Leben zuruumlckblicken Im mecklenburgischen Ludwigslust geboren kehrte er 1976 als nunmehr ordentlicher Professor fuumlr Neuere Geschichte und Direktor des Historischen Seminars nach Heidelberg zuruumlck an den Ort wo neben Goumlttingen 1956 (bis 1962) sein wissenschaftlicher Werdegang mit dem Studium der Geschichte Philo- sophie und lateinischen Philologie begonnen hatte Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2004 hat er zahlreiche Studien vorgelegt die vielfach zu zentralen wissenschaftlichen Referenzwerken avancierten ndash allen voran die Habilitationsschrift aus dem Jahre 1973 bdquoDie Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Staumlndeldquo (Goumlttingen 1977)

Ordentliches Mitglied der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg (seit 1987) der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (seit 1988) der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (seit 1988) sowie der Historischen Kommission fuumlr Mecklenburg (seit 1996) machte sich Eike Wolgast auch als Editor einen Namen insbesondere als verantwortlicher Leiter der Arbeitsstelle bdquoDeutsche Reichtagsaktenldquo deren Mittlere und Juumlngere Reihe er bis heute verantwortet und als Herausgeber der von Emil Sehling begruumlndeten Reihe der bdquoEvan-gelischen Kirchenordnungen des 16 Jahrhundertsldquo Dass seine Freude am wissenschaft-lichen Arbeiten die Emeritierung uumlberdauerte und seine Schaffenskraft ungebrochen anhielt davon zeugen unter anderem die monographischen Werke bdquoDie Geschichte der Menschen- und Buumlrgerrechteldquo (Stuttgart 2009) sowie bdquoDie Einfuumlhrung der Reformation und das Schicksal der Kloumlster im Reich und in Europaldquo (Guumltersloh 2014) Neben insge-samt 14 Monographien verzeichnet das Verzeichnis seiner Werke 10 (Mit)Herausgeber-schaften (ohne Reichsakten und Kirchenordnung) uumlber 200 Aufsaumltze sowie zahlreiche Lexikonartikel Thematisch im Vordergrund stehen Studien zur politischen Geschichte und Geistesgeschichte des 16 bis 20 Jahrhunderts mit einem deutlich erkennbaren Fokus im 16 und im 20 Jahrhundert (Nationalsozialismus) sowie zur (Heidelberger) Univer-sitaumltsgeschichte

623Gesamtdarstellungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 623

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Die vorliegende Sammlung seiner Aufsaumltze zur Reichs- und Reformationsgeschichte vornehmlich des 16 Jahrhunderts die der Verfasser selbst verantwortete spiegeln also nur einen Ausschnitt allerdings einen houmlchst bedeutsamen Ausschnitt seines Wirkens als Historiker und Universitaumltslehrer Sie lassen sich unterschiedlichen Themenkreisen zu-ordnen allen voran der Interferenz von Religion und Politik in Reich Reichskirche und Territorium den Stellungnahmen zentraler Akteure zu Schluumlsselfragen des reformatori-schen Geschehens (Johannes Brenz Martin Bucer Johannes Bugenhagen Martin Luther Philipp Melanchthon und Thomas Muumlntzer ndash thematisch reicht das Spektrum von ihrer Taumltigkeit als politische Berater bis zu ihren Meinungsaumluszligerungen zu Bauernkrieg Ob-rigkeit und Widerstandsrecht) sowie mehreren Aufsaumltzen die sich mit den Taumlufern und den Juden als religioumlse Minderheiten befassen Eigens aufmerksam gemacht sei uumlberdies auf das gerade mehr als aktuelle Problem des Friedensschlieszligens dem der Verfasser in zwei Aufsaumltzen im zeitlichen Laumlngsschnitt nachgeht Zwischen 1976 und 2012 erstmals veroumlffentlicht haben die Beitraumlge unser Bild des 16 Jahrhunderts teils grundsaumltzlich teils im Detail gepraumlgt Noch heute mehr als lesenswert geben sie einen fundierten Ein-blick in das Werk eines bedeutenden Historikers Sie zeugen vom erfolgreichen Bemuumlhen Reichs- und Landesgeschichte konstruktiv auf einander zu beziehen dem hohen Stellen-wert den Wolgast der Geschichte der religioumlsen und politischen Ideen einraumlumt und von seinem Anliegen dem weiten (religioumlsen) Kosmos des 16 Jahrhunderts gerecht zu wer-den Es ist daher den Herausgebern der Reihe Jus Ecclesiasticum und dem Tuumlbinger Ver-lag Mohr Siebeck zu danken diese Texte bequem zugaumlnglich gemacht zu haben Moumlgen sie weiterhin inspirierend wirken

Norbert Haag

Juumlrgen DENDORFER Birgit STUDT (Hg) Zum Gedenken an Dieter Mertens Ansprachen und Vortraumlge beim Trauergottesdienst in der Liebfrauenkirche zu Guumlnterstal (17 Ok-tober 2014) und der Akademischen Gedenkfeier an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt (13 November 2015) (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelalters Bd 2) Ost-fildern Thorbecke 2019 75 S Brosch EUR 10ndash ISBN 978-3-7995-8551-4

Historiker wissen um die Zeitlichkeit jedes Individuums und wenn fuumlnf Jahre nach dem Tod eines so angesehenen und verdienten Hochschullehrers wie Dieter Mertens (9 1 1940 ndash 4 10 2014) die Nachfolgerin auf seinem Freiburger Lehrstuhl und der Inha-ber des Lehrstuhls fuumlr mittelalterliche Geschichte diese wertvolle Gedenkschrift heraus-gaben hatte das seine guten Gruumlnde Es war ndash so das Vorwort ndash nicht beabsichtigt etwa die zahlreichen Nachrufe auf Dieter Mertens zusammenzufuumlhren bzw aufzulisten (vgl den in ZGO 163 [2015] S 377ndash380) sondern es sollte zu seiner Wuumlrdigung Vorgetrage-nes festgeschrieben werden um die Erinnerung an ihn lebendig zu halten Allen die Die-ter Mertens kannten und schaumltzten tut es gut jetzt uumlber diese Texte verfuumlgen zu koumlnnen im Trauergottesdienst sprachen die Professoren Thomas ZOTZ fuumlr das Historische Semi-nar der Universitaumlt Freiburg Wolfgang ZIMMERMANN fuumlr die Kommission fuumlr geschicht-liche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg und Johannes HELMRATHBerlin als Freund und Fachkollege bei der Akademischen Gedenkfeier Hans-Helmuth GANDER als Dekan Joumlrn LEONHARD als Direktor des Historischen Seminars Birgit STUDT als Sprecherin des Mittelalterzentrums und Anton SCHINDLING (dagger) als Vorsitzender der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde bevor wiederum Thomas ZOTZ ein Wegbegleiter uumlber Jahr-zehnte den Verstorbenen als Kollegen und Forscher wuumlrdigte Es versteht sich dass auch die beiden wissenschaftlichen Vortraumlge hier publiziert wurden Gerd ALTHOFF mit Dieter

624 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 624

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Mertens vertraut seit Studientagen widmete sich einem aus dem engen Austausch mit diesem gewonnenen Thema naumlmlich der Rolle der Bibel bei der Legitimation von Gewalt im Mittelalter naumlherhin beim Beginn der Kreuzzuumlge und aumlhnlich zur Abwehr der sbquoTuumlr-kengefahrrsquo (S 51ndash59) Als einer seiner Schuumller stellte sich Markus MUumlLLER mit bdquoDer lothringische Landesdiskurs im Zeitalter des Humanismusldquo (S 61ndash75) geistesverwandt thematisch in die Nachfolge von Dieter Mertens indem er das Landesmodell der Histo-riographie am lothringischen Herzogshof wo ein Zusammenhang zwischen Land und Dynastie schwer herzustellen war kundig beschrieb Diese kleine aber feine Publikation dient neben dem erklaumlrten Ziel der Erinnerungspflege noch einem weiteren Auch in spauml-teren Jahren wird man hier dokumentiert finden wie gediegen Geschichtswissenschaft an der Schwelle zum 21 Jahrhundert betrieben und in welcher Weise und auf welch hohem intellektuellen und sprachlichen Niveau ein prominenter Vertreter dieses Fachs nach seinem Tod deswegen gewuumlrdigt wurde

Volker Roumldel

Konrad KRIMM Heinz MAAG (dagger) Siegfried RUPP 300 Jahre Kraichgauer Adeliges Damenstift [Karlsruhe] Selbstverlag des Kraichgauer Adeligen Damenstifts 2018 124 S Abb Brosch EUR 20ndash ISBN 978-3-00-060148-4

Das 300 Jubilaumlum im Jahr 2018 bot dem Kraichgauer Adeligen Damenstift eine will-kommene Gelegenheit in seine wechselvolle Geschichte zuruumlckzublicken Aus diesem Anlass veroumlffentlichte es eine uumlberarbeitete und erweiterte Neuauflage der Festschrift von 1993 wie damals vorrangig aus der Feder von Konrad KRIMM sowie dem aktuellen Stiftsverwalter Siegfried RUPP dem Nachfolger des seinerzeit mitbeteiligten inzwischen verstorbenen Heinz MAAG

Ausgehend von einer intensiven Analyse des Wappens des Damenstifts beschreibt Konrad Krimm die Entstehungsgeschichte sowie die rechtliche Verfasstheit dieser Ein-richtung des Kraichgauer Adels Sie geht zuruumlck auf die Stiftung Amalia Elisabeths von Mentzingen und verfolgte den Zweck unverheirateten evangelischen Frauen aus dem Ritterkanton Kraichgau ein standesgemaumlszliges wenn auch zuruumlckgezogenes Leben in einem weltlichen Stift zu ermoumlglichen Damenstifte dieser Art bildeten keine Seltenheit im Alten Reich meist mit groszliger Tradition ausgestattet Und so war es nur folgerichtig dass sich die Statuten des Kraichgauer Stifts aumlltere Vorbilder heranzogen Dabei orientierte man sich am Damenstift Oberstenfeld das zum Kanton Kocher gehoumlrte und sich 1710 neue Statuten gegeben hatte Diese Statuten wurden nun fuumlr das Kraichgauer Pendant weiter-entwickelt und an dessen spezifische Situation angepasst Letztere findet sich bereits im Stiftswappen dokumentiert wie Krimm detailliert herausarbeitet Denn das neue Kraich-gauer Damenstift befand sich in einer Gemengelage unterschiedlicher Kraumlfte Ein ein-geschriebenes Reichswappen weist auf die Reichsunmittelbarkeit des Stifts hin das den Rang eines Reichsfreiherrn innehatte Andererseits fuumlhren gold-rote Farben die politische Orientierung auf die Markgrafschaft Baden(-Durlach) vor Augen die nicht nur die Schutzmacht des Stifts sein sondern es auch in seinem Territorium beherbergen sollte Denn als Standort wurde 1720 die ehemalige badische Residenzstadt Pforzheim ausge-waumlhlt Baden blieb auch in spaumlteren Jahrhunderten die Heimat des Kraichgauer Damen-stifts Ihre jeweiligen Residenzen stellt Krimm in einem zweiten Beitrag vor Auf Pforzheim folgten im 19 Jahrhundert mehrere Unterkuumlnfte in Karlsruhe ehe 1871 der feste Sitz aufgegeben wurde und sich das Stift gewissermaszligen entmaterialisierte d h in den Zustand eines reinen Versorgungsnetzwerks uumlberging das sich auf Grund- und

625Gesamtdarstellungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Finanzbesitz stuumltzen konnte Diese beiden gut recherchierten Beitraumlge werden ergaumlnzt von einer Edition der Stiftsstatuten von 1721

Die juumlngere Geschichte des Damenstifts bis in die Gegenwart wird von Heinz Maag und Siegfried Rupp nachgezeichnet Der Fokus liegt dabei auf dem Grundbesitz vor-nehmlich in Groumlberndorf urspruumlnglich ein Hofgut heute als Golfplatz verpachtet Dieser Beitrag ist wie auch die vorherigen mit zumeist farbigem Bildmaterial reichhaltig illustriert Eine Portraumltserie der Aumlbtissinnen sowie Listen der Stiftsdamen Familienrats-mitglieder und Stiftsverwalter runden die Darstellung ab

Harald Stockert

Gerd F HEPP Paul-Ludwig WEINACHT (Hg) Heimat in Bewegung Heimatbewusstsein in Baden im Zeitalter von Mobilitaumlt und Migration (Schriftenreihe des Landesvereins Badische Heimat Bd 14) Freiburg i Br Berlin Rombach 2018 178 S Abb Kt Brosch EUR 24ndash ISBN 978-3-7930-5166-4

Es ist wie so oft bei Sammelbaumlnden Die einzelnen Beitraumlge wirken irgendwie zusam-mengewuumlrfelt und man sucht den roten Faden Der Band bdquoHeimat in Bewegungldquo geht auf eine Vortragsreihe aus dem Jahr 2017 zuruumlck die im Rahmen der Heimattage Baden-Wuumlrttemberg in Karlsruhe stattfand Der Titel des Bandes verspricht eine Art Migra- tionsgeschichte des badischen Landesteils Das waumlre zu begruumlszligen denn vergleichbare Arbeiten gibt es nicht Der Titel verspricht aber auch eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff bzw dem Heimatbewusstsein in Baden arbeitet hierbei aber ohne theoretische Grundlage sieht man von dem einleitenden Beitrag von Arnold STADLER zum Begriff Heimat ab der aber eher eine persoumlnliche Annaumlherung an das Thema ist Letztendlich bietet der Band ndash man muss es leider sagen ndash beides nicht Manche der Bei-traumlge sind dennoch lesenswert

Thomas SCHNABEL bietet zunaumlchst einen kursorischen Uumlberblick uumlber die badische Auswanderungsgeschichte ndash ein Parforceritt uumlber rund 200 Jahre (wohlgemerkt auf elf Seiten) der das Thema lediglich grob umreiszligt Profunder erweist sich der Beitrag von Alexandra Fies die die Auswanderung aus Karlsruhe im spaumlten 19 Jahrhundert darstellt und dabei auf ihre eigenen Forschungen zuruumlckgreifen kann Der Beitrag ist gut strukturiert datengesaumlttigt und auch methodisch uumlberzeugend Der Band springt nun um rund 100 Jahre weiter zur Integration der Fluumlchtlinge und Vertriebenen in Karlsruhe nach 1945 mit einem Beitrag von Hans-Juumlrgen VOGT der den Begriff des bdquoIntegrationswundersldquo thematisiert aber letztlich kaum problematisiert Zum Thema liegen zahlreiche neue Forschungserkenntnisse vor deren Uumlberpruumlfung an den Karls- ruher Gegebenheiten sich angeboten haumltte Alfred EISFELD behandelt dann die bdquoalte und neue Heimat der Russlanddeutschenldquo und beginnt mit der Auswanderung von Badenern im Zuge der Kolonisationspolitik der Zarin Katharina II die im vorhergehen-den Beitrag von Thomas Schnabel noch bdquoeine unbedeutende Rolleldquo fuumlr die Auswande-rung im Suumldwesten gespielt haben soll Spaumltestens nun vermisst der Leser besagten roten Faden

Max MATTER ein ausgewiesener Kenner der Materie befasst sich in seinem Beitrag mit der Zuwanderung von Tuumlrkeistaumlmmigen in der sogenannten Wirtschaftswunderzeit Ein lesenswerter Beitrag aber unter dem Aspekt einer badischen Migrationsgeschichte fragt man sich wo all die anderen Nationalitaumlten und all die anderen Migrantengruppen bleiben die ebenfalls in den letzten rund siebzig Jahren ins Badische eingewandert sind

626 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Wie wurden sie empfangen Wie war die badische Bevoumllkerung auf die Zuwanderer ein-gestellt und welche Auswirkungen hatte die Tatsache dass Deutschland es sich jahrzehn-telang mit seiner Lebensluumlge bequem gemacht hatte kein Einwanderungsland zu sein Und lief es demgegenuumlber auf der lokalen Ebene nicht ganz anders wo kluge und prag-matische Kommunalpolitiker schon viel fruumlher verstanden hatten dass Deutschland de facto laumlngst schon ein Einwanderungsland war und dass Integration vorwiegend auf der lokalen Ebene geschieht Fragen gaumlbe es genug Antworten findet man in diesem Buch nur wenige

Was nun folgt sind mehrere Beitraumlge zu den Themen Heimat und Heimatbewusstsein die den Leser jedoch immer wieder vor die Frage stellen ob er nicht in die Achtzigerjahre zuruumlckversetzt wurde Saumltze wie bdquoBodenstaumlndige Heimat ist nicht nur Bauernland son-dern auch die Stadt der Buumlrgerldquo (S 107) Elogen auf den badischen Staatspraumlsidenten Leo Wohleb Seitenhiebe besser Breitseiten auf die bdquoStuttgarter Buumlrokratieldquo eine Aus-einandersetzung mit der Suumldweststaatgruumlndung die einen an die Debatten zu Beginn der 1950er Jahre erinnert und nicht zuletzt ein politisch gepraumlgter Kampfjargon sorgen fuumlr Irritationen Die bdquoTraumlger des ideologisch progressiven Kulturtypusldquo der 1970er Jahre sind demnach diejenigen die bdquoheute von innen und ganz obenldquo gruumlszligen und bdquodie oumlffentliche Meinungldquo sowie bdquodie Grenzen sbquopolitischer Korrektheitlsquo bestimmenldquo (S 111) Zur Erklauml-rung Gemeint sind Aktivisten aus der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung die sich in den 1970er Jahren gegen das Kernkraftwerk in Wyhl wehrten und ihr eigenes Heimat-verstaumlndnis hatten das aber so der Autor Paul-Ludwig WEINACHT keine bdquobleibende Gegenwartsform von Heimat am Kaiserstuhlldquo geworden sei Belege fuumlr solche pauscha-len Aussagen sucht man vergebens

Es folgen Beitraumlge von Jean-Marie WOEHRLING und Gerd F HEPP zum Heimatbewusst-sein im Elsass und zu den kulturellen Beziehungen zwischen Baden und dem Elsass die interessante Aspekte bieten bevor Robert MUumlRB aus seiner persoumlnlichen Perspektive nochmals in die Gruumlndungsgeschichte Baden-Wuumlrttembergs fuumlhrt Hier liest man vom bdquoberechtigten Unbehagen in weiten Teilen der badischen Bevoumllkerungldquo gegen den Stutt-garter Zentralismus vom bdquozentralistisch orientierten Verwaltungsdenken Alt-Wuumlrttem-bergsldquo das in Stuttgart Tradition habe und man lernt der Stuttgarter Landtag geriere sich bdquowie der Gemeinderat von Stuttgartldquo (S 145) Statt mit einer Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff endet das Buch also mit Verbandspolitik

Kein Zweifel Heimat ist wieder bdquoinldquo Lange Zeit war sie fuumlr viele ein toxischer Be-griff entweder altmodisch und hinterwaumlldlerisch konnotiert oder aufgrund der deutschen Geschichte belastet und nicht salonfaumlhig Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend veraumlndert Die Gruumlnde sind vielfaumlltig und hier nicht im Einzelnen zu erlaumlutern Sie reichen von der Zuwanderung uumlber die Globalisierung bis hin zur Digitalisierung Vor diesem Hintergrund gaumlbe es Dutzende interessanter Fragen wie mit dem schillernden und doch wichtigen Begriff der Heimat umzugehen ist in Staumldten in denen fast die Haumllfte der Be-voumllkerung einen sogenannten Migrationshintergrund hat genauso wie auf dem vermeint-lichen bdquoLandldquo das ja von ebendiesen Entwicklungen keinesfalls abgeschnitten ist Wie sieht ein offener Heimatbegriff aus der nicht ausschlieszligt sondern integriert Auf welchen Wertvorstellungen basiert er Und wie ist er zu fuumlllen damit er nicht von Populisten und Rechtsextremen missbraucht werden kann Antworten auf diese Fragen die gerade auch im regionalen Kontext von aktuellem Interesse sind findet man in diesem Band nur wenige

Reinhold Weber

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Konrad KRIMM Ludger SYREacute (Hg) Herrschaftswissen Bibliotheks- und Archivbauten im Alten Reich (Oberrheinische Studien Bd 37) Ostfildern Thorbecke 2018 272 S Abb geb EUR 34ndash ISBN 978-3-7995-7839-4

Obwohl die Geschichte des Archivierens und der Institution bdquoArchivldquo nun schon einige Zeit verstaumlrkt das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat und insbesondere die Kultur- und Medienwissenschaften das Thema entdeckt haben ist jenseits von Publikationen zu einzelnen Gebaumluden die zumeist anlaumlsslich von bdquoArchivjubilaumlenldquo oder Fertigstellungen von Neubauten entstanden sind wenig aus uumlbergreifender Sicht zur Unterbringung von Archiven publiziert worden Markus Friedrich hat in seinem kultur-wissenschaftlich ausgerichteten Buch uumlber die bdquoGeburt des Archivsldquo (Muumlnchen 2013) zu Recht auf die bdquobisher fehlende Architekturgeschichte der Archiveldquo hingewiesen (S 160) und ndash ohne die Absicht eine solche vorzulegen ndash fuumlr die Fruumlhe Neuzeit unter den Stichworten bdquoArchive als Raumstrukturenldquo bdquoArchivraumlume Schutzhuumlllen fuumlr fragile Beschreibstoffeldquo bdquodas wohlgeordnete Archiv als Raumidealldquo bdquoArchive als Teile von Gebaumludenldquo bdquoArchivmoumlbelldquo und bdquoArchivmobilitaumltldquo wichtige Beobachtungen angestellt (vgl ebd S 159ndash191)

Waumlhrend Friedrich mit vielen Beispielen aus der weiteren europaumlischen Perspektive spezifische Phaumlnomene der Unterbringung von Archiven beschrieben hat werden in dem hier zu besprechenden Band sowohl einzelne Bibliotheks- als auch Archivbauten im Alten Reich in den Blick genommen ebenfalls aus kulturwissenschaftlicher Sicht jedoch fokussiert auf einen bestimmten Aspekt wie schon der Obertitel anzeigt Denn Ziel dabei war bdquoauf die Zeichenhaftigkeit auch von Gebaumluden zu achtenldquo und bdquoBauprogramme zu sbquolesenlsquoldquo um die bdquoarchitektonische Huumllle von Buumlchern und Archivalienldquo als Repraumlsen- tanz von bdquoHerrschaft im weitesten Sinneldquo zu verstehen so Konrad KRIMM im Vorwort (vgl S 8)

Erwachsen ist die Publikation aus einer Tagung die 2015 gemeinsam von der Arbeits-gemeinschaft fuumlr geschichtliche Landeskunde am Oberrhein und der Badischen Biblio-theksgesellschaft im Schloss Altdorf veranstaltet wurde Vereint sind darin die folgenden elf Aufsaumltze von denen sieben auf Vortraumlge in Altdorf zuruumlckgehen und vier zusaumltzlich aufgenommen wurden Erich FRANZ Der Altdorfer Bibliotheksbau und das Werk Pierre Michel drsquoIxnards Julian HANSCHKE Archiv- und Schreibraumlume Kunstkammern und Bibliotheken auf dem Heidelberger Schloss Ludger SYREacute Kurpfaumllzische Pracht und badische Bescheidenheit Die Hofbibliotheken in Mannheim und Karlsruhe Hans-Otto MUumlHLEISEN Voneinander gelernt Ein vergleichender Blick auf die Bildprogramme der Klosterbibliotheken von Wiblingen St Peter auf dem Schwarzwald Bad Schussenried und ein Exkurs zu Weissenau Wolfgang WIESE bdquoWissen ist Machtldquo ndash Buumlcherschraumlnke als Herrschaftssymbole Konrad Krimm Klosterarchive Versuch einer Typologie Lea DIRKS Der Archivraum im Schloss Weikersheim Andreas WILTS bdquoEin solid- und von anderen abgesondertes Gebaumluldquo Das Fuumlrstlich Fuumlrstenbergische Archiv in Donaueschin-gen als wegweisender Archivbau des 18 Jahrhunderts Rouven PONS Sicherheit in schwerer Zeit Der Bau des Dillenburger Archivs 1764ndash1766 Joachim KEMPER bdquoder stat briefe mit laden zu ordenenldquo Beispiele reichsstaumldtischer Archivbauten und Archivein-richtungen Walter LIEHNER Pfennigturm am Rathaus und Stadtkanzlei Zwei Archiv-bauten aus reichsstaumldtischer Zeit in Uumlberlingen

Der uumlbergreifende und damit auch vergleichende Blick auf die beiden verwandten und historisch im Einzelfall sogar oft unmittelbar verbundenen Sphaumlren der Bibliotheken und Archive hat sich ndash wie der Band anschaulich zeigt ndash als uumlberaus tragfaumlhig erwiesen Denn

628 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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auch wenn die Abfolge der Beitraumlge auf der Trennung beider Bereiche basiert indem zunaumlchst fuumlnf Aufsaumltze Bibliotheken und sodann sechs weitere Archiven gewidmet bzw zugeordnet sind werden immer wieder Verbindungen und Gemeinsamkeiten freilich auch Unterschiede deutlich Zudem hat Konrad Krimm in seinem Vorwort die Voraus-schau auf die einzelnen Beitraumlge mit einem Resuumlmee verwoben in dem wesentliche Punkte akzentuiert sind Sein Fazit insgesamt bdquoDie Bibliotheks- und Archivbauten der Fruumlhen Neuzeit [hellip] repraumlsentierten also Herrschaft im weitesten Sinn Die Skala des Zeichenhaften konnte dabei vom prunkvollen Repraumlsentationsbau bis zum bescheiden-sten fast nur noch funktionalen Behaumlltnis reichen sie konnte die bdquoAuszligenhautldquo mitein-beziehen oder sich auf den Innenraum beschraumlnkenldquo (S 7) Verwiesen wird dazu bei- spielhaft zunaumlchst auf die Mannheimer Schlossbibliothek als besonders eindrucksvollen Repraumlsentationsbau und sodann auf den Tagungsort bdquoSelbst der in aller klassizistischen Schoumlnheit doch bescheidene Bibliothekssaal der Freiherren von Tuumlrckheim in Altdorf der von auszligen als solcher nicht wahrnehmbar ist bedeutete Bauen der Herrschaft fuumlr die Herrschaft nicht fuumlr den Buchbesitz der Familie [hellip] ein eigener neuer Schlossfluumlgel sollte im Oberstock wohl vor allem das juristische Wissen bewahren und griffbereit hal-ten waumlhrend im Erdgeschoss ein Archivraum die Beweismittel fuumlr diese reichsritter-schaftliche und damit reichsunmittelbare Herrschaft zu sichern hatteldquo (S 8)

Auf Unterschiede bei den Bibliotheken macht besonders auch Syreacute aufmerksam bdquoSo wie sich in praumlchtigen Schloumlssern Herrschaftsarchitektur widerspiegelte so manifestierte sich in groszligen Buumlchersammlungen Herrschaftswissen Am kurpfaumllzischen Hof praumlsen-tierte man die Buumlchersammlungen in einem prunk- und effektvollen Ambiente am badi-schen Hof orientierte man sich an der zweckmaumlszligigen Unterbringung und praktischen Bewaumlltigung der Buumlchermengenldquo (S 68) Und Krimm bilanziert vergleichend fuumlr Archive und Bibliotheken bdquoDer erste Bau des Generallandesarchivs am Karlsruher Zirkel von 1782 war bei aller behaumlbig-repraumlsentativen Auszligenwirkung im Inneren von nuumlchterner Sparsamkeit und uumlbertriebener Enge gepraumlgt Schaueffekte irgendwelcher Art waren nicht eingeplant Aber das galt nicht uumlberall In Kloumlstern wie Fischingen in Reichsstaumldten wie Speyer in Residenzarchiven wie dem in Donaueschingen wollte sich Herrschaft als Herr-schaft zeigen auch in ihren Archiven nicht nur in den Bibliotheken Die Bibliothek war freilich fast immer der repraumlsentativere Ort ndash selbst im sparsamen Karlsruhe gab es in der eher muumlhsam in einem Schlossnebengebaumlude untergebrachten Hofbibliothek einen Kuppelsaalldquo (S 8 f) Als Ergebnis bleibt festzuhalten dass der herrschaftliche Zeichen-charakter auch bei vielen Archiven gegeben war und nicht uumlbersehen werden sollte bdquoDer Uumlberlinger sbquoPfennigturmlsquoldquo schuumltzte mit seinen dicken Mauern die Kasse und das Archiv der Reichsstadt war also zunaumlchst reiner Zweckbau fortifikatorisch aber uumlberdimensio-niert und optisch stark herausgehoben sollte auch er ganz offensichtlich die Staumlrke und Bedeutung der reichsstaumldtischen Herrschaft des Vororts der Bodensee-Staumldte demon-strierenldquo (S 8) Archivzweckbauten sollten ndash so in Donaueschingen ndash bdquodie Praumlsenz und die Bedeutungldquo der herrschaftlichen Verwaltung herausstellen oder ndash wie in Dillenburg ndash angesichts der bdquovielfach zersplitterten Territorien des Hauses Nassau [hellip] die immer noch zentral gedachte Funktion des alten Residenzorts [hellip] beweisen und uumlber die durch-aus widrigen Zeitlaumlufte hinweg sbquorettenlsquoldquo (ebd)

Im Detail lassen sich viele Gemeinsamkeiten zwischen Bibliotheken und Archiven erkennen So kann man bdquoInterpretationsmusterldquo der triumphalen ikonologischen Bild-programme im Inneren der Klosterbibliotheken von Wiblingen St Peter und Bad Schus-senried bdquomit einigen wenigen Archivinnenraumlumen vergleichen die wie in Salem oder vor

629Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

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In dem Beitrag von Olivier RICHARD geht es um die Dekapolis im Elsass den Bund von meistens zehn elsaumlssischen Reichsstaumldten Das Andenken an diesen Bund ist in den ehemaligen Mitgliedsstaumldten bis heute sehr lebendig und steht damit in einem gewissen Gegensatz zu seiner tatsaumlchlichen historischen Bedeutung Die starke Betonung der Zugehoumlrigkeit zum Reich ist verwunderlich standen doch die Elsaumlsser zeitweilig unter groszligem Druck zu zeigen dass sie voll und ganz Franzosen waren In der Wahrnehmung der Elsaumlsser kam es dazu dass der Bund als Besonderheit und gar als pars pro toto fuumlr das ganze Elsass betrachtet wurde waumlhrend deutsche Historiker die Staumldte eher als gewoumlhnliche Reichsstaumldte wahrnahmen

Weniger um die Instrumentalisierung des Andenkens geht es beim Erinnerungsort Schlettstadt den Birgit STUDT vorstellt Die dortige Humanistenbibliothek ist vielmehr ein Kristallisationspunkt der Erinnerung an den Humanismus am Oberrhein der vielleicht wegen der Lage in einer eher unscheinbaren Stadt im Elsass fernab groumlszligerer Zentren so besonders ist Trotzdem wurde die Schlettstadter Lateinschule zu einer Bildungsinsti-tution im Zeitalter des Humanismus mit einer Ausstrahlung weit uumlber das Oberrheingebiet hinaus

In dem Beitrag von Peter KURMANN uumlber das Straszligburger Muumlnster wird die Thematik des Erinnerungsorts auf zwei Ebenen angesprochen Zum einen bezuumlglich der Verwendung von Spolien in der Kunst So ist das Straszligburger Muumlnster selbst ein Erinnerungsort wurde es doch genau auf dem Grundriss seines spaumltottonischen Vorgaumlngerbaus errichtet der sei-nerseits dem Typus der christlichen Basilika aus dem 4 Jahrhundert nachempfunden war Man bewahrte die alte Form fuumlhrte aber die Bauteile im Stil der eigenen Zeit aus und demonstrierte so gleichzeitig Traditionsverbundenheit und modernes Repraumlsentationsbe-duumlrfnis Die Rezeptionsgeschichte des Muumlnsters in neuerer Zeit ist wie Kurmann anmerkt noch nicht geschrieben Er fuumlhrt aber zum anderen verschiedene Versuche an die Kathe-drale als Symbol fuumlr ein franzoumlsisches bzw deutsches Elsass zu vereinnahmen Zuletzt herrsche die Tendenz vor den europaumlischen Charakter des Muumlnsters zu betonen

Boris Bigott

Heidrun OCHS Gabriel ZEILINGER (Hg) Kaufhaumluser an Mittel- und Oberrhein im Spaumlt-mittelalter (Schriften zur suumldwestdeutschen Landeskunde Bd 80) Ostfildern Thor-becke 2019 VII 176 S Abb geb EUR 28ndash ISBN 978-3-7995-5280-6

In ihrer Einleitung (S 1ndash8) umschreiben die beiden Herausgeber ndash Heidrun OCHS und Gabriel ZEILINGER ndash die Zielsetzung des Tagungsbandes Im Rahmen der Tagung wurden mittelalterliche Kaufhaumluser orts- und themenuumlbergreifend unter neuen Fragestellungen thematisiert Im Fokus stand die Rolle der Kaufhaumluser fuumlr die Kaufleute den staumldtischen Rat und die Buumlrger der Stadt Kaufhaumluser dienten als permanente Orte des Handels sowohl der Foumlrderung als auch der Normierung Als hallenartige meist repraumlsentative Gebaumlude waren sie wichtige Instrumente und Kristallisationsorte kommunaler Wirt-schaftspolitik und entstanden seit dem 12 Jahrhundert Sie boten aber auch den aus- waumlrtigen Kaufleuten Verlaumlsslichkeit bei der Bestimmung der Maszlige und Sicherheit fuumlr die Zwischenlagerung der Waren

Nina GALLION (bdquoVom Breisgau bis zum Bodensee Kaufhaumluser als Zentren von Handel und Profitldquo S 9ndash25) praumlsentiert eine kurze uumlberblicksartige Einfuumlhrung in die Ge-schichte der Kaufhaumluser im Breisgau und am Bodensee Aufgrund des Forschungsstandes stehen die Einrichtungen in Freiburg und Konstanz im Mittelpunkt Uumlberlingen und Meersburg werden hinzugezogen Olivier RICHARD derzeit sicherlich einer der besten

644 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

allem in Fischingen ausladende Herrschaftssymbolik uumlber den schriftlichen Rechtstiteln dieser Herrschaft ausbreitetenldquo (ebd S 7 f) Auch blieben in der bdquoAusstattung die Gren-zen zwischen nur funktionalen Behaumlltnissen und repraumlsentativen Schaumoumlbeln flieszligendldquo (ebd S 8) so das Fazit Krimms zu den Beitraumlgen uumlber die Wissen ordnenden Buumlcher-schraumlnke Schrank- und Schubladeneinbauten und den Schauraum im reichsstaumldtischen Archiv in Speyer mit der zutreffenden Anmerkung bdquoDas mag zunaumlchst verwundern das Archiv war ja bis fast ins 19 Jahrhundert kein Ort fuumlr Besucher sondern ein Arkan- bereich den man aumlngstlich vor fremden Augen huumltete Mobiliar fuumlr Gaumlste Lesepulte und -tische kostbare Schraumlnke und dergleichen erwartet man eher in Bibliotheken in ihrer Doppelfunktion als Arbeits- und Schauraumldquo (S 8)

Uumlber die besondere Fragestellung der Tagung hinaus bieten alle Beitraumlge naturgemaumlszlig eine Fuumllle an interessanten Details zu den behandelten Objekten und damit zur Biblio-theks- und Archivgeschichte vorrangig des deutschen Suumldwestens Dass dabei der bdquoraumlum-liche Zusammenhang von Bibliothek und Archivldquo im Beitrag von Julian Hanschke zum Heidelberger Schloss bdquobesonders deutlichldquo wird (ebd) laumlsst sich schon dem Titel ablesen So sind auch die naumlheren Ausfuumlhrungen Hanschkes zur Umwidmung des ehemaligen herrschaftlichen Palasts zu einem Bibliotheks- und Archivgebaumlude (S 40 ff) schon rein institutionengeschichtlich von besonderem Interesse Dasselbe gilt fuumlr die Abhandlungen von Andreas Wilts und Rouven Pons zu den Archivzweckbauten in Donaueschingen und Dillenburg die sehr gute Uumlberblicke zur Entstehung solcher bdquoZweckbautenldquo in der Fruumlhen Neuzeit bieten Von geradezu grundlegender Bedeutung fuumlr die Geschichte der Archive ist Konrad Krimms eigener Beitrag unter dem Titel bdquoKlosterarchive Versuch einer Typologieldquo in dem Sakristei Skriptorium und Armarium als gemeinsame Zelle von Bibliothek und Archiv ausgewiesen werden dann aber auch weitere Entwicklungen die mit der Zunahme des kanzleimaumlszligigen Verwaltungsschriftguts eintraten kenntnisreich thematisiert sind

Nicht unerwaumlhnt soll die hohe Qualitaumlt der vielen Abbildungen bleiben mit denen die Darlegungen anschaulich illustriert sind Insgesamt kann man fuumlr den anregenden unser Wissen uumlber Bibliotheken und Archive der Fruumlhen Neuzeit bereichernden sorgsam redigierten und nicht zuletzt auch in aumlsthetischer Hinsicht gelungenen Tagungsband nur dankbar sein

Robert Kretzschmar

Cornel DORA (Hg) Geschichte machen Handschriften erzaumlhlen Vergangenheit Winter-ausstellung 10 Dezember 2019 bis 8 Maumlrz 2020 St Gallen Verlag am Klosterhof Basel Schwabe 2019 95 S Abb Brosch EUR 25ndash ISBN 978-3-905906-38-7 (Ver-lag am Klosterhof) ISBN 978-3-7965-4099-8 (Schwabe)

Eine Ausstellung der Stiftsbibliothek St Gallen im Winter 20192020 widmete sich anlaumlsslich der Publikation einer neuen kritischen Ausgabe der Casus sancti Galli Ekke-harts IV von St Gallen verschiedenen Formen der Geschichtsschreibung wie sie sich vorwiegend aus den stiftseigenen Handschriftenbestaumlnden und in Bezug auf das Kloster St Gallen illustrieren lassen In der vorliegenden Begleitpublikation kommen deren fuumlnf Autoren in sieben Abschnitten etwa gleichen Umfangs dazu auf Historische Quellen (Cornel DORA) Antike geschichtliche Stoffe (Andreas NIEVERGELT) Christliche Welt-chronistik (Nievergelt) St Galler Klostergeschichtsschreibung (Dora) Staumldtische Ge-schichtsschreibung als alternative Geschichtsschreibung (Nicole STADELMANN und Stefan SONDEREGGER) Annalen (Philipp LENZ) und Legenden (Dora) zu sprechen Umrahmt

630 Buchbesprechungen

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Am Ort des heutigen St Ottilien habe sich fuumlr sie wundersamer Weise ein Fels geoumlffnet in dem sie sich verstecken konnte Nachdem die Gefahr vorbei war habe sich dieser Fels erneut geoumlffnet und es kam daraus die noch heute sprudelnde Quelle hervor Die an dem Ort erbaute Ottilienkapelle stammt aus der Zeit um 1500 Wie weit fruumlher die Ottilien-verehrung zuruumlckreicht ist ungewiss

Die Dynastie der Zaumlhringer als Erinnerungsort beleuchtet Thomas ZOTZ der auf die vielen Denkmaumller und Bauten aus der Zaumlhringerzeit in denjenigen Staumldten verweisen kann die einst von den Zaumlhringern gegruumlndet worden waren Allen voran Freiburg im Breisgau wo man kurioser Weise uumlber lange Zeit den falschen Zaumlhringer Bertold III als Stadtgruumlnder memorierte Aber auch im eidgenoumlssischen Bern gehoumlrte die Ruumlckbe-sinnung besonders auf den dortigen Stadtgruumlnder Bertold V in Mittelalter und Neuzeit zur wohl gepflegten Memoria Das in Freiburg so lebendige Andenken an die Zaumlhringer ist dem Umstand geschuldet dass sich die Markgrafen von Baden seit dem 18 Jahr- hundert auch in die Tradition der Zaumlhringer stellten Dies war ein gemeinsamer Anknuumlp-fungspunkt als das jahrhundertelang habsburgische Freiburg im Jahr 1806 dem neu ent- stehenden Groszligherzogtum Baden zugeschlagen wurde

Weitaus geringer ist das Andenken an die Habsburger am Oberrhein ausgepraumlgt das Peter NIEDERHAumlUSER untersuchte Das ist einerseits erstaunlich da Freiburg weitaus laumlnger unter habsburgischer denn unter zaumlhringischer Herrschaft stand und letztere zeit-lich zudem deutlich weiter zuruumlcklag Andererseits leuchtet natuumlrlich ein dass die in Napoleonischer Zeit neu geschaffenen Staaten Baden und Wuumlrttemberg denen groszlige Teile des bis dahin habsburgischen Vorderoumlsterreich zugeschlagen wurden kein Interesse an einer Ruumlckbesinnung auf die Habsburger haben konnten Zudem war Vorderoumlsterreich lediglich ein Randgebiet der Habsburger Die groszligen Zentren wo es eine entsprechende Bautaumltigkeit und Repraumlsentation gab lagen jenseits des Arlbergs Am Oberrhein finden sich kaum Spuren aktiven Angedenkens lediglich architektonische Uumlberreste die an die Habsburger erinnern koumlnnen namhaft gemacht werden Wo die habsburgische Memoria tatsaumlchlich betrieben wurde in den Kloumlstern Muri und Koumlnigsfelden hat man den engeren Bereich des Oberrheins bereits verlassen Bemerkenswert ist immerhin der Versuch des Sanblasianer Abts Martin Gerbert in seinem Kloster eine Grablege fuumlr die Habsburger zu schaffen wohl um dem Kloster durch die Anbiederung an die Dynastie die Existenz zu sichern

Johanna THALI stellt die politische Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Ma-nessischen Liederhandschrift und des darin festgehaltenen Minnesangs vor Die beruumlhmte und praumlchtige Sammlung von Minneliedern wurde wohl durch die Zuumlrcher Buumlrgerfamilie Manesse im 14 Jahrhundert angelegt Nachdem der Minnesang im Spaumltmittelalter nicht mehr praktiziert wurde gerieten auch die Lieder in Vergessenheit Erst im 18 Jahrhundert erwachte wieder ein Interesse an bdquoDenkmaumllern altdeutscher Literaturldquo Im Zusammen-hang mit der Gruumlndung des deutschen Nationalstaats im 19 Jahrhundert geriet der Codex Manesse in das Blickfeld der Oumlffentlichkeit und galt als wichtiges Zeugnis deutscher Kultur Im Jahr 1888 konnte er von der franzoumlsischen Nationalbibliothek fuumlr die Univer-sitaumltsbibliothek Heidelberg gekauft werden Der Kauf war eine regelrechte Staatsaktion unter Beteiligung Bismarcks und Groszligherzog Friedrichs Wie praumlsent das Thema im Be-wusstsein der Gesellschaft damals war zeigen die Benennungen von Straszligen und Schulen nach den Minnesaumlngern und als vielleicht prominentestes Beispiel ein Relief an der Straszlig-burger Universitaumltsbibliothek wo Gottfried von Straszligburg die Reihe der deutschen Dich-ter eroumlffnet gefolgt von Lessing Goethe und Schiller

643Mittelalter

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Diese fand im Rahmen des Freiburger Studium Generale in der sogenannten Samstags-Uni statt die sich sowohl an ein universitaumlres als auch an ein breites Publikum aus der Bevoumllkerung richtet Auch der daraus resultierende Band soll ein gemischtes Publikum erreichen weshalb der wissenschaftliche Apparat auf ein Mindestmaszlig begrenzt und den einzelnen Beitraumlgen in der Form von Endnoten beigegeben wurde Ergaumlnzend gibt es zu allen Aufsaumltzen am Ende des Bandes noch jeweils eine kurze Liste mit weiterfuumlhrender Literatur

Das Konzept der Erinnerungsorte geht auf den franzoumlsischen Historiker Pierre Nora zuruumlck der den Begriff bdquolieux de meacutemoireldquo nicht nur im engeren sondern vor allem im uumlbertragenen Sinn versteht So kann von konkreten Orten die Rede sein aber auch von Ereignissen Personen Dynastien und vielem anderen mehr (vgl Definition auf S 128) Dabei stehen weniger die historischen Sachverhalte selbst im Zentrum des Interesses sondern vielmehr wie sie erinnert in die eigene Geschichte integriert und erzaumlhlt werden So kann es gerade am Oberrheingebiet an dem drei Staaten Anteil haben sowohl eine deutsche Sicht auf bestimmte Erinnerungsorte geben als auch eine schweizerische und eine franzoumlsische Das gilt insbesondere fuumlr das Elsass dessen staatliche Zugehoumlrigkeit wiederholt wechselte und wo man zudem mit einer spezifisch elsaumlssischen Perspektive zu rechnen hat

Im ersten der Beitraumlge von Heinrich SCHWENDEMANN geht es um die elsaumlssische Hoh-koumlnigsburg Diese Burg sollte nach 1900 quasi als Inbegriff einer deutschen Burg wie-deraufgebaut werden Fuumlr das Projekt konnte niemand geringeres als Kaiser Wilhelm II begeistert werden der aus eigener Schatulle fuumlr eine Anschubfinanzierung sorgte zu der dann der Reichstag einen weitaus groumlszligeren Betrag fuumlr das Gesamtprojekt zuschoss Der Kaiser sah in der Hohkoumlnigsburg im Elsass ein Pendant zur Marienburg im Osten seines Reichs und er konnte sich mit der Vereinnahmung der Burg in die Tradition der Hohen-staufen und Habsburger stellen die die Hohkoumlnigsburg einst errichtet bzw uumlber das Elsass geherrscht hatten ndash Anknuumlpfungen an mittelalterliche Kaiserdynastien wie man sie von den Hohenzollern etwa auch aus Goslar oder vom Kyffhaumluser kennt Seit der Eroumlffnung der Hohkoumlnigsburg im Jahr 1908 verblieben nur noch wenige Jahre in denen sie in der beabsichtigten Weise die preuszligisch-deutsche Herrschaft uumlber das Elsass reprauml-sentierte Nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine Umdeutung des Erinnerungsorts ein Von offizieller franzoumlsischer Seite betrachtete man die Burg nun als Sinnbild fuumlr den kaiserlichen Groumlszligenwahn Waumlhrend der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg interessierte sich das NS-Regime praktisch nicht fuumlr die Hohkoumlnigsburg war sie doch zu sehr ein hohenzollerisches Symbol Ironischer Weise waren es nach dem Krieg die Elsaumlsser die sich zunehmend mit der Burg identifizierten und sie als elsaumlssisches Bau-werk ansahen

Heilige sind Personen deren Leben und Sterben aus christlicher Sicht als vorbildhaft gelten Das Andenken an sie ist geradezu der Wesenskern ihrer Verehrung Insofern sind Heilige und ihre Kultplaumltze per se Erinnerungsorte Exemplifiziert hat dies Barbara FLEITH an der heiligen Odilia und ihrer Verehrung auf dem elsaumlssischen Odilienberg aber auch in St Ottilien nahe Freiburg Dabei werden die Unterschiede ihrer Verehrung und Memorierung verdeutlicht Waumlhrend sie in dem auf dem Odilienberg errichteten Kloster Hohenburg als blind geborenes Kind aber durch die Taufe sehend gewordene Heilige verehrt wird und Pilgerfahrten zu ihrem Grab dort bereits seit der Karolingerzeit greifbar sind liegt ihrer Verehrung in St Ottilien eine andere Legende zugrunde Dieser nach habe sie vor ihrem Vater fluumlchten muumlssen als er sie gegen ihren Willen verheiraten wollte

642 Buchbesprechungen

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werden diese Themen von einem kurzen Vorwort (Dora) einem einleitenden Aufsatz bdquoKarl der Dicke in St Gallenldquo von Hannes STEINER der Bezug nimmt auf den Anlass der Ausstellung sowie einem abschlieszligenden einseitigen Zitat aus Ildefons von Arxlsquo Ge-schichten des Kantons St Gallen (1813) Beigefuumlgt ist zudem ein kurzer Anhang der neben den Anmerkungen dankenswerterweise auch ein Verzeichnis der behandelten Exponate nebst deren jeweiliger Heimatinstitution bietet Die sieben Hauptabteilungen gliedern sich in je eine in der Regel einseitige Einleitung sowie die Beschreibung und Einordnung der Exponate auf jeweils einer Doppelseite mit Text und Farbabbildung in unterschiedlicher Anordnung Einzige Ausnahme hinsichtlich Gesamtlaumlnge und Einlei-tung bildet das Kapitel zur St Galler Klostergeschichtsschreibung das deutlich umfang-reicher ist hier findet sich unter anderem auch eine nuumltzliche Uumlbersicht der Werke zur St Galler Klostergeschichtsschreibung und ihrer (Erst-)Editionen

Trotz sehr unterschiedlicher Stile der einzelnen Autoren durchwegs fluumlssig lesbar duumlrf-ten die Texte dem Kontext einer solchen Ausstellung entsprechend auch fuumlr Laien in der Regel gut verstaumlndlich sein Sie greifen wesentliche Aspekte historiographischer Texte auf wenngleich in unterschiedlicher Ausfuumlhrlichkeit So erhalten etwa Urkunden als Quellengattung einen doppelseitigen Abriss anhand eines ausgewaumlhlten Beispiels (S 24 f) waumlhrend bdquoBriefeldquo zwar ausfuumlhrlich und informativ das gewaumlhlte Beispiel be-schreibt (Symmachus) entgegen der Kapiteluumlberschrift der dieser Abschnitt zugeordnet ist (bdquoHistorische Quellenldquo) jedoch kaum auf die Besonderheiten oder den Wert von Brie-fen als historische Quellen eingeht (S 26 f) Die weder in der kurzen Einleitung dieses Kapitels noch im Vorwort erwaumlhnten literarischen Quellen erhalten dagegen in der gesamten Ausstellung respektive dem vorliegenden Katalog eine recht prominente Stel-lung (z B bdquoEin deutscher Trojaromanldquo S 34 f bdquoGeschichte als Literaturldquo S 52 f usw) Zurecht wird mehrfach auf die haumlufige Vermischung von Genres verwiesen die eine strikte Trennung zwischen historiographischen Werken in engerem Sinne und lite-rarischen Werken oft unmoumlglich macht Der wissensvermittelnde Zweck von Ausstel-lungskatalogen spiegelt sich besonders in dem erkennbaren und erfolgreich umgesetzten Anliegen wider die unterschiedlichen Absichten verschiedener Einzeltexte oder Quel-lengattungen und ihre Auswirkungen fuumlr Gestaltung Rezeption und Interpretation zu verdeutlichen (exemplarisch etwa in der Einleitung zum Kapitel bdquoLegendenldquo S 79)

Der Katalog der sich uumlberwiegend auf St Gallen und St Gallener Bestaumlnde bezieht zeigt ausgewaumlhlte Einzelstuumlcke die meisten davon aus den Sammlungen der Stiftsbiblio-thek Die uumlberschaubare Anzahl der oft prominenten Exponate schmaumllert dabei nicht das Verdienst der Autoren die eine uumlbersichtliche und gut verstaumlndliche Zusammenstellung zur Frage nach dem Wert unterschiedlichster Quellen fuumlr die Geschichtsschreibung und damit verbunden fuumlr unser Geschichtsbild vorlegen Fuszlignoten statt Endnoten und ein zu-saumltzliches Literaturverzeichnis waumlren im Sinne des Lesekomforts und der Transparenz wuumlnschenswert gewesen doch ist dies bei einer Publikation dieses Formats mit den inhaumlrenten Einschraumlnkungen der Layoutoptionen ein geringer Makel So bildet die auch optisch sehr ansprechend gestaltete Broschuumlre insgesamt ein in sich rundes lesenswertes Buumlchlein Mit seiner reichen Bebilderung vermittelt es einen guten Eindruck der urspruumlnglichen Ausstellung des Reichtums der Bestaumlnde der Stiftsbibliothek der Uumlber-lieferung zur St Galler Geschichte sowie der Vielfalt historischen Quellenmaterials im Allgemeinen und wird somit dem ebenfalls allgemeiner gefassten Titel der Ausstellung durchaus gerecht

Annika Stello

631Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

verwahrten Kartensammlung von Prof Dr Fritz Hellwig (1912ndash2017) welcher an der Vorbereitung der Praumlsentation Anteil nahm

Helmut FRUumlHAUF einer der drei Ausstellungskuratoren gibt zunaumlchst einen ausfuumlhr-lichen biographischen Uumlberblick uumlber das lange und ereignisreiche Leben des Saarlaumlnders Hellwig Neben seinem beruflichen und politischen Wirken war er ein eifriger Sammler von Landkarten Ansichten Portraumlts Schriften und Buumlchern Teile dieser Sammlung die sich vielfach auf das Saarland Lothringen und Luxemburg bezieht befinden sich nicht nur im Landesbibliothekszentrum sondern in betraumlchtlichem Umfang auch an Karten im Landesarchiv Saarbruumlcken was kurz Erwaumlhnung findet

Der zweite Aufsatz Fruumlhaufs befasst sich mit der bdquoEntwicklung der historischen Kartographie im Spiegel der Kartensammlung Hellwigldquo mit eigenen Abschnitten zur Mi-litaumlrkartographie und zu Territorialkarten anhand der vom Bibliothekszentrum 2008 er-worbenen insgesamt 366 gedruckten Karten aus der Zeit von 1513 bis etwa 1920 Gut die Haumllfte der Karten stammt aus dem 18 Jahrhundert aber auch fuumlr die aumlltere Zeit ab 1513 sind angefangen bei Martin Waldseemuumlller etliche bedeutende Kartographen vertreten

Armin SCHLECHTER als zweiter Kurator der Ausstellung geht in seinem Aufsatz auf die Kartensammlung Hellwigs als historische Quelle ein Dabei unterscheidet er zwischen Karten mit dem Verlauf des Rheins im Zentrum Territorialkarten und Karten mit Bezug auf historische Ereignisse vornehmlich Kriegskarten aber beispielsweise auch Karten zu Erdbeben in Baden 1896 und 1911 die jeweils in die historischen Ereignisse ein- gebettet und interpretiert werden Im eigentlichen Katalogteil werden 54 ausgewaumlhlte Karten aus der Sammlung zum Lauf des Rheins mit Schwerpunkt Mittelrhein jeweils als Ganzes farbig auf einer Seite oder bei sehr langen Karten auf einer eingeklappten Dop-pelseite abgebildet Jeder Karte ist eine mehr oder weniger ausfuumlhrliche Erlaumluterung mit Literaturangaben beigegeben Waumlhrend Helmut Fruumlhauf vierzehn fruumlhe Rheinlaufkarten von 1513 bis 1700 beschreibt befasst sich Armin Schlechter mit zwanzig Landkarten zum bdquoOberrheinischen Kriegstheaterldquo 1635 bis 1815 Die dritte Ausstellungskuratorin Barbara Koelges stellt zwanzig Territorialkarten vor Den Abschluss des Bandes bildet ein chronologisch aufgebautes Verzeichnis mit den technischen Daten aller 366 Karten der Sammlung Hellwig in Koblenz

Mit der Ausstellung beziehungsweise dem Begleitband widmen sich die Ausstellungs-kuratoren der verdienstvollen Aufgabe eine interessante Sondersammlung bekannt zu machen die man nicht ohne weiteres an ihrem Aufbewahrungsort vermuten wuumlrde In den beiden Aufsaumltzen von Fruumlhauf und Schlechter zur Kartographie wurde zudem die sich bietende Gelegenheit auch die Karten Hellwigs die in der eigentlichen Ausstellung keine Beruumlcksichtigung finden konnten in gewisser Weise vorzustellen und zu interpre-tieren rege genutzt Der Band bietet zahlreiche Hinweise und Anregungen zur weiteren Beschaumlftigung mit der Kartensammlung Hellwigs oder auch anderen Karten zum Thema fuumlr alle die sich aus wissenschaftlichen oder heimatkundlichen Gruumlnden mit Landkarten befassen

Gabriele Wuumlst

Juumlrgen DENDORFER (Hg) Erinnerungsorte des Mittelalters am Oberrhein (Schlaglichter regionaler Geschichte Bd 4) Freiburg i Br Berlin Wien Rombach 2017 194 S Brosch EUR 24ndash ISBN 978-3-7930-5153-4

Der vorzustellende Band ist bereits der vierte in der noch jungen Reihe bdquoSchlaglichter regionaler Geschichteldquo und wie seine Vorgaumlnger geht er auf eine Ringvorlesung zuruumlck

641Mittelalter

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Thomas JUST Kathrin KININGER Andrea SOMMERLECHNER Herwig WEIGL (Hg) Privilegium maius Autopsie Kontext und Karriere der Faumllschungen Rudolfs IV von Oumlsterreich (Veroumlffentlichungen des Instituts fuumlr Oumlsterreichische Geschichtsforschung Bd 69 Mitteilungen des Oumlsterreichischen Staatsarchivs Sonderbd 15) Wien Boumlhlau 2018 388 S geb Abb EUR 70ndash ISBN 978-3-205-20049-9 Der Band verdankt seine Entstehung einer Tagung die aus der Kooperation des Insti-

tuts fuumlr Oumlsterreichische Geschichtsforschung mit dem Oumlsterreichischen Staatsarchiv und dem Kunsthistorischen Museum Wien entstand deren Ergebnisse nun anlaumlsslich der Ausstellung bdquoFalsche Tatsachen Das Privilegium maius und seine Geschichteldquo (16 Okt 2018 ndash 20 Jan 2019) veroumlffentlicht wurden Am Beginn stehen an den maszliggebenden Drucken orientierte Lesetexte der Urkunden des Maius-Komplexes die den Lesern als bequeme Referenz zum Nachvollziehen und kritischen Uumlberpruumlfen der Argumentation in den folgenden 15 Beitraumlgen zur Verfuumlgung stehen Einleitend gibt Thomas JUST (bdquoGeschichte wird gemacht Von Herzog Rudolf IV zu Heinz Grill Das Privilegium maius im Archivldquo S 28ndash39) bdquoeinen Uumlberblick uumlber die wichtigsten Repraumlsentationen des Privilegium maius im Haus- Hof- und Staatsarchivldquo sowie deren Nutzung worunter auch das kriminelle Verhalten des Archivars Heinz Grill faumlllt der sich durch den Verkauf von Goldbullen der Urkunden bereicherte und auch fuumlr die Vernichtung von Bestaumlti-gungsurkunden der Privilegien durch Friedrich III (1453) Karl V (1530) Ferdinand II (1623) und Karl VI (1729) verantwortlich ist Die weiteren Beitraumlge lassen sich vier Gruppen zuordnen 1 Analysen mit naturwissenschaftlich-technischen Methoden 2 klas-sisch grundwissenschaftliche Untersuchungen 3 Einordnung des Faumllschungskomplexes in den Entstehungskontext intendierte Funktion und zeitgenoumlssische Rezeption 4 Wir-kungsgeschichte seit dem Spaumltmittelalter

Die Ergebnisse der Untersuchungen mit technischen Mitteln durch Marcus GRIESSER et al (bdquoStrahlendiagnostische und materialanalytische Untersuchungen zum Urkunden-komplex sbquoPrivilegium maiuslsquoldquo S 42ndash55) und Maurizio ACETO et al (bdquoThe contribution of analytical chemistry to the study of ancient documentsldquo S 57ndash76) erfordern keine Revision des mittels der historisch-kritischen Methode erarbeiten Kenntnisstandes Von Interesse ist der Nachweis dass das auf 1058 datierte sogenannte Heinricianum nach dem Aufbringen der Schrift nochmals befeuchtet und zerknuumlllt wurde um ein hohes Alter des Dokuments vorzutaumluschen Walter KOCH (bdquoDie gefaumllschten oumlsterreichischen Haus-privilegienldquo S 77ndash90) arbeitet als zentrale Faumllschungsabsicht beim auf 1156 datierten Fridericianum das Bestreben heraus das Bild einer Kaiserurkunde des 12 Jahrhunderts durch Nachahmung der wesentlichen graphischen Merkmale zu erschaffen Trotz einiger Fehler sei dies bdquodem Faumllscher des Maius bzw den Faumllschern der gesamten Gruppe aus-gezeichnet gelungenldquo (S 79) Christian LACKNER (bdquoZum Diktat des Privilegium maius Kanzler Johann Ribi und der Maius-Faumllschungskomplexldquo S 91ndash103) stellt die Grund-satzfrage inwieweit bdquodas traditionelle methodische Instrumentarium des Diktatver-gleichsldquo im vorliegenden Fall geeignet ist um die Urheber der Faumllschungen zu ermitteln Obwohl er einige Indizien zusammentragen kann reichen diese auch nach seiner eigenen Ansicht nicht aus um Kanzler Johann Ribi als Diktator der Faumllschungen zu identifizieren Wenngleich er die Urkunden nicht selbst mundierte muumlsse er dennoch als Kopf hinter der Faumllschungsaktion gelten

Vreni DANGL (bdquoDer Erzherzog und sein Bischof Bischof Gottfried von Passau und Herzog Rudolf IV von Oumlsterreich im Kontext der oumlsterreichischen Freiheitsbriefeldquo S 105ndash144) beleuchtet die Beziehungen des Passauer Bischofs zu Herzog Rudolf IV

632 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

kleinen Durchmessers bestand Dennoch vertraten die beiden Gelehrten partiell inhaltlich unterschiedliche Ansichten Dieser Umstand mag ein Grund dafuumlr gewesen sein dass Waldseemuumlller bereits 1509 eine eigene kosmographische Abhandlung in deutscher Spra-che veroumlffentlichte welche auch zahlreiche theologische Aspekte enthielt und die (nicht nur doch unter anderem) eine ausfuumlhrliche Erklaumlrung seines kleinen Erdglobus darstellte

Das in Form sphaumlrischer Zweiecke gezeichnete Kartenbild fuumlr den Globus wurde mit-tels Holzschnittverfahren reproduziert Die zwoumllf Segmente konnten ausgeschnitten und auf eine Kugel im Durchmesser von 11 cm aufkaschiert werden Waldseemuumlllers Glo-buskarte ist der fruumlheste Beleg einer kartographischen Grundlage fuumlr einen Serienglobus das heiszligt dieser Holzschnitt leitete eine neue Entwicklung in der Globenherstellung ein Daruumlber hinaus gilt sie als der fruumlheste gedruckte Nachweis der geographischen Bezeich-nung bdquoAmerikaldquo auf einem kartographischen Objekt Nur vier in das fruumlhe 16 Jahrhun-dert datierbare Exemplare haben sich erhalten einer dieser wertvollen Segmentsaumltze befindet sich im Museum im Ritterhaus in Offenburg im Ortenaukreis

Zu Ostern 1509 wurde bei Johannes Gruumlninger in Straszligburg die Druckschrift Wald-seemuumlllers bdquoDer Welt Kugel Beschrybung der Welt und deszlig gantzen Ertreichs [hellip]ldquo pub-liziert und Ende August desselben Jahres ebenfalls bei Gruumlninger eine erweiterte und in die lateinische Sprache uumlbersetzte Fassung mit dem Titel Globus Mundi veroumlffentlicht Der 2010 an der Universitaumlt Freiburg zum Doktor der Philosophie promovierte und dort 2017 habilitierte Philologe Martin Lehmann hatte bereits uumlber die Cosmographiae Intro-ductio Matthias Ringmanns und uumlber andere zeitgenoumlssische Quellen zur Geschichte der europaumlischen Expansion und deren Rezeption gearbeitet Es gelang ihm unter anderem die Zuschreibung der Autorenschaft der anonym erschienenen Werke bdquoDer Welt Kugelldquo und Globus Mundi an Martin Waldseemuumlller wissenschaftlich zu belegen

Mit diesem Buch legt er die erste vollstaumlndige Transkription und eine Uumlbersetzung des Globus Mundi aus dem Lateinischen ins Deutsche vor Lehmann hat seine Arbeit mit einer einleitenden Beschreibung des Werkes mit ausfuumlhrlichen Kommentaren zum lateinischen Text mit zahlreichen Verweisen auf andere zeitgenoumlssische kosmographische Arbeiten mit Verzeichnissen der Primaumlrquellen und der Sekundaumlrliteratur sowie mit einem Appendix ndash einer umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion des Problems der Antipoden ndash versehen

Das Buch bietet eine fundierte und gleichzeitig lesbare moderne Bearbeitung einer wenig bekannten und nur selten rezipierten historischen Quelle die aus heutiger Sicht einerseits in Bezug auf die in ihr repraumlsentierte fruumlhneuzeitliche Beschreibung der Erde und des diese umgebenden Weltalls sowie andererseits als Erlaumluterung der Globuskarte Waldseemuumlllers von wissenschaftshistorischem Interesse ist

Jan Mokre

Helmut FRUumlHAUF Barbara KOELGES Armin SCHLECHTER Rheinstrom Deszlig beruumlhmten und herrlichen Flusses eigentliche und wahrhafftige Beschreibung Die Kartensamm-lung Hellwig im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Rheinische Landes- bibliothek Koblenz (Schriften des Landesbibliothekszentrums Rheinland-Pfalz Bd 15) Koblenz Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz 2017 175 S Kt Brosch EUR 18ndash ISSN 1861-6224 (Reihe)

Der Begleitband zur Ausstellung widmet sich mit Karten auf denen der Rhein oder Teile davon in verschiedenen Zusammenhaumlngen zu sehen ist einem Aspekt der im Lan-desbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Abteilung Rheinische Landesbibliothek Koblenz

640 Buchbesprechungen

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Bischof Gottfried gehoumlrte aufgrund seiner engen Bindungen an den Habsburger zu einer Gruppe von Praumllaten die im Jahr 1360 insgesamt 21 die Stellung Oumlsterreichs betreffende Urkunden vidimierte Seine Beteiligung an diesem Vorgang erklaumlrt sie durch die Bin-dungen an den Herzog die sich in haumlufigen Aufenthalten in dem zu seinem Bistum gehoumlrigen Wien manifestierten waumlhrend seine eigenen weltlichen Territorien zum Herr-schaftsgebiet des oumlsterreichischen Herzogs gehoumlrten Elisabeth KLECKER (bdquoEchtheitskritik ndash Invektive ndash Selbstinszenierung Francesco Petrarca uumlber die pseudoantiken Inserte im Heinricianum [Sen 165]ldquo S 193ndash212) arbeitet den Charakter des Gutachtens Francesco Petrarcas uumlber die Urkundenfaumllschungen als Medium humanistisch-gelehrter Selbstdar-stellung heraus die einer Diskreditierung des Faumllschers und seines Auftraggebers als ungebildete Dilettanten diente die nicht auf einer Ebene mit Kaiser Karl IV und seiner Umgebung agierten Sie zeigt aber anhand der Inschrift auf dem Stifterkenotaph im Wie-ner Stephansdom dass es im unmittelbaren Umfeld Rudolfs IV durchaus Personen gab die beim Einsatz lateinischer Dichtung uumlber Kompetenzen verfuumlgten bdquodie den Vergleich mit Petrarca nicht zu scheuen brauchtenldquo (S 212)

Die Beitraumlge von Lukas WOLFINGER (bdquoDas Privilegium maius und der habsburgische Herrschaftswechsel von 1358 Neue Beobachtungen zum Kontext und zur Funktion alt-bekannter Faumllschungenldquo S 145ndash172) Joumlrg PELTZER (Rudolf IV ndash ein willkommener Kollege Das Privilegium maius im Kontext der Vereindeutlichung (kur)fuumlrstlichen Rangsldquo S 173ndash192) und Bernd SCHNEIDMUumlLLER (bdquoWuumlrde ndash Form ndash Anspruch Rituali-sierungen Konstrukte und Faumllschungen im 14 Jahrhundertldquo S 213ndash243) verorten den Faumllschungskomplex im politischen Kontext der Zeit der stark von dynastischer Konkur-renz und der im Medium symbolischer Kommunikation verhandelten Rangfragen gepraumlgt war Wolfinger stellt das Narrativ der aumllteren Forschung zur Politik Rudolfs IV in Frage die dem jungen Herzog irrationales Handeln unterstellte Dabei entwickelt er uumlberzeu-gend die These dass Rudolfs Vorgehen als durchaus rationaler Versuch zu verstehen ist bdquodie sehr realen Gefahren des Herrschaftswechsels bzw der Neubelehnung im Allgemei-nen und jener von 135859 im Besonderen zu entschaumlrfen und ihre Entwicklung gegen-uumlber den Eingriffen von auszligen speziell des Kaisers abzusichernldquo (S 167) Ein weiterer Zweck der Faumllschungen sei es gewesen dem oumlsterreichischen Landesfuumlrsten eine eigen-staumlndige Erwerbspolitik zu ermoumlglichen in dem alle neu erworbenen Herrschaften der Herzoumlge als bdquoErweiterung Oumlsterreichsldquo gelten und an dessen Privilegien teilhaben sollten Im Beitrag von Peltzer wird deutlich dass die von Rudolf IV formulierten fuumlrstlichen Ranganspruumlche zwar durchaus rational waren aber eben auch so formuliert sein mussten dass sie die Chance auf Anerkennung durch den Kaiser und zumindest die Billigung durch die Kurfuumlrsten hatten Im Vergleich mit den Bemuumlhungen Pfalzgraf Ruprechts I den Kurfuumlrstenrang zu erreichen wird die Auszligergewoumlhnlichkeit des Faumllschungskom- plexes relativiert weil die Manipulation normativer Texte durchaus zu den uumlblichen Me-thoden zaumlhlte Allerdings uumlberforderte das Ausmaszlig der von Rudolf IV beanspruchten Rechte sowohl den Kaiser als auch die Kurfuumlrsten weshalb sein Ranganspruch keine Anerkennung fand Zahlreiche Parallelen zum Maius-Komplex zeigt Schneidmuumlller in seinem Beitrag auf der die oumlsterreichischen Freiheitsbriefe in den weiten Rahmen des europaumlischen Spaumltmittelalters stellt Sowohl in ihrem bdquoWillen zur Zeichenhaftigkeitldquo (S 224) als auch in der Sehnsucht den beanspruchten Rang durch die bdquoKonstruktion geglaubter Vergangenheitldquo (S 225) zu legitimieren standen sie keineswegs alleine

Daniel LUGER (bdquoDaz hellip unser gedechtnuszlig dest lennger und seligclicher gehalten werde Die Bestaumltigung des Privilegium maius durch Kaiser Friedrich IIIldquo S 245ndash258)

633Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Katalogbearbeiter um Christian Herrmann in einem eigenen Blogbeitrag reagiert (httpszkbwblogspotcom201907antwort-der-wlb-auf-klaus-grafshtml) Sie bringen darin zum einen ihre Ansicht zum Ausdruck dass der Onlinekatalog INKA aufgrund seiner bdquoauf TUSTEP beruhenden Datenstrukturldquo gerade nicht fuumlr eine dauerhafte Bereit-stellung der Informationen geeignet sei und dass dagegen einem bdquogedruckten Katalog [hellip] die Funktion einer zusaumltzlichen Datensicherungldquo zukomme Zum anderen wird angekuumlndigt dass die von Klaus Graf erkannten Fehler in der elektronischen Version des Katalogs korrigiert wuumlrden Allerdings wird nicht deutlich ob und wie diese Version fuumlr Interessierte auszligerhalb der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek einsehbar ist

Wer je an vergleichbaren Katalogwerken mitgearbeitet hat kann einschaumltzen dass es angesichts der groszligen Menge an Quellen Metadaten und Einzelinformationen unmoumlglich ist im Detail jeden Fehler auszuschlieszligen Jeder einzelne Irrtum jede Verwechslung ist aumlrgerlich gerade wenn sie ndash wie hier zum Teil ndash vermeidbar erscheinen Vor dem Hintergrund der unzaumlhligen hilfreichen Angaben die sich nach Eindruck des Rezensen-ten weit uumlberwiegend als korrekt erweisen sind die oben angesprochenen Fehler zwar unerfreulich fallen aber insgesamt weniger ins Gewicht Das gilt vor allem dann wenn sie wie angekuumlndigt korrigiert und was zu wuumlnschen bleibt in verbesserter Form zeitnah im Open Access zur Verfuumlgung gestellt werden So sei hier zuletzt noch einmal auf den mit 498ndash Euro hohen Preis der gedruckten Baumlnde hingewiesen der dazu fuumlhrt dass kaum eine interessierte Einzelperson und bedauerlicherweise auch immer weniger oumlffentliche Einrichtungen sich die Erwerbung des Katalogs leisten koumlnnen Auch vor diesem Hin-tergrund waumlre die Bereitstellung des Werks als frei zugaumlngliche Onlinequelle sehr zu be-gruumlszligen wobei es vor allem erfreulich waumlre wenn so der inhaltsreiche und verdienstvolle Katalog einem groumlszligeren Publikum ortsunabhaumlngig und unabhaumlngig von den Oumlffnungs-zeiten der bestandsfuumlhrenden Einrichtungen zur Nutzung bereitstuumlnde

Johannes Mangei

Martin LEHMANN (Hg) Der Globus Mundi Martin Waldseemuumlllers aus dem Jahre 1509 Text ndash Uumlbersetzung ndash Kommentar (Rombach Wissenschaften Reihe Paradeigmata Bd 35) Freiburg i Br Berlin Wien Rombach 2016 205 S Abb Brosch EUR 38ndash ISBN 978-3-7930-9858-4

Bisher in der Alten Welt vollkommen unbekannt ruumlckte in den ersten zehn Jahren des 16 Jahrhunderts der amerikanische Doppelkontinent ndash zunaumlchst schemenhaft dann unuumlbersehbar ndash in das Bewusstsein der europaumlischen Eliten Zwischen 1400 und 1550 vermehrte sich aufgrund der maritimen Expeditionen nach Asien ndash von Portugal aus ent-lang der Westkuumlste Afrikas nach Suumlden und dann ostwaumlrts sowie von Spanien und Eng-land aus nach Westen ndash das Wissen von der Erdoberflaumlche von 11 Prozent auf 33 Prozent Die neuen geographischen Kenntnisse sollten nicht nur verbal sondern auch visuell ver-mittelt werden Zusaumltzlich zu den Weltkarten erinnerte man sich dazu an ein bereits in der Antike bekanntes doch bis zum Ende des 15 Jahrhunderts so gut wie nie verwendetes didaktisches Modell den Erdglobus

Ein geistiges Zentrum wissenschaftlicher Verarbeitung der Nachrichten aus Uumlbersee bildete der als Gymnasium Vosagense bezeichnete humanistische Gelehrtenzirkel im loth-ringischen St Dieacute Dort wirkten unter anderem der Philologe Matthias Ringmann und der Kartograph Martin Waldseemuumlller Gemeinsam schufen sie 1507 ein den Wandel des Weltbildes repraumlsentierendes dreiteiliges sbquoMedienpaketlsquo welches aus einer gedruckten Einfuumlhrung in die Kosmographie einer groszligformatigen Weltkarte und einem Erdglobus

639Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

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legt dar dass die Generalkonfirmationen der Urkunden durch Friedrich III nicht nur im Interesse der Ambitionen der Dynastie erfolgten sondern auch Antworten auf aktuelle politische und dynastische Entwicklungen der Zeit waren Insbesondere die Bestaumltigung von 1453 diente auch der Formulierung von Sonderrechten fuumlr die inneroumlsterreichische Linie der Habsburger die jedoch als Waffe in innerdynastischen Streitigkeiten so gut wie keine Wirkung zeigten Eine ungewoumlhnliche Bestaumltigung der Urkunden stellt Andreas ZAJIC (bdquoDynastische Selbstvergewisserung oder oumlsterreichisches Identitaumltsangebot Uumlber-legungen zur Interpretation des illuminierten Vidimus des Maius-Komplexes von 1512ldquo S 259ndash320) vor Fuumlr das prachtvoll illuminierte Vidimus kann Zajic eine doppelte Funk-tion plausibel machen die sich jedoch wegen der Abwesenheit Kaiser Maximilians nicht realisieren lieszlig Das in Wien erstellte Libell haumltte fuumlr Maximilian als bdquobeeindruckendes Bilddokument dynastischer Selbstvergewisserungldquo und als Impuls fuumlr eine bdquostaumlrkere Identifizierung mit der landesfuumlrstlichen Herrschaft uumlber das fuumlr sein Haus namengebende Erblandldquo (S 320) wirken koumlnnen Thomas WINKELBAUER (bdquoDie Bedeutung des Privile-gium maius fuumlr die Erzherzoumlge von Oumlsterreich in der Fruumlhen Neuzeitldquo S 321ndash338) gibt einen souveraumlnen Uumlberblick uumlber den gegenwaumlrtigen Wissensstand zu Nutzung und Wir-kung des Privilegium maius durch die Erzherzoumlge von Oumlsterreich von 1500 bis zum Ende des Alten Reichs In der Fruumlhen Neuzeit konnten die Faumllschungen einige der im 14 Jahr-hundert intendierten Wirkungen realisieren Um 1500 gelang es den oumlsterreichischen Herzoumlgen einen herausgehobenen Platz auf Reichsversammlungen zu sichern 1530 erfolgte die Belehnung Ferdinands I in den symbolischen und rituellen Formen der sogenannten oumlsterreichischen Freiheitsbriefe Einige Bestimmungen ndash etwa uumlber die Primogenitur die weibliche Eventualsukzession sowie die Unteilbarkeit und Untrenn-barkeit der habsburgischen Herrschaften ndash fanden Eingang in die Pragmatische Sanktion von 1713

Im Beitrag von Werner TELESKO (bdquoRudolf IV in der bildenden Kunst und populaumlren Geschichtskultur des 18 und 19 Jahrhunderts S 339ndash348) spielen die Urkundenfaumll-schungen nur eine marginale Rolle Zwar interessierte man sich zur Zeit Maria Theresias fuumlr das vermeintlich originale Aussehen des Erzherzogshuts doch in der Geschichtskultur des 19 Jahrhunderts war Rudolf vornehmlich wegen seiner Foumlrderung von Wissenschaft und Kunst beliebt Zum Abschluss des Bandes blickt Thomas STOCKINGER (bdquoDie sbquoleidige Urkundelsquo Patriotismus und Wissenschaftsethos rund um die sbquooumlsterreichischen Freiheits-briefelsquo von Hormayr bis Lhotskyldquo S 349ndash378) auf die Geschichte der wissenschaft- lichen Auseinandersetzung mit dem Privilegium maius Dabei wird die von Alphons LHOTSKY (Privilegium maius Die Geschichte einer Urkunde 1957) behauptete Entwick-lung einer fortschreitenden Entpolitisierung und Verwissenschaftlichung des Umgangs mit den Urkunden wesentlich differenziert Die Deutung der Urkunden des Maius-Kom-plexes durch die Historiker des 19 Jahrhunderts erfolgte in einem staatsrechtlich gedach-ten Rahmen der von einer Einheit von Staatsvolk Staatsgebiet und Staatsgewalt ausging die fuumlr die eigene Gegenwart angestrebt wurde und mit der die mittelalterlichen Verhaumllt-nisse nicht angemessen erfasst werden konnten Wichtig ist Stockingers wissenschafts-historische Einordnung Lhotskys dessen Gedanke eines bereits im Spaumltmittelalter existierenden und bdquovermoumlge seiner natuumlrlichen Zusammengehoumlrigkeit alle Zeitlaumlufte bis zur Gegenwartldquo (S 370) uumlberdauernden Laumlnderverbundes bdquoOumlsterreichldquo wesentlich zum Geschichtsbild der Zweiten Republik beigetragen habe die bdquoeinen oumlsterreichischen Staat in den nun aktuellen Grenzen mit einer vielhundertjaumlhrigen Kontinuitaumlt und sogar Ge-schichtsnotwendigkeit ausstatteteldquo (S 372)

634 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Die reichen und vielfaumlltigen Ergebnisse der Beitraumlge machen den Tagungsband zu einem unverzichtbaren Referenzwerk fuumlr die kuumlnftige Beschaumlftigung mit dem Privilegium maius Zu dem im Vergleich zur bisher maszliggebenden Monographie Lhotskys von 1957 erheblich facettenreicheren Bild tragen neben den unverzichtbaren grundwissenschaft- lichen Analysen auch die rezeptions- und wissenschaftshistorischen Ausfuumlhrungen und vor allem die uumlberzeugende Einordnung in das gegenwaumlrtige Verstaumlndnis der politisch-sozialen Ordnung des spaumltmittelalterlichen Reichs bei

Steffen Krieb

Joumlrg W BUSCH Juumlrgen TREFFEISEN (Bearb) Die Urkunden der Stadt Neuenburg am Rhein Band 3 hg von der Stadt Neuenburg am Rhein Neuenburg am Rhein Stadt Neuenburg am Rhein 2019 802 S Abb geb EUR 2990 ISBN 978-3-9816892-2-8

2019 erschien Band 3 des Neuenburger Urkundenbuchs Die Bearbeitung lag wiederum in den bewaumlhrten Haumlnden von Joumlrg W BUSCH Professor fuumlr Mittelalterliche Geschichte an der Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main und Juumlrgen TREFFEISEN stellvertretender Leiter des Generallandesarchivs Karlsruhe Der zeitliche Rahmen der Urkunden erstreckt sich uumlber knapp fuumlnfzig Jahre von 1414 bis 1462

Das Buch gliedert sich in zwei Teile In einem ersten Abschnitt (S 10ndash57) bietet Joumlrg W Busch zwei bdquoLeseanregungen fuumlr historisch interessierte Neuenburger Buumlrgerinnen und Buumlrgerldquo eine bdquoRheinreise nach Neuenburgldquo (S 13ndash30) und bdquoWirtshausgespraumlcheldquo (S 31ndash57) In beiden Faumlllen wird auf fiktive Art versucht ndash gleich einem historischen Roman ndash dem Laien Neuenburg im Mittelalter naumlherzubringen Die Fahrt auf dem Rhein ndash damals eine mehrere Kilometer breite Wasserlandschaft mit mehreren Neben- und Sei-tenarmen ndash beginnt in Basel und endet ndash wie zu erwarten ndash in Neuenburg Der Erzaumlhler wird dabei durch den Schiffsmann und einen mitreisenden Neuenburger Ratsherrn nicht ohne Grund auch auf die Gefahren eines Hochwassers hingewiesen die bekanntermaszligen zwischen 1480 und 1527 der Stadt mehrfach schwer zusetzten (vgl auch Streiflicht mit Bericht des Dominikaners Felix Fabri S 21) Bildausschnitte von Wasserfahrzeugen und Rheininseln aus dem bdquoGemarkungsplan der Stadt Neuenburg am Rhein um 1525ldquo visua-lisieren das Gesagte Die zweite Leseanregung spielt sich im Gasthaus bdquoZum Hasenldquo ab Sie handelt von Dingen die laut Autor bdquonie in einer Urkunde niedergeschrieben werdenldquo Der Erzaumlhler belauscht Gespraumlche am Nachbartisch ndash mitunter in alemannischem Dialekt wiedergegeben und in der Fuszlignote ins Schriftdeutsche uumlbersetzt ndash fuumlhrt auf wer die Gast-stube betritt und beschreibt das Verhalten der Besucher Hier waumlren statt einfacher Blei-stiftillustrationen Darstellungen aus zeitgenoumlssischen Vorlagen authentischer gewesen

Der zweite Teil gemeinsam von Joumlrg W Busch und Juumlrgen Treffeisen bearbeitet ent-haumllt 408 Urkunden (S 70ndash572) sowie einen kurzen Exkurs zu bdquoNeuenburg als Tagungs-ortldquo (S 573 f) In das Regestenwerk aufgenommen wurden wie in den ersten beiden Baumlnden solche Schriftstuumlcke die ein Rechtsgeschaumlft besiegelten sowie kaiserliche koumlnigliche und landesherrliche Mandate die an die Stadt Neuenburg in Briefform ge-richtet waren und weitere Quellen die fuumlr die Neuenburger Stadtgeschichte bedeutsam sind Aus diesem Grund wichen die Bearbeiter auch von ihrer bisherigen Linie bei den Missiven ab d h sie werteten auch die Missivenbuumlcher der Staumldte Basel und Freiburg aus und dokumentierten ihre Funde in den Fuszlignoten Erschlossen sind die Urkunden durch ein ausfuumlhrliches Orts- Personen- und Sachregister (uumlber 200 Seiten) Dadurch ist das Urkundenbuch fuumlr jeden der sich mit der Geschichte Neuenburgs aber auch des suumldlichen Oberrheins beschaumlftigt ein groszliger Gewinn fuumlr eigene Forschungen Neben den

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anderen Katalogen (unter anderem im Gesamtkatalog der Wiegendrucke im Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15 Jahrhunderts und im Incunabula Short Title Catalogue) Die vollstaumlndigen Titel der Referenzwerke die in den Katalogbeschreibungen abgekuumlrzt verwendet werden findet man in Band 1 im Abkuumlrzungsverzeichnis (S 104 f) bzw im Verzeichnis der zitierten und weiterfuumlhrenden Literatur (S 106ndash144) Allerdings wird dort bedauerlicherweise die als bdquoAldquo abgekuumlrzte Referenz nicht aufgefuumlhrt In der Katalogbeschreibung wird auszligerdem erwaumlhnt dass der Ablassbrief bdquoim Jahr 1928 aus dem vorderen Deckelldquo einer anderen Inkunabel (Inc fol 8061) geloumlst wurde Interessierte Leser koumlnnen nun die Beschreibung dieses Stuumlcks ndash erneut uumlber die Signaturenkonkor-danz ndash ebenfalls im Katalog aufsuchen Sie finden die Angaben dazu unter der Nummer 2854 in Band 2 auf Seite 1058 Daraus geht hervor dass es sich hier um einen Reutlinger Druck von Conrad Gruumltschs Quadragesimale handelt Doch zuruumlck zu dem Ablassbrief und dessen Katalogeintrag in dem noch weitere interessante Angaben gemacht werden Es sind drei Vorbesitzer des Ablassbriefes genannt von denen der Erste der Blaubeurener Benediktiner Georg Ramser in der Quelle selbst in dem fuumlr die Namenseintragung frei-gehaltenen Platz in der zweiten Zeile handschriftlich eingetragen als bdquoReligiosus fr(ater) Georius Ramszliger p(ro)fessus ordinis S(ancti) b(e)n(e)dicti In blaburenldquo begegnet Die weiteren beiden Vorbesitzer Sebastian Renninger und das Benediktinerkloster Blau- beuren ergeben sich aus der Geschichte des erwaumlhnten Drucks in den der Ablassbrief eingeklebt war

Der Katalog der als fuumlnfter Teil der Reihe bdquoInkunabeln in Baden-Wuumlrttembergldquo erschienen ist besteht aus vier Teilbaumlnden Teilband 1 umfasst neben Geleitwort Vorwort und einer ausfuumlhrlichen Einleitung uumlber die Anlage des Katalogs uumlber die Bestands- geschichte die Provenienzen Einbaumlnde und Buchbinderwerkstaumltten Fragmente etc das Abkuumlrzungs- und Literaturverzeichnis die Beschreibungen von elf Blockbuumlchern (S 145ndash149) sowie die ersten Katalogbeschreibungen fuumlr den Alphabetsteil A ndash C Teil-band 2 enthaumllt die Beschreibungen des Alphabetsteils D ndash M Teilband 3 die restlichen Beschreibungen N ndash Z sowie Angaben zu den Verlusten und Teilband 4 verschiedene Register Signaturen- und Verzeichniskonkordanzen sowie 80 farbige Abbildungen

Zu dem Katalog liegen bereits mehrere publizierte Reaktionen vor die sich eingehend mit den Vorzuumlgen und Schwaumlchen der umfangreichen Veroumlffentlichung befassen so dass hier darauf verzichtet werden kann auf die darin besprochenen Einzelheiten erneut einzugehen Es handelt sich um die Besprechung von Wolfgang Schmitz in Informa- tionsmittel (IFB) Digitales Rezensionsorgan fuumlr Bibliothek und Wissenschaft (www informationsmittel-fuer-bibliothekendeshowfilephpid=9580) auszligerdem um Klaus Grafs Beitrag bdquoZu den Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgartldquo fuumlr das Pirckheimer-Jahrbuch (32 2018 S 199ndash217) und um eine ausfuumlhrlichere Version davon im Webblog bdquoArchivalialdquo (unter httpsarchivaliahypothesesorg98966) Einige der darin vorgestellten Aspekte seien hier zumindest in aller Kuumlrze genannt Neben der ganz grundsaumltzlichen Frage ob solche Erschlieszligungswerke uumlberhaupt in gedruckter Form erscheinen sollten oder ob parallel dazu bzw stattdessen Onlineveroumlffentlichungen bzw Onlinedatenbanken wie INKA zu bevorzugen seien werden darin die hier gewaumlhlte um-faumlngliche Beruumlcksichtigung von Referenzwerken die Anlage der Baumlnde mit ihrem Auf-wand an Verweisungen zum Hin- und Zuruumlckblaumlttern die Qualitaumlt der Einleitung mit Angaben zur Bestandsgeschichte sowie einzelne Staumlrken ndash etwa die Identifizierung von Einbandwerkstaumltten ndash und Schwaumlchen ndash etwa Fehler beim Identifizieren von Personen beim Ansetzen von Werktiteln und andere Lesefehler ndash diskutiert Darauf haben die

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

in solchen Werken uumlblichen Lemmata wie bdquoHerrschaftldquo bdquoLandfriedenldquo oder bdquoSchultheiszligldquo sind daruumlber hinaus aber auch Begriffe wie bdquoAbfertigungldquo bdquoFischerFischereildquo bdquoFloumlszligerldquo oder bdquoSchiff-bruch-fahrt-mann-leuteldquo zu finden die indirekt mit der ersten Lese- anregung (bdquoRheinreise nach Neuenburgldquo) in Verbindung stehen

Ein vierter (Doppel-)Band der die Urkunden der Jahre 1463 bis 1500 enthalten soll ist ndash wie die zahlreichen Verweise in den Fuszlignoten zeigen ndash quasi fertig und steht unmittelbar vor der Drucklegung Die Reihe findet dadurch ihren Abschluss Zu Recht gilt der Dank der Bearbeiter der Stadt Neuenburg die in vorbildlicher Weise uumlber all die Jahre die Finanzierung garantierte und sich hinter das Projekt stellte obwohl das Opus trotz zweier Leseanregungen sicher nicht bdquomassentauglichldquo ist Dies ist in Zeiten noto-risch klammer Haushaltskassen nicht alltaumlglich sondern lobend hervorzuheben

Hans-Peter Widmann

Bernhard KREUTZ (Bearb) Reutlinger Urkundenbuch Teil 1 Die Urkunden bis 1399 Reutlingen Stadtarchiv Reutlingen 2019 XLII 630 S geb EUR 60ndash ISBN 938-3-939775-74-4 Der erste Teil des Reutlinger Urkundenbuchs stellt ndash so der Oberbuumlrgermeister der

Stadt im Vorwort ndash eine wissenschaftliche Bearbeitung dar die die Urkunden bdquoin der originalen Quellensprache der Zeitldquo darbietet

Es fuumlhrt die Urkunden Reutlinger Provenienz aus unterschiedlichen Archiven und Archivbestaumlnden zusammen und rekonstruiert somit den urspruumlnglichen Archivfonds der Reichsstadt Auszliger den Urkunden wurde vereinzelt auch briefliche Korrespondenz auf-genommen nicht jedoch erzaumlhlende Quellen wie Annalen und Chroniken Im Wesent- lichen handelt es sich um die in der staumldtischen Kanzlei sowie bei den innerstaumldtischen Kloumlstern und Pflegern entstandenen oder dort eingegangenen und verwahrten Urkunden Daruumlber hinaus wurden solche Urkunden erfasst die von der Stadt Reutlingen und ihren Amtstraumlgern ausgestellt oder besiegelt wurden und in andere Archive eingegangen sind Urkunden die im Volltext im Wuumlrttembergischen Urkundenbuch vorliegen und online verfuumlgbar sind sowie solche Dokumente mit einer verlaumlsslichen Edition wurden sinn-vollerweise nur als Regest abgedruckt Davon ausgenommen sind Schriftstuumlcke von zen-traler Bedeutung fuumlr die Reutlinger Stadtgeschichte So umfasst der Band insgesamt 967 Urkunden von denen in der Druckversion 281 als Volltext vorgelegt wurden Ein Orts- und Personenregister erschlieszligt die Regesten Volltexte Fuszlignoten sowie den wissen-schaftlichen Apparat

Die Transkription erfolgt nach den Regeln des ITC-Projekts bdquoAd fontesldquo des Histori-schen Seminars der Universitaumlt Zuumlrich in der Fassung von 2003 Ob es sich bei der im Juni 2020 im Internet aufgerufenen Fassung um die von 2003 handelt ist nicht ersicht-lich In dieser aktuellen Fassung lesen wir bdquoDie Interpunktion wird den modernen Regeln angeglichenldquo Das Reutlinger Urkundenbuch verzichtet jedoch fast vollstaumlndig auf jede Interpunktion Nicht einmal in Aufzaumlhlungen werden Kommata zwischen den einzelnen Namen oder Berufs- beziehungsweise Funktionsbeschreibungen gesetzt Das ist legitim ist aber doch eher irritierend und erschwert das Verstaumlndnis der einzelnen Texte

Die Qualitaumlt der Transkriptionen wurde anhand dreier willkuumlrlich ausgewaumlhlter Urkunden die die Stadt Reutlingen als Digitalisate zur Verfuumlgung stellte eruiert Die Kollationierung der Digitalisate mit der Transkription fuumlhrte zu leichten Irritationen Kleinere Leseschwaumlchen in der Urkunde Nr 177 (S 117 Zeile 2) wie bei den Namen Vehale (richtig Vehali) Katerinun (richtig Katerin) oder Ha(e)dwig (richtig Hadewig)

636 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 636

koumlnnten vernachlaumlssigt werden wenn sie mehr oder weniger singulaumlr waumlren Zudem sind sie fuumlr das Textverstaumlndnis nicht weiter relevant Eine typische hier zu konstatierende Ungenauigkeit die aber nicht erklaumlrbar ist ist die Lesung der Waumlhrungseinheit Schilling im zweiten Abschnitt dieser Urkunde Beim identischen palaumlographischen Befund liest man im gedruckten Text dreimal schilling einmal hingegen schillinge In der Datumszeile der Urkunde (S 118) steht im Urkundenbuch drissig die Urkunde schreibt jedoch drucirczig Im Einzelfall ohne Probleme zu akzeptieren in der vorgefundenen Menge jedoch ndash ich habe nur wenige ausgewaumlhlte Beispiele angefuumlhrt ndash auffaumlllig

Bei der Urkunde Nr 399 (S 253) ist der erste Abschnitt praktisch fehlerfrei transkri-biert Der zweite fast gleichlange Abschnitt beinhaltet hingegen zwoumllf leichte Lesefehler Waren hier zwei unterschiedliche Bearbeiter am Werk wurde vielleicht ein Korrektur-durchgang abgebrochen oder wie ist diese auffaumlllige Diskrepanz zu erklaumlren

Waumlhrend der Wert der Edition durch diese angefuumlhrten Lesungen in keiner Weise ge-schmaumllert wird gibt das Fehlen ganzer Woumlrter doch zu denken Bei der Urkunde Nr 177 (S 117) fehlt in der zweiten Zeile vor dem Eigennamen Had(e)wig die naumlhere letztend-lich aufschlussreiche Bezeichnung Schwester (swester) In der Urkunde Nr 399 (S 253) fehlt im zweiten Abschnitt in der 7 Zeile hinter dem Eigennamen Irmengart die Ergaumln-zung min wirttennun saeligen Wenige Zeilen darunter fehlt er in dem Satzteil nach minem tode ob [er] mich ucircber lebt Auch hier wird durch das Fehlen einzelner Worte oder Satzteile der Sinn des Urkundentextes nicht verfaumllscht Trotzdem bleibt ein ungutes Gefuumlhl inwieweit man den Transkriptionen letztendlich trauen kann

Es wird daher angeregt grundsaumltzlich einen weiteren Korrekturdurchgang moumlglichst durch eine andere Person als den Bearbeiter selbst einzuplanen Diesen zeitlich geringen Aufwand sollte die Stadt Reutlingen fuumlr die Onlineversion des 1 Bandes nachtraumlglich durchfuumlhren Fuumlr den 2 Band duumlrfte dies nun wohl selbstverstaumlndlich sein Es bleibt sonst ein ungutes Gefuumlhl bei einem ansonsten lobenswerten Unterfangen

Juumlrgen Treffeisen

Die Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgart beschrieben von Armin RENNER unter Mitarbeit von Christian HERRMANN und Eberhard ZWINK Ge-leitwort von Hannsjoumlrg KOWARK (dagger) (Inkunabeln in Baden-Wuumlrttemberg Bd 5) Wiesbaden Harrasowitz 2018 4 Baumlnde 2894 S Abb geb EUR 498ndash ISBN 978-3-447-11075-4

bdquoUnter den mehr als 7000 Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek finden sich einige Stuumlcke fuumlr die derzeit weltweit keine weiteren Nachweise bekannt sind und die deshalb als unikal uumlberliefert angesehen werden (httpswwwwlb-stuttgartdesamm-lungenalte-und-wertvolle-druckebestandinkunabelnweltweit-unikale-inkunabeln) Dazu zaumlhlt etwa ein Ablassbrief fuumlr die Kirche der Jungfrau Maria und der Heiligen Andreas und Amandus in Urach mit der Signatur Inc fol 25b Das Beispiel mag ver-deutlichen wie die Anlage des Katalogs organisiert ist und wie ein moumlgliches Nutzungs-szenario aussehen kann Uumlber die Signaturenkonkordanz in Band 4 des hier anzuzeigen- den Katalogs findet man fuumlr den Eintrag dieses Drucks die Katalognummer 3 Diese befindet sich in Band 1 auf S 153 Dort erfaumlhrt man neben der Angabe um welchen Ablassbrief es sich handelt auch wo durch wen und wann er gedruckt wurde naumlmlich in Urach bei Konrad Fyner um 1482ndash83 Die Datierung ergibt sich unter anderem aus der handschriftlich vorgenommenen Datierung als Terminus ante Weitere Informationen betreffen den Umfang (1 Blatt einseitig bedruckt) und Erwaumlhnungen des Stuumlcks in

637Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 637

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

koumlnnten vernachlaumlssigt werden wenn sie mehr oder weniger singulaumlr waumlren Zudem sind sie fuumlr das Textverstaumlndnis nicht weiter relevant Eine typische hier zu konstatierende Ungenauigkeit die aber nicht erklaumlrbar ist ist die Lesung der Waumlhrungseinheit Schilling im zweiten Abschnitt dieser Urkunde Beim identischen palaumlographischen Befund liest man im gedruckten Text dreimal schilling einmal hingegen schillinge In der Datumszeile der Urkunde (S 118) steht im Urkundenbuch drissig die Urkunde schreibt jedoch drucirczig Im Einzelfall ohne Probleme zu akzeptieren in der vorgefundenen Menge jedoch ndash ich habe nur wenige ausgewaumlhlte Beispiele angefuumlhrt ndash auffaumlllig

Bei der Urkunde Nr 399 (S 253) ist der erste Abschnitt praktisch fehlerfrei transkri-biert Der zweite fast gleichlange Abschnitt beinhaltet hingegen zwoumllf leichte Lesefehler Waren hier zwei unterschiedliche Bearbeiter am Werk wurde vielleicht ein Korrektur-durchgang abgebrochen oder wie ist diese auffaumlllige Diskrepanz zu erklaumlren

Waumlhrend der Wert der Edition durch diese angefuumlhrten Lesungen in keiner Weise ge-schmaumllert wird gibt das Fehlen ganzer Woumlrter doch zu denken Bei der Urkunde Nr 177 (S 117) fehlt in der zweiten Zeile vor dem Eigennamen Had(e)wig die naumlhere letztend-lich aufschlussreiche Bezeichnung Schwester (swester) In der Urkunde Nr 399 (S 253) fehlt im zweiten Abschnitt in der 7 Zeile hinter dem Eigennamen Irmengart die Ergaumln-zung min wirttennun saeligen Wenige Zeilen darunter fehlt er in dem Satzteil nach minem tode ob [er] mich ucircber lebt Auch hier wird durch das Fehlen einzelner Worte oder Satzteile der Sinn des Urkundentextes nicht verfaumllscht Trotzdem bleibt ein ungutes Gefuumlhl inwieweit man den Transkriptionen letztendlich trauen kann

Es wird daher angeregt grundsaumltzlich einen weiteren Korrekturdurchgang moumlglichst durch eine andere Person als den Bearbeiter selbst einzuplanen Diesen zeitlich geringen Aufwand sollte die Stadt Reutlingen fuumlr die Onlineversion des 1 Bandes nachtraumlglich durchfuumlhren Fuumlr den 2 Band duumlrfte dies nun wohl selbstverstaumlndlich sein Es bleibt sonst ein ungutes Gefuumlhl bei einem ansonsten lobenswerten Unterfangen

Juumlrgen Treffeisen

Die Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgart beschrieben von Armin RENNER unter Mitarbeit von Christian HERRMANN und Eberhard ZWINK Ge-leitwort von Hannsjoumlrg KOWARK (dagger) (Inkunabeln in Baden-Wuumlrttemberg Bd 5) Wiesbaden Harrasowitz 2018 4 Baumlnde 2894 S Abb geb EUR 498ndash ISBN 978-3-447-11075-4

bdquoUnter den mehr als 7000 Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek finden sich einige Stuumlcke fuumlr die derzeit weltweit keine weiteren Nachweise bekannt sind und die deshalb als unikal uumlberliefert angesehen werden (httpswwwwlb-stuttgartdesamm-lungenalte-und-wertvolle-druckebestandinkunabelnweltweit-unikale-inkunabeln) Dazu zaumlhlt etwa ein Ablassbrief fuumlr die Kirche der Jungfrau Maria und der Heiligen Andreas und Amandus in Urach mit der Signatur Inc fol 25b Das Beispiel mag ver-deutlichen wie die Anlage des Katalogs organisiert ist und wie ein moumlgliches Nutzungs-szenario aussehen kann Uumlber die Signaturenkonkordanz in Band 4 des hier anzuzeigen- den Katalogs findet man fuumlr den Eintrag dieses Drucks die Katalognummer 3 Diese befindet sich in Band 1 auf S 153 Dort erfaumlhrt man neben der Angabe um welchen Ablassbrief es sich handelt auch wo durch wen und wann er gedruckt wurde naumlmlich in Urach bei Konrad Fyner um 1482ndash83 Die Datierung ergibt sich unter anderem aus der handschriftlich vorgenommenen Datierung als Terminus ante Weitere Informationen betreffen den Umfang (1 Blatt einseitig bedruckt) und Erwaumlhnungen des Stuumlcks in

637Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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anderen Katalogen (unter anderem im Gesamtkatalog der Wiegendrucke im Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15 Jahrhunderts und im Incunabula Short Title Catalogue) Die vollstaumlndigen Titel der Referenzwerke die in den Katalogbeschreibungen abgekuumlrzt verwendet werden findet man in Band 1 im Abkuumlrzungsverzeichnis (S 104 f) bzw im Verzeichnis der zitierten und weiterfuumlhrenden Literatur (S 106ndash144) Allerdings wird dort bedauerlicherweise die als bdquoAldquo abgekuumlrzte Referenz nicht aufgefuumlhrt In der Katalogbeschreibung wird auszligerdem erwaumlhnt dass der Ablassbrief bdquoim Jahr 1928 aus dem vorderen Deckelldquo einer anderen Inkunabel (Inc fol 8061) geloumlst wurde Interessierte Leser koumlnnen nun die Beschreibung dieses Stuumlcks ndash erneut uumlber die Signaturenkonkor-danz ndash ebenfalls im Katalog aufsuchen Sie finden die Angaben dazu unter der Nummer 2854 in Band 2 auf Seite 1058 Daraus geht hervor dass es sich hier um einen Reutlinger Druck von Conrad Gruumltschs Quadragesimale handelt Doch zuruumlck zu dem Ablassbrief und dessen Katalogeintrag in dem noch weitere interessante Angaben gemacht werden Es sind drei Vorbesitzer des Ablassbriefes genannt von denen der Erste der Blaubeurener Benediktiner Georg Ramser in der Quelle selbst in dem fuumlr die Namenseintragung frei-gehaltenen Platz in der zweiten Zeile handschriftlich eingetragen als bdquoReligiosus fr(ater) Georius Ramszliger p(ro)fessus ordinis S(ancti) b(e)n(e)dicti In blaburenldquo begegnet Die weiteren beiden Vorbesitzer Sebastian Renninger und das Benediktinerkloster Blau- beuren ergeben sich aus der Geschichte des erwaumlhnten Drucks in den der Ablassbrief eingeklebt war

Der Katalog der als fuumlnfter Teil der Reihe bdquoInkunabeln in Baden-Wuumlrttembergldquo erschienen ist besteht aus vier Teilbaumlnden Teilband 1 umfasst neben Geleitwort Vorwort und einer ausfuumlhrlichen Einleitung uumlber die Anlage des Katalogs uumlber die Bestands- geschichte die Provenienzen Einbaumlnde und Buchbinderwerkstaumltten Fragmente etc das Abkuumlrzungs- und Literaturverzeichnis die Beschreibungen von elf Blockbuumlchern (S 145ndash149) sowie die ersten Katalogbeschreibungen fuumlr den Alphabetsteil A ndash C Teil-band 2 enthaumllt die Beschreibungen des Alphabetsteils D ndash M Teilband 3 die restlichen Beschreibungen N ndash Z sowie Angaben zu den Verlusten und Teilband 4 verschiedene Register Signaturen- und Verzeichniskonkordanzen sowie 80 farbige Abbildungen

Zu dem Katalog liegen bereits mehrere publizierte Reaktionen vor die sich eingehend mit den Vorzuumlgen und Schwaumlchen der umfangreichen Veroumlffentlichung befassen so dass hier darauf verzichtet werden kann auf die darin besprochenen Einzelheiten erneut einzugehen Es handelt sich um die Besprechung von Wolfgang Schmitz in Informa- tionsmittel (IFB) Digitales Rezensionsorgan fuumlr Bibliothek und Wissenschaft (www informationsmittel-fuer-bibliothekendeshowfilephpid=9580) auszligerdem um Klaus Grafs Beitrag bdquoZu den Inkunabeln der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek Stuttgartldquo fuumlr das Pirckheimer-Jahrbuch (32 2018 S 199ndash217) und um eine ausfuumlhrlichere Version davon im Webblog bdquoArchivalialdquo (unter httpsarchivaliahypothesesorg98966) Einige der darin vorgestellten Aspekte seien hier zumindest in aller Kuumlrze genannt Neben der ganz grundsaumltzlichen Frage ob solche Erschlieszligungswerke uumlberhaupt in gedruckter Form erscheinen sollten oder ob parallel dazu bzw stattdessen Onlineveroumlffentlichungen bzw Onlinedatenbanken wie INKA zu bevorzugen seien werden darin die hier gewaumlhlte um-faumlngliche Beruumlcksichtigung von Referenzwerken die Anlage der Baumlnde mit ihrem Auf-wand an Verweisungen zum Hin- und Zuruumlckblaumlttern die Qualitaumlt der Einleitung mit Angaben zur Bestandsgeschichte sowie einzelne Staumlrken ndash etwa die Identifizierung von Einbandwerkstaumltten ndash und Schwaumlchen ndash etwa Fehler beim Identifizieren von Personen beim Ansetzen von Werktiteln und andere Lesefehler ndash diskutiert Darauf haben die

638 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Katalogbearbeiter um Christian Herrmann in einem eigenen Blogbeitrag reagiert (httpszkbwblogspotcom201907antwort-der-wlb-auf-klaus-grafshtml) Sie bringen darin zum einen ihre Ansicht zum Ausdruck dass der Onlinekatalog INKA aufgrund seiner bdquoauf TUSTEP beruhenden Datenstrukturldquo gerade nicht fuumlr eine dauerhafte Bereit-stellung der Informationen geeignet sei und dass dagegen einem bdquogedruckten Katalog [hellip] die Funktion einer zusaumltzlichen Datensicherungldquo zukomme Zum anderen wird angekuumlndigt dass die von Klaus Graf erkannten Fehler in der elektronischen Version des Katalogs korrigiert wuumlrden Allerdings wird nicht deutlich ob und wie diese Version fuumlr Interessierte auszligerhalb der Wuumlrttembergischen Landesbibliothek einsehbar ist

Wer je an vergleichbaren Katalogwerken mitgearbeitet hat kann einschaumltzen dass es angesichts der groszligen Menge an Quellen Metadaten und Einzelinformationen unmoumlglich ist im Detail jeden Fehler auszuschlieszligen Jeder einzelne Irrtum jede Verwechslung ist aumlrgerlich gerade wenn sie ndash wie hier zum Teil ndash vermeidbar erscheinen Vor dem Hintergrund der unzaumlhligen hilfreichen Angaben die sich nach Eindruck des Rezensen-ten weit uumlberwiegend als korrekt erweisen sind die oben angesprochenen Fehler zwar unerfreulich fallen aber insgesamt weniger ins Gewicht Das gilt vor allem dann wenn sie wie angekuumlndigt korrigiert und was zu wuumlnschen bleibt in verbesserter Form zeitnah im Open Access zur Verfuumlgung gestellt werden So sei hier zuletzt noch einmal auf den mit 498ndash Euro hohen Preis der gedruckten Baumlnde hingewiesen der dazu fuumlhrt dass kaum eine interessierte Einzelperson und bedauerlicherweise auch immer weniger oumlffentliche Einrichtungen sich die Erwerbung des Katalogs leisten koumlnnen Auch vor diesem Hin-tergrund waumlre die Bereitstellung des Werks als frei zugaumlngliche Onlinequelle sehr zu be-gruumlszligen wobei es vor allem erfreulich waumlre wenn so der inhaltsreiche und verdienstvolle Katalog einem groumlszligeren Publikum ortsunabhaumlngig und unabhaumlngig von den Oumlffnungs-zeiten der bestandsfuumlhrenden Einrichtungen zur Nutzung bereitstuumlnde

Johannes Mangei

Martin LEHMANN (Hg) Der Globus Mundi Martin Waldseemuumlllers aus dem Jahre 1509 Text ndash Uumlbersetzung ndash Kommentar (Rombach Wissenschaften Reihe Paradeigmata Bd 35) Freiburg i Br Berlin Wien Rombach 2016 205 S Abb Brosch EUR 38ndash ISBN 978-3-7930-9858-4

Bisher in der Alten Welt vollkommen unbekannt ruumlckte in den ersten zehn Jahren des 16 Jahrhunderts der amerikanische Doppelkontinent ndash zunaumlchst schemenhaft dann unuumlbersehbar ndash in das Bewusstsein der europaumlischen Eliten Zwischen 1400 und 1550 vermehrte sich aufgrund der maritimen Expeditionen nach Asien ndash von Portugal aus ent-lang der Westkuumlste Afrikas nach Suumlden und dann ostwaumlrts sowie von Spanien und Eng-land aus nach Westen ndash das Wissen von der Erdoberflaumlche von 11 Prozent auf 33 Prozent Die neuen geographischen Kenntnisse sollten nicht nur verbal sondern auch visuell ver-mittelt werden Zusaumltzlich zu den Weltkarten erinnerte man sich dazu an ein bereits in der Antike bekanntes doch bis zum Ende des 15 Jahrhunderts so gut wie nie verwendetes didaktisches Modell den Erdglobus

Ein geistiges Zentrum wissenschaftlicher Verarbeitung der Nachrichten aus Uumlbersee bildete der als Gymnasium Vosagense bezeichnete humanistische Gelehrtenzirkel im loth-ringischen St Dieacute Dort wirkten unter anderem der Philologe Matthias Ringmann und der Kartograph Martin Waldseemuumlller Gemeinsam schufen sie 1507 ein den Wandel des Weltbildes repraumlsentierendes dreiteiliges sbquoMedienpaketlsquo welches aus einer gedruckten Einfuumlhrung in die Kosmographie einer groszligformatigen Weltkarte und einem Erdglobus

639Grundwissenschaften Editionen Archive und Bibliotheken

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kleinen Durchmessers bestand Dennoch vertraten die beiden Gelehrten partiell inhaltlich unterschiedliche Ansichten Dieser Umstand mag ein Grund dafuumlr gewesen sein dass Waldseemuumlller bereits 1509 eine eigene kosmographische Abhandlung in deutscher Spra-che veroumlffentlichte welche auch zahlreiche theologische Aspekte enthielt und die (nicht nur doch unter anderem) eine ausfuumlhrliche Erklaumlrung seines kleinen Erdglobus darstellte

Das in Form sphaumlrischer Zweiecke gezeichnete Kartenbild fuumlr den Globus wurde mit-tels Holzschnittverfahren reproduziert Die zwoumllf Segmente konnten ausgeschnitten und auf eine Kugel im Durchmesser von 11 cm aufkaschiert werden Waldseemuumlllers Glo-buskarte ist der fruumlheste Beleg einer kartographischen Grundlage fuumlr einen Serienglobus das heiszligt dieser Holzschnitt leitete eine neue Entwicklung in der Globenherstellung ein Daruumlber hinaus gilt sie als der fruumlheste gedruckte Nachweis der geographischen Bezeich-nung bdquoAmerikaldquo auf einem kartographischen Objekt Nur vier in das fruumlhe 16 Jahrhun-dert datierbare Exemplare haben sich erhalten einer dieser wertvollen Segmentsaumltze befindet sich im Museum im Ritterhaus in Offenburg im Ortenaukreis

Zu Ostern 1509 wurde bei Johannes Gruumlninger in Straszligburg die Druckschrift Wald-seemuumlllers bdquoDer Welt Kugel Beschrybung der Welt und deszlig gantzen Ertreichs [hellip]ldquo pub-liziert und Ende August desselben Jahres ebenfalls bei Gruumlninger eine erweiterte und in die lateinische Sprache uumlbersetzte Fassung mit dem Titel Globus Mundi veroumlffentlicht Der 2010 an der Universitaumlt Freiburg zum Doktor der Philosophie promovierte und dort 2017 habilitierte Philologe Martin Lehmann hatte bereits uumlber die Cosmographiae Intro-ductio Matthias Ringmanns und uumlber andere zeitgenoumlssische Quellen zur Geschichte der europaumlischen Expansion und deren Rezeption gearbeitet Es gelang ihm unter anderem die Zuschreibung der Autorenschaft der anonym erschienenen Werke bdquoDer Welt Kugelldquo und Globus Mundi an Martin Waldseemuumlller wissenschaftlich zu belegen

Mit diesem Buch legt er die erste vollstaumlndige Transkription und eine Uumlbersetzung des Globus Mundi aus dem Lateinischen ins Deutsche vor Lehmann hat seine Arbeit mit einer einleitenden Beschreibung des Werkes mit ausfuumlhrlichen Kommentaren zum lateinischen Text mit zahlreichen Verweisen auf andere zeitgenoumlssische kosmographische Arbeiten mit Verzeichnissen der Primaumlrquellen und der Sekundaumlrliteratur sowie mit einem Appendix ndash einer umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion des Problems der Antipoden ndash versehen

Das Buch bietet eine fundierte und gleichzeitig lesbare moderne Bearbeitung einer wenig bekannten und nur selten rezipierten historischen Quelle die aus heutiger Sicht einerseits in Bezug auf die in ihr repraumlsentierte fruumlhneuzeitliche Beschreibung der Erde und des diese umgebenden Weltalls sowie andererseits als Erlaumluterung der Globuskarte Waldseemuumlllers von wissenschaftshistorischem Interesse ist

Jan Mokre

Helmut FRUumlHAUF Barbara KOELGES Armin SCHLECHTER Rheinstrom Deszlig beruumlhmten und herrlichen Flusses eigentliche und wahrhafftige Beschreibung Die Kartensamm-lung Hellwig im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Rheinische Landes- bibliothek Koblenz (Schriften des Landesbibliothekszentrums Rheinland-Pfalz Bd 15) Koblenz Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz 2017 175 S Kt Brosch EUR 18ndash ISSN 1861-6224 (Reihe)

Der Begleitband zur Ausstellung widmet sich mit Karten auf denen der Rhein oder Teile davon in verschiedenen Zusammenhaumlngen zu sehen ist einem Aspekt der im Lan-desbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz Abteilung Rheinische Landesbibliothek Koblenz

640 Buchbesprechungen

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verwahrten Kartensammlung von Prof Dr Fritz Hellwig (1912ndash2017) welcher an der Vorbereitung der Praumlsentation Anteil nahm

Helmut FRUumlHAUF einer der drei Ausstellungskuratoren gibt zunaumlchst einen ausfuumlhr-lichen biographischen Uumlberblick uumlber das lange und ereignisreiche Leben des Saarlaumlnders Hellwig Neben seinem beruflichen und politischen Wirken war er ein eifriger Sammler von Landkarten Ansichten Portraumlts Schriften und Buumlchern Teile dieser Sammlung die sich vielfach auf das Saarland Lothringen und Luxemburg bezieht befinden sich nicht nur im Landesbibliothekszentrum sondern in betraumlchtlichem Umfang auch an Karten im Landesarchiv Saarbruumlcken was kurz Erwaumlhnung findet

Der zweite Aufsatz Fruumlhaufs befasst sich mit der bdquoEntwicklung der historischen Kartographie im Spiegel der Kartensammlung Hellwigldquo mit eigenen Abschnitten zur Mi-litaumlrkartographie und zu Territorialkarten anhand der vom Bibliothekszentrum 2008 er-worbenen insgesamt 366 gedruckten Karten aus der Zeit von 1513 bis etwa 1920 Gut die Haumllfte der Karten stammt aus dem 18 Jahrhundert aber auch fuumlr die aumlltere Zeit ab 1513 sind angefangen bei Martin Waldseemuumlller etliche bedeutende Kartographen vertreten

Armin SCHLECHTER als zweiter Kurator der Ausstellung geht in seinem Aufsatz auf die Kartensammlung Hellwigs als historische Quelle ein Dabei unterscheidet er zwischen Karten mit dem Verlauf des Rheins im Zentrum Territorialkarten und Karten mit Bezug auf historische Ereignisse vornehmlich Kriegskarten aber beispielsweise auch Karten zu Erdbeben in Baden 1896 und 1911 die jeweils in die historischen Ereignisse ein- gebettet und interpretiert werden Im eigentlichen Katalogteil werden 54 ausgewaumlhlte Karten aus der Sammlung zum Lauf des Rheins mit Schwerpunkt Mittelrhein jeweils als Ganzes farbig auf einer Seite oder bei sehr langen Karten auf einer eingeklappten Dop-pelseite abgebildet Jeder Karte ist eine mehr oder weniger ausfuumlhrliche Erlaumluterung mit Literaturangaben beigegeben Waumlhrend Helmut Fruumlhauf vierzehn fruumlhe Rheinlaufkarten von 1513 bis 1700 beschreibt befasst sich Armin Schlechter mit zwanzig Landkarten zum bdquoOberrheinischen Kriegstheaterldquo 1635 bis 1815 Die dritte Ausstellungskuratorin Barbara Koelges stellt zwanzig Territorialkarten vor Den Abschluss des Bandes bildet ein chronologisch aufgebautes Verzeichnis mit den technischen Daten aller 366 Karten der Sammlung Hellwig in Koblenz

Mit der Ausstellung beziehungsweise dem Begleitband widmen sich die Ausstellungs-kuratoren der verdienstvollen Aufgabe eine interessante Sondersammlung bekannt zu machen die man nicht ohne weiteres an ihrem Aufbewahrungsort vermuten wuumlrde In den beiden Aufsaumltzen von Fruumlhauf und Schlechter zur Kartographie wurde zudem die sich bietende Gelegenheit auch die Karten Hellwigs die in der eigentlichen Ausstellung keine Beruumlcksichtigung finden konnten in gewisser Weise vorzustellen und zu interpre-tieren rege genutzt Der Band bietet zahlreiche Hinweise und Anregungen zur weiteren Beschaumlftigung mit der Kartensammlung Hellwigs oder auch anderen Karten zum Thema fuumlr alle die sich aus wissenschaftlichen oder heimatkundlichen Gruumlnden mit Landkarten befassen

Gabriele Wuumlst

Juumlrgen DENDORFER (Hg) Erinnerungsorte des Mittelalters am Oberrhein (Schlaglichter regionaler Geschichte Bd 4) Freiburg i Br Berlin Wien Rombach 2017 194 S Brosch EUR 24ndash ISBN 978-3-7930-5153-4

Der vorzustellende Band ist bereits der vierte in der noch jungen Reihe bdquoSchlaglichter regionaler Geschichteldquo und wie seine Vorgaumlnger geht er auf eine Ringvorlesung zuruumlck

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Diese fand im Rahmen des Freiburger Studium Generale in der sogenannten Samstags-Uni statt die sich sowohl an ein universitaumlres als auch an ein breites Publikum aus der Bevoumllkerung richtet Auch der daraus resultierende Band soll ein gemischtes Publikum erreichen weshalb der wissenschaftliche Apparat auf ein Mindestmaszlig begrenzt und den einzelnen Beitraumlgen in der Form von Endnoten beigegeben wurde Ergaumlnzend gibt es zu allen Aufsaumltzen am Ende des Bandes noch jeweils eine kurze Liste mit weiterfuumlhrender Literatur

Das Konzept der Erinnerungsorte geht auf den franzoumlsischen Historiker Pierre Nora zuruumlck der den Begriff bdquolieux de meacutemoireldquo nicht nur im engeren sondern vor allem im uumlbertragenen Sinn versteht So kann von konkreten Orten die Rede sein aber auch von Ereignissen Personen Dynastien und vielem anderen mehr (vgl Definition auf S 128) Dabei stehen weniger die historischen Sachverhalte selbst im Zentrum des Interesses sondern vielmehr wie sie erinnert in die eigene Geschichte integriert und erzaumlhlt werden So kann es gerade am Oberrheingebiet an dem drei Staaten Anteil haben sowohl eine deutsche Sicht auf bestimmte Erinnerungsorte geben als auch eine schweizerische und eine franzoumlsische Das gilt insbesondere fuumlr das Elsass dessen staatliche Zugehoumlrigkeit wiederholt wechselte und wo man zudem mit einer spezifisch elsaumlssischen Perspektive zu rechnen hat

Im ersten der Beitraumlge von Heinrich SCHWENDEMANN geht es um die elsaumlssische Hoh-koumlnigsburg Diese Burg sollte nach 1900 quasi als Inbegriff einer deutschen Burg wie-deraufgebaut werden Fuumlr das Projekt konnte niemand geringeres als Kaiser Wilhelm II begeistert werden der aus eigener Schatulle fuumlr eine Anschubfinanzierung sorgte zu der dann der Reichstag einen weitaus groumlszligeren Betrag fuumlr das Gesamtprojekt zuschoss Der Kaiser sah in der Hohkoumlnigsburg im Elsass ein Pendant zur Marienburg im Osten seines Reichs und er konnte sich mit der Vereinnahmung der Burg in die Tradition der Hohen-staufen und Habsburger stellen die die Hohkoumlnigsburg einst errichtet bzw uumlber das Elsass geherrscht hatten ndash Anknuumlpfungen an mittelalterliche Kaiserdynastien wie man sie von den Hohenzollern etwa auch aus Goslar oder vom Kyffhaumluser kennt Seit der Eroumlffnung der Hohkoumlnigsburg im Jahr 1908 verblieben nur noch wenige Jahre in denen sie in der beabsichtigten Weise die preuszligisch-deutsche Herrschaft uumlber das Elsass reprauml-sentierte Nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine Umdeutung des Erinnerungsorts ein Von offizieller franzoumlsischer Seite betrachtete man die Burg nun als Sinnbild fuumlr den kaiserlichen Groumlszligenwahn Waumlhrend der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg interessierte sich das NS-Regime praktisch nicht fuumlr die Hohkoumlnigsburg war sie doch zu sehr ein hohenzollerisches Symbol Ironischer Weise waren es nach dem Krieg die Elsaumlsser die sich zunehmend mit der Burg identifizierten und sie als elsaumlssisches Bau-werk ansahen

Heilige sind Personen deren Leben und Sterben aus christlicher Sicht als vorbildhaft gelten Das Andenken an sie ist geradezu der Wesenskern ihrer Verehrung Insofern sind Heilige und ihre Kultplaumltze per se Erinnerungsorte Exemplifiziert hat dies Barbara FLEITH an der heiligen Odilia und ihrer Verehrung auf dem elsaumlssischen Odilienberg aber auch in St Ottilien nahe Freiburg Dabei werden die Unterschiede ihrer Verehrung und Memorierung verdeutlicht Waumlhrend sie in dem auf dem Odilienberg errichteten Kloster Hohenburg als blind geborenes Kind aber durch die Taufe sehend gewordene Heilige verehrt wird und Pilgerfahrten zu ihrem Grab dort bereits seit der Karolingerzeit greifbar sind liegt ihrer Verehrung in St Ottilien eine andere Legende zugrunde Dieser nach habe sie vor ihrem Vater fluumlchten muumlssen als er sie gegen ihren Willen verheiraten wollte

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Am Ort des heutigen St Ottilien habe sich fuumlr sie wundersamer Weise ein Fels geoumlffnet in dem sie sich verstecken konnte Nachdem die Gefahr vorbei war habe sich dieser Fels erneut geoumlffnet und es kam daraus die noch heute sprudelnde Quelle hervor Die an dem Ort erbaute Ottilienkapelle stammt aus der Zeit um 1500 Wie weit fruumlher die Ottilien-verehrung zuruumlckreicht ist ungewiss

Die Dynastie der Zaumlhringer als Erinnerungsort beleuchtet Thomas ZOTZ der auf die vielen Denkmaumller und Bauten aus der Zaumlhringerzeit in denjenigen Staumldten verweisen kann die einst von den Zaumlhringern gegruumlndet worden waren Allen voran Freiburg im Breisgau wo man kurioser Weise uumlber lange Zeit den falschen Zaumlhringer Bertold III als Stadtgruumlnder memorierte Aber auch im eidgenoumlssischen Bern gehoumlrte die Ruumlckbe-sinnung besonders auf den dortigen Stadtgruumlnder Bertold V in Mittelalter und Neuzeit zur wohl gepflegten Memoria Das in Freiburg so lebendige Andenken an die Zaumlhringer ist dem Umstand geschuldet dass sich die Markgrafen von Baden seit dem 18 Jahr- hundert auch in die Tradition der Zaumlhringer stellten Dies war ein gemeinsamer Anknuumlp-fungspunkt als das jahrhundertelang habsburgische Freiburg im Jahr 1806 dem neu ent- stehenden Groszligherzogtum Baden zugeschlagen wurde

Weitaus geringer ist das Andenken an die Habsburger am Oberrhein ausgepraumlgt das Peter NIEDERHAumlUSER untersuchte Das ist einerseits erstaunlich da Freiburg weitaus laumlnger unter habsburgischer denn unter zaumlhringischer Herrschaft stand und letztere zeit-lich zudem deutlich weiter zuruumlcklag Andererseits leuchtet natuumlrlich ein dass die in Napoleonischer Zeit neu geschaffenen Staaten Baden und Wuumlrttemberg denen groszlige Teile des bis dahin habsburgischen Vorderoumlsterreich zugeschlagen wurden kein Interesse an einer Ruumlckbesinnung auf die Habsburger haben konnten Zudem war Vorderoumlsterreich lediglich ein Randgebiet der Habsburger Die groszligen Zentren wo es eine entsprechende Bautaumltigkeit und Repraumlsentation gab lagen jenseits des Arlbergs Am Oberrhein finden sich kaum Spuren aktiven Angedenkens lediglich architektonische Uumlberreste die an die Habsburger erinnern koumlnnen namhaft gemacht werden Wo die habsburgische Memoria tatsaumlchlich betrieben wurde in den Kloumlstern Muri und Koumlnigsfelden hat man den engeren Bereich des Oberrheins bereits verlassen Bemerkenswert ist immerhin der Versuch des Sanblasianer Abts Martin Gerbert in seinem Kloster eine Grablege fuumlr die Habsburger zu schaffen wohl um dem Kloster durch die Anbiederung an die Dynastie die Existenz zu sichern

Johanna THALI stellt die politische Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Ma-nessischen Liederhandschrift und des darin festgehaltenen Minnesangs vor Die beruumlhmte und praumlchtige Sammlung von Minneliedern wurde wohl durch die Zuumlrcher Buumlrgerfamilie Manesse im 14 Jahrhundert angelegt Nachdem der Minnesang im Spaumltmittelalter nicht mehr praktiziert wurde gerieten auch die Lieder in Vergessenheit Erst im 18 Jahrhundert erwachte wieder ein Interesse an bdquoDenkmaumllern altdeutscher Literaturldquo Im Zusammen-hang mit der Gruumlndung des deutschen Nationalstaats im 19 Jahrhundert geriet der Codex Manesse in das Blickfeld der Oumlffentlichkeit und galt als wichtiges Zeugnis deutscher Kultur Im Jahr 1888 konnte er von der franzoumlsischen Nationalbibliothek fuumlr die Univer-sitaumltsbibliothek Heidelberg gekauft werden Der Kauf war eine regelrechte Staatsaktion unter Beteiligung Bismarcks und Groszligherzog Friedrichs Wie praumlsent das Thema im Be-wusstsein der Gesellschaft damals war zeigen die Benennungen von Straszligen und Schulen nach den Minnesaumlngern und als vielleicht prominentestes Beispiel ein Relief an der Straszlig-burger Universitaumltsbibliothek wo Gottfried von Straszligburg die Reihe der deutschen Dich-ter eroumlffnet gefolgt von Lessing Goethe und Schiller

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

In dem Beitrag von Olivier RICHARD geht es um die Dekapolis im Elsass den Bund von meistens zehn elsaumlssischen Reichsstaumldten Das Andenken an diesen Bund ist in den ehemaligen Mitgliedsstaumldten bis heute sehr lebendig und steht damit in einem gewissen Gegensatz zu seiner tatsaumlchlichen historischen Bedeutung Die starke Betonung der Zugehoumlrigkeit zum Reich ist verwunderlich standen doch die Elsaumlsser zeitweilig unter groszligem Druck zu zeigen dass sie voll und ganz Franzosen waren In der Wahrnehmung der Elsaumlsser kam es dazu dass der Bund als Besonderheit und gar als pars pro toto fuumlr das ganze Elsass betrachtet wurde waumlhrend deutsche Historiker die Staumldte eher als gewoumlhnliche Reichsstaumldte wahrnahmen

Weniger um die Instrumentalisierung des Andenkens geht es beim Erinnerungsort Schlettstadt den Birgit STUDT vorstellt Die dortige Humanistenbibliothek ist vielmehr ein Kristallisationspunkt der Erinnerung an den Humanismus am Oberrhein der vielleicht wegen der Lage in einer eher unscheinbaren Stadt im Elsass fernab groumlszligerer Zentren so besonders ist Trotzdem wurde die Schlettstadter Lateinschule zu einer Bildungsinsti-tution im Zeitalter des Humanismus mit einer Ausstrahlung weit uumlber das Oberrheingebiet hinaus

In dem Beitrag von Peter KURMANN uumlber das Straszligburger Muumlnster wird die Thematik des Erinnerungsorts auf zwei Ebenen angesprochen Zum einen bezuumlglich der Verwendung von Spolien in der Kunst So ist das Straszligburger Muumlnster selbst ein Erinnerungsort wurde es doch genau auf dem Grundriss seines spaumltottonischen Vorgaumlngerbaus errichtet der sei-nerseits dem Typus der christlichen Basilika aus dem 4 Jahrhundert nachempfunden war Man bewahrte die alte Form fuumlhrte aber die Bauteile im Stil der eigenen Zeit aus und demonstrierte so gleichzeitig Traditionsverbundenheit und modernes Repraumlsentationsbe-duumlrfnis Die Rezeptionsgeschichte des Muumlnsters in neuerer Zeit ist wie Kurmann anmerkt noch nicht geschrieben Er fuumlhrt aber zum anderen verschiedene Versuche an die Kathe-drale als Symbol fuumlr ein franzoumlsisches bzw deutsches Elsass zu vereinnahmen Zuletzt herrsche die Tendenz vor den europaumlischen Charakter des Muumlnsters zu betonen

Boris Bigott

Heidrun OCHS Gabriel ZEILINGER (Hg) Kaufhaumluser an Mittel- und Oberrhein im Spaumlt-mittelalter (Schriften zur suumldwestdeutschen Landeskunde Bd 80) Ostfildern Thor-becke 2019 VII 176 S Abb geb EUR 28ndash ISBN 978-3-7995-5280-6

In ihrer Einleitung (S 1ndash8) umschreiben die beiden Herausgeber ndash Heidrun OCHS und Gabriel ZEILINGER ndash die Zielsetzung des Tagungsbandes Im Rahmen der Tagung wurden mittelalterliche Kaufhaumluser orts- und themenuumlbergreifend unter neuen Fragestellungen thematisiert Im Fokus stand die Rolle der Kaufhaumluser fuumlr die Kaufleute den staumldtischen Rat und die Buumlrger der Stadt Kaufhaumluser dienten als permanente Orte des Handels sowohl der Foumlrderung als auch der Normierung Als hallenartige meist repraumlsentative Gebaumlude waren sie wichtige Instrumente und Kristallisationsorte kommunaler Wirt-schaftspolitik und entstanden seit dem 12 Jahrhundert Sie boten aber auch den aus- waumlrtigen Kaufleuten Verlaumlsslichkeit bei der Bestimmung der Maszlige und Sicherheit fuumlr die Zwischenlagerung der Waren

Nina GALLION (bdquoVom Breisgau bis zum Bodensee Kaufhaumluser als Zentren von Handel und Profitldquo S 9ndash25) praumlsentiert eine kurze uumlberblicksartige Einfuumlhrung in die Ge-schichte der Kaufhaumluser im Breisgau und am Bodensee Aufgrund des Forschungsstandes stehen die Einrichtungen in Freiburg und Konstanz im Mittelpunkt Uumlberlingen und Meersburg werden hinzugezogen Olivier RICHARD derzeit sicherlich einer der besten

644 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 644

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Kenner des vormodernen kommunalen Lebens im Elsass aumluszligert sich bdquoZur Multifunk-tionalitaumlt der Kaufhaumluser im spaumltmittelalterlichen Elsassldquo (S 27ndash47) Er konstatiert zunaumlchst zwei regionale Einrichtungswellen eine erste in der zweiten Haumllfte des 14 Jahr-hunderts die zweite um die Wende zum 16 Jahrhundert Grundsaumltzlich errichtete man diese kommunalen Bauten an wichtigen Verkehrsachsen oft am Wasser oder zumindest an zentralen Orten innerhalb des staumldtischen Areals Neben der wirtschaftlichen uumlber-nahmen viele Kaufhaumluser auch eine politische Funktion Unabhaumlngig hiervon konstatiert Richard durch diesen spezifischen Bautyp eine Monumentalisierung der wirtschaftlichen staumldtischen Oumlffentlichkeit In diesem Umfeld bewegten sich viele Menschen einer Stadt so dass Kaufhaumluser zur Schnittstelle zwischen Stadtgemeinde Zuumlnften Kaufleuten und Vertretern des Stadtherrn werden konnten

Raoul HIPPCHEN bietet mit seinem Beitrag bdquoDie Kaufhaumluser am Mittelrhein als Orte von Handel und Politikldquo (S 49ndash83) einen anschaulichen Uumlberblick Er sieht Kaufhaumluser als Sonderraum innerhalb der mittelalterlichen Stadt die als Anlagen der Produktion und des Austauschs von Waren beschrieben werden koumlnnen Eine Gruumlndungswelle von Kauf-haumlusern sieht er um 1400 Fuumlr die Mehrzahl dieser Einrichtungen konstatiert auch er eine unmittelbare raumlumliche Naumlhe zu Rathaumlusern stadtherrlichen Gebaumluden Marktplaumltzen Verkaufslaumlden Haumlfen Kranen Zunfthaumlusern aber auch Kirchen Die Gruumlndung der Kaufhaumluser in landesherrlichen Staumldten ging in der Regel auf die Initiative der Herrschaft zuruumlck im Gegensatz zu den freien Staumldten oder Reichsstaumldten wo der Impuls den Buumlr-gern zuzuordnen ist Neben der urspruumlnglichen Funktion als Wirtschafts- und Kontroll-zentrum wurden diese Einrichtungen auch pragmatisch genutzt beispielsweise waren sie als politischer Raum sowie als Einrichtungen mit einer grundsaumltzlichen Multifunktiona-litaumlt vorgesehen

Fuumlr den Wirtschaftsraum der Hansestaumldte erkennt Stephan SELZER das weitgehende Fehlen oumlffentlicher Kaufhaumluser (bdquokophus sellebode nedderlage spiker Bemerkungen zu Institutionen des hansischen Handels und ihrer Erforschungldquo S 85ndash100) Dort findet man Kaufhaumluser allenfalls im System des binnenlaumlndischen Land- und Flusshandels Die deutliche Bevorzugung binnenhansischer Warenstroumlme insbesondere im Rahmen des See-handels machte die Bereitstellung eines oumlffentlichen Kaufhauses grundsaumltzlich obsolet

Kurt WEISSEN zeigt bdquoOrdnungsprinzipien und Stoumlrungenldquo im bdquoAlltag im spaumltmittel- alterlichen Basler Kaufhausldquo (S 101ndash111) Hierzu wertet er die Protokolle Kundschaften und Urteilsbuumlcher des staumldtischen Schultheiszligengerichts sowie die erhalten gebliebenen Aufzeichnungen des Basler Kaufmanns Ulrich Meltinger aus den Jahren 1468 bis 1493 aus So zeigt sich dass Schuldnern vielfach eine Verlaumlngerung der Zahlungsfristen ge-waumlhrt wurde um durch Kompromisse die Existenz des Schuldners nicht komplett zu zer-stoumlren Man stritt um den Verbleib von Waren da die Stadt seit 1405 fuumlr im Kaufhaus verlorene oder beschaumldigte Waren haftete Da kein einziger Fall von Stoumlrung des Kauf-mannsfriedens durch koumlrperliche Gewalt uumlberliefert ist duumlrften sich die Streitigkeiten auf zum Teil lautstarke und heftige Verbalduelle reduziert haben

Julia VON DITFURTH zeigt uns bdquoSpaumltmittelalterliche Kaufhaumluser und ihre Architektur als Mittel zur Repraumlsentationldquo (S 113ndash144) In Bezug auf die topographische Einbindung der Kaufhaumluser ist eine Markt- oder Verkehrslage zu konstatieren In der Regel ist das Gebaumlude mit dem Giebel zum Markt hin orientiert also zum Handels- oder Versamm-lungsplatz oder zu der Seite die Ankommende bereits aus der Ferne sehen konnten Ma-terial und Bautechnik richteten sich logischerweise nach den lokalen Moumlglichkeiten und Gepflogenheiten Eine bauliche Analogie von Fruchtkaumlsten und Kaufhaumlusern beruht auf

645Mittelalter

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Hinsichtlich der Korrespondenten wird deutlich dass die Verbindungen Melanchthons zu den suumlddeutschen Theologen infolge der Zeitumstaumlnde weitgehend abgebrochen waren Einzig nach Nuumlrnberg und Straszligburg hatte Melanchthon noch Kontakte Ein Schreiben Melanchthons an Frecht aus dem Januar 1548 (MBW 5042) kann aus dem Blarer-Briefwechsel erschlossen werden ebenso wie eines aus dem Juni an Schnepf in Tuumlbingen (MBW 5181) Im September (MBW 5284) weiszlig Melanchthon von der Gefan-gennahme Frechts in Ulm durch den Kaiser die Schlimmes befuumlrchten laumlsst Schon im August (MBW 5246) hatte er sich bei Bucer nach dem Verbleib von Brenz und anderen erkundigt die wegen des Interims ihre Stellen verlassen mussten Uumlber die schwierige Lage in Straszligburg den Aufenthalt von Brenz und die Verhaumlltnisse in Wuumlrttemberg konnte ihm Bucer im Januar 1549 berichten (MBW 5403) Der Weggang von Andreas Osiander aus Nuumlrnberg der dann nach Preuszligen ging war Melanchthon bekannt (MBW 5366 5394 5542) Aus Lohr am Main in der Grafschaft Rieneck meldete sich im Februar der stel-lungsuchende Erhard Schnepf der Tuumlbingen hatte verlassen muumlssen und voruumlbergehend in Lohr bei Johann Konrad Ulmer untergekommen war (MBW 5442 f) aber dann in Jena eine Stelle fand (MBW 5598) Melanchthon hatte Schnepf ebenso wie Martin Bucer in Wittenberg erwartet Bucers Stellung in Straszligburg war wegen der Annahme des Interims durch den Magistrat mehr und mehr unhaltbar geworden weshalb er schlieszlig-lich nach England ging (MBW 5460)

Diese Streiflichter auf die Ereignisse in Suumldwestdeutschland koumlnnen nur beispielhaft die Fuumllle des Materials erahnen lassen das in den beiden Baumlnden ausgebreitet und in jedem Band durch Indizes vor allem der Absender und Adressaten erschlossen ist

Hermann Ehmer

Philipp MELANCHTHON Texte 5643ndash5969 (Oktober 1549ndashDezember 1550) bearb von

Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Bd T 20) Stuttgart Frommann-Holzboog 2019 494 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2662-7

Dieser Band enthaumllt 15 Monate des Briefwechsels Melanchthons Nachdem der Lehr-betrieb an der Wittenberger Universitaumlt wieder in Gang gekommen war ging es um die Auseinandersetzung mit Flacius um das wahre Erbe Luthers Melanchthon hat diesen Kampf zum Teil mit bdquooffenen Briefenldquo wie sie von den Herausgebern bezeich- net werden gefuumlhrt Es handelt sich um Aumluszligerungen die vorwiegend im Druck heraus-gingen und somit besondere Anforderungen an die Edition machten Da Autographen fehlen waren jeweils zahlreiche Abschriften und Drucke zu beruumlcksichtigen und zu ver-zeichnen Solche Aumluszligerungen kommen zum Teil auch in Gestalt von Widmungsvorreden einher

Als weiteres theologisches Problem bahnt sich in dieser Zeit der Osiandrische Streit an der durch den Nuumlrnberger Reformator Andreas Osiander der durch das Interim nach Koumlnigsberg in Preuszligen verschlagen worden war entfacht wurde Ebenfalls durch das Interim wurde Erhard Schnepf aus Tuumlbingen vertrieben der schlieszliglich eine ehren- volle Stelle in Jena erhielt Gleichwohl konnte Melanchthon ihm eine Stelle in Rostock anbieten

Im Korrespondentenkreis Melanchthons faumlllt in dieser Zeit Suumlddeutschland fast voll-staumlndig aus Durch das Interim liegen Kirchen und Universitaumlten am Rhein in Schwaben

660 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 660

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

parallelen Funktionen als Warenlager Bei den Bildwerken und Bildprogrammen ist eine gewisse Parallelitaumlt zum Rathaus festzustellen

Joachim SCHNEIDER zeigt bdquoOrte des Handels in der Wahrnehmung der spaumltmittelalter-lichen Zeitgenossenldquo (S 145ndash165) und beginnt mit den Nuumlrnberger Kaufhaumlusern Dort wurden die Waren in mehreren nahe beieinanderliegenden Haumlusern verwahrt Er untersucht wie sich die materielle Wirklichkeit des Bauwerks in den Schriftzeugnissen und Bildquellen niederschlug Insbesondere kommen als relevante Schriftzeugnisse fuumlr diese Fragestellung Stadtchroniken Reiseberichte sowie Staumldtebeschreibungen in Frage

Uwe ISRAEL beschlieszligt den Sammelband mit dem Betrag bdquoKaufhaumluser am Mittel- und Oberrhein ndash ein Fazitldquo (S 166ndash169) Er sieht noch einen erheblichen Forschungsbedarf in Bezug auf Kaufhaumluser im mittelalterlichen Deutschland und hebt die signifikanten Unterschiede zwischen Nord- und Suumlddeutschland hervor Die Notwendigkeit fuumlr eine solche Einrichtung hing davon ab wie der Handel in einer bestimmten Stadt oder Region organisiert war

Der kleine kompakte Band fasst den Stand der Forschung gut zusammen und ist daher auch als erste Einstiegslektuumlre fuumlr alle sich neu mit dem Thema befassenden geeignet Die uumlberblicksartige Grundstruktur der einzelnen Beitraumlge fuumlhrt logischerweise zu eini-gen sich wiederholenden Feststellungen Ein zusammengefasstes Orts- und Personen- register schlieszligen den gelungenen Band ab der hoffentlich weitere detaillierte For- schungen initiieren kann

Juumlrgen Treffeisen

Masaki TAGUCHI Koumlnigliche Gerichtsbarkeit und regionale Konfliktbeilegung im deut-schen Spaumltmittelalter Die Regierungszeit Ludwigs des Bayern (1314ndash1347) (Frei- burger rechtsgeschichtliche Abhandlungen NF Bd 77 Abteilung B Abhandlungen zur deutschen Rechtsgeschichte) Berlin Duncker amp Humblot 2017 439 S Brosch EUR 8990 ISBN 978-3-428-14544-7

Die vorliegende Freiburger Arbeit verdankt ihr Entstehen worauf der Verfasser in sei-nem schon 2014 verfassten Vorwort ausdruumlcklich hinweist einer Anregung von Peter Moraw in Gieszligen Sie bewegt sich wie dies bei der Gerichtsbarkeit des Spaumltmittelalters auch nicht anders sein kann im Grenzgebiet zwischen Verfassungs- und Rechtsge-schichte ist letztlich aber doch der ersteren eher zuzurechnen Ihr grundlegender metho-discher Ansatz liegt darin die streitige Gerichtsbarkeit im heutigen Sinn als eines von mehreren Elementen in der Konfliktbereinigung zu bewerten neben der Krieg (Fehde) Vermittlung und Vergleich vor allem aber auch eine ausgedehnte Buumlndnis- und Land-friedenstaumltigkeit mindestens gleichwertig wenn nicht sogar von staumlrkerer Bedeutung waren Die Arbeit gliedert sich nach einer kurzen Einleitung zur politischen Situation in der Zeit Ludwigs des Bayern und zur Fragestellung in drei regional definierte Sek-tionen die als bdquohistorische Landschaftenldquo oder bdquoRegionenldquo zusammengefasst werden Vom Umfang her dominiert der Mittelrhein mit 190 Seiten gefolgt von bdquoElsass und Ober-rheinldquo sowie Westfalen mit knapp 80 bzw 60 Seiten Die Behandlung gleich dreier Land-schaften zielt offenbar auf einen vergleichenden Aspekt ab doch soll im Folgenden das fuumlr die Leser dieser Zeitschrift weniger relevante Westfalen ausgeblendet bleiben Dafuumlr muss hier sowohl der mittelrheinische wie der oberrheinische Komplex besprochen wer-den weil sich die historischen Verhaumlltnisse im Gebiet des Ober- und Mittelrheins nicht so ohne weiteres trennen lassen

646 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 646

Philipp MELANCHTHON Texte 5011ndash5343 (JanuarndashOktober 1548) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wis-senschaften Bd T 18) Stuttgart Frommann-Holzboog 2018 628 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2660-3

Philipp MELANCHTHON Texte 5344ndash5642 (November 1548ndashSeptember 1549) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Bd T 19) Stuttgart Frommann-Holzboog 2019 621 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2661-0

Die beiden hier vorzustellenden Baumlnde der Textausgabe des MBW decken mit ihren 338 und 306 Nummern lediglich eindreiviertel Jahre ab Schon diese einfache Statistik zeigt die ungeheuren Anforderungen vor die sich Melanchthon in dieser Zeit gestellt sah Neben dem Verlust zweier langjaumlhriger Weggefaumlhrten naumlmlich Caspar Cruciger und Veit Dietrich ging es fuumlr Melanchthon in dieser Zeit zunaumlchst darum den Lehrbetrieb der Wittenberger Universitaumlt nach dem Schmalkaldischen Krieg wieder in Gang zu brin-gen Die Zeugnisse Empfehlungsbriefe und die an ihn gerichteten Anfragen zeigen dass dies gelang und der universitaumlre Alltag wieder eingetreten war

Die Durchsetzung der kaiserlichen Religionspolitik die durch den Sieg Karls V im Schmalkaldischen Krieg moumlglich gemacht war stellte aber neue schwerwiegende und grundsaumltzliche Fragen Konkret ging es um das Augsburger Interim das auf dem Augs-burger Reichstag 1548 erarbeitete und erlassene Religionsgesetz das die Protestanten zum katholischen Kultus zuruumlckfuumlhren sollte Diesem Bemuumlhen lagen selbstverstaumlndlich theologische Festlegungen zugrunde die fuumlr die protestantische Seite die Frage aufwar-fen inwieweit diese angenommen werden konnten Da freilich wo der Kaiser durch den Krieg seine Machtstellung zur Geltung gebracht hatte vor allem in Suumldwestdeutschland und hier vor allem bei den Reichsstaumldten eruumlbrigte sich eine Diskussion hier musste das Interim trotz allen Straumlubens angenommen werden mit entsprechenden Folgen fuumlr die Theologen die sich in Wort und Schrift dagegen zur Wehr setzten

In Norddeutschland und vor allem im Kurfuumlrstentum Sachsen ging es in erster Linie um die Frage der Adiaphora der Mitteldinge um das was in Kultus und Lehre angenommen werden konnte ohne die Kernpunkte der evangelischen Lehre zu gefaumlhr-den Es ist klar dass hier ungeheurer Gespraumlchsbedarf bestand der sich in entsprechen- den Beratungen Anfragen und teils sehr umfangreichen Gutachten aumluszligerte Neben dieser Politikberatung und deren theologischer Fundierung vergaszlig Melanchthon nicht da er nach wie vor im Mittelpunkt des Geschehens stand den Fuumlrsten denen er verpflichtet war wie Georg und Joachim von Anhalt und besonders Koumlnig Christian III von Daumlnemark mit bdquoZeitungenldquo kurzen Nachrichten uumlber das Geschehen zu infor- mieren

Die Dringlichkeit und Schaumlrfe in der die anstehenden Fragen verhandelt wurden und natuumlrlich auch unterschiedliche Antworten hervorbrachten zeigt sich gerade auch in der Uumlberlieferungslage einzelner wichtiger Stuumlcke bei denen sich die Herausgeber teilweise vor eine fast nicht zu bewaumlltigende Mehrfachuumlberlieferung in gleichzeitigen Abschriften und Drucken auch mit abweichendem Wortlaut gestellt sahen Andererseits konnte hier eine nicht unbedeutende Anzahl (fast ein Sechstel) der Stuumlcke erstmals vollstaumlndig wiedergegeben werden

659Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 659

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Melanchthon und der roumlmische Katholizismus (Johanna RAHNER) beleuchtet zunaumlchst das Bild das sich die katholische Theologie von ihm machte und wie man ihn schlieszlig- lich als oumlkumenischen Theologen entdeckte Zum anderen geht es um das Verhaumlltnis Melanchthons zur katholischen Kirche seiner Zeit wobei eine Entwicklung von der Ab-grenzung hin zu einem qualitativen Verstaumlndnis von Katholizitaumlt zu verzeichnen ist

In der dritten Abteilung die dem Werk Melanchthons gilt werden zunaumlchst die Text-gattungen behandelt derer er sich bedient hat Timothy J WENGERT stellt die biblischen Uumlbersetzungen und Kommentare vor waumlhrend Georg Gottfried GERNER-WOLFHARD seine katechetischen Versuche aufzeigt Unter dem Stichwort Literatur gibt Thorsten FUCHS einen Uumlberblick uumlber Melanchthons literarische Produktion die sich in unterschiedlichen Gattungen vom Epigramm bis zur Erzaumlhlung aumluszligerte Andreas GOumlSSNER bespricht Melanchthons rhetorische Praxis in Deklamationen Reden und Postillen

Die Gutachten Melanchthons behandelt Christopher VOIGT-GOY Es handelt sich hier um ein noch wenig erforschtes Gebiet Anders verhaumllt es sich mit den Briefen die von Christine MUNDHENK vorgestellt werden die dabei ihre Erfahrungen mit der Briefausgabe wiedergeben kann

Ein zweiter Abschnitt gilt Melanchthons Theologie wobei Guumlnter FRANK zunaumlchst seine Topik behandelt die auf der Erneuerung der Dialektik durch den Humanismus be-ruht und fuumlr ihn die Grundwissenschaft darstellte Frucht dieses Wissenschaftsverstaumlnd-nisses waren die Loci als System der Theologie (Sven GROSSE) Sodann werden einzelne theologische Loci behandelt naumlmlich Rechtfertigungslehre (Robert KOLB) Schoumlpfungs-lehre (Christian LINK) Christologie (Hendrik Stoumlssel) Theologische Anthropologie (Bo Kristian HOLM) Abendmahlslehre (Johannes EHMANN) Ekklesiologie (Johanna RAHNER) sowie Praumldestination Eschatologie Froumlmmigkeit (Martin H JUNG)

Der dritte Abschnitt behandelt Melanchthons Philosophie wobei zunaumlchst Guumlnter FRANK den Philosophiebegriff dann die praktische Philosophie Melanchthons darstellt Es folgen weitere Themen die zum Teil zum traditionellen System der Artes gehoumlren aber auch solche die daruumlber hinausweisen Besprochen werden Naturphilosophie und Anthropologie (Sandra BIHLMAIER) Jurisprudenz (Christoph STROHM) Medizin (Juumlrgen HELM) Dialektik (Hanns-Peter NEUMANN) Rhetorik (William P WEAVER) Grammatik (Boris DJUBO) Mathematik (Ulrich REICH) Geschichte (Martin SCHNEIDER) und Antike Literatur (Thorsten Fuchs)

Die dritte Abteilung des Handbuchs wendet sich Melanchthons Wirkung und Rezep-tion zu die zunaumlchst Walter SPARN fuumlr die Zeit und das Gebiet des Alten Reichs unter-schieden nach Philosophie und Theologie darbietet Es folgen Skandinavien (Tarald RASMUSSEN) England (Charlotte METHUEN) Niederlande (Herman J SELDERHUIS) Frankreich (Nicola STRICKER) Spanien (Mariano DELGADO) Italien (Lothar VOGEL) Schweiz (Karin MAAG) Ungarn und Suumldosteuropa (Andreas MUumlLLER) und Polen-Litauen (Kestudis DAUGIRDAS) Zum Schluss wuumlrdigt Guumlnter Frank Melanchthon als bdquogroumlszligte oumlku-menische Gestalt der Reformationszeitldquo

Den Abschluss des Bandes bilden ein Gesamt-Literaturverzeichnis ein Personen- und Sachregister und das Autorenverzeichnis Die einzelnen Beitraumlge die im Rahmen dieser Besprechung vielfach nur benannt werden konnten behandeln ihre Themen kurz und dicht wie es einem Handbuch ansteht benennen jeweils die einschlaumlgigen Quellen und die Literatur zeigen die Forschungsdesiderate auf und bieten damit eine solide Grundlage fuumlr die weitere Erforschung von Person und Werk Melanchthons

Hermann Ehmer

658 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 658

Eines der Kernprobleme dieser aber nicht nur dieser Arbeit ist das Aufsuchen bzw die Bildung raumlumlicher Grenzen fuumlr die historische Forschung Beim modernen Staat mit seinen klaren Staatsgrenzen ist das einfach und auch die Fruumlhe Neuzeit bietet fuumlr die Er-forschung uumlberterritorialer d h kaiserlicher oder koumlniglicher Jurisdiktion wenigstens in Gestalt der Reichs- und Ritterkreise einen in der Reichsverfassung angelegten und geo-graphisch (Oberrhein Mittelrhein Elsass) oder stammesmaumlszligig (Franken Schwaben) halbwegs fassbaren Rahmen Dieser wurde jedoch erst in der Reichsreform des spaumlten 15 und 16 Jahrhunderts geschaffen fuumlr das Spaumltmittelalter fehlt er bzw bildet sich erst in Ansaumltzen (Staumldtebuumlnde Adelsvereine) heraus Solche Ansaumltze soweit sie erkennbar sind bezeichnet der Verfasser als bdquoStrukturenldquo ein rechtlich unbestimmter und eher politischer Begriff Um diese Strukturen in eine greifbarere Form zu bringen sucht Taguchi nach den bdquoVormaumlchtenldquo am Mittelrhein natuumlrlich vor allem die Kurfuumlrsten So stellt er eingehend die bdquorege Buumlndnis- und Landfriedenspolitikldquo des Erzbischofs Balduin von Trier eines Luxemburgers dar der sich im Mainzer Schisma aber nicht gegen den von Kurkoumlln und der Kurie unterstuumltzten Heinrich von Virneburg durchsetzen konnte

Im Anschluss daran schildert der Autor die Rolle der koumlniglichen Gerichtsbarkeit in mittelrheinischen Konflikten Er kann hier seit 1330 nach der Ruumlckkehr aus Italien eine aktive Friedenstaumltigkeit des Wittelsbachers im Buumlndnis mit den Luxemburgern (Johann von Boumlhmen Balduin von Trier) feststellen Beispiele dafuumlr sind die Streitigkeiten zwi-schen Mainz und der Pfalz uumlber Weinheim und Zwingenberg bzw generell uumlber die Be-sitzungen in Gemengelage an der Bergstraszlige und im Odenwald Sehr eindrucksvoll und genau stellt der Verfasser dar wie diese Auseinandersetzungen zunaumlchst an Schiedsge-richte gelangen deren Spruumlche aber nicht selten in einem Patt enden bzw gegen derartig maumlchtige Parteien nicht durchgesetzt werden koumlnnen so dass es letztlich doch zu einer Anrufung der koumlniglichen Gerichtsbarkeit kommt die dann sowohl streitentscheidend wie auch vermittelnd taumltig wird Kaiser und Hofgericht bevorzugten dabei wie es der Autor treffend charakterisiert in diesen letztlich politischen Faumlllen eine bdquoLoumlsung vor Ortldquo

Mit Weinheim und Zwingenberg sind Plaumltze angesprochen die man aus baden-wuumlrt-tembergischer Sicht schon zum Oberrhein bzw Odenwald zaumlhlt und die der Autor ledig-lich wegen der Beteiligung von Kurmainz und Kurpfalz in den Abschnitt uumlber den Mittelrhein aufgenommen hat Im Folgenden soll auf die im Abschnitt bdquoElsass und Ober-rheinldquo behandelten Materien eingegangen werden Geographisch begrenzt Taguchi diesen Raum auf die Laumlnder am Rheinstrom zwischen Basel im Suumlden und Weiszligenburg bzw Speyer im Norden d h linksrheinisch die heutigen Departements Bas-Rhin und Haut-Rhin bzw die zu Rheinland-Pfalz gehoumlrende Vorderpfalz rechtsrheinisch Baden Letz-teres das sei vorab gesagt kommt dabei etwas kurz weg So werden die Markgrafen noch nicht einmal unter die bdquoherrschendenldquo Kraumlfte der Region aufgenommen Es ist wohl der historischen Freiburger Optik geschuldet wenn dazu in erster Linie die Habsburger sowie der Bischof und die Stadt Straszligburg gezaumlhlt werden Der Autor legt dies auch ganz offen dar indem er darauf verweist dass er in diesem Abschnitt quellenbedingt nicht bdquoflaumlchendeckendldquo untersucht sondern lediglich bdquoeinigeldquo politische Kraumlfte herausgreift

Da Ludwig erst nach 1330 in dieser Region eingreifen konnte werden zunaumlchst die Aktivitaumlten Friedrichs von Oumlsterreich und seines Bruders Herzog Leopold bezuumlglich der Streitbeilegung vorgestellt Es handelt sich dabei um ein buntes Spektrum von Strei-tigkeiten an denen namentlich die Grafen von Fuumlrstenberg Pfirt (Ferrette) und Moumlm-pelgard (Montbeacuteliard) Staumldte Kloumlster und der Adel immer wieder aber auch die Habsburger selbst beteiligt waren Diese Faumllle werden uumlberblicksartig behandelt ein-

647Mittelalter

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 647

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

schlieszligt sich ein Uumlberblick uumlber die Melanchthon-Forschung am Beginn des 21 Jahr-hunderts an der fruumlher erschienene Berichte auf den neuesten Stand bringt

In dem Beitrag uumlber die Person Melanchthons gibt zunaumlchst Christine MUNDHENK die Heinz Scheible in der Leitung der Melanchthon-Forschungsstelle und als Heraus- geberin des Briefwechsels abgeloumlst hat einen dichten Uumlberblick uumlber Melanchthons Leben Martin GRESCHAT behandelt Melanchthons Verhaumlltnis zu Luther das grundlegend fuumlr beider Leben und Wirken und die Reformation insgesamt gewesen ist Natuumlrlich kommt auch das Verhaumlltnis zu anderen Reformatoren naumlmlich Calvin Zwingli Bullinger Bucer Bugenhagen und Flacius ins Blickfeld (Andreas MUumlHLING) das in erster Linie durch den dichten Briefwechsel Melanchthons vermittelt wurde Maria Lucia WEIGEL stellt Melanchthon-Bildnisse vor die ihn als Humanisten und Reformator zeigen wobei nicht nur Werke der graphischen Kuumlnste sondern auch Muumlnzen und Denkmaumller ins Blick-feld kommen Dieser Beitrag ragt somit auch in den Abschnitt uumlber Wirkung und Rezep-tion hinein

Die folgenden Beitraumlge stellen die verschiedenen Wirkungsfelder Melanchthons dar beginnend mit Reichspolitik und Religionsgespraumlchen (Andreas GOumlSSNER) Hier werden Melanchthons Dialogbereitschaft und seine Bemuumlhungen um Friedenssicherung als seine Handlungsmaximen herausgestellt die ihm freilich schon zu Lebzeiten als Bereitschaft zu faulen Kompromissen ausgelegt wurden Melanchthons Stellung in den inner- protestantischen Streitigkeiten kennzeichnet Robert KOLB Als Grundproblem stellt sich hier die Theologie des Abendmahls dar Das Interim bewirkte dann dass die Gnesiolu-theraner allen voran Matthias Flacius als die vermeintlich wahren Erben Luthers gegen Melanchthon zu Felde zogen und ihm zunehmend seine letzten Lebensjahre bitter werden lieszligen Zuruumlck zu den Anfaumlngen lenkt der Beitrag von Natalie KRENTZ uumlber Kirchen- reform und -visitation Es handelt sich hier vor allem um Melanchthons Beteiligung an den ersten Reformen in Wittenberg 152122 und an den Visitationen in Thuumlringen 1527 deren Nachbereitung seinen Unterricht der Visitatoren hervorbrachte der dann vielerorts als Referenzwerk fuumlr Kirchenreformen diente

Bildung Schule und Universitaumlt (Markus WRIEDT) kann man als ureigenstes Gebiet des Praeceptor Germaniae bezeichnen Kirche und Schule gehoumlren zusammen sind fuumlr ihn deckungsgleich wobei jede Schulart auch die Universitaumlt gemeint ist

Ein weiteres zentrales Feld der Wirksamkeit Melanchthons ist die Bekenntnisbildung (Hendrik STOumlSSEL) Werden ihm doch das Augsburger Bekenntnis und die Apologie ver-dankt ebenso wie die Confessio Saxonica von 1552 und vor allem seine Loci die in seinem Sterbejahr 1560 zusammen als Corpus Doctrinae erschienen und viel spaumlter zum Konkordienbuch von 1580 hinfuumlhrten

In dem Beitrag uumlber Reformiertentum (Matthias FREUDENBERG) geht es nicht nur um die enge Verbindung die Melanchthon mit Calvin pflog sondern vor allem um seine Rezeption bei den Reformierten von Schleiermacher bis Karl Barth und der Leuenberger Konkordie von 1973 Es wird also auch hier ein Beitrag zur Rezeptions- geschichte geboten

Zuruumlck zur Reformationsgeschichte fuumlhrt wieder Eike WOLGAST mit Melanchthon und die TaumluferSpiritualisten Er sah die Taumlufer als Stoumlrer der oumlffentlichen Ordnung die somit durch die weltliche Gewalt ndash auch mit dem Tod ndash zu bestrafen sind Auch den Tuumlrken (Michael PLATHOW) steht Melanchthon unversoumlhnlich gegenuumlber wenn er auch die Auf-rechterhaltung oumlffentlicher Ordnung in ihrem Bereich anerkennen kann Entscheidend ist fuumlr ihn hier wieder die rechte Gottesverehrung

657Fruumlhe Neuzeit

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gehender die Auseinandersetzungen der Herren von Rappoltstein die zwischen den Habs-burgern und Wittelsbachern lavierten Am ausfuumlhrlichsten referiert werden die Konflikte der Stadt Straszligburg mit dem umliegenden Adel

Nach dem Ende des Thronstreits verstaumlrkte Ludwig zwar seine Aktivitaumlten in diesem Raum doch zeigt sich ein deutlicher Unterschied zum Mittelrhein insofern als die Par-teien im Elsass bei ihren Streitigkeiten auch nach 1330 den Koumlnigshof weniger in An-spruch nahmen was namentlich fuumlr den Adel galt Der Autor fuumlhrt dies darauf zuruumlck dass die Bischoumlfe von Straszligburg in jener Zeit dem Bayern bdquokaum jemalsldquo nahestanden und treue Anhaumlnger der Habsburger und des Papstes blieben Anders verhielt es sich man moumlchte fast sagen bdquonatuumlrlichldquo fuumlr die Koumlnigsstaumldte die koumlnigsunmittelbaren Kloumlster und ein interessanter Nebenaspekt die Juden Die elsaumlssischen Staumldte hatten sich nach Ludwigs Sieg sehr schnell auf ihren bdquoneuenldquo Stadtherren eingestellt der dann auch als-bald in mehreren innerstaumldtischen Auseinandersetzungen eingriff so in Hagenau Colmar Oberehnheim und Muumlhlhausen Dabei stellte sich als Schema fuumlr die Konfliktbereinigung heraus dass sich der Kaiser auf die Seite einer Streitpartei stellte und der anderen die Versoumlhnung befahl Kam es nicht dazu wurde durch die kaiserlichen Landvoumlgte oder Gesandtschaften Druck auf die jeweiligen Staumldte ausgeuumlbt

Es finden sich auch wieder die schon am Mittelrhein festgestellten vom Kaiser ange-ordneten Schiedsgerichte etwa im Streit zwischen Stadt und Kloster Weiszligenburg die der Autor als bdquoMischungldquo aus koumlniglicher Gerichtsbarkeit und Schiedsgericht bezeichnet In diesem Zusammenhang wird nun auch einmal ein rechtsrheinischer Fall behandelt in Gestalt der Auseinandersetzung der Stadt Offenburg mit dem Kloster Gengenbach Wei-tere Betreffe aus Baden sind die Vogteistreitigkeiten um die Kloumlster Odenheim und Herrenalb Taguchi schildert die Auseinandersetzung Odenheims mit den Hofwart von Kirchheim Nicht erwaumlhnt wird dass dieses spaumltere Stift durch Ludwig wenig spaumlter pfandweise an den Bischof von Speyer eine wichtige Kraft im oberrheinischen Bereich kam und dort verblieb Ebenfalls durch Ludwig gelangte die Zisterze Herrenalb an Wuumlrt-temberg dem 1344 der Klosterschutz uumlbertragen wurde Der Verfasser widmet dem Streit zwischen Baden dem Kaiser und Wuumlrttemberg uumlber Schirm und Vogtei bzw das herren-albische spaumlter badische Malsch einigen Raum Hinzuweisen ist auch auf die kurzen aber wichtigen Bemerkungen zur Rolle des Kaisers in Streitigkeiten der Juden auch sie wie die Staumldte und Kloumlster ein bdquoElement der unmittelbaren Koumlnigsherrschaftldquo Eigenartig erscheint die Ausuumlbung des Koumlnigsschutzes in Gestalt des Erlasses von Judenschulden und das Wegschenken von Strafgeldern fuumlr Judenmorde als Verguumlnstigung an Staumldte und Adel darunter auch die Grafen von Wuumlrttemberg Dieses auch andernorts im Reich zu beobachtende Gebaren ist letztlich nicht als Schutz sondern als Auspluumlnderung der Juden zu bewerten

Dass wichtige Staumlnde wie etwa die Bischoumlfe bzw Staumldte von Worms und Speyer nicht mit eingeflossen sind auch Baden und die Pfalz etwas zu kurz kommen ist bedauerlich Dessen ungeachtet stellt Taguchis Arbeit einen wichtigen methodisch aktuellen fleiszligig und sauber gearbeiteten Beitrag zur Geschichte der rheinischen Koumlnigs- und Landfrie-denspolitik im Spaumltmittelalter dar Fuumlr die koumlnigliche Gerichtsbarkeit insgesamt kann sie daruumlber hinaus auch als Ersatz und Ergaumlnzung fuumlr die noch fehlenden Urkundenregesten des deutschen Koumlnigs- und Hofgerichts dienen da diese Reihe vorerst und bis auf wei-teres mit Ute Roumldels Edition betreffend die Regierung Ruprechts von der Pfalz (vgl Re-zension in ZGO 167 [2019] S 453ndash455) abgeschlossen wurde und eine Fortsetzung fuumlr die Zeit Ludwigs vorerst nicht abzusehen ist Raimund J Weber

648 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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nicht um ihrer selbst willen sondern eher als notwendige Uumlbel aufgesuchtldquo (S 276) Die fokussierten Details spiegeln den neuesten Stand der Forschung allenfalls Johannes Reuchlins Briefwechsel sollte man heute wohl nicht mehr nach Geigers Ausgabe von 1875 (vgl S 87ndash90) sondern nach der vierbaumlndigen Edition der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zitieren (1999ndash2013)

Vielleicht angeregt durch Frobens differenzierte Vermarktung des bdquoNovum Instrumen-tumldquo wird der besprochene Sammelband seit 2017 auch in einer unveraumlnderten Studien-ausgabe angeboten (ISBN 978-3-16-155274-8) Zur Vertiefung waumlrmstens empfohlen sei dem interessierten Leser noch der aumluszligerst klug angelegte und beeindruckend illustrierte Begleitband zu einer 2016 im Basler Muumlnster gezeigten Ausstellung der von Ueli DILL und Petra SCHIERL herausgegeben wurde bdquoDas bessere Bild Christildquo Das Neue Testa-ment in der Ausgabe des Erasmus von Rotterdam (Basel Schwabe 2016 220 S ISBN 978-3-7965-3557-4) Mit Artikeln u a von Patrick Andrist Christine Christ-von Wedel Jan Krans Valentina Sebastiani Miekske van Poll-van de Lisdonk und Martin Wallraff kommen erneut viele der Autoren zu Wort die bereits in dem fast gleichzeitig erschie-nenen Tagungsband praumlsent sind

Matthias DallrsquoAsta

Guumlnter FRANK (Hg) unter Mitarbeit von Axel LANGE Philipp Melanchthon Der Refor-mator zwischen Glauben und Wissen Ein Handbuch BerlinBoston De Gruyter 2017 XV 843 S geb EUR 14995 ISBN 978-3-11-033505-7

Nach den Handbuumlchern uumlber Augustin Luther Calvin und anderen reiht sich hier das Melanchthon-Handbuch ein herausgegeben von dem langjaumlhrigen Leiter des Brettener Melanchthon-Hauses das sich in seiner Amtszeit zur Europaumlischen Melanchthon-Aka-demie ausgebildet hat Aufgabe eines solchen Handbuchs ist es den Stand der Forschung moumlglichst umfassend wiederzugeben Dies geschieht hier in einer internationalen Zu-sammenarbeit von mehr als drei Dutzend Wissenschaftlern Stand der Wissenschaft heiszligt natuumlrlich auch dass Desiderate benannt werden Dies tut der Herausgeber bereits in sei-nem Vorwort indem er die Themen bdquoMelanchthon und das Judentumldquo und bdquoMelanchthon als Predigerldquo als kuumlnftig zu bestellende Felder angibt

Grundlegend fuumlr den Stand der Forschung ist dass eine moderne Edition der Werke Melanchthons fehlt die die 1834ndash1860 erschienenen 28 Melanchthon-Baumlnde des Corpus Reformatorum ersetzen wuumlrde Abgesehen von den Ausgaben einzelner Werke liegt aber doch die von Robert Stupperich 1951ndash1975 herausgegebene neunbaumlndige Studienausgabe vor und im Jubilaumlumsjahr 1997 wurde die Ausgabe Melanchthon deutsch begonnen die inzwischen fuumlnf Baumlnde umfasst Ganz besonders ist aber zu verweisen auf den fast 10000 Stuumlcke umfassende Briefwechsel Melanchthons in der von Heinz Scheible ein Arbeits- leben lang betriebenen Edition die ab 1977 in Regestenform erschienen und inzwischen abgeschlossen ist Die Baumlnde der Textedition bearbeitet von der Melanchthon-For-schungsstelle in Heidelberg erscheinen zuumlgig seit 1991 (vgl die Besprechung in diesem Band)

Das Handbuch ist in vier Abschnitte gegliedert Orientierung Person Werk Wirkung und Rezeption Die Orientierung gibt Guumlnter Frank indem er knapp uumlber Person und Wirken Melanchthons die vorliegenden Melanchthon-Ausgaben unter denen auch eine Melanchthon-DVD zu erwaumlhnen ist und die vorhandenen Hilfsmittel wie Literatur For-schungsreihen und die Einrichtungen der Melanchthon-Forschung informiert Dem

656 Buchbesprechungen

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Gero SCHREIER Ritterhelden Rittertum Autonomie und Fuumlrstendienst in niederadligen Lebenszeugnissen des 14 bis 16 Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen Bd 58) Ost-fildern Thorbecke 2019 393 S geb 52ndash EUR ISBN 978-3-7995-4381-1

Die anzuzeigende Arbeit basiert auf einer im Jahr 2016 an der Albrecht-Ludwigs- Universitaumlt Freiburg im Breisgau eingereichten Dissertation Sie baut auf die juumlngsten Forschungen zum Niederadel auf welche die Vorstellung vom Bedeutungsverlust und Niedergang des Niederadels als Folge der Territorialisierung und des Aufstiegs der Fuumlrsten zu Territorialherren im Verlauf des spaumlten Mittelalters relativieren ja teil- weise sogar negieren Waumlhrend besagte Studien in erster Linie sozialgeschichtlich angelegt sind hat sich Gero Schreier nicht alleine dieser einen Herangehensweise bedient sondern hat sich dem Thema ebenso auf dem Weg der Diskursgeschichte genaumlhert wobei letzterer Pfad den hauptsaumlchlich beschrittenen darstellt Der Untersuchungsgegenstand umfasst freilich auch nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Ritteradel naumlmlich den niederadligen Ritterhelden Was macht ihn aus Welche Zuschreibungen erfaumlhrt er Welchem Kontext entstammt der Topos In einem zweiten Schritt schlieszligt sich die Frage an wer wo fuumlr wen Ritterhelden konstruierte Beantwortet werden diese Fragen in erster Linie anhand historiografischer Quellen Zeitlich vom 14 bis zum 16 Jahrhunderreichend umspannt der Untersuchungsraum Frankreich und das Heilige Roumlmische Reich indem Bertrand du Guesclin Jacques de Lalaing Georg von Ehingen Wilwolt von Schaumberg Pierre de Bayard und Georg von Frundsberg in den Blick genommen werden

Es ist sicherlich kein Zufall dass der hier behandelte Diskurs uumlber das Rittertum in der Mitte des 14 Jahrhunderts in Frankreich einsetzte Nach der katastrophalen Nieder-lage eines franzoumlsischen Ritterheers bei Creacutecy (1346) verband Geoffroy de Charny in seinem Livre de chevalerielsquo sein Leitthema der militaumlrischen Tuumlchtigkeit mit der Forderung nach einer stetigen Steigerung derselben Auch bei anderen zeitgenoumlssischen Autoren finden sich neben der Ehre diese Elemente als idealer Antrieb ritterlichen ago-nalen Handelns wieder Wesentlich staumlrker gesellschaftskritisch aufgeladen waren die Toumlne der Reformautoren die in ihrem Ruf nach einer Reform der Ritterschaft diese bdquoent-lang der Leitlinien von Effizienz Disziplin und Rationalitaumltldquo (S 97) erneuert wissen wollten Zugleich wird deren Bemuumlhen erkennbar den ritterlichen Kriegsdienst aus der abgeschlossenen adligen Welt herauszuholen und dem Gemeinwohl zu unterstellen Da der Fuumlrst von den Reformautoren als Sachwalter des Gemeinwohls angesehen wurde musste aus dieser Konstruktion die Forderung nach dem Fuumlrstendienst des Ritters resul-tieren Auch bei einschlaumlgigen Autoren deutscher Zunge findet sich der Dienst des Helden fuumlr das allgemeine Wohl Jedoch zielten die Reformschriften im Reich weniger auf den Ritter ab als vielmehr auf die Reichsreform Auch wenn die Idee des Gemeinwohls hier keine entscheidende Rolle spielte war sie doch virulent besonders betont beim so genannten Oberrheinischen Revolutionaumlrlsquo

Was in der gelehrten Literatur verhandelt wurde findet sich auch in den Biografien der Ritterhelden wieder freilich verbunden mit den Tugenden die bereits zuvor den Rit-terhelden ausgemacht hatten wie koumlrperlicher Einsatz militaumlrische Faumlhig- und Tuumlchtig-keit sowie der Ehrerwerb im Kampf Die neu dazugekommene militaumlrische Effizienz zumal im Fuumlrstendienst geleistet stand in der aumllteren Forschung kontraumlr zum ritterlichen Ethos wie es aus den hochmittelalterlichen Heldenepen uumlberliefert ist und lieszlig sich nach dieser Diktion kaum mit der veraumlnderten auf Funktionalitaumlt ausgerichteten Militaumlrtechnik in Einklang bringen Schreier hingegen kann aufzeigen dass sich zumindest fuumlr die Zeit-genossen daraus kein Widerspruch ergab der niederadlige Held durchaus effizient und

649Mittelalter

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Ignacio GARCIacuteA PINILLA (S 59ndash77) nimmt sodann die Complutensische Polyglotte in den Blick deren bereits 1514 gedruckter aber erst 152122 erschienener fuumlnfter Band mit dem Neuen Tes-tament neben der Vulgata ebenfalls schon den griechischen Text enthielt Dass Erasmus die spanische Konkurrenzedition bei der Vorbereitung seiner vierten Aus-gabe des Neuen Testaments (1527) herangezogen hat ist gut dokumentiert Angesichts zahlreicher neuer Lesarten der dritten Ausgabe von 1522 die auch schon mit dem Text der Polyglotte uumlbereinstimmen (vgl besonders die Uumlbersicht zum Johannes-Evanglium auf S 76) haumllt Garciacutea Pinilla es fuumlr moumlglich dass Erasmus deren Text bereits 1521 zu-mindest in Auszuumlgen kannte die gelegentlich behauptete wechselseitige fruumlhere Beein-flussung dieser parallelen Ausgaben aus Basel und Alcalaacute verbannt er dagegen ins Reich der Spekulation

Teil 2 Patrick ANDRIST (S 81ndash124) und Andrew J BROWN (S 125ndash144) widmen sich zunaumlchst mit groszliger Sorgfalt den acht griechischen Bibelhandschriften die Erasmus in Basel nachweislich benutzt hat waumlhrend Martin WALLRAFF (S 145ndash173) und Jan KRANS (S 187ndash206) die zahlreichen Paratexte beleuchten die Erasmusrsquo bdquoNovum Testamentumldquo (so der Titel ab der zweiten Ausgabe von 1519) beigegeben waren von der Forschung jedoch lange Zeit eher vernachlaumlssigt wurden Miekske VAN POLL-VAN DE LISDONK (S 175ndash186) ordnet die bdquoAnnotationesldquo welche die Keimzelle und mit rund 450 Seiten zugleich das Kernstuumlck der Basler Ausgabe von 1516 bilden in Erasmusrsquo uumlbrige Schriften zur Bibel ein und weist auf die neue kritische Edition der bdquoAnnotationesldquo (ASD) hin die 2003ndash2014 in sechs Baumlnden erschienen ist Am Ende des zweiten Teils stellt Silvana SEIDEL MENCHI (S 207ndash221) Johannes Frobens fuumlnf bdquohigh-profile editionsldquo des Neuen Testaments (1516 1519 1522 1527 und 1535) den bdquolow-profile editionsldquo Frobens (1522) und anderer Basler Drucker (Cratander 1520 Gengenbach 1522) gegenuumlber analysiert deren zum Teil ganz unterschiedliche Paratexte und nimmt damit schon die Rezeption dieser Drucke in den Blick Was 1516ndash1522 durchaus auch bdquoeinfache Leserldquo ansprechen sollte endete schlieszliglich als ein Buch fuumlr Spezialisten bdquothe New Testament had been domesticatedldquo (S 221)

Teil 3 Komplementaumlr zu Seidel Menchis Beitrag dokumentiert Valentina SEBASTIANI (S 225ndash237) zu Beginn des dritten Teils detailliert den Markterfolg von Frobens diversen Ausgaben waumlhrend Marie BARRAL-BARON (S 239ndash254) in Anknuumlpfung an die umfang-reiche franzoumlsischsprachige Erasmus-Forschung nochmals vertiefend dem innovativ-sub-versiven Potenzial der Erstausgabe von 1516 nachgeht Obwohl Erasmus mit seinem bdquoNovum Instrumentumldquo die Ruumlckkehr in ein Goldenes Zeitalter befoumlrdern wollte habe er gemaumlszlig Barral-Baron im Gegenteil unabsichtlich dem Zerbrechen der Kircheneinheit vorgearbeitet und sei so zum bdquoassassin of his own dreamsldquo (S 254) geworden Am Ende des Bandes beleuchten Greta KROEKER (S 255ndash265) Sundar HENNY (S 267ndash290) und Christine CHRIST-VON WEDEL (S 291ndash310) die Rezeption des Buches in Italien (bes durch Gasparo Contarini und Jacopo Sadoleto) Frankreich (vor allem Theacuteodore de Begraveze) und den deutschsprachigen Territorien (von den Reformatoren bis zu Jakob Wettstein und Salomo Semler im 18 Jh)

Die durchweg anregenden und innovativen Beitraumlge sind nicht selten erfrischend zu-gespitzt so heiszligt es etwa im Zusammenhang mit dem von Erasmus eher vernachlaumlssigten Hebraumlischen (und Aramaumlischen) bdquoDer Hieronymus des Erasmus wandte sich den semi-tischen Sprachen als seiner Wuumlste zu in der er durch die griechische Quelle des Neuen Testaments und durch klassische Literatur in ebensolcher Sprache erfreut und am Leben erhalten wurde Syrien und seine Sprachen stehen im Kontext der Askese und werden

655Fruumlhe Neuzeit

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funktional fuumlr einen Fuumlrsten das Kriegshandwerk verrichten konnte und sehr wohl bei dieser Taumltigkeit auch Ehren anhaumlufen konnte Dabei wird das Verhaumlltnis zwischen dem niederadligen Heros und dem Fuumlrsten keinesfalls als problemlos geschildert Immer wie-der wird die agonale Staumlrke des niederadligen Ritterhelden in Kontrast zur scheinbaren Schwaumlche des Fuumlrsten gestellt Begleitet wird diese ambitionierte Vorstellung des Rit-terhelden von einem dezidierten Anspruch auf Autonomie Seine ihm zugeschriebene Legitimation freilich naumlhrt sich weniger von den Idealen der Reformautoren als schlicht von dem traditionellen Kriterium der Abstammung

Wer nun die Ritterhelden in welcher Form inszenierte und fuumlr sich in Anspruch nahm wird an drei Beispielen deutlich gemacht Das erste Exempel bietet der 1380 als koumlnig-licher Konnetabel auf einem Feldzug verstorbene Bertrand du Guesclin Die Stadt Le Puy-en-Velay Adlige der Region oder auch die Fuumlrsten von koumlniglichem Blut instru-mentalisierten die Erinnerung an Bertrand fuumlr ihre eigenen Zwecke und selbst von koumlniglicher Seite wurde noch neun Jahre spaumlter eine opulente Begaumlngnisfeier inszeniert In diesem Zusammenhang kann Schreier herausarbeiten dass es hier nicht nur darum ging das Koumlnigtum und das Amt des Konnetabels zu repraumlsentieren vielmehr wurde die Feier auch vom houmlfischen Adel gefordert und mitgeplant Bertrand als Diener des Koumlnigs und Ritterheld konstruiert Der Ruhm des Jacques de Lalaing hingegen wurde bereits zu Lebzeiten von der burgundischen Herzogsfamilie fuumlr die eigenen Ziele in Anspruch genommen Zum Zeitpunkt seines Ablebens hatte sich die Herrschaftssymbolik des burgundischen Herzogs aber bereits so weit veraumlndert dass kein Beduumlrfnis nach einer staatstragenden Heldeninszenierung bestand und die Verehrung von familiaumlrer Seite vorangetrieben wurde Entscheidend fuumlr die Erinnerung an Georg von Frundsberg war dessen Biograf Adam Reiszligner Gefoumlrdert wurde dieser in erster Linie von Mitgliedern des reichsfreien Adels deren Blick dem Kaiser und weniger den Fuumlrsten galt Dement-sprechend entfaltet sich in seinem Werk ein Diskurs um Ehre die im Kampf fuumlr den Kaiser erworben wird In Auseinandersetzung mit italienischen Geschichtsschreibern ge-rinnt die Geschichte der Schlachten in Oberitalien zum patriotisch-nationalen Diskurs in welchem es Reiszligner um die Ehre deutscher Adliger und die Revindikation derselben gelegen ist

Auf der Suche nach einem Ende des 14 Jahrhunderts auftauchenden neuen Ritterhel-den ist Gero Schreier fuumlndig geworden Freilich haumltten nach Meinung des Rezensenten die Biografien der Helden etwas ausfuumlhrlicher ausfallen im Gegenzug insbesondere die einleitenden Kapitel noch etwas gestrafft werden koumlnnen Doch das sind Monita die dem positiven Bild der Studie keinen Abbruch tun sollen

Thorsten Huthwelker

Michael BUumlHLER Existenz Freiheit und Rang Handlungsmuster des Ortenauer Nieder-adels am Ende des Mittelalters (Veroumlffentlichungen der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Reihe B Bd 222) Stuttgart Kohlhammer 2019 XXVI 344 S Abb geb EUR 32ndash ISBN 978-3-17-035360-2

Michael Buumlhler behandelt in seiner Freiburger Dissertation eine bislang nur durch wenige aumlltere Arbeiten untersuchte spaumltmittelalterliche Adelsregion im deutschen Suumld-westen Die Ortenau bot in typischer Weise nach dem Ausfall der staufischen Dynastie waumlhrend des Spaumltmittelalters Raum fuumlr die Ausbreitung herrschaftlicher Ambitionen ver-schiedener Grafen- und Fuumlrstengeschlechter am Oberrhein Deren Konkurrenzen nutzten die in der Regel aus der Ministerialitaumlt hervorgegangenen Familien und Clans des regio-

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nalen Niederadels als Chance sich um 1500 der drohenden Mediatisierung zu entziehen und sich 1542 durch die Anlagerung an den entstehenden Kanton Neckar-Schwarzwald der Reichsritterschaft verfassungsrechtlich von den umgebenden Fuumlrstenhoumlfen abzu-schnuumlren Angesichts der defizitaumlren Forschungssituation ist dieser Versuch eines Uumlber-blicks uumlber die bis zu 19 Niederadelsfamilien der Ortenau lohnenswert Irritiert kann man zunaumlchst nur uumlber die gewaumlhlte Methodik sein die auf dem bisher weder sozialwissen-schaftlich noch sozialgeschichtlich einschlaumlgig vorgepraumlgten und erprobten Term bdquoHand-lungsmusterldquo basiert und von einem recht eigenwilligen Verstaumlndnis von Netzwerktheorie und Kommunikationsgeschichte gepraumlgt ist In seiner Zusammenfassung hebt Buumlhler hervor bdquodass der Untersuchung ein individuelles Verstaumlndnis und eine individuelle Definition von kommunikativen Prozessen zugrunde liegen die wiederum nicht der Auf-fassung anderer Forscher entsprechen muumlssenldquo (S 298) Das ist in der Tat so Ganz unabhaumlngig davon gelingt es Buumlhler der trotz seiner Ankuumlndigungen weitgehend nach dem Herkoumlmmlichen historisch-kritischer Methode arbeitet die unterschiedlichen Lebensformen der Ortenauer Niederadelsfamilien zu erkunden ihre Gemeinsamkeiten in Form von Einungen zu eruieren (Teil B Niederadlige Gruppenbildung) ihre politi-schen Bindungen zu den umgebenden Grafen- und Fuumlrstenhoumlfen via Lehen Aumlmter und (Sold-)Dienste ihr Heiratsverhalten und damit das wichtige vormoderne Element sozialer Kohaumlsion Verwandtschaft und Freundschaft zu analysieren sowie die den Kindern durch die Familienoberhaumlupter in den Stiftskirchen Kloumlstern und Pfarren zugewiesenen inner-familialen Rollen und zugleich auch die familiaumlre Memorialpraxis zu untersuchen (Teil C Weitere Lebensbereiche des Niederadels)

Die genannten Aspekte in Teil C sind die gewichtigen Teile der Untersuchung In ihnen werden niederadlige Lebensformen deutlich die in immer wieder angestellten Verglei-chen die Ortenauer kaum von den Kraichgauer oder (vorder-)pfaumllzischen Niederadels- familien unterscheiden Das betrifft etwa die herrschaftlichen Mehrfachbindungen qua Lehen und Amt wobei die seit 1405 in die Ortenau durch groszlige Anteile an der Pfand-schaft uumlber die Reichslandvogtei eindringenden Pfalzgrafen bei Rhein hier wie andernorts am Oberrhein die uumlberfuumlrstlichen Systemfuumlhrer waren Vergleichbar waren auch die zunaumlchst regional ausgerichteten Heiratskreise die im spaumlten 15 und 16 Jahrhundert verstaumlrkt um benachbarte Raumlume und die bourgeois gentilhommes der Staumldte erweitert wurden Gemeinsames zeigt sich schon weniger deutlich bei den Solddiensten die vornehmlich nachgeborene Soumlhne Ortenauer Niederadelsfamilien vor allem im 14 Jahr-hundert eingingen Hochkirchlicher Pfruumlndenbesitz war dagegen beim Ortenauer Niederadel aufgrund des edelfreien Straszligburger Domkapitels und des Fehlens naher Kollegiatstifte weitaus geringer ausgepraumlgt als in den Vergleichsregionen Bei den innerfamilialen Abschichtungen von nachgeborenen Toumlchtern und Soumlhnen in die Kirche standen daher nur die Kloumlster im Fokus die Frauenkonvente in Lichtenthal Frauen- alb Andlau im Elsass sowie die Beginenklause Oberdorf oder das Maumlnnerkloster Aller-heiligen An den Stifterbildern der Fensterscheiben der am Ende des 15 Jahrhunderts auf Betreiben des Adels des Klosters Allerheiligen und von Renchtaler Einwohnern erbauten Wallfahrtskirche in Lautenbach zugleich ein wichtiges Beispiel fuumlr die all- gemeine Wiedergeburt der Stiftungstaumltigkeit kurz vor der Reformation sei so Buumlhler die alles durchziehende bdquoVerwandtschaft Freundschaft und Verwandtschaft [] abzu- lesenldquo (S 270) Doch die Wirkungsweise dieser Verwandtschaft als horizontaler Bin-dungsfaktor und notwendiges Surrogat zum vertikalen Selbstverstaumlndnis des Adels- geschlechts vermag Buumlhler nicht besonders deutlich herauszuarbeiten Denn er hat sich

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reitung und Drucklegung seine mit ausfuumlhrlichen Anmerkungen versehene Ausgabe des Neuen Testaments in griechischer und lateinischer Sprache ein ndash wie sich herausstellen sollte ndash nicht nur fuumlr die Theologie und Kirchengeschichte auf Jahrzehnte und sogar Jahr-hunderte praumlgendes Buch von uumlber 1000 groszligformatigen Seiten dessen programmatische drei Einleitungsschriften (bdquoParaclesisldquo bdquoMethodusldquo und bdquoApologialdquo) auch heute noch mitreiszligen und faszinieren koumlnnen

Der Obertitel des hier angezeigten Sammelbandes bdquoBasel 1516ldquo markiert in gewisser Hinsicht einen Gegenpol zu bdquoWittenberg 1517ldquo und waumlhrend das Wittenberger Epochen-jahr bekanntermaszligen den Kulminationspunkt einer ganzen sogenannten bdquoLutherdekadeldquo bildete liefen die vielfaumlltigen Aktivitaumlten zum Basler Epochenjahr unter dem Logo bdquoERASMVS MMXVIldquo Als damaliger Ordinarius fuumlr Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universitaumlt Basel hatte Martin Wallraff im September 2014 ndash und damit fast genau 500 Jahre nach Erasmusrsquo Ankunft in der Stadt (vgl S X der Einleitung) ndash eine interdis-ziplinaumlre Tagung organisiert die Philologen Historiker und Theologen aus Deutschland England Frankreich Italien Kanada den Niederlanden der Schweiz und Spanien in Basel zusammenfuumlhrte fast durchweg ausgepraumlgte Erasmus-Spezialisten darunter viele Editoren der beiden groszligen wissenschaftlichen Ausgaben der bdquoOpera omnia Desiderii Erasmi Roterodamildquo (ASD Amsterdam und Leiden) und der bdquoCollected Works of Eras-musldquo (CWE Toronto)

Der sorgsam redigierte Tagungsband enthaumllt fuumlnfzehn Beitraumlge in englischer (elf) oder deutscher Sprache (vier) denen jeweils ein englischer Abstract beigegeben ist Die instruktive Einleitung der Herausgeber (bdquoPrefaceldquo S IXndashXIX) erlaumlutert die drei groszligen Themenfelder denen die Aufsaumltze jeweils zugeordnet werden deren Uumlbergaumlnge allerdings flieszligend sind 1 bdquoThe Novum Instrumentum 1516 and Its Philological Back-groundldquo (vier Beitraumlge S 1ndash77) 2 bdquoThe Text of the New Testament and Its Additionsldquo (sechs Beitraumlge S 79ndash221) und 3 bdquoCommunication and Receptionldquo (fuumlnf Beitraumlge S 223ndash310) Den Band beschlieszligen drei Verzeichnisse zu den Abkuumlrzungen den Nach-weisen der zahlreichen qualitaumltvollen sw-Abbildungen und den Autoren und Heraus- gebern (S 311ndash314) sowie ein Namensregister (S 315ndash319)

Teil 1 In dem urspruumlnglichen Abendvortrag der Tagung den die Herausgeber an den Anfang der Beitraumlge gestellt haben skizziert Mark VESSEY (S 3ndash26) die Umstaumlnde die zur Publikation des bdquoNovum Instrumentumldquo fuumlhrten Dabei beleuchtet er die Vorarbeiten die Reise von England nach Basel und Erasmusrsquo erst auf August September 1514 datierte Entscheidung seinen bereits in England begonnenen Anmerkungen (bdquoAnnotationesldquo) zum Neuen Testament sowohl den griechischen Originaltext als auch eine eigene latei-nische Uumlbersetzung voranzustellen Erika RUMMEL (S 27ndash42) analysiert den Bibel- humanismus der Renaissance anschlieszligend in literaturaumlsthetischer und methodologischer Hinsicht Was als Kritik am Theologen- und Kirchenlatein begann fuumlhrte zu einer Infragestellung des uumlberlieferten Texts der Vulgata und entsprechenden Emendations- bemuumlhungen Die in den Jahren um 1500 verhandelte Frage ob eine Anwendung text-kritischer Methodik auf die Heilige Schrift zulaumlssig sei war dabei nicht nur von rein theoretischem Interesse denn die philologischen Debatten der Humanisten unterminier-ten die Autoritaumlt der scholastischen Universitaumltstheologie gegen deren zunehmend schaumlrfere Kritik sich Erasmus ab 1516 immer wieder verteidigen musste August DEN HOLLANDER (S 43ndash58) betrachtet Erasmusrsquo Plaumldoyer fuumlr die Bibellektuumlre von Laien vor dem Hintergrund der mittelalterlichen niederlaumlndischen Bibeluumlbersetzungen und eroumlrtert in diesem Zusammenhang noch einmal den Einfluss der bdquoDevotio modernaldquo auf Erasmus

654 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 654

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

dazu entschlossen das Heiratsverhalten vornehmlich enumerativ darzustellen und nicht wie bei der Beobachtung der Aumlmter und Dienste die einzelnen Familien in den Mittel-punkt zu stellen und damit die Schnittpunkte der Verwandtschaftskreise herauszuarbeiten Aus wirtschaftshistorischer Sicht ist es bedauerlich dass die hochinteressanten Aspekte zum Kreditverhalten auf drei Seiten (S 288ndash290) verkuumlmmert sind Der Lehnsbesitz ist zwar festgehalten aber die eigentliche Besitzstruktur der einzelnen Familien wird aus-geklammert

Staumlrkere Probleme dagegen bereitet der Teil B Grundsaumltzlich ist der Entscheidung voumlllig zuzustimmen die Einungen des Ortenauer Niederadels in das Zentrum der Arbeit zu stellen Ob man die Analyse der stark politisch motivierten Einungen seit 1446 vor der Untersuchung der politischen generativen sozialen und wirtschaftlichen Situation der beteiligten Adelsfamilien platziert mag Ansichtssache sein Jedenfalls nahm Buumlhler dadurch viele Wiederholungen in Teil C in Kauf Kritisch erscheint aber das Verstaumlndnis Buumlhlers von bdquoSchwureinungldquo Diesen Term hat in Uumlbereinstimmung mit der rezenten rechtshistorischen Forschung Tanja Storn-Jaschkowitz (Gesellschaftsvertraumlge adliger Schwureinungen im Spaumltmittelalter 2007) nur den Adelsgesellschaften zugeordnet die auf dem Eid aller Genossen aufruhten Dabei konstituierte der Schwur die Gemeinschaft mit ihren begleitenden friedenswahrenden geselligen und bruderschaftlichen Momenten im Sinne spaumltmittelalterlicher Genossenschaftsbildung grundlegend Buumlhler dagegen moumlchte auch alle uumlbrigen bdquoEinungen und Ganerbschaftenldquo (S 20 und passim) der Schwureinung bzw Adelsgesellschaft zumessen Allerdings sind die von ihm untersuch-ten Einungen von 1446 (ein Erbschirmvertrag Kurfuumlrst Ludwigs IV von der Pfalz mit sieben Ortenauer Niederadelsfamilien) und 1474 (ein von Markgraf Karl von Baden nach dem Wortlaut auf seine nach Ansicht Buumlhlers auf Initiative des Ortenauer Adels gegen die territorialen Ambitionen von Kurpfalz ausgefertigter Einungsvertrag) nachweislich keine Schwureinungen sondern unterschiedlich motivierte auf besiegelten Vertraumlgen aufruhende politische Buumlnde vornehmlich zur Friedenswahrung Es waumlre interessant zu sehen gewesen ob die Verlaumlngerungen dieses Vertrages die ohne fuumlrstliche Anteilnahme 24 (1490) 10 (1497) bzw 12 (1508) Niederadlige abschlossen von den Buumlndnispartnern beschworen wurden Doch kein Wort davon Vielfach dagegen und noch am Schluss der Zusammenfassung nur die Klage dass die Begriffe Schwureinung und Adelsgesellschaft Einungen und Ganerbschaften bdquoaus dem Blickfeld der Forschung fallenldquo lieszligen bdquoSolch eine einseitige Wahrnehmung entsteht vornehmlich durch die Suche nach einer verein-fachenden und uumlbergeordneten Kategorisierung historischer Phaumlnomeneldquo (S 300) Das mag wohl sein Aber das aumlndert nichts daran dass sich auch Geschichtswissenschaft nur uumlber eindeutig definierte Begriffe verstaumlndigen kann Mein Vorschlag Man laumlsst es bei bdquoEinungenldquo des Adels wenn Adelsgesellschaften und Buumlnde die auf Vertraumlgen aufruhen gemeint sein sollen Aber eine Schwureinung ist eine Schwureinung und eine Adelsgesellschaft eine Adelsgesellschaft

Gerhard Fouquet

Johannes HELMRATH Ursula KOCHER Andrea SIEBER (Hg) Maximilians Welt Kaiser Maximilian I im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition (Berliner Mittel-alter- und Fruumlhneuzeitforschung Bd 23) Goumlttingen Vandenhoeck amp Ruprecht 2018 300 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-8471-0884-9

Das ist gekonnt arrangiert 2009 anlaumlsslich der 550 Wiederkehr von Maximilians I Geburtstag veranstalteten die Herausgeber in Berlin eine Tagung und neun Jahre spaumlter

652 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 652

rechtzeitig zur 500 Wiederkehr von des Kaisers Todestag gelingt es ihnen die damals gehaltenen Vortraumlge im Druck vorzulegen Arbeitsoumlkonomie Anliegen des Buchs ist es bdquodie Paradoxien Aporien und Bruumlche herauszuarbeiten die sich um 1500 in Europa beispielhaft an der Person Maximilians I und an seinem Hof angeblich ausmachen lassen sie aber von den Typisierungen des Geschichtsbildes aus dem 19 Jahrhundert zu loumlsen Es interessiert jenes Changieren zwischen Tradition und Innovation in der Welt des Kaisers zu hinterfragen der den Wandel foumlrderte und sich doch mit dem Vergangenen so fest verbunden fuumlhlte Maximilian wird hier mithin als Kristallisationspunkt einer Diskussion um Reform Bewahrung und die Installation von Neuem praumlsentiertldquo Die insgesamt dreizehn Beitraumlge sind nach vier Themengruppen geordnet 1 Hofkultur 2 Gedaumlchtnis 3 Auszligenpolitik und Krieg sowie 4 Innenpolitik und Verfassung In der ersten Gruppe fragt Jan-Dirk MUumlLLER nach der kaiserlichen Hofkultur aus der Sicht des Gelehrten Riccardo Bartolini Christina LUTTER widmet sich der Repraumlsentation von Geschlechterverhaumlltnissen im houmlfischen Umfeld und Claudius SIEBER-LEHMANN verfolgt Maximilians Spuren in astronomisch-astrologischen Druckwerken und Prophezeiungen Im Komplex Gedaumlchtnislsquo untersuchen Bjoumlrn REICH Martin SCHUBERT und Elke Anna WERNER anhand der von dem Kaiser selbst verfassten gedechtnus-Werke des Ambraser Heldenbuchs und von im Druck verbreiteten Bildern wie Maximilian mit viel Bedacht auf sein Nachleben und Nachwirken selbst Einfluss zu nehmen suchte Den Blick auf die Auszligenbeziehungen eroumlffnet Mustafa SOYKUT mit einer Betrachtung der wechsel- seitigen Wahrnehmung von christlichem Europa und Osmanischem Reich vom ausge-henden Mittelalter bis ins beginnende 19 Jahrhundert Heinz NOFLATSCHER spuumlrt Stereo-typen und Fremdbildern im politischen Verhalten Maximilians nach Manfred HOLLEGGER charakterisiert den Umgang des Kaisers mit der tuumlrkischen Gefahr als weithin pragma- tische Realpolitik und Malte PRIETZEL beschreibt das Changieren des Herrschers zwi-schen fuumlrstlicher Inszenierung in altertuumlmlichem Zweikampf und Turnier einerseits sowie moderner Kriegfuumlhrung mit Kanonen und Landsknechtsheeren andererseits Schlieszliglich gibt Reinhard SEYBOTH hochverdienter Editor der einschlaumlgigen Reichstagsakten einen souveraumlnen Uumlberblick uumlber den Wandel in der Verfassung des Reiches zur Zeit Maxi- milians Reimer HANSEN analysiert das schwierige Verhaumlltnis des Kaisers zu den See- beziehungsweise Niederlanden und Gregor M METZIG dessen Beziehungen zum Koumlnig-reich Portugal Wie man sieht weist das sehr ansprechend gestaltete mittels eines Per-sonen- und Werkregisters erschlossene Buch ein sehr weites inhaltliches Spektrum auf ruumlckt uumlberkommene Vorstellungen zurecht und eroumlffnet manch neue Perspektive Nur schade dass man auf das was die Autoren hier an Anregendem bieten so uumlber Gebuumlhr lang warten musste

Kurt Andermann Martin WALLRAFF Silvana SEIDEL MENCHI Kaspar VON GREYERZ (Hg) Basel 1516

Erasmusrsquo Edition of the New Testament (Spaumltmittelalter Humanismus Reformation Bd 91) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2016 XIX 319 S Abb geb EUR 89ndash ISBN 978-3-16-154522-1

Als Erasmus im Sommer 1514 von England uumlber Belgien Mainz Straszligburg und Schlettstadt nach Basel reiste bereiteten ihm die Humanisten am Oberrhein einen trium-phalen Empfang Die fruumlhen Basler Jahre waren nicht nur die gluumlcklichste sondern auch die produktivste Zeit im Leben des niederlaumlndischen Humanisten der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes stand Im Maumlrz 1516 erschien nach geradezu fieberhafter Vorbe-

653Fruumlhe Neuzeit

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

rechtzeitig zur 500 Wiederkehr von des Kaisers Todestag gelingt es ihnen die damals gehaltenen Vortraumlge im Druck vorzulegen Arbeitsoumlkonomie Anliegen des Buchs ist es bdquodie Paradoxien Aporien und Bruumlche herauszuarbeiten die sich um 1500 in Europa beispielhaft an der Person Maximilians I und an seinem Hof angeblich ausmachen lassen sie aber von den Typisierungen des Geschichtsbildes aus dem 19 Jahrhundert zu loumlsen Es interessiert jenes Changieren zwischen Tradition und Innovation in der Welt des Kaisers zu hinterfragen der den Wandel foumlrderte und sich doch mit dem Vergangenen so fest verbunden fuumlhlte Maximilian wird hier mithin als Kristallisationspunkt einer Diskussion um Reform Bewahrung und die Installation von Neuem praumlsentiertldquo Die insgesamt dreizehn Beitraumlge sind nach vier Themengruppen geordnet 1 Hofkultur 2 Gedaumlchtnis 3 Auszligenpolitik und Krieg sowie 4 Innenpolitik und Verfassung In der ersten Gruppe fragt Jan-Dirk MUumlLLER nach der kaiserlichen Hofkultur aus der Sicht des Gelehrten Riccardo Bartolini Christina LUTTER widmet sich der Repraumlsentation von Geschlechterverhaumlltnissen im houmlfischen Umfeld und Claudius SIEBER-LEHMANN verfolgt Maximilians Spuren in astronomisch-astrologischen Druckwerken und Prophezeiungen Im Komplex Gedaumlchtnislsquo untersuchen Bjoumlrn REICH Martin SCHUBERT und Elke Anna WERNER anhand der von dem Kaiser selbst verfassten gedechtnus-Werke des Ambraser Heldenbuchs und von im Druck verbreiteten Bildern wie Maximilian mit viel Bedacht auf sein Nachleben und Nachwirken selbst Einfluss zu nehmen suchte Den Blick auf die Auszligenbeziehungen eroumlffnet Mustafa SOYKUT mit einer Betrachtung der wechsel- seitigen Wahrnehmung von christlichem Europa und Osmanischem Reich vom ausge-henden Mittelalter bis ins beginnende 19 Jahrhundert Heinz NOFLATSCHER spuumlrt Stereo-typen und Fremdbildern im politischen Verhalten Maximilians nach Manfred HOLLEGGER charakterisiert den Umgang des Kaisers mit der tuumlrkischen Gefahr als weithin pragma- tische Realpolitik und Malte PRIETZEL beschreibt das Changieren des Herrschers zwi-schen fuumlrstlicher Inszenierung in altertuumlmlichem Zweikampf und Turnier einerseits sowie moderner Kriegfuumlhrung mit Kanonen und Landsknechtsheeren andererseits Schlieszliglich gibt Reinhard SEYBOTH hochverdienter Editor der einschlaumlgigen Reichstagsakten einen souveraumlnen Uumlberblick uumlber den Wandel in der Verfassung des Reiches zur Zeit Maxi- milians Reimer HANSEN analysiert das schwierige Verhaumlltnis des Kaisers zu den See- beziehungsweise Niederlanden und Gregor M METZIG dessen Beziehungen zum Koumlnig-reich Portugal Wie man sieht weist das sehr ansprechend gestaltete mittels eines Per-sonen- und Werkregisters erschlossene Buch ein sehr weites inhaltliches Spektrum auf ruumlckt uumlberkommene Vorstellungen zurecht und eroumlffnet manch neue Perspektive Nur schade dass man auf das was die Autoren hier an Anregendem bieten so uumlber Gebuumlhr lang warten musste

Kurt Andermann Martin WALLRAFF Silvana SEIDEL MENCHI Kaspar VON GREYERZ (Hg) Basel 1516

Erasmusrsquo Edition of the New Testament (Spaumltmittelalter Humanismus Reformation Bd 91) Tuumlbingen Mohr Siebeck 2016 XIX 319 S Abb geb EUR 89ndash ISBN 978-3-16-154522-1

Als Erasmus im Sommer 1514 von England uumlber Belgien Mainz Straszligburg und Schlettstadt nach Basel reiste bereiteten ihm die Humanisten am Oberrhein einen trium-phalen Empfang Die fruumlhen Basler Jahre waren nicht nur die gluumlcklichste sondern auch die produktivste Zeit im Leben des niederlaumlndischen Humanisten der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes stand Im Maumlrz 1516 erschien nach geradezu fieberhafter Vorbe-

653Fruumlhe Neuzeit

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

reitung und Drucklegung seine mit ausfuumlhrlichen Anmerkungen versehene Ausgabe des Neuen Testaments in griechischer und lateinischer Sprache ein ndash wie sich herausstellen sollte ndash nicht nur fuumlr die Theologie und Kirchengeschichte auf Jahrzehnte und sogar Jahr-hunderte praumlgendes Buch von uumlber 1000 groszligformatigen Seiten dessen programmatische drei Einleitungsschriften (bdquoParaclesisldquo bdquoMethodusldquo und bdquoApologialdquo) auch heute noch mitreiszligen und faszinieren koumlnnen

Der Obertitel des hier angezeigten Sammelbandes bdquoBasel 1516ldquo markiert in gewisser Hinsicht einen Gegenpol zu bdquoWittenberg 1517ldquo und waumlhrend das Wittenberger Epochen-jahr bekanntermaszligen den Kulminationspunkt einer ganzen sogenannten bdquoLutherdekadeldquo bildete liefen die vielfaumlltigen Aktivitaumlten zum Basler Epochenjahr unter dem Logo bdquoERASMVS MMXVIldquo Als damaliger Ordinarius fuumlr Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universitaumlt Basel hatte Martin Wallraff im September 2014 ndash und damit fast genau 500 Jahre nach Erasmusrsquo Ankunft in der Stadt (vgl S X der Einleitung) ndash eine interdis-ziplinaumlre Tagung organisiert die Philologen Historiker und Theologen aus Deutschland England Frankreich Italien Kanada den Niederlanden der Schweiz und Spanien in Basel zusammenfuumlhrte fast durchweg ausgepraumlgte Erasmus-Spezialisten darunter viele Editoren der beiden groszligen wissenschaftlichen Ausgaben der bdquoOpera omnia Desiderii Erasmi Roterodamildquo (ASD Amsterdam und Leiden) und der bdquoCollected Works of Eras-musldquo (CWE Toronto)

Der sorgsam redigierte Tagungsband enthaumllt fuumlnfzehn Beitraumlge in englischer (elf) oder deutscher Sprache (vier) denen jeweils ein englischer Abstract beigegeben ist Die instruktive Einleitung der Herausgeber (bdquoPrefaceldquo S IXndashXIX) erlaumlutert die drei groszligen Themenfelder denen die Aufsaumltze jeweils zugeordnet werden deren Uumlbergaumlnge allerdings flieszligend sind 1 bdquoThe Novum Instrumentum 1516 and Its Philological Back-groundldquo (vier Beitraumlge S 1ndash77) 2 bdquoThe Text of the New Testament and Its Additionsldquo (sechs Beitraumlge S 79ndash221) und 3 bdquoCommunication and Receptionldquo (fuumlnf Beitraumlge S 223ndash310) Den Band beschlieszligen drei Verzeichnisse zu den Abkuumlrzungen den Nach-weisen der zahlreichen qualitaumltvollen sw-Abbildungen und den Autoren und Heraus- gebern (S 311ndash314) sowie ein Namensregister (S 315ndash319)

Teil 1 In dem urspruumlnglichen Abendvortrag der Tagung den die Herausgeber an den Anfang der Beitraumlge gestellt haben skizziert Mark VESSEY (S 3ndash26) die Umstaumlnde die zur Publikation des bdquoNovum Instrumentumldquo fuumlhrten Dabei beleuchtet er die Vorarbeiten die Reise von England nach Basel und Erasmusrsquo erst auf August September 1514 datierte Entscheidung seinen bereits in England begonnenen Anmerkungen (bdquoAnnotationesldquo) zum Neuen Testament sowohl den griechischen Originaltext als auch eine eigene latei-nische Uumlbersetzung voranzustellen Erika RUMMEL (S 27ndash42) analysiert den Bibel- humanismus der Renaissance anschlieszligend in literaturaumlsthetischer und methodologischer Hinsicht Was als Kritik am Theologen- und Kirchenlatein begann fuumlhrte zu einer Infragestellung des uumlberlieferten Texts der Vulgata und entsprechenden Emendations- bemuumlhungen Die in den Jahren um 1500 verhandelte Frage ob eine Anwendung text-kritischer Methodik auf die Heilige Schrift zulaumlssig sei war dabei nicht nur von rein theoretischem Interesse denn die philologischen Debatten der Humanisten unterminier-ten die Autoritaumlt der scholastischen Universitaumltstheologie gegen deren zunehmend schaumlrfere Kritik sich Erasmus ab 1516 immer wieder verteidigen musste August DEN HOLLANDER (S 43ndash58) betrachtet Erasmusrsquo Plaumldoyer fuumlr die Bibellektuumlre von Laien vor dem Hintergrund der mittelalterlichen niederlaumlndischen Bibeluumlbersetzungen und eroumlrtert in diesem Zusammenhang noch einmal den Einfluss der bdquoDevotio modernaldquo auf Erasmus

654 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Ignacio GARCIacuteA PINILLA (S 59ndash77) nimmt sodann die Complutensische Polyglotte in den Blick deren bereits 1514 gedruckter aber erst 152122 erschienener fuumlnfter Band mit dem Neuen Tes-tament neben der Vulgata ebenfalls schon den griechischen Text enthielt Dass Erasmus die spanische Konkurrenzedition bei der Vorbereitung seiner vierten Aus-gabe des Neuen Testaments (1527) herangezogen hat ist gut dokumentiert Angesichts zahlreicher neuer Lesarten der dritten Ausgabe von 1522 die auch schon mit dem Text der Polyglotte uumlbereinstimmen (vgl besonders die Uumlbersicht zum Johannes-Evanglium auf S 76) haumllt Garciacutea Pinilla es fuumlr moumlglich dass Erasmus deren Text bereits 1521 zu-mindest in Auszuumlgen kannte die gelegentlich behauptete wechselseitige fruumlhere Beein-flussung dieser parallelen Ausgaben aus Basel und Alcalaacute verbannt er dagegen ins Reich der Spekulation

Teil 2 Patrick ANDRIST (S 81ndash124) und Andrew J BROWN (S 125ndash144) widmen sich zunaumlchst mit groszliger Sorgfalt den acht griechischen Bibelhandschriften die Erasmus in Basel nachweislich benutzt hat waumlhrend Martin WALLRAFF (S 145ndash173) und Jan KRANS (S 187ndash206) die zahlreichen Paratexte beleuchten die Erasmusrsquo bdquoNovum Testamentumldquo (so der Titel ab der zweiten Ausgabe von 1519) beigegeben waren von der Forschung jedoch lange Zeit eher vernachlaumlssigt wurden Miekske VAN POLL-VAN DE LISDONK (S 175ndash186) ordnet die bdquoAnnotationesldquo welche die Keimzelle und mit rund 450 Seiten zugleich das Kernstuumlck der Basler Ausgabe von 1516 bilden in Erasmusrsquo uumlbrige Schriften zur Bibel ein und weist auf die neue kritische Edition der bdquoAnnotationesldquo (ASD) hin die 2003ndash2014 in sechs Baumlnden erschienen ist Am Ende des zweiten Teils stellt Silvana SEIDEL MENCHI (S 207ndash221) Johannes Frobens fuumlnf bdquohigh-profile editionsldquo des Neuen Testaments (1516 1519 1522 1527 und 1535) den bdquolow-profile editionsldquo Frobens (1522) und anderer Basler Drucker (Cratander 1520 Gengenbach 1522) gegenuumlber analysiert deren zum Teil ganz unterschiedliche Paratexte und nimmt damit schon die Rezeption dieser Drucke in den Blick Was 1516ndash1522 durchaus auch bdquoeinfache Leserldquo ansprechen sollte endete schlieszliglich als ein Buch fuumlr Spezialisten bdquothe New Testament had been domesticatedldquo (S 221)

Teil 3 Komplementaumlr zu Seidel Menchis Beitrag dokumentiert Valentina SEBASTIANI (S 225ndash237) zu Beginn des dritten Teils detailliert den Markterfolg von Frobens diversen Ausgaben waumlhrend Marie BARRAL-BARON (S 239ndash254) in Anknuumlpfung an die umfang-reiche franzoumlsischsprachige Erasmus-Forschung nochmals vertiefend dem innovativ-sub-versiven Potenzial der Erstausgabe von 1516 nachgeht Obwohl Erasmus mit seinem bdquoNovum Instrumentumldquo die Ruumlckkehr in ein Goldenes Zeitalter befoumlrdern wollte habe er gemaumlszlig Barral-Baron im Gegenteil unabsichtlich dem Zerbrechen der Kircheneinheit vorgearbeitet und sei so zum bdquoassassin of his own dreamsldquo (S 254) geworden Am Ende des Bandes beleuchten Greta KROEKER (S 255ndash265) Sundar HENNY (S 267ndash290) und Christine CHRIST-VON WEDEL (S 291ndash310) die Rezeption des Buches in Italien (bes durch Gasparo Contarini und Jacopo Sadoleto) Frankreich (vor allem Theacuteodore de Begraveze) und den deutschsprachigen Territorien (von den Reformatoren bis zu Jakob Wettstein und Salomo Semler im 18 Jh)

Die durchweg anregenden und innovativen Beitraumlge sind nicht selten erfrischend zu-gespitzt so heiszligt es etwa im Zusammenhang mit dem von Erasmus eher vernachlaumlssigten Hebraumlischen (und Aramaumlischen) bdquoDer Hieronymus des Erasmus wandte sich den semi-tischen Sprachen als seiner Wuumlste zu in der er durch die griechische Quelle des Neuen Testaments und durch klassische Literatur in ebensolcher Sprache erfreut und am Leben erhalten wurde Syrien und seine Sprachen stehen im Kontext der Askese und werden

655Fruumlhe Neuzeit

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nicht um ihrer selbst willen sondern eher als notwendige Uumlbel aufgesuchtldquo (S 276) Die fokussierten Details spiegeln den neuesten Stand der Forschung allenfalls Johannes Reuchlins Briefwechsel sollte man heute wohl nicht mehr nach Geigers Ausgabe von 1875 (vgl S 87ndash90) sondern nach der vierbaumlndigen Edition der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zitieren (1999ndash2013)

Vielleicht angeregt durch Frobens differenzierte Vermarktung des bdquoNovum Instrumen-tumldquo wird der besprochene Sammelband seit 2017 auch in einer unveraumlnderten Studien-ausgabe angeboten (ISBN 978-3-16-155274-8) Zur Vertiefung waumlrmstens empfohlen sei dem interessierten Leser noch der aumluszligerst klug angelegte und beeindruckend illustrierte Begleitband zu einer 2016 im Basler Muumlnster gezeigten Ausstellung der von Ueli DILL und Petra SCHIERL herausgegeben wurde bdquoDas bessere Bild Christildquo Das Neue Testa-ment in der Ausgabe des Erasmus von Rotterdam (Basel Schwabe 2016 220 S ISBN 978-3-7965-3557-4) Mit Artikeln u a von Patrick Andrist Christine Christ-von Wedel Jan Krans Valentina Sebastiani Miekske van Poll-van de Lisdonk und Martin Wallraff kommen erneut viele der Autoren zu Wort die bereits in dem fast gleichzeitig erschie-nenen Tagungsband praumlsent sind

Matthias DallrsquoAsta

Guumlnter FRANK (Hg) unter Mitarbeit von Axel LANGE Philipp Melanchthon Der Refor-mator zwischen Glauben und Wissen Ein Handbuch BerlinBoston De Gruyter 2017 XV 843 S geb EUR 14995 ISBN 978-3-11-033505-7

Nach den Handbuumlchern uumlber Augustin Luther Calvin und anderen reiht sich hier das Melanchthon-Handbuch ein herausgegeben von dem langjaumlhrigen Leiter des Brettener Melanchthon-Hauses das sich in seiner Amtszeit zur Europaumlischen Melanchthon-Aka-demie ausgebildet hat Aufgabe eines solchen Handbuchs ist es den Stand der Forschung moumlglichst umfassend wiederzugeben Dies geschieht hier in einer internationalen Zu-sammenarbeit von mehr als drei Dutzend Wissenschaftlern Stand der Wissenschaft heiszligt natuumlrlich auch dass Desiderate benannt werden Dies tut der Herausgeber bereits in sei-nem Vorwort indem er die Themen bdquoMelanchthon und das Judentumldquo und bdquoMelanchthon als Predigerldquo als kuumlnftig zu bestellende Felder angibt

Grundlegend fuumlr den Stand der Forschung ist dass eine moderne Edition der Werke Melanchthons fehlt die die 1834ndash1860 erschienenen 28 Melanchthon-Baumlnde des Corpus Reformatorum ersetzen wuumlrde Abgesehen von den Ausgaben einzelner Werke liegt aber doch die von Robert Stupperich 1951ndash1975 herausgegebene neunbaumlndige Studienausgabe vor und im Jubilaumlumsjahr 1997 wurde die Ausgabe Melanchthon deutsch begonnen die inzwischen fuumlnf Baumlnde umfasst Ganz besonders ist aber zu verweisen auf den fast 10000 Stuumlcke umfassende Briefwechsel Melanchthons in der von Heinz Scheible ein Arbeits- leben lang betriebenen Edition die ab 1977 in Regestenform erschienen und inzwischen abgeschlossen ist Die Baumlnde der Textedition bearbeitet von der Melanchthon-For-schungsstelle in Heidelberg erscheinen zuumlgig seit 1991 (vgl die Besprechung in diesem Band)

Das Handbuch ist in vier Abschnitte gegliedert Orientierung Person Werk Wirkung und Rezeption Die Orientierung gibt Guumlnter Frank indem er knapp uumlber Person und Wirken Melanchthons die vorliegenden Melanchthon-Ausgaben unter denen auch eine Melanchthon-DVD zu erwaumlhnen ist und die vorhandenen Hilfsmittel wie Literatur For-schungsreihen und die Einrichtungen der Melanchthon-Forschung informiert Dem

656 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 656

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schlieszligt sich ein Uumlberblick uumlber die Melanchthon-Forschung am Beginn des 21 Jahr-hunderts an der fruumlher erschienene Berichte auf den neuesten Stand bringt

In dem Beitrag uumlber die Person Melanchthons gibt zunaumlchst Christine MUNDHENK die Heinz Scheible in der Leitung der Melanchthon-Forschungsstelle und als Heraus- geberin des Briefwechsels abgeloumlst hat einen dichten Uumlberblick uumlber Melanchthons Leben Martin GRESCHAT behandelt Melanchthons Verhaumlltnis zu Luther das grundlegend fuumlr beider Leben und Wirken und die Reformation insgesamt gewesen ist Natuumlrlich kommt auch das Verhaumlltnis zu anderen Reformatoren naumlmlich Calvin Zwingli Bullinger Bucer Bugenhagen und Flacius ins Blickfeld (Andreas MUumlHLING) das in erster Linie durch den dichten Briefwechsel Melanchthons vermittelt wurde Maria Lucia WEIGEL stellt Melanchthon-Bildnisse vor die ihn als Humanisten und Reformator zeigen wobei nicht nur Werke der graphischen Kuumlnste sondern auch Muumlnzen und Denkmaumller ins Blick-feld kommen Dieser Beitrag ragt somit auch in den Abschnitt uumlber Wirkung und Rezep-tion hinein

Die folgenden Beitraumlge stellen die verschiedenen Wirkungsfelder Melanchthons dar beginnend mit Reichspolitik und Religionsgespraumlchen (Andreas GOumlSSNER) Hier werden Melanchthons Dialogbereitschaft und seine Bemuumlhungen um Friedenssicherung als seine Handlungsmaximen herausgestellt die ihm freilich schon zu Lebzeiten als Bereitschaft zu faulen Kompromissen ausgelegt wurden Melanchthons Stellung in den inner- protestantischen Streitigkeiten kennzeichnet Robert KOLB Als Grundproblem stellt sich hier die Theologie des Abendmahls dar Das Interim bewirkte dann dass die Gnesiolu-theraner allen voran Matthias Flacius als die vermeintlich wahren Erben Luthers gegen Melanchthon zu Felde zogen und ihm zunehmend seine letzten Lebensjahre bitter werden lieszligen Zuruumlck zu den Anfaumlngen lenkt der Beitrag von Natalie KRENTZ uumlber Kirchen- reform und -visitation Es handelt sich hier vor allem um Melanchthons Beteiligung an den ersten Reformen in Wittenberg 152122 und an den Visitationen in Thuumlringen 1527 deren Nachbereitung seinen Unterricht der Visitatoren hervorbrachte der dann vielerorts als Referenzwerk fuumlr Kirchenreformen diente

Bildung Schule und Universitaumlt (Markus WRIEDT) kann man als ureigenstes Gebiet des Praeceptor Germaniae bezeichnen Kirche und Schule gehoumlren zusammen sind fuumlr ihn deckungsgleich wobei jede Schulart auch die Universitaumlt gemeint ist

Ein weiteres zentrales Feld der Wirksamkeit Melanchthons ist die Bekenntnisbildung (Hendrik STOumlSSEL) Werden ihm doch das Augsburger Bekenntnis und die Apologie ver-dankt ebenso wie die Confessio Saxonica von 1552 und vor allem seine Loci die in seinem Sterbejahr 1560 zusammen als Corpus Doctrinae erschienen und viel spaumlter zum Konkordienbuch von 1580 hinfuumlhrten

In dem Beitrag uumlber Reformiertentum (Matthias FREUDENBERG) geht es nicht nur um die enge Verbindung die Melanchthon mit Calvin pflog sondern vor allem um seine Rezeption bei den Reformierten von Schleiermacher bis Karl Barth und der Leuenberger Konkordie von 1973 Es wird also auch hier ein Beitrag zur Rezeptions- geschichte geboten

Zuruumlck zur Reformationsgeschichte fuumlhrt wieder Eike WOLGAST mit Melanchthon und die TaumluferSpiritualisten Er sah die Taumlufer als Stoumlrer der oumlffentlichen Ordnung die somit durch die weltliche Gewalt ndash auch mit dem Tod ndash zu bestrafen sind Auch den Tuumlrken (Michael PLATHOW) steht Melanchthon unversoumlhnlich gegenuumlber wenn er auch die Auf-rechterhaltung oumlffentlicher Ordnung in ihrem Bereich anerkennen kann Entscheidend ist fuumlr ihn hier wieder die rechte Gottesverehrung

657Fruumlhe Neuzeit

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ISSN 0044-2607

Melanchthon und der roumlmische Katholizismus (Johanna RAHNER) beleuchtet zunaumlchst das Bild das sich die katholische Theologie von ihm machte und wie man ihn schlieszlig- lich als oumlkumenischen Theologen entdeckte Zum anderen geht es um das Verhaumlltnis Melanchthons zur katholischen Kirche seiner Zeit wobei eine Entwicklung von der Ab-grenzung hin zu einem qualitativen Verstaumlndnis von Katholizitaumlt zu verzeichnen ist

In der dritten Abteilung die dem Werk Melanchthons gilt werden zunaumlchst die Text-gattungen behandelt derer er sich bedient hat Timothy J WENGERT stellt die biblischen Uumlbersetzungen und Kommentare vor waumlhrend Georg Gottfried GERNER-WOLFHARD seine katechetischen Versuche aufzeigt Unter dem Stichwort Literatur gibt Thorsten FUCHS einen Uumlberblick uumlber Melanchthons literarische Produktion die sich in unterschiedlichen Gattungen vom Epigramm bis zur Erzaumlhlung aumluszligerte Andreas GOumlSSNER bespricht Melanchthons rhetorische Praxis in Deklamationen Reden und Postillen

Die Gutachten Melanchthons behandelt Christopher VOIGT-GOY Es handelt sich hier um ein noch wenig erforschtes Gebiet Anders verhaumllt es sich mit den Briefen die von Christine MUNDHENK vorgestellt werden die dabei ihre Erfahrungen mit der Briefausgabe wiedergeben kann

Ein zweiter Abschnitt gilt Melanchthons Theologie wobei Guumlnter FRANK zunaumlchst seine Topik behandelt die auf der Erneuerung der Dialektik durch den Humanismus be-ruht und fuumlr ihn die Grundwissenschaft darstellte Frucht dieses Wissenschaftsverstaumlnd-nisses waren die Loci als System der Theologie (Sven GROSSE) Sodann werden einzelne theologische Loci behandelt naumlmlich Rechtfertigungslehre (Robert KOLB) Schoumlpfungs-lehre (Christian LINK) Christologie (Hendrik Stoumlssel) Theologische Anthropologie (Bo Kristian HOLM) Abendmahlslehre (Johannes EHMANN) Ekklesiologie (Johanna RAHNER) sowie Praumldestination Eschatologie Froumlmmigkeit (Martin H JUNG)

Der dritte Abschnitt behandelt Melanchthons Philosophie wobei zunaumlchst Guumlnter FRANK den Philosophiebegriff dann die praktische Philosophie Melanchthons darstellt Es folgen weitere Themen die zum Teil zum traditionellen System der Artes gehoumlren aber auch solche die daruumlber hinausweisen Besprochen werden Naturphilosophie und Anthropologie (Sandra BIHLMAIER) Jurisprudenz (Christoph STROHM) Medizin (Juumlrgen HELM) Dialektik (Hanns-Peter NEUMANN) Rhetorik (William P WEAVER) Grammatik (Boris DJUBO) Mathematik (Ulrich REICH) Geschichte (Martin SCHNEIDER) und Antike Literatur (Thorsten Fuchs)

Die dritte Abteilung des Handbuchs wendet sich Melanchthons Wirkung und Rezep-tion zu die zunaumlchst Walter SPARN fuumlr die Zeit und das Gebiet des Alten Reichs unter-schieden nach Philosophie und Theologie darbietet Es folgen Skandinavien (Tarald RASMUSSEN) England (Charlotte METHUEN) Niederlande (Herman J SELDERHUIS) Frankreich (Nicola STRICKER) Spanien (Mariano DELGADO) Italien (Lothar VOGEL) Schweiz (Karin MAAG) Ungarn und Suumldosteuropa (Andreas MUumlLLER) und Polen-Litauen (Kestudis DAUGIRDAS) Zum Schluss wuumlrdigt Guumlnter Frank Melanchthon als bdquogroumlszligte oumlku-menische Gestalt der Reformationszeitldquo

Den Abschluss des Bandes bilden ein Gesamt-Literaturverzeichnis ein Personen- und Sachregister und das Autorenverzeichnis Die einzelnen Beitraumlge die im Rahmen dieser Besprechung vielfach nur benannt werden konnten behandeln ihre Themen kurz und dicht wie es einem Handbuch ansteht benennen jeweils die einschlaumlgigen Quellen und die Literatur zeigen die Forschungsdesiderate auf und bieten damit eine solide Grundlage fuumlr die weitere Erforschung von Person und Werk Melanchthons

Hermann Ehmer

658 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 658

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Philipp MELANCHTHON Texte 5011ndash5343 (JanuarndashOktober 1548) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wis-senschaften Bd T 18) Stuttgart Frommann-Holzboog 2018 628 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2660-3

Philipp MELANCHTHON Texte 5344ndash5642 (November 1548ndashSeptember 1549) bearb von Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Bd T 19) Stuttgart Frommann-Holzboog 2019 621 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2661-0

Die beiden hier vorzustellenden Baumlnde der Textausgabe des MBW decken mit ihren 338 und 306 Nummern lediglich eindreiviertel Jahre ab Schon diese einfache Statistik zeigt die ungeheuren Anforderungen vor die sich Melanchthon in dieser Zeit gestellt sah Neben dem Verlust zweier langjaumlhriger Weggefaumlhrten naumlmlich Caspar Cruciger und Veit Dietrich ging es fuumlr Melanchthon in dieser Zeit zunaumlchst darum den Lehrbetrieb der Wittenberger Universitaumlt nach dem Schmalkaldischen Krieg wieder in Gang zu brin-gen Die Zeugnisse Empfehlungsbriefe und die an ihn gerichteten Anfragen zeigen dass dies gelang und der universitaumlre Alltag wieder eingetreten war

Die Durchsetzung der kaiserlichen Religionspolitik die durch den Sieg Karls V im Schmalkaldischen Krieg moumlglich gemacht war stellte aber neue schwerwiegende und grundsaumltzliche Fragen Konkret ging es um das Augsburger Interim das auf dem Augs-burger Reichstag 1548 erarbeitete und erlassene Religionsgesetz das die Protestanten zum katholischen Kultus zuruumlckfuumlhren sollte Diesem Bemuumlhen lagen selbstverstaumlndlich theologische Festlegungen zugrunde die fuumlr die protestantische Seite die Frage aufwar-fen inwieweit diese angenommen werden konnten Da freilich wo der Kaiser durch den Krieg seine Machtstellung zur Geltung gebracht hatte vor allem in Suumldwestdeutschland und hier vor allem bei den Reichsstaumldten eruumlbrigte sich eine Diskussion hier musste das Interim trotz allen Straumlubens angenommen werden mit entsprechenden Folgen fuumlr die Theologen die sich in Wort und Schrift dagegen zur Wehr setzten

In Norddeutschland und vor allem im Kurfuumlrstentum Sachsen ging es in erster Linie um die Frage der Adiaphora der Mitteldinge um das was in Kultus und Lehre angenommen werden konnte ohne die Kernpunkte der evangelischen Lehre zu gefaumlhr-den Es ist klar dass hier ungeheurer Gespraumlchsbedarf bestand der sich in entsprechen- den Beratungen Anfragen und teils sehr umfangreichen Gutachten aumluszligerte Neben dieser Politikberatung und deren theologischer Fundierung vergaszlig Melanchthon nicht da er nach wie vor im Mittelpunkt des Geschehens stand den Fuumlrsten denen er verpflichtet war wie Georg und Joachim von Anhalt und besonders Koumlnig Christian III von Daumlnemark mit bdquoZeitungenldquo kurzen Nachrichten uumlber das Geschehen zu infor- mieren

Die Dringlichkeit und Schaumlrfe in der die anstehenden Fragen verhandelt wurden und natuumlrlich auch unterschiedliche Antworten hervorbrachten zeigt sich gerade auch in der Uumlberlieferungslage einzelner wichtiger Stuumlcke bei denen sich die Herausgeber teilweise vor eine fast nicht zu bewaumlltigende Mehrfachuumlberlieferung in gleichzeitigen Abschriften und Drucken auch mit abweichendem Wortlaut gestellt sahen Andererseits konnte hier eine nicht unbedeutende Anzahl (fast ein Sechstel) der Stuumlcke erstmals vollstaumlndig wiedergegeben werden

659Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 659

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Hinsichtlich der Korrespondenten wird deutlich dass die Verbindungen Melanchthons zu den suumlddeutschen Theologen infolge der Zeitumstaumlnde weitgehend abgebrochen waren Einzig nach Nuumlrnberg und Straszligburg hatte Melanchthon noch Kontakte Ein Schreiben Melanchthons an Frecht aus dem Januar 1548 (MBW 5042) kann aus dem Blarer-Briefwechsel erschlossen werden ebenso wie eines aus dem Juni an Schnepf in Tuumlbingen (MBW 5181) Im September (MBW 5284) weiszlig Melanchthon von der Gefan-gennahme Frechts in Ulm durch den Kaiser die Schlimmes befuumlrchten laumlsst Schon im August (MBW 5246) hatte er sich bei Bucer nach dem Verbleib von Brenz und anderen erkundigt die wegen des Interims ihre Stellen verlassen mussten Uumlber die schwierige Lage in Straszligburg den Aufenthalt von Brenz und die Verhaumlltnisse in Wuumlrttemberg konnte ihm Bucer im Januar 1549 berichten (MBW 5403) Der Weggang von Andreas Osiander aus Nuumlrnberg der dann nach Preuszligen ging war Melanchthon bekannt (MBW 5366 5394 5542) Aus Lohr am Main in der Grafschaft Rieneck meldete sich im Februar der stel-lungsuchende Erhard Schnepf der Tuumlbingen hatte verlassen muumlssen und voruumlbergehend in Lohr bei Johann Konrad Ulmer untergekommen war (MBW 5442 f) aber dann in Jena eine Stelle fand (MBW 5598) Melanchthon hatte Schnepf ebenso wie Martin Bucer in Wittenberg erwartet Bucers Stellung in Straszligburg war wegen der Annahme des Interims durch den Magistrat mehr und mehr unhaltbar geworden weshalb er schlieszlig-lich nach England ging (MBW 5460)

Diese Streiflichter auf die Ereignisse in Suumldwestdeutschland koumlnnen nur beispielhaft die Fuumllle des Materials erahnen lassen das in den beiden Baumlnden ausgebreitet und in jedem Band durch Indizes vor allem der Absender und Adressaten erschlossen ist

Hermann Ehmer

Philipp MELANCHTHON Texte 5643ndash5969 (Oktober 1549ndashDezember 1550) bearb von

Matthias DALLrsquoASTA Heidi HEIN und Christine MUNDHENK (Briefwechsel [MBW] Kritische und kommentierte Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Bd T 20) Stuttgart Frommann-Holzboog 2019 494 S geb EUR 298ndash ISBN 978-3-7728-2662-7

Dieser Band enthaumllt 15 Monate des Briefwechsels Melanchthons Nachdem der Lehr-betrieb an der Wittenberger Universitaumlt wieder in Gang gekommen war ging es um die Auseinandersetzung mit Flacius um das wahre Erbe Luthers Melanchthon hat diesen Kampf zum Teil mit bdquooffenen Briefenldquo wie sie von den Herausgebern bezeich- net werden gefuumlhrt Es handelt sich um Aumluszligerungen die vorwiegend im Druck heraus-gingen und somit besondere Anforderungen an die Edition machten Da Autographen fehlen waren jeweils zahlreiche Abschriften und Drucke zu beruumlcksichtigen und zu ver-zeichnen Solche Aumluszligerungen kommen zum Teil auch in Gestalt von Widmungsvorreden einher

Als weiteres theologisches Problem bahnt sich in dieser Zeit der Osiandrische Streit an der durch den Nuumlrnberger Reformator Andreas Osiander der durch das Interim nach Koumlnigsberg in Preuszligen verschlagen worden war entfacht wurde Ebenfalls durch das Interim wurde Erhard Schnepf aus Tuumlbingen vertrieben der schlieszliglich eine ehren- volle Stelle in Jena erhielt Gleichwohl konnte Melanchthon ihm eine Stelle in Rostock anbieten

Im Korrespondentenkreis Melanchthons faumlllt in dieser Zeit Suumlddeutschland fast voll-staumlndig aus Durch das Interim liegen Kirchen und Universitaumlten am Rhein in Schwaben

660 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 660

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Bayern und Oumlsterreich darnieder (MBW 5752) Kaspar Hedio hatte Melanchthon uumlber die Schwierigkeiten in Straszligburg berichtet Der Tuumlbinger Mediziner Leonhard Fuchs unterrichtete ihn uumlber die Verhaumlltnisse in Wuumlrttemberg Nicht von Fuchs aber von anderer Seite weiszlig Melanchthon dass der in jener Zeit im Untergrund lebende Brenz in Tuumlbingen war (MBW 5882) Nach wie vor besteht Melanchthons Verbindung mit den Nuumlrnbergern insbesondere mit Hieronymus Baumgartner Verbindung mit ihm hielt nach wie vor auch Johann Konrad Ulmer in Lohr in der Grafschaft Rieneck Auch aus Augsburg und Basel erreichen Melanchthon Nachrichten selbst Johann Calvin nimmt aus Genf Kontakt mit ihm auf

Immer wieder beunruhigen Kriegsruumlstungen deren Zweck etwa die Vollstreckung der Reichsacht gegen Magdeburg oft nur vermutet werden kann Insgesamt konnte aber Melanchthon nach wie vor als gut informiert gelten und hat sein Wissen auch getreulich vor allem an die fuumlrstlichen Korrespondenzpartner insbesondere an Koumlnig Christian III von Daumlnemark weitergegeben

Wie die Universitaumlt wieder in Gang kam ist an den entsprechenden Schreiben ablesbar wie Zeugnissen oder den Bitten um Stipendien fuumlr beduumlrftige Studenten Ein gutes Bei-spiel dafuumlr ist ndash in mehrfacher Hinsicht ndash die Stipendienbitte an den Rat der Reichsstadt Esslingen fuumlr den Studenten Georg Roner (MBW 5843) Das Schreiben konnte 1840 in Bd 7 des Corpus Reformatorum noch nach dem Autograph im Stadtarchiv Esslingen abgedruckt werden und ist seitdem verloren Allerdings trug auch Fasz 205b in dem Melanchthons Schreiben verwahrt wurde den verraumlterischen Titel bdquoBriefe der Refor- matorenldquo

Bei der Bitte der Witwe Luthers an den daumlnischen Koumlnig um weitere Gewaumlhrung der ihrem verstorbenen Mann jaumlhrlich gezahlten Unterstuumltzung war Melanchthon gewiss durch seinen Rat beteiligt Eigenhaumlndig hat er immerhin die Schlussformel des Schreibens beigesteuert waumlhrend der uumlbrige Text von der Hand Paul Ebers stammt Dies ist freilich nur ein Beispiel fuumlr die eingehende Arbeit der Melanchthon-Forschungsstelle die mit dieser Maszligstaumlbe setzenden Edition geleistet wird

Hermann Ehmer

Frank MULLER Images poleacutemiques images dissidentes Art et Reacuteforme agrave Strasbourg (1520ndashvers 1550) (Studien zur deutschen Kunstgeschichte Bd 366) Baden-Baden Bouxwiller Koerner 2017 368 S Abb Brosch EUR 48ndash ISBN 978-3-87320- 366-2

Das Cabinet des Estampes und Museacutee de lrsquoŒuvre Notre-Dame in Straszligburg zeigten juumlngst parallel zur Groszligen Landesausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe zu Hans Baldung Grien als einem der eigenwilligsten Kuumlnstler des 16 Jahrhunderts die von Ceacutecile Dupeux und Frank Muller in Zusammenarbeit mit Florian Siffer kuratierten Be-gleitausstellungen bdquoRegards sur Hans Baldung Grienldquo und bdquoBaldung Grien et les images de la Reacuteforme agrave Strasbourgldquo (30 November 2019 bis 8 Maumlrz 2020) Damit wurde dieser Kuumlnstler der zwar einen Groszligteil seines Lebens in Straszligburg verbrachte in Frankreich aber bisher nahezu unbekannt blieb erstmals in groumlszligerem Rahmen praumlsentiert und zu-gleich Straszligburgs Rolle und Beitrag zu reformatorischen Bildfindungen thematisiert Die hier zu besprechende bereits 2017 erschienene Publikation von Frank Muller uumlber dissidente Bilder der Straszligburger Reformation kann daher zum einem als Grundlage fuumlr die Straszligburger Schau und zum anderen fuumlr seine weitere Beschaumlftigung mit Hans Baldung Grien gelten dessen Werk der emeritierte Professor fuumlr Moderne Geschichte

661Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 661

Fort Louis bdquoqui est dans une isle et empesche par conseacutequent que ce fleuve ne serve de juste et reacuteciproque barriegravere entre Votre Majesteacute et lrsquoEmpire comme Elle a deacuteclareacute si souvent et qursquoElle ne demande autre choseldquo (9 IX ebd Hollande 169) Diese Aumluszligerung beweist auch dass die Rheingrenze als politisches Ziel bei den franzoumlsischen Diplomaten und Militaumlrs gelaumlufig war vielleicht schon seit der Erkundigungsreise von Louvois und Vauban durch das Elsass 1679 Der Kontext belegt auch dass die Rheingrenze als mili-taumlrische Grenze verstanden wurde Ihr Ziel sei bdquo( que) lrsquoentreacutee de son Royaume soit fermeacutee en mecircme temps que Sa Majesteacute fait voir qursquoElle ne veut srsquoen reacuteserver aucune pour porter les guerres en Allemagneldquo( Gesandte an Ludwig XIV 1 IX 1697 J Bernard A Moetjens III S 50)

Der Sammelband revidiert den heutigen Wissensstand nicht er bietet aber mit Aus-nahme der angefuumlhrten Punkte einen differenzierten Uumlberblick uumlber den derzeitigen For-schungsstand Allerdings faumlllt auch hier die sehr sporadische Nutzung und Auswertung der Literatur auf Bibliographieren ist anscheinend unbekannt

Bernd Wunder

Bettina BRAUN Eine Kaiserin und zwei Kaiser Maria Theresia und ihre Mitregenten Franz Stephan und Joseph II (Mainzer Historische Kulturwissenschaften Bd 42) Bielefeld transcript-Verlag 2018 309 S Abb Brosch EUR 3999 ISBN 978-3-8376-4577-4

Lange Zeit seit der Publikation der zehnbaumlndigen Geschichte Maria Theresias durch Alfred Ritter von Arneth (Wien 1863ndash1879) schien es so als ob zur Geschichte der maumlchtigsten Frau Europas im 18 Jahrhundert alles gesagt sei Als Erbtochter regierte sie einen Laumlnderkomplex der sich vom heutigen Belgien im Nordwesten bis in die heutige Ukraine im Suumldosten Europas erstreckte Doch ihr 300 Geburtstag (2017) hat wie gerade das Literaturverzeichnis des vorzustellenden Bandes verdeutlicht eindruumlcklich unter- strichen wie irrig diese Auffassung ist und sein muss haben sich doch die Fragen die wir heute an Maria Theresia als Frau und Herrscherin stellen seit den Arnethschen Zeiten grundlegend veraumlndert Gerade die Studie der in Mainz lehrenden Fruumlhneuzeithistorikerin Bettina Braun steht fuumlr den Aspekt der in der monumentalischen Repraumlsentation Maria Theresias im 19 Jahrhundert ausgeblendet wurde Monumentalisch ist im woumlrtlichen wie im Nietzscheschen Sinn gleichermaszligen zu verstehen Braun formuliert bdquoAls Herrscherin aus eigenem Recht hatte sie doch stets einen Mann an ihrer Seite erst ihren Ehemann [Franz Stephan bis 1765] dann ihren Sohn [Joseph] mit dem sie zusammen regierte Und genau um dieses bdquozusammenldquo soll es in dieser Studie gehenldquo (S 13)

Um dieses bdquozusammenldquo zu erhellen bedient sich die Verfasserin des von Heide Wun-ders fuumlr fruumlhneuzeitliche staumldtische und baumluerliche Geschlechterbeziehungen gepraumlgten Konzepts des bdquoArbeitspaaresldquo Hat Wunder diesen Begriff gewaumlhlt um die Beziehungen zwischen Ehepartnern zu charakterisieren so wendet ihn Braun auch fuumlr die Mutter-Sohn-Beziehung an Da es ihr darum zu tun ist zu erhellen wie sich Maria Theresia die Arbeit des Regierens mit ihrem seit 1745 kaiserlichen Ehemann und seit 1765 Sohn teilte kann sie so verfahren Ja noch mehr Braun vermag dadurch auch ein anderes wenn auch nicht grundsaumltzlich neues Licht auf die Folgen zu werfen die mit den funda-mental differierenden sozialen Logiken einhergehen die die Geschlechterbeziehungen praumlgen je nachdem ob die Frau mit Ehemann oder Sohn interagiert Dass diese unter-schiedlichen Logiken wenn die Frau Herrscherin ist fuumlr die Arbeitsteilung weitreichende Folgen zeitigen demonstriert Braun im Detail (S 211ndash230)

676 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

der Universitaumlt Straszligburg als paradigmatisch fuumlr die Umbruumlche in der Denk- und Dar-stellungsweise des 16 Jahrhunderts bezeichnet und zu dem er zudem 2019 die erste franzoumlsische Monografie unter dem Titel bdquoHans Baldung Grien entre christianisme et paganismeldquo vorlegte

Wie der Autor in seinem knappen Vorwort selbst schreibt ist die vorliegende Pub- likation das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung auf diesem Gebiet und die teilweise Uumlberarbeitung bereits geschriebener aber unpublizierter Texte (S 6) Konkret knuumlpft er damit an sein bereits 2001 als Band 21 der Reihe Bibliotheca dissidentium bzw Band 184 der Bibliotheca bibliographica Aureliana des Koerner-Verlages publiziertes Werk bdquoArtistes dissidents dans lrsquoAllemagne du seiziegraveme siegravecle Lautensack Vogtherr Weiditzldquo an Heinrich Vogtherr der Aumlltere und Hans Weiditz sind dann auch in vorliegendem Band neben Baldung und Heinrich Schlitzohr die im Fokus stehenden bildenden Kuumlnstler wobei Frank Muller jedoch einer uumlbergeordneten Fragestellung folgt Im Gegensatz naumlmlich zu den zahlreichen Publikationen zur Reformation und deren Beziehungen zu den Kuumlnsten wird mit diesem Buch eine monografische Untersuchung der Thematik in nur einer Stadt naumlmlich Straszligburg als einem der wichtigen Zentren der oberrheinischen Reformation vorgelegt Er beschraumlnkt sich ferner auf den seiner Meinung nach zentralen Zeitraum von nur 30 Jahren in dem nach dem Erscheinen der ersten lutherischen Schrif-ten in Straszligburg eine recht schnelle Anpassung an reformatorische Ideen um 1520ndash1522 zu konstatieren sei und sich nach der weiteren Verbreitung des Protestantismus bis um 1550 die Verwendung von druckgrafischen Bildern als Propagandamittel etablierte Nach-dem sich ab 1524 die ersten radikalen ikonoklastischen Gruppierungen (Taumlufer- oder sogar Antitrinitariergruppen) gebildet hatten und darauffolgend die meisten Bilder im oumlffentlichen Straszligburger Kirchenraum zerstoumlrt wurden (S 73ndash95) entstanden vor allem zwischen 1525 und Mitte der 1530er Jahre eine Reihe polemischer dissidenter Holz-schnitte die als Unterstuumltzung reformatorischer Ideen jeglicher Couleur gelesen werden koumlnnen und die der Verfasser daher als bdquoikonoklastische Bilderldquo bezeichnet (S 348) Verbreitung fanden jene durch die Drucker und Verleger der Stadt wie Johann Schott und Johann Pruumlss Johann Knobloch Balthasar Beck oder Jacob Cammerlander und eine ganze Reihe weiterer von denen im Gegensatz zu anderen Druckhochburgen wie Augsburg oder Nuumlrnberg die allermeisten recht enge Verbindungen zu den verschie- denen Dissidentengruppen hatten sich mehr oder weniger offen auf deren Seite stellten und in erster Linie zwischen 1528 und 1534 zahlreiche illustrierte Streitschriften ver- legten

In sechs Kapiteln legt Frank Muller die historische und theoretische Entwicklung sowie die Netzwerke jener groszligen Umwaumllzungen dar und untersucht in weitgehend chro-nologischer Ordnung die identifizierten neuen oder abgeaumlnderten Bildmotive innerhalb der Straszligburger Editionen Dabei versucht er jeweils die konzeptionellen Koumlpfe der begleitenden Texte und ikonografischen Programme auszumachen und schlaumlgt einige Zuschreibungen vor allem fuumlr Hans Weiditz vor wenn diese auch in manchen Faumlllen aufgrund von fehlenden Quellen spekulativ bleiben muumlssen Der Autor attestiert hierbei gerade den namhaften und intellektuellen bildenden Kuumlnstlern wie Weiditz oder Baldung in vielen Faumlllen ein Mitspracherecht und eine groszlige Freiheit in der Bildgestaltung obwohl die Mehrheit der untersuchten Illustrationen in Auftrag gegeben wurden (S 96ndash102)

Innerhalb des ersten Kapitels uumlber die fruumlhesten Propagandabilder (S 11ndash72) fuumlhrt Frank Muller neben Baldungs Holzschnittportraumlts von Martin Luther und Ulrich von Hutten die er in den Vergleich mit einigen unbekannten Kuumlnstlern setzt (S 26ndash72) als

662 Buchbesprechungen

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les fumeacutees de vin en parlant de cette sorte sans faire de reacuteflexion sur le peu de moyens qulsquo ils ont drsquoobtenir ce qu igravels deacutesirentldquo franzoumlsische Diplomaten in Ryswick an Ludwig XIV 5 IX 1697 AAE Paris Corr pol Hollande 169) Auch in der Instruktion fuumlr seine Diplomaten in Utrecht vom 30 XII 1711 beurteilt Ludwig die Forderungen der Reichs-staumlnde als bdquovisionsldquo bdquovaines ideacuteesldquo und bdquoabsurditeacutesldquo (Recueil des instructions donneacutees aux Ambassadeurs et Ministres de France Bd XXII Hollande Paris 1923 S 297) Die Vertreter des Reiches unterstuumltzten zwar die Forderungen des Kaisers ihr eigentliches Ziel waren aber finanzielle Entschaumldigungen fuumlr die Kriegsschaumlden Damit ernteten sie nur Hohn und Spott Nach dem Friedensschluss versicherte Ludwig Wilhelm dem fran-zoumlsischen Koumlnig dass er ihm die Verbrennung seines Landes nicht uumlbelnaumlhme an eine Entschaumldigung dachte er schon gar nicht (Ludwig Wilhelm zum franzoumlsischen Gesandten Gergy in Stuttgart bdquoCe prince me parla ensuite des maux que ses Etats avoient souffert pendant la guerre et qursquoil ne croioit pas avoir meacuteriteacute que comme Prince de lrsquoEmpire que quand Votre Majesteacute recommenceroit agrave faire brusler son pays une seconde fois il ne perderoit jamais les sentiments drsquoestime et de respect qursquoil avoit pour Elle que crsquoeacutetoit lagrave la conduite qursquoil avoit toujours tenueldquo Bericht Gergys vom 13 X 1698 AAE Corr Pol Wurtemberg 9)

Susan RICHTER (S 83ndash96) behandelt die Alternative der Neutralisierung d h das alte Thema der bdquoVerschwitzerungldquo der deutschen Grenzgebiete Dabei geht sie auch auf die Haltung der badischen Markgrafen ein Tatsaumlchlich verlieszlig Karl Wilhelm von Baden-Durlach bei seinem Regierungsantritt 1709 die Reichsarmee und legte seinen Rang als Reichsgeneral nieder Allerdings war dies keine politische Entscheidung sondern der Markgraf wurde vom franzoumlsischen Koumlnig massiv unter Druck gesetzt Ludwig drohte mit seiner Inhaftierung falls er seine Stammlande betrete Entsprechend instruierte er seinen Botschafter in der Schweiz Du Luc am 7 X 1709 bdquoLa principale raison que jrsquoavois de refuser au Marquis de Bade Dourlak le passeport qursquoil mrsquoa demandeacute estoit fondeacute sur ce qursquoil servoit actuellement dans les trouppes de mes ennemis au lieu que feu son pegravere agrave qui jrsquoavois accordeacute la mesme grace vivoit retireacute chez lui et sans employ Comme il assure qursquoil ne servira plus et que drsquoailleurs vous croyeacutes qursquoil pouvoit estre utile dans les Diettes du Cercle de Souabe jrsquoay bien voulu luy accorder agrave votre consideacute-ration le passeport que je vous envoie Mais vous luy feacuterez scavoir qursquoil deviendroit inutile si jrsquoapprenois qursquoau preacutejudice de sa parole il vouloit encore exercer les employs qursquoil a parmy mes ennemisldquo (ebd Suisse 195)

Sven EXTERNBRINK kommt in seinem Beitrag zur Rheingrenze (S 153ndash164) zu dem Ergebnis dass diese als politisches Schlagwort erst am Ende des 18 Jahrhunderts fassbar wird Dies trifft nicht zu Die Rheingrenze wurde 1697 festgelegt und sie wurde auch so benannt Bei den Friedensverhandlungen in Ryswick 1697 hatte Ludwig XIV unter dem 20 VII sein Angebot vorgelegt aber in Art 6 alternativ zur Ruumlckgabe Straszligburgs die Ruumlckgabe einiger rechtsrheinischer Festungen angeboten mit der Begruumlndung bdquoafin que les frontiegraveres de la France et de lrsquoEmpire demeurent entiegraverement seacutepareacutees par le Rhinldquo (J Bernard A Moetjens Actes et Meacutemoires des neacutegociations de la Paix de Ryswick AAE Corr Pol Hollande 168) Am 21 VIII aber zog Ludwig sein Angebot der Ruumlckgabe Straszligburgs uumlberraschend zuruumlck und erweiterte sein Angebot der Ruumlckgabe rechtsrhei-nischer Festungen auf alle franzoumlsischen rechtsrheinischen Festungen und Bruumlckenkoumlpfe Diesen Wechsel begruumlndete mit den Worten bdquoMon intention est que deacutesormais le Rhin servit de barriegravere entre mon Royaume et lrsquoEmpireldquo (ebd Hollande 168) Als es um die genaue Festlegung der Rheinlinie ging schrieben ihm seine Diplomaten uumlber die Festung

675Fruumlhe Neuzeit

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

der in Utrecht entschiedenen Teilung der spanischen Erbschaft durch den Kaiser Die einzige Entscheidung die in Rastatt fiel war fuumlr Bayern der Verlust seines Anteils an dieser Erbschaft naumlmlich die Insel Sardinien und die Koumlnigswuumlrde die Max Emanuel noch in Utrecht zugesprochen worden war Bayern wird in dem Sammelband aber nicht behandelt Rastatt steht nur in zwei Beitraumlgen im Mittelpunkt wovon einer ein kunst- historischer ist Auch Frankreich ist nur durch zwei Beitraumlge vertreten Gegenstand des Bandes ist daher vielmehr die suumldwestdeutsche Geschichte zu Beginn des 18 Jahr-hunderts

Der zentrale Beitrag ist ein Artikel von Max PLASSMANN uumlber Ludwig Wilhelm von Baden und die bdquooberrheinische Perspektive auf den europaumlischen Kriegldquo (S 69ndash82) Zwar war Ludwig Wilhelm schon 1707 gestorben aber er war als Oberbefehlshaber der Kreisassoziation von zunaumlchst zwei dann sechs Kreisen der wichtigste Politiker am Oberrhein von 1693 bis 1706 Als solcher verhandelte er nicht nur mit dem Kaiser und Lothar Franz von Schoumlnborn uumlber Buumlndnisse sondern auch mit Wilhelm III Heinsius Ludwig XIV und Max Emanuel von Bayern sowie uumlber die polnische Koumlnigskrone und das antikaiserliche Buumlndnis gegen die neunte Kur Bis heute sind die Plaumlne und Ziele Ludwig Wilhelms in der Forschung umstritten Plassmann waumlhlt die inhaltleerste Erklauml-rung den Ehrgeiz Ludwig Wilhelms

Er uumlbersieht dabei die reichsrechtlichen Moumlglichkeiten und Grenzen der Kreisasso-ziation die eine Weiterentwicklung der bdquoeilenden Hilfeldquo zwischen den Kreisen nach der Reichsexekutionsordnung von 1555 war Entscheidend war dass hier ohne Beteiligung von Kaiser und Reichstag Truppen aufgestellt und eingesetzt werden konnten Dies ermoumlglichte einen Militaumlrbund am Rhein zwischen Holland und der Schweiz mit Straszlig-burg als zentralem Waffenplatz wie er anscheinend erwogen wurde Der Kaiser verhin-derte einen derartigen Machtverlust im Reich alsbald nicht als Kaiser sondern durch seinen Beitritt zur Assoziation als Direktor des inexistenten oumlsterreichischen Kreises Zu-naumlchst hatte der Kaiser 169091 auf das Angebot der Kreise zu erhoumlhter Truppenstellung (Triplum) mit der Zusage reagiert keine weiteren Militaumlrlasten (Winterquartiere Assig-nationen etc) zu fordern Der Einsatz dieser Truppen als eilende Hilfe war defensiv auf das Kreisterritorium beschraumlnkt d h ein Einsatz in Ungarn Oberitalien und Flandern (ebenso 1705 auf das Moseltal) war ausgeschlossen Dem kam die Situation des ober-rheinischen Kriegsschauplatzes entgegen Dieser beschraumlnkte sich seit der Eroberung Philippsburgs 1644 ndash und wenn man will bis 1945 ndash auf den Kraichgau und Wuumlrttemberg bis zur Donau (Einfall ins Reich) Der Schwarzwald war anders als Plassmann annimmt kein Kriegstheater (Ausnahme 170304 das bayrisch-franzoumlsische Buumlndnis) Das badische Rheintal war wie Ludwig Wilhelm spottete die bdquofranzoumlsische Reitschuleldquo d h unter dem Schutz der franzoumlsischen Kanonen zog die franzoumlsische Kavallerie fouragierend durch Baden von Breisach bis Kehl und Philippsburg Schlachten wurden hier nicht geschlagen

Plassmann unterschaumltzt die Rolle Ludwig Wilhelms und uumlberschaumltzt die der kleinen Reichsstaumlnde Die Bedeutung der Kreise als Truppenlieferanten fuumlhrte zwar dazu dass sie Mitglieder der Groszligen Allianz wurden und sogar Gesandte zu den Friedenskongressen schicken konnten aber ihre tatsaumlchliche Rolle war gering Sie wurden fuumlr die Sicherung des Nachschubs gebraucht Sie als Trunkenbolde abzutun wie es die franzoumlsischen Gesandten taten ist wohl etwas uumlbertrieben (bdquohellipcomme la pluspart de ces deacuteputeacutes de lrsquoEmpire sont des docteurs peu instruits des affaires du monde et qui ne se couchent guegrave-res sans estre yvres ils suivent les mouvements de leur humeurs et ceux que leur inspirent

674 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 674

eines der ersten Beispiele fuumlr propagandistische Grafik das Titelbild fuumlr den bdquoevange- lischen Bauernldquo Karsthans als Prototyp eines Verteidigers lutherischer Ideen an das er unter den Zeichen der sich veraumlndernden ideologischen Deutung vorstellt (S 19ndash26)

Danach folgen im zweiten Kapitel ein historischer und theologischer Uumlberblick uumlber den Straszligburger Ikonoklasmus inklusive der wichtigen Personen wie Wolfgang Capito Martin Bucer Hans Denck oder Melchior Hoffman und die Vorstellung weiterer Bild-motive (S 73ndash148) wobei hier Vogtherrs Illustrationen bdquoMoses zerstoumlrt die Idoleldquo und bdquoHiskia zerstoumlrt die eherne Schlangeldquo von 1529 die offensichtlichsten ikonoklastischen Bilder darstellen (S 142ndash148)

Der nach Frank Muller essentielle Beitrag Straszligburgs zum bdquoIkonoklasmus der Bilderldquo (S 7) ist das Tetragramm das er im dritten Kapitel neben dessen Entwicklung anhand einiger Beispiele bespricht und das so die These als symbolhafte Darstellung der Goumltt-lichkeit die alle Gruppierungen der Anabaptisten verbindende Frage nach der Goumlttlichkeit bzw der Nachfolge Christi und gleichzeitig den tiefgreifenden Einfluss der Denkweise des Judentums konkret der juumldischen Kulturelite Straszligburgs verdeutliche (S 149ndash212) Als entscheidender Beleg dient ein Einblattholzschnitt mit komplexer Ikonografie von 1529 den er Hans Weiditz zuschreibt und in praumlziser Analyse als Reaktion und Art Ge-denkblatt auf die Hinrichtung Ludwig Haumltzers in Konstanz im selben Jahr interpretiert dessen Person und Rolle als einem der ersten Antitrinitarier ein ganzes Unterkapitel gewidmet ist (S 150ndash162)

In einem kurzen vierten Kapitel werden die Bilder und Motive der Straszligburger Taumlu-ferbewegung wie Titelblattillustrationen von Hans Weiditz zu Schriften von Melchior Hoffmann (S 213ndash221) Vogtherrs Holzschnitte zu visionaumlren Bildern von Ursula Jost (S 222ndash237) oder die ungewoumlhnlichen Zeichnungen von Clemens Ziegler im Besitz des Straszligburger Stadtarchivs (S 237ndash244) thematisiert

Abschlieszligend untersucht der Verfasser in den beiden letzten in zwei Zeitphasen auf-geteilten Kapiteln (1523ndash1526 und 1530ndash1546) die teilweise antipapistischen und anti-katholische Bibelillustrationen von Schlitzohr Vogtherr und Weiditz ebenso wie Illustrationen von Vogtherr fuumlr Losbuumlcher und einige Portraumlts unter anderem von Baldung aus den 153040er Jahren welche somit den Bogen zum Beginn des Buches schlagen

Aufgrund der gelungenen Synthese aus historischer theologischer und kunsthistori-scher Betrachtungsweise auf Basis langjaumlhriger intensiver Quellenforschung und Litera-turkenntnis legt Frank Muller mit dem vorliegenden Werk ein erhellendes Kompendium fuumlr die reformatorische Straszligburger Bildproduktion vor Das komplexe Beziehungs- geflecht und die Netzwerke der Druckerzeugnisse sowie die Interpretationen der Motive werden in erzaumlhlerischem Ton teilweise in wiederholenden Passagen praumlsentiert was jedoch angesichts der Komplexitaumlt des Themas der Arbeit keinen Abbruch tut und der eingangs erwaumlhnten erweiterten Kompilation des Buches aus mehreren Texten geschul-det zu sein scheint Leider schraumlnken das Fehlen eines Personen- oder Werkregisters sowie einer adaumlquaten Abbildungsuumlbersicht die Nutzung und Rezeption des Werks etwas ein ndash ein Desiderat bei dem sich auch alle drei bisher erschienenen englischen und fran-zoumlsischen Rezensionen einig sind (Paul-Alexis Mellet 2019 David Krasovec 2019 Ge-nevieve Verdigel 2020) Zudem erschweren die oft schlechte Qualitaumlt bzw Aufloumlsung der 124 Abbildungen dem Leser den schnellen Nachvollzug des visuellen Bestandes ge-rade bei den kleinteiligen Holzschnitten sowie mangelnde Bildangaben und -nachweise die Suche nach besseren Vorlagen

Alexandra C Axtmann

663Fruumlhe Neuzeit

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

(S 380) wurde Die fragile im Zweifel der kaiserlichen Seite zuneigende Neutralitaumlt der Reichsstadt Straszligburg die freilich seit Karl V keinem Kaiser mehr gehuldigt hatte fuumlhrte bekanntlich im Herbst 1681 zu ihrer Annexion nach Drohung der Eroberung durch eine eigens sorgsam organisiert herangefuumlhrte Belagerungsarmee (Kap 9 bdquoLrsquoAnnexion de la Reacutepublique de Strasbourgldquo) gefolgt von einem feierlichen Einzug Ludwigs XIV Die von franzoumlsischer Seite als Zentrum des Elsass begriffene und daher konsequent aber rechtlich nicht gedeckt in die franzoumlsische Souveraumlnitaumlt uumlber diese ndash nunmehr ndash Provinz einzubeziehende Stadt wurde nun zu einem Verwaltungszentrum und zugleich zu einer Hauptfestung ausgebaut gesteuert durch den allen staumldtischen Gremien und Amtstraumlgern nun vorgeschalteten bdquopreacuteteur royalldquo Ulrich Obrecht (S 430) Die neue Provinz (Kap 10 1681ndash1697) konnte sich nun im Zeichen einer bdquotransition deacutelicateldquo erholen nach Art fran-zoumlsischer Geschichtsschreibung ausfuumlhrlich und kundig dargestellt anhand sozial- wirt-schafts- und verkehrsgeschichtlicher Gegebenheiten die auch sonst Beruumlcksichtigung fanden Den kirchlichen Verhaumlltnissen ist parallel Kap 11 gewidmet fuumlr deutsche Leser befremdlich aber zutreffend unter das Schlagwort der Allianz von Thron und Altar ge-stellt Denn auf einen habsburgischen Erzherzog folgten 1682 im Straszligburger Bischofs-amt nacheinander zwei Mitglieder der frankreichhoumlrigen Grafenfamilie Fuumlrstenberg Wilhelm Egons Eidleistung 1687 bereitete verfassungsrechtlich dem Fuumlrstbistum sein Ende und leitete eine im Grunde fuumlr beide Konfessionen im Elsass bis heute noch nicht beendete Zwitterstellung ein die im Widerspruch zur franzoumlsischen Rechtseinheitlichkeit stand und steht Die Lutheraner dagegen wurden in die Enge getrieben durch Konver- sionsdruck vor allem bei Amtstraumlgern die Einfuumlhrung des Simultaneums wo immer sich dafuumlr ein Ansatz bot und die relational bei Weitem nicht gedeckte konfessionell paritauml-tische Aumlmterbesetzung Das letzte Kapitel (1688ndash1698 bdquoDe la guerre de la Ligue drsquoAugs-bourg agrave la paix de Ryswickldquo) kann sich kuumlrzer fassen da das Elsass weitaus weniger betroffen war als die Kurpfalz und mit dem Friedensschluss 1697 (S 556) im Grunde der Gipfel der bdquoEroberungldquo des Elsass durch Ludwig XIV erreicht wurde Zwar wich man machtpolitisch nun wieder hinter die Rheinlinie zuruumlck und etwa Wuumlrttemberg wurde linksrheinisch restituiert aber Straszligburg blieb franzoumlsisch Durch die Ruumlckgabe der Kurpfaumllzer Gebiete im Norden stellte sich fortan die Frage wo das an seinen drei anderen Seiten klar abzugrenzende Elsass im Norden aufhoumlre ob an der Lauter oder an der Queich (S 564) In der Sicht des Sonnenkoumlnigs war vor allem Straszligburg als Bastion des Reichs und zugleich der lutherischen Ketzerei zerstoumlrt

In diesem Werk liegt eine aus der Mitte des eigenen elsaumlssischen historischen Be-wusstseins erwachsene und aus der Fuumllle landesgeschichtlicher Kenntnis nicht nur des Elsass sondern auch der angrenzenden Gebiete schoumlpfende Darstellung eines fuumlr die deutsch-franzoumlsische Geschichte und zugleich fuumlr die suumldwestdeutsche Landesgeschichte wesentlichen Schluumlsselzeitraums vor Niemand der sich mit diesem kuumlnftig auf welcher Ebene auch immer befassen wird sollte es auszliger Acht lassen er wuumlrde dabei einen wesentlichen Erkenntnishorizont ignorieren

Volker Roumldel

Oliver FIEG (Hg) Rastatt 1714 und der Traum vom Frieden (Oberrheinische Studien Bd 39) Ostfildern Thorbecke 2019 222 S Abb EUR 34ndash 978-3-7995-7836-3

Der vorliegende Sammelband umfasst zwoumllf Beitraumlge mehrerer Tagungen aus Anlass des Friedensschlusses vor 300 Jahren Der Friede von Rastatt war keiner der groszligen Friedensschluumlsse die das Europa der Neuzeit praumlgten Er bestand nur in der Annahme

673Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 673

Wolfgang BREUL Kurt ANDERMANN (Hg) Ritterschaft und Reformation (Geschichtliche Landeskunde Bd 75) Stuttgart Steiner 2019 374 S geb EUR 63ndash ISBN 978-3-515-12258-0

Die Erforschung der Geschichte und Lebenswelt von Ritterschaft und Niederadel im Spaumltmittelalter und der Fruumlhen Neuzeit hat in den letzten Jahren groszlige Fortschritte gemacht dies hat auch der lange von der Perspektive der groumlszligeren Territorien und der (Reichs-)Staumldte dominerten Reformationsgeschichtsschreibung neue Impulse gegeben Das Land Rheinland-Pfalz hat dies aufgegriffen indem es im Rahmen der Reforma- tionsdekade das Schicksal des hier besonders populaumlren bdquoletzten Rittersldquo Franz von Sickingen zum Gegenstand einer Sonderausstellung machte die unter dem Titel bdquoRitter Tod Teufel Franz von Sickingen und die Reformationldquo von Mai bis Oktober 2015 im Landesmuseum Mainz gezeigt wurde In einer vorgeschalteten Tagung bdquoRitterschaft und Reformationldquo vom 19 bis 21 Maumlrz 2015 wurde die Perspektive gegenuumlber der im Wesentlichen auf die Landschaften des noumlrdlichen Oberrheins bezogenen Ausstellungs-konzeption erweitert und bdquoin vergleichend landesgeschichtlicher Manier nach der Be-deutung des regionalen Adels fuumlr die Durchsetzung der Reformation in verschiedenen Landschaften des roumlmisch-deutschen Reiches sowie in ausgewaumlhlten europaumlischen Regionen von Daumlnemark uumlber Boumlhmen bis nach Ungarn sowie von Polen bis in den West-alpenraum und nach Frankreichldquo (S 7) gefragt Der vorliegende 18 durchweg fundierte und gut redigierte Aufsaumltze umfassende und durch ein Personen- und Ortsregister (S 355ndash374) erschlossene Band dokumentiert auf hohem wissenschaftlichem Niveau allerdings unter Verzicht auf Abbildungen den reichen Ertrag dieser Tagung Er ist in zwei Themenbereiche gegliedert von denen der eine der Situation der Ritterschaft im Reich am Uumlbergang vom Mittelalter zur Fruumlhen Neuzeit und ihrer Beteiligung an der Re-formation der andere dem Komplex bdquoAdel und Reformationldquo im europaumlischen Kontext gewidmet ist

In den Eingangsbeitraumlgen werden Grundvoraussetzungen und Erscheinungsformen ritteradeliger Herrschaft um 1500 beleuchtet Am Beispiel der Familien Landschad von Steinach und von Sickingen verdeutlicht Stefan KRIEB dass sich in der Memorialpraxis des Niederadels Grablege und Totengedenken zunehmend an einem Ort zentralisierten und die Grablegen protestantisch gewordener Niederadeliger mit dem Funktionsverlust als Staumltten liturgischen Gedenkens zu bdquoMedien der Verbreitung von Heilsgewissheit und zugleich des weltlichen Ruhms der Verstorbenenldquo (S 26) wurden Joachim SCHNEIDER entwickelt eine Typologie der Buumlndnisse in der suumldwestdeutschen Ritterschaft (Gesell-schaften ndash Einungen ndash Ganerbschaften ndash Netzwerke) und geht dabei besonders auf die Ganerbschaften Steinkallenfels und Drachenfels an denen Franz von Sickingen beteiligt war und die unter seiner Fuumlhrung gebildete Landauer Einung von 1522 ein Christine REINLE zeigt auf dass trotz des auf dem Wormser Reichstag von 1495 erlassenen bdquoEwigen Landfriedensldquo das Fehdewesen weiter bluumlhte aber einem Wandel unterworfen war fuumlr den der in der Person Sickingens fassbare bdquoTyp des Fehdeunternehmersldquo (S 80) stand Matthias SCHNETTGER lenkt den Blick auf die Stellung der Ritter zum Roumlmischen Koumlnig bzw Kaiser als Grundlage der Herausbildung der fruumlhneuzeitlichen Reichsritterschaft um anschlieszligend deren Organisation ihr Verhaumlltnis zu den staumlndischen Reichsinstitutio-nen und den expandierenden Territorialstaaten naumlher zu untersuchen Anhand des Brief-wechsels und der Tischreden Martin Luthers zeigt Matthieu ARNOLD auf dass dieser in den entscheidenden Jahren 1520 und 1521 in seinem Kampf gegen das Papsttum auf den Ruumlckhalt und Beistand der Reichsritter von denen neben Sickingen Hartmut(h) von

664 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 664

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

am Krieg (1633ndash1636) Richelieus offenem Kriegseintritt 163536 und der mit den Aktivitaumlten Bernhards von Weimar einsetzenden Endphase (1637ndash1648)

Ungeachtet dessen dass das Elsass seit dem Humanismus ein eigenes Regional- bewusstsein entwickelt hatte blieb es politisch ein im Grunde zerrissener Raum ganz unterschiedlicher Herrschaftsintensivitaumlt zu schweigen vom konfessionellen Zerwuumlrf-nisfaktor Klar wird dass das franzoumlsische Interesse daran in erster Linie einem Durch-brechen der Verbindungslinien der spanischen Weltmacht zwischen Oberitalien und den Niederlanden galt jedenfalls nicht dem weit gesteckten Ziel die Rheingrenze des alten Galliens wieder zu etablieren ndash dies wurde schlieszliglich nur ex eventu als weiterer Effekt thematisiert Die zugrundeliegende geopolitische Konstellation laumlsst sich schon daran ablesen dass Spanien erst 1659 im Pyrenaumlenfrieden auf die ihm 1617 im Ontildeate-Geheim-vertrag mit dem Wiener Hof gemachten Zusagen das Elsass als Verbindungsglied zwi-schen Luxemburg und der Freigrafschaft Burgund seinem Machtbereich einzuverleiben verzichtete (S 29) Dass die sbquoprotection royalelsquo (z B gegenuumlber Reichsstaumldten wie Hagenau S 82) nicht (nur) als Handlungsmuster vonseiten Frankreichs zu begreifen ist wird ersichtlich an der Bitte des Trierer Erzbischofs und Speyer Bischofs Philipp Christoph von Soumltern sein Land (gegen die protestantischen Maumlchte) in Schutz zu nehmen (S 94) worauf die erste franzoumlsische Besetzung von Philippsburg im Herbst 1634 zuruumlckgeht (S 103) Was sich schon bei dem kurzen Territorialstaatsbildungsver-such Bernhards von Weimar (S 116) abzeichnete wurde bei den Friedensverhandlungen (Kap 5 1644ndash1648) manifest als Frankreich dessen Inanspruchnahme aller zuvor habs-burgischen Rechts- und Herrschaftstitel nun auf sich uumlbertragen konnte Die darin ent-haltenen sogar ins Spaumltmittelalter zuruumlckweisenden Unklarheiten ndash erwaumlhnt sei nur die Frage ob der Hagenauer Reichslandvogt uumlber die Staumldte der Dekapolis zu gebieten habe oder ob diese reichsunmittelbar seien (S 173 249) ndash wurden offenbar in den Verhandlungen bewusst in Kauf genommen und im weiteren Verlauf eben durch Frank-reich als der staumlrkeren Macht in seinem Sinn geregelt Eine Zwischenbilanz zieht Kap 6 (1648ndash1672) indem es den vorlaumlufigen staatsrechtlichen Zustand naumlmlich auf den drei Ebenen des Grundbesitzes der Territorialherrschaft und der Souveraumlnitaumlt schildert Nach der Schwaumlchephase der sbquoFrondelsquo war 1654 die Intendanz wahrgenommen durch (den juumlngeren) Colbert (de Croisy S 223) und 1658 der Conseil Souverain (S 205 237) 1674 in Breisach ab 1698 in Colmar gegruumlndet worden beides Instrumente der recht- lichen Anverwandlung an die franzoumlsischen Verfassungsstrukturen Der Hollaumlndische Krieg 1672ndash1679 (Kap 7) bot nebenbei Gelegenheit schwebende Streitfragen gewaltsam zu entscheiden brachte aber vor allem dem Land so groszligen Schaden ndash darunter 1677 die Zerstoumlrung Hagenaus und Weiszligenburgs um sie nicht in die Hand der Kaiserlichen fallen zu lassen (S 326) ndash dass er mit dem 30-jaumlhrigen anderwaumlrts im Reich zu vergleichen sei Auch dank Turennes militaumlrischem Talent (letzte Karte) war Frankreich beim Frie-densschluss 1679 in Nimwegen de facto Herr des Elsass formal ausgenommen nur die Reichsstadt Straszligburg die aber ihre Neutralitaumlt nicht strikt gewahrt hatte Die Erfolgs- bilanz zieht Kap 8 (167980) durch die Beschreibung der Durchsetzung der Souveraumlnitaumlt gegenuumlber der Dekapolis und mittels der Reunionen gegenuumlber den Territorialherren dem unterelsaumlssischen Niederadel und vor allem dem Fuumlrstbistum und Domkapitel Straszlig-burg Auswaumlrts sitzenden deutschen Fuumlrsten blieb fortan nur das dominium utile an ihren elsaumlssischen Besitzungen Das Wesen der Reunionen wird deutlich wenn z B der Mark-graf von Baden wegen der Herrschaft Graumlfenstein vor die Breisacher Reunionskammer zitiert (S 360) oder das wuumlrttembergische Moumlmpelgard als Teil Burgunds reklamiert

672 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 672

Cronberg hervorgehoben wird zaumlhlen konnte Der Letztgenannte der mit seinen refor-matorischen Flugschriften Luthers Lehre im Zeitraum von 1520 bis 1525 den Weg ebnete steht auch im Mittelpunkt des uumlbernaumlchsten Beitrags von Mathias MUumlLLER Der Mit- herausgeber des Bandes Wolfgang BREUL stellt zuvor die Person Franzrsquo von Sickingen und seine Haltung zur Reformation in den Mittelpunkt und kommt dabei zu dem Ergeb-nis dass es Ansaumltze zu einer fruumlhen aber auch fruumlh gescheiterten ritterschaftlichen Re-formation auch auf der Ebernburg gegeben habe diese aber von einer organisierten bdquoAdelsreformationldquo oder gar einem bdquoAufstand der Reichsritterldquo weit entfernt waren Den Vergleich mit anderen bdquoAdelslandschaftenldquo eroumlffnet Kurt ANDERMANN ebenfalls Mit- herausgeber mit der urspruumlnglichen Heimat der Familie von Sickingen dem rechtsrhei-nischen Kraichgau der bdquounter dem Einfluss seiner Ritterschaft zu einer in groszligen Teilen evangelischen Landschaftldquo (S 161) wurde Am Beispiel der erhalten gebliebenen Schrif-ten von Matthias Wurm und Eckhard zum Druumlbel zeichnet Marc LIENHARD den Weg dieser beiden Vertreter der zahlenmaumlszligig bedeutsamen elsaumlssischen Ritterschaft zur Re-formation nach Berthold JAumlGER zeigt dass sich die Ritterschaft in der Rhoumln unter den Territorialherren dieses Gebiets ndash in erster Linie den Kloumlstern Fulda und Hersfeld dem Bistum Wuumlrzburg und den Grafen von Henneberg ndash eine starke Stellung erlangen und behaupten und beispielsweise im fuldischen Territorium die katholisch gebliebene Landesherrschaft die Zuwendung der dort landsaumlssigen bdquoBuchischen Ritterschaftldquo zur Reformation nicht verhindern konnte Das fuumlr die allgemeine Reformationsgeschichte so bedeutsame Ernestinische Kurfuumlrstentum Sachsen war wie Uwe SCHIRMER darlegt von einem dichten Netz an niederadeligen Grund- und Gerichtsherrschaften uumlberzogen deren Inhaber als Patronatsherren die ersten evangelischen Prediger foumlrderten und schuumltz-ten und mit ihren bdquoBeschwerde-Artikelnldquo auf dem Altenburger Landtag (Staumlndeversamm-lung) vom Mai 1523 den Anstoszlig zu kirchenrechtlichen und letztlich reformatorischen Veraumlnderungen im Herzogtum gaben

In den nachfolgenden Beitraumlgen wird die Perspektive auf den Niederadel in euro- paumlischen Laumlndern teils inner- groumlszligtenteils aber auszligerhalb des Reichsgebiets geweitet Mikkel Leth JESPERSEN zeigt auf dass durch die Umwaumllzungen der Reformationszeit mit dem Adel in Daumlnemark und der Ritterschaft in Schleswig-Holstein zwei soziale Gruppen entstanden die fuumlr ihre Unterstuumltzung der fuumlrstlichen Interessen ndash auch in der Glaubens-frage ndash mit umfangreichen Privilegien belohnt wurden Im Mittelpunkt des Beitrags von Maciej PTASZYNSKI steht seine Einschaumltzung dass die Warschauer Konfoumlderation des polnischen Adels von 1573 die die freie Religionsausuumlbung garantierte und den Pro- testanten Schutz vor Verfolgung sicherte bdquoweder ein Toleranzedikt noch eine Wahlkapi-tulation oder ein Religionsfriedenldquo (S 269) sondern ein temporaumlres Abkommen der Staumlnde war das aber spaumlter von den Koumlnigen immer wieder bestaumltigt die Gestalt eines Adelsprivilegs annahm Auch in den boumlhmischen Laumlndern wo die reformatorische Be-wegung aufgrund der Nachwirkungen der hussitischen Revolution des 15 Jahrhunderts besondere Zuumlge aufwies konnte wie Vaacuteclav BỦŽEK darlegt der Niederadel dank seines Patronatsrechts die neue Lehre vielfach in seinen Herrschaften durchsetzen Im 16 Jahr-hundert erlebte der Protestantismus so Andraacutes KORAacuteNYI in seinem Beitrag zuerst in sei-ner lutherischen ab den 1560er Jahren reformierten und antitrinitarischen Ausformung eine Bluumltezeit in Ungarn wobei die Adeligen unter rasch wechselnden Rahmenbedin-gungen eine herausragende Rolle spielten Arndt SCHREIBER kann nachweisen dass ein selbstbewusster Adel in den inneroumlsterreichischen Erblanden unter Ausnutzung der Tuumlr-kenfurcht und der chronischen Finanzschwaumlche der Habsburger beachtliche freilich

665Fruumlhe Neuzeit

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Waumlhrend sich die Druckorte der evangelischen Predigten uumlber das ganze Reich verteilen lassen sich die katholischen Werke eindeutig im Suumldosten also in dem Raum der houmlchs-ten militaumlrischen Bedrohung lokalisieren

An dieser Stelle kann nicht weiter auf die Analyse einzelner Predigten unterlegt mit zahlreichen aussagekraumlftigen Zitaten eingegangen werden Insgesamt macht die Arbeit uumlberzeugend deutlich wie katholische und lutheranische (kaum reformierte) Prediger die Bedrohung durch das Osmanische Reich als bdquoKampf gegen den Erbfeind der Chris-tenheitldquo deuteten mit theologischen Interpretamenten unterlegten in die jeweilige bdquopraxis pietatisldquo einordneten und somit zum Bestandteil der je eigenen Konfessionskultur machten Dass fuumlr den katholischen Bereich zur Deutung des Gesamtphaumlnomens in besonderer Weise bdquoperformativeldquo Elemente wie Prozessionen oder Wallfahrten (zum Bei-spiel nach dem Sieg in der Seeschlacht von Lepanto 1571) zur Deutung heranzuziehen waumlren versteht sich von selbst Aber dies ist nicht Thema dieser Arbeit

Die sorgfaumlltig redigierte Arbeit schlieszligt mit nuumltzlichen Kurzbiografien der Prediger Orts- Personen- und Sachregister sowie einem Verzeichnis der Bibelstellen

Wolfgang Zimmermann

Jean-Pierre KINTZ La Conquecircte de lrsquoAlsace Le triomphe de Louis XIV diplomate et

guerrier Strasbourg La Nueacutee Bleue Editions du Quotidien 2017 607 S Abb Kt geb EUR 29ndash ISBN 978-2-8099-1509-9

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eines der beiden Werke (vgl ZGO 167 2019 S 442) des renommierten elsaumlssischen Neuzeithistorikers (1932ndash2018) die als sein Vermaumlchtnis gelten koumlnnen Kintz begreift und beschreibt die schrittweise Einverleibung des Elsass und zumal Straszligburgs zwischen 1633 und 1697 in die franzoumlsische Monarchie vor allem als Eroberung durch Ludwig XIV den er im Titel als Diplomat und Krieger bezeichnet wobei freilich die staatsrechtliche Problematik festzumachen am von Ludwig XIV schlieszliglich machtmaumlszligig durchgesetzten Prinzip der souveraineteacute etwas zu kurz kommt Aus umfassender Kenntnis der Verfassungsstrukturen des Koumlnigreichs Frankreich und des Alten Reichs schoumlpfend gelang Kintz eine eindrucksvoll abgewogene Darstel-lung jenes Prozesses dessentwegen die beiden spaumlteren Nationalstaaten dreimal Krieg fuumlhren sollten Der unbestechlich aus den Quellen ndash viele sind in petit in den Text einge-streut ndash geschoumlpften Schilderung der Tatsachen entspricht eine groszlige Vorsicht bei deren Beurteilung die lieber ein Fragezeichen setzt statt mutmaszligliche Beweggruumlnde zu nennen So koumlnnen im Geschichtsbild beider Seiten immer noch bestehende Vorurteile entzerrt und gemildert werden Uumlber der stupenden Kenntnis der Einzelheiten bis hinab in die sozialen und konfessionellen Verhaumlltnisse kleiner Doumlrfer geht der Blick fuumlrs groszlige Ganze aber auch auf die historischen Nachbarlandschaften nie verloren vielmehr liegt ein sehr wertvolles Stuumlck eigentlich europaumlischer Landesgeschichte vor Dass auf einen Anmer-kungsapparat verzichtet wurde versteht sich stattdessen kann auf eine umfangreiche (S 590ndash606) Bibliographie raisonneacutee im Anhang zuruumlckgegriffen werden Dort finden sich auszligerdem Angaben zu Waumlhrungen Maszligen Loumlhnen und Entfernungen 15 wertvolle Karten (nach S 576) fristen mangels Erwaumlhnung im Inhaltsverzeichnis leider ein Schattendasein Ein Prolog und ein Schluss lassen den Reichtum des in zwoumllf Kapiteln Dargestellten wenigstens erahnen Die ersten vier davon sind dem Dreiszligigjaumlhrigen Krieg ndash eigentlich seiner Schilderung fuumlr franzoumlsische Leser ndash (bdquo194 souveraineteacutesldquo S 11) gewidmet naumlmlich seinen Anfaumlngen (bis 1633) der verdeckten Mitwirkung Frankreichs

671Fruumlhe Neuzeit

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 671

wegen der Rekatholisierung ab 1620 nicht dauerhafte konfessionspolitische Erfolge erringen konnte indem ihm 156872 fuumlr seine Familien die freie Entscheidung zwischen Luthertum und Katholizismus und das bdquoius reformandildquo uumlber seine Untertanen zugestan-den wurden Die Niederlassungen der Waldenser im Piemont in der Provence (im Luberon) und in Kalabrien sahen sich so das Fazit von Lothar VOGEL um die Mitte des 16 Jahrhunderts dem normierenden Zugriff der sich konsolidierenden Landesherrschaft ausgesetzt Der renommierte amerikanische Reformationshistoriker Philip BENEDICT wid-met sich im abschlieszligenden englischsprachigen Beitrag der Situation in Frankreich und kann anhand uumlberzeugender Beispiele aus dem lokalen und regionalen Bereich nachwei-sen dass der zahlenmaumlszligig bedeutsame ca 1 bis 2 der Gesamtbevoumllkerung umfassende () Niederadel eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung der hier calvinistisch-presbyterial gepraumlgten reformatorischen Bewegung spielte

Insgesamt gesehen ergibt die vorliegende Bestandsaufnahme der Situation des Nie-deradels im Reformationszeitalter ein vielschichtiges facettenreiches Bild und bietet vielfaumlltige Ansatzpunkte zu weiterfuumlhrenden Arbeiten Den Initiatoren der obengenannten Tagung und Herausgebern des vorliegenden Bandes ist dafuumlr zu danken dass sie die Ge-legenheit des rheinland-pfaumllzischen Sickingen-Gedenkens im Rahmen der Reforma- tionsdekade genutzt haben um die Adels- wie Reformationsforschung fuumlr den engeren oberrheinischen Bereich weiterzubringen ihr aber gleichzeitig eine vergleichende euro-paumlische Dimension zu erschlieszligen

Paul Warmbrunn

Olga WECKENBROCK (Hg) Ritterschaft und Reformation Der niedere Adel im Mittel-europa des 16 und 17 Jahrhunderts (Refo500 Academic Studies (R5AS) Bd 48) Goumlttingen Vandenhoeck amp Ruprecht 2018 248 S geb EUR 90ndash ISBN 978-3-525-57067-8

In Anbetracht des Aufschwungs den in den letzten drei Jahrzehnten die Adelsfor-schung genommen hat ist es nur folgerichtig dass im Kontext des Reformationsjubi- laumlums von 2017 auch der Ritteradel und seine Haltung gegenuumlber dem von Wittenberg ausgehenden das ganze deutsche Reich und weite Teile Europas erschuumltternden Gesche-hen mit Tagungen Ausstellungen und mancherlei Publikationen thematisiert wurde Der hier anzuzeigende Band ist aus einem im Herbst 2014 an der Universitaumlt Osnabruumlck ver-anstalteten Workshop bdquoReformation und Politikldquo hervorgegangen dessen Ziel es war bdquodie politische Wirksamkeit der fruumlhneuzeitlichen Ritterschaften des niederen ndash reichs-unmittelbaren wie auch landsaumlssigen ndash Adels zu untersuchen und aus der Perspektive dieser sozialen Gruppe das Paradigma der Fuumlrstenreformationlsquo kritisch zu beleuchtenldquo sowie erkannte bdquoForschungsluumlcken in den Blick nehmend [] die Forschungen zur Re-formationsgeschichte mit denen der Staumlnde- und Adelsgeschichte zusammenzufuumlhrenldquo Ob freilich wie die Herausgeberin unterstellt in puncto des Engagements fuumlr die Refor-mation tatsaumlchlich von einer traditionellen Uumlberbewertung der Fuumlrsten gegenuumlber dem (Ritter-) Adel die Rede sein kann erscheint zumindest aus suumldwestdeutscher Perspektive zweifelhaft weiszlig man doch in den Landschaften um den noumlrdlichen Oberrhein schon laumlnger um die reformationsgeschichtliche Bedeutung der zu Beginn des 16 Jahrhunderts in ihrer politischen Autonomie bedraumlngten Ritter Von insgesamt zehn hier praumlsentierten Beitraumlgen (einschlieszliglich der Einfuumlhrung) sind sieben regional bezogen werfen den Blick auf Suumldwestdeutschland (Michael BUumlHLER) Thuumlringen (Martin SLADECZEK) Osnabruumlck (Olga WECKENBROCK) Luumlneburg (Wencke HINZ) Schleswig-Holstein (Inken SCHMIDT-

666 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 666

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

VOGES) Boumlhmen und Maumlhren (Josef HRIDLIČKA) sowie Franken (Andreas FLURSCHUumlTZ DA CRUZ) Zwar liegen alle diese Laumlnder und Landschaften in Mitteleuropa aber ob damit auch schon die im Untertitel des Buchs geweckte Erwartung eines mitteleuropaumlischen Horizonts erfuumlllt wird erscheint gemessen an dem was man sonst noch zu Mitteleuropa rechnen moumlchte hier indes nicht einmal im Ansatz Beruumlcksichtigung findet doch eher zweifelhaft Unter dem Titel bdquoAdelsgeschichte oder Reformationsgeschichteldquo plaumldiert Alexander JENDORFF einleitend bdquofuumlr einen Perspektivenwechsel in der Bewertung nie-deradeliger Religionshaltungen im Reformationszeitalterldquo in dem Sinn dass das Interesse des Adels an den von Martin Luther vertretenen Lehren nicht bdquoreinldquo religioumls begruumlndet sondern ndash selbstverstaumlndlich ndash vielfach politisch unterlegt oder uumlberlagert war Martin H JUNG handelt von Luthers Aufruf An den christlichen Adellsquo (1520) und seinen Folgen der zentralen theologischen Kampfschrift zur Entmachtung von Papst und Bischoumlfen Seiner abschlieszligenden Feststellung eine Monographie zum Thema Adel und Reformation sei ein Desiderat ist unbedingt beizupflichten Die nur begrenzte Erfuumlllung des in diesem Workshop-Band erhobenen hohen Anspruchs und die nicht geringe qualitative Hetero-genitaumlt der hier versammelten Beitraumlge lassen eine kompetente Zusammenfassung des deutschland- und mitteleuropaweit einschlaumlgig verfuumlgbaren Wissens nur umso wuumln-schenswerter erscheinen Freilich wird man dabei sehr genau darauf achten muumlssen dass es sich bei der bdquoRitterschaftldquo weder im Reich und schon gar nicht daruumlber hinaus um eine einheitliche bdquosoziale Gruppeldquo handelte dass vielmehr Adel sich von Territorium zu Territorium und von Land zu Land in seiner von vielfaumlltigen Bedingungen abhaumlngigen Verfasstheit ganz unterschiedlich definiert(e) und deshalb eine vergleichende Synthese alles andere als leichtfallen duumlrfte

Das vorliegende Buch haumltte indes schon gewonnen wenn ihm ein sorgfaumlltiges Lektorat und eine ebensolche Redaktion zuteil geworden waumlren Bereits in der Einfuumlhrung aus der Feder der Herausgeberin stoumlren aumlrgerlich viele Oberflaumlchlichkeiten und Fehler bdquoder Ritterethosldquo bdquoim reformatorischen Gemengelageldquo Martina bdquoSchattkowskildquo statt Schatt-kowsky bdquoDie Idee fuumlr den Workshop deren Ergebnisse das Sammelband praumlsentiert []ldquo bdquo[] das ausgesprochen komplizierten politische und konfessionelle Vorgaben unterlagldquo bdquosetzt sich mit den Ritterschaften des Kraichgau und Ortenau [] ausein- anderldquo Schade um eine vertane Chance uumlberdies eine Zumutung angesichts des nicht eben geringen Preises

Kurt Andermann

Tilman G MORITZ Autobiographik als ritterschaftliche Selbstverstaumlndigung Ulrich von Hutten Goumltz von Berlichingen Sigmund von Herberstein (Formen der Erinnerung Bd 70) Goumlttingen Vandenhoeck amp Ruprecht 2019 266 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-8471-0975-4

Haumltte es noch des Beweises bedurft dass die Qualitaumlt einer Dissertation sich nicht nach ihrem Umfang bemisst waumlre er hier erbracht Die von Johannes Suumlszligmann in Pa-derborn betreute Arbeit ist ebenso klar strukturiert wie diszipliniert umsichtig und klug argumentierend durchgefuumlhrt was ndash wen mag es wundern ndash mit einem sehr hohen sprachlichen Niveau korrespondiert Anhand dreier exemplarisch ausgewaumlhlter autobio-graphischer Texte ritteradliger Provenienz verfolgt sie das Ziel diese bdquoals je indivi- duellen persoumlnlichen Zugriff auf Probleme und Herausforderungen von Adligkeitlsquoldquo zu interpretieren einer Adligkeit bdquodie so die Annahme von den Adligen stets aufs Neue erkaumlmpft und behauptet werden mussldquo Gegenstand der Untersuchung sind Ulrich von

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31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 667

hin untersucht Damaris Grimmsmann ergaumlnzt diese Fragestellung um die Frage wie die Konfessionskirchen diese Gefahr deuteten Papst Calixt III hatte bereits nach dem Fall von Konstantinopel das Laumluten des bdquoTuumlrkenglockeldquo eingefuumlhrt die taumlglich zum Gebet aufrufen sollte und noch heute in veraumlnderter Form als 12-Uhr-(Angelus)-Laumluten gebraumluchlich ist Diese Praxis wurde auch in und nach der Reformation beibehalten in den Ordnungen der jungen evangelischen Landeskirchen aber durch weitere liturgische Formen erweitert Die inzwischen neu edierten Texte in den bdquoEvangelischen Kirchen-ordnungenldquo bieten hier reiches Material auch fuumlr die Kurpfalz oder Hohenlohe Die liturgischen Formen der Katholiken bleiben daneben in der Darstellung etwas blass Die Hausandacht wird zu Recht von der Autorin als protestantisches Proprium hervor-gehoben Gedruckte thematische Gebetbuumlcher standen dazu in vielfaumlltiger Weise zur Verfuumlgung

Auf der Basis der gedruckten Tuumlrkenpredigten kann Grimmsmann nachzeichnen dass sich evangelische Theologen ndash im Gegensatz zu katholischen Predigern ndash einen Grund-bestand an Wissen uumlber die bdquoTuumlrkenldquo und den Islam aneigneten Die Kommentare zu den biblischen Buumlchern Reiseberichte aber auch die ersten Uumlbersetzungen des Koran ins Lateinische bildeten hier neben Kosmographien eine wichtige Grundlage (Kapitel 2 S 78ndash119) Letztlich ging es den evangelischen Autoren jedoch immer darum den Glaumlu-bigen die theologische Grunddeutung nahezubringen Die bdquoTuumlrkengefahrldquo war durch den Zorn Gottes uumlber das unchristliche Leben der Menschen ausgeloumlst worden auf den die Glaumlubigen durch Buszlige und Gebet zu antworten haumltten

Fuumlr die lutheranischen Prediger blieben auf lange Zeit die Schriften des Reformators bestimmend In seiner bdquoHeerpredigt wider die Tuumlrkenldquo (1529) hatte Luther die alttesta-mentarische Weissagung des Fuumlrsten Gog aus dem Lande Magog (Ez 38 f) mit klar apo-kalyptischer Zielrichtung auf die Gefahr durch die Tuumlrken ausgelegt Der uumlberwaumlltigende Teil der Prediger waumlhlte ebenfalls diese Schriftstelle als Grundlage fuumlr ihre Auslegung Dies war deshalb moumlglich weil Tuumlrkenpredigten zumeist auszligerhalb des Perikopenzwangs in speziellen Gottesdiensten gehalten wurden Zielgruppe der gedruckten Predigten waren nicht nur Pfarrer (als Vorlage fuumlr deren Verkuumlndigung) sondern auch Glaumlubige Wie ins-gesamt bei den gedruckten evangelischen Predigten finden sich nicht nur Universitaumlts-theologen sondern auch Pfarrer unter den Autoren Theologisch deuteten die Prediger ndash ganz in der Tradition der evangelischen Buszligtheologie ndash die Tuumlrken als Geiszligel Gottes fuumlr das suumlndhafte Leben der Glaumlubigen Die apokalyptische Grundausrichtung der Pre-digten korrespondierte mit konfessioneller Polemik Die Papstkirche wird gern mit dem bdquoErbfeind der Christenheitldquo in eins gesetzt Katholiken somit bdquotuumlrkisiertldquo

Katholische Predigten gegen den bdquoErbfeindldquo die von prominenten Theologen wie dem Franziskaner und Innsbrucker Hofprediger Friedrich NasNausea dem Ingolstaumldter Pro-fessor Johannes Eck oder dem Konstanzer Generalvikar und Wiener Bischof Johann Fabri gehalten und in Druck gegeben wurden bevorzugten einen anderen Text aus dem Alten Testament (wenn sie denn uumlberhaupt in ihren Predigten von einer Bibelstelle ausgingen) Im zweiten Buch der Chroniken (Kapitel 32 7 f) wird von der Belagerung Jerusalems durch den assyrischen Koumlnig Sanherib berichtet damit ist bereits der Grundtenor der Predigten vorgegeben bdquoDer Krieg mit den Tuumlrken war zwar eine Gottesstrafe er musste jedoch in der Welt ausgefochten werdenldquo (S 248) ohne jedoch mit dem theologischen Pathos eines bdquoheiligen Kriegesldquo (bdquobellum sacrumldquo) apostrophiert zu werden Endzeitlich wurde die Tuumlrkengefahr im Gegensatz zu den lutheranischen Predigten nicht gedeutet Der Appell an die Einheit der Christenheit war ein deutlicher Stoszlig gegen die Reformation

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Huttens (dagger1523) Epistolalsquo Goumltz von Berlichingens (dagger1562) Lebensbeschreibung und Sigmund von Herbersteins (dagger1566) Raittung und antzaigenlsquo Alle drei Protagonisten zwei von ihnen in Franken der dritte im Suumldosten Oumlsterreichs beheimatet gehoumlrten der-selben zwischen 1480 und 1490 geborenen Alterskohorte an und waren mithin Zeit- genossen eines sich seit der Wende des 15 Jahrhunderts vollziehenden sowohl das Selbstverstaumlndnis des Ritteradels als auch seine politische Existenz massiv bedraumlngenden Verfassungswandels Die Herangehensweise folgt in allen drei Faumlllen demselben Muster Zuerst wird nach dem Entstehungsanlass gefragt dann nach dem bdquoMaterialldquo (Materialitaumlt Medialitaumlt formale Zuschreibungen) beziehungsweise der Uumlberlieferung nach dem Gegenstand der Darstellung nach ihrer Perspektive und schlieszliglich nach ihrer Pragmatik respektive ihrem Zweck Man ist fasziniert wie der Autor es versteht die derart gewon-nenen Erkenntnisse miteinander zu verweben und so zu mitunter verbluumlffenden Einsich-ten zu gelangen

Die mit ihrer Passage uumlber das Leben auf den Burgen des Adels vielzitierte Epistolalsquo Ulrich von Huttens eines vergleichsweise noch jungen Mannes decouvriert Moritz als bdquorhetorische Uumlbungldquo im Stil des Humanismus als Ausdruck einer bdquoLebenskriseldquo und bdquoBewaumlhrungsprobeldquo erwachsen aus dem Beduumlrfnis sowohl vor der gelehrten Welt als auch vor dem eigenen Stand zu renommieren und sich da wie dort zu positionieren bdquoDer Korrespondent Willibald Pirckheimer ist deshalb auch kaum als einziger oder auch nur vorrangiger Adressat anzusehen sondern fungiert eher als eine Art Resonanzkoumlrperldquo Etwas anders liegen die Dinge im Fall Sigmund von Herbersteins und seiner Raittung und antzaigenlsquo Hier naumlmlich bilanziert ein alter gebildeter und weitgereister Mann der von einem Standesgenossen einst als Schwaumltzer und bdquoPolsterritterldquo verhoumlhnt wurde was er in einem halben Jahrhundert erlebt und geleistet hat wie er sich im Fuumlrstendienst und in vielerlei anderen Situationen bewaumlhrte Er vergewissert sich seiner selbst in der Ab-sicht die Leser aus seiner Nachkommenschaft und der herbersteinischen Familie ins- gesamt zu belehren ihnen Orientierung fuumlr ihr eigenes Handeln zu geben bdquoIm Grunde arbeitet der Autor an der eigenen Unsterblichkeitldquo

Mit besonderem Interesse las ich aufgrund eigener langjaumlhriger Beschaumlftigung die Aus-fuumlhrungen zum bdquoTatenberichtldquo Goumltz von Berlichingens Diesen haumllt Moritz aufgrund einer houmlchst subtilen Analyse des Texts und seiner Uumlberlieferung nicht wie bislang stets angenommen fuumlr ein von Goumltz zu seinen Lebzeiten selbst diktiertes Werk Vielmehr kommt er zu dem sehr uumlberzeugenden Schluss es handle sich um ein erst zwischen 1562 und 1567 also unmittelbar nach Goumltzens Tod entstandenes bdquoMedium politischer Posi-tionierungldquo das wohl auf einer von Goumltz selbst hinterlassenen Vorlage beruht dann aber von einem literarisch und rhetorisch gebildeten Autor nach allen Regeln der Kunst stili-sierend und verklaumlrend uumlberarbeitet wurde Die Adressaten der Schrift waumlren demnach ndash wie schon bisher erkannt ndash in einer bdquosuumldwestdeutsch elitaumlren Lesergemeinschaftldquo zu suchen genauer in der Kraichgauer und Odenwaumllder Ritterschaft sowie in den quasi- adligen Funktionseliten der freien Reichsstadt Heilbronn und die groszlige Zahl annaumlhernd zeitgenoumlssischer Abschriften zeugt davon dass die intendierte Wirkung auch tatsaumlchlich erreicht wurde Mag solche Erkenntnis auf den ersten Blick irritieren so macht sie auf den zweiten Blick das Werk und seine Hauptperson doch nur noch interessanter Wenn naumlmlich Goumltz sogleich nach seinem Tod als Projektionsflaumlche fuumlr ritterliche Tugenden und adliges Standesbewusstsein zu dienen vermochte muss er schon zu Lebzeiten unter den Zeitgenossen als Vorkaumlmpfer fuumlr die Belange des Ritteradels wahrgenommen worden sein und als solcher ein hohes Ansehen genossen haben Die Entstehung der Schrift geraumlt

668 Buchbesprechungen

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damit in den weiteren Kontext der Adelskrise der 1560er Jahre und der Grumbachlsquoschen Haumlndel Dabei dient die Lebensbeschreibung mit der Ruumlckbesinnung auf alte dem recht-schaffenen Goumltz zugeschriebene traditionell-ritterliche Tugenden die mit zeitgenoumlssi-scher fuumlrstlicher Machtpolitik und Verschlagenheit kontrastieren der reichsritterschaft- lichen Selbstvergewisserung Vermutlich spielten da im Hintergrund sogar eigene nega-tive Erfahrungen der Berlichingen in ihrer Herrschaft Hornberg mit denn in Neckarzim-mern befeuerte der unmittelbar benachbarte kurpfaumllzische Hegemon just um dieselbe Zeit Untertanenkonflikte um die auf der stolzen Burg uumlber dem Neckar gesessenen laumlstigen Reichsritter der pfaumllzischen Landesherrschaft zu unterwerfen

In allen drei Faumlllen entspringt die ritteradlige Autobiographik krisenhaften Konstella-tionen sei es persoumlnlicher sei es bdquopolitischerldquo Art sie erwaumlchst bdquonicht aus der Mitte der Ritterschaft sondern [] an ihren Raumlndernldquo denn bdquodie Pflicht sich zu erklaumlren liegt ganz bei den Auszligenseitern denen die an den Rand gedraumlngt sindldquo Und daraus wiederum ergibt sich die Frage inwieweit ritteradlige Autobiographen bdquouumlberhaupt als typischelsquo Vertreter ihres Standes anzusehen sindldquo Wer solche spannenden Fragen weiterverfolgen will findet im Anhang ein Verzeichnis von nicht weniger als 63 autobiographischen Tex-ten ritteradliger Herkunft vom ausgehenden 15 bis zum Ende des 16 Jahrhunderts samt dem Nachweis ihrer Editionen und Lagerorte in Archiven und Bibliotheken im ganzen deutschen Sprachraum und daruumlber hinaus Ein Register hat dieses Buch nicht braucht es auch nicht denn es will und kann nur Satz fuumlr Satz gelesen werden

Kurt Andermann

Damaris GRIMMSMANN Krieg mit dem Wort Tuumlrkenpredigten des 16 Jahrhunderts im Alten Reich (Arbeiten zur Kirchengeschichte Bd 131) Berlin Boston De Gruyter 2016 XII 317 S geb EUR 10995 ISBN 978-3-11-042785-1

Mit der Expansion des Osmanischen Reiches nach Suumldosteuropa breitete sich seit dem Spaumltmittelalter die bdquoTuumlrkenfurchtldquo im Heiligen Roumlmischen Reich aus Die Einnahme von Konstantinopel (1453) die traumatische Niederlage der Ungarn in der Schlacht von Mohaacutecs (1526) die erste Belagerung Wiens (1529) oder der Fall von Ofen (1541) wurden publizistisch schnell verbreitet aber auch theologisch reflektiert Dem Medium der Pre-digt kam dabei im Zeitalter von Reformation und beginnender Konfessionalisierung eine besondere Bedeutung zu

In der vorliegenden Arbeit einer in Goumlttingen bei dem Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann 2014 vorgelegten theologischen Dissertation geht Damaris Grimmsmann der Frage nach in welcher Weise Theologen aller Konfessionen im Medium der Predigt die Bedrohung durch das Osmanische Reich die bdquoTuumlrkengefahrldquo aufgriffen mit welchen theologischen Erklaumlrungsmustern sie das Phaumlnomen zu deuten versuchten und welche Handlungsanweisungen fuumlr die Glaumlubigen sie daraus ableiteten Zeitlich setzt die Unter-suchung um 1526 ein als sich Martin Luther und Johannes Brenz erstmals dem Thema widmeten Das Ende des bdquolangen Tuumlrkenkriegsldquo 1606 bildet den Schlusspunkt wohl weniger aus inhaltlichen Gruumlnden sondern eher der Arbeitsoumlkonomie geschuldet erreichte doch das Genre der Tuumlrkenpredigt in der zweiten Belagerung Wiens 1683 seinen barocken Houmlhepunkt

Die Bedrohung des Heiligen Roumlmischen Reichs durch die Osmanen war staumlndig Thema auf den Reichstagen des 16 Jahrhunderts (Kapitel 1 S 22ndash77) Dies wurde bereits von Winfried Schulze in seiner grundlegenden Arbeit bdquoReich und Tuumlrkengefahr im spaumlten 16 Jahrhundertldquo (1978) umfassend dargestellt und auf seine politischen Implikationen

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damit in den weiteren Kontext der Adelskrise der 1560er Jahre und der Grumbachlsquoschen Haumlndel Dabei dient die Lebensbeschreibung mit der Ruumlckbesinnung auf alte dem recht-schaffenen Goumltz zugeschriebene traditionell-ritterliche Tugenden die mit zeitgenoumlssi-scher fuumlrstlicher Machtpolitik und Verschlagenheit kontrastieren der reichsritterschaft- lichen Selbstvergewisserung Vermutlich spielten da im Hintergrund sogar eigene nega-tive Erfahrungen der Berlichingen in ihrer Herrschaft Hornberg mit denn in Neckarzim-mern befeuerte der unmittelbar benachbarte kurpfaumllzische Hegemon just um dieselbe Zeit Untertanenkonflikte um die auf der stolzen Burg uumlber dem Neckar gesessenen laumlstigen Reichsritter der pfaumllzischen Landesherrschaft zu unterwerfen

In allen drei Faumlllen entspringt die ritteradlige Autobiographik krisenhaften Konstella-tionen sei es persoumlnlicher sei es bdquopolitischerldquo Art sie erwaumlchst bdquonicht aus der Mitte der Ritterschaft sondern [] an ihren Raumlndernldquo denn bdquodie Pflicht sich zu erklaumlren liegt ganz bei den Auszligenseitern denen die an den Rand gedraumlngt sindldquo Und daraus wiederum ergibt sich die Frage inwieweit ritteradlige Autobiographen bdquouumlberhaupt als typischelsquo Vertreter ihres Standes anzusehen sindldquo Wer solche spannenden Fragen weiterverfolgen will findet im Anhang ein Verzeichnis von nicht weniger als 63 autobiographischen Tex-ten ritteradliger Herkunft vom ausgehenden 15 bis zum Ende des 16 Jahrhunderts samt dem Nachweis ihrer Editionen und Lagerorte in Archiven und Bibliotheken im ganzen deutschen Sprachraum und daruumlber hinaus Ein Register hat dieses Buch nicht braucht es auch nicht denn es will und kann nur Satz fuumlr Satz gelesen werden

Kurt Andermann

Damaris GRIMMSMANN Krieg mit dem Wort Tuumlrkenpredigten des 16 Jahrhunderts im Alten Reich (Arbeiten zur Kirchengeschichte Bd 131) Berlin Boston De Gruyter 2016 XII 317 S geb EUR 10995 ISBN 978-3-11-042785-1

Mit der Expansion des Osmanischen Reiches nach Suumldosteuropa breitete sich seit dem Spaumltmittelalter die bdquoTuumlrkenfurchtldquo im Heiligen Roumlmischen Reich aus Die Einnahme von Konstantinopel (1453) die traumatische Niederlage der Ungarn in der Schlacht von Mohaacutecs (1526) die erste Belagerung Wiens (1529) oder der Fall von Ofen (1541) wurden publizistisch schnell verbreitet aber auch theologisch reflektiert Dem Medium der Pre-digt kam dabei im Zeitalter von Reformation und beginnender Konfessionalisierung eine besondere Bedeutung zu

In der vorliegenden Arbeit einer in Goumlttingen bei dem Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann 2014 vorgelegten theologischen Dissertation geht Damaris Grimmsmann der Frage nach in welcher Weise Theologen aller Konfessionen im Medium der Predigt die Bedrohung durch das Osmanische Reich die bdquoTuumlrkengefahrldquo aufgriffen mit welchen theologischen Erklaumlrungsmustern sie das Phaumlnomen zu deuten versuchten und welche Handlungsanweisungen fuumlr die Glaumlubigen sie daraus ableiteten Zeitlich setzt die Unter-suchung um 1526 ein als sich Martin Luther und Johannes Brenz erstmals dem Thema widmeten Das Ende des bdquolangen Tuumlrkenkriegsldquo 1606 bildet den Schlusspunkt wohl weniger aus inhaltlichen Gruumlnden sondern eher der Arbeitsoumlkonomie geschuldet erreichte doch das Genre der Tuumlrkenpredigt in der zweiten Belagerung Wiens 1683 seinen barocken Houmlhepunkt

Die Bedrohung des Heiligen Roumlmischen Reichs durch die Osmanen war staumlndig Thema auf den Reichstagen des 16 Jahrhunderts (Kapitel 1 S 22ndash77) Dies wurde bereits von Winfried Schulze in seiner grundlegenden Arbeit bdquoReich und Tuumlrkengefahr im spaumlten 16 Jahrhundertldquo (1978) umfassend dargestellt und auf seine politischen Implikationen

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hin untersucht Damaris Grimmsmann ergaumlnzt diese Fragestellung um die Frage wie die Konfessionskirchen diese Gefahr deuteten Papst Calixt III hatte bereits nach dem Fall von Konstantinopel das Laumluten des bdquoTuumlrkenglockeldquo eingefuumlhrt die taumlglich zum Gebet aufrufen sollte und noch heute in veraumlnderter Form als 12-Uhr-(Angelus)-Laumluten gebraumluchlich ist Diese Praxis wurde auch in und nach der Reformation beibehalten in den Ordnungen der jungen evangelischen Landeskirchen aber durch weitere liturgische Formen erweitert Die inzwischen neu edierten Texte in den bdquoEvangelischen Kirchen-ordnungenldquo bieten hier reiches Material auch fuumlr die Kurpfalz oder Hohenlohe Die liturgischen Formen der Katholiken bleiben daneben in der Darstellung etwas blass Die Hausandacht wird zu Recht von der Autorin als protestantisches Proprium hervor-gehoben Gedruckte thematische Gebetbuumlcher standen dazu in vielfaumlltiger Weise zur Verfuumlgung

Auf der Basis der gedruckten Tuumlrkenpredigten kann Grimmsmann nachzeichnen dass sich evangelische Theologen ndash im Gegensatz zu katholischen Predigern ndash einen Grund-bestand an Wissen uumlber die bdquoTuumlrkenldquo und den Islam aneigneten Die Kommentare zu den biblischen Buumlchern Reiseberichte aber auch die ersten Uumlbersetzungen des Koran ins Lateinische bildeten hier neben Kosmographien eine wichtige Grundlage (Kapitel 2 S 78ndash119) Letztlich ging es den evangelischen Autoren jedoch immer darum den Glaumlu-bigen die theologische Grunddeutung nahezubringen Die bdquoTuumlrkengefahrldquo war durch den Zorn Gottes uumlber das unchristliche Leben der Menschen ausgeloumlst worden auf den die Glaumlubigen durch Buszlige und Gebet zu antworten haumltten

Fuumlr die lutheranischen Prediger blieben auf lange Zeit die Schriften des Reformators bestimmend In seiner bdquoHeerpredigt wider die Tuumlrkenldquo (1529) hatte Luther die alttesta-mentarische Weissagung des Fuumlrsten Gog aus dem Lande Magog (Ez 38 f) mit klar apo-kalyptischer Zielrichtung auf die Gefahr durch die Tuumlrken ausgelegt Der uumlberwaumlltigende Teil der Prediger waumlhlte ebenfalls diese Schriftstelle als Grundlage fuumlr ihre Auslegung Dies war deshalb moumlglich weil Tuumlrkenpredigten zumeist auszligerhalb des Perikopenzwangs in speziellen Gottesdiensten gehalten wurden Zielgruppe der gedruckten Predigten waren nicht nur Pfarrer (als Vorlage fuumlr deren Verkuumlndigung) sondern auch Glaumlubige Wie ins-gesamt bei den gedruckten evangelischen Predigten finden sich nicht nur Universitaumlts-theologen sondern auch Pfarrer unter den Autoren Theologisch deuteten die Prediger ndash ganz in der Tradition der evangelischen Buszligtheologie ndash die Tuumlrken als Geiszligel Gottes fuumlr das suumlndhafte Leben der Glaumlubigen Die apokalyptische Grundausrichtung der Pre-digten korrespondierte mit konfessioneller Polemik Die Papstkirche wird gern mit dem bdquoErbfeind der Christenheitldquo in eins gesetzt Katholiken somit bdquotuumlrkisiertldquo

Katholische Predigten gegen den bdquoErbfeindldquo die von prominenten Theologen wie dem Franziskaner und Innsbrucker Hofprediger Friedrich NasNausea dem Ingolstaumldter Pro-fessor Johannes Eck oder dem Konstanzer Generalvikar und Wiener Bischof Johann Fabri gehalten und in Druck gegeben wurden bevorzugten einen anderen Text aus dem Alten Testament (wenn sie denn uumlberhaupt in ihren Predigten von einer Bibelstelle ausgingen) Im zweiten Buch der Chroniken (Kapitel 32 7 f) wird von der Belagerung Jerusalems durch den assyrischen Koumlnig Sanherib berichtet damit ist bereits der Grundtenor der Predigten vorgegeben bdquoDer Krieg mit den Tuumlrken war zwar eine Gottesstrafe er musste jedoch in der Welt ausgefochten werdenldquo (S 248) ohne jedoch mit dem theologischen Pathos eines bdquoheiligen Kriegesldquo (bdquobellum sacrumldquo) apostrophiert zu werden Endzeitlich wurde die Tuumlrkengefahr im Gegensatz zu den lutheranischen Predigten nicht gedeutet Der Appell an die Einheit der Christenheit war ein deutlicher Stoszlig gegen die Reformation

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Waumlhrend sich die Druckorte der evangelischen Predigten uumlber das ganze Reich verteilen lassen sich die katholischen Werke eindeutig im Suumldosten also in dem Raum der houmlchs-ten militaumlrischen Bedrohung lokalisieren

An dieser Stelle kann nicht weiter auf die Analyse einzelner Predigten unterlegt mit zahlreichen aussagekraumlftigen Zitaten eingegangen werden Insgesamt macht die Arbeit uumlberzeugend deutlich wie katholische und lutheranische (kaum reformierte) Prediger die Bedrohung durch das Osmanische Reich als bdquoKampf gegen den Erbfeind der Chris-tenheitldquo deuteten mit theologischen Interpretamenten unterlegten in die jeweilige bdquopraxis pietatisldquo einordneten und somit zum Bestandteil der je eigenen Konfessionskultur machten Dass fuumlr den katholischen Bereich zur Deutung des Gesamtphaumlnomens in besonderer Weise bdquoperformativeldquo Elemente wie Prozessionen oder Wallfahrten (zum Bei-spiel nach dem Sieg in der Seeschlacht von Lepanto 1571) zur Deutung heranzuziehen waumlren versteht sich von selbst Aber dies ist nicht Thema dieser Arbeit

Die sorgfaumlltig redigierte Arbeit schlieszligt mit nuumltzlichen Kurzbiografien der Prediger Orts- Personen- und Sachregister sowie einem Verzeichnis der Bibelstellen

Wolfgang Zimmermann

Jean-Pierre KINTZ La Conquecircte de lrsquoAlsace Le triomphe de Louis XIV diplomate et

guerrier Strasbourg La Nueacutee Bleue Editions du Quotidien 2017 607 S Abb Kt geb EUR 29ndash ISBN 978-2-8099-1509-9

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eines der beiden Werke (vgl ZGO 167 2019 S 442) des renommierten elsaumlssischen Neuzeithistorikers (1932ndash2018) die als sein Vermaumlchtnis gelten koumlnnen Kintz begreift und beschreibt die schrittweise Einverleibung des Elsass und zumal Straszligburgs zwischen 1633 und 1697 in die franzoumlsische Monarchie vor allem als Eroberung durch Ludwig XIV den er im Titel als Diplomat und Krieger bezeichnet wobei freilich die staatsrechtliche Problematik festzumachen am von Ludwig XIV schlieszliglich machtmaumlszligig durchgesetzten Prinzip der souveraineteacute etwas zu kurz kommt Aus umfassender Kenntnis der Verfassungsstrukturen des Koumlnigreichs Frankreich und des Alten Reichs schoumlpfend gelang Kintz eine eindrucksvoll abgewogene Darstel-lung jenes Prozesses dessentwegen die beiden spaumlteren Nationalstaaten dreimal Krieg fuumlhren sollten Der unbestechlich aus den Quellen ndash viele sind in petit in den Text einge-streut ndash geschoumlpften Schilderung der Tatsachen entspricht eine groszlige Vorsicht bei deren Beurteilung die lieber ein Fragezeichen setzt statt mutmaszligliche Beweggruumlnde zu nennen So koumlnnen im Geschichtsbild beider Seiten immer noch bestehende Vorurteile entzerrt und gemildert werden Uumlber der stupenden Kenntnis der Einzelheiten bis hinab in die sozialen und konfessionellen Verhaumlltnisse kleiner Doumlrfer geht der Blick fuumlrs groszlige Ganze aber auch auf die historischen Nachbarlandschaften nie verloren vielmehr liegt ein sehr wertvolles Stuumlck eigentlich europaumlischer Landesgeschichte vor Dass auf einen Anmer-kungsapparat verzichtet wurde versteht sich stattdessen kann auf eine umfangreiche (S 590ndash606) Bibliographie raisonneacutee im Anhang zuruumlckgegriffen werden Dort finden sich auszligerdem Angaben zu Waumlhrungen Maszligen Loumlhnen und Entfernungen 15 wertvolle Karten (nach S 576) fristen mangels Erwaumlhnung im Inhaltsverzeichnis leider ein Schattendasein Ein Prolog und ein Schluss lassen den Reichtum des in zwoumllf Kapiteln Dargestellten wenigstens erahnen Die ersten vier davon sind dem Dreiszligigjaumlhrigen Krieg ndash eigentlich seiner Schilderung fuumlr franzoumlsische Leser ndash (bdquo194 souveraineteacutesldquo S 11) gewidmet naumlmlich seinen Anfaumlngen (bis 1633) der verdeckten Mitwirkung Frankreichs

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am Krieg (1633ndash1636) Richelieus offenem Kriegseintritt 163536 und der mit den Aktivitaumlten Bernhards von Weimar einsetzenden Endphase (1637ndash1648)

Ungeachtet dessen dass das Elsass seit dem Humanismus ein eigenes Regional- bewusstsein entwickelt hatte blieb es politisch ein im Grunde zerrissener Raum ganz unterschiedlicher Herrschaftsintensivitaumlt zu schweigen vom konfessionellen Zerwuumlrf-nisfaktor Klar wird dass das franzoumlsische Interesse daran in erster Linie einem Durch-brechen der Verbindungslinien der spanischen Weltmacht zwischen Oberitalien und den Niederlanden galt jedenfalls nicht dem weit gesteckten Ziel die Rheingrenze des alten Galliens wieder zu etablieren ndash dies wurde schlieszliglich nur ex eventu als weiterer Effekt thematisiert Die zugrundeliegende geopolitische Konstellation laumlsst sich schon daran ablesen dass Spanien erst 1659 im Pyrenaumlenfrieden auf die ihm 1617 im Ontildeate-Geheim-vertrag mit dem Wiener Hof gemachten Zusagen das Elsass als Verbindungsglied zwi-schen Luxemburg und der Freigrafschaft Burgund seinem Machtbereich einzuverleiben verzichtete (S 29) Dass die sbquoprotection royalelsquo (z B gegenuumlber Reichsstaumldten wie Hagenau S 82) nicht (nur) als Handlungsmuster vonseiten Frankreichs zu begreifen ist wird ersichtlich an der Bitte des Trierer Erzbischofs und Speyer Bischofs Philipp Christoph von Soumltern sein Land (gegen die protestantischen Maumlchte) in Schutz zu nehmen (S 94) worauf die erste franzoumlsische Besetzung von Philippsburg im Herbst 1634 zuruumlckgeht (S 103) Was sich schon bei dem kurzen Territorialstaatsbildungsver-such Bernhards von Weimar (S 116) abzeichnete wurde bei den Friedensverhandlungen (Kap 5 1644ndash1648) manifest als Frankreich dessen Inanspruchnahme aller zuvor habs-burgischen Rechts- und Herrschaftstitel nun auf sich uumlbertragen konnte Die darin ent-haltenen sogar ins Spaumltmittelalter zuruumlckweisenden Unklarheiten ndash erwaumlhnt sei nur die Frage ob der Hagenauer Reichslandvogt uumlber die Staumldte der Dekapolis zu gebieten habe oder ob diese reichsunmittelbar seien (S 173 249) ndash wurden offenbar in den Verhandlungen bewusst in Kauf genommen und im weiteren Verlauf eben durch Frank-reich als der staumlrkeren Macht in seinem Sinn geregelt Eine Zwischenbilanz zieht Kap 6 (1648ndash1672) indem es den vorlaumlufigen staatsrechtlichen Zustand naumlmlich auf den drei Ebenen des Grundbesitzes der Territorialherrschaft und der Souveraumlnitaumlt schildert Nach der Schwaumlchephase der sbquoFrondelsquo war 1654 die Intendanz wahrgenommen durch (den juumlngeren) Colbert (de Croisy S 223) und 1658 der Conseil Souverain (S 205 237) 1674 in Breisach ab 1698 in Colmar gegruumlndet worden beides Instrumente der recht- lichen Anverwandlung an die franzoumlsischen Verfassungsstrukturen Der Hollaumlndische Krieg 1672ndash1679 (Kap 7) bot nebenbei Gelegenheit schwebende Streitfragen gewaltsam zu entscheiden brachte aber vor allem dem Land so groszligen Schaden ndash darunter 1677 die Zerstoumlrung Hagenaus und Weiszligenburgs um sie nicht in die Hand der Kaiserlichen fallen zu lassen (S 326) ndash dass er mit dem 30-jaumlhrigen anderwaumlrts im Reich zu vergleichen sei Auch dank Turennes militaumlrischem Talent (letzte Karte) war Frankreich beim Frie-densschluss 1679 in Nimwegen de facto Herr des Elsass formal ausgenommen nur die Reichsstadt Straszligburg die aber ihre Neutralitaumlt nicht strikt gewahrt hatte Die Erfolgs- bilanz zieht Kap 8 (167980) durch die Beschreibung der Durchsetzung der Souveraumlnitaumlt gegenuumlber der Dekapolis und mittels der Reunionen gegenuumlber den Territorialherren dem unterelsaumlssischen Niederadel und vor allem dem Fuumlrstbistum und Domkapitel Straszlig-burg Auswaumlrts sitzenden deutschen Fuumlrsten blieb fortan nur das dominium utile an ihren elsaumlssischen Besitzungen Das Wesen der Reunionen wird deutlich wenn z B der Mark-graf von Baden wegen der Herrschaft Graumlfenstein vor die Breisacher Reunionskammer zitiert (S 360) oder das wuumlrttembergische Moumlmpelgard als Teil Burgunds reklamiert

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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(S 380) wurde Die fragile im Zweifel der kaiserlichen Seite zuneigende Neutralitaumlt der Reichsstadt Straszligburg die freilich seit Karl V keinem Kaiser mehr gehuldigt hatte fuumlhrte bekanntlich im Herbst 1681 zu ihrer Annexion nach Drohung der Eroberung durch eine eigens sorgsam organisiert herangefuumlhrte Belagerungsarmee (Kap 9 bdquoLrsquoAnnexion de la Reacutepublique de Strasbourgldquo) gefolgt von einem feierlichen Einzug Ludwigs XIV Die von franzoumlsischer Seite als Zentrum des Elsass begriffene und daher konsequent aber rechtlich nicht gedeckt in die franzoumlsische Souveraumlnitaumlt uumlber diese ndash nunmehr ndash Provinz einzubeziehende Stadt wurde nun zu einem Verwaltungszentrum und zugleich zu einer Hauptfestung ausgebaut gesteuert durch den allen staumldtischen Gremien und Amtstraumlgern nun vorgeschalteten bdquopreacuteteur royalldquo Ulrich Obrecht (S 430) Die neue Provinz (Kap 10 1681ndash1697) konnte sich nun im Zeichen einer bdquotransition deacutelicateldquo erholen nach Art fran-zoumlsischer Geschichtsschreibung ausfuumlhrlich und kundig dargestellt anhand sozial- wirt-schafts- und verkehrsgeschichtlicher Gegebenheiten die auch sonst Beruumlcksichtigung fanden Den kirchlichen Verhaumlltnissen ist parallel Kap 11 gewidmet fuumlr deutsche Leser befremdlich aber zutreffend unter das Schlagwort der Allianz von Thron und Altar ge-stellt Denn auf einen habsburgischen Erzherzog folgten 1682 im Straszligburger Bischofs-amt nacheinander zwei Mitglieder der frankreichhoumlrigen Grafenfamilie Fuumlrstenberg Wilhelm Egons Eidleistung 1687 bereitete verfassungsrechtlich dem Fuumlrstbistum sein Ende und leitete eine im Grunde fuumlr beide Konfessionen im Elsass bis heute noch nicht beendete Zwitterstellung ein die im Widerspruch zur franzoumlsischen Rechtseinheitlichkeit stand und steht Die Lutheraner dagegen wurden in die Enge getrieben durch Konver- sionsdruck vor allem bei Amtstraumlgern die Einfuumlhrung des Simultaneums wo immer sich dafuumlr ein Ansatz bot und die relational bei Weitem nicht gedeckte konfessionell paritauml-tische Aumlmterbesetzung Das letzte Kapitel (1688ndash1698 bdquoDe la guerre de la Ligue drsquoAugs-bourg agrave la paix de Ryswickldquo) kann sich kuumlrzer fassen da das Elsass weitaus weniger betroffen war als die Kurpfalz und mit dem Friedensschluss 1697 (S 556) im Grunde der Gipfel der bdquoEroberungldquo des Elsass durch Ludwig XIV erreicht wurde Zwar wich man machtpolitisch nun wieder hinter die Rheinlinie zuruumlck und etwa Wuumlrttemberg wurde linksrheinisch restituiert aber Straszligburg blieb franzoumlsisch Durch die Ruumlckgabe der Kurpfaumllzer Gebiete im Norden stellte sich fortan die Frage wo das an seinen drei anderen Seiten klar abzugrenzende Elsass im Norden aufhoumlre ob an der Lauter oder an der Queich (S 564) In der Sicht des Sonnenkoumlnigs war vor allem Straszligburg als Bastion des Reichs und zugleich der lutherischen Ketzerei zerstoumlrt

In diesem Werk liegt eine aus der Mitte des eigenen elsaumlssischen historischen Be-wusstseins erwachsene und aus der Fuumllle landesgeschichtlicher Kenntnis nicht nur des Elsass sondern auch der angrenzenden Gebiete schoumlpfende Darstellung eines fuumlr die deutsch-franzoumlsische Geschichte und zugleich fuumlr die suumldwestdeutsche Landesgeschichte wesentlichen Schluumlsselzeitraums vor Niemand der sich mit diesem kuumlnftig auf welcher Ebene auch immer befassen wird sollte es auszliger Acht lassen er wuumlrde dabei einen wesentlichen Erkenntnishorizont ignorieren

Volker Roumldel

Oliver FIEG (Hg) Rastatt 1714 und der Traum vom Frieden (Oberrheinische Studien Bd 39) Ostfildern Thorbecke 2019 222 S Abb EUR 34ndash 978-3-7995-7836-3

Der vorliegende Sammelband umfasst zwoumllf Beitraumlge mehrerer Tagungen aus Anlass des Friedensschlusses vor 300 Jahren Der Friede von Rastatt war keiner der groszligen Friedensschluumlsse die das Europa der Neuzeit praumlgten Er bestand nur in der Annahme

673Fruumlhe Neuzeit

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der in Utrecht entschiedenen Teilung der spanischen Erbschaft durch den Kaiser Die einzige Entscheidung die in Rastatt fiel war fuumlr Bayern der Verlust seines Anteils an dieser Erbschaft naumlmlich die Insel Sardinien und die Koumlnigswuumlrde die Max Emanuel noch in Utrecht zugesprochen worden war Bayern wird in dem Sammelband aber nicht behandelt Rastatt steht nur in zwei Beitraumlgen im Mittelpunkt wovon einer ein kunst- historischer ist Auch Frankreich ist nur durch zwei Beitraumlge vertreten Gegenstand des Bandes ist daher vielmehr die suumldwestdeutsche Geschichte zu Beginn des 18 Jahr-hunderts

Der zentrale Beitrag ist ein Artikel von Max PLASSMANN uumlber Ludwig Wilhelm von Baden und die bdquooberrheinische Perspektive auf den europaumlischen Kriegldquo (S 69ndash82) Zwar war Ludwig Wilhelm schon 1707 gestorben aber er war als Oberbefehlshaber der Kreisassoziation von zunaumlchst zwei dann sechs Kreisen der wichtigste Politiker am Oberrhein von 1693 bis 1706 Als solcher verhandelte er nicht nur mit dem Kaiser und Lothar Franz von Schoumlnborn uumlber Buumlndnisse sondern auch mit Wilhelm III Heinsius Ludwig XIV und Max Emanuel von Bayern sowie uumlber die polnische Koumlnigskrone und das antikaiserliche Buumlndnis gegen die neunte Kur Bis heute sind die Plaumlne und Ziele Ludwig Wilhelms in der Forschung umstritten Plassmann waumlhlt die inhaltleerste Erklauml-rung den Ehrgeiz Ludwig Wilhelms

Er uumlbersieht dabei die reichsrechtlichen Moumlglichkeiten und Grenzen der Kreisasso-ziation die eine Weiterentwicklung der bdquoeilenden Hilfeldquo zwischen den Kreisen nach der Reichsexekutionsordnung von 1555 war Entscheidend war dass hier ohne Beteiligung von Kaiser und Reichstag Truppen aufgestellt und eingesetzt werden konnten Dies ermoumlglichte einen Militaumlrbund am Rhein zwischen Holland und der Schweiz mit Straszlig-burg als zentralem Waffenplatz wie er anscheinend erwogen wurde Der Kaiser verhin-derte einen derartigen Machtverlust im Reich alsbald nicht als Kaiser sondern durch seinen Beitritt zur Assoziation als Direktor des inexistenten oumlsterreichischen Kreises Zu-naumlchst hatte der Kaiser 169091 auf das Angebot der Kreise zu erhoumlhter Truppenstellung (Triplum) mit der Zusage reagiert keine weiteren Militaumlrlasten (Winterquartiere Assig-nationen etc) zu fordern Der Einsatz dieser Truppen als eilende Hilfe war defensiv auf das Kreisterritorium beschraumlnkt d h ein Einsatz in Ungarn Oberitalien und Flandern (ebenso 1705 auf das Moseltal) war ausgeschlossen Dem kam die Situation des ober-rheinischen Kriegsschauplatzes entgegen Dieser beschraumlnkte sich seit der Eroberung Philippsburgs 1644 ndash und wenn man will bis 1945 ndash auf den Kraichgau und Wuumlrttemberg bis zur Donau (Einfall ins Reich) Der Schwarzwald war anders als Plassmann annimmt kein Kriegstheater (Ausnahme 170304 das bayrisch-franzoumlsische Buumlndnis) Das badische Rheintal war wie Ludwig Wilhelm spottete die bdquofranzoumlsische Reitschuleldquo d h unter dem Schutz der franzoumlsischen Kanonen zog die franzoumlsische Kavallerie fouragierend durch Baden von Breisach bis Kehl und Philippsburg Schlachten wurden hier nicht geschlagen

Plassmann unterschaumltzt die Rolle Ludwig Wilhelms und uumlberschaumltzt die der kleinen Reichsstaumlnde Die Bedeutung der Kreise als Truppenlieferanten fuumlhrte zwar dazu dass sie Mitglieder der Groszligen Allianz wurden und sogar Gesandte zu den Friedenskongressen schicken konnten aber ihre tatsaumlchliche Rolle war gering Sie wurden fuumlr die Sicherung des Nachschubs gebraucht Sie als Trunkenbolde abzutun wie es die franzoumlsischen Gesandten taten ist wohl etwas uumlbertrieben (bdquohellipcomme la pluspart de ces deacuteputeacutes de lrsquoEmpire sont des docteurs peu instruits des affaires du monde et qui ne se couchent guegrave-res sans estre yvres ils suivent les mouvements de leur humeurs et ceux que leur inspirent

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les fumeacutees de vin en parlant de cette sorte sans faire de reacuteflexion sur le peu de moyens qulsquo ils ont drsquoobtenir ce qu igravels deacutesirentldquo franzoumlsische Diplomaten in Ryswick an Ludwig XIV 5 IX 1697 AAE Paris Corr pol Hollande 169) Auch in der Instruktion fuumlr seine Diplomaten in Utrecht vom 30 XII 1711 beurteilt Ludwig die Forderungen der Reichs-staumlnde als bdquovisionsldquo bdquovaines ideacuteesldquo und bdquoabsurditeacutesldquo (Recueil des instructions donneacutees aux Ambassadeurs et Ministres de France Bd XXII Hollande Paris 1923 S 297) Die Vertreter des Reiches unterstuumltzten zwar die Forderungen des Kaisers ihr eigentliches Ziel waren aber finanzielle Entschaumldigungen fuumlr die Kriegsschaumlden Damit ernteten sie nur Hohn und Spott Nach dem Friedensschluss versicherte Ludwig Wilhelm dem fran-zoumlsischen Koumlnig dass er ihm die Verbrennung seines Landes nicht uumlbelnaumlhme an eine Entschaumldigung dachte er schon gar nicht (Ludwig Wilhelm zum franzoumlsischen Gesandten Gergy in Stuttgart bdquoCe prince me parla ensuite des maux que ses Etats avoient souffert pendant la guerre et qursquoil ne croioit pas avoir meacuteriteacute que comme Prince de lrsquoEmpire que quand Votre Majesteacute recommenceroit agrave faire brusler son pays une seconde fois il ne perderoit jamais les sentiments drsquoestime et de respect qursquoil avoit pour Elle que crsquoeacutetoit lagrave la conduite qursquoil avoit toujours tenueldquo Bericht Gergys vom 13 X 1698 AAE Corr Pol Wurtemberg 9)

Susan RICHTER (S 83ndash96) behandelt die Alternative der Neutralisierung d h das alte Thema der bdquoVerschwitzerungldquo der deutschen Grenzgebiete Dabei geht sie auch auf die Haltung der badischen Markgrafen ein Tatsaumlchlich verlieszlig Karl Wilhelm von Baden-Durlach bei seinem Regierungsantritt 1709 die Reichsarmee und legte seinen Rang als Reichsgeneral nieder Allerdings war dies keine politische Entscheidung sondern der Markgraf wurde vom franzoumlsischen Koumlnig massiv unter Druck gesetzt Ludwig drohte mit seiner Inhaftierung falls er seine Stammlande betrete Entsprechend instruierte er seinen Botschafter in der Schweiz Du Luc am 7 X 1709 bdquoLa principale raison que jrsquoavois de refuser au Marquis de Bade Dourlak le passeport qursquoil mrsquoa demandeacute estoit fondeacute sur ce qursquoil servoit actuellement dans les trouppes de mes ennemis au lieu que feu son pegravere agrave qui jrsquoavois accordeacute la mesme grace vivoit retireacute chez lui et sans employ Comme il assure qursquoil ne servira plus et que drsquoailleurs vous croyeacutes qursquoil pouvoit estre utile dans les Diettes du Cercle de Souabe jrsquoay bien voulu luy accorder agrave votre consideacute-ration le passeport que je vous envoie Mais vous luy feacuterez scavoir qursquoil deviendroit inutile si jrsquoapprenois qursquoau preacutejudice de sa parole il vouloit encore exercer les employs qursquoil a parmy mes ennemisldquo (ebd Suisse 195)

Sven EXTERNBRINK kommt in seinem Beitrag zur Rheingrenze (S 153ndash164) zu dem Ergebnis dass diese als politisches Schlagwort erst am Ende des 18 Jahrhunderts fassbar wird Dies trifft nicht zu Die Rheingrenze wurde 1697 festgelegt und sie wurde auch so benannt Bei den Friedensverhandlungen in Ryswick 1697 hatte Ludwig XIV unter dem 20 VII sein Angebot vorgelegt aber in Art 6 alternativ zur Ruumlckgabe Straszligburgs die Ruumlckgabe einiger rechtsrheinischer Festungen angeboten mit der Begruumlndung bdquoafin que les frontiegraveres de la France et de lrsquoEmpire demeurent entiegraverement seacutepareacutees par le Rhinldquo (J Bernard A Moetjens Actes et Meacutemoires des neacutegociations de la Paix de Ryswick AAE Corr Pol Hollande 168) Am 21 VIII aber zog Ludwig sein Angebot der Ruumlckgabe Straszligburgs uumlberraschend zuruumlck und erweiterte sein Angebot der Ruumlckgabe rechtsrhei-nischer Festungen auf alle franzoumlsischen rechtsrheinischen Festungen und Bruumlckenkoumlpfe Diesen Wechsel begruumlndete mit den Worten bdquoMon intention est que deacutesormais le Rhin servit de barriegravere entre mon Royaume et lrsquoEmpireldquo (ebd Hollande 168) Als es um die genaue Festlegung der Rheinlinie ging schrieben ihm seine Diplomaten uumlber die Festung

675Fruumlhe Neuzeit

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Fort Louis bdquoqui est dans une isle et empesche par conseacutequent que ce fleuve ne serve de juste et reacuteciproque barriegravere entre Votre Majesteacute et lrsquoEmpire comme Elle a deacuteclareacute si souvent et qursquoElle ne demande autre choseldquo (9 IX ebd Hollande 169) Diese Aumluszligerung beweist auch dass die Rheingrenze als politisches Ziel bei den franzoumlsischen Diplomaten und Militaumlrs gelaumlufig war vielleicht schon seit der Erkundigungsreise von Louvois und Vauban durch das Elsass 1679 Der Kontext belegt auch dass die Rheingrenze als mili-taumlrische Grenze verstanden wurde Ihr Ziel sei bdquo( que) lrsquoentreacutee de son Royaume soit fermeacutee en mecircme temps que Sa Majesteacute fait voir qursquoElle ne veut srsquoen reacuteserver aucune pour porter les guerres en Allemagneldquo( Gesandte an Ludwig XIV 1 IX 1697 J Bernard A Moetjens III S 50)

Der Sammelband revidiert den heutigen Wissensstand nicht er bietet aber mit Aus-nahme der angefuumlhrten Punkte einen differenzierten Uumlberblick uumlber den derzeitigen For-schungsstand Allerdings faumlllt auch hier die sehr sporadische Nutzung und Auswertung der Literatur auf Bibliographieren ist anscheinend unbekannt

Bernd Wunder

Bettina BRAUN Eine Kaiserin und zwei Kaiser Maria Theresia und ihre Mitregenten Franz Stephan und Joseph II (Mainzer Historische Kulturwissenschaften Bd 42) Bielefeld transcript-Verlag 2018 309 S Abb Brosch EUR 3999 ISBN 978-3-8376-4577-4

Lange Zeit seit der Publikation der zehnbaumlndigen Geschichte Maria Theresias durch Alfred Ritter von Arneth (Wien 1863ndash1879) schien es so als ob zur Geschichte der maumlchtigsten Frau Europas im 18 Jahrhundert alles gesagt sei Als Erbtochter regierte sie einen Laumlnderkomplex der sich vom heutigen Belgien im Nordwesten bis in die heutige Ukraine im Suumldosten Europas erstreckte Doch ihr 300 Geburtstag (2017) hat wie gerade das Literaturverzeichnis des vorzustellenden Bandes verdeutlicht eindruumlcklich unter- strichen wie irrig diese Auffassung ist und sein muss haben sich doch die Fragen die wir heute an Maria Theresia als Frau und Herrscherin stellen seit den Arnethschen Zeiten grundlegend veraumlndert Gerade die Studie der in Mainz lehrenden Fruumlhneuzeithistorikerin Bettina Braun steht fuumlr den Aspekt der in der monumentalischen Repraumlsentation Maria Theresias im 19 Jahrhundert ausgeblendet wurde Monumentalisch ist im woumlrtlichen wie im Nietzscheschen Sinn gleichermaszligen zu verstehen Braun formuliert bdquoAls Herrscherin aus eigenem Recht hatte sie doch stets einen Mann an ihrer Seite erst ihren Ehemann [Franz Stephan bis 1765] dann ihren Sohn [Joseph] mit dem sie zusammen regierte Und genau um dieses bdquozusammenldquo soll es in dieser Studie gehenldquo (S 13)

Um dieses bdquozusammenldquo zu erhellen bedient sich die Verfasserin des von Heide Wun-ders fuumlr fruumlhneuzeitliche staumldtische und baumluerliche Geschlechterbeziehungen gepraumlgten Konzepts des bdquoArbeitspaaresldquo Hat Wunder diesen Begriff gewaumlhlt um die Beziehungen zwischen Ehepartnern zu charakterisieren so wendet ihn Braun auch fuumlr die Mutter-Sohn-Beziehung an Da es ihr darum zu tun ist zu erhellen wie sich Maria Theresia die Arbeit des Regierens mit ihrem seit 1745 kaiserlichen Ehemann und seit 1765 Sohn teilte kann sie so verfahren Ja noch mehr Braun vermag dadurch auch ein anderes wenn auch nicht grundsaumltzlich neues Licht auf die Folgen zu werfen die mit den funda-mental differierenden sozialen Logiken einhergehen die die Geschlechterbeziehungen praumlgen je nachdem ob die Frau mit Ehemann oder Sohn interagiert Dass diese unter-schiedlichen Logiken wenn die Frau Herrscherin ist fuumlr die Arbeitsteilung weitreichende Folgen zeitigen demonstriert Braun im Detail (S 211ndash230)

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Da der erzaumlhlerische Faden in 14 Kapiteln entlang des Lebenswegs Maria Theresias gesponnen wird liegt es in der Natur der Sache dass dem fast 30 Jahre verheirateten Ehepaar (1736ndash1765) das sich in dieser Zeit als Herrscher und Herrscherin in ganz unterschiedlichen Konstellationen begegnete wesentlich umfaumlnglicher Aufmerksamkeit gezollt wird (S 19ndash204) als der Mutter-Sohn-Beziehung die Maria Theresias Herrschaft in den letzten 15 Jahren ihres Lebens praumlgte (S 205ndash268)

Ein knappes Schlusskapitel (S 269ndash273) dem von Maria Theresia 1754 in Auftrag gegebenen und bis heute in der Kapuzinergruft zu besichtigenden Doppelsarkophag gewidmet zieht geschickt die Bilanz der Studie bdquoNicht ein Herrscher und die Ehefrau an seiner Seite und auch nicht eine Koumlnigin und ihr Prinzgemahl sind hier dargestellt sondern zwei Herrscher mit ihren jeweiligen Herrschaften die aber nicht nebeneinander ihre jeweiligen Territorien regiert haben sondern die sich zu gemeinsamer Regierung zusammengefunden haben ndash symbolisiert durch das gemeinsame Festhalten des Szepters Weil sie beide auch hierin voumlllig parallel und gleichberechtigt das Szepter mit ihrer rechten Hand umfassen muumlssen sie sich einander zuwenden Damit wird ein weiteres Mal die Gemeinsamkeit betont ein Miteinander statt eines Nebeneinandersldquo (S 272) Begegnet diese Stilisierung des harmonisch-zugewandten Miteinanders des herrscher- lichen Arbeitspaares nicht nur bei Maria Theresia sondern stellt sie eine typische Legi-timationsstrategie weiblicher Herrschaft dar so ist es ein anderer Aspekt der Ausgestal-tung des Sarkophags der ein Schlaglicht auf Maria Theresias durchaus individuelles Selbstverstaumlndnis in ihrer Rolle als Ehefrau Mutter und Herrscherin wirft bdquoRom Imperii maiestatem domui suae restituitldquo (S 273) frei uumlbersetzt die kaiserliche Wuumlrde hat sie ihrem Haus wiedergegeben so lautet die Inschrift des Sarkophags Kurzum Ihrer Stel-lung als Erbtochter so sah es Maria Theresia hatten es die Maumlnner an ihrer Seite zu ver-danken dass sie wurden was sie waren ndash Kaiser und damit in ihrem eigenen Selbstver- staumlndnis die ranghoumlchsten Dynasten Europas Wer entlang von Schluumlsselmomenten erfahren moumlchte welche Konsequenzen aus diesem durchaus spannungsreichen Verhaumllt-nis zwischen zeittypischem und individuellem Selbst- und Herrschaftsverstaumlndnis fuumlr Maria Theresia aber auch fuumlr Ehemann und Sohn resultierten dem sei das vorliegende Buch empfohlen

Gabriele Haug-Moritz

Senta HERKLE Sabine HOLTZ Gert KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP (Hg) 1816 ndash Das Jahr ohne Sommer Krisenwahrnehmung und Krisenbewaumlltigung im deutschen Suumldwesten (Veroumlffentlichungen der Kommission fuumlr Geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrt-temberg Reihe B Forschungen Bd 223) Stuttgart Kohlhammer 2019 VIII 260 S Abb geb EUR 28ndash ISBN 978-3-17-036523-0

1816 war in weiten Teilen der Welt ein bdquoJahr ohne Sommerldquo doch weltweit ohne Sommertage war es nicht denn Getreidekaumlufe gegen die Hungerkrise in Folge des Tambora-Ausbruchs waren selbst in Europa moumlglich ndash die unterschiedliche Erstreckung der Phaumlnomene dieser Krise und ihre komplexen Folgen aumlhneln denen der globalen Corona-Pandemie bis in die Stichworte Grenzschlieszligungen und Ausfuhrsperren Hatte Wolfgang Behringer in seiner wegweisenden Studie bdquoTambora und das Jahr ohne Som-mer Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stuumlrzteldquo 2015 die bdquoTamborakriseldquo als bdquoBeginn eines Experimentsldquo bezeichnet bdquoan dem die ganze Menschheit unfreiwillig teilgenom-menldquo (S 16) hatte die aber auch Beispiele dafuumlr geliefert haumltte wie Gesellschaften auf globale Herausforderungen reagierten und welche Risiken und Chancen mit ihnen

67719 und 20 Jahrhundert

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und deutschlandpolitischen Aktivitaumlten nach 1945 Wirths Bemuumlhungen mit den stali- nistischen Machthabern in Ostberlin und Moskau ab 1951 ins Gespraumlch zu kommen und die Moumlglichkeiten eines Friedensvertrages zu sondieren sich fuumlr politische Gefangene hinter dem bdquoEisernen Vorhangldquo einzusetzen etc moumlgen ein ehrenwerter Versuch gewesen sein Allerdings waumlre diesbezuumlglich doch grundsaumltzlich die Frage zu stellen mit welcher Legitimation Wirth glaubte derartige Gespraumlche fuumlhren zu koumlnnen schlieszliglich hatte er damals im Westen Deutschlands kein demokratisch legitimiertes politisches Amt inne und wurde auch nicht von bedeutenden politischen Gruppierungen unterstuumltzt Zudem zeugt es nicht gerade von politischer Weitsicht dass Wirth noch nach dem 17 Juni 1953 zu politischen Gespraumlchen nach Ostberlin und Moskau reiste und 1954 die Ehrendoktor-wuumlrde der Humboldt-Universitaumlt annahm und sich damit auf zweifelhafte Weise von einem diktatorischen System instrumentalisieren lieszlig Dies wird von den Autoren im vorliegenden Band jedoch nicht als Problem gesehen

Schlieszliglich finden sich auch einige kleinere sachliche Fehler Z B wird konstatiert Wirth sei mit bdquogroszliger Mehrheitldquo in die Verfassunggebende Badische Nationalver- sammlung gewaumlhlt worden und am 5 Januar 1919 dann in den Badischen Landtag (S 35) Nach der Revolution 1918 gab es in Baden bis 1921 jedoch nur eine Wahl eines Landesparlaments eben jene vom 5 Januar 1919 und bei der konnte Wirth nicht mit groszliger Mehrheit gewaumlhlt werden da sie nach dem Verhaumlltniswahlrecht durch- gefuumlhrt wurde

Insgesamt hinterlaumlsst die Publikation somit einen zwiespaumlltigen Eindruck

Martin Furtwaumlngler

Carola HOEacuteCKER Vom Freischaumlrler zum Parlamentarier Briefe des Reichstagsabgeord-neten Marcus Pfluumlger (1824ndash1907) (Lindemanns Bibliothek Bd 347) Karlsruhe Bretten Info-Verlag 2019 89 LXXVIII S Abb Brosch EUR 1990 ISBN 978-3-96308-064-7

Das vorliegende Buch ist zweigeteilt Der Edition einer Auswahl von Briefen des ba-dischen nationalliberalen ab 1881 linksliberalen Reichstags- und Landtagsabgeordneten Marcus Pfluumlger aus Loumlrrach geht eine Beschreibung seines Lebens voran In dieser schil-dert die Herausgeberin Pfluumlger als aufrechten Demokraten der als aktiver Teilnehmer am Heckeraufstand 1848 die politische Buumlhne betrat Wie etliche andere 48er Revolu-tionaumlre fand er in den folgenden Jahrzehnten den Weg in die Parlamente der Kaiserzeit Von 1858 bis 1870 und von 1886 bis 1903 saszlig er im Gemeinderat von Loumlrrach von 1871 bis 1884 und von 1897 bis 1902 war er Mitglied der Zweiten Kammer der badischen Staumlndeversammlung von 1874 bis 1887 Reichstagsabgeordneter Eindruumlcklich und sicher eine der Staumlrken des Buches ndash sowohl im darstellenden wie im Quellenteil ndash ist die Schil-derung von Pfluumlgers Abgeordnetenalltag das heiszligt die Organisation des Lebens eines Politikers aus der Provinz im 19 Jahrhundert Bei Pfluumlger war dies der Spagat zwischen zwei Welten einerseits der Fuumlhrung einer Gastwirtschaft mit landwirtschaftlichem Be-trieb womit er im Wesentlichen seinen Lebensunterhalt verdiente andererseits der Aus-uumlbung seiner politischen Taumltigkeit in Karlsruhe und Berlin Gerade seine Briefe aus beiden Hauptstaumldten machen sichtbar unter welchen Umstaumlnden Abgeordnete damals bei der Ausuumlbung ihrer Parlamentstaumltigkeit lebten welche Schwierigkeiten ein Alltag fern der Heimat mit sich brachte Jedoch wird auch deutlich wie verzahnt beide Lebens-

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verbunden seien so konzentriert sich der vier Jahre spaumlter vorgelegte und hier zu be- sprechende Konferenzband in interdisziplinaumlrem Zugriff auf die bdquoKrisenwahrnehmung und Krisenbewaumlltigungldquo der global und so auch bdquoim deutschen Suumldwestenldquo spuumlrbaren Folgen des Vulkanausbruchs auf der indonesischen Insel Sumbawa Die zehn Beitraumlge greifen der kurzen und praumlgnanten Einleitung zufolge die Bereiche bdquoWirtschaft Kom-munikationMedien Religion und Musikldquo (S 4) auf und setzen sich so mit den bdquoklima-tischen politischen wirtschaftlichen sozialen kulturellen und religioumlsen Ausdeutungen und Folgenldquo (S 1) dieses groumlszligten Vulkanausbruchs der Menschheitsgeschichte aus- einander

Eingeleitet wird der Band durch den ebenso schwungvollen wie dichten Beitrag bdquoDie Tamborakrise Zum Einfluss der Geologie auf die (menschliche) Geschichteldquo von Wolf-gang BEHRINGER der die globalen oumlkonomischen sozialen und kulturellen Auswirkungen des Tambora-Ausbruchs differenziert und materialreich darlegt bdquo[K]ein anderer Faktor [habe] die menschliche Geschichte von Anfang an so sehr bestimmt wie die Klima- geschichteldquo Klimadaten eigneten sich bdquoals heuristisches Instrument zur Verknuumlpfung aumlhnlicher Ereignisse in geographisch weit voneinander getrennten Gesellschaften und zum Test ihrer Resilienzldquo (S 7) Wichtigen Aspekten der Tamborakrise wie deren unmittelbare biologische Folgen in Gestalt einerseits erhoumlhter Sterblichkeit in Europa Nordeuropa und China ohne besondere Seucheneinwirkung und andererseits einer kata-strophal erhoumlhten Sterblichkeit durch die Cholera-Epidemie die als eine der direkten Folgen des Vulkanausbruchs seit 1817 von Indien aus binnen neun Jahren auf Europa uumlbergriff dann den von der Tamborakrise weltweit ausgeloumlsten Migrationsstroumlmen und schlieszliglich den kaum je mit einer geologischen Ursache in Zusammenhang gebrachten politischen Unruhen widmet Behringer besondere Aufmerksamkeit

Dem zentralen multiperspektivisch innerhalb dieses Konferenzbandes beleuchteten Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Folgen des Tambora-Ausbruchs im deutschen Suumld-westen wendet sich der Mitherausgeber Gert KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP Emeritus der Universitaumlt Hohenheim zu die ndash wie in mehreren Beitraumlgen angesprochen ndash ihre Gruumln-dung als bdquoLandwirtschaftliche Unterrichts- Versuchs- und Musteranstaltldquo 1818 der Tam-borakrise in Wuumlrttemberg verdankt Sein Aufsatz bdquoDas Jahr 1816 und die Folgen fuumlr die wuumlrttembergische Wirtschaftspolitikldquo misst die katalytische Dimension der Klimakata-strophe fuumlr die nun unabdingbaren politisch-oumlkonomischen Reformen eines nach zwei Jahrzehnten der kurzen Friedens- und langen Kriegszeiten hoch verschuldeten Agrar-staates mit starkem Bevoumllkerungswachstums wie dem 1806 gegruumlndeten Koumlnigreich Wuumlrttemberg aus Wirtschaftspolitische Sofortmaszlignahmen in der Art der auf unterschied-liche Foumlrdergebiete wie Wohlfahrt Landwirtschaft Handel und Gewerbe fokussierten Vereinsgruumlndungen gingen Hand in Hand mit longue dureacutee-Maszlignahmen die die Regie-rung Koumlnig Wilhelms I in Richtung einer aktiven Zollpolitik und der bis in die 1860er Jahre partiell durchaus erfolgreichen Triasidee verfolgte

Staatliche Wirtschaftsfoumlrderung als Krisenbewaumlltigungsstrategie eroumlrtert auch der Bei-trag bdquoDie Sparkassen und das Jahr ohne Sommer 1816 Durchbruch einer Institution aus Anlass der Kriseldquo von Thorsten PROETTEL Er greift die Hungerkrise als finanzielles Problem jener Bevoumllkerungsschichten auf die ndash zuvor keineswegs bdquoarmldquo ndash die exponen-tiell gestiegenen Brotgetreidepreise nicht mehr erlegen konnten und zeigt wie die aktiv in die Wohlfahrtspolitik eingreifende Koumlnigin Katharina 1818 die Gruumlndung der Wuumlrt-tembergischen Sparkasse in Stuttgart initiierte Als Vorbild dienten die von den Leih- kassen zu unterscheidenden Sparkassen die in Groszligbritannien als bdquoprivat organisierte

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Begleitet wird dieser Bildbereich von einem damit korrespondierenden Text in dem die beiden Autoren das Leben Wirths skizzieren Wenngleich deren These dass Wirth bdquomittlerweile zu den herausragenden Politikern des 20 Jahrhundertsldquo (S 8) zaumlhle etwas uumlbertrieben scheint so ist ihnen darin zuzustimmen dass Wirth zu den entschiedensten Verfechtern bdquoder demokratischen Staatsform und des parlamentarischen Systemsldquo gerade in der Weimarer Republik zu rechnen ist Wie viele fuumlhrende Politiker dieser Epoche war er jedoch lange in Vergessenheit geraten und stoumlszligt erst in juumlngerer Zeit zu Recht wieder verstaumlrkt auf Interesse Gerade sein legendaumlr gewordener Ausspruch aus seiner Reichstagsrede anlaumlsslich der Ermordung Walter Rathenaus 1922 bdquoDer Feind steht rechtsldquo erfreut sich in der aktuellen politischen Diskussion in Deutschland gesteigerter Beliebtheit

Das Leben Wirths wird im vorliegenden Band in sechs Abschnitten beleuchtet Einem kuumlrzeren Kapitel uumlber seine Herkunft aus einem stark katholisch gepraumlgten Elternhaus und seine ersten politischen Aktivitaumlten als Stadtverordneter von Freiburg badischer Landtags- und Reichstagsabgeordneter fuumlr das Zentrum folgt ein laumlngerer Abschnitt uumlber sein Wirken in der Weimarer Republik Unbestreitbar war dies der Zeitraum seines Lebens in dem Wirth politisch am wirkungsmaumlchtigsten war Vom badischen Finanz- minister in der provisorischen Regierung nach der Revolution 1918 stieg er 1920 zum Reichsfinanzminister auf und 1921 fuumlr rund ein Jahr gar zum Reichskanzler Der Vertrag von Rapallo 1922 und die damit einhergehende Kooperation des Deutschen Reiches mit der Sowjetunion sind untrennbar mit seinem Namen verbunden Ende der 1920er Anfang der 1930er Jahre fungierte er nochmals als Reichsminister Es verwundert daher etwas dass dieser Lebensabschnitt Wirths nicht im Zentrum der Publikation steht Weitaus ausfuumlhrlicher werden vielmehr in den kommenden Abschnitten die politischen Aktivitaumlten Wirths aus der Zeit ab 1933 behandelt sein Kampf gegen Antisemitismus Judenverfolgung und seine Kontakte zum deutschen militaumlrischen Widerstand waumlhrend seiner Exilzeit in Paris und der Schweiz sowie vor allem seine friedens- und deutsch-landpolitischen Initiativen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Gerade sein Wider-stand gegen die Westintegration der jungen Bundesrepublik ndash die er als eine Gefaumlhr- dung des Friedens und als eine groszlige Bedrohung fuumlr eine Wiedervereinigung Deutsch-lands einstufte ndash wird ausfuumlhrlich beschrieben Gleiches gilt fuumlr die politischen und moralischen Uumlberzeugungen Wirths Es ist den Autoren wohl zuzustimmen dass Wirth kein Politiker war dem die eigene Karriere wichtiger gewesen waumlre als das Eintreten fuumlr seine demokratischen Uumlberzeugungen Das Bild des Menschen Joseph Wirth das die Autoren zeichnen ist uumlberaus positiv Unverkennbar ist ihr Bestreben ihn als einen aufrechten demokratischen auf Frieden und Ausgleich bedachten Politiker zu wuumlrdi- gen der sich zuweilen harscher und zum Teil auch ungerechtfertigter Kritik gegen- uumlbergesehen hatte und dem zudem von der bundesrepublikanischen Verwaltung seine Pension als Reichsminister und Reichskanzler aus fadenscheinigen Gruumlnden verweigert worden war

Allerdings dieses skizzierte Bild Wirths bleibt eindimensional So werden zum Teil Sachverhalte die die vorgenommene Charakterzeichnung relativieren oder ihr gar wider-spraumlchen nicht erwaumlhnt wie z B der starke antipolnische Affekt Wirths der seine Poli- tik bereits als Reichskanzler nicht unbeeinflusst lieszlig (vgl hierzu Behring Hermann Muumlller und Polen Zum Problem des auszligenpolitischen Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik in Archiv fuumlr Sozialgeschichte 55 [2015] S 299ndash342) Zudem befremdet die uneingeschraumlnkt positive Bewertung seiner friedens-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

FC Weilersbach (Schwarzwald-Baar-Kreis) Bei drei Vereinen schlieszliglich ist das Gruumln-dungsjahr 1919 noch nicht einmal gesichert So fehlt beim SV 1919 Au am Rhein (Kreis Rastatt) die Vereinschronik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Die gleichwohl tra-dierten Gruumlndungsdaten sind widerspruumlchlich In Pfullendorf und Iffezheim wurde zwar seit 1919 angestoszligen jedoch handelt es sich bei den Fuszligballvereinen lediglich um Ab-teilungen des jeweiligen Turnvereins eigenstaumlndige Fuszligballvereine wurden erst in den 1920er Jahren aus den Turnvereinen ausgegliedert Am Ende seines Beitrages muss Schellinger von einem bdquoernuumlchternden Befundldquo (S 76) sprechen Es fehlen schlicht Quel-len die Auskunft geben koumlnnten uumlber die Hintergruumlnde der Vereinsgruumlndungen in den Doumlrfern unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ndash Ernuumlchternd ist uumlbrigens auch die sportliche Bilanz der 1919 gegruumlndeten Vereine Uumlber die Haumllfte spielte im Juni 2018 lediglich in der Kreisklasse nur drei in der Verbandsliga Suumldbaden (sechste Spielklasse)

Zwei Beitraumlge behandeln die Geschichte der Stadt Lahr in der Weimarer Republik Guumlnther KLUGERMANN erlaumlutert Hintergruumlnde und Ablaumlufe der Unruhen in Lahr und Um-gebung im Krisenjahr 1923 (S 101ndash138) waumlhrend Thomas MIETZNER nach den Voraus-setzungen fuumlr den Aufstieg der Nationalsozialisten in Lahr fragt (S 161ndash172) Unter den uumlbrigen Beitraumlgen sollen schlieszliglich noch zwei weitere Aufsaumltze die dem Themenkom-plex Erinnern und Gedenken gewidmet sind hervorgehoben werden Andreas Morgen-stern stellt anhand des Kreuzes auf dem Schrofen die Gedenkkultur an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges in Schiltach zwischen Weimarer Republik NS-Diktatur und Bun-desrepublik dar (S 139ndash159) waumlhrend Uli HILLENBRAND uumlber das Oral-History-Projekt bdquoKehl erinnert sichldquo berichtet (S 173ndash189) Zwischen September 2015 und Oktober 2018 fuumlhrten Schuumller des Einstein-Gymnasiums Kehl 170 Gespraumlche mit knapp 150 Zeitzeugen aus Kehl die in den 1920er und 1930er Jahren geboren sind Dabei stand jeweils die Frage im Mittelpunkt was diesen aus ihrer Jugend in der Weimarer Zeit im bdquoDritten Reichldquo und in der Nachkriegszeit in besonderem Maszlig erinnerlich war und wie sich aus ihrer Sicht der Alltag gestaltete

Die Autoren legen eine lesenswerte Aufsatzsammlung zur bislang eher vernachlaumlssig-ten Alltags- und Kulturgeschichte der Weimarer Republik in einer agrarisch-kleinstaumld-tisch gepraumlgten Region vor Es bleibt zu wuumlnschen dass diese den Impuls fuumlr weiter derartige Forschungen gibt

Michael Kitzing

Bernd BRAUN Ulrike HOumlRSTER-PHILIPPS In jeder Stunde Demokratie Joseph Wirth (1879ndash1956) Ein politisches Portraumlt in Bildern und Dokumenten Freiburg i Br modo-Verlag 2016 214 S Abb geb EUR 49ndash ISBN 978-3-86833-159-2

Der vorliegende sehr ansprechend gestaltete Bildband uumlber den Freiburger Reichs-kanzler der Weimarer Republik Joseph Wirth besteht aus zwei Bereichen Der stark ge-wichtete bildliche Teil mit insgesamt 178 Abbildungen enthaumllt neben einigen privaten Fotos vor allem solche von oumlffentlichen Auftritten Wirths in seinen diversen politischen Funktionen Karikaturen aus zeitgenoumlssischen Zeitschriften Gemaumllde und Fotos von Weggefaumlhrten und Gegnern Ablichtungen von Bucheinbaumlnden aber auch Fotografien die das Lebensumfeld Wirths beleuchten etwa zeitgenoumlssische Aufnahmen seiner Hei-matstadt Freiburg Hinzu kommen Faksimiles von schriftlichen Quellen der unterschied-lichsten Art Briefe Memoranden oder auch Postkarten von Weggefaumlhrten Diese zum Teil bislang unveroumlffentlichten Zeugnisse geben einen sehr interessanten und eindring-lichen Einblick in das Leben Wirths

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und lokal begrenzte Experimente der sozial engagierten Buumlrgerschichtldquo (S 74) eingefuumlhrt waren und sich auch in der benachbarten Schweiz und in Norddeutschland bereits erfolgreich betaumltigten Die landesweit agierende Wuumlrttembergische Sparkasse hatte ebenso wie die in ihrem Gefolge gegruumlndeten regionalen Sparkassen als gemeinnuumltzige Finanzinstitution die in die Zukunft wirkende Aufgabe jedermann die Moumlglichkeit zur Krisenvorsorge zu bieten und die Sparidee in und uumlber Wuumlrttemberg hinaus zu verbreiten

Nach diesen uumlber die Grenzen Wuumlrttembergs hinausweisenden landeshistorischen Bei-traumlgen lenkt Martin UEBELE in seinem Aufsatz bdquoDie Auswirkungen des Tamboraausbruchs auf China Ein Vergleich von Getreidepreisen mit Europa und den USA 1810ndash1820ldquo den Blick der Leserinnen nach Asien Uebele zieht die auf Wetter- und Erntedaten basierende Forschungsliteratur zu China heran um in seiner mit Statistiken unterlegten Darlegung eine bdquoDissonanzldquo zwischen den analysierten Daten zu Witterungsbedingungen und Ernteertraumlgen auf der einen Seite und den Getreidepreisen auf der anderen Seite festzu-stellen da sie mit Ausnahme der Provinz Yunnan nicht auf eine vom Tambora-Ausbruch verursachte Hungerkrise schlieszligen lieszligen Als bdquoErfolg versprechenden Erklaumlrungs- ansatzldquo (S 111) dafuumlr schlaumlgt Uebele die staumlrker diversifizierte chinesische Landwirtschaft vor die beim Ausfall der Reis- und Weizenernte ein Ausweichen der Menschen auf andere Nutzpflanzen ermoumlglichte

Clemens ZIMMERMANN wendet sich den bdquoAkteurskonstellationen und politische[r] Kommunikation in der Ernaumlhrungskrise 181618ldquo zu wobei er das Groszligherzogtum Baden bdquoim regionalen Kontextldquo der Schweiz und Wuumlrttembergs behandelt um die bdquokommuni-kative Seite der Geschehnisseldquo (S 124) waumlhrend der Tamborakrise zu analysieren Zim-mermann zeigt dass es die aus der Staats-Zeitung 1817 hervorgegangene Karlsruher Zeitung war die mit ihren auf Korrespondentenberichten ministerialen Informationen und Geruumlchten beruhenden Nachrichten uumlber die als bdquoTeuerungldquo bdquoHungerldquo und bdquoElendldquo umschriebene Ernaumlhrungskrise die Regierung zu aktivem auf die Nachbarlaumlnder reagie-renden Krisenmanagement veranlasste indem sie als Stimmungsbarometer einer Oumlffent-lichkeit avant la lettre das politische Leserinteresse fungierte

bdquoThe country is under water Reaktionen der zeitgenoumlssischen europaumlischen Publizistik auf das Jahr ohne Sommerldquo ist der Beitrag von Senta HERKLE uumlbertitelt einer der Mit-herausgeberinnen Sie analysiert die auf ihre jeweilige Leserschaft zugeschnittenen Presseberichte aus dem deutschen Suumldwesten aus Oumlsterreich Frankreich und Groszlig- britannien uumlber die Notlage der Bevoumllkerung das jeweilige Regierungshandeln und die Witterungsverhaumlltnisse in unterschiedlichen Medientypen (Tageszeitungen Zeitschriften Regierungs- und Intelligenzblaumltter) Innovativ stellten die Intelligenzblaumltter kausale Zusammenhaumlnge zwischen den juumlngst vergangenen Kriegszeiten der Situation der Staats-finanzen und der durch die Wetterverhaumlltnisse verstaumlrkten Notlage der Bevoumllkerung her Herkle unterstreicht damit nicht das Gewicht der Intelligenzblaumltter als bdquowirtschafts- und kulturhistorische Quelleldquo (S 150) sondern auch ihre Bedeutung fuumlr die lokale und regionale Leserschaft

Den Themenbereich Religion eroumlffnet Andreas LINK mit seinem Beitrag bdquoReligioumlse Reaktionen auf das Jahr achtzehnhundertunderfroren im Raum Bayerisch Schwabenldquo wobei er auf das Krisenbewaumlltigungspotential von Religion gerade im Hinblick auf die Volksfroumlmmigkeit und die Laienbewegungen eingeht die bdquokaum direkte Spuren hinter-lassen habenldquo (S 153) Welch lohnenswerte Spuren es in diesem Zusammenhang zu ver-folgen gilt zeigt Link an der partiell im wuumlrttembergischen Korntal zum Stehen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

wiederholt vom Reich wie auch von Groszligherzogtum angeregte Spendenaktionen und Opfertage

Zwar kann Volk aus den Erinnerungen seiner Eltern und Groszligeltern von manchem unverhofften Wiedersehen berichten doch brachte auch die Nachkriegszeit Belastungen So musste die Gemeinde Durchmarschquartiere fuumlr die heimkehrenden Soldaten stellen Waffen mussten abgegeben werden um Zweckentfremdungen von Heeresgut entgegen-zutreten Vor allem aber hatte der Krieg fuumlr viele Maumlnner langfristig schwere psychische Folgen Fuumlr viele ehemalige Kriegsteilnehmer galt bdquoKam die Rede auf die Vergangenheit so war der Erzaumlhler sofort wieder bei seiner Truppe Wer ihnen oumlfters begegnete kannte alles schon Wort fuumlr Wort Am genauesten wusste es die Ehefrau sbquoWenn er nur einmal aufhoumlren wuumlrde vom anderletzten Krieg zu erzaumlhlenlsquoldquo (S 22)

Andreas MORGENSTERN beschaumlftigt sich mit dem Umbruch in Schiltach und der Taumltigkeit des dortigen Volksrates (S 79ndash88) Auch in der kleinen Industriestadt Lahr kam es zur Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates dessen Vorsitzender August Heinz schon 1919 uumlber den Verlauf der Revolution in Lahr berichtete Die Ausfuumlhrungen von Heinz sind im vorliegenden Band nochmals abgedruckt (S 191ndash200)

In Elzach kam es zwar nicht zur Schaffung eines Arbeiter- und Soldatenrates dafuumlr allerdings 1920 zu einer bdquoFastnachtsrevolutionldquo Gegen den Willen der Landesregierung die unter Bezugnahme auf die schweren Zeitlaumlufe auch 1920 keine Fastnachtsveranstal-tungen wuumlnschte setzten die Elzacher Schuttig ihr Narrentreiben durch Heiko HAUMANN erlaumlutert und interpretiert die genaueren Hintergruumlnde (S 89ndash100)

Nicht nur politisch sondern auch im Sport stand 1919 ein Neuanfang Nach dem Ersten Weltkrieg gelang dem Fuszligball der Durchbruch zum Massensport Die Zahl der Einzel-mitglieder des DFB stieg von 190000 (1914) auf 470000 (1920) um elf Jahre spaumlter die Millionengrenze zu uumlberschreiten Fuszligballfunktionaumlre der 1920er Jahre hatten dabei zwei Erklaumlrungen fuumlr die Popularitaumlt ihres Sports Sie betonten erstens dass die Mitglieder der Fuszligballvereine in einer krisengeschuumlttelten Zeit nach Zerstreuung suchten auch habe der Krieg die Ausbreitung des Fuszligballs gefoumlrdert Hinter den Frontlinien haumltten die Maumlnner waumlhrend der Kampfpausen Fuszligball gespielt und die neue Sportart in ihre Heimat gebracht Zudem betonten Fuszligballfunktionaumlre der 1920er Jahre zweitens dass ihre Sport-art klassenuumlbergreifend sei und keinerlei soziale Ausgrenzung gekannt habe

Uwe SCHELLINGER fragt nun nach den Motiven fuumlr die Vereinsgruumlndungen in laumlnd- lichen Gebieten Suumld- und Mittelbadens 1919 (S 65ndash77) Haben die gerade genannten Argumente auch hier zu Vereinsgruumlndungen beigetragen War der Fuszligball vor dem Ersten Weltkrieg vor allem in den groumlszligeren Staumldten verbreitet so kann Schellinger fuumlr 1919 tatsaumlchlich 17 Neugruumlndungen von Fuszligballvereinen nachweisen Jedoch erweist sich die Quellenlage zu den einzelnen Vereinen als aumluszligerst schwierig Gerade bei acht von 17 Vereinen laumlsst sich ein genaues Gruumlndungsdatum festlegen Bei drei Vereinen kann immerhin auf die Beteiligung von Militaumlr bei der Vereinsgruumlndung geschlossen werden In Bad Duumlrrheim gruumlndeten die Soldaten eines Reservelazaretts den oumlrtlichen Fuszligball-club Dieser war jedoch bei den Einheimischen nicht beliebt denn bereits zwei Turnver-eine hatten hier fusionieren muumlssen ein Turnverein galt als ausreichend Zudem musste der FC Bad Duumlrrheim recht bald seine Vereinslokalitaumlt wechseln Die Vereinsfarben bdquoRot-Weiszligldquo vor allem das vom Wirt als politisch verstandene bdquoRotldquo erweckten Misstrauen Bei anderen Vereinen kann Schellinger zudem nachweisen dass diese urspruumlnglich schon vor dem Ersten Weltkrieg gegruumlndet werden sollten aufgrund der Zeitlaumlufe die Gruumlndung jedoch aufgeschoben wurde ndash so bei Germania Rauental (Kreis Rastatt) und dem

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gebrachten Russlandwanderung der Anhaumlnger des charismatischen Dorfpfarrers Ignaz Lindl aus Baindlkirchen der der chiliastischen Allgaumluer Erweckungsbewegung nahe-stand

Sabine HOLTZ eine weitere Mitherausgeberin des Konferenzbandes vertieft mit ihrem Beitrag bdquoVor Miszligwachs Frost und Hagelwolke Behuumlt uns aller Engel Schar Religion und Kirche in Zeiten der Kriseldquo den Themenschwerpunkt Religion Sie blickt zuruumlck auf die Neuformierung Wuumlrttembergs 180306 als das evangelische Herzogtum zum erheb-lich vergroumlszligerten Koumlnigreich mit katholischer und juumldischer Bevoumllkerung wurde und geht dabei auf die staatsintegrative Kirchenreformpolitik Friedrichs I ein die fuumlr die evangelische wie katholische Kirche einem Staatskirchentum gleichkam Auf evange- lischer Seite erregte die Einfuumlhrung der grundlegend modernisierten Liturgie die u v a bei der Taufe ohne die fuumlr die Pietisten grundlegende bdquoAbsage des Taumluflings an den Teufelldquo auskam und auf katholischer Seite die Abschaffung von Feiertagen Prozessionen und vielen anderen vertrauten Formen der Volksfroumlmmigkeit die Ablehnung der Glaumlubi-gen Verstaumlrkt wurde der seitdem wahrnehmbare Dissens zwischen Kirche und Laien durch die Reaktionen der Amtskirchen auf die bedrohliche Hungerkrise die nicht die traditionellen Buszligpredigten und Wallfahrten ansetzten sondern pragmatisch-praktische Unterstuumltzungsmaszlignahmen zur Krisenbewaumlltigung ergriffen

Matthias OHM untersucht in seinem eindrucksvoll bebilderten Beitrag bdquoGross ist die Noth ndash o Herr erbarme Dich Wuumlrttembergische Medaillen auf die Hungersnot 1816 und den Erntesegen 1817ldquo fuumlnf wuumlrttembergische Medaillen die aus Anlass der Ernaumlhrungs-krise von 1816 und der guten Ernte des Folgejahres gepraumlgt wurden als Medien der Erinnerung Aumlhnlich den Volks- und Prachtausgaben von Buumlchern zielten auch die wuumlrt-tembergischen Hunger- und Erntemedaillen in unterschiedlicher kuumlnstlerischer Qualitaumlt und aus mehr oder weniger edlem Metall gefertigt bdquoals Erinnerungstraumlgerinnenldquo (S 230) auf ein ungleich betuchtes Publikum von diesem allerdings gleichermaszligen begeistert angenommen bestimmen sie bis heute die Erinnerung an die Reaktionen der Zeitgenos-sen auf die Tamborakrise

Joachim KREMER setzt wie man angesichts seines Themas bdquoWenn es blitzt wenn es kracht hellipldquo Naturereignisse und die Vampyr-Opern Heinrich Marschners und Peter von Lindpaintnersldquo formulieren darf den musikhistorischen Schlussakkord des Kon- ferenzbandes Er stellt zwei an John Polidoris 1816 am Genfer See entstandene Erzaumlh- lung bdquoThe Vampyreldquo angelehnte 1828 in Stuttgart bzw Leipzig uraufgefuumlhrte und zeitgenoumlssisch trotz ihrer atmosphaumlrischen Gegensaumltzlichkeit erfolgreiche Opern vor die beide die Wetterphaumlnomene der Krisenjahre in TextLibretto und Vertonung auf- griffen

Insgesamt haumllt dieser interdisziplinaumlre Konferenzband was sein Titel verspricht und vermittelt seinen Leserinnen und Lesern innovative weit uumlber den deutschen Suumldwesten hinausweisende international vergleichende Einblicke in die Wahrnehmung und Bewaumll-tigung der Tambora(ernaumlhrungs)krise Gerade auch die in den Beitraumlgen angesprochene Vorgeschichte des bdquogroszligen Noth- und HungerJahrsldquo 1816 im Suumldwesten ndash ob sie auf die politisch-oumlkonomischen Herausforderungen der Reformzeit verweisen ob sie auf die kri-senverschaumlrfenden klimatischen Bedingungen der schlechten Ernten der Jahre 1813ndash15 eingehen oder ob sie die Stimmung der Bevoumllkerung medial oder kuumlnstlerisch ausmessen ndash zeigen das Erklaumlrungspotential vertiefter Kontextualisierung und multiperspektivisch verglichener zeitgenoumlssischer Wahrnehmung und Deutung

Ina Ulrike Paul

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Diese demokratischen Errungenschaften standen jedoch fuumlr die Zeitgenossen im Schatten der Niederlage im Ersten Weltkrieg Ganz besonders galt dies fuumlr Baden Durch den Ver-sailler Vertrag war Baden zum Grenzland geworden und Elsass-Lothringen als Markt weggebrochen auch wurde Kehl als Bruumlckenkopf durch die Franzosen besetzt

Zahlreiche Forschungen haben sich vor diesem Hintergrund mit dem Umbruch 19181919 in den Staumldten beschaumlftigt so bereits die von der badischen Vorlaumlufigen Volks-regierung angeregte Studie von Wilhelm Engelbert Oeftering bdquoDer Umsturz 1918 in Badenldquo (Konstanz 1920) die vor allem das Geschehen in Mannheim und Karlsruhe in den Fokus ruumlckt Die Autoren der vorliegenden Publikation moumlchten dagegen nach der Lebenswelt der Menschen in der Endphase des Ersten Weltkrieges wie auch waumlhrend der Weimarer Republik im kleinstaumldtischen und laumlndlichen Mittel- und Suumldbaden fragen Bei den hier publizierten Aufsaumltzen handelt es sich um leicht uumlberarbeitete Fassungen der Vortraumlge des 5 Tags der Regionalgeschichte der im Juni 2018 in Waldkirch statt- gefunden hat

Zum Auftakt des Bandes blickt Karl VOLK auf die bdquoStimmung in Gremmelsbach gegen Kriegsende 191718ldquo (S 13ndash22) Grundlage fuumlr die Ausfuumlhrungen Volks bilden Feld-postbriefe von Soldaten sowie die Unterlagen der Gemeindeverwaltung des kleinen Schwarzwalddorfes Gremmelsbach (heute Teilort der Stadt Triberg) Der Lehrer und Heimatforscher Volk der bereits in einem fortgeschrittenen Lebensalter steht (Jg 1936) kann bei seinen Ausfuumlhrungen zudem auf die Erinnerungen seiner Eltern und Groszligeltern zuruumlckgreifen

Aus der Feldpost der Soldaten aus Gremmelsbach ergibt sich dass diese kaum von Hassgefuumlhlen sei es gegenuumlber den Feinden der eigenen politischen oder militaumlrischen Fuumlhrung oder auch der des Gegners gepraumlgt waren Dagegen spricht aus den Briefen die Brutalitaumlt des Krieges und die Furcht die Angehoumlrigen nicht wieder zu sehen Aus den Schriftwechseln mit den Familien zuhause in Gremmelsbach wird auszligerdem deutlich welch dramatische Folgen Einberufung oder gar der Tod von Soumlhnen haben konnten Volk berichtet von einem Fall in dem der Verlust mehrerer Soumlhne den Niedergang eines der wohlhabendsten Houmlfe des Dorfes zur Folge hatte Auch die Trauer und Verlegenheit des Pfarrers der den Tod der Ehemaumlnner Soumlhne und Bruumlder den Familien beibringen musste sind Thema der Briefe Doch nicht nur der Tod von Angehoumlrigen sondern auch das Einschmelzen der Kirchenglocken zur Metallgewinnung fuumlr den Krieg bzw das letzte Laumluten der Glocken vor dem Abtransport werteten die Buumlrger der Schwarzwaldgemeinde als schlechtes Vorzeichen

Anhand der Rathausakten zeigt Volk weiter auf wie sich die Kommunalverwaltung einer Flut von Verordnungen aus Berlin und Karlsruhe ausgesetzt sah Im Zentrum dieser Verordnungen standen u a Rationierungsmaszlignahmen Ab 1917 wurde genau festgelegt welche Menge an Hafer und Gerste an Zugtiere verfuumlttert werden durfte Auch wurden saumlmtliche landwirtschaftlich nutzbare Flaumlchen erfasst genauso musste der Buumlrgermeister daruumlber Auskunft geben inwieweit bdquoAnzeichen bevorstehender Unruhenldquo (S 16) aus- gemacht werden konnten Dies war in Gremmelsbach nicht der Fall Auch zahlreiche andere Anfragen an die Gemeindeverwaltung Gremmelsbach waren im Grunde gegen-standslos So konnte der Buumlrgermeister nicht uumlber etwaige Liebesverhaumlltnisse von deut-schen Maumlgden mit Kriegsgefangenen berichten da es in Gremmelsbach keine Kriegs- gefangenen gab die zur Arbeit in der Landwirtschaft zwangsverpflichtet worden waren Zum Kennzeichen der Kriegsjahre wurden fuumlr die Buumlrger der kleinen Schwarzwald- gemeinde jedoch die Kriegsanleihen die manchen um ein Vermoumlgen brachten und

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Hans FENSKE Auf dem Weg zur Demokratie Das Streben nach deutscher Einheit 1792ndash1871 Reinbek Lau-Verlag 2018 439 S Abb geb EUR 38ndash ISBN 978-3-95768-184-3

Die 1990er Jahre waren fuumlr die deutsche Geschichtswissenschaft eine Zeit in der sich weitreichende methodische Veraumlnderungen durchzusetzen begannen Die Geschichte der Auszligenpolitik wurde nicht mehr an den Quellen entlang als Entscheidung groszliger Maumlnner erzaumlhlt Historikerinnen und Historiker uumlbernahmen aus der Politologie Theorien der internationalen Beziehungen und fragten nach dem Wandel des internationalen Staaten-systems Sie entdeckten in der Folge die Bedeutung von symbolischen Handlungen und Inszenierungen fuumlr die Auszligenpolitik der letzten 200 Jahre fragten nach der Relevanz von Emotionen und dem Erklaumlrungspotential der Kategorie Imperium Ausgehend von Vordenkern in den 1980er Jahren entstand parallel eine neue Historiographie uumlber Nation und Nationalismus die stark kulturalistisch gepraumlgt war (und ist) Sie verwies auf die Vielzahl und Konkurrenz nationaler Vorstellungen in der jeweiligen Zeit auf die Nation inhaumlrenten Dimensionen von Partizipationsangeboten nach innen und Aggression gegen-uumlber dem was als auszligen definiert wurde und sensibilisierte fuumlr unterschiedliche Akteure in den Nationalisierungsprozessen Zu diesen zaumlhlten auch Historiker wie die Forschung nicht nur fuumlr Deutschland umfassend herausgearbeitet hat So wurden auch aus dem 19 Jahrhundert stammende Deutungsmuster der Geschichtswissenschaft etwa der Borussianismus historisiert Schlieszliglich waumlre auf die Fruumlhneuzeithistoriker zu verweisen die das Heilige Roumlmische Reich Deutscher Nation nicht mehr als deutschen Nationalstaat begriffen (und begreifen) sondern seine spezifische Form von Staatlichkeit in seiner europaumlischen Eingebundenheit betonen Eine im Jahr 2018 erschienene Veroumlffentlichung mit dem Thema bdquoAuf dem Weg zur Demokratie Das Streben nach deutscher Einheit 1792ndash1871ldquo kann also vielfaumlltige Erwartungen wecken

Der 1936 geborene Historiker Hans Fenske skizziert das Ziel seines Buches in einem 15-zeiligen Vorwort in dem er ausgehend von der Niederlegung der Kaiserkrone durch Kaiser Franz II 1806 konstatiert dass bdquofast 900 Jahreldquo bdquoseit der Wahl des Frankenkoumlnigs Konrad zum deutschen Koumlnig in Forchheim 911ldquo verstrichen seien bdquomit dem Untergang des Reichesldquo aber bdquoder Wunsch der Deutschen nach staatlicher Zusammengehoumlrigkeit natuumlrlichldquo nicht aufgehoumlrt sondern bdquoim Gegenteil in der Folgezeit sehr an Kraftldquo gewon-nen habe bdquoDem Weg vom alten zum neuen Reichldquo sei seine Darstellung gewidmet die die deutsche Geschichte nicht im umfassenden Sinne nachzeichnen wolle sondern nur eine sehr wichtige Entwicklungslinie Dann beginnt Fenskes Darstellung mit einer Skizze der politischen Ereignisse zwischen 1792 und 1806 die das Ende des Heiligen Roumlmischen Reiches Deutscher Nation bedeuteten Hier wie im Folgenden konzentriert sich Fenske auf das Handeln der Herrscher und ihrer Berater und erzaumlhlt die Ereig- nisse als Geschichte von Kabinettspolitik Fuumlr den Vormaumlrz weicht der Autor insofern von dieser Erzaumlhlperspektive ab als dass er einige Akteure der Nationalbewegung kurz vorstellt und Ereignisse wie das Wartburg-Fest oder das Hambacher Fest erwaumlhnt Mit Blick auf die Revolution von 184849 interessiert sich Fenske fuumlr die National- staatsplaumlne der Paulskirche und das Handeln der Herrschenden Welche nationalen Ziele andere Gruppen vertraten tritt dahinter zuruumlck Gerade beim Blick auf 1848 zeigt sich zudem dass der Titel bdquoAuf dem Weg zur Demokratieldquo irrefuumlhrend ist denn Fenske fokussiert generell auf ausgewaumlhlte Aspekte des Weges zur Bildung des kleindeutschen Nationalstaates nicht auf die Entwicklung von Partizipationsrechten und demokratischen Ideen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Pomp abgrenzen wollte Hinzu kam bei Ebert sicherlich auch die Furcht vor Angriffen durch seine politischen Gegner mit Hilfe dieses neuen Mediums Und diese Furcht war nicht unbegruumlndet Gleich zu Beginn seiner Praumlsidentschaft wurde Ebert 1919 wegen des sogenannten Badehosenbildes mit Schmaumlhungen uumlberhaumluft die sich letztlich gegen die neue Republik richteten und seine ganze Amtszeit uumlberschatteten Erst allmaumlhlich lernten Eberts Stab und auch der Praumlsident selbst repraumlsentative Elemente in die praumlsidiale Amts-fuumlhrung einzubauen und nicht zuletzt mit Hilfe der Fotografie fuumlr sich zu nutzen Dabei lieszlig Ebert nun auch vereinzelt Bilder aus dem familiaumlr-privaten Bereich veroumlffentlichen allerdings sehr zuruumlckhaltend Ihm war wohl bewusst dass solche Aufnahmen in der Fruumlhphase der Weimarer Republik in einer Zeit der politischen und wirtschaftlichen Hochspannung schnell zu Lasten des dargestellten Politikers interpretiert werden konn-ten was Muumlhlhausen auch an signifikanten Beispielen darlegen kann

Die oumlffentliche Person Friedrich Ebert wird im Bildband in zahlreichen Facetten prauml-sentiert zunaumlchst in Portraumltaufnahmen die ihn meist als ernst blickenden und damit gemaumlszlig den Vorstellungen der damaligen Zeit als serioumlsen Politiker zeigen daruumlber hinaus in Bildern die seine Auftritte bei politischen Versammlungen und Konferenzen doku-mentieren Fotografien die ihn als Redner an Rednerpulten oder inmitten von Menschen-mengen zeigen aber auch Aufnahmen die seine Teilnahme an den wenigen politisch- repraumlsentativen Veranstaltungen belegen die es in der Weimarer Republik gab ndash allen voran an den von Ebert sehr gefoumlrderten Verfassungsfeiern oder bei seinen offiziellen Reisen durch die Republik Bilder die die auszligenpolitische Repraumlsentation des Reichs-praumlsidenten beinhalten sind hingegen relativ selten da derartige Anlaumlsse nicht zuletzt aufgrund der internationalen Isolation Deutschlands selten waren Hinzu kommen Bilder von Messebesuchen Aufnahmen mit Kuumlnstlern Wissenschaftlern etc Schoumln herausge-arbeitet ist auch die Praxis der Reisetaumltigkeit Eberts im Kapitel Fortbewegung Es zeigt einen Reichspraumlsidenten der sich verkehrstechnisch auf der Houmlhe der Zeit bewegte und neben Bahn und Auto auch schon das Flugzeug einsetzte Der Bildteil endet mit einem Abschnitt uumlber den Tod und das Begraumlbnis des Praumlsidenten

Aufgrund der wenigen uumlberlieferten Privatfotos die zudem meist arrangierte Aufnah-men und keine sbquoSchnappschuumlsselsquo sind konnte das Leben Friedrich Eberts in seiner gan-zen Breite nur bedingt in dem vorliegenden Bildband wiedergegeben werden Vielmehr steht der oumlffentlich auftretende Politiker im Mittelpunkt Andererseits geben gerade die Portraumltaufnahmen Eberts an denen auch sein koumlrperlicher Verfall erkennbar wird Ein-blick in die Belastungen die die politische Arbeit mit sich brachte und verweisen wenn-gleich vom Portraumltierten sicherlich unbeabsichtigt auf ein sehr persoumlnliches Moment Insgesamt ist Muumlhlhausen mit diesem Band nicht nur ein wertvoller Beitrag zur poli- tischen Geschichte der Weimarer Republik gelungen sondern daruumlber hinaus auch zur Fotografiegeschichte dieser Zeit Es waumlre sicherlich lohnend derartige Publikationen auch fuumlr andere Persoumlnlichkeiten der Weimarer Zeit in Angriff zu nehmen

Martin Furtwaumlngler

Andreas MORGENSTERN (Hg) Revolutionaumlre Jahre auf dem Land Vom Kriegsende 1918 zur Weimarer Republik in Mittel- und Suumldbaden (Lebenswelten im laumlndlichen Raum Historische Erkundungen in Mittel- und Suumldbaden Bd 5) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 208 S Abb geb EUR 1890 ISBN 978-3-95505-157-0

Der Umbruch der Jahre 19181919 brachte den Deutschen die parlamentarische De-mokratie und damit verbunden die Einfuumlhrung von Proporzwahl- und Frauenwahlrecht

68719 und 20 Jahrhundert

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In der Darstellung zur Zeit nach 1848 ruumlckt Fenske Bismarck immer mehr in den Mittelpunkt seiner Darstellung Aus einem groszligen Quellenfundus schoumlpfend fuumlgt der Historiker ndash hier wie auch schon in den vorangegangenen Passagen ndash zahllose Zitat zusammen Der Autor erzaumlhlt ereignisgeschichtlich den Weg von den Plaumlnen eines Unionsparlamentes uumlber die Kriege der 1860er Jahre bis zur Gruumlndung des deutschen Kaiserreiches von 1871 waumlhrend des deutsch-franzoumlsischen Krieges als Interaktion groszliger Maumlnner Andere Ansaumltze der Forschung diskutiert Fenske nicht Vereinzelt weist er kurz ihm als Bismarck- oder Preuszligenkritisch erscheinende Deutungen zuruumlck Schlieszliglich fasst Fenske seine Darstellung auf gut vier Seiten zusammen um abschlieszligend einige Worte zum Deutschen Kaiserreich von 1871 zu finden und mit Bismarck fuumlr die fruumlhe wilhelminische Zeit von einer latenten Parlamentsherrschaft zu sprechen und zu schlie-szligen dass Deutschland bis 1914 bdquoauf dem Wege zur Demokratieldquo weit vorangekommen sei (S 385)

Erfahrungswissen und Erwartungshorizont sind nicht nur zentrale Kategorien mit deren Hilfe die Geschichtswissenschaft seit vielen Jahren ertragreich arbeitet Sie bestimmen auch den Blick eines Rezensenten Dies gilt auch fuumlr diese Besprechung An-gesichts des Eingangs skizzierten Wandels der Forschungsperspektiven seit den 1990er Jahren erfuumlllt die Veroumlffentlichung von Fenske nicht die Erwartungen des Rezensenten Andere moumlgen dies anders sehen

Christopher Dowe

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Nation im Siegesrausch Wuumlrttemberg und die Gruumlndung des Deutschen Reiches 187071 Begleitbuch zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Wuumlrttemberg Hauptstaatsarchiv Stuttgart Stuttgart Kohlhammer 2020 384 S Abb 1 Beil geb EUR 35ndash ISBN 978-3-17-038182-7

Der Deutsch-Franzoumlsische Krieg von 187071 und die Gruumlndung des Deutschen Rei-ches sind in der heutigen Erinnerungskultur nur noch wenig praumlsent obgleich die deut-sche Nationsbildung unter Fuumlhrung des militaumlrisch erfolgreichen Koumlnigreichs Preuszligen und die Demuumltigung Frankreichs tiefgreifende Folgen fuumlr den weiteren Verlauf der europaumlischen Geschichte hatten Fuumlr Wuumlrttemberg dessen Koumlnig und Bevoumllkerung einer Nationalstaatsgruumlndung unter preuszligischer Fuumlhrung ablehnend gegenuumlberstanden bildete der Krieg gegen Frankreich einen Wendepunkt Hatte die preuszligenfeindliche Volkspartei noch im Fruumlhjahr 1870 gegen das wuumlrttembergische Kriegsdienstgesetz agitiert so wurde nach Kriegsbeginn im Juli und den ersten deutschen Siegen im August 1870 auch Wuumlrt-temberg von einer Welle nationaler Begeisterung erfasst der sich Koumlnig und Regierung nicht widersetzen konnten Dennoch trat das Koumlnigreich Wuumlrttemberg erst als letzter suumld-deutscher Staat am 25 November 1870 dem Deutschen Reich bei

Der vorliegende Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Hauptstaatsarchiv Stuttgart beleuchtet in zwoumllf Beitraumlgen die historischen Ereignisse die eine tiefgreifende Zaumlsur in der wuumlrttembergischen Geschichte und einen Verlust an staatlicher Eigenstaumln-digkeit mit sich brachten Zwei Beitraumlge naumlhern sich dem Gegenstand aus allgemeiner Perspektive Ewald FRIE geht der Frage nach ob das Deutsche Reich bei seiner Gruumlndung 1871 als Imperium oder als Nationalstaat einzuordnen sei und kommt zum Schluss dass das Deutsche Reich beides nicht war sondern bdquosich Reich nannte und Nation sein bzw werden wollteldquo (S 9) Erst durch die Kolonialpolitik erfolgte um 1900 eine Neuausrich-tung des Reiches hin zu einer neuen bdquoWeltpolitikldquo Ute PLANERT betont in ihrem Beitrag

682 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 682

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

bdquoNationalismus und Krieg ndash eine innige Beziehungldquo dass Nationalstaaten seit dem 18 Jahrhundert meist als bdquoKriegsgeburtenldquo entstanden sind (S 17) Das nationale Prinzip trage zwar zum staatlichen Zusammenhalt bei jedoch auf Kosten von ethnischen oder religioumlsen Minderheiten und unter Androhung von Gewalt gegenuumlber benachbarten Nationen

Es folgen Beitraumlge zum militaumlrischen Konflikt Gerhard P GROSS fuumlhrt aus dass der Deutsch-Franzoumlsische Krieg bdquozugleich Bestaumltigung und Wendepunkt des deutschen militaumlrischen Denkensldquo war (S 42) was sich bis hin zur deutschen Kriegsfuumlhrung im Zeitalter der Weltkriege ausgewirkt habe Der wuumlrttembergische Anteil an den mili- taumlrischen Operationen von 187071 bildet das Thema von Wolfgang MAumlHRLE der neue Einsichten fuumlr die auch militaumlrische Bedeutung des wuumlrttembergischen Kontingents vermittelt Unter dem Titel bdquoDer Krieg von 187071 als sbquoRacenkampflsquoldquo beschreibt Frank BECKER wie sozialdarwinistische Vorstellungen herangezogen wurden um den deutschen Sieg als Folge der Uumlberlegenheit der germanischen bdquoRasseldquo zu begruumlnden Anhand von vier exemplarischen Erinnerungsbuumlchern deutscher Veteranen des Kriegs von 187071 von denen allerdings nur einer im wuumlrttembergischen Militaumlr diente widmet sich der Beitrag von Tobias ARAND den Erinnerungen ehemaliger Soldaten als Zeugnisse ver- gangener Erinnerungskulturen und bdquoSpiegel gesellschaftlicher Diskurseldquo (S 97) Der Beitrag von Albrecht ERNST beleuchtet unter dem Titel bdquoDer Krieg ist furchtbar aber schoumln ist die Begeisterungldquo anhand der Briefe von Prinz Wilhelm von Wuumlrttemberg dessen persoumlnliche Einschaumltzungen und Beobachtungen des Frankreichfeldzugs 187071 Prinz Wilhelm stand im Gegensatz zum Koumlnigspaar der deutschen Einigung unter preuszligischer Fuumlhrung positiv gegenuumlber Der spaumltere wuumlrttembergische Koumlnig war allerdings nicht in die politischen Verhandlungen einbezogen und erfuhr erst durch ein Gespraumlch mit Groszligherzog Friedrich von Baden vom Beitritt Wuumlrttembergs im Novem- ber 1870

Ausfuumlhrungen zu unterschiedlichen Aspekten der deutschen Reichsgruumlndung schlieszligen sich an Unter dem Titel bdquoMonarchien unter Stress Die Vulnerabilitaumlt der Throne im deutschen und italienischen Nationsbildungsprozessldquo vergleicht Amerigo CARUSO die Auswirkungen der Nationalbildungsprozesse in Italien und Deutschland auf die Mo- narchien der Einzelstaaten die sehr unterschiedlich verlaufen sind Nicole BICKHOFF behandelt in ihrem Beitrag bdquosbquoWuumlrttemberg ist so feindlich []lsquo Das wuumlrttembergische Koumlnigshaus und die Gruumlndung des Deutschen Reichesldquo den angesichts der preuszligenfeind-lichen Haltung des Koumlnigspaares schwierigen Prozess des Beitritts von Wuumlrttemberg Aumlhnlich wie in der wuumlrttembergischen Bevoumllkerung insgesamt so vollzog sich wie Daniel MENNING zeigt auch im wuumlrttembergischen Adel erst durch die Dynamik der Ereignisse der 1860er Jahre eine Hinwendung zur kleindeutschen Nationalstaatsgruumln-dung und 1870 brachten dann viele Angehoumlrige des Adels ihre Zustimmung zur Reichs-gruumlndung auch oumlffentlich zum Ausdruck Mit der Entstehung der Reichsverfassung befasst sich Michael KOTULLA aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive wobei er mit den Schutz- und Trutzbuumlndnissen 186667 beginnt und dies bis zur Reichsverfassung weiterverfolgt Anhand wuumlrttembergischer Denkmale konstatiert Friedemann SCHMOLL in seinem Beitrag bdquoGleichschritt Eigenstaumlndigkeit Doppelloyalitaumlten Krieg Sieg Reich und Nation im wuumlrttembergischen Denkmalkult nach 187071ldquo die bdquotiefe Verankerung des Reichsnationalismusldquo der jedoch im Sinne eines bdquofoumlderativen Nationalismusldquo (S 179) die Loyalitaumlt gegenuumlber Wuumlrttemberg und seiner kulturellen Eigenstaumlndigkeit nicht in Frage stellte

68319 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 683

ziemlich unverstellten Blick auf das individuelle Erleben und Erleiden des Frontgesche-hens eroumlffnet sowie der Leserschaft einmal mehr die Grausamkeit und Eigendynamik entfesselter militaumlrischer Konflikte veranschaulicht

Michael Bock

Walter MUumlHLHAUSEN Friedrich Ebert Sein Leben in Bildern hg von der Stiftung Reichs-praumlsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstaumltte Ostfildern Thorbecke 2019 272 S Abb geb EUR 38ndash ISBN 978-3-7995-1371-5

Die Fotografie avancierte in der Weimarer Republik zum entscheidenden Medium fuumlr die Wahrnehmung eines Politikers in der Oumlffentlichkeit Die Macht der Bilder wurde massentauglich Denkmaumller Gemaumllde Bauten wurden in ihrer propagandistischen Wir-kung uumlberfluumlgelt durch die beliebig zu vervielfaumlltigende Fotografie die auf Postkarten Zeitungen oder in Illustrierten oft ein Millionenpublikum erreichte Vor diesem Hinter-grund praumlsentiert Walter Muumlhlhausen ausgewiesener Kenner der Lebensgeschichte Fried-rich Eberts seinen vorliegenden Bildband uumlber den ersten Reichspraumlsidenten Mit einer Auswahl von rund vierhundert Aufnahmen soll das Leben Eberts in Bildern nachgezeich-net werden Die Abbildungen konnten zum uumlberwiegenden Teil durch eine systematische Suche in den zentralen deutschen Bildsammlungen sowie durch sporadische Recherchen in auslaumlndischen Bildarchiven ermittelt werden

Nach einer umfassenden und instruktiven Einleitung wird das Leben Eberts bildlich in chronologischen Abschnitten praumlsentiert wobei die Zeit seiner Reichspraumlsidentschaft aufgrund der relativen Dichte des vorliegenden Bildmaterials eine thematische Unter-gliederung erfaumlhrt Erwartungsgemaumlszlig sind aus Kindheit Jugend und dem jungen Erwach-senenalter Eberts nur wenige fotografische Zeugnisse uumlberliefert Schlieszliglich konnte sich sein im kleinhandwerklichen Milieu angesiedeltes Elternhaus und spaumlter auch er selbst als Sattlergeselle gar nicht oder nur sehr selten den Gang zum Fotografen leisten der fuumlr die Erstellung von Lichtbildern im letzten Drittel des 19 und fruumlhen 20 Jahrhundert noch unabdingbar war Insgesamt uumlberwiegen auch fuumlr die spaumltere Zeit als prominenter Poli-tiker die im oumlffentlichen Raum entstandenen Bilder von professionellen Pressefotografen Rein private Aufnahmen sind nur in geringerer Zahl uumlberliefert was zum Teil vielleicht auch aus Kriegsverlusten aus dem Zweiten Weltkrieg herruumlhrt in dem der Haushalt von Eberts Witwe bei einem Bombenangriff zerstoumlrt wurde

Doch uumlberraschenderweise liegen auch fuumlr den Lebensabschnitt als Reichspraumlsident von 1919 bis 1925 so Muumlhlhausen nicht so viele fotografische Zeugnisse uumlber Eberts Auftreten im oumlffentlichen Raum vor wie zu erwarten gewesen waumlre Dies lag zum einen an den lange Zeit begrenzten technischen Moumlglichkeiten der Fotografie Die ersten wirk-lich praktikablen Handkameras die die Fotografen mobiler und flexibler machten und sbquoSchnappschuumlsselsquo erlaubten waren erst nach der Inflationszeit 1923 serienmaumlszligig verfuumlg-bar Die eingeschraumlnkten Moumlglichkeiten davor dokumentiert der Band auch sehr ein-drucksvoll wenn etwa Personen auf Bildern nur verschwommen zu sehen sind weil sie sich im Moment der Aufnahme geringfuumlgig bewegt haben (vgl z B S 133 Abb 16 und 17) Zum anderen lag die relativ geringe Zahl an Aufnahmen aus der Zeit seiner Reichs-praumlsidentschaft in Ebert selbst begruumlndet Denn lange Zeit stand der Reichspraumlsident einer intensiven Oumlffentlichkeitsarbeit und damit auch Fotografien von seiner Person skep-tisch bis ablehnend gegenuumlber Neben der ihm eigenen persoumlnlichen Bescheidenheit kam darin auch die in der SPD weitverbreitete Ablehnung des Personenkults und der aus-ufernden Repraumlsentation zum Ausdruck womit man sich vor allem vom kaiserzeitlichen

686 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 686

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Den letzten Abschnitt bildet der Katalogteil der die 180 Exponate umfassende Aus-stellung im Hauptstaatsarchiv Stuttgart eindruumlcklich und sachkundig dokumentiert Diese geht auf die Vorgeschichte der Reichsgruumlndung in Wuumlrttemberg ein gefolgt von der Beteiligung der wuumlrttembergischen Armee am Deutsch-Franzoumlsischen Krieg und dem Stimmungswandel in Wuumlrttemberg hinsichtlich einer Nationalstaatsgruumlndung unter preu-szligischer Fuumlhrung sie wird abgeschlossen durch einen Abschnitt zum Erinnerungskult zu dem Deutsch-Franzoumlsischen Krieg und der Reichsgruumlndung in Wuumlrttemberg Breiter Raum in dem hervorragend kommentierten und ausgestatteten Katalogteil wird auch den oft schweren Verwundungen von Soldaten und den erheblichen Zerstoumlrungen von fran-zoumlsischen Staumldten wie Straszligburg gewidmet Die Erinnerungskultur uumlberdeckte spaumlter die Tatsache dass der deutsche Sieg alles andere als leicht war und eine groszlige Zahl an Todesopfern forderte Der erdrutschartige Erfolg der Nationalliberalen bei den Wahlen zur wuumlrttembergischen Abgeordnetenkammer 1870 sowie die Erinnerungsschriften und Denkmaumller im Gefolge von Krieg und Reichsgruumlndung finden ebenfalls in vielen Expo-naten Beruumlcksichtigung Den Abschluss bilden eine Literaturliste und eine Karte zur wuumlrttembergischen Beteiligung am Kriegsverlauf 187071

Der reich mit vielen farbigen Abbildungen ausgestattete Band vermittelt ein eindruumlck-liches Bild der Rolle Wuumlrttembergs im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg und bei der Reichs-gruumlndung Es ist zu wuumlnschen dass er dazu beitraumlgt diesem zentralen Einschnitt in der europaumlischen Geschichte neue Aufmerksamkeit zu schenken Interessant waumlren dabei insbesondere vergleichende Darstellungen zur Entwicklung beim damaligen Kriegsgeg-ner Frankreich etwa hinsichtlich der Vorgeschichte des Krieges und der Erinnerungs-kultur Speziell fuumlr Wuumlrttemberg koumlnnte auch der Frage nachgegangen werden wie der Prozess der Nationsbildung in der Bevoumllkerung vonstattenging Auch ein Ausblick ob der dargestellte Einstellungswandel gegenuumlber Preuszligen und dem von ihm dominierten Reich von Dauer war und ob es auch andere Haltungen gab die nach der Reichsgruumlndung zum Tragen kamen waumlre hier von Belang Der eindrucksvolle Band bietet eine ausge-zeichnete Grundlage fuumlr solche weiteren Forschungen

Michael Wettengel

Carl PISTER Tagebuch 1914ndash1918 hg von Volker KRONEMAYER (Schriftenreihe des Ver-eins fuumlr Heimat- und Brauchtumspflege BruumlhlRohrhof eV Bd 1) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 192 S Abb Kt geb EUR 1890 ISBN 978-3-95505-121-1

Zu unterscheiden sind offizielle und inoffizielle Kriegstagebuumlcher Bei der amtlichen Gattung handelt es sich um mehr oder minder standardisierte in der Regel chronologisch angelegte schriftliche Darlegungen militaumlrischer Einheiten Verbaumlnde und Dienststellen diverser Organisationsebenen uumlber ver- und bemerkenswerte Aktivitaumlten und Ereignisse in ihrem jeweiligen Funktions- Operations- und Zustaumlndigkeitsbereich (z B befindet sich eine umfangreiche Uumlberlieferung offizieller Tagebuumlcher des die badischen Truppen-teile umfassenden XIV Armeekorps des deutschen Reichsheers aus dem Ersten Weltkrieg in den Bestaumlnden des Generallandesarchivs Karlsruhe) Kriegstagebuumlcher privater Provenienz hingegen sind subjektive Aufzeichnungen zumeist von Soldaten uumlber ihre Erlebnisse und Erfahrungen an den Schauplaumltzen ihrer Einsaumltze Ein prominentes Exem-plar dieser Gattung ist Ernst Juumlngers Erstlingswerk bdquoIn Stahlgewitternldquo Die meisten persoumlnlichen Kriegsdiarien bleiben indessen eher unbekannt Der Heimatverein in der nordbadischen Gemeinde Bruumlhl hat den Aufwand nicht gescheut ein solches aus der

684 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 684

Versenkung zu heben und der Oumlffentlichkeit zu praumlsentieren ndash nicht allzu uumlberraschend handelt es sich beim Autor doch um einen ehemaligen Buumlrgermeister (1919ndash1928) dieser Kommune Der Tagebuchschreiber dessen Kurzbiografie uumlbrigens ans Ende der Publi-kation platziert wurde heiszligt Carl Pister bereits ab 1912 ndash mit 28 Jahren ndash Gemeinderat (SPD) in Bruumlhl Die veroumlffentlichte Fassung entspricht dem in den 1920er Jahren erstell-ten 183 Seiten umfassenden Typoskript seines waumlhrend des Ersten Weltkriegs regelmaumlszligig gefuumlhrten Tagebuchs mit nachtraumlglich eingeflossenen Wertungen Ausformulierungen und Ergaumlnzungen des Verfassers Wesentlich angereichert wurde das Diarium mit zahl-reichen bebilderten Feldpostkarten die Pister an seine Frau Familie und Verwandte geschickt hatte und deren Wiedergabe in den chronologischen Zusammenhang eingebettet wurde Das Tagebuch beginnt am 5 August 1914 mit einer Postkarte vom Sammelpunkt Rastatt wo die Bahnverladung fuumlr den ersten Fronteinsatz stattfand und endet mit einem Eintrag vom 11 Dezember 1918 aus Niederzwehren bei Kassel als die Einheit der Pister zuletzt angehoumlrt hatte demobilisiert wurde Die mehr als vier Jahre dazwischen waren gepraumlgt durch einen haumlufigen Wechsel der Einsatzorte auch wenn der Verfasser bereits im Oktober 1914 einen Uumlbergang des Bewegungskriegs hin zu einem Stellungskrieg wahrnahm Anhand der 13 vom Herausgeber Volker Kronemayer gestalteten und in chro-nologischer Abfolge in den Text eingestreuten Skizzen laumlsst sich gut nachvollziehen an welchen Schauplaumltzen der Artillerist Carl Pister ndash zunaumlchst als Kanonier (unterster Mannschaftsdienstgrad) zuletzt als Sergeant (Funktions-Unteroffizier) ndash waumlhrend des Kriegsverlaufs eingesetzt wurde u a Saarburg (Sarrebourg) Verdun Somme-Front Ostende (Oostende) und Arras Die anfaumlngliche Hoffnung auf ein rasches Kriegsende bis Weihnachten zerstob bereits im Spaumltsommer 1914 angesichts taumlglich beobachteter zahlreicher Verluste im Kameradenkreis und unermesslicher Zerstoumlrungen Das Grauen dieses langanhaltenden sbquoWeltenbrandslsquo mit neuartigen Vernichtungswaffen schildert Pister eindrucksvoll so etwa beim Besuch eines verwundeten Kampfgefaumlhrten im Laza-rett bdquoIch sehe Soldaten die uumlberhaupt keinem Menschen mehr gleichen so entsetzlich sind die Gesichter entstellt Ja bei vielen fehlt uumlberhaupt der Begriff Gesicht denn dort wo fruumlher die Augen lagen ist eine klumpige Fleischmasse angewachsen Nase Mund und Ohren fehlen teilweise ganz die Zungen sind freigelegt da die Unter- kiefer voumlllig weggerissen sind Ich sehe Kameraden bei denen ein Auge direkt auf die Stirn sich verschoben hat waumlhrend das andere Auge ganz fehltldquo (S 71) und spaumlter bdquoAm Leben hat man kein Interesse mehr am liebsten einen frischen Schluck Wasser dann auf die Erde legen und schlafen einschlafen ohne nochmals zu erwachen Was Schlaf Das gibt es nun nicht mehr Das ist sinnlose Einbildung Zu was sind wir vier Jahre im Feld Das Stahlbad kennt keine Schwaumlchlinge Entweder parieren oder krepie-renldquo (S 158)

Mit Akribie hat der Herausgeber den im Tagebuch mit deutschen Bezeichnungen ver-sehenen Einsatzorten ndash in Fuszlignoten ndash jeweils deren heutige franzoumlsische oder belgische Namen (mit Postleitzahl und Staatszugehoumlrigkeit) hinzugefuumlgt Ebenfalls verwandte Kronemayer viel Muumlhe darauf sechs umfangreiche Anlagen zusammenzustellen um die Lektuumlre des Diariums zu erleichtern Dabei handelt es sich um Auflistungen aller im Tagebuch vorkommenden Orte sowie der Personennamen aus dem privaten und militaumlr-dienstlichen Umfeld Carl Pisters des Weiteren um Verzeichnisse der Soldatensprache und militaumlrischer Begriffe sowie der im Diarium erwaumlhnten militaumlrischen Einheiten und um eine luumlckenlose Chronologie der Einsatzorte Pisters Der Wert eines solchen persoumln-lichen Kriegstagebuchs bemisst sich gewiss primaumlr in seiner Authentizitaumlt die einen

68519 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 685

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Versenkung zu heben und der Oumlffentlichkeit zu praumlsentieren ndash nicht allzu uumlberraschend handelt es sich beim Autor doch um einen ehemaligen Buumlrgermeister (1919ndash1928) dieser Kommune Der Tagebuchschreiber dessen Kurzbiografie uumlbrigens ans Ende der Publi-kation platziert wurde heiszligt Carl Pister bereits ab 1912 ndash mit 28 Jahren ndash Gemeinderat (SPD) in Bruumlhl Die veroumlffentlichte Fassung entspricht dem in den 1920er Jahren erstell-ten 183 Seiten umfassenden Typoskript seines waumlhrend des Ersten Weltkriegs regelmaumlszligig gefuumlhrten Tagebuchs mit nachtraumlglich eingeflossenen Wertungen Ausformulierungen und Ergaumlnzungen des Verfassers Wesentlich angereichert wurde das Diarium mit zahl-reichen bebilderten Feldpostkarten die Pister an seine Frau Familie und Verwandte geschickt hatte und deren Wiedergabe in den chronologischen Zusammenhang eingebettet wurde Das Tagebuch beginnt am 5 August 1914 mit einer Postkarte vom Sammelpunkt Rastatt wo die Bahnverladung fuumlr den ersten Fronteinsatz stattfand und endet mit einem Eintrag vom 11 Dezember 1918 aus Niederzwehren bei Kassel als die Einheit der Pister zuletzt angehoumlrt hatte demobilisiert wurde Die mehr als vier Jahre dazwischen waren gepraumlgt durch einen haumlufigen Wechsel der Einsatzorte auch wenn der Verfasser bereits im Oktober 1914 einen Uumlbergang des Bewegungskriegs hin zu einem Stellungskrieg wahrnahm Anhand der 13 vom Herausgeber Volker Kronemayer gestalteten und in chro-nologischer Abfolge in den Text eingestreuten Skizzen laumlsst sich gut nachvollziehen an welchen Schauplaumltzen der Artillerist Carl Pister ndash zunaumlchst als Kanonier (unterster Mannschaftsdienstgrad) zuletzt als Sergeant (Funktions-Unteroffizier) ndash waumlhrend des Kriegsverlaufs eingesetzt wurde u a Saarburg (Sarrebourg) Verdun Somme-Front Ostende (Oostende) und Arras Die anfaumlngliche Hoffnung auf ein rasches Kriegsende bis Weihnachten zerstob bereits im Spaumltsommer 1914 angesichts taumlglich beobachteter zahlreicher Verluste im Kameradenkreis und unermesslicher Zerstoumlrungen Das Grauen dieses langanhaltenden sbquoWeltenbrandslsquo mit neuartigen Vernichtungswaffen schildert Pister eindrucksvoll so etwa beim Besuch eines verwundeten Kampfgefaumlhrten im Laza-rett bdquoIch sehe Soldaten die uumlberhaupt keinem Menschen mehr gleichen so entsetzlich sind die Gesichter entstellt Ja bei vielen fehlt uumlberhaupt der Begriff Gesicht denn dort wo fruumlher die Augen lagen ist eine klumpige Fleischmasse angewachsen Nase Mund und Ohren fehlen teilweise ganz die Zungen sind freigelegt da die Unter- kiefer voumlllig weggerissen sind Ich sehe Kameraden bei denen ein Auge direkt auf die Stirn sich verschoben hat waumlhrend das andere Auge ganz fehltldquo (S 71) und spaumlter bdquoAm Leben hat man kein Interesse mehr am liebsten einen frischen Schluck Wasser dann auf die Erde legen und schlafen einschlafen ohne nochmals zu erwachen Was Schlaf Das gibt es nun nicht mehr Das ist sinnlose Einbildung Zu was sind wir vier Jahre im Feld Das Stahlbad kennt keine Schwaumlchlinge Entweder parieren oder krepie-renldquo (S 158)

Mit Akribie hat der Herausgeber den im Tagebuch mit deutschen Bezeichnungen ver-sehenen Einsatzorten ndash in Fuszlignoten ndash jeweils deren heutige franzoumlsische oder belgische Namen (mit Postleitzahl und Staatszugehoumlrigkeit) hinzugefuumlgt Ebenfalls verwandte Kronemayer viel Muumlhe darauf sechs umfangreiche Anlagen zusammenzustellen um die Lektuumlre des Diariums zu erleichtern Dabei handelt es sich um Auflistungen aller im Tagebuch vorkommenden Orte sowie der Personennamen aus dem privaten und militaumlr-dienstlichen Umfeld Carl Pisters des Weiteren um Verzeichnisse der Soldatensprache und militaumlrischer Begriffe sowie der im Diarium erwaumlhnten militaumlrischen Einheiten und um eine luumlckenlose Chronologie der Einsatzorte Pisters Der Wert eines solchen persoumln-lichen Kriegstagebuchs bemisst sich gewiss primaumlr in seiner Authentizitaumlt die einen

68519 und 20 Jahrhundert

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

ziemlich unverstellten Blick auf das individuelle Erleben und Erleiden des Frontgesche-hens eroumlffnet sowie der Leserschaft einmal mehr die Grausamkeit und Eigendynamik entfesselter militaumlrischer Konflikte veranschaulicht

Michael Bock

Walter MUumlHLHAUSEN Friedrich Ebert Sein Leben in Bildern hg von der Stiftung Reichs-praumlsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstaumltte Ostfildern Thorbecke 2019 272 S Abb geb EUR 38ndash ISBN 978-3-7995-1371-5

Die Fotografie avancierte in der Weimarer Republik zum entscheidenden Medium fuumlr die Wahrnehmung eines Politikers in der Oumlffentlichkeit Die Macht der Bilder wurde massentauglich Denkmaumller Gemaumllde Bauten wurden in ihrer propagandistischen Wir-kung uumlberfluumlgelt durch die beliebig zu vervielfaumlltigende Fotografie die auf Postkarten Zeitungen oder in Illustrierten oft ein Millionenpublikum erreichte Vor diesem Hinter-grund praumlsentiert Walter Muumlhlhausen ausgewiesener Kenner der Lebensgeschichte Fried-rich Eberts seinen vorliegenden Bildband uumlber den ersten Reichspraumlsidenten Mit einer Auswahl von rund vierhundert Aufnahmen soll das Leben Eberts in Bildern nachgezeich-net werden Die Abbildungen konnten zum uumlberwiegenden Teil durch eine systematische Suche in den zentralen deutschen Bildsammlungen sowie durch sporadische Recherchen in auslaumlndischen Bildarchiven ermittelt werden

Nach einer umfassenden und instruktiven Einleitung wird das Leben Eberts bildlich in chronologischen Abschnitten praumlsentiert wobei die Zeit seiner Reichspraumlsidentschaft aufgrund der relativen Dichte des vorliegenden Bildmaterials eine thematische Unter-gliederung erfaumlhrt Erwartungsgemaumlszlig sind aus Kindheit Jugend und dem jungen Erwach-senenalter Eberts nur wenige fotografische Zeugnisse uumlberliefert Schlieszliglich konnte sich sein im kleinhandwerklichen Milieu angesiedeltes Elternhaus und spaumlter auch er selbst als Sattlergeselle gar nicht oder nur sehr selten den Gang zum Fotografen leisten der fuumlr die Erstellung von Lichtbildern im letzten Drittel des 19 und fruumlhen 20 Jahrhundert noch unabdingbar war Insgesamt uumlberwiegen auch fuumlr die spaumltere Zeit als prominenter Poli-tiker die im oumlffentlichen Raum entstandenen Bilder von professionellen Pressefotografen Rein private Aufnahmen sind nur in geringerer Zahl uumlberliefert was zum Teil vielleicht auch aus Kriegsverlusten aus dem Zweiten Weltkrieg herruumlhrt in dem der Haushalt von Eberts Witwe bei einem Bombenangriff zerstoumlrt wurde

Doch uumlberraschenderweise liegen auch fuumlr den Lebensabschnitt als Reichspraumlsident von 1919 bis 1925 so Muumlhlhausen nicht so viele fotografische Zeugnisse uumlber Eberts Auftreten im oumlffentlichen Raum vor wie zu erwarten gewesen waumlre Dies lag zum einen an den lange Zeit begrenzten technischen Moumlglichkeiten der Fotografie Die ersten wirk-lich praktikablen Handkameras die die Fotografen mobiler und flexibler machten und sbquoSchnappschuumlsselsquo erlaubten waren erst nach der Inflationszeit 1923 serienmaumlszligig verfuumlg-bar Die eingeschraumlnkten Moumlglichkeiten davor dokumentiert der Band auch sehr ein-drucksvoll wenn etwa Personen auf Bildern nur verschwommen zu sehen sind weil sie sich im Moment der Aufnahme geringfuumlgig bewegt haben (vgl z B S 133 Abb 16 und 17) Zum anderen lag die relativ geringe Zahl an Aufnahmen aus der Zeit seiner Reichs-praumlsidentschaft in Ebert selbst begruumlndet Denn lange Zeit stand der Reichspraumlsident einer intensiven Oumlffentlichkeitsarbeit und damit auch Fotografien von seiner Person skep-tisch bis ablehnend gegenuumlber Neben der ihm eigenen persoumlnlichen Bescheidenheit kam darin auch die in der SPD weitverbreitete Ablehnung des Personenkults und der aus-ufernden Repraumlsentation zum Ausdruck womit man sich vor allem vom kaiserzeitlichen

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Pomp abgrenzen wollte Hinzu kam bei Ebert sicherlich auch die Furcht vor Angriffen durch seine politischen Gegner mit Hilfe dieses neuen Mediums Und diese Furcht war nicht unbegruumlndet Gleich zu Beginn seiner Praumlsidentschaft wurde Ebert 1919 wegen des sogenannten Badehosenbildes mit Schmaumlhungen uumlberhaumluft die sich letztlich gegen die neue Republik richteten und seine ganze Amtszeit uumlberschatteten Erst allmaumlhlich lernten Eberts Stab und auch der Praumlsident selbst repraumlsentative Elemente in die praumlsidiale Amts-fuumlhrung einzubauen und nicht zuletzt mit Hilfe der Fotografie fuumlr sich zu nutzen Dabei lieszlig Ebert nun auch vereinzelt Bilder aus dem familiaumlr-privaten Bereich veroumlffentlichen allerdings sehr zuruumlckhaltend Ihm war wohl bewusst dass solche Aufnahmen in der Fruumlhphase der Weimarer Republik in einer Zeit der politischen und wirtschaftlichen Hochspannung schnell zu Lasten des dargestellten Politikers interpretiert werden konn-ten was Muumlhlhausen auch an signifikanten Beispielen darlegen kann

Die oumlffentliche Person Friedrich Ebert wird im Bildband in zahlreichen Facetten prauml-sentiert zunaumlchst in Portraumltaufnahmen die ihn meist als ernst blickenden und damit gemaumlszlig den Vorstellungen der damaligen Zeit als serioumlsen Politiker zeigen daruumlber hinaus in Bildern die seine Auftritte bei politischen Versammlungen und Konferenzen doku-mentieren Fotografien die ihn als Redner an Rednerpulten oder inmitten von Menschen-mengen zeigen aber auch Aufnahmen die seine Teilnahme an den wenigen politisch- repraumlsentativen Veranstaltungen belegen die es in der Weimarer Republik gab ndash allen voran an den von Ebert sehr gefoumlrderten Verfassungsfeiern oder bei seinen offiziellen Reisen durch die Republik Bilder die die auszligenpolitische Repraumlsentation des Reichs-praumlsidenten beinhalten sind hingegen relativ selten da derartige Anlaumlsse nicht zuletzt aufgrund der internationalen Isolation Deutschlands selten waren Hinzu kommen Bilder von Messebesuchen Aufnahmen mit Kuumlnstlern Wissenschaftlern etc Schoumln herausge-arbeitet ist auch die Praxis der Reisetaumltigkeit Eberts im Kapitel Fortbewegung Es zeigt einen Reichspraumlsidenten der sich verkehrstechnisch auf der Houmlhe der Zeit bewegte und neben Bahn und Auto auch schon das Flugzeug einsetzte Der Bildteil endet mit einem Abschnitt uumlber den Tod und das Begraumlbnis des Praumlsidenten

Aufgrund der wenigen uumlberlieferten Privatfotos die zudem meist arrangierte Aufnah-men und keine sbquoSchnappschuumlsselsquo sind konnte das Leben Friedrich Eberts in seiner gan-zen Breite nur bedingt in dem vorliegenden Bildband wiedergegeben werden Vielmehr steht der oumlffentlich auftretende Politiker im Mittelpunkt Andererseits geben gerade die Portraumltaufnahmen Eberts an denen auch sein koumlrperlicher Verfall erkennbar wird Ein-blick in die Belastungen die die politische Arbeit mit sich brachte und verweisen wenn-gleich vom Portraumltierten sicherlich unbeabsichtigt auf ein sehr persoumlnliches Moment Insgesamt ist Muumlhlhausen mit diesem Band nicht nur ein wertvoller Beitrag zur poli- tischen Geschichte der Weimarer Republik gelungen sondern daruumlber hinaus auch zur Fotografiegeschichte dieser Zeit Es waumlre sicherlich lohnend derartige Publikationen auch fuumlr andere Persoumlnlichkeiten der Weimarer Zeit in Angriff zu nehmen

Martin Furtwaumlngler

Andreas MORGENSTERN (Hg) Revolutionaumlre Jahre auf dem Land Vom Kriegsende 1918 zur Weimarer Republik in Mittel- und Suumldbaden (Lebenswelten im laumlndlichen Raum Historische Erkundungen in Mittel- und Suumldbaden Bd 5) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 208 S Abb geb EUR 1890 ISBN 978-3-95505-157-0

Der Umbruch der Jahre 19181919 brachte den Deutschen die parlamentarische De-mokratie und damit verbunden die Einfuumlhrung von Proporzwahl- und Frauenwahlrecht

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Diese demokratischen Errungenschaften standen jedoch fuumlr die Zeitgenossen im Schatten der Niederlage im Ersten Weltkrieg Ganz besonders galt dies fuumlr Baden Durch den Ver-sailler Vertrag war Baden zum Grenzland geworden und Elsass-Lothringen als Markt weggebrochen auch wurde Kehl als Bruumlckenkopf durch die Franzosen besetzt

Zahlreiche Forschungen haben sich vor diesem Hintergrund mit dem Umbruch 19181919 in den Staumldten beschaumlftigt so bereits die von der badischen Vorlaumlufigen Volks-regierung angeregte Studie von Wilhelm Engelbert Oeftering bdquoDer Umsturz 1918 in Badenldquo (Konstanz 1920) die vor allem das Geschehen in Mannheim und Karlsruhe in den Fokus ruumlckt Die Autoren der vorliegenden Publikation moumlchten dagegen nach der Lebenswelt der Menschen in der Endphase des Ersten Weltkrieges wie auch waumlhrend der Weimarer Republik im kleinstaumldtischen und laumlndlichen Mittel- und Suumldbaden fragen Bei den hier publizierten Aufsaumltzen handelt es sich um leicht uumlberarbeitete Fassungen der Vortraumlge des 5 Tags der Regionalgeschichte der im Juni 2018 in Waldkirch statt- gefunden hat

Zum Auftakt des Bandes blickt Karl VOLK auf die bdquoStimmung in Gremmelsbach gegen Kriegsende 191718ldquo (S 13ndash22) Grundlage fuumlr die Ausfuumlhrungen Volks bilden Feld-postbriefe von Soldaten sowie die Unterlagen der Gemeindeverwaltung des kleinen Schwarzwalddorfes Gremmelsbach (heute Teilort der Stadt Triberg) Der Lehrer und Heimatforscher Volk der bereits in einem fortgeschrittenen Lebensalter steht (Jg 1936) kann bei seinen Ausfuumlhrungen zudem auf die Erinnerungen seiner Eltern und Groszligeltern zuruumlckgreifen

Aus der Feldpost der Soldaten aus Gremmelsbach ergibt sich dass diese kaum von Hassgefuumlhlen sei es gegenuumlber den Feinden der eigenen politischen oder militaumlrischen Fuumlhrung oder auch der des Gegners gepraumlgt waren Dagegen spricht aus den Briefen die Brutalitaumlt des Krieges und die Furcht die Angehoumlrigen nicht wieder zu sehen Aus den Schriftwechseln mit den Familien zuhause in Gremmelsbach wird auszligerdem deutlich welch dramatische Folgen Einberufung oder gar der Tod von Soumlhnen haben konnten Volk berichtet von einem Fall in dem der Verlust mehrerer Soumlhne den Niedergang eines der wohlhabendsten Houmlfe des Dorfes zur Folge hatte Auch die Trauer und Verlegenheit des Pfarrers der den Tod der Ehemaumlnner Soumlhne und Bruumlder den Familien beibringen musste sind Thema der Briefe Doch nicht nur der Tod von Angehoumlrigen sondern auch das Einschmelzen der Kirchenglocken zur Metallgewinnung fuumlr den Krieg bzw das letzte Laumluten der Glocken vor dem Abtransport werteten die Buumlrger der Schwarzwaldgemeinde als schlechtes Vorzeichen

Anhand der Rathausakten zeigt Volk weiter auf wie sich die Kommunalverwaltung einer Flut von Verordnungen aus Berlin und Karlsruhe ausgesetzt sah Im Zentrum dieser Verordnungen standen u a Rationierungsmaszlignahmen Ab 1917 wurde genau festgelegt welche Menge an Hafer und Gerste an Zugtiere verfuumlttert werden durfte Auch wurden saumlmtliche landwirtschaftlich nutzbare Flaumlchen erfasst genauso musste der Buumlrgermeister daruumlber Auskunft geben inwieweit bdquoAnzeichen bevorstehender Unruhenldquo (S 16) aus- gemacht werden konnten Dies war in Gremmelsbach nicht der Fall Auch zahlreiche andere Anfragen an die Gemeindeverwaltung Gremmelsbach waren im Grunde gegen-standslos So konnte der Buumlrgermeister nicht uumlber etwaige Liebesverhaumlltnisse von deut-schen Maumlgden mit Kriegsgefangenen berichten da es in Gremmelsbach keine Kriegs- gefangenen gab die zur Arbeit in der Landwirtschaft zwangsverpflichtet worden waren Zum Kennzeichen der Kriegsjahre wurden fuumlr die Buumlrger der kleinen Schwarzwald- gemeinde jedoch die Kriegsanleihen die manchen um ein Vermoumlgen brachten und

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wiederholt vom Reich wie auch von Groszligherzogtum angeregte Spendenaktionen und Opfertage

Zwar kann Volk aus den Erinnerungen seiner Eltern und Groszligeltern von manchem unverhofften Wiedersehen berichten doch brachte auch die Nachkriegszeit Belastungen So musste die Gemeinde Durchmarschquartiere fuumlr die heimkehrenden Soldaten stellen Waffen mussten abgegeben werden um Zweckentfremdungen von Heeresgut entgegen-zutreten Vor allem aber hatte der Krieg fuumlr viele Maumlnner langfristig schwere psychische Folgen Fuumlr viele ehemalige Kriegsteilnehmer galt bdquoKam die Rede auf die Vergangenheit so war der Erzaumlhler sofort wieder bei seiner Truppe Wer ihnen oumlfters begegnete kannte alles schon Wort fuumlr Wort Am genauesten wusste es die Ehefrau sbquoWenn er nur einmal aufhoumlren wuumlrde vom anderletzten Krieg zu erzaumlhlenlsquoldquo (S 22)

Andreas MORGENSTERN beschaumlftigt sich mit dem Umbruch in Schiltach und der Taumltigkeit des dortigen Volksrates (S 79ndash88) Auch in der kleinen Industriestadt Lahr kam es zur Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates dessen Vorsitzender August Heinz schon 1919 uumlber den Verlauf der Revolution in Lahr berichtete Die Ausfuumlhrungen von Heinz sind im vorliegenden Band nochmals abgedruckt (S 191ndash200)

In Elzach kam es zwar nicht zur Schaffung eines Arbeiter- und Soldatenrates dafuumlr allerdings 1920 zu einer bdquoFastnachtsrevolutionldquo Gegen den Willen der Landesregierung die unter Bezugnahme auf die schweren Zeitlaumlufe auch 1920 keine Fastnachtsveranstal-tungen wuumlnschte setzten die Elzacher Schuttig ihr Narrentreiben durch Heiko HAUMANN erlaumlutert und interpretiert die genaueren Hintergruumlnde (S 89ndash100)

Nicht nur politisch sondern auch im Sport stand 1919 ein Neuanfang Nach dem Ersten Weltkrieg gelang dem Fuszligball der Durchbruch zum Massensport Die Zahl der Einzel-mitglieder des DFB stieg von 190000 (1914) auf 470000 (1920) um elf Jahre spaumlter die Millionengrenze zu uumlberschreiten Fuszligballfunktionaumlre der 1920er Jahre hatten dabei zwei Erklaumlrungen fuumlr die Popularitaumlt ihres Sports Sie betonten erstens dass die Mitglieder der Fuszligballvereine in einer krisengeschuumlttelten Zeit nach Zerstreuung suchten auch habe der Krieg die Ausbreitung des Fuszligballs gefoumlrdert Hinter den Frontlinien haumltten die Maumlnner waumlhrend der Kampfpausen Fuszligball gespielt und die neue Sportart in ihre Heimat gebracht Zudem betonten Fuszligballfunktionaumlre der 1920er Jahre zweitens dass ihre Sport-art klassenuumlbergreifend sei und keinerlei soziale Ausgrenzung gekannt habe

Uwe SCHELLINGER fragt nun nach den Motiven fuumlr die Vereinsgruumlndungen in laumlnd- lichen Gebieten Suumld- und Mittelbadens 1919 (S 65ndash77) Haben die gerade genannten Argumente auch hier zu Vereinsgruumlndungen beigetragen War der Fuszligball vor dem Ersten Weltkrieg vor allem in den groumlszligeren Staumldten verbreitet so kann Schellinger fuumlr 1919 tatsaumlchlich 17 Neugruumlndungen von Fuszligballvereinen nachweisen Jedoch erweist sich die Quellenlage zu den einzelnen Vereinen als aumluszligerst schwierig Gerade bei acht von 17 Vereinen laumlsst sich ein genaues Gruumlndungsdatum festlegen Bei drei Vereinen kann immerhin auf die Beteiligung von Militaumlr bei der Vereinsgruumlndung geschlossen werden In Bad Duumlrrheim gruumlndeten die Soldaten eines Reservelazaretts den oumlrtlichen Fuszligball-club Dieser war jedoch bei den Einheimischen nicht beliebt denn bereits zwei Turnver-eine hatten hier fusionieren muumlssen ein Turnverein galt als ausreichend Zudem musste der FC Bad Duumlrrheim recht bald seine Vereinslokalitaumlt wechseln Die Vereinsfarben bdquoRot-Weiszligldquo vor allem das vom Wirt als politisch verstandene bdquoRotldquo erweckten Misstrauen Bei anderen Vereinen kann Schellinger zudem nachweisen dass diese urspruumlnglich schon vor dem Ersten Weltkrieg gegruumlndet werden sollten aufgrund der Zeitlaumlufe die Gruumlndung jedoch aufgeschoben wurde ndash so bei Germania Rauental (Kreis Rastatt) und dem

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FC Weilersbach (Schwarzwald-Baar-Kreis) Bei drei Vereinen schlieszliglich ist das Gruumln-dungsjahr 1919 noch nicht einmal gesichert So fehlt beim SV 1919 Au am Rhein (Kreis Rastatt) die Vereinschronik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Die gleichwohl tra-dierten Gruumlndungsdaten sind widerspruumlchlich In Pfullendorf und Iffezheim wurde zwar seit 1919 angestoszligen jedoch handelt es sich bei den Fuszligballvereinen lediglich um Ab-teilungen des jeweiligen Turnvereins eigenstaumlndige Fuszligballvereine wurden erst in den 1920er Jahren aus den Turnvereinen ausgegliedert Am Ende seines Beitrages muss Schellinger von einem bdquoernuumlchternden Befundldquo (S 76) sprechen Es fehlen schlicht Quel-len die Auskunft geben koumlnnten uumlber die Hintergruumlnde der Vereinsgruumlndungen in den Doumlrfern unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ndash Ernuumlchternd ist uumlbrigens auch die sportliche Bilanz der 1919 gegruumlndeten Vereine Uumlber die Haumllfte spielte im Juni 2018 lediglich in der Kreisklasse nur drei in der Verbandsliga Suumldbaden (sechste Spielklasse)

Zwei Beitraumlge behandeln die Geschichte der Stadt Lahr in der Weimarer Republik Guumlnther KLUGERMANN erlaumlutert Hintergruumlnde und Ablaumlufe der Unruhen in Lahr und Um-gebung im Krisenjahr 1923 (S 101ndash138) waumlhrend Thomas MIETZNER nach den Voraus-setzungen fuumlr den Aufstieg der Nationalsozialisten in Lahr fragt (S 161ndash172) Unter den uumlbrigen Beitraumlgen sollen schlieszliglich noch zwei weitere Aufsaumltze die dem Themenkom-plex Erinnern und Gedenken gewidmet sind hervorgehoben werden Andreas Morgen-stern stellt anhand des Kreuzes auf dem Schrofen die Gedenkkultur an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges in Schiltach zwischen Weimarer Republik NS-Diktatur und Bun-desrepublik dar (S 139ndash159) waumlhrend Uli HILLENBRAND uumlber das Oral-History-Projekt bdquoKehl erinnert sichldquo berichtet (S 173ndash189) Zwischen September 2015 und Oktober 2018 fuumlhrten Schuumller des Einstein-Gymnasiums Kehl 170 Gespraumlche mit knapp 150 Zeitzeugen aus Kehl die in den 1920er und 1930er Jahren geboren sind Dabei stand jeweils die Frage im Mittelpunkt was diesen aus ihrer Jugend in der Weimarer Zeit im bdquoDritten Reichldquo und in der Nachkriegszeit in besonderem Maszlig erinnerlich war und wie sich aus ihrer Sicht der Alltag gestaltete

Die Autoren legen eine lesenswerte Aufsatzsammlung zur bislang eher vernachlaumlssig-ten Alltags- und Kulturgeschichte der Weimarer Republik in einer agrarisch-kleinstaumld-tisch gepraumlgten Region vor Es bleibt zu wuumlnschen dass diese den Impuls fuumlr weiter derartige Forschungen gibt

Michael Kitzing

Bernd BRAUN Ulrike HOumlRSTER-PHILIPPS In jeder Stunde Demokratie Joseph Wirth (1879ndash1956) Ein politisches Portraumlt in Bildern und Dokumenten Freiburg i Br modo-Verlag 2016 214 S Abb geb EUR 49ndash ISBN 978-3-86833-159-2

Der vorliegende sehr ansprechend gestaltete Bildband uumlber den Freiburger Reichs-kanzler der Weimarer Republik Joseph Wirth besteht aus zwei Bereichen Der stark ge-wichtete bildliche Teil mit insgesamt 178 Abbildungen enthaumllt neben einigen privaten Fotos vor allem solche von oumlffentlichen Auftritten Wirths in seinen diversen politischen Funktionen Karikaturen aus zeitgenoumlssischen Zeitschriften Gemaumllde und Fotos von Weggefaumlhrten und Gegnern Ablichtungen von Bucheinbaumlnden aber auch Fotografien die das Lebensumfeld Wirths beleuchten etwa zeitgenoumlssische Aufnahmen seiner Hei-matstadt Freiburg Hinzu kommen Faksimiles von schriftlichen Quellen der unterschied-lichsten Art Briefe Memoranden oder auch Postkarten von Weggefaumlhrten Diese zum Teil bislang unveroumlffentlichten Zeugnisse geben einen sehr interessanten und eindring-lichen Einblick in das Leben Wirths

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Begleitet wird dieser Bildbereich von einem damit korrespondierenden Text in dem die beiden Autoren das Leben Wirths skizzieren Wenngleich deren These dass Wirth bdquomittlerweile zu den herausragenden Politikern des 20 Jahrhundertsldquo (S 8) zaumlhle etwas uumlbertrieben scheint so ist ihnen darin zuzustimmen dass Wirth zu den entschiedensten Verfechtern bdquoder demokratischen Staatsform und des parlamentarischen Systemsldquo gerade in der Weimarer Republik zu rechnen ist Wie viele fuumlhrende Politiker dieser Epoche war er jedoch lange in Vergessenheit geraten und stoumlszligt erst in juumlngerer Zeit zu Recht wieder verstaumlrkt auf Interesse Gerade sein legendaumlr gewordener Ausspruch aus seiner Reichstagsrede anlaumlsslich der Ermordung Walter Rathenaus 1922 bdquoDer Feind steht rechtsldquo erfreut sich in der aktuellen politischen Diskussion in Deutschland gesteigerter Beliebtheit

Das Leben Wirths wird im vorliegenden Band in sechs Abschnitten beleuchtet Einem kuumlrzeren Kapitel uumlber seine Herkunft aus einem stark katholisch gepraumlgten Elternhaus und seine ersten politischen Aktivitaumlten als Stadtverordneter von Freiburg badischer Landtags- und Reichstagsabgeordneter fuumlr das Zentrum folgt ein laumlngerer Abschnitt uumlber sein Wirken in der Weimarer Republik Unbestreitbar war dies der Zeitraum seines Lebens in dem Wirth politisch am wirkungsmaumlchtigsten war Vom badischen Finanz- minister in der provisorischen Regierung nach der Revolution 1918 stieg er 1920 zum Reichsfinanzminister auf und 1921 fuumlr rund ein Jahr gar zum Reichskanzler Der Vertrag von Rapallo 1922 und die damit einhergehende Kooperation des Deutschen Reiches mit der Sowjetunion sind untrennbar mit seinem Namen verbunden Ende der 1920er Anfang der 1930er Jahre fungierte er nochmals als Reichsminister Es verwundert daher etwas dass dieser Lebensabschnitt Wirths nicht im Zentrum der Publikation steht Weitaus ausfuumlhrlicher werden vielmehr in den kommenden Abschnitten die politischen Aktivitaumlten Wirths aus der Zeit ab 1933 behandelt sein Kampf gegen Antisemitismus Judenverfolgung und seine Kontakte zum deutschen militaumlrischen Widerstand waumlhrend seiner Exilzeit in Paris und der Schweiz sowie vor allem seine friedens- und deutsch-landpolitischen Initiativen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Gerade sein Wider-stand gegen die Westintegration der jungen Bundesrepublik ndash die er als eine Gefaumlhr- dung des Friedens und als eine groszlige Bedrohung fuumlr eine Wiedervereinigung Deutsch-lands einstufte ndash wird ausfuumlhrlich beschrieben Gleiches gilt fuumlr die politischen und moralischen Uumlberzeugungen Wirths Es ist den Autoren wohl zuzustimmen dass Wirth kein Politiker war dem die eigene Karriere wichtiger gewesen waumlre als das Eintreten fuumlr seine demokratischen Uumlberzeugungen Das Bild des Menschen Joseph Wirth das die Autoren zeichnen ist uumlberaus positiv Unverkennbar ist ihr Bestreben ihn als einen aufrechten demokratischen auf Frieden und Ausgleich bedachten Politiker zu wuumlrdi- gen der sich zuweilen harscher und zum Teil auch ungerechtfertigter Kritik gegen- uumlbergesehen hatte und dem zudem von der bundesrepublikanischen Verwaltung seine Pension als Reichsminister und Reichskanzler aus fadenscheinigen Gruumlnden verweigert worden war

Allerdings dieses skizzierte Bild Wirths bleibt eindimensional So werden zum Teil Sachverhalte die die vorgenommene Charakterzeichnung relativieren oder ihr gar wider-spraumlchen nicht erwaumlhnt wie z B der starke antipolnische Affekt Wirths der seine Poli- tik bereits als Reichskanzler nicht unbeeinflusst lieszlig (vgl hierzu Behring Hermann Muumlller und Polen Zum Problem des auszligenpolitischen Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik in Archiv fuumlr Sozialgeschichte 55 [2015] S 299ndash342) Zudem befremdet die uneingeschraumlnkt positive Bewertung seiner friedens-

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und deutschlandpolitischen Aktivitaumlten nach 1945 Wirths Bemuumlhungen mit den stali- nistischen Machthabern in Ostberlin und Moskau ab 1951 ins Gespraumlch zu kommen und die Moumlglichkeiten eines Friedensvertrages zu sondieren sich fuumlr politische Gefangene hinter dem bdquoEisernen Vorhangldquo einzusetzen etc moumlgen ein ehrenwerter Versuch gewesen sein Allerdings waumlre diesbezuumlglich doch grundsaumltzlich die Frage zu stellen mit welcher Legitimation Wirth glaubte derartige Gespraumlche fuumlhren zu koumlnnen schlieszliglich hatte er damals im Westen Deutschlands kein demokratisch legitimiertes politisches Amt inne und wurde auch nicht von bedeutenden politischen Gruppierungen unterstuumltzt Zudem zeugt es nicht gerade von politischer Weitsicht dass Wirth noch nach dem 17 Juni 1953 zu politischen Gespraumlchen nach Ostberlin und Moskau reiste und 1954 die Ehrendoktor-wuumlrde der Humboldt-Universitaumlt annahm und sich damit auf zweifelhafte Weise von einem diktatorischen System instrumentalisieren lieszlig Dies wird von den Autoren im vorliegenden Band jedoch nicht als Problem gesehen

Schlieszliglich finden sich auch einige kleinere sachliche Fehler Z B wird konstatiert Wirth sei mit bdquogroszliger Mehrheitldquo in die Verfassunggebende Badische Nationalver- sammlung gewaumlhlt worden und am 5 Januar 1919 dann in den Badischen Landtag (S 35) Nach der Revolution 1918 gab es in Baden bis 1921 jedoch nur eine Wahl eines Landesparlaments eben jene vom 5 Januar 1919 und bei der konnte Wirth nicht mit groszliger Mehrheit gewaumlhlt werden da sie nach dem Verhaumlltniswahlrecht durch- gefuumlhrt wurde

Insgesamt hinterlaumlsst die Publikation somit einen zwiespaumlltigen Eindruck

Martin Furtwaumlngler

Carola HOEacuteCKER Vom Freischaumlrler zum Parlamentarier Briefe des Reichstagsabgeord-neten Marcus Pfluumlger (1824ndash1907) (Lindemanns Bibliothek Bd 347) Karlsruhe Bretten Info-Verlag 2019 89 LXXVIII S Abb Brosch EUR 1990 ISBN 978-3-96308-064-7

Das vorliegende Buch ist zweigeteilt Der Edition einer Auswahl von Briefen des ba-dischen nationalliberalen ab 1881 linksliberalen Reichstags- und Landtagsabgeordneten Marcus Pfluumlger aus Loumlrrach geht eine Beschreibung seines Lebens voran In dieser schil-dert die Herausgeberin Pfluumlger als aufrechten Demokraten der als aktiver Teilnehmer am Heckeraufstand 1848 die politische Buumlhne betrat Wie etliche andere 48er Revolu-tionaumlre fand er in den folgenden Jahrzehnten den Weg in die Parlamente der Kaiserzeit Von 1858 bis 1870 und von 1886 bis 1903 saszlig er im Gemeinderat von Loumlrrach von 1871 bis 1884 und von 1897 bis 1902 war er Mitglied der Zweiten Kammer der badischen Staumlndeversammlung von 1874 bis 1887 Reichstagsabgeordneter Eindruumlcklich und sicher eine der Staumlrken des Buches ndash sowohl im darstellenden wie im Quellenteil ndash ist die Schil-derung von Pfluumlgers Abgeordnetenalltag das heiszligt die Organisation des Lebens eines Politikers aus der Provinz im 19 Jahrhundert Bei Pfluumlger war dies der Spagat zwischen zwei Welten einerseits der Fuumlhrung einer Gastwirtschaft mit landwirtschaftlichem Be-trieb womit er im Wesentlichen seinen Lebensunterhalt verdiente andererseits der Aus-uumlbung seiner politischen Taumltigkeit in Karlsruhe und Berlin Gerade seine Briefe aus beiden Hauptstaumldten machen sichtbar unter welchen Umstaumlnden Abgeordnete damals bei der Ausuumlbung ihrer Parlamentstaumltigkeit lebten welche Schwierigkeiten ein Alltag fern der Heimat mit sich brachte Jedoch wird auch deutlich wie verzahnt beide Lebens-

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sphaumlren bei Pfluumlger waren So nutze dieser z B seine Reisen nach Berlin dazu Abstecher in andere Staumldte am bdquoWegesrandldquo zu machen um damit seine Geschaumlfte zu foumlrdern oder er verkaufte eigenen Wein an andere Parlamentarier in der Reichshauptstadt

Pfluumlgers politische Karriere war fuumlr zahlreiche Liberale der damaligen Zeit nicht un-typisch Einem Engagement bei den Nationalliberalen folgte der Schwenk ins linkslibe-ral-demokratische Lager bei Pfluumlger begruumlndet durch seine zunehmende Gegnerschaft zu Bismarck und dem Festhalten der Nationalliberalen an der Unterstuumltzung des Kanzlers Pfluumlgers politische Zielvorstellungen standen dem entgegen zielten sie nach dem Urteil der Autorin doch auf eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ab Allerdings Pfluumlgers politischer Einfluss war begrenzt gerade auf Reichsebene kam er uumlber den Status eines Hinterbaumlnklers kaum hinaus

Insgesamt ist der Darstellungsteil zu lang geraten nicht zuletzt weil die Autorin zu Abschweifungen neigt und Abseitigem nachgeht etwa der Entdeckung von Teilen eines alemannischen Graumlberfeldes im Garten von Pfluumlgers Gasthaus (S 72 f) Der Text weist auszligerdem einige aumlrgerliche sachliche Fehler auf So betont die Autorin dass Hecker und Struve in Konstanz die Republik ausgerufen haumltten (12 April 1848) nachdem die Frank-furter Nationalversammlung die Gruumlndung einer Republik nicht verwirklicht haumltte (S 25) Die Nationalversammlung trat jedoch erst am 18 Mai also uumlber einen Monat spaumlter uumlberhaupt erst zusammen konnte demnach gar nicht im April aktiv geworden sein Zudem neigt Hoeacutecker bei der Charakterisierung Pfluumlgers zur Heldenverehrung zeichnet das Bild eines durchweg aufrechten demokratischen Politikers der gemaumlszlig ihrer Widmung des Bandes ndash bdquoDer bedrohten Demokratieldquo ndash der heutigen Demokratie offenbar durch sein Beispiel als rettender Helfer beispringen soll Dabei bedient sich Hoeacutecker auch durchaus problematischer Modernismen So wird Pfluumlger in die Naumlhe eines heutigen Pazifisten geruumlckt der aufgrund seines protestantischen Glaubens Gewalt und Blut- vergieszligen abgelehnt haumltte Allerdings griff Pfluumlger in der Revolution 1848 sehr wohl zur Waffe um seine Uumlberzeugungen durchzusetzen und auch zu Beginn des Krieges 187071 beteiligte er sich aktiv mit der Waffe in der Hand am oberrheinischen Grenzschutz um seine Heimat gegebenenfalls zu verteidigen Diese Reibungspunkte werden in der Dar-stellung jedoch nicht aufgeloumlst

Der Quellenteil des Bandes enthaumllt neben einigen wenigen Redemanuskripten uumlber-wiegend Briefe Pfluumlgers an einige politische Weggefaumlhrten sowie vor allem an seine Ehefrau waumlhrend seiner Parlamentsaufenthalte in Berlin und Karlsruhe Die Vorlagen befinden sich in den Bestaumlnden des Dreilaumlndermuseums in Loumlrrach Briefe aus anderen Archiven und Fundorten wurden in die Edition nicht miteinbezogen vereinzelt werden sie als Einschuumlbe im darstellenden Teil praumlsentiert Die Briefe Pfluumlgers an seine Frau ent-halten neben vielen familiaumlren und privaten Nachrichten vor allem wie schon erwaumlhnt eine recht detaillierte Schilderung des Alltagslebens eines Abgeordneten in der Fremde Dabei werden die in den Briefen erwaumlhnten Personen aus dem Umfeld Pfluumlgers von der Bearbeiterin weitestgehend identifiziert und naumlher erlaumlutert Auf diese Weise erlangt der Leser durch die Edition einen umfassenden Einblick in das Beziehungsgeflecht des Mar-cus Pfluumlger Die Edition leistet somit einen wichtigen prosopographischen Forschungs-beitrag Daruumlber hinaus enthalten die Briefe Pfluumlgers jedoch nur vereinzelt Hinweise auf die politischen Debatten die ihn in Karlsruhe und vor allem in Berlin beschaumlftigten In den Briefen Nr 20 und 21 (16 und 19 Mai 1881) aus Berlin berichtet er jedoch z B uumlber ein neues bdquoVerfassungsgesetzldquo Im Gegensatz zu den ausfuumlhrlichen Informationen hin-sichtlich der behandelten Personen ist die Sachkommentierung der Quellen im gesamten

69319 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 693

Band dieser neuen vielversprechenden Reihe praumlsentiert die Ergebnisse des Jubilaumlums bdquo75 Jahre Abteilung Landesgeschichte am Historischen Seminar der Universitaumlt Frei-burgldquo im Jahr 2016 Juumlrgen DENDORFER stellt in einer einleitenden Zusammenfassung die einzelnen Beitraumlge des Bandes vor (bdquoZur Einfuumlhrungldquo S 9ndash16) Andre GUTMANN thematisiert bdquoDas sbquoInstitut fuumlr geschichtliche Landeskunde an der Universitaumlt Freiburglsquoldquo (S 17ndash34) und praumlsentiert die damals handelnden Personen deren Ideen und Ziele 1941 Die Abteilung Landeskunde entstand aus einer Auseinandersetzung der Protagonisten Hans-Walter Klewitz Friedrich Maurer und Friedrich Metz um die Ausrichtung des Ale-mannischen Instituts Klewitz beantragte ndash in Opposition zum damaligen Leiter des Ale-mannischen Instituts Friedrich Metz ndash im Maumlrz 1941 beim badischen Kultusministerium finanzielle Mittel zur Einrichtung einer Landesgeschichtlichen Abteilung innerhalb des Historischen Seminars Deren Bewilligung mit Schreiben vom 29 Mai 1941 gilt als Geburtsurkunde der Abteilung Allerdings musste die neue Einrichtung in den folgenden Jahren gegen den Widerstand von Friedrich Metz verteidigt werden Mario SEILER nimmt Friedrich Metz in den Fokus (bdquoVon der bdquoRaritaumltenkundeldquo zur bdquopraktischen Volkstums- arbeitldquo Friedrich Metz und die Neuordnung der Landes- und Volksforschung in Frei-burgldquo S 35ndash48) Metz wollte die Wissenschaft aus dem rein akademischen Umfeld herausfuumlhren sowie durch die Landes- und Volksforschung Antworten auf die Fragen und Probleme der zeitlichen und raumlumlichen Gegenwart geben Dies war durchaus ambiva-lent wie Seiler hervorhebt bdquoMetzlsquo Idee einer nach Stammeszugehoumlrigkeit sowie kultu-reller Einheitlichkeit definierten territorialen und bevoumllkerungspolitischen Neuordnung des Deutschen Reiches konnte in seinem Denken daher entweder in den Rahmen natio-nalsozialistischer Siedlungs- und Raumpolitik eingepasst oder umgekehrt von diesem distanziert werdenldquo (S 48)

Karl DITT stellt bdquoDie Landesgeschichte in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts ndash Ein Modernisierungsprozessldquo (S 49ndash68) vor Er unterteilt deren Entwicklung in drei Pha-sen Die erste Phase ist gekennzeichnet durch das Beduumlrfnis der dominierenden poli- tischen auf die einzelnen Herrscherpersoumlnlichkeiten orientierten Geschichtsschreibung eine Alternative entgegen zu setzen Als zweites stellte man den Charakter des Volkes und seiner Staumlmme heraus Seit den 1920er Jahren hatte man dann das Volkstum histo- risiert kulturalisiert und verraumlumlicht Der Stammes- und Siedlungsraum wurde zu einem Kulturraum erweitert Unter der Uumlberschrift bdquoPolitisierung und Anwendungsrelevanzldquo thematisiert Willi Oberkrome den bdquoinstrumentellen Umbau der Landesgeschichte nach 191819ldquo (S 69ndash83) Die als Demuumltigung empfundene Abtrennung ehemals deutscher Gebiete wie zum Beispiel Elsass und Lothringen zwang den grenznahen Institutionen der Landesgeschichtsschreibung neue Forschungsprobleme unbekannte analytische Ver-fahren und fremdartig agonale Argumentationsstrategien auf (S 71f) Es kam zu zahl-reichen Institutsgruumlndungen und -umbauten die einen fachlichen Pionierstatus erlang- ten weil sie historische linguistische und volkstuumlmliche Verfahren mit geographisch-kartographischen Anstrengungen in dezidiert revisionistisch-antifranzoumlsischer Absicht buumlndelten (S 72) Durch diese Politisierung profitierten die bdquogrenzkaumlmpferischenldquo For-schungsbetriebe von einer daraus folgenden guten Finanzierung

Der mit Abstand umfangreichste Beitrag des Bandes von Hubert FEHR beschaumlftigt sich unter dem Titel bdquoWohin das Auge blickt kernalemannisches Landldquo mit der bdquoArchaumlologie und Volkstumsforschung am Oberrhein waumlhrend der 1930er Jahre ausgehend vom Bei-spiel des fruumlhmittelalterlichen Graumlberfelds von Mengen im Breisgauldquo (S 85ndash154) Das Alemannische Institut hatte sich von Anfang an die Foumlrderung archaumlologischer Ausgra-

708 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 708

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Editionsteil leider duumlrftig So auch hier Man erfaumlhrt nicht um was fuumlr ein Gesetz es sich handelt und worin die politische Brisanz der Debatte lag

Etwas unprofessionell mutet auch die Neigung der Autorin im gesamten Band an immer wieder dezidiert in der ersten Person Singular darauf hinzuweisen was sie an Interessantem und Wichtigem wo entdeckt hat

Insgesamt hinterlaumlsst die Publikation Hoeacuteckers einen eher negativen Eindruck Neben durchaus positiven Elementen sind die Schwaumlchen in beiden Teilen des Bandes unver-kennbar und gewichtig

Martin Furtwaumlngler

Karlheinz LIPP Religioumlser Sozialismus in der Pfalz in der Weimarer Republik Ein Lesebuch (Studien zur Geschichte der Weimarer Republik Bd 6) Berlin LIT Verlag 2019 371 S Brosch EUR 2990 ISBN 978-3-643-14347-1

Das Anliegen des von Lipp vorgelegten Lesebuchs ist es einen bdquosehr aussagekraumlftigen Querschnitt des Denkens und des Engagements der religioumls-sozialistischen Bewegung in der Pfalzldquo zu geben hierzu praumlsentiert er bdquoArchivalien Briefe Schriften sowie Buumlcher und besonders ausfuumlhrlich die religioumls-sozialistische Presseldquo (S 1) Naumlhere Ausfuumlhrungen zur Auswahl und zur Ordnung des Materials fehlen in der sehr knappen Einleitung die auch auf eine Definition des Begriffs bdquoreligioumlser Sozialismusldquo ganz verzichtet und seine Ausbreitung in der Pfalz nur in groben Strichen nachzeichnet Den Kontext muumlssen beziehungsweise koumlnnen sich die Leserinnen und Leser selbst erschlieszligen anhand einer umfangreichen und fuumlr die Jahre 1925 bis 1933 sehr kleinteiligen Zeittafel die im Jahr 1912 mit dem Studienbeginn Oswald Damians des Hauptprotagonisten des Lesebuchs einsetzt und im Jahr 2016 mit der Anbringung einer Erinnerungstafel an ihn in Pirmasens schlieszligt

Sodann geht es medias in res in die Quellen die Lipp in 23 Kapiteln sehr unterschied-licher Laumlnge sortiert hat Das schmalste ist das erste in dem ein ruumlckschauender Brief Damians aus dem Jahr 1973 auszugsweise abgedruckt ist das zweitumfangreichste prauml-sentiert unter dem Titel bdquoZur Theologie des Religioumlsen Sozialismusldquo Teile von 14 Schrif-ten die uumlberwiegend aus der Feder Damians stammen Der breiteste Raum wird Damians wegen seiner Kritik an der nationalsozialistischen Ideologie wichtigen Schrift bdquoDie Religion ist in Gefahrldquo aus dem Jahr 1932 die nicht auszugsweise sondern vollstaumlndig abgedruckt wird eingeraumlumt Die Ordnung des Materials folgt im groszligen Ganzen der Chronologie die nur durch einzelne thematisch uumlbergreifende Kapitel etwa zu den bdquoreligioumls-sozialistischen Praxisfeldernldquo soziale Gerechtigkeit und Arbeit sowie Frieden durchbrochen wird

Die ersten fuumlnf Kapitel fokussieren auf die muumlhsamen Anfaumlnge des religioumlsen Sozia-lismus der sich wie andernorts gegen Ressentiments nicht nur in der evangelischen Amts-kirche sondern auch in der politischen Arbeiterbewegung durchsetzen musste in den Jahren bis 1926 Themen sind hier etwa eine Tagung in Hochspeyer Anfang August 1925 die von badischen religioumlsen Sozialisten offenkundig gezielt zur Mission in der Pfalz genutzt wurde und auch die Stellung der pfaumllzischen Protagonisten der Bewegung zu tagespolitischen Fragen wird dokumentiert zur Reichspraumlsidentenwahl von 1925 bei der Damian sein Unverstaumlndnis daruumlber aumluszligerte dass in evangelischen kirchlichen Kreisen der rechte Protestant Hindenburg dem linken Katholiken Marx vorgezogen wurde oder zum Volksentscheid uumlber die Fuumlrstenenteignung von 1926 Recht breiten Raum widmet das Lesebuch anschlieszligend der Wahl der Landessynode im Mai 1927 mit der die reli-

694 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 694

Natalie POHL Atomprotest am Oberrhein Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970ndash1985) (Schriftenreihe des Deutsch-Franzoumlsischen Historikerkomitees Bd 15) Stuttgart Steiner 2019 443 S Brosch EUR 68ndash ISBN 978-3-515-12401-0 bdquonai haumlmmer gsaitldquo ndash ob beim Bau einer Umgehungsstraszlige oder bei der Anlage eines

Kindergartens nicht weit entfernt von einem sogenannten Kontaktladen uumlberall im deut-schen Suumldwesten wo sich buumlrgerschaftlicher Widerstand regt ist es praumlsent das Plakat der Antiatomkraftbewegung die in dieser Raumschaft in den 1970er Jahren ihren wirk-maumlchtigen Anfang nahm Unmittelbare Ausloumlser waren rechts- wie linksrheinische Plaumlne zur Errichtung zweier Atomkraftwerke am Oberrhein im suumldbadischen Wyhl am Kai-serstuhl und im oberelsaumlssischen Fessenheim Die sich darauf bildende grenzuumlberschrei-tende Anti-Atomkraftbewegung bdquoals Ganzesldquo (S 22) zu untersuchen ist das Ziel dieser Dissertation die in Saarbruumlcken und Paris verteidigt wurde Unter Auswertung einer Fuumllle von Archiv- und Audiovisuellen Quellen gelingt es die Aktions- und Koopera- tionsformen der Atomkraftgegner zu charakterisieren zu analysieren und deren Gemein-samkeiten wie Unterschiede herauszuarbeiten Im Mittelpunkt stehen dabei die badisch-elsaumlssischen Buumlrgerinitiativen die eine andere konkretere Begegnungsform ndash neben Wuumlrdentraumlgern auch bdquonormaleldquo Menschen ndash lebten als die bislang eher im administra-tiven Dickicht beheimatete offizielle grenzuumlberschreitende Zusammenarbeit Der gemein-same alemannische Dialekt aber auch das Bewusstsein vom gemeinsamen Kulturraum des Oberrheins beguumlnstigte zweifelsohne die grenzuumlberschreitende Kommunikation Nur dadurch ist auch der bis heute nachwirkende Erfolg des einst illegalen Senders bdquoRadio Verte Fessenheimldquo zu erklaumlren der mit wechselnden Standorten sich dem Zugriff von Gendarmerie und Polizei entzog um seiner Mission als bdquounabhaumlngigeldquo Kommunika- tions- und Informationsplattform nachzukommen

Dass sich in den Buumlrgerinitiativen nicht nur die uumlblichen bdquoStoumlrenfriedeldquo (Studenten aus Freiburg und Tuumlbingen) engagierten sondern in groszligem Maszlige die einheimische Be-voumllkerung Winzer Bauern Priester etc trug wesentlich dazu bei dass die Initiativen zumindest diesseits des Rheins als politischer Faktor im kommunalen Rahmen wie aber auch auf der Ebene der Landespolitik wahrgenommen wurden Sie gaben ihrer Kritik an der dominierenden Fortschrittseuphorie jener Jahre Ausdruck und setzten ihr die Bewah-rung der Heimat und damit nach staumlrkerer gesellschaftlicher Wahrnehmung und Respek-tierung der Umwelt entgegen Ein bis heute brandaktuelles gesellschaftliches nicht allein nur historisches Thema

Kurt Hochstuhl

Martina BACKES Juumlrgen DENDORFER (Hg) Nationales Interesse und ideologischer Miss-brauch Mittelalterforschung in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts ndash Vortraumlge zum 75jaumlhrigen Bestehen der Abteilung Landesgeschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittel-alters Bd 1) Ostfildern Thorbecke 2019 268 S Abb Brosch EUR 28ndash ISBN 978-3-7995-8550-7 Die traditionsreiche Freiburger Mediaumlvistik beginnt mit dem vorliegenden Band eine

neue Publikationsreihe Unter dem Reihentitel bdquoFreiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelaltersldquo planen die beiden Herausgeber Juumlrgen Dendorfer und Birgit Studt die Ergebnisse von Ringvorlesungen Workshops und Tagungen des Weiteren Festschriften sowie kleinere monographische Abhandlungen zu publizieren Der vorliegende erste

707Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 707

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

bildet die Taumltigkeit Gurks als Buumlrgermeister und Wirtschaftsdezernent So kam es waumlh-rend seiner Amtszeit zur Ausweisung neuer Industrieflaumlchen im Rheinhafen bzw dieser wurde ausgebaut Nunmehr kamen auch chemische Industrien wie der Pharmahersteller Pfizer oder der Kosmetikhersteller LlsquoOreacuteal nach Karlsruhe Am Ende der 1950erBeginn der 1960er Jahre wurde schlieszliglich auch das Kernforschungszentrum in Karlsruhe ange-siedelt Bei der Verwirklichung dieses Projektes arbeitete Gurk als Netzwerker im Hin-tergrund und machte seinen Einfluss als Mitglied des CDU-Bundesvorstandes bei Konrad Adenauer (1876ndash1967) geltend In gleicher Weise hatte Gurk schon Jahre zuvor daran Anteil dass sowohl der Bundesgerichtshof wie auch das Bundesverfassungsgericht ihren Sitz in Karlsruhe nahmen

Neben dem Kommunal- und Wirtschaftspolitiker Gurk wirft Gilbert auch einen Blick auf das landespolitische Engagement des Karlsruher Buumlrgermeisters Gurk war gemauml-szligigter Altbadner und hatte sich fuumlr die Wiederherstellung des fruumlheren Landes Baden eingesetzt Nachdem der altbadische Standpunkt jedoch in der umstrittenen Abstimmung vom Dezember 1951 unterlegen war sprach sich Gurk fuumlr eine loyale Mitarbeit im neu entstandenen Suumldweststaat aus Diese vermittelnde Haltung lieszlig ihn als ideale Besetzung fuumlr das Amt des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Stuttgarter Parlament (1952) wie auch als CDU-Landesvorsitzender in Nordbaden (1951ndash1967) erscheinen Dementsprechend kam Gurk auch eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung der baden-wuumlrttembergischen Verfassung von 1953 zu Detailliert schildert Gilbert das Eintreten Gurks u a fuumlr ein Zweikammerparlament die Schaffung des Amtes eines Staatspraumlsidenten ndash beides Punkte mit denen er letztlich nicht durchdrang Entsprechend dem Wunsch Gurks kam es jedoch zur Schaffung von Regierungspraumlsidien als Mittelinstanz der allgemeinen Ver-waltung und zum Erhalt der Konfessionsschule in Suumldwuumlrttemberg-Hohenzollern (zu-mindest bis 1967) Auch geht der Landesname u a auf Gurk zuruumlck Mit der Wahl zum Karlsruher Buumlrgermeister zog sich Gurk zunaumlchst von den Houmlhen der Landespolitik zuruumlck Als einfacher Abgeordneter galt er jedoch als Fachmann fuumlr Fragen der Kom-munal- und Landkreisordnung wie auch des Finanzausgleichs

Als Praumlsident des Landtags 1960ndash1968 fand er schlieszliglich Worte des Ausgleichs zwischen Suumldweststaatsanhaumlngern und Suumldweststaatsgegnern anlaumlsslich des 10-jaumlhrigen Landesjubilaumlums Auch kam es in seiner Amtszeit zur Einweihung des neuen Landtags-gebaumludes Durch die Einfuumlhrung der Fragestunde wie auch der Aktuellen Stunde und regelmaumlszligige eigene Buumlrgersprechstunden in seinem Wahlkreis in Bruchsal bemuumlhte er sich zudem intensiv um Buumlrgernaumlhe und Transparenz

Der Band Gilberts schlieszligt mit einem Blick auf das Engagement Gurks im Ruhestand jetzt initiierte er u a mit dem Stadtdekanat Karlsruhe die Akademie der aumllteren Gene- ration

Gilberts Arbeit gibt einen anschaulichen Uumlberblick uumlber zentrale Stationen der Karls-ruher Stadt- wie auch der Landesgeschichte die in den 1940er bis 1970er Jahren durch Franz Gurk mitgepraumlgt wurde Es ist zu wuumlnschen dass die Studie Gilberts den Impuls fuumlr weitere Forschungen dieser Art bildet beispielsweise stellt eine Biographie des ehe-maligen Karlsruher Oberbuumlrgermeisters und ersten Wirtschaftsministers Baden-Wuumlrt-tembergs Hermann Veit (1897ndash1973) trotz eines umfangreichen Nachlasses im General- landesarchiv noch ein Desiderat dar Auch erschiene es reizvoll im Rahmen einer um-fangreicheren Studie mit Hilfe der Akten der Landtagspraumlsidenten im Hauptstaatsarchiv Stuttgart einmal Kompetenzen Amtsverstaumlndnis und Handlungsspielraumlume der baden-wuumlrttembergischen Parlamentspraumlsidenten zu untersuchen Michael Kitzing

706 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 706

gioumlsen Sozialisten staumlrker in den Blick der Oumlffentlichkeit ruumlckten auch wenn sich ihre Erwartungen nicht erfuumlllten und nur fuumlnf von ihnen ndash drei Laien und die beiden Pfarrer August Kopp und Georg Wambsganszlig ndash gewaumlhlt wurden Ihr Programm wird durch die Antraumlge dokumentiert die sie auf den Synoden 1928 und 1930 stellten

Nach den thematischen Laumlngsschnitten und einigen Kapiteln die Spezialthemen wie Kopps Taumltigkeit als Sozialpfarrer in den Blick nehmen liegt der letzte Schwerpunkt des Lesebuchs auf den Stellungnahmen der religioumlsen Sozialisten zum rasanten Wachstum des Nationalsozialismus seit 1930 (bdquoGegen den Rechtsruck in Gesellschaft und Kircheldquo) Die hier versammelten Quellen umfassen Dokumente aus einem Dienststrafverfahren gegen Damian ebenso wie Auszuumlge aus der Predigt die er am Vorabend der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler gehalten hat und noch in den Druck bringen konnte Die Schicksale der religioumlsen Sozialisten waumlhrend der nationalsozialistischen Diktatur ndash Damian geriet kurzzeitig in bdquoSchutzhaftldquo Kopp und Wambsganszlig arrangierten sich ohne direkten Repressionen ausgesetzt gewesen zu sein ndash werden anschlieszligend mit einigen Dokumenten beleuchtet Das letzte Kapitel bdquoNach dem Zweiten Weltkriegldquo wirft Schlaglichter auf die weiteren Lebenswege von Damian und Kopp

Der von Lipp vorgelegte Band bietet eine anregende aber auch muumlhsame Lektuumlre da er die Einordnung und Deutung der Texte weitgehend den Leserinnen und Lesern uumlberlaumlsst Den Kapiteln sind zumeist nur wenige und nicht immer sachangemessene (Hindenburg war 1925 wohl kaum bereits bdquosenilldquo S 43) einleitende Zeilen des Autors vorangestellt und auch die einzelnen Quellen werden fast allesamt nur rudimentaumlr beschrieben eine Ausnahme bildet Damians Schrift bdquoDie Religion ist in Gefahrldquo die mit einem dreiseitigen Text eingeleitet wird der auch auf zeitgleich entstandene aumlhnliche Schriften anderer religioumlser Sozialisten verweist Schwerer als der spaumlrliche Umgang mit rahmenden Autortexten wiegt der konsequente Verzicht auf Annotationen der Quellen Wer Informationen uumlber die in den Texten genannten Personen und Begebenheiten sucht ist zu eigener Recherche genoumltigt Das den Band abschlieszligende knapp 20-seitige Quellen- und Literaturverzeichnis gibt hierfuumlr immerhin einige Anhaltspunkte

Frank Engehausen

Frank ENGEHAUSEN Sylvia PALETSCHEK Wolfram PYTA (Hg) Die badischen und wuumlrt-

tembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus 2 Teilbaumlnde (Veroumlffentlichungen der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrt-temberg Reihe B Forschungen Bd 220 Teilband 1 und 2) Stuttgart Kohlhammer 2019 LXII IX 992 S Abb geb EUR 78ndash ISBN 978-3-17-035357-2

Seit 15 Jahren lassen Bundesbehoumlrden die Geschichte ihrer Institution bzw die ihrer Vorgaumlnger im Nationalsozialismus erforschen und klaumlren wie stark die ministerielle Ar-beit auch nach 1945 durch den Nationalsozialismus gepraumlgt wurde Nachdem mit unter-schiedlichen Fragestellungen in der letzten Dekade auch mehrere Landtage aumlhnliche Projekte zur Parlamentsgeschichte anstieszligen ist nun auch die Erforschung der Laumlnder-behoumlrden zur Zeit des Nationalsozialismus in Gang gekommen Daniel Ritterauer etwa untersuchte in seiner 2013 eingereichten und 2018 veroumlffentlichten Muumlnchner Disser- tationsschrift ausgehend vom Amt des Ministerpraumlsidenten die Rolle der bayerischen Re-gierung in der NS-Zeit Die baden-wuumlrttembergische Landesregierung initiierte 2014 eine Kommission die aus Prof Dr Wolfram Pyta Prof Dr Edgar Wolfrum Prof Dr Frank Engehausen Prof Dr Christiane Kuller Prof Dr Sylvia Paletschek und Prof Dr

69519 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 695

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Reneacute GILBERT Franz Gurk (Karlsruher Koumlpfe Bd 5) Karlsruhe Info-Verlag 2019 78 S Abb Brosch EUR 1280 ISBN 978-3-96308-035-7

bdquoWie im wirtschaftlichen Leben so besteht auch unter den Staumldten des Landes ein har-ter Konkurrenzkampf Karlsruhe wird diesen Kampf allein fuumlhren und bestehen muumlssen denn Stuttgart liebt uns nichtldquo (S 32) Diese Worte finden sich im Aufruf von Franz Gurk (1898ndash1984) mit dem sich dieser im Mai 1952 um das Amt des Karlsruher Oberbuumlrger-meisters bewarb In seinem Aufruf wies Gurk weiter darauf hin dass Karlsruhe nach der Gruumlndung des Suumldweststaates mit der Landeshauptstadt Stuttgart nunmehr endguumlltig seinen Hauptstadtcharakter verloren habe und aus diesem Grund Arbeitsplaumltze in neu anzusiedelnden Verwaltungen vor allem aber auch in der Industrie geschaffen werden muumlssten

Gurk sah sich als den richtigen Mann fuumlr diese Aufgabe verfuumlgte er doch uumlber eine schon fast vierzigjaumlhrige Dienstzeit bei der Karlsruher Kommunalverwaltung zugleich sah er sich als unabhaumlngigen staumldtischen Interessenwahrer da er als CDU-Politiker in keinem Abhaumlngigkeitsverhaumlltnis von der in Stuttgart regierenden sozial-liberalen Koali-tion stehe Gleichwohl unterlag Gurk dem Sozialdemokraten Guumlnther Klotz (1911ndash1972) ndash und dennoch hat er zwischen 1953 und 1963 als Wirtschaftsdezernent und Buumlrger- meister an der Seite seines vormaligen Konkurrenten Klotz die Entwicklung der vorma-ligen badischen Residenz langfristig gepraumlgt

Obwohl Gurk auch in spaumlteren Jahren als Landtagspraumlsident (1960ndash1968) auf Landes-ebene zu den maszliggeblichen Akteuren gehoumlrte ist er heute voumlllig in Vergessenheit geraten Besteht bislang lediglich ein knapper biographischer Abriss zu Franz Gurk in den Baden-Wuumlrttembergischen Biographien so legt nunmehr Reneacute Gilbert eine lesenswerte und zugleich reich bebilderte Biographie vor Als Quellengrundlage dienen Gilbert dabei u a der politische Nachlass Gurks im Generallandesarchiv die Personalakte im Stadtarchiv Karlsruhe sowie die Protokolle des Stuttgarter Landtags Zumindest kursorisch hat der Autor zudem die juumlngst erschlossenen Handakten Gurks als Landtagspraumlsident im Haupt-staatsarchiv Stuttgart durchgesehen

Fuumlr Gilbert haben zwei Eigenschaften das Wirken Gurks charakterisiert Fleiszlig und Strebsamkeit sowie seine tiefe Verankerung im katholischen Glauben Schon mit acht Jahren verlor Gurk den Vater wodurch die finanziellen Verhaumlltnisse beengt waren und ein Abitur nicht moumlglich war Mit 15 Jahren begann er folglich 1913 ein Volontariat beim Rechnungsamt der Stadt Karlsruhe Besonders in den zwanziger Jahren arbeitete er sich im staumldtischen Dienst nach oben Unter anderem war er beim Arbeitsamt beschaumlftigt und bemuumlhte sich hier um die Vermittlung und berufliche Weiterbildung Jugendlicher in wirtschaftlich krisenanfaumllliger Zeit Daneben trat das Engagement als Stadtverordneter (1927ndash1933) und Kreisrat (1933) der Zentrumspartei ndash in der Zeit des bdquoDritten Reichesldquo sah sich Gurk folglich Schikanen ausgesetzt Beispielsweise wurde er mehrfach als bdquopolitisch unzuverlaumlssigldquo bei Befoumlrderungen uumlbergangen Gleichzeitig wurde er auf eine Stelle bei der Rechnungspruumlfung abgeschoben Aber auch in dieser Zeit kennzeichneten Fleiszlig und Strebsamkeit das Wirken Gurks So holte er nicht nur das Abitur nach sondern studierte auch gleichzeitig neben dem Militaumlrdienst Volkswirtschaft in Freiburg und wurde schlieszliglich 1944 bei Walter Eucken (1891ndash1950) promoviert

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente Gurk seiner Heimatstadt schon bald als Stadt-kaumlmmerer (1947ndash1952) aufgrund Personalmangels musste er gleichzeitig auch fuumlr einige Zeit das Amt des Hafendirektors versehen Ein Schwerpunkt der Darstellung Gilberts

70519 und 20 Jahrhundert

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 705

Joachim Scholtyseck bestand und die fuumlr Baden wie Wuumlrttemberg die Geschichte aller Landesministerien fuumlr den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 erforschen lieszlig Die Ergebnisse dieser Arbeit erschienen 2019 in zwei voluminoumlsen Halbbaumlnden in der Schrif-tenreihe B der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

Zwoumllf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben in diesem Werk fuumlr beide Laumlnder und fuumlr jedes Ministerium jeweils Aufbau strukturelle und personelle Veraumlnde-rungen des Ministeriums und seiner Arbeit stellen wichtige Akteure vor und fragen nach der sich veraumlndernden Bedeutung der jeweiligen Institution im Machtgefuumlge der natio-nalsozialistischen Diktatur Ergaumlnzend untersucht Marie MUSCHALEK die Zivilverwaltung des Elsass Eine Einleitung durch die Kommissionsmitglieder Frank ENGEHAUSEN Sylvia PALETSCHEK und Wolfram PYTA Skizzen zur nationalsozialistischen Machtuumlbernahme in beiden Laumlndern von Frank Engehausen Frederick BACHER und Jutta BRAUN sowie ausgezeichnete Register runden diesen Band ab

Was sind die Resultate dieses von der Baden-Wuumlrttemberg Stiftung mit 145 Millionen Euro gefoumlrderten dreijaumlhrigen groszligen Forschungsprojektes Zunaumlchst einmal handelt es sich und das betont auch der einleitende Aufsatz um ein Projekt mit geschichtspoliti-scher Zielsetzung Den einzelnen Beitraumlgen gelingt es uumlberzeugend nachzuweisen dass die Landesministerien trotz der nationalsozialistischen Zentralisierung der Staatsgewalt ihre je spezifische Rolle fuumlr die Ausgestaltung der Diktatur spielten und eingebunden waren in die Realisierung nationalsozialistischer Verbrechen Ein Vorzug zahlreicher Bei-traumlge ist dass sie zudem zumindest kurz die Genese anderslautender Geschichtsbilder die unter Verweis auf die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten ein schuldhaftes Verhalten der Landesministerien zu bestreiten suchen herausarbeiten und aufzeigen dass diese ihren Ursprung in der Nachkriegszeit im Kontext der Entnazifizierung besitzen Auch wenn diese Befunde aus wissenschaftlicher Sicht angesichts des Forschungsstandes zur Reichsebene wenig uumlberraschend erscheinen handelt es sich um eine notwendige Korrektur mancher aumllterer landesgeschichtlicher Veroumlffentlichungen die zu unkritisch den Erinnerungen der Beteiligten gefolgt waren Die zu besprechende Publikation ist ein sehr wichtiges und uumlberaus hilfreiches Handbuch das jeder der sich mit Landesministe-rien und den ihnen nachgeordneten Behoumlrden fuumlr den Zeitraum 1933 bis 1945 interessiert mit Gewinn konsultieren wird Das gilt selbstredend auch fuumlr Forschungen zu den Hand-lungsfeldern auf denen die Ministerien taumltig waren und blieben wie etwa die Gesund-heitspolitik der Wohnungsbau oder die Elektrizitaumlt um nur einige zu nennen Der Prozess der Nazifizierung der jeweiligen Verwaltungen wird ebenso im Detail dargestellt wie die Rolle von Frauen in der betreffenden Institution Zahlreiche Biogramme sind in die Dar-stellung eingearbeitet sodass die Publikation auch eine wichtige biografische Fundgrube darstellt Insgesamt gesehen orientieren sich die Beitraumlge eng an dem Blick auf das jeweilige Ministerium sodass etwa fuumlr die NS-Schulpolitik Studien wie der 2016 von Juumlrgen Finger vorgenommene Vergleich der Verhaumlltnisse in Baden Wuumlrttemberg und dem Elsass weiterhin heranzuziehen sind

Schlieszliglich gilt zu klaumlren was die Ergebnisse dieses Projektes fuumlr die Erforschung des Nationalsozialismus als Ganzes leisten koumlnnen Dadurch dass erstmals fuumlr zwei Flaumlchen-laumlnder systematisch alle Landesministerien unter gemeinsamen Perspektiven untersucht wurden entstand fuumlr zukuumlnftige Forschungen eine wichtige Grundlage fuumlr regionale Vergleiche Die Beitraumlge selbst versuchen das ndash abgesehen von wenigen knappen Be-merkungen meist zu Preuszligen ndash nicht Weiterfuumlhrend sind die Versuche danach zu fragen inwiefern die jeweilige Institution eine spezifische Verwaltungskultur herausbildete und

696 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 696

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

und Vorstellungen sowie gar manche Dissense getruumlbt etwa hinsichtlich der Vorgehens-weise bei der Entnazifizierung einem Kernthema des Regierungsprogramms Infolge des Gesetzes Nr 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom Maumlrz 1946 wurden die Entnazifizierungsverfahren zwar von alliierten auf deutsche Instanzen d h die landesweit einzurichtenden Spruchkammern uumlbertragen Da nun circa 25 Mil-lionen Personen in Wuumlrttemberg-Baden mittels umfangreicher Frageboumlgen praumlzise Aus-kunft zu ihrem eigenen Leben und Verhalten waumlhrend des NS-Regimes geben mussten fuumlrchtete die Regierung um den Ruumlckhalt in der Bevoumllkerung zumal die amerikanische Militaumlradministration nicht selten strafverschaumlrfend in die Verfahren eingriff Damit ging auch ein erheblicher Verlust von ndash dringend benoumltigtem ndash qualifiziertem und erfahrenem Fachpersonal fuumlr den Wiederaufbau von Verwaltung und Wirtschaft einher Weitere Kon-fliktpunkte offenbarten die Einrichtung von Internierungslagern die Beschlagnahmung von Gebaumluden durch die Besatzungsmacht der Umgang mit Displaced Persons d h nicht ruumlckkehrwilligen ehemaligen Zwangsarbeitern sowie die Eindaumlmmung der Ban-denkriminalitaumlt Ein durchgaumlngiges Kernthema der Kabinettssitzungen und des Regie-rungshandelns waren die Aufnahme und Eingliederung von (mehr als einer halben Million) Fluumlchtlingen und Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebie-ten Die Bewaumlltigung des Zustroms wurde noch dadurch massiv erschwert dass parallel dazu die Kriegstruumlmmer sukzessive beseitigt die bestehende Raumnot verringert sowie die zerstoumlrte Infrastruktur und das Verkehrsnetz wiederhergestellt werden mussten Zudem galt es die kriegsgeplagte Bevoumllkerung mit ausreichend Nahrung und Energie zu versorgen Die erste Regierungsperiode war auch gepraumlgt durch den Aufbau eines de-mokratisch verfassten und strukturierten Gemeinwesens von der kommunalen bis hinauf zur zentralen Ebene Gruumlndung und Formierung von politischen Parteien Einfuumlhrung von Gemeinde- und Kreisordnungen Durchfuumlhrung von allgemeinen gleichen unmit-telbaren und geheimen Gemeindewahlen (zunaumlchst in den kleineren Gemeinden dann in den groumlszligeren Staumldten) sowie Wahlen der Kreistage (und durch diese der Landraumlte und Kreisraumlte) Formierung und vertiefte Zusammenarbeit eines Laumlnderrats der Regierungen der drei Laumlnder innerhalb der amerikanischen Besatzungszone Schaffung einer Vorlaumlu-figen Volksvertretung (aus Regierungsmitgliedern Landraumlten Oberbuumlrgermeistern sowie aus Vertretern von Berufsstaumlnden von Hochschulen der christlichen Kirchen der israe-litischen Religionsgemeinschaft und von Parteien) als Vorstufe eines Landesparlaments spaumlter Wahl einer Verfassunggebenden Landesversammlung und schlieszliglich Verabschie-dung einer Landesverfassung (mit Grundrechtekatalog) Als im November 1946 die Ver-fassung durch die Bevoumllkerung angenommen und der erste verfassungsmaumlszligige Landtag gewaumlhlt wurde war die Mission des ersten Kabinetts Maier vollendet und das Fundament fuumlr eine erste parlamentarische Regierung gelegt

Zwar ist der Redaktion wohl ein augenfaumllliger Fluumlchtigkeitsfehler entgangen denn im Inhaltsverzeichnis ist der 19 Dezember (statt 19 September) 1945 als Datum der ersten Sitzung vermerkt Diese Petitesse vermag indessen den bedeutsamen Wert der Publi- kation fuumlr die landes- und politikgeschichtliche Forschung keinesfalls zu schmaumllern ermoumlglicht die Lektuumlre doch gute Einblicke sowohl in das nicht reibungsfreie Verhaumlltnis zwischen amerikanischer Militaumlradministration und erster Landesregierung als auch in manche differente Interessenslagen und Ambitionen der nordwuumlrttembergischen und nordbadischen Regierungsmitglieder respektive der beiden Landesteile am Beginn des durchaus steinigen Wegs hin zum spaumlteren Suumldweststaat

Michael Bock

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diese nationalsozialistisch gepraumlgt wurde Leider muumlssen die Autorinnen und Autoren immer wieder auf die uumlberlieferungsbedingten Grenzen eines solchen kulturgeschichtlich sensibilisierten Vorgehens hinweisen besonders im Falle Wuumlrttembergs Doch mindern die fuumlr den Suumldwesten fehlenden Quellen nicht die Relevanz einer solchen Unter- suchungsperspektive fuumlr andere Regionen oder die nationale Ebene

So unterschiedlich die Beobachtungen zu den einzelnen Ministerien in Wuumlrttemberg und Baden auch sind so betonen die Autorinnen und Autoren doch eine deutliche Ab-grenzung zu anderen Institutionen des NS-Regimes Hier gilt es fuumlr zukuumlnftige Forschun-gen anzusetzen und zu uumlberpruumlfen ob diese Deutung Folge der Kombination von Fragestellung und ausgewerteten Quellen ist oder ob sich hier gegebenenfalls eine suumld-westdeutsche Besonderheit abzeichnet Neuere Forschungen zur Geschichte der Gaue oder der Mittelgewalten in anderen deutschen Regionen betonen insbesondere fuumlr die Zeit des Krieges die Relevanz von personellen Netzwerken die das Wirken von Behoumlr-den Parteidienststellen Wehrmacht institutionenuumlbergreifend in der Region koordinier-ten und dynamisierten Mit Ausnahme des Beitrags von Marie Muschalek zur Zivil- verwaltung im Elsass finden sich in den Beitraumlgen zu den badischen und wuumlrttembergi-schen Ministerien allenfalls punktuelle Hinweise auf entsprechende Netzwerke und intermediaumlre Institutionen Die Relevanz von solchen uumlbergreifenden Netzwerken fuumlr das Funktionieren von Staatlichkeit in anderen deutschen Regionen loumlsten um 2010 eine intensive wissenschaftliche Diskussion daruumlber aus ob man von neuer Staatlichkeit im Nationalsozialismus sprechen koumlnne und wie herkoumlmmliche Erklaumlrungsansaumltze etwa der Polykratie oder des Normen- und Maszlignahmenstaates in der Nachfolge Ernst Fraenkels uumlberwunden werden koumlnnten um die Erkenntnisse der neueren Verwaltungsgeschichte auf lokaler regionaler und nationaler Ebene angemessen in ein neues Gesamtnarrativ zu integrieren Die vielfaumlltigen Ergebnisse des Projektes zur Erforschung der badischen und wuumlrttembergischen Landesministerien in der NS-Zeit in diesen groumlszligeren Diskussions- zusammenhang zu integrieren bleibt zukuumlnftigen Forschungen vorbehalten

Christopher Dowe

Christoph RAICHLE Die Finanzverwaltung in Baden und Wuumlrttemberg im National-

sozialismus Stuttgart Kohlhammer 2019 949 S Abb Brosch EUR 98ndash ISBN 978-3-17-035280-3

Die voluminoumlse Untersuchung Raichles entstand im Kontext des von der baden-wuumlrt-tembergischen Landesregierung in Auftrag gegebenen Projekts bdquoGeschichte der Landes-ministerien in Baden und Wuumlrttemberg in der Zeit des Nationalsozialismusldquo zu dem die Abschlusspublikation im Jahr 2019 vorgelegt wurde (vgl dazu die Rezension in diesem Band) Raichle wendet sich einem Verwaltungszweig zu der aumlhnlich wie die Justiz auf den ersten Blick als sachlich-nuumlchtern normorientiert und bdquoordentlichldquo erscheint dazu aber auch als zahlenfokussiert und auf staatliche Einnahmensteigerung bedacht und der somit ndash besonders im Gegensatz zum Schul- und Kultursektor ndash eine rein funktionale inhaltlich neutrale Groumlszlige zu sein scheint Doch wie schon mehrfach herausgearbeitet wurde gab es unter der NS-Diktatur keine ideologiefreien Nischen in der oumlffentlichen Verwaltung Ihre Zweige dienten allesamt auf je eigene Weise dem System und seinen Vernichtungszielen

Raichle geht der Frage nach welche Rolle die mittlere und untere Ebene der Finanz-verwaltung in Baden und Wuumlrttemberg also nicht die Ministerien bei der Auspluumlnderung

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Michael KITZING (Bearb) Die Protokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden Bd 1 Das erste Kabinett Maier 1945ndash1946 (Kabinettsprotokolle von Baden Wuumlrt-temberg-Baden und Wuumlrttemberg-Hohenzollern 1945ndash1952 hg von der Kommission fuumlr Geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Bd II1) Stuttgart Kohl-hammer 2018 LXXIII 383 S geb EUR 38ndash ISBN 978-3-17-034379-5

In der seitens der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg herausgegebenen Reihe der edierten Kabinettsprotokolle ist der erste Band der Pro- tokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden erschienen der die Amtsperiode des ersten Kabinetts unter der Leitung des Ministerpraumlsidenten Reinhold Maier dokumen- tiert Die Zeitspanne reicht vom 19 September 1945 bis zum 5 Dezember 1946 In der 38 Seiten umfassenden Einleitung charakterisiert und bilanziert der Bearbeiter Michael Kitzing die Regierungsperiode ausfuumlhrlich Es folgen eine tabellarische Uumlbersicht des Regierungspersonals und 15 Biogramme die die jeweilige berufliche und politische Vita sowie gegebenenfalls die fachlichen Voraussetzungen der Kabinettsmitglieder skizzieren Neben Verzeichnissen der zahlreichen verwendeten Abkuumlrzungen und der herangezogenen Fachliteratur werden auch die Editionsgrundsaumltze fuumlr die Publika- tion der Kabinettsprotokolle dargelegt Sodann werden die Protokolle der 62 Sitzun- gen der rund fuumlnfzehnmonatigen Regierungsperiode vollstaumlndig abgedruckt Kurz- biogramme der in den edierten Protokollen ndash uumlber die Kabinettsmitglieder hinaus ndash erwaumlhnten Personen (insbesondere Ministerialbeamte) finden sich in den beigegebe- nen Fuszlignoten Der Band wird abgeschlossen durch umfangreiche (Personen- Orts- und Sach-)Register

Reinhold Maier der als liberaler Politiker (zunaumlchst Deutsche Demokratische Partei dann Deutsche Staatspartei) bereits waumlhrend der Weimarer Republik zwischen 1930 und 1933 wuumlrttembergischer Wirtschaftsminister gewesen war knuumlpfte im Fruumlhjahr 1945 Kontakte zur amerikanischen Militaumlrregierung entwarf wirtschaftspolitische Perspek- tiven fuumlr den Wiederaufbau und wurde Assistent der ersten Konferenz nordwuumlrttem- bergischer Landraumlte im Juni 1945 Maier der zwar 1933 als Reichstagsabgeordneter dem Ermaumlchtigungsgesetz zugestimmt dann aber zumal mit einer Juumldin verheiratet in Gegnerschaft zum NS-Regime gestanden hatte wurde im Sommer 1945 seitens der ame-rikanischen Landesmilitaumlradministration auserkoren eine Regierung fuumlr Nordwuumlrttem-berg und Nordbaden zu bilden Als eines von drei Laumlndern der US-Besatzungszone wurde Wuumlrttemberg-Baden im Herbst 1945 gegruumlndet nachdem die amerikanische Besatzungs-macht auch den Raum Karlsruhe von den Franzosen uumlbernommen hatte Dem ersten Kabinett Maier gehoumlrten u a ndash die spaumlter bundespolitisch prominenten ndash Theodor Heuss (als Kultminister) und Carlo Schmid (als Staatsrat im Staatsministerium) an Der bishe-rige nordbadische Regierungschef Heinrich Koumlhler (ehemals Reichsfinanzminister in der Weimarer Republik) wurde der in Stuttgart ansaumlssigen Regierung unterstellt und trat in das wuumlrttembergisch-badische Kabinett als stellvertretender Ministerpraumlsident ein Die amerikanische Militaumlradministration gestand dem nordbadischen Landesbezirk zwar eine grundsaumltzliche Gleichbehandlung zu doch gelang es im Lauf des Jahres 1946 und auch daruumlber hinaus nicht sich auf ein Gesetz zu verstaumlndigen in dem die Stellung des nord-badischen Landesteils und dessen Autonomierechte innerhalb des wuumlrttembergisch- badischen Staatsgefuumlges detailliert fixiert wurden In vielen Vorhaben und Zielen stimm-ten die amerikanische Militaumlradministration und das Kabinett Maier inhaltlich uumlberein ihr Verhaumlltnis zueinander wurde jedoch durch einige unterschiedliche Auffassungen

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der Juden spielte wobei sein Hauptinteresse den Verhaltensweisen und Handlungsspiel-raumlumen der damit befassten Beamten gilt Waren sie aktive Gestalter verschaumlrften sie die Vorgaben versuchten sie diese abzumildern Gab es gar Opposition in der Beam-tenschaft Dabei kann Raichle sich neben allgemeinen Arbeiten auf solche Vorgaumlnger-studien stuumltzen die die bdquoArisierungldquo von Wirtschaft und Gesellschaft auf lokaler Ebene detailliert behandeln fuumlr Baden insbesondere die Arbeiten von Andrea Brucher-Lembach uumlber Freiburg und die Studie von Christiane Fritsche uumlber Mannheim der Stadt mit der groumlszligten und vermoumlgendsten juumldischen Religionsgemeinschaft in Baden und einer der bedeutendsten im damaligen Deutschen Reich

Die Quellenlage koumlnnte sicher besser sein wie Raichle zu Recht feststellt Viele Akten die nicht nur allgemeine Regeln und organisatorische Maszlignahmen betreffen sondern die konkrete Umsetzung der bdquoVerwertungldquo juumldischen Vermoumlgens zeigen sind bei Kriegsende entweder bewusst vernichtet worden oder sind dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen Zumindest in Nordbaden scheint so ist Raichles Ausfuumlhrungen uumlber die Quellenlage ergaumlnzend hinzufuumlgen die wichtigere Verlustursache eher im Bombenkrieg gelegen zu haben denn die Aufgaben der bei den Finanzaumlmtern gebildeten Dienststellen fuumlr die Verwaltung und Verwertung juumldischen Vermoumlgens wurden schrittweise bei wenigen sogenannten bdquoGruppenfinanzaumlmternldquo zentralisiert das Schriftgut der beiden groumlszligten Mannheim und Karlsruhe wurde durch Kriegseinwirkung vernichtet Gleichwohl gibt es in ausreichender Weise Paralleluumlberlieferung die fuumlr den Historiker genau das kontraumlre Problem aufwirft naumlmlich mit ihrer Massenhaftigkeit fertig zu werden Gemeint sind vor allem die Akten der Wiedergutmachungs- und Ruumlckerstattungsbehoumlrden in die sehr oft ndash so z B im Fall der Ruumlckerstattungsakten der Oberfinanzdirektion Karlsruhe ndash Reste der Akten der Finanzverwaltung aus der NS-Zeit selbst Eingang gefunden haben Diese Uumlberlieferungsreste in den zu Einzelpersonen oder zu einzelnen Vermoumlgens- objekten angelegten Akten zielsicher aufzuspuumlren ist freilich nicht moumlglich Lokalhisto-rische Studien haben hier den groszligen Vorteil ortsbezogen auswaumlhlen zu koumlnnen was vielleicht den unverkennbaren Trend zur Kleinraumlumigkeit in der NS-Forschung mit erklaumlrt Weiteres Quellenmaterial findet Raichle in den Personal- und Spruchkammer- akten von Beamten der Finanzverwaltung in der Uumlberlieferung der Personalunterlagen der badischen NSDAP in Prozessakten der Gerichte wegen Devisen- und Steuerver- gehen sogar in Feldpostbriefen von Bediensteten eines suumldbadischen Finanzamts und anderes mehr

Raichle loumlst sein ndash doppeltes ndash Quellenproblem naumlmlich sowohl der Knappheit als auch der Masse indem er geschickt ausgewaumlhlte Fallbeispiele mit Ausfuumlhrungen zu den allgemeinen Entwicklungslinien und zu den strukturellen Rahmenbedingungen des Handelns der Finanzverwaltung kombiniert Er unterliegt dabei weder der Gefahr sich in Details zu verlieren noch der Versuchung Einzelfaumllle vorschnell zu generalisieren sondern waumlgt seine Urteile sorgfaumlltig ab Staatliches Verwaltungshandeln wird nur im Einzelfall konkret und nur anhand sogenannter gleichfoumlrmiger Akten laumlsst sich das Aus-maszlig der Umsetzung normativer Regelungen pruumlfen und die Frage ein groszliges Stuumlck weit klaumlren in wie weit die nach 1945 stereotyp zu houmlrende Aussage vieler Beamter nur Be-fehlsempfaumlnger ohne Gestaltungsmoumlglichkeiten gewesen zu sein zutreffend ist

Dass die Untersuchung trotz ihres Umfangs und ihres Materialreichtums gut lesbar ist und nicht weitschweifig wird verdankt sie ihrer klaren Gliederung Raichle stellt zu-naumlchst den Aufbau der Reichsfinanzverwaltung ab 1919 dar und widmet sich insbesondere ihrer Personalstruktur und dem Geist der die Beamtenschaft dieses auf Reichsebene

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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jungen Verwaltungszweiges vor 1933 praumlgte Sodann behandelt er ausfuumlhrlich kenntnis-reich und auf breiter Quellengrundlage die beamtenrechtlichen Maszlignahmen des NS- Regimes um die Verwaltung weltanschaulich auf Linie zu bringen Nachdem so der strukturelle und personalpolitische Rahmen abgesteckt ist widmet sich Raichle der inhaltlichen Arbeit der Finanzbehoumlrden waumlhrend der einzelnen Eskalationsstufen der ge-sellschaftlichen und fiskalischen Diskriminierung Verdraumlngung bewussten Schaumldigung und Auspluumlnderung der deutschen Juden Ausfuumlhrlich geht er auf die bdquoVerwertungldquo der den Juden geraubten Vermoumlgenswerte ab 194041 ein Baden spielte mit der vergleichs-weise fruumlhen Deportation fast aller noch verbliebenen Juden im Herbst 1940 eine Vor-reiterrolle Mit dem bdquoGeneralbevollmaumlchtigten fuumlr das juumldische Vermoumlgen in Badenldquo Carl Dornes gab es fuumlr kurze Zeit sogar eine eigene Sonderverwaltung fuumlr diese Aufgabe deren eigene Akten leider den Krieg nicht uumlberdauert haben Raichle schildert detailliert die Skrupellosigkeit mit der viele Deutsche sich mit Hilfe der Finanzverwaltung am zu-ruumlckgelassenen Vermoumlgen ihrer juumldischen Mitbuumlrger bereicherten Aber auch die Verwal-tung selbst war Profiteur Das einzige was man an dieser Stelle ein wenig vermisst ist ein wenigstens kurzer Blick uumlber den Bereich der Finanz- und auch der Innenverwaltung hinaus auf den Kulturbetrieb der ebenfalls von der bdquoArisierungldquo profitierte Diese Per-spektive haumltte in Anbetracht der starken Quellenverluste bei der Finanzverwaltung zu-mindest fuumlr Baden zusaumltzliche Bewertungsmaszligstaumlbe zur Beurteilung der Handlungs- spielraumlume aber auch der Nachkriegsdenkweisen der agierenden Beamten liefern koumln-nen denn der Raub von Kulturguumltern aus juumldischem Besitz ist vor allem dank der Gut-achterrolle des Leiters der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und den daraus erwachsenen Akten recht gut dokumentiert Vielleicht ist das aber auch ein ganz eigenes Thema das den Rahmen der Studie Raichles gesprengt haumltte

bdquoWas bleibt ist unterm Strich das Bild einer tief verstrickten Finanzverwaltung [hellip] Handlungsspielraumlume gab es dabei vor Ort immer wieder [hellip] Genutzt wurden diese Spielraumlume [hellip] nur selten zugunsten der Verfolgten des Regimes Ganz uumlberwiegend herrschte ein Geist geschaumlftiger Pflichterfuumlllung [hellip]ldquo ndash so fasst Raichle seine Ergebnisse zusammen (S 892) Dieses Resultat vor allem der letzte Satz ist heute nicht mehr uumlber-raschend und trifft auf vermutlich alle Verwaltungsbereiche und sicher auf den Groszligteil der deutschen Gesellschaft zu Das bdquoDritte Reichldquo funktionierte nicht nur dank seines Unterdruumlckungsapparats sondern ganz einfach auch dadurch dass zu viele Menschen einfach nur ihre bdquoPflichtldquo erfuumlllten und dabei ihre Augen schlossen Gleichwohl veraumlndert die wiederholte Bestaumltigung derartiger Forschungsergebnisse nicht nur unseren ruumlck-waumlrtsgewandten Blick auf die Funktionsweise des NS-Systems sondern kann auch rich-tungsweisend werden fuumlr gesellschaftliches Handeln in der Gegenwart

Martin Stingl

Pia NORDBLOM Walter RUMMEL Barbara SCHUumlTTPELZ (Hg) Josef Buumlrckel National-sozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz (Beitraumlge zur pfaumllzischen Ge-schichte Bd 30) Kaiserslautern Institut fuumlr pfaumllzische Geschichte und Volkskunde 2019 367 S geb EUR 2490 ISBN 978-3-927754-93-5

Der anzuzeigende Band ist zwei Vortragsveranstaltungen entwachsen die im Maumlrz und im Oktober 2014 in Neustadt stattgefunden haben und um drei Beitraumlge ergaumlnzt worden Von dem Herausgebertrio tritt lediglich Walter Rummel Leiter des Landes- archivs Speyer mit eigenen Aufsaumltzen in Erscheinung und zwar gleich mit vieren einer einleitenden knappen biographischen Skizze des pfaumllzischen NSDAP-Gauleiters Reichs-

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Die Erinnerungen von Ludwig Mann uumlber seine Erlebnisse als Arzt im Lager Gurs 1946 in Beaumont geschrieben wurden ab 1990 mehrfach veroumlffentlicht Jetzt liegt der Text bdquoHeldentum in Gursldquo fast 75 Jahre nach seiner Entstehung in franzoumlsischer Sprache vor veroumlffentlicht in Beaumont wo Ludwig Mann nach seiner Befreiung aus dem Lager Seacutereilhac 1945 bis 1949 lebte Die engen Beziehungen zwischen Anna und Ludwig Mann und der Familie Moos werden dadurch deutlich dass die Familie Moos regelmaumlszligig Paumlck-chen fuumlr die Manns in das Lager Gurs schickte Auch die Mitglieder der Familien Wachenheim und Strauss aus Karlsruhe wurden so unterstuumltzt

In dem einleitenden Bericht uumlber die Vorgeschichte der Verschleppung aus Baden koumln-nen in erweiterten bdquoErrataldquo kleine Korrekturen aufgenommen werden Unter den Her-kunftsstaumldten ist auf S 1 auch Stuttgart genannt Betroffen waren am 22 Oktober 1940 juumldische Menschen in Baden die juumldischen Menschen aus Wuumlrttemberg also auch aus Stuttgart verschleppten die Nazis 1941 in das Konzentrationslager Riga Die Zahlen der Deportierten auf der Karte S 3 sind zu hoch Aus Mannheim verschleppten die Nazis 1972 Menschen aus Karlsruhe 945 aus Freiburg 349 und aus Pforzheim 195 Das Foto juumldischer Maumlnner 1938 auf S 6 stammt nicht aus Koumlnigsbach sondern aus Baden-Baden

Was wie ein Zufall aussieht naumlmlich dass vier aus dem Lager Gurs gerettete Kinder in Beaumont Zuflucht finden wird in zwei kurzen Passagen (S 78 ff und 104) als Teil eines Rettungswerkes sichtbar

Erna Ullman wird durch Mitarbeitende des juumldischen Kinderhilfswerkes OSE aus dem Lager gerettet vor den Razzien der Vichy-Polizei im Sommer 1942 versteckt und dann im Heim der juumldischen Pfadfinder in Moissac vorlaumlufig in Sicherheit gebracht

Manfred Mayers Bruder Heinz wird durch das juumldische Kinderhilfswerk OSE und die juumldischen Pfadfinder EIF im Mai 1944 in die Schweiz gerettet

Aus unserer noch nicht veroumlffentlichten Dokumentation der Lebenswege der 559 Kin-der und Jugendlichen die die Nazis am 22 Oktober 1940 in das Lager Gurs verschlepp-ten geht hervor dass 405 von ihnen gerettet wurden Fast 100 gelangten mit von den Quaumlkern organisierten Transporten in die USA beinahe 100 wurden in die Schweiz gerettet uumlber 200 uumlberlebten in Familien Kloumlstern und Heimen oder in der Reacutesistance in Frankreich

Das Buch gehoumlrt sicher in die Archive und oumlffentlichen Buumlchereien der genannten Staumldte und Gemeinden Hoffenheim Karlsruhe Mannheim und Pforzheim ebenso in Baden-Baden Gailingen und Loumlrrach auch diese Gemeinden sind im Einleitungsartikel genannt

Das Buch kann Forschende zum Thema bdquoDeportation ins Lager Gurs 1940ldquo anregen die Lebenswege der Verschleppten bdquoihrerldquo Gemeinde in Baden der Pfalz und dem Saarland insbesondere die Rettungswege der Kinder und Jugendlichen naumlher zu erfor-schen

Auch fordert das Buch heraus die Menschen vorzustellen die es unternommen haben bdquodem Rad in die Speichen zu fallenldquo (Dietrich Bonhoeffer) also die Retterinnen und Ret-ter Wir arbeiten an dem Wunsch der Autoren bezuumlglich der Lebenswege der vier Kinder bdquoEs waumlre interessant aumlhnliche Schicksale in einem eigenen Buch zusammenzustellenldquo Die Dokumentation der Lebenswege der 559 aus Baden der Pfalz und dem Saarland nach Gurs verschleppten Kinder soll zum 22 Oktober 2020 erscheinen verbunden mit Portraits der RetterInnen

Brigitte und Gerhard Braumlndle

702 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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statthalters der Westmark und Chefs der Zivilverwaltung in Lothringen Josef Buumlrckel (1895ndash1944) einem instruktiven sich aber in die biographische Ausrichtung des Bandes nicht gut einfuumlgenden Beitrag zur Taumltigkeit der Geheimen Staatspolizeistelle Neustadt einer Analyse von Buumlrckels Politik der bdquoGermanisierungldquo in Lothringen und schlieszliglich mit einer knapp ein Drittel des Gesamtbandes ausmachenden detaillierten Dokumentation des Spruchkammerverfahrens das posthum gegen Buumlrckel gefuumlhrt wurde um die Ver-moumlgensanspruumlche seiner Witwe zu klaumlren Die andere Haumllfte des Bandes entfaumlllt auf zwoumllf deutlich knappere Beitraumlge die verschiedene Aspekte von Biographie und Wirken Buumlrckels beziehungsweise den politischen Kontext beleuchten

Den Auftakt machen ein Beitrag von Michael KISSENER der die Konjunkturen regio-nalgeschichtlicher Perspektiven auf den Nationalsozialismus nachzeichnet und feststellt bdquodass die regionale NS-Forschung der Zweig der NS-Forschung ist von dem am meisten Erkenntniszuwachs noch zu erwarten istldquo (S 39) und eine knappe Skizze des allerdings auch nicht sehr reichhaltigen Forschungsstands zu Buumlrckel von Franz MAIER der die bdquoseit langem ausstehende wissenschaftliche Biographie des pfaumllzischen Gauleitersldquo (S 46) weiterhin fuumlr ein Desiderat haumllt In der Sache selbst geht es anschlieszligend um das konfliktbeladene Verhaumlltnis Buumlrckels zu dem spaumlteren Inspekteur der Konzentrationslager Theodor Eicke (Niels WEISE) um den bayerischen NS-Ministerpraumlsidenten Ludwig Siebert der vergeblich immer wieder versuchte den pfaumllzischen Gauleiter bdquoin die baye-rische Regierung einzubauenldquo (S 70 Daniel RITTENAUER) sowie um bdquoMachtsicherung und Netzwerke Buumlrckelsldquo die Franz Maier mit biographischen Skizzen der pfaumllzischen Gauleiterclique beschreibt

Diesen eher personenbezogenen Beitraumlgen schlieszligen sich mehrere kuumlrzere sachthema-tisch orientierte Aufsaumltze an die Buumlrckels Stellung zur pfaumllzischen Presse (Stephan PIEROTH) zu den bdquobeiden groszligen Kirchen in der Pfalzldquo (Thomas FANDEL) und seine Rolle bei der Judenverfolgung nachzeichnen ndash hier behandelt Michael MARTIN auch die viel diskutierte Frage nach den badischen pfaumllzischen oder Berliner Verantwortlichkeiten fuumlr die Oktoberdeportationen von 1940 nach Gurs wobei er offenlaumlsst ob man bdquovon einer sbquoBuumlrckel-Aktionlsquo oder einer sbquoWagner-Buumlrckel-Aktionlsquo sprechenldquo sollte (S 151) Die Frage ob Buumlrckel ein bdquoMeister der inszenierten sbquoVolksgemeinschaftlsquoldquo gewesen sei umkreist Dieter SCHIFFMANN mit einigen bdquoStreiflichternldquo zu dem Projekt einer bdquoVolks- sozialistischen Selbsthilfeldquo die sich als pfaumllzische Sonderentwicklung gegen die NS-Volkswohlfahrt indes nicht behaupten konnte zu einer Frankenthaler Fabrikrettung im Jahr 1935 sowie zur im gleichen Jahr erfolgten Schoumlpfung der bdquoDeutschen Wein-straszligeldquo die ihm vielfach als groszliges Verdienst angerechnet wurde wie in den bdquojourna- listischen Beobachtungenldquo Dagmar GILCHERS zu den Nachkriegsdiskursen uumlber bdquoBuumlrckel und die Weinstraszligeldquo deutlich wird Materialreich und interessant aber in dem Band deplatziert da in keinem Zusammenhang mit dem Wirken Buumlrckels stehend ist der Beitrag von Wolfgang FREUND uumlber die bdquoBevoumllkerungswissenschaftenldquo in der national-sozialistischen Pfalz

Wegen der eklektischen Anlage des Bandes wird nicht im Zusammenhang deutlich wie Buumlrckel der Aufstieg in die houmlchsten Staatsaumlmter ndash Rummel haumllt dies fuumlr bdquoeine der erstaunlichsten Karrieren im sogenannten Dritten Reichldquo (S 15) ndash gelang Zwei der wichtigsten Karrierestationen immerhin werden in eigenen Beitraumlgen gewuumlrdigt Oliver RATHKOLB schildert Buumlrckels Taumltigkeit als Reichskommissar fuumlr die Wiedervereinigung Oumlsterreichs mit dem Reich Gauleiter und Reichsleiter von Wien in den Jahren 1938 bis 1940 und Rummel widmet sich den Grundzuumlgen seiner Politik als Chef der Zivilverwal-

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tung in Lothringen die auf eine Germanisierung zielte von der er anders als sein Kollege und Rivale Robert Wagner im Elsass 1943 aus taktischen Motiven und mit Ruumlcksicht auf den unguumlnstigen Kriegsverlauf stuumlckweise abruumlckte Rummel haumllt es indes fuumlr bdquomehr als fraglich ob ihm diese Anpassung an die veraumlnderte strategische Situation nach dem Krieg in einem Verfahren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit positiv angerechnet worden waumlreldquo (S 218)

Dies verhinderte Buumlrckels Tod im September 1944 so dass die Diskussion uumlber Schuld und Verantwortung nicht vor einem internationalen Gericht sondern vor der Spruchkam-mer Neustadt gefuumlhrt wurde die Buumlrckel im November 1950 als bdquoHauptschuldigenldquo ein-stufte und seiner Witwe nur einen Teil seiner als Volksschullehrer erworbenen Pensions- anspruumlche nicht aber den in der NS-Zeit erworbenen Grundbesitz zusprach Das Neu-stadter Verfahren zeichnet Rummel ebenso im Detail nach wie das von der Witwe ange-strengte Revisionsverfahren in Koblenz und die Gnadengesuche die von ihr und spaumlter von ihrem Sohn gestellt wurden Mit der bdquoNationalsozialistischen Herrschaft und Ge-folgschaft in der Pfalzldquo die der Untertitel als Thema des Bandes nennt hat dies allenfalls indirekt zu tun eine houmlchst interessante Lektuumlre bietet die Nachgeschichte gleichwohl zumal der Fall der Witwe Buumlrckels kaum dem weitverbreiteten Bild entspricht demzu-folge auch in starkem Maszlige NS-Belastete und ihre Angehoumlrigen von der Schlussstrich-mentalitaumlt in der fruumlhen Bundesrepublik profitiert haumltten und materiell groszligzuumlgig abgefunden worden seien

Frank Engehausen

Theacuteregravese REYNAUD Georges REYNAUD Henri MOOS Les Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949) Beaumont-de- Lomagne Les Cahiers de la Lomagne 2020 176 S Abb Brosch EUR 23ndash ISBN 978-2-915942-73-6

Das Buch bdquoLes Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949)ldquo ist schon deswegen ungewoumlhnlich weil in franzoumlsischer Sprache die Lebenswege von Menschen nachgezeichnet werden die die Nazis am 22 Oktober 1940 aus Baden in das Lager Gurs in Suumldwestfrankreich am Rand der Pyrenaumlen ver-schleppten

Ein Grund dafuumlr ist dass einige der aus dem Lager Gurs Geretteten Zuflucht in Beau-mont-de-Lomagne nordwestlich von Toulouse fanden Theacuteregravese und Georges Reynaud aus Beaumont und Henri Moos aus Annecy sind ihren Spuren nachgegangen und be-schreiben wie Anna und Ludwig Mann aus Mannheim Manfred Mayer aus Hoffenheim und Erna Ullmann aus Pforzheim in Beaumont geschuumltzt und gerettet wurden Hinzu kommt die Geschichte der Familie StraussWachenheim aus Karlsruhe im nicht weit von Beaumont entfernten Lager Noeacute und die Rettung von Edith und Margot Strauss in Annecy

Das Buch ist auch ungewoumlhnlich weil der Co-Autor Henri Moos mit der Familie Mann verwandt ist und die Rettung der Schwestern Strauss selbst miterlebt hat Die Recherchen von Beaumont aus fuumlhrten auf Umwegen zu uns um Naumlheres uumlber Erna Ullmann zu erfahren

Ergebnis ist die Veroumlffentlichung eines von Erna Ullmann verfassten Berichts samt Anmerkungen auf Franzoumlsisch im Anhang des Buches abgedruckt Kurz wird auch auf den bei Yad Vashem einsehbaren Bericht uumlber Jeanne und Jean-Marie Arquieacute die Retter Innen von Manfred Mayer und Erna Ullmann hingewiesen

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tung in Lothringen die auf eine Germanisierung zielte von der er anders als sein Kollege und Rivale Robert Wagner im Elsass 1943 aus taktischen Motiven und mit Ruumlcksicht auf den unguumlnstigen Kriegsverlauf stuumlckweise abruumlckte Rummel haumllt es indes fuumlr bdquomehr als fraglich ob ihm diese Anpassung an die veraumlnderte strategische Situation nach dem Krieg in einem Verfahren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit positiv angerechnet worden waumlreldquo (S 218)

Dies verhinderte Buumlrckels Tod im September 1944 so dass die Diskussion uumlber Schuld und Verantwortung nicht vor einem internationalen Gericht sondern vor der Spruchkam-mer Neustadt gefuumlhrt wurde die Buumlrckel im November 1950 als bdquoHauptschuldigenldquo ein-stufte und seiner Witwe nur einen Teil seiner als Volksschullehrer erworbenen Pensions- anspruumlche nicht aber den in der NS-Zeit erworbenen Grundbesitz zusprach Das Neu-stadter Verfahren zeichnet Rummel ebenso im Detail nach wie das von der Witwe ange-strengte Revisionsverfahren in Koblenz und die Gnadengesuche die von ihr und spaumlter von ihrem Sohn gestellt wurden Mit der bdquoNationalsozialistischen Herrschaft und Ge-folgschaft in der Pfalzldquo die der Untertitel als Thema des Bandes nennt hat dies allenfalls indirekt zu tun eine houmlchst interessante Lektuumlre bietet die Nachgeschichte gleichwohl zumal der Fall der Witwe Buumlrckels kaum dem weitverbreiteten Bild entspricht demzu-folge auch in starkem Maszlige NS-Belastete und ihre Angehoumlrigen von der Schlussstrich-mentalitaumlt in der fruumlhen Bundesrepublik profitiert haumltten und materiell groszligzuumlgig abgefunden worden seien

Frank Engehausen

Theacuteregravese REYNAUD Georges REYNAUD Henri MOOS Les Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949) Beaumont-de- Lomagne Les Cahiers de la Lomagne 2020 176 S Abb Brosch EUR 23ndash ISBN 978-2-915942-73-6

Das Buch bdquoLes Expulseacutes du Pays de Bade ndash trois destins particuliers agrave Beaumont-de-Lomagne (1943ndash1949)ldquo ist schon deswegen ungewoumlhnlich weil in franzoumlsischer Sprache die Lebenswege von Menschen nachgezeichnet werden die die Nazis am 22 Oktober 1940 aus Baden in das Lager Gurs in Suumldwestfrankreich am Rand der Pyrenaumlen ver-schleppten

Ein Grund dafuumlr ist dass einige der aus dem Lager Gurs Geretteten Zuflucht in Beau-mont-de-Lomagne nordwestlich von Toulouse fanden Theacuteregravese und Georges Reynaud aus Beaumont und Henri Moos aus Annecy sind ihren Spuren nachgegangen und be-schreiben wie Anna und Ludwig Mann aus Mannheim Manfred Mayer aus Hoffenheim und Erna Ullmann aus Pforzheim in Beaumont geschuumltzt und gerettet wurden Hinzu kommt die Geschichte der Familie StraussWachenheim aus Karlsruhe im nicht weit von Beaumont entfernten Lager Noeacute und die Rettung von Edith und Margot Strauss in Annecy

Das Buch ist auch ungewoumlhnlich weil der Co-Autor Henri Moos mit der Familie Mann verwandt ist und die Rettung der Schwestern Strauss selbst miterlebt hat Die Recherchen von Beaumont aus fuumlhrten auf Umwegen zu uns um Naumlheres uumlber Erna Ullmann zu erfahren

Ergebnis ist die Veroumlffentlichung eines von Erna Ullmann verfassten Berichts samt Anmerkungen auf Franzoumlsisch im Anhang des Buches abgedruckt Kurz wird auch auf den bei Yad Vashem einsehbaren Bericht uumlber Jeanne und Jean-Marie Arquieacute die Retter Innen von Manfred Mayer und Erna Ullmann hingewiesen

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Die Erinnerungen von Ludwig Mann uumlber seine Erlebnisse als Arzt im Lager Gurs 1946 in Beaumont geschrieben wurden ab 1990 mehrfach veroumlffentlicht Jetzt liegt der Text bdquoHeldentum in Gursldquo fast 75 Jahre nach seiner Entstehung in franzoumlsischer Sprache vor veroumlffentlicht in Beaumont wo Ludwig Mann nach seiner Befreiung aus dem Lager Seacutereilhac 1945 bis 1949 lebte Die engen Beziehungen zwischen Anna und Ludwig Mann und der Familie Moos werden dadurch deutlich dass die Familie Moos regelmaumlszligig Paumlck-chen fuumlr die Manns in das Lager Gurs schickte Auch die Mitglieder der Familien Wachenheim und Strauss aus Karlsruhe wurden so unterstuumltzt

In dem einleitenden Bericht uumlber die Vorgeschichte der Verschleppung aus Baden koumln-nen in erweiterten bdquoErrataldquo kleine Korrekturen aufgenommen werden Unter den Her-kunftsstaumldten ist auf S 1 auch Stuttgart genannt Betroffen waren am 22 Oktober 1940 juumldische Menschen in Baden die juumldischen Menschen aus Wuumlrttemberg also auch aus Stuttgart verschleppten die Nazis 1941 in das Konzentrationslager Riga Die Zahlen der Deportierten auf der Karte S 3 sind zu hoch Aus Mannheim verschleppten die Nazis 1972 Menschen aus Karlsruhe 945 aus Freiburg 349 und aus Pforzheim 195 Das Foto juumldischer Maumlnner 1938 auf S 6 stammt nicht aus Koumlnigsbach sondern aus Baden-Baden

Was wie ein Zufall aussieht naumlmlich dass vier aus dem Lager Gurs gerettete Kinder in Beaumont Zuflucht finden wird in zwei kurzen Passagen (S 78 ff und 104) als Teil eines Rettungswerkes sichtbar

Erna Ullman wird durch Mitarbeitende des juumldischen Kinderhilfswerkes OSE aus dem Lager gerettet vor den Razzien der Vichy-Polizei im Sommer 1942 versteckt und dann im Heim der juumldischen Pfadfinder in Moissac vorlaumlufig in Sicherheit gebracht

Manfred Mayers Bruder Heinz wird durch das juumldische Kinderhilfswerk OSE und die juumldischen Pfadfinder EIF im Mai 1944 in die Schweiz gerettet

Aus unserer noch nicht veroumlffentlichten Dokumentation der Lebenswege der 559 Kin-der und Jugendlichen die die Nazis am 22 Oktober 1940 in das Lager Gurs verschlepp-ten geht hervor dass 405 von ihnen gerettet wurden Fast 100 gelangten mit von den Quaumlkern organisierten Transporten in die USA beinahe 100 wurden in die Schweiz gerettet uumlber 200 uumlberlebten in Familien Kloumlstern und Heimen oder in der Reacutesistance in Frankreich

Das Buch gehoumlrt sicher in die Archive und oumlffentlichen Buumlchereien der genannten Staumldte und Gemeinden Hoffenheim Karlsruhe Mannheim und Pforzheim ebenso in Baden-Baden Gailingen und Loumlrrach auch diese Gemeinden sind im Einleitungsartikel genannt

Das Buch kann Forschende zum Thema bdquoDeportation ins Lager Gurs 1940ldquo anregen die Lebenswege der Verschleppten bdquoihrerldquo Gemeinde in Baden der Pfalz und dem Saarland insbesondere die Rettungswege der Kinder und Jugendlichen naumlher zu erfor-schen

Auch fordert das Buch heraus die Menschen vorzustellen die es unternommen haben bdquodem Rad in die Speichen zu fallenldquo (Dietrich Bonhoeffer) also die Retterinnen und Ret-ter Wir arbeiten an dem Wunsch der Autoren bezuumlglich der Lebenswege der vier Kinder bdquoEs waumlre interessant aumlhnliche Schicksale in einem eigenen Buch zusammenzustellenldquo Die Dokumentation der Lebenswege der 559 aus Baden der Pfalz und dem Saarland nach Gurs verschleppten Kinder soll zum 22 Oktober 2020 erscheinen verbunden mit Portraits der RetterInnen

Brigitte und Gerhard Braumlndle

702 Buchbesprechungen

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Michael KITZING (Bearb) Die Protokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden Bd 1 Das erste Kabinett Maier 1945ndash1946 (Kabinettsprotokolle von Baden Wuumlrt-temberg-Baden und Wuumlrttemberg-Hohenzollern 1945ndash1952 hg von der Kommission fuumlr Geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Bd II1) Stuttgart Kohl-hammer 2018 LXXIII 383 S geb EUR 38ndash ISBN 978-3-17-034379-5

In der seitens der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg herausgegebenen Reihe der edierten Kabinettsprotokolle ist der erste Band der Pro- tokolle der Regierung von Wuumlrttemberg-Baden erschienen der die Amtsperiode des ersten Kabinetts unter der Leitung des Ministerpraumlsidenten Reinhold Maier dokumen- tiert Die Zeitspanne reicht vom 19 September 1945 bis zum 5 Dezember 1946 In der 38 Seiten umfassenden Einleitung charakterisiert und bilanziert der Bearbeiter Michael Kitzing die Regierungsperiode ausfuumlhrlich Es folgen eine tabellarische Uumlbersicht des Regierungspersonals und 15 Biogramme die die jeweilige berufliche und politische Vita sowie gegebenenfalls die fachlichen Voraussetzungen der Kabinettsmitglieder skizzieren Neben Verzeichnissen der zahlreichen verwendeten Abkuumlrzungen und der herangezogenen Fachliteratur werden auch die Editionsgrundsaumltze fuumlr die Publika- tion der Kabinettsprotokolle dargelegt Sodann werden die Protokolle der 62 Sitzun- gen der rund fuumlnfzehnmonatigen Regierungsperiode vollstaumlndig abgedruckt Kurz- biogramme der in den edierten Protokollen ndash uumlber die Kabinettsmitglieder hinaus ndash erwaumlhnten Personen (insbesondere Ministerialbeamte) finden sich in den beigegebe- nen Fuszlignoten Der Band wird abgeschlossen durch umfangreiche (Personen- Orts- und Sach-)Register

Reinhold Maier der als liberaler Politiker (zunaumlchst Deutsche Demokratische Partei dann Deutsche Staatspartei) bereits waumlhrend der Weimarer Republik zwischen 1930 und 1933 wuumlrttembergischer Wirtschaftsminister gewesen war knuumlpfte im Fruumlhjahr 1945 Kontakte zur amerikanischen Militaumlrregierung entwarf wirtschaftspolitische Perspek- tiven fuumlr den Wiederaufbau und wurde Assistent der ersten Konferenz nordwuumlrttem- bergischer Landraumlte im Juni 1945 Maier der zwar 1933 als Reichstagsabgeordneter dem Ermaumlchtigungsgesetz zugestimmt dann aber zumal mit einer Juumldin verheiratet in Gegnerschaft zum NS-Regime gestanden hatte wurde im Sommer 1945 seitens der ame-rikanischen Landesmilitaumlradministration auserkoren eine Regierung fuumlr Nordwuumlrttem-berg und Nordbaden zu bilden Als eines von drei Laumlndern der US-Besatzungszone wurde Wuumlrttemberg-Baden im Herbst 1945 gegruumlndet nachdem die amerikanische Besatzungs-macht auch den Raum Karlsruhe von den Franzosen uumlbernommen hatte Dem ersten Kabinett Maier gehoumlrten u a ndash die spaumlter bundespolitisch prominenten ndash Theodor Heuss (als Kultminister) und Carlo Schmid (als Staatsrat im Staatsministerium) an Der bishe-rige nordbadische Regierungschef Heinrich Koumlhler (ehemals Reichsfinanzminister in der Weimarer Republik) wurde der in Stuttgart ansaumlssigen Regierung unterstellt und trat in das wuumlrttembergisch-badische Kabinett als stellvertretender Ministerpraumlsident ein Die amerikanische Militaumlradministration gestand dem nordbadischen Landesbezirk zwar eine grundsaumltzliche Gleichbehandlung zu doch gelang es im Lauf des Jahres 1946 und auch daruumlber hinaus nicht sich auf ein Gesetz zu verstaumlndigen in dem die Stellung des nord-badischen Landesteils und dessen Autonomierechte innerhalb des wuumlrttembergisch- badischen Staatsgefuumlges detailliert fixiert wurden In vielen Vorhaben und Zielen stimm-ten die amerikanische Militaumlradministration und das Kabinett Maier inhaltlich uumlberein ihr Verhaumlltnis zueinander wurde jedoch durch einige unterschiedliche Auffassungen

70319 und 20 Jahrhundert

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und Vorstellungen sowie gar manche Dissense getruumlbt etwa hinsichtlich der Vorgehens-weise bei der Entnazifizierung einem Kernthema des Regierungsprogramms Infolge des Gesetzes Nr 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom Maumlrz 1946 wurden die Entnazifizierungsverfahren zwar von alliierten auf deutsche Instanzen d h die landesweit einzurichtenden Spruchkammern uumlbertragen Da nun circa 25 Mil-lionen Personen in Wuumlrttemberg-Baden mittels umfangreicher Frageboumlgen praumlzise Aus-kunft zu ihrem eigenen Leben und Verhalten waumlhrend des NS-Regimes geben mussten fuumlrchtete die Regierung um den Ruumlckhalt in der Bevoumllkerung zumal die amerikanische Militaumlradministration nicht selten strafverschaumlrfend in die Verfahren eingriff Damit ging auch ein erheblicher Verlust von ndash dringend benoumltigtem ndash qualifiziertem und erfahrenem Fachpersonal fuumlr den Wiederaufbau von Verwaltung und Wirtschaft einher Weitere Kon-fliktpunkte offenbarten die Einrichtung von Internierungslagern die Beschlagnahmung von Gebaumluden durch die Besatzungsmacht der Umgang mit Displaced Persons d h nicht ruumlckkehrwilligen ehemaligen Zwangsarbeitern sowie die Eindaumlmmung der Ban-denkriminalitaumlt Ein durchgaumlngiges Kernthema der Kabinettssitzungen und des Regie-rungshandelns waren die Aufnahme und Eingliederung von (mehr als einer halben Million) Fluumlchtlingen und Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebie-ten Die Bewaumlltigung des Zustroms wurde noch dadurch massiv erschwert dass parallel dazu die Kriegstruumlmmer sukzessive beseitigt die bestehende Raumnot verringert sowie die zerstoumlrte Infrastruktur und das Verkehrsnetz wiederhergestellt werden mussten Zudem galt es die kriegsgeplagte Bevoumllkerung mit ausreichend Nahrung und Energie zu versorgen Die erste Regierungsperiode war auch gepraumlgt durch den Aufbau eines de-mokratisch verfassten und strukturierten Gemeinwesens von der kommunalen bis hinauf zur zentralen Ebene Gruumlndung und Formierung von politischen Parteien Einfuumlhrung von Gemeinde- und Kreisordnungen Durchfuumlhrung von allgemeinen gleichen unmit-telbaren und geheimen Gemeindewahlen (zunaumlchst in den kleineren Gemeinden dann in den groumlszligeren Staumldten) sowie Wahlen der Kreistage (und durch diese der Landraumlte und Kreisraumlte) Formierung und vertiefte Zusammenarbeit eines Laumlnderrats der Regierungen der drei Laumlnder innerhalb der amerikanischen Besatzungszone Schaffung einer Vorlaumlu-figen Volksvertretung (aus Regierungsmitgliedern Landraumlten Oberbuumlrgermeistern sowie aus Vertretern von Berufsstaumlnden von Hochschulen der christlichen Kirchen der israe-litischen Religionsgemeinschaft und von Parteien) als Vorstufe eines Landesparlaments spaumlter Wahl einer Verfassunggebenden Landesversammlung und schlieszliglich Verabschie-dung einer Landesverfassung (mit Grundrechtekatalog) Als im November 1946 die Ver-fassung durch die Bevoumllkerung angenommen und der erste verfassungsmaumlszligige Landtag gewaumlhlt wurde war die Mission des ersten Kabinetts Maier vollendet und das Fundament fuumlr eine erste parlamentarische Regierung gelegt

Zwar ist der Redaktion wohl ein augenfaumllliger Fluumlchtigkeitsfehler entgangen denn im Inhaltsverzeichnis ist der 19 Dezember (statt 19 September) 1945 als Datum der ersten Sitzung vermerkt Diese Petitesse vermag indessen den bedeutsamen Wert der Publi- kation fuumlr die landes- und politikgeschichtliche Forschung keinesfalls zu schmaumllern ermoumlglicht die Lektuumlre doch gute Einblicke sowohl in das nicht reibungsfreie Verhaumlltnis zwischen amerikanischer Militaumlradministration und erster Landesregierung als auch in manche differente Interessenslagen und Ambitionen der nordwuumlrttembergischen und nordbadischen Regierungsmitglieder respektive der beiden Landesteile am Beginn des durchaus steinigen Wegs hin zum spaumlteren Suumldweststaat

Michael Bock

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Reneacute GILBERT Franz Gurk (Karlsruher Koumlpfe Bd 5) Karlsruhe Info-Verlag 2019 78 S Abb Brosch EUR 1280 ISBN 978-3-96308-035-7

bdquoWie im wirtschaftlichen Leben so besteht auch unter den Staumldten des Landes ein har-ter Konkurrenzkampf Karlsruhe wird diesen Kampf allein fuumlhren und bestehen muumlssen denn Stuttgart liebt uns nichtldquo (S 32) Diese Worte finden sich im Aufruf von Franz Gurk (1898ndash1984) mit dem sich dieser im Mai 1952 um das Amt des Karlsruher Oberbuumlrger-meisters bewarb In seinem Aufruf wies Gurk weiter darauf hin dass Karlsruhe nach der Gruumlndung des Suumldweststaates mit der Landeshauptstadt Stuttgart nunmehr endguumlltig seinen Hauptstadtcharakter verloren habe und aus diesem Grund Arbeitsplaumltze in neu anzusiedelnden Verwaltungen vor allem aber auch in der Industrie geschaffen werden muumlssten

Gurk sah sich als den richtigen Mann fuumlr diese Aufgabe verfuumlgte er doch uumlber eine schon fast vierzigjaumlhrige Dienstzeit bei der Karlsruher Kommunalverwaltung zugleich sah er sich als unabhaumlngigen staumldtischen Interessenwahrer da er als CDU-Politiker in keinem Abhaumlngigkeitsverhaumlltnis von der in Stuttgart regierenden sozial-liberalen Koali-tion stehe Gleichwohl unterlag Gurk dem Sozialdemokraten Guumlnther Klotz (1911ndash1972) ndash und dennoch hat er zwischen 1953 und 1963 als Wirtschaftsdezernent und Buumlrger- meister an der Seite seines vormaligen Konkurrenten Klotz die Entwicklung der vorma-ligen badischen Residenz langfristig gepraumlgt

Obwohl Gurk auch in spaumlteren Jahren als Landtagspraumlsident (1960ndash1968) auf Landes-ebene zu den maszliggeblichen Akteuren gehoumlrte ist er heute voumlllig in Vergessenheit geraten Besteht bislang lediglich ein knapper biographischer Abriss zu Franz Gurk in den Baden-Wuumlrttembergischen Biographien so legt nunmehr Reneacute Gilbert eine lesenswerte und zugleich reich bebilderte Biographie vor Als Quellengrundlage dienen Gilbert dabei u a der politische Nachlass Gurks im Generallandesarchiv die Personalakte im Stadtarchiv Karlsruhe sowie die Protokolle des Stuttgarter Landtags Zumindest kursorisch hat der Autor zudem die juumlngst erschlossenen Handakten Gurks als Landtagspraumlsident im Haupt-staatsarchiv Stuttgart durchgesehen

Fuumlr Gilbert haben zwei Eigenschaften das Wirken Gurks charakterisiert Fleiszlig und Strebsamkeit sowie seine tiefe Verankerung im katholischen Glauben Schon mit acht Jahren verlor Gurk den Vater wodurch die finanziellen Verhaumlltnisse beengt waren und ein Abitur nicht moumlglich war Mit 15 Jahren begann er folglich 1913 ein Volontariat beim Rechnungsamt der Stadt Karlsruhe Besonders in den zwanziger Jahren arbeitete er sich im staumldtischen Dienst nach oben Unter anderem war er beim Arbeitsamt beschaumlftigt und bemuumlhte sich hier um die Vermittlung und berufliche Weiterbildung Jugendlicher in wirtschaftlich krisenanfaumllliger Zeit Daneben trat das Engagement als Stadtverordneter (1927ndash1933) und Kreisrat (1933) der Zentrumspartei ndash in der Zeit des bdquoDritten Reichesldquo sah sich Gurk folglich Schikanen ausgesetzt Beispielsweise wurde er mehrfach als bdquopolitisch unzuverlaumlssigldquo bei Befoumlrderungen uumlbergangen Gleichzeitig wurde er auf eine Stelle bei der Rechnungspruumlfung abgeschoben Aber auch in dieser Zeit kennzeichneten Fleiszlig und Strebsamkeit das Wirken Gurks So holte er nicht nur das Abitur nach sondern studierte auch gleichzeitig neben dem Militaumlrdienst Volkswirtschaft in Freiburg und wurde schlieszliglich 1944 bei Walter Eucken (1891ndash1950) promoviert

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente Gurk seiner Heimatstadt schon bald als Stadt-kaumlmmerer (1947ndash1952) aufgrund Personalmangels musste er gleichzeitig auch fuumlr einige Zeit das Amt des Hafendirektors versehen Ein Schwerpunkt der Darstellung Gilberts

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bildet die Taumltigkeit Gurks als Buumlrgermeister und Wirtschaftsdezernent So kam es waumlh-rend seiner Amtszeit zur Ausweisung neuer Industrieflaumlchen im Rheinhafen bzw dieser wurde ausgebaut Nunmehr kamen auch chemische Industrien wie der Pharmahersteller Pfizer oder der Kosmetikhersteller LlsquoOreacuteal nach Karlsruhe Am Ende der 1950erBeginn der 1960er Jahre wurde schlieszliglich auch das Kernforschungszentrum in Karlsruhe ange-siedelt Bei der Verwirklichung dieses Projektes arbeitete Gurk als Netzwerker im Hin-tergrund und machte seinen Einfluss als Mitglied des CDU-Bundesvorstandes bei Konrad Adenauer (1876ndash1967) geltend In gleicher Weise hatte Gurk schon Jahre zuvor daran Anteil dass sowohl der Bundesgerichtshof wie auch das Bundesverfassungsgericht ihren Sitz in Karlsruhe nahmen

Neben dem Kommunal- und Wirtschaftspolitiker Gurk wirft Gilbert auch einen Blick auf das landespolitische Engagement des Karlsruher Buumlrgermeisters Gurk war gemauml-szligigter Altbadner und hatte sich fuumlr die Wiederherstellung des fruumlheren Landes Baden eingesetzt Nachdem der altbadische Standpunkt jedoch in der umstrittenen Abstimmung vom Dezember 1951 unterlegen war sprach sich Gurk fuumlr eine loyale Mitarbeit im neu entstandenen Suumldweststaat aus Diese vermittelnde Haltung lieszlig ihn als ideale Besetzung fuumlr das Amt des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Stuttgarter Parlament (1952) wie auch als CDU-Landesvorsitzender in Nordbaden (1951ndash1967) erscheinen Dementsprechend kam Gurk auch eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung der baden-wuumlrttembergischen Verfassung von 1953 zu Detailliert schildert Gilbert das Eintreten Gurks u a fuumlr ein Zweikammerparlament die Schaffung des Amtes eines Staatspraumlsidenten ndash beides Punkte mit denen er letztlich nicht durchdrang Entsprechend dem Wunsch Gurks kam es jedoch zur Schaffung von Regierungspraumlsidien als Mittelinstanz der allgemeinen Ver-waltung und zum Erhalt der Konfessionsschule in Suumldwuumlrttemberg-Hohenzollern (zu-mindest bis 1967) Auch geht der Landesname u a auf Gurk zuruumlck Mit der Wahl zum Karlsruher Buumlrgermeister zog sich Gurk zunaumlchst von den Houmlhen der Landespolitik zuruumlck Als einfacher Abgeordneter galt er jedoch als Fachmann fuumlr Fragen der Kom-munal- und Landkreisordnung wie auch des Finanzausgleichs

Als Praumlsident des Landtags 1960ndash1968 fand er schlieszliglich Worte des Ausgleichs zwischen Suumldweststaatsanhaumlngern und Suumldweststaatsgegnern anlaumlsslich des 10-jaumlhrigen Landesjubilaumlums Auch kam es in seiner Amtszeit zur Einweihung des neuen Landtags-gebaumludes Durch die Einfuumlhrung der Fragestunde wie auch der Aktuellen Stunde und regelmaumlszligige eigene Buumlrgersprechstunden in seinem Wahlkreis in Bruchsal bemuumlhte er sich zudem intensiv um Buumlrgernaumlhe und Transparenz

Der Band Gilberts schlieszligt mit einem Blick auf das Engagement Gurks im Ruhestand jetzt initiierte er u a mit dem Stadtdekanat Karlsruhe die Akademie der aumllteren Gene- ration

Gilberts Arbeit gibt einen anschaulichen Uumlberblick uumlber zentrale Stationen der Karls-ruher Stadt- wie auch der Landesgeschichte die in den 1940er bis 1970er Jahren durch Franz Gurk mitgepraumlgt wurde Es ist zu wuumlnschen dass die Studie Gilberts den Impuls fuumlr weitere Forschungen dieser Art bildet beispielsweise stellt eine Biographie des ehe-maligen Karlsruher Oberbuumlrgermeisters und ersten Wirtschaftsministers Baden-Wuumlrt-tembergs Hermann Veit (1897ndash1973) trotz eines umfangreichen Nachlasses im General- landesarchiv noch ein Desiderat dar Auch erschiene es reizvoll im Rahmen einer um-fangreicheren Studie mit Hilfe der Akten der Landtagspraumlsidenten im Hauptstaatsarchiv Stuttgart einmal Kompetenzen Amtsverstaumlndnis und Handlungsspielraumlume der baden-wuumlrttembergischen Parlamentspraumlsidenten zu untersuchen Michael Kitzing

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Natalie POHL Atomprotest am Oberrhein Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970ndash1985) (Schriftenreihe des Deutsch-Franzoumlsischen Historikerkomitees Bd 15) Stuttgart Steiner 2019 443 S Brosch EUR 68ndash ISBN 978-3-515-12401-0 bdquonai haumlmmer gsaitldquo ndash ob beim Bau einer Umgehungsstraszlige oder bei der Anlage eines

Kindergartens nicht weit entfernt von einem sogenannten Kontaktladen uumlberall im deut-schen Suumldwesten wo sich buumlrgerschaftlicher Widerstand regt ist es praumlsent das Plakat der Antiatomkraftbewegung die in dieser Raumschaft in den 1970er Jahren ihren wirk-maumlchtigen Anfang nahm Unmittelbare Ausloumlser waren rechts- wie linksrheinische Plaumlne zur Errichtung zweier Atomkraftwerke am Oberrhein im suumldbadischen Wyhl am Kai-serstuhl und im oberelsaumlssischen Fessenheim Die sich darauf bildende grenzuumlberschrei-tende Anti-Atomkraftbewegung bdquoals Ganzesldquo (S 22) zu untersuchen ist das Ziel dieser Dissertation die in Saarbruumlcken und Paris verteidigt wurde Unter Auswertung einer Fuumllle von Archiv- und Audiovisuellen Quellen gelingt es die Aktions- und Koopera- tionsformen der Atomkraftgegner zu charakterisieren zu analysieren und deren Gemein-samkeiten wie Unterschiede herauszuarbeiten Im Mittelpunkt stehen dabei die badisch-elsaumlssischen Buumlrgerinitiativen die eine andere konkretere Begegnungsform ndash neben Wuumlrdentraumlgern auch bdquonormaleldquo Menschen ndash lebten als die bislang eher im administra-tiven Dickicht beheimatete offizielle grenzuumlberschreitende Zusammenarbeit Der gemein-same alemannische Dialekt aber auch das Bewusstsein vom gemeinsamen Kulturraum des Oberrheins beguumlnstigte zweifelsohne die grenzuumlberschreitende Kommunikation Nur dadurch ist auch der bis heute nachwirkende Erfolg des einst illegalen Senders bdquoRadio Verte Fessenheimldquo zu erklaumlren der mit wechselnden Standorten sich dem Zugriff von Gendarmerie und Polizei entzog um seiner Mission als bdquounabhaumlngigeldquo Kommunika- tions- und Informationsplattform nachzukommen

Dass sich in den Buumlrgerinitiativen nicht nur die uumlblichen bdquoStoumlrenfriedeldquo (Studenten aus Freiburg und Tuumlbingen) engagierten sondern in groszligem Maszlige die einheimische Be-voumllkerung Winzer Bauern Priester etc trug wesentlich dazu bei dass die Initiativen zumindest diesseits des Rheins als politischer Faktor im kommunalen Rahmen wie aber auch auf der Ebene der Landespolitik wahrgenommen wurden Sie gaben ihrer Kritik an der dominierenden Fortschrittseuphorie jener Jahre Ausdruck und setzten ihr die Bewah-rung der Heimat und damit nach staumlrkerer gesellschaftlicher Wahrnehmung und Respek-tierung der Umwelt entgegen Ein bis heute brandaktuelles gesellschaftliches nicht allein nur historisches Thema

Kurt Hochstuhl

Martina BACKES Juumlrgen DENDORFER (Hg) Nationales Interesse und ideologischer Miss-brauch Mittelalterforschung in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts ndash Vortraumlge zum 75jaumlhrigen Bestehen der Abteilung Landesgeschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg (Freiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittel-alters Bd 1) Ostfildern Thorbecke 2019 268 S Abb Brosch EUR 28ndash ISBN 978-3-7995-8550-7 Die traditionsreiche Freiburger Mediaumlvistik beginnt mit dem vorliegenden Band eine

neue Publikationsreihe Unter dem Reihentitel bdquoFreiburger Beitraumlge zur Geschichte des Mittelaltersldquo planen die beiden Herausgeber Juumlrgen Dendorfer und Birgit Studt die Ergebnisse von Ringvorlesungen Workshops und Tagungen des Weiteren Festschriften sowie kleinere monographische Abhandlungen zu publizieren Der vorliegende erste

707Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Band dieser neuen vielversprechenden Reihe praumlsentiert die Ergebnisse des Jubilaumlums bdquo75 Jahre Abteilung Landesgeschichte am Historischen Seminar der Universitaumlt Frei-burgldquo im Jahr 2016 Juumlrgen DENDORFER stellt in einer einleitenden Zusammenfassung die einzelnen Beitraumlge des Bandes vor (bdquoZur Einfuumlhrungldquo S 9ndash16) Andre GUTMANN thematisiert bdquoDas sbquoInstitut fuumlr geschichtliche Landeskunde an der Universitaumlt Freiburglsquoldquo (S 17ndash34) und praumlsentiert die damals handelnden Personen deren Ideen und Ziele 1941 Die Abteilung Landeskunde entstand aus einer Auseinandersetzung der Protagonisten Hans-Walter Klewitz Friedrich Maurer und Friedrich Metz um die Ausrichtung des Ale-mannischen Instituts Klewitz beantragte ndash in Opposition zum damaligen Leiter des Ale-mannischen Instituts Friedrich Metz ndash im Maumlrz 1941 beim badischen Kultusministerium finanzielle Mittel zur Einrichtung einer Landesgeschichtlichen Abteilung innerhalb des Historischen Seminars Deren Bewilligung mit Schreiben vom 29 Mai 1941 gilt als Geburtsurkunde der Abteilung Allerdings musste die neue Einrichtung in den folgenden Jahren gegen den Widerstand von Friedrich Metz verteidigt werden Mario SEILER nimmt Friedrich Metz in den Fokus (bdquoVon der bdquoRaritaumltenkundeldquo zur bdquopraktischen Volkstums- arbeitldquo Friedrich Metz und die Neuordnung der Landes- und Volksforschung in Frei-burgldquo S 35ndash48) Metz wollte die Wissenschaft aus dem rein akademischen Umfeld herausfuumlhren sowie durch die Landes- und Volksforschung Antworten auf die Fragen und Probleme der zeitlichen und raumlumlichen Gegenwart geben Dies war durchaus ambiva-lent wie Seiler hervorhebt bdquoMetzlsquo Idee einer nach Stammeszugehoumlrigkeit sowie kultu-reller Einheitlichkeit definierten territorialen und bevoumllkerungspolitischen Neuordnung des Deutschen Reiches konnte in seinem Denken daher entweder in den Rahmen natio-nalsozialistischer Siedlungs- und Raumpolitik eingepasst oder umgekehrt von diesem distanziert werdenldquo (S 48)

Karl DITT stellt bdquoDie Landesgeschichte in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts ndash Ein Modernisierungsprozessldquo (S 49ndash68) vor Er unterteilt deren Entwicklung in drei Pha-sen Die erste Phase ist gekennzeichnet durch das Beduumlrfnis der dominierenden poli- tischen auf die einzelnen Herrscherpersoumlnlichkeiten orientierten Geschichtsschreibung eine Alternative entgegen zu setzen Als zweites stellte man den Charakter des Volkes und seiner Staumlmme heraus Seit den 1920er Jahren hatte man dann das Volkstum histo- risiert kulturalisiert und verraumlumlicht Der Stammes- und Siedlungsraum wurde zu einem Kulturraum erweitert Unter der Uumlberschrift bdquoPolitisierung und Anwendungsrelevanzldquo thematisiert Willi Oberkrome den bdquoinstrumentellen Umbau der Landesgeschichte nach 191819ldquo (S 69ndash83) Die als Demuumltigung empfundene Abtrennung ehemals deutscher Gebiete wie zum Beispiel Elsass und Lothringen zwang den grenznahen Institutionen der Landesgeschichtsschreibung neue Forschungsprobleme unbekannte analytische Ver-fahren und fremdartig agonale Argumentationsstrategien auf (S 71f) Es kam zu zahl-reichen Institutsgruumlndungen und -umbauten die einen fachlichen Pionierstatus erlang- ten weil sie historische linguistische und volkstuumlmliche Verfahren mit geographisch-kartographischen Anstrengungen in dezidiert revisionistisch-antifranzoumlsischer Absicht buumlndelten (S 72) Durch diese Politisierung profitierten die bdquogrenzkaumlmpferischenldquo For-schungsbetriebe von einer daraus folgenden guten Finanzierung

Der mit Abstand umfangreichste Beitrag des Bandes von Hubert FEHR beschaumlftigt sich unter dem Titel bdquoWohin das Auge blickt kernalemannisches Landldquo mit der bdquoArchaumlologie und Volkstumsforschung am Oberrhein waumlhrend der 1930er Jahre ausgehend vom Bei-spiel des fruumlhmittelalterlichen Graumlberfelds von Mengen im Breisgauldquo (S 85ndash154) Das Alemannische Institut hatte sich von Anfang an die Foumlrderung archaumlologischer Ausgra-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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bungen zur Aufgabe gemacht und in diesem Rahmen auch die Mengener Grabung unterstuumltzt Diese wurde im Herbst 1932 begonnen und auch von den Nationalsozialisten fortgefuumlhrt ehe Theodor Mayer 1935 die Finanzierung einstellte Die Interpretation des Graumlberfeldes in der NS-Zeit stand ganz im Zeichen der Grenzkampfmentalitaumlt Die ale-mannische Landnahme wurde daher als bdquoUrereignis der deutschen Geschichte am Ober-rheinldquo betrachtet (S 128) Nach zahllosen Kaumlmpfen war das Oberrheingebiet ndash so die damalige Interpretation ndash damit zum germanischen Siedlungsland geworden die aleman-nische Landnahme wurde zum mythischen Schoumlpfungsakt verklaumlrt Dabei sollten die Grabungsergebnisse auch einer breiteren Oumlffentlichkeit (dem Volk) zugaumlnglich gemacht werden Beispielsweise berichtete die Tagespresse regelmaumlszligig daruumlber Die Fundstuumlcke praumlsentierte man1938 im neu eingerichteten Museum fuumlr Urgeschichte

Juumlrgen DENDORFER konstatiert dass die Beschaumlftigung mit den Staufern im Elsass bis heute politisch verstanden werden kann da dieses Herrschergeschlecht vor 1945 fuumlr deutsche Ziele im Elsass vereinnahmt worden war (bdquoDie Staufer im Elsass Bruchstuumlcke einer Forschungsgeschichte zwischen Vereinnahmung und Distanzierungldquo S 155ndash179) Ausgehend von der Festrede Hermann Heimpels an der neugegruumlndeten Reichsuniver- sitaumlt in Straszligburg am 30 Januar 1942 stellt er diesen nach 1945 weiterhin wirksamen Mediaumlvisten in den Mittelpunkt seiner Ausfuumlhrungen Auch wenn dieser sich selten kom-plett fuumlr die nationalsozialistischen Ziele vereinnahmen lieszlig so untermauerte auch er mit wissenschaftlichen Argumenten die Stellung des Reiches im Osten Frankreichs und legitimierte die Eingliederung weiterer Gebiete in das Reich Mit den Themen seiner Vortraumlge und Aufsaumltze in jenen Jahren verortete er sich zumindest gedanklich im Rah- men der NS-Westforschung Er praumlsentierte die Staufer auch als wichtiges Element der deutschen Geschichte im Elsass In jenen Jahren um 1940 publizierten deutsche Mediaumlvisten eine groszlige Zahl von Abhandlungen zur staufischen Kaiserzeit wobei ein negativer Houmlhepunkt Erich Maschkes Werk bdquoGeschlecht der Stauferldquo aus dem Jahr 1943 darstellt

Das vom damaligen Freiburger Oberbuumlrgermeister Franz Kerber herausgegebene Burgundbuch erschien als fuumlnfter und letzter Band des Jahrbuchs der Stadt Freiburg (bdquohellip bdquoaus politischen Gruumlnden eine heikle Angelegenheitldquo Das Burgundbuch der Stadt Freiburg im Breisgau 194142ldquo S 181ndash200) Wolfgang FREUND stellt den politischen Charakter dieses Buches heraus der durch unterschwellig expansionistische Ambitionen zu beschreiben ist Burgund war von den Nationalsozialisten als potentielles Siedlungs-gebiet fuumlr volksdeutsche Umsiedler in Erwaumlgung gezogen worden

Martina BACKES beschreibt den Weg bdquoVon Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Staumlmme und Landschaften zur modernen Literaturtopographieldquo (S 201ndash215) Josef Nadler erklaumlrte die Eigenart literarischer Werke allein aus ihrer Bedeutung zu Stamm und landschaftlichem Raum Hierfuumlr musste er auf ein Zirkelschlussverfahren zuruumlck-greifen Aus den literarischen Zeugnissen entnahm er die Hinweise auf den Charakter des Dichters und das Wesen des Stammes dessen Eigenart gleichzeitig aber auch schon immer festlag und in den Dichtungen entdeckt werden kann (S 210) Stefan SEEBER ana-lysiert in seinem Aufsatz bdquoLehrer und Fuumlhrer des deutschen Volkes ndash Eine exemplarische Studie zur Rezeption Walters von der Vogelweide im Nationalsozialismusldquo (S 217ndash232) Conrad Arnold Bergmanns 1931 fertiggestellte 1933 erschienene Monographie bdquoLehrer und Fuumlhrer des deutschen Volkesldquo zu Walther von der Vogelweide Dieses Buch war zwar nationalistisch aber nicht nationalsozialistisch Dies sahen auch die neuen Machthaber so die den Schuldirektor Bergmann im Maumlrz 1934 in den Zwangsruhestand versetzten

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Martinsvikar Jakob Beringer der ein Neues Testament in deutscher Sprache erscheinen lieszlig hatte mit Strafandrohungen des Domkapitels zu rechnen Auch Hatten wurde des Luthertums verdaumlchtigt Ein Briefwechsel mit Bucer aus dieser Zeit zeigt Hattens prekaumlr gewordene Situation in Speyer an

1527 kam Hatten dann auch durch Bucers Initiative nach Straszligburg nun als Vikar in St Thomas auszligerdem vermutlich als Lehrer taumltig Dieser Neuanfang wurde die bdquoent-scheidende Zaumlsurldquo in seinem Leben nun stand er offiziell im Dienst der evangelischen Sache Wir finden ihn in engem Kontakt mit den Reformatoren der Stadt auch mit dem aus Bergzabern stammenden Bucer- Mitarbeiter Konrad Hubert (1507ndash1577) Guumltermann kann zum ersten Mal einige Briefe Bucers aus dem Jahr 1537 fuumlr die Biographie aus- werten (S 92ndash98) Dass die Kontakte nach Speyer nicht abbrachen beweist 1534 die Dedikation einer Streitschrift an den beim Reichskammergericht taumltigen Advokaten Jakob Schenck (S 87ndash93) Weit uumlber sechzig Jahre alt heiratete Hatten 1537 Barbara Hager mit der er einen Sohn Hieronymus hatte 1546 starb Hatten 1561 wurde seine gewiss betraumlchtliche Privatbibliothek verkauft (S 104)

Sehr sinnvoll ruumlckt Guumltermann zwischen die Darstellung der Speyerer und der Straszligburger Jahre einen Abschnitt uumlber Hatten bdquoals wichtiges Glied des humanistischen Netzwerks am Oberrheinldquo (S 46ndash79) Dazu gehoumlrten in Speyer von 1483 bis 1498 Jakob Wimpfeling (1450ndash1528) und sein Nachfolger als Domprediger Jodocus Gallus (1459ndash1517) Prominente Mitglieder des humanistischen Freundeskreises zu dem Hatten Kontakte pflegte waren auch Beatus Rhenanus (1450ndash1528) Johannes Kieher (dagger1519) und Thomas Truchsess von Wetzhausen (1460ndash1523) Ein schoumlnes Beispiel fuumlr das Zutrauen zu Hatten bieten die Briefe von Johannes Brenz (1499ndash1570) und Theobald Billican (1493ndash1554) beide baten 1521 um Unterstuumltzung fuumlr den Studenten Johannes Portius aus Rheinzabern (S 78 108ndash111) Wohl noch in die Speyerer Zeit gehoumlrt die Rezension des fruumlher Alkuin (735ndash804) zugeschriebenen Streitgedichtes bdquoConflic- tus Veris et Hiemisldquo Guumltermann kann dieses Dokument zum ersten Mal vorstellen (S 29ndash37) Wir erleben Hatten sogar in direktem Kontakt mit Erasmus von Rotterdam den Hatten 1515 in Speyer beherbergen konnte (S 57) In einem Brief vom 1517 nennt ihn Erasmus einen bdquoFreund mit schneeweiszligem Herzenldquo (S 61)

Guumltermann ergaumlnzt sein Buch um eine knappe zusammenfassende Vita (S 106) Au-szligerdem bietet er 17 Quellentexte im lateinischen Original und zum Teil mit Uumlbersetzung (S 108ndash133) Am Schluss folgen das Quellen- und Literaturverzeichnis (S 134ndash141) schlieszliglich ein ausfuumlhrliches Personenregister 29 Abbildungen bereichern das Werk Das Buch bietet ein sympathisches Bild des bisher weithin nicht beachteten Humanisten aus Speyer der als reformerischer Geist innerhalb der Kirche schlieszliglich zum Anhaumlnger und Parteigaumlnger der Reformation wurde

Klaus Buumlmlein

Johann Heinrich ANDREAE Neapolis Nemetum Palatina uumlbersetzt und erlaumlutert von Lenelotte MOumlLLER (Briefe aus dem Haus der Geschichte Bd 2) Neustadt an der Wein-straszlige Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung 2019 124 S Abb Brosch EUR 25ndash ISBN 978-3-942189-27-9

Die in Neustadt an der Weinstraszlige beheimatete ruumlhrige Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung nahm nunmehr eine siebte Reihe bdquoGldquo in Angriff als deren zweite Nummer die Leiterin des dortigen Kurfuumlrst Ruprecht-Gymnasiums soeben die vor 250 Jahren erschienene Arbeit ebenfalls eines Schulmanns aus dem Lateinischen

724 Buchbesprechungen

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Die Walter-Biographie ist somit ein Zeugnis der Uumlbergangszeit und zeigt den nationalen Naumlhrboden des Nationalsozialismus

Fabian LINK interpretiert die bdquoBurgenforschung im NS-Regimeldquo als bdquozwischen voumll-kisch-tribalistischem Regionalismus und germanischem Groszligreichldquo stehend (S 233ndash259) Vor 1933 war die Burgenforschung ein heterogenes wissenschaftliches und kulturelles Feld das aus in Burgenvereinen organisierten Laien bestand Dazu kamen Archaumlologen Kunst- und Landeshistoriker sowie Mediaumlvisten mit akademischer Aus- bildung Bis 1936 als der Fokus der Nationalsozialisten auf die Kriegsvorbereitung fiel erfuhren Burgen Burgruinen und Schloumlsser eine Foumlrderung seitens des NS-Staates Bur-genforschung gehoumlrte zum NS-Konzept einer deutschen Wissenschaft Burgen bildeten einen wichtigen und vielfaumlltig rituell zu nutzenden Bestandteil vermeintlich deutsch- germanischer Kultur

Ein Personen- Orts- und Institutionenregister schlieszligt den informativen Band ab Ins-gesamt alles gelungene Beitraumlge und damit auch ein gelungener Auftakt in eine vielver-sprechende neue Reihe Wenn man das heutige fruchtbare Zusammenwirken von Ale- mannischem Institut und Abteilung Landesgeschichte sieht vergisst man leicht die urspruumlnglich heftige Auseinandersetzung der Anfangszeit Ein persoumlnlicher Wunsch zum Schluss Einige kurze biographische Daten zu den einzelnen Autoren waumlren will-kommen

Juumlrgen Treffeisen

Wilhelm KUumlHLMANN (Hg) unter Mitarbeit von Ladislaus LUDESCHER und mit einem Vorwort von Hermann WIEGAND Prata Florida Neue Studien anlaumlsslich des dreiszligig-jaumlhrigen Bestehens der Heidelberger Sodalitas Neolatina (1988ndash2018) Heidelberg Mattes 2020 354 S Abb geb EUR 30ndash ISBN 978-3-86809-152-6

Der vorliegende Band vereinigt ndash wie der Untertitel bereits andeutet ndash (teils vorlaumlufige) Ergebnisse aktueller Arbeitsprojekte der Heidelberger Sodalitas Neolatina diese sieht ihre Hauptaufgabe nach Auskunft von Hermann Wiegands Vorwort darin bdquoEditionen vor allem poetischer Literatur aus dem unerschoumlpflichen Reservoir der neulateinischen Dich-tung zu erarbeitenldquo (S 7) Im besonderen Fokus der Sodalitas stehen derzeit offensicht-lich bdquoRegionalia Zum deutschen Suumldwestenldquo mit drei bzw bdquoJesuiticaldquo mit vier Beitraumlgen von denen wiederum drei alleine den Deliciae Aestatis des Johannes Bisselius gewidmet sind Flankiert werden diese beiden Hauptbereiche von zwei vorangestellten Beitraumlgen zu bdquoMittelalter und Renaissanceldquo sowie einem Beitrag zu bdquoFacetten der Rezeptionldquo ins-gesamt umfasst der Band also zehn Abhandlungen von extrem unterschiedlichem Um-fang Der kuumlrzeste Aufsatz umfasst kaum zehn der laumlngste beinahe hundert Druckseiten

Eroumlffnet wird der Band mit einem Beitrag von Christoph BROECKER zum Speculum Musicae des Jacobus von Luumlttich Auf einige ebenso knappe wie unzusammenhaumlngende und zudem an keiner Stelle nachvollziehbar belegten Bemerkungen zur Biographie des Verfassers und zu dessen Stellung im zeitgenoumlssischen musiktheoretischen Diskurs geht Broecker dazu uumlber lange Auszuumlge aus dem Speculum Musicae in deutscher Uumlbersetzung durch kurze Uumlberleitungstexte zu verbinden als deren Houmlhepunkte in informativer Hin-sicht verstreute Verweise auf Bibelstellen Augustinus Arnobius Johannes de Garlandia Isidor Roger Bacon Platon oder Martianus Capella gelten duumlrfen ndash ausgerechnet der von Jacobus selbst so oft zitierte Boeumlthius dagegen ist Broecker keinen einzigen durch-gefuumlhrten Vergleich wert

710 Buchbesprechungen

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getragen wo Zeus Hermes Athene die Muse Urania und Apollon um seine Seele streiten bis schlieszliglich die spaumlter herbeigerufene Themis sie Athene und sich selbst zuerkennt

Vogel zeigt sich angesichts dieser seltsamen Mischung von paganem Mythos und der christlichen Vorstellung vom Himmel als einem Jenseitsort der Gerechten zu Recht ver-wundert (S 468) Am Ende wird dem leer ausgegangenen Hermes als Trostpreis noch die Seele Luthers zugesprochen sobald der Wittenberger Reformator dereinst gestorben sei Waumlhrend Zwingli also an der Hand der Goumlttin der Gerechtigkeit himmlische Ehren zuteil werden wartet auf Luther ein Hermes der die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt fuumlhrt Diese Passage lieszlige sich meines Erachtens auch als Andeutung einer kuumlnftigen Houmlllenfahrt Luthers interpretieren Koumlnnte sie in Anbetracht der Spannungen zwischen Wittenberg und Zuumlrich (Abendmahlsstreit) polemisch gemeint sein Vogel uumlbersetzt die Verse 60ndash63 wie folgt bdquoLuther aber wenn er stirbt soll der gluumlckbringende Hermes nehmen der raubend und listenreich [] ein Helfer der Menschen ist er der die Seelen der Verstorbenen unter die Tiefen der Erde fuumlhrt denn Gleiches freut sich immer wie sie sagen an Gleichemldquo Vers 61 bedeutet aber wahrscheinlich bdquoder ein Helfer der Diebe und listigen Menschen istldquo unter Aumlnderung eines Akzents muumlsste man also wohl schreiben ὃς κλεπτῶν δολίων τrsquo ἀνθρώπων ἐστὶν ἀμύντωρ Dadurch fiele die Pointe noch deutlicher aus Zwingli kommt nach dem Tod zur Goumlttin der Gerechtig-keit in den Olymp (Himmel) waumlhrend Luther beim Gott der Diebe in der Unterwelt (Houmllle) landen wird jedem nach seinem Verdienst (vgl Joh 10 1)

Fuumlr jeden der sich mit der Fruumlhen Neuzeit beschaumlftigt ist der Tagungsband zu Conrad Gessner und der von ihm musterguumlltig verkoumlrperten bdquoRenaissance der Wissenschaftenldquo eine anregende fesselnde und ergiebige Fundgrube

Matthias DallrsquoAsta

Sven GUumlTERMANN Matern Hatten Ein Intellektuellenleben zwischen Humanismus und Reformation am Oberrhein Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2017 144 S Abb geb EUR 1690 ISBN 978-3-89735-979-6

Unbekannt war der in Speyer geborene Humanist Matern Hatten (1470ndash1546) in der Forschung nicht gewesen Es ist das Verdienst Guumltermanns dass er die bisherigen Erkenntnisse weiterfuumlhrt und eine ansprechende auf die Quellen gestuumltzte Lebens- geschichte vorlegt Auch wenn nur fuumlnf authentische Texte Hattens uumlberliefert sind erwartet die Leser ein spannungsvolles Lebensbild

Den ersten Teil widmet Guumltermann den Speyerer Jahren 1470ndash1527 In Speyer gehoumlrte die Familie Hatten wiederholt zu den Ratsherrn Auch Verwandte der Mutter aus der Familie Ruszlig bzw Reuszlig sind mehrfach urkundlich belegt (S 21f) Die handschriftliche Widmung einer kleinen Schrift an Sebastian Brandt von 1502 gibt den Namen bdquoMaternus Hattenauwerus dictus Reuszligldquo wieder (S 22) Hatten konnte in Leipzig studieren sein Name wird in der Matrikel zum Wintersemester 1496 bezeugt (S 16) Nach Speyer zuruumlckgekehrt gehoumlrte Hatten zu der groszligen Schar der am Domstift installierten Vikare seit 1504 ist er nachweisbar als Mitglied der Martinsherren oder bdquoMartinensesldquo Sie hatten als Priester auch den Gesang in der Martinskapelle zu unterstuumltzen Fruumlh kam Hatten in Kontakt mit kritisch- reformatorischen Gedanken Nach dem Wormser Reichstag 1521 wurde den Martinsherrn vorgeworfen dass sie im Chor vermutlich lutherische Buumlchlein lasen und so fuumlr groszlige Verwirrung sorgten Martinsherrn gehoumlrten auch zu den Zuhoumlrern bei den evangelischen Predigern waumlhrend des Speyerer Reichstags 1526 Vor allem der

723Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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allerdings markanter bdquoDass er [Gessner] der groumlszligte Linguist seiner Zeit gewesen ist kann nach dem heutigen Stand der Forschung niemand mehr bezweifelnldquo

Die Themenfuumllle des Bandes laumlsst sich in einer kurzen Besprechung nicht in den Griff bekommen sie reicht von Gessners monumentaler bdquoBibliotheca universalisldquo von 1545 die ihm den Ehrentitel eines bdquoFather of Bibliographyldquo (Jens Christian Bay) eintrug uumlber die fuumlnfbaumlndige bdquoHistoria animaliumldquo (erschienen 1551 1554 1555 1558 und postum 1587) bis hin zu Gessners Pflege seiner Kaktusfeige aus der Neuen Welt 1558ndash1561 (zur bdquoEarly History of the Prickly Pear Cactusldquo vgl den reich illustrierten Beitrag von Urs EGGLI S 43ndash66) Beeindruckend ist wie Gessner seine Vernetzung innerhalb der Res publica literaria fuumlr seine botanischen und zoologischen Forschungen nutzte indem er sich europaweit Informationen Naturalien und Zeichnungen von Pflanzen und Tieren zukommen lieszlig (vgl exemplarisch den Beitrag von Robert OFFNER S 405ndash425) Diese Kontakte ziehen sich auch durch die Texte der drei Plenarvortraumlge bdquoThe two men [Gess-ner und John Caius] sent each other not only letters but also thingsldquo (Anthony GRAFTON S 360) bdquoGessner used the public forum of a dedication to exert whatever pressure he could on these potential contributorsldquo (Ann BLAIR S 549) bdquoYet the evidence concerning the multidirectional image exchanges in which he was involved indicates that Gessner participated in practices of image collecting and use shared by many other 16th-century naturalistsldquo (Florike EGMOND and Sachiko KUSUKAWA S 604)

Mitunter leicht missverstaumlndlich ist der gelegentliche Hinweis dass Zeichnungen bdquoad vivam effigiemldquo oder bdquoad vivumldquo gemalt seien bdquoIm Erasmus-Bildnis wird diese Aussage zugespitzt wenn Duumlrer vermerkt dass er das Bildnis zwar nach dem Leben gezeichnet habe ein besseres Bild jedoch die Werke des Erasmus zeigtenldquo (Hess S 163) bdquoLike Durerrsquos famous rhinoceros many vivid and influential images of animals labeled as made sbquoad vivumlsquo were fashioned at one or more removes from the original modelsldquo (GRAFTON S 369) Walther Ludwig hat 1998 in einem Aufsatz im bdquoPhilologusldquo nachgewiesen dass die Ausdruumlcke bdquoad vivam effigiemldquo und bdquoad vivumldquo in der Fruumlhen Neuzeit nicht das Por-traumltieren nach dem lebenden Modell bezeichnen sondern die Lebendigkeit der Darstel-lung betonen Sophia HENDRIKX S 635 (Anm 83) stellt es richtig dar bdquoAs pointed out by Sachiko Kusukawa with this phrase [sbquoad vivumlsquo] Gessner referred to the effect an image had on the beholder rather than the question wheather an image was a true portrait of something in natureldquo

Ebenso spannend wie die Werke und Taumltigkeiten des reifen Polyhistors und Pestarztes (vgl vor allem den Beitrag von Charles GUNNOE uumlber die Pestepidemie 1562ndash1566 der auch Gessner selbst zum Opfer fiel S 295ndash309) ist die Betrachtung der handschriftlich erhaltenen vierzehn griechischen Gedichte die Gessner 1532 als Sechzehnjaumlhriger () auf Zwinglis Tod in der Schlacht bei Kappel verfasst hat bdquoThrinodiae sive sacra magna-nimi herois Huldrychi Zwinglii patris patriae fortissimildquo Katja VOGEL nimmt drei dieser Gedichte naumlher in den Blick sie werden zusammen mit dem lateinischen Widmungsbrief an Heinrich Bullinger und Theodor Bibliander im griechischen Original und in deutscher Uumlbersetzung wiedergegeben (S 465ndash484) Der tote Zwingli erscheint in ihnen unter anderem als ein zweiter Herakles der die katholische Hydra bekaumlmpfte und sich feiger Pygmaumlen zu erwehren hatte Gessners Vertrautheit mit der griechischen Dichtersprache ist dabei selbst fuumlr einen ambitionierten sbquoTeenagerlsquo des 16 Jahrhunderts auszligergewoumlhnlich Sein 72 Hexameter umfassender Homer-Cento bildet das laumlngste Gedicht der Sammlung und ist ein interessantes Beispiel fuumlr den in Humanistenkreisen gepflegten poetischen Paganismus Der in der Schlacht gefallene Zwingli wird von Engeln in den Olymp

722 Buchbesprechungen

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Waumlhrend Broecker in den (dadurch natuumlrlich voumlllig ausufernden) Fuszlignoten jeweils den lateinischen Originaltext zu seinen Uumlbersetzungen bietet verzichtet M Elisabeth SCHWAB deren Uumlbertragung von Poggio Bracciolinis Descriptio Urbis Romae ebenfalls auf einer bereits vorhandenen Edition aufbaut gaumlnzlich auf den Abdruck des Urtextes Wesentlich lesbarer und gehaltvoller als der vorangegangene Aufsatz wird Schwabs Bei-trag aber in erster Linie durch die deutlich besser strukturierte Einleitung die neben einer historischen und gattungspoetologischen Kontextualisierung auch einen uumlberzeugenden Interpretationsansatz bietet in dem Bracciolinis Darstellung der antiken Ruinen als Strategie der bdquoVergessensbewaumlltigungldquo gedeutet (S 47ndash50) und so die Besonderheit des Textes im Kontrast zu vergleichbaren zeitgenoumlssischen Projekten herausgearbeitet wird Eine ausfuumlhrliche Kommentierung des uumlbersetzten Textes in den Fuszlignoten bietet dem Leser wertvolle Orientierung im Bereich der Realia

Im ersten Beitrag zu den bereits erwaumlhnten Deliciae Aestatis des Johannes Bisselius SJ wendet Wilhelm KUumlHLMANN erneut ein anderes Verfahren der Kommentierung an das abweichend von den vorangegangenen Abhandlungen einen vollstaumlndigen Uumlberblick uumlber Werk Textauszug Hintergruumlnde und Interpretationsansaumltze bietet Auf eine einleitende Charakterisierung des Bisselius als Dichter folgt jeweils eine kurze Einleitung zu der be-trachteten Elegie gefolgt vom Text derselben einer en bloc abgedruckten Kommentierung erklaumlrungsbeduumlrftiger Stellen der Uumlbersetzung und einer kurzen Interpretation Dieses klassische und im vorliegenden Aufsatz fuumlr zwei Texte bzw Textgruppen wiederholte Vor-gehen erschlieszligt die Objekte der Betrachtung in musterguumlltiger Weise und bereitet einer vertieften literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bisselius so das Feld ndash nicht ohne gewichtige Argumente fuumlr die Fruchtbarkeit desselben geliefert zu haben Die von Kuumlhlmann analysierte poetische Betrachtung des Morgens und der (fruumlh-)morgendlichen Arbeitsbedingungen durch den Dichter gewaumlhrt dabei nicht nur uumlber dessen Selbst- reflexion sondern insbesondere aufgrund der artifiziellen Faktur der behandelten Texte einen aufschlussreichen Einblick in die poetische Physiognomie des Bisselius

Eher dem Muster einer konventionellen Interpretation verpflichtet ist der Aufsatz Karl Wilhelm BEICHERTS zu einem ebenfalls in den Deliciae Aestatis enthaltenen Zyklus der die Bearbeitung einer populaumlren Wandersage darstellt Der von Bisselius auf den Namen Vitalis Vigilantius getaufte Moumlnch verzweifelt am Verstaumlndnis der Unterschiede zwischen himmlischer und irdischer Zeit woraufhin Gott ihm einen wunderbaren Vogel schickt der den Moumlnch dreihundert Jahre lang durch seinen Gesang bezaubert schlieszliglich kehrt dieser wieder in sein Kloster zuruumlck das sich in den vergangenen drei Jahrhunderten natuumlrlich von Grund auf gewandelt hat Beichert stellt zunaumlchst die Stofftradition und den konkreten Praumltext des Bisselius dar der sowohl im Original als auch in Uumlbersetzung geboten wird In der Folge werden zwei besonders aufschlussreiche Elegien aus dem dreizehn Nummern umfassenden Zyklus die jedoch immer wieder in den Kontext des Zyklus wie auch des Gesamtwerks eingeordnet werden abgedruckt uumlbersetzt und inter-pretiert Beicherts Betonung der bereits von Kuumlhlmann als typisch fuumlr das Werk des Bisselius erwaumlhnten (S 75) bdquoMotivverflechtungenldquo (S 134ndash136) deutet dabei beispiel-haft auch das Potenzial der symbiotischen Effekte innerhalb der Sodalitas Neolatina an

Jost EICKMEYER spuumlrt im ndash zumindest nach der unmaszliggeblichen Ansicht des Rezen-senten ndash gelungensten Aufsatz des Bandes gerahmt durch den launigen Ruumlckblick auf die eigene Aufnahme in die Sodalitas den intratextuellen und -medialen Bezugnahmen einer Elegie des Bisselius auf die biblische Ruth und deren (freilich fiktiven) sprechenden Papagei nach Die souveraumlne Handhabung von Weitung und Verengung des interpreta-

711Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Urs B LEU Peter OPITZ (Hg) Conrad Gessner (1516ndash1565) Die Renaissance der Wissenschaften The Renaissance of Learning BerlinBoston de Gruyter Oldenbourg 2019 X 712 S Abb geb EUR 12995 ISBN 978-3-11-049696-3

Zum 500 Geburtstag des Zuumlrcher Universalgelehrten Conrad Gessner veranstaltete die Universitaumlt Zuumlrich vom 6 bis 9 Juni 2016 einen groszligen internationalen Kongress mit 44 Vortraumlgen von denen 33 in dem vorliegenden Tagungsband dokumentiert sind Der Mitherausgeber Urs B LEU Leiter der Abteilung Alte Drucke und Rara der Zentral-bibliothek Zuumlrich ist der weltweit beste Kenner von Gessners Leben und Werk Auch an den uumlbrigen Zuumlrcher Aktivitaumlten und Ausstellungen aus Anlass des Jubilaumlums war er federfuumlhrend beteiligt besonders zu erwaumlhnen sind diesbezuumlglich seine umfassende neue Biographie bdquoConrad Gessner (1516ndash1565) Universalgelehrter und Naturforscher der Re-naissanceldquo und der von ihm und Mylegravene Ruoss herausgegebene wunderschoumln illustrierte Sammelband bdquoFacetten eines Universums Conrad Gessner 1516ndash1565ldquo die beide 2016 erschienen sind

Auf eine regelrechte Einleitung in den schwergewichtigen Tagungsband haben die bei-den Herausgeber verzichtet das kurze Vorwort auf S V muss genuumlgen Die Beitraumlge in deutscher (18) englischer (12) franzoumlsischer (2) und italienischer (1) Sprache sind neun alphabetisch geordneten Sachgebieten zugeordnet 1 Bibliographien und Enzy[k]lopauml-distik (drei Aufsaumltze) 2 Botanik (drei) 3 Erdwissenschaften (drei) 4 Kunst (zwei) 5 Medizin und Pharmazie (sechs) 6 Netzwerk (fuumlnf) 7 Philosophie und Theologie (vier) 8 Sprachwissenschaften (zwei) und 9 Zoologie (fuumlnf) Als Anhaumlnge folgen ab S 655 eine umfangreiche Bibliographie (Abkuumlrzungen Handschriften Gedruckte Quel-len und Sekundaumlrliteratur) ein Personenregister (S 697ndash706) sowie Kurzvorstellungen der Autorinnen und Autoren

Der Tagungsband bietet somit einen bdquoreichhaltige[n] Blumenstrauss an Fachgebieten und Themenldquo (so die Formulierung im Vorwort) der in diesem Fall aber weniger der gegenwaumlrtigen Hochkonjunktur der Multi- Inter- Trans- und Supradisziplinaritaumlt ge-schuldet ist sondern ganz einfach der Universalitaumlt des Polyhistors Gessner entspricht den Leu gerne (augenzwinkernd) als einen bdquoLeonardo da Vinci der Schweizldquo bezeichnet Einige der Tagungsbeitraumlge vertiefen dabei Themen die von ihren Autorinnen und Au-toren bereits in dem oben erwaumlhnten Sammelband von 2016 behandelt wurden Dies trifft insbesondere auf den Beitrag von Anja-Silvia GOEING uumlber Buchannotationen in Gessners Lehrbuch bdquoDe animaldquo zu das dieser 1563 zusammen mit drei schon aumllteren themenglei-chen Kommentaren von Juan Luis Vives Veit Amerbach und Philipp Melanchthon fuumlr Studenten der Philosophie und Medizin herausgab (S 433ndash452) Es gilt eingeschraumlnkt aber auch fuumlr den Beitrag von Massimo DANZI zu Gessners balneologischer Schrift bdquoDe Germaniae et Helvetiae thermisldquo von 1553 (S 253ndash272) und fuumlr die interessanten und reich illustrierten kunsthistorischen Beitraumlge von Daniel HESS (S 161ndash194) und Mylegravene RUOSS (S 195ndash233) zu Gessners beeindruckenden Pflanzen- und Tierdarstellungen im Kontext der Grafik und Malerei des 16 Jahrhunderts Der lesenswerte Beitrag von Simona BOSCANI LEONI zu Gessners Interesse fuumlr alpine Landschaften bzw seinem bdquoEnthusiasm for Mountainsldquo (S 119ndash128) ist eine geringfuumlgig erweiterte englische Fas-sung ihres drei Jahre aumllteren deutschen Textes Und auch Manfred PETERSrsquo Untersuchung zu Gessners bdquoMithridates De differentiis linguarum [hellip] observationesldquo von 1555 (S 499ndash516) stimmt weitgehend mit seiner drei Jahre aumllteren emphatischen Wuumlrdigung Gessners als innovativem Sprachwissenschaftler uumlberein der in Anlehnung an eine Einschaumltzung Jakob Baumlchtolds (vgl S 500 f mit Anm 9) formulierte Schlusssatz ist jetzt

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torischen Blickwinkels von Vor- und Ruumlckverweisen innerhalb des analysierten Kom-plexes macht die Lektuumlre des als bdquoEssayldquo angekuumlndigten Aufsatzes (S 147) zu einem ebenso abwechslungs- wie aufschlussreichen Vergnuumlgen an dessen Ende die Zusammen-fuumlhrung der verschiedenen medialen Diskurse zur abschlieszligenden Betrachtung zweier ndash unter modernen Gesichtspunkten freilich aumluszligerst fragwuumlrdiger gerade deshalb aber als historische Zeugnisse hochinteressanter ndash paumldagogisch-didaktischer Konzepte virtuos demonstriert und ein weiter Assoziationsraum eroumlffnet wird der seinerseits wieder Raum fuumlr weiterfuumlhrende Essays boumlte und den bereits von Kuumlhlmann und Beichert gefuumlhrten Nachweis vom poetischem Rang des Bisselius kongenial ergaumlnzt

Die Reihe der bdquoJesuiticaldquo wird ergaumlnzt durch einen Aufsatz von Peter MATHES zu Bal-des Batrachomyomachia den selbst Wiegands Vorwort als bdquokuumlrzeren Beitragldquo bezeichnet (S 14) Dieser bietet neben einigen einleitenden Bemerkungen zum Werk Text Uumlber- setzung und Kommentar eines (ebenfalls nicht besonders umfangreichen) Ausschnitts aus Baldes Epyllion aber ndash anders als in den vorangegangenen Beitraumlgen ndash keine eigent-liche Interpretation Hier ist am deutlichsten der Status eines echten Werkstattberichts zu greifen den viele andere Beitraumlge des Bandes zugunsten abgerundeter Deutungen uumlberwinden

Offen als Werbemaszlignahme fuumlr die im Entstehen begriffene Edition des Briefwechsels Nicodemus Frischlins praumlsentiert Robert SEIDEL seinen Aufsatz der die Kategorie der bdquoRegionalia Zum deutschen Suumldwestenldquo eroumlffnet und die Briefe des streitbaren Spaumlt- humanisten aus der Hohenuracher Haft an den wuumlrttembergischen Hof vor dem Hinter-grund der beiden konkurrierenden Diskurse von Recht und Gnade einer stringent durch-gefuumlhrten Analyse unterzieht Wie die meisten Beitraumlger entwickelt bzw pflegt auch Seidel einen individuellen Stil in der Praumlsentation seiner Ergebnisse In diesem Falle folgen auf die umfangreiche Interpretation in deren Verlauf zahlreiche Textauszuumlge angefuumlhrt uumlber-setzt und gedeutet werden ein Anhang der die Textpraumlsentation der kommenden Edition abbildet und neben einem textkritischen Apparat auch kommentierende Anmerkungen bietet ndash anders als bei Kuumlhlmann Beichert und Mathes allerdings nicht als Textblock im Anschluss an den kommentierten Abschnitt sondern im unteren Seitendrittel

Hermann WIEGAND wiederum ordnet seine Darstellung von Transkription und Uumlber-setzung eines Gedichts von Robert Keuchenius auf die Heidelberger Seherin Jetta be-sonders intensiv in die Beschreibung der Handschrift die Biographie des Dichters sowie die Stofftradition ein um den lokalhistorischen Bezug des Textes herauszustellen So entsteht ein Aufsatz der insbesondere fuumlr den an Heidelberger Regionalia interessierten Leser zahlreiche neue Anregungen und willkommene Anknuumlpfungspunkte bietet

Im folgenden erneut sehr kurz gehaltenen Beitrag wirft Michael HANSTEIN ein trotz seiner Fluumlchtigkeit interessantes Schlaglicht auf das lateinische Gelegenheitsgedicht Bei der im akademischen Kontext obligatorischen Abfassung desselben habe Matthias Bernegger intensiv mit Samuel Gloner zusammengearbeitet ndash unter houmlchst spannungs-vollen hierarchischen Vorzeichen innerhalb der sozialen Verflechtungen im Straszligburg des fruumlhen 17 Jahrhunderts wie innerhalb der poetischen Praxis die Hanstein an wenigen Beispielen uumlberzeugend illustrieren kann

Geschlossen wird der Band durch die von Wilhelm Kuumlhlmann und Karl Wilhelm Beichert ausfuumlhrlich eingeleitete Auswahltranskription des Briefwechsels zwischen Eduard Boumlcking und David Friedrich Strauszlig In dessen Verlauf entzweien sich der Herausgeber und der Biograph Ulrich von Huttens nach der Anbahnung einer fuumlr alle Beteiligten fruchtbaren Gelehrtenfreundschaft anlaumlsslich zweier Rezensionen in denen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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das Register des fruumlheren Bandes das sich auf die Uumlberlieferung bezieht Ebenso weist das Initien- und Originaluumlberschriftenregister diese anhand der im ersten Band vergebe-nen Werknummern nach Ergaumlnzt wird die Reihe durch eine Konkordanz der Siglen des Werkverzeichnisses mit den Sigle der Edition der bdquoKleinen Texteldquo von Wilhelmi Vor dem abschlieszligenden Personenregister zur Forschung das die verzeichneten Forschungs-beitraumlge alphabetisch nach Namen geordnet per Siglen nachweist folgen noch eine kurze Liste von Nachtraumlgen zu den Testimonien und Archivalien im vorangehenden Band sowie eine Liste von Addenda und Corrigenda zu eben diesem die Nikolaus Henkel beigesteuert hat Die Uumlbersendung der Liste an die Urheber wie die Aufnahme in den folgenden Band scheint mir ein besonders gutes Beispiel fuumlr konstruktive Kritik und den angemessenen Umgang damit zu sein

Der Hauptteil nennt also die bdquoBeitraumlge zur Brantforschung nach ihrer Erstpublikation und gegebenenfalls auch nach ihrer letzten Auflageldquo (Vorwort S 5) Dabei wird die Bibliographie nach den oben benannten Sachkapiteln gegliedert und die Beitraumlge werden entsprechend einsortiert moumlgliche (und sehr haumlufig vorkommende) Mehrfachbezuumlge werden durch Querverweise sichtbar gemacht Die Bibliographie folgt darin dem System des Vorgaumlngerbandes von KnapeWuttke von 1990 den insbesondere der vorliegende Teil ersetzen soll Die aufgefuumlhrten Titel bekommen eine mit L beginnende Sigle mit der sie in das im ersten Band begonnene System integriert werden mit der Sigle W wird jeweils ein Werk Brants angesprochen mit A ein Autograph mit D ein Druck usw (Die Systematik wird in Band I auf den S 11ndash13 erlaumlutert) Die verzeichneten Beitraumlge der Forschung werden so mit einer L-Sigle eindeutig identifizierbar was zumindest die Systematisierung der wissenschaftlichen Arbeit erleichtert

Fuumlr den angegebenen Zeitraum ist die Bibliographie ndash soweit ich sehen kann ndash sehr vollstaumlndig Selbst solche fuumlr die Rezeptionsforschung wertvollen Funde wie die Aumluszlige-rungen zu Brant von Christoph Martin Wieland im Teutschen Merkur (L 319 indirekt in einem Stuumlck uumlber Geiler von Kaysersberg L 1331) oder von Ludwig Uhland in seinen Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage (L 892) sind zu finden Das darf aller-dings nicht dazu verfuumlhren sich auf die Vollstaumlndigkeit der Verweise zu bestimmten Fragestellungen zu verlassen (was wohl in keiner Bibliographie funktionieren koumlnnte) So wird z B der Aufsatz von Joachim Theisen (L 886) den ich unter Literatur zum Titelblattholzschnitt erwartet haumltte ndash wiederum berechtigterweise ndash unter 63 (bdquoLiteratur zu Quellen Vorlaumlufern und Vorbildernldquo) verzeichnet weil er anhand des Titelblatts Bezuumlgen zu Petrarca nachgeht Beitraumlge zu generellen Oberthemen werden unter dieser Rubrik verzeichnet ohne dass auf die einzelnen Kapitel auf die sie sich stuumltzen verwie-sen wuumlrde So bespricht z B die Studie von Hans-Joachim Raupp (L 1117) exemplarisch die Illustrationen mehrerer einzelner Kapitel des bdquoNarrenschiffsldquo wird aber lediglich summarisch unter 67 (bdquoBildbestandteileldquo) aufgefuumlhrt Das ist legitim denn natuumlrlich erhebt sich hier auch die Frage wie weit eine solch tiefgreifende Verschlagwortung durchfuumlhrbar waumlre die durch zahlreichere Querverweise zunehmend Vollstaumlndigkeit uggerieren wuumlrde wo sie sich letztlich gar nicht herstellen lieszlige

Solche wohlfeilen Klagen allerdings sollen denn auch weniger einer Kritik an der Systematik dienen als vielmehr darauf aufmerksam machen dass ein solches Hilfsin-strument richtig verwendet (und eben in mehrerlei Perspektive befragt werden) will und dabei die Intentionen des einzelnen Nutzers nicht wird antizipieren koumlnnen Die Brant-forschung wird aus den nun verfuumlgbaren beiden Baumlnden groszligen Nutzen ziehen

Michael Rupp

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Strauszlig sich in beckmesserischer Manier uumlber die ersten beiden Baumlnde der Edition Boumlckings auslaumlsst gruumlndlich ndash ein Konflikt den Beichert und Kuumlhlmann uumlberzeugend aus bdquolatenten Rivalitaumltsgefuumlhlen vor allem auf Seiten von Strauszligldquo erklaumlren (S 318) Ein Abdruck der beiden Rezensionen sowie eine Auflistung des vollstaumlndigen Briefwechsels machen den Beitrag zu einem ebenso historisch ertragreichen wie vergnuumlglich zu lesen-den Dokument der Gelehrtenkultur des 19 Jahrhunderts

Insgesamt handelt es sich also durchaus um einen Fest- bzw Jubilaumlumsband der erstens durch das sorgfaumlltige Lektorat und die ebenso schlichte wie gediegene Ausstattung von Seiten des Verlags angemessen praumlsentiert wird der zweitens das vielfaumlltige und ertragreiche Wirken der Sodalitas Neolatina in wuumlnschenswerter Konsequenz repraumlsen-tiert und der so drittens ein wuumlrdiges Ausrufezeichen hinter das ebenso erfreuliche wie gluumlckliche Fortbestehen einer Gesellschaft setzt der auch von Seiten des Rezensenten hiermit ein herzliches Ad multos annos zugerufen sei

Heiko Ullrich

Wolfgang MAumlHRLE (Hg) Spaumltrenaissance in Schwaben Wissen ndash Literatur ndash Kunst Tagungen des Arbeitskreises fuumlr Landes- und Ortsgeschichte im Verband der wuumlrttem-bergischen Geschichts- und Altertumsvereine am 26 November 2015 und am 10 Maumlrz 2016 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Geschichte Wuumlrttembergs Impulse der For-schung Schriftenreihe des Wuumlrttembergischen Geschichtsvereins Bd 2) Stuttgart Kohlhammer 2019 508 S Abb geb EUR 35ndash ISBN 978-3-17-033592-9

Der Sammelband enthaumllt 17 Beitraumlge die durchschnittlich jeweils etwa 20 Druckseiten umfassend fuumlnf thematischen Schwerpunkten zugeordnet sind Gelehrsamkeit und Wis-senschaft (fuumlnf Aufsaumltze) Gelehrte und Poeten in der respublica litteraria Bildungsein-richtungen und -konzepte Literatur Bildende Kunst (je drei Aufsaumltze) Beim Versuch das politisch kleinteilige bdquoSchwabenldquo genauer zu fassen werden zwei Staumldte als Refe-renzpunkte erkennbar die Reichsstadt Augsburg und die Universitaumltsstadt Tuumlbingen im topographischen Index sind denn auch beide Namen durch die haumlufigste Nennung aus-gewiesen

Nach einer kurzen Vorbemerkung des Herausgebers sollen zwei Beitraumlge in die Ge-samtthematik einfuumlhren Wolfgang MAumlHRLE untersucht bdquoSpaumltrenaissance als Epochen- begriff Zur Periodisierung der fruumlhneuzeitlichen Geschichte im Bereich der Wissen- schaften und Kuumlnsteldquo (S 15ndash28) und gibt dabei aus genauer Kenntnis des Materials und mit ausfuumlhrlichen Literaturhinweisen einen souveraumlnen Uumlberblick uumlber die sehr diver-genten Periodisierungsbezeichnungen fuumlr bdquodie Gesamtheit des kulturellen Feldes im kon-fessionellen Zeitalter in Mitteleuropaldquo (S 25) Im Anschluss an Peter Burke entscheidet sich der Verfasser auf uumlberzeugende Weise fuumlr den im Titel gewaumlhlten Begriff Weit weniger uumlberzeugt Wolfgang WUumlST Identitaumlten im fruumlhneuzeitlichen Schwaben Policey-Quellen als politisch-kulturelle Botschafter (S 29ndash47) Der Begriff Identitaumlt wird vom Verfasser nicht definiert stattdessen aber nahezu inflationaumlr in allen moumlglichen Kombi-nationen verwendet Ausgewertet werden Landes- Gerichts- und Policeyordnungen schwaumlbischer Reichsstaumlnde unter besonderer Beruumlcksichtigung Wuumlrttembergs Fraglich erscheint aber ob gerade dieses Quellengenus dazu taugt Identitaumlten zu identifizieren denn die Ordnungen verlangten vor allem Gehorsam der Untertanen gegenuumlber dem Ord-nungsgeber und hatten nicht zum Ziel Identitaumlten irgendwelcher Art zu stiften Am ehesten waumlren dazu ndash jedenfalls fuumlr evangelische Reichsstaumlnde ndash Kirchenordnungen geeignet gewesen die aber vom Verfasser nicht herangezogen werden (vgl jedoch

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Schneider feststellt Seine Naumlhe zum Heidelberger Humanistenkreis lieszlig Trithemius zu einem Anhaumlnger des dortigen Kurfuumlrsten Philipps des Aufrichtigen werden was den Kon-flikt des Sponheimer Abts mit seinem Konvent verschaumlrfte Als Produkte einer Heidel-berger Hofhistoriographie koumlnnen die Werke des Trithemius allerdings nicht gelesen werden Auch Kaiser Maximilian I wollte der Abt nicht als Hofhistoriograph dienen der Interesse an der genealogischen Ruumlckfuumlhrung seiner Familie auf die Franken und schlieszlig-lich auf die Trojaner hatte wie sie die gefaumllschten Quellen des Trithemius nahelegen wie aus dem Beitrag von Michael EMBACH hervorgeht

Mit den Zweifeln an Trithemiuslsquo Seriositaumlt als Historiker bereits durch die Zeit- genossen beginnt eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte die in zwei Beitraumlgen nach-gezeichnet wird Winfried ROMBERG fuumlhrt dabei aus dass Trithemius bereits im 16 Jahr-hundert von katholischen Gelehrten als Gewaumlhrsmann einer intakten alten Kirche breit rezipiert wurde Martin Luther dagegen hielt den Sponheimer Abt wegen seiner Veroumlf-fentlichung zur Kryptologie worin er als Erfinder der polyalphabetischen Substitution von Bedeutung ist wie Anton WALDER in seinem Beitrag betont fuumlr einen Magier der im reformatorischen Deutschland keiner weiteren Beachtung gewuumlrdigt wurde Parallel verlaumluft die Entwicklung im Kulturkampf wie Wolfgang WEISS herausarbeitet Ultra-montane Historiker bewerteten Trithemius im 19 Jahrhundert durchwegs positiv liberale Kirchenhistoriker lehnten ihn im Verlauf der Diskussion immer deutlicher ab Erst im Zuge einer Neubewertung der humanistischen Geschichtsschreibung insgesamt wurde Trithemius wieder einer differenzierteren Betrachtung unterzogen in deren Tradition auch der vorliegende Sammelband steht Er stellt somit einen wichtigen Beitrag dar Trithemius als Gelehrten in seiner gesamten Spannbreite wahrzunehmen

Den Band vervollstaumlndigen der Beitrag von Christoph SCHMITT zu den zeitgenoumlssi-schen bildlichen Darstellungen des Trithemius und ein Verzeichnis des Nachlasses des Trithemius von Klaus Arnold Hier wird der Benediktiner tatsaumlchlich auch als Buumlcher-sammler greifbar Ein Beitrag zur Sponheimer Klosterbibliothek deren Sammlung das Selbstverstaumlndnis des Fruumlhhumanisten deutlich machen koumlnnte fehlt allerdings in diesem Band

Magnus Ulrich Ferber

Joachim KNAPE Thomas WILHELMI (Hg) Sebastian Brant Bibliographie Forschungs-literatur bis 2016 Unter Mitarbeit von Gloria ROumlPKE-MARFURT und mit einem Beitrag von Nikolaus HENKEL (Gratia Tuumlbinger Schriften zur Renaissanceforschung und Kulturwissenschaft Bd 63) Wiesbaden Harrassowitz 2018 381 S geb EUR 98ndash ISBN 978-3-447-11152-2

Der hier zu besprechende Band versteht sich als zweiter Teil der Sebastian Brant Bibliographie Er ergaumlnzt den 2015 erschienenen ersten Teil zu den Werken und ihrer Uumlberlieferung indem er die Forschungsliteratur bis 2016 versammelt Sie wird in zehn Abteilungen aufgeteilt auf Forschung zu Biographie und historischem Kontext (1) folgt die zu den Briefen (2) zu Brant-Bildnissen (3) zu seinem Wirken als Jurist und juristi-schem Publizisten (4) zu Buchschmuck allgemein (5) zum Narrenschiff (6) zu den Ge-dichten und Liedern (7) zur bdquoAktualitaumltendichtung in Einblattdrucken und Flugschriftenldquo (8) zu weiteren selbstaumlndigen Werken (9) und zuletzt zu Editionen mit Beigaben von Brant (10) Dabei sind die umfangreicheren Abschnitte (4 6 7 9 und 10) in sich noch einmal breit untergliedert Der Band wird ergaumlnzt durch mehrere Nachtraumlge zum ersten Teil So erweitert ein Register zu Werktiteln Personen und Sachen zum Werkverzeichnis

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S 30ndash34) Bei Ausweisungen ist fuumlr ihn von bdquoaufgekuumlndigten Identitaumltenldquo (S 38) die Rede deviante Gruppen sollten fuumlr bdquoidentitaumlts- und schutzlosldquo (S 39) erklaumlrt werden Dass die Uumlbernahme der Reichspolizeiordnung durch die Territorial- bzw Stadtherrschaft als bdquoIdentifizierung mit der Reichspolitikldquo (S 41) verstanden werden kann laumlsst sich mit Fug bezweifeln Schlieszliglich werden sogar bdquotextile und modische Identitaumltenldquo (S 44) ent-deckt die durch Luxusordnungen und Vorschriften nur einheimisches Tuch zu verwen-den gestiftet worden sein sollen auch die in der Fruumlhneuzeit uumlblichen Anordnungen zur Luxusbekaumlmpfung bei Gastereien (bdquoKonsumidentitaumltenldquo S 45) werden dem Identifika-tionsmuster unterworfen Dass Ordnungen im 1617 Jahrhundert oft in kurzen Abstaumlnden wiederholt wurden spricht im Uumlbrigen gegen die Identitaumltsthese

Mit Peter O MUumlLLER Fruumlhneuzeitliche Lexikographie in Schwaben (1550ndash1650) (S 51ndash73) beginnt der erste Themenschwerpunkt bdquoGelehrsamkeit und Wissenschaftldquo Zwanzig zwischen 1547 und 1643 erschienene Woumlrterbuumlcher die von in Schwaben geborenen oder hier wirkenden Autoren erarbeitet wurden werden vorgestellt und ana-lysiert wobei nach Anordnung des Wortschatzes (11 Woumlrterbuumlcher nach Sachgruppen geordnet 5 alphabetisch 3 morphologisch eines reimgebunden) den beruumlcksichtigten Sprachen (mit eindeutiger Dominanz des lateinisch-deutschen Woumlrterbuchtypus aber auch einige trilingual unter Einbeziehung des Griechischen) Autoren Intentionen und Benutzergruppen gefragt wird Bei den Druckorten dominieren Augsburg und Frankfurt am Main die Zahl der Auflagen schwankte zwischen einem und 19 Drucken (fuumlr den bdquoNomenclator trilinguis Graecolatinogermanicusldquo von Nicodemus Frischlin) Die Ver-bindungen zur bdquonicht-schwaumlbischen deutschen wie nicht-deutschen Woumlrterbuchland-schaftldquo (S 70) werden abschlieszligend rekonstruiert Instruktive Abbildungen von Woumlrter- buchseiten unterstuumltzen den Text Zwei Beitraumlge widmen sich naturwissenschaftlichen Themen Ulrich REICH Schwabens Wegbereiter der Algebra im Europa des 16 Jahrhun-derts (S 75ndash102) und Johannes DILLINGER Gelehrtenmagie und Staat Alchemisten in Wuumlrttemberg (S 103ndash117) Reich untersucht Lebenslaumlufe und Werke von Johannes Voumlgelin Johann Scheubel und Michael Stifel dabei ist auch handschriftliches Material ausgewertet Deutsche Mathematiker leisteten beachtliche Beitraumlge zur Entwicklung von der Wortalgebra zur symbolischen Schreibweise mit der Erfindung des Plus- Minus- und Gleichheitszeichens sowie des Multiplikationspunkts und des Wurzelhakens Voumlgelin und Scheubel lebten von der Mathematik waumlhrend Stifel Theologe war und vor allem durch seine Prophezeiung des Juumlngsten Tages auf den 19 Oktober 1533 bekannt geblie-ben ist Dillinger analysiert instruktiv und quellengestuumltzt die Institutionalisierung der Alchemie durch Friedrich von Wuumlrttemberg der 1596 im Stuttgarter Alten Lusthaus ein Laboratorium einrichtete in dem bis zu 21 bdquoGoldmacherldquo fest angestellt waren Daneben beschaumlftigte der Herzog freie Alchemisten die ihm ihre Dienste anboten allerdings endeten ihre Karrieren stets bdquoin Katastrophenldquo (S 111) Suggestiv aber wenig plausibel zieht der Verfasser durch seine Wortwahl Parallelen zur Gegenwart wenn er die alche-mistischen Experimente als bdquoForschungsvorhabenldquo (S 113) und die Institutionalisierung alchemistischer Arbeit als bdquostaatliche Forschungsfoumlrderungldquo (S 117) bezeichnet Die Pa- rallele zum Interesse des Staates an der Foumlrderung der Bergbautechnik uumlberzeugt nicht recht ebenso wenig das Fazit bdquoHier [bei der Alchemie] ging es [] um oumlkonomische Innovation auf der Grundlage von Forschung und Expertenwissenldquo (S 114) Stefan HANSS widmet sich einem philologischen Thema bdquoDie Universitaumlt Tuumlbingen und die An-faumlnge osmanischer Sprachstudien im 16 und 17 Jahrhundertldquo (S 119ndash146) Zentralgestalt der Foumlrderung derartiger Studien war Martin Crusius der ein ausgepraumlgtes Interesse am

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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zeitgenoumlssischen Griechenland hatte (Thomas Wilhelmi der erste deutsche Philhellene) und zwei einschlaumlgige Werke verfasste 1584 die bdquoTurcograecialdquo und ein Jahr spaumlter die bdquoGermano-Graecialdquo (zum Inhalt vgl S 124ndash127) Seine zahlreichen Schuumller bildeten eine bdquoFaszinationsgemeinschaftldquo (S 144) Die lutherischen Gesandtschaftsprediger Ste-phan Gerlach und Salomon Schweigger vermittelten Informationen aus Konstantinopel waumlhrend die Kontakte zum Patriarchen 1581 abbrachen Hingewiesen wird auch darauf dass die erste gedruckte osmanische Grammatik von Hieronymus Megiser einem Crusius-Schuumller stammt waumlhrend Johann Melchior Mader und Wilhelm Schickard die Osmanistik in Tuumlbingen im 17 Jahrhundert weiterfuumlhrten Ausgehend von bdquodem heiteren Zugangldquo als bdquodem eigentlichen Tuumlroumlffner zur intendierten Auseinandersetzung uumlber die Grundlagen des besten Staatesldquo (S 148 f) der Thomas Moruslsquo bdquoUtopialdquo kennzeichnen soll und anknuumlpfend an die einschlaumlgigen Arbeiten von Joumlrg J Berns untersucht Thomas SCHOumlLDERLE bdquoGesellschaftsfiktion Humor und Sozialkritik in den Renaissance-Utopien von Johann Eberlin von Guumlnzburg Kaspar Stiblin und Johann Valentin Andreaeldquo (S 147ndash178) Nach ausfuumlhrlichen Inhaltsreferaten der Schriften der drei schwaumlbischen Utopisten kommt der Verfasser zu dem Urteil dass Eberlin von Guumlnzburg noch wenig-stens partiell der Intention Moruslsquo folgte waumlhrend Stiblin konsequent einer bdquoEntironi-sierungldquo verpflichtet sei Andreae jedoch Moruslsquo Prototyp bdquoan hintergruumlndigen Anspie- lungen allegorischen Motiven und Botschaften in nichts nachstehtldquo (S 178)

Der zweite Themenschwerpunkt bdquoGelehrte und Poetenldquo ist biographisch orientiert ndash im Mittelpunkt stehen Martin Crusius und Nicodemus Frischlin dabei sind die Litera-turhinweise fuumlr Frischlin (S 181 Anm 1 und S 209 Anm 2) kurioserweise ndash mit Aus-nahme einer gemeinsamen Angabe ndash voumlllig unterschiedlich ausgefallen obwohl beide Autoren in demselben DFG-Projekt zum Briefwechsel Frischlins arbeiten Philipp KNUumlPFFER Aus der Werkstatt eines Auftragsuumlbersetzers Die bdquoActa Oecumenici Conciliildquo von Jakob Schropp im Briefwechsel des Tuumlbinger Spaumlthumanisten Nicodemus Frischlin (1547ndash1590) (S 181ndash208) gibt einen Uumlberblick uumlber Frischlins Leben Werk und Brief-wechsel (352 Briefe von 92 an Frischlin) und erlaumlutert die Editionsprinzipien Danach wird die Entstehungsgeschichte der im Auftrag Ludwigs von Wuumlrttemberg von Jakob Schropp Abt von Maulbronn verfassten anticalvinistischen Satire bdquoActa Oecumenici Concilii habiti super controversia de coena Dominildquo vorgestellt sie sollte von Frischlin ins Lateinische uumlbersetzt werden Die Uumlbersetzung erschien 1581 ohne Frischlins Namen zu nennen obwohl oder weil dieser auch auf Konzeption und Inhalt Einfluss zu nehmen versucht hatte Magnus Ulrich FERBER untersucht bdquoDie Korrespondenzen von Nicodemus Frischlin und Marx Welser im Vergleichldquo (S 209ndash228) unter den Aspekten Entwicklung eines Nationalbewusstseins bei den Spaumlthumanisten Kreis der Briefpartner und Inhalt der Korrespondenzen Dabei wird wohl zu Recht ein Reichspatriotismus fuumlr beide Ge-lehrte verneint Frischlin war vielmehr einem wuumlrttembergischen Territorialpatriotismus verpflichtet Welser einem Augsburger Lokalpatriotismus Im Gegensatz zu Frischlin war das Korrespondentennetz Welsers des Repraumlsentanten eines international agierenden Handelshauses interkonfessionell bestimmt Mit dem bdquoDiariumldquo von Martin Crusius be-schaumlftigt sich in einer sehr instruktiven Studie Wolfgang Maumlhrle (S 229ndash247) 1573 als Briefbuch begonnen in das er die Korrespondenz der Tuumlbinger Professoren mit dem Gesandtschaftsprediger Gerlach bzw Vertretern der orthodoxen Kirche eintrug fuumlhrte Crusius seine Aufzeichnungen als Tagebuch bis 1605 fort ndash bdquoSpiegelungen eines Tuumlbinger Gelehrtenlebensldquo (S 234) Bislang liegt nur eine Teiledition in vier Baumlnden vor Maumlhrle benennt als Schwierigkeiten der Auswertung Palaumlographie und Sprachform (neben Latein

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machte die Klosterbibliothek in Sponheim kurzzeitig zu einem uumlberregional bedeutenden Ort der Wissenschaft und seine zahlreichen historischen wie aszetischen Werke ihn zu einem geachteten aber auch umstrittenen Autor Besonders die Erfindung der Chroniken von Meginfried und Hunibald als historische Quellen zog seine Glaubwuumlrdigkeit bereits bei den Zeitgenossen in Mitleidenschaft Sein Werk wie seine umstrittene Position machen es daher immer wieder lohnenswert sich mit ihm auseinanderzusetzen wie dies 2012 waumlhrend einer Tagung in Trittenheim und Sponheim sowie 2016 in Wuumlrzburg geschah Die Beitraumlge liegen nun in einem gemeinsamen Sammelband vor

Die Ambivalenz des Trithemius wird bereits in den ersten beiden zusammenfasssenden Aufsaumltzen zu seiner Biographie deutlich Waumlhrend Klaus ARNOLD ein fast hymnisches Bild zeichnet das aber groumlszligtenteils auf der Selbstdarstellung des Gelehrten beruht und somit zu apologetisch geraumlt bietet Harald MUumlLLER eine nuumlchternere Analyse Wie schon in seiner Habilitationsschrift bdquoHabit und Habitusldquo ist Trithemius fuumlr Muumlller ein gutes Beispiel dafuumlr warum er den Begriff bdquoKlosterhumanismusldquo ablehnt An dem Sponheimer Abt lasse sich gut zeigen dass Humanist kein Beruf gewesen sei sondern eine intellek-tuelle Praumlgung die in einem speziellen Sprachstil in einer speziellen gelehrten Taumltigkeit und im intellektuellen Austausch mit anderen Humanisten zum Ausdruck komme Fuumlr Trithemius kann Muumlller dies alles konstatieren Trithemius schreibt ein humanistisch gepraumlgtes Latein sammelt leidenschaftlich Buumlcher meist antiker Autoren und ist bestens mit den Humanisten seiner Zeit vernetzt Interessanter Weise fehlt bei Trithemius aller-dings die Abfassung eines eigenen Werks zur Antike Nach seiner Absetzung als Abt in Sponheim und seiner Einsetzung als Abt des Wuumlrzburger Schottenklosters aumlndert sich dieses Bild deutlich Die Sponheimer Klosterbibliothek wurde verkauft sein Kontakt zu den Humanisten bricht ab und Trithemius widmet sich vermehrt seinen aszetischen Schriften Er stelle somit so Muumlllers gut nachvollziehbare These ein gutes Beispiel fuumlr die Bruumlchigkeit des Humanismus in seiner Fruumlhzeit dar

In den darauf folgenden Einzeldarstellungen wird mehrmals die enge Verbindung des Trithemius zur Bursfelder Kongregation deutlich Das ist insofern uumlberraschend als diese benediktinische Reformbewegung eher einen spirituellen denn einen gelehrten Schwer-punkt hatte Wie Nita DZEMAILI anhand der Reden die Trithemius auf den Kapiteltagen der Bursfelder Kongregation hielt uumlberzeugend nachweist versuchte der Sponheimer bzw Wuumlrzburger Abt die nicht mehr zeitgemaumlszlige Ablehnung der Wahrnehmung von Bildungsaufgaben in den Reformkloumlstern durch eine Verbindung von der monastischen Askese mit Bildung zu uumlberwinden wobei er kein dezidiertes humanistisches Programm entwarf In seiner Taumltigkeit als Abt stand er sowohl in Sponheim wie in Wuumlrzburg vor der Aufgabe ein heruntergekommenes Kloster zu reformieren Wie die Beitraumlge von Johannes Moumltsch und Helmut Flachenecker nahelegen war er dabei nur bedingt erfolg-reich

Aus seinem Engagement fuumlr die Reformbewegung erwuchs auch sein historisches Interesse vom Mittelalter bis in seine Gegenwart Wie Anna Claudia NIERHOFF fuumlr die Darstellung der historischen Verbindungen des Klosters Hirsau zu anderen Kloumlstern zur Ausbreitung der cluniazensischen Reformbewegung und Arno MENTZEL-REUTERS zur Behandlung Ekkehards von Aura als Fortsetzer der Frutolf-Chronik darlegen entspricht das Vorgehen des Trithemius in seinen historischen Werken den Grundzuumlgen einer hu-manistischen Geschichtsschreibung so dass seine Werke quellenkritisch nicht vorsich-tiger als andere Historiographen seiner Zeit behandelt werden muumlssen Als Zeithistoriker wurde er in der wissenschaftlichen Forschung dagegen kaum rezipiert wie Joachim

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31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 718

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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auch klassisches Griechisch) zeigt aber zugleich den Wert der Notizen bdquofuumlr die Rekon-struktion der akademischen Lebenswelt um 1600ldquo (S 232 f) Abschlieszligend wird das Diarium von Crusius mit den Ephemerides des Genfer Theologen Isaac Casaubonus verglichen (S 245ndash247)

Der dritte Schwerpunkt bdquoBildungseinrichtungen und -konzepteldquo wird von der weit- gespannten und materialreichen Untersuchung von Sabine HOLTZ bestimmt Bildungs-landschaften um 1600 in Schwaben Konfessionelle Bildungskonzepte im Vergleich (S 251ndash270) Untersucht werden die houmlheren Schulen vor allem im suumldlichen Teil des schwaumlbischen Reichskreises mit den Universitaumlten Tuumlbingen und Dillingen Als Vorbild der protestantischen houmlheren Schulen diente das Straszligburger Gymnasium unter Johannes Sturm die Umsetzung des Sturmschen Programms in den Schulen der evangelischen Reichstaumldte wird knapp aber informativ herausgearbeitet Die katholischen Lateinschu-len insbesondere in Rottweil und Konstanz orientierten sich an den Jesuitengymnasien In den Lehrplaumlnen der evangelischen und der jesuitischen Gymnasien stellt die Verfas-serin bdquoweitreichende Uumlbereinstimmungenldquo (S 269) fest insofern die Rhetorik einen wichtigen Platz einnahm und der lateinische Lektuumlrekanon bdquonur geringfuumlgige Unter-schiedeldquo aufwies Dagegen wurden Geschichte und die Realien gemaumlszlig der bdquoRatio studiorumldquo im Unterricht der Jesuitenschulen weitgehend ausgeklammert Tobias BINKERT Der oberschwaumlbische Adel am Jesuitenkolleg Konstanz Das Beispiel der Truchsesse von Waldburg-Wolfegg (S 271ndash289) geht auf der Basis der Waldburger Archivalien der Schulwirklichkeit und den Lebensumstaumlnden von zwei Soumlhnen aus hoch-adligem Haus die 1608ndash1611 in Konstanz erzogen wurden nach Silke SCHOumlTTLE fasst fuumlr das 1617 Jahrhundert die Ergebnisse ihrer 2016 erschienenen Dissertation uumlber bdquoExerzitien- und Sprachmeister am Collegium Illustre und an der Universitaumlt Tuumlbingen 1594ndash1819ldquo zusammen (S 291ndash312)

Der Themenschwerpunkt bdquoLiteraturldquo wird durch einen knappen Bericht von Klaus WOLF uumlber Schultheater in den schwaumlbischen Reichsstaumldten (S 315ndash322) eingeleitet als Fazit ist festgehalten bdquoEine Geschichte des schwaumlbischen Schultheaters waumlre in Zukunft nach erfolgter umfaumlnglicher Quellenarbeit erst noch zu schreibenldquo (S 322) Ausfuumlhrlich untersucht Johannes Klaus KIPF Daniel Federmann und die (spaumlt-)huma- nistische Fazetienliteratur in Schwaben (S 322ndash343) die Rezeption der Fazetie als Sammlung geistreicher und zugespitzt-witziger Ausspruumlche und kurzer Geschichten wie sie um die Mitte des 15 Jahrhunderts im bdquoLiber facetiarumldquo des Poggio Bracciolini ihren klassischen Ausdruck gefunden hatte Der bdquoLiber facetiarumldquo fand in Deutschland schon handschriftlich und als Wiegendruck weite Verbreitung und Nachahmung ndash als Beleg werden Augustin Tuumlnger Heinrich Bebel und Nicodemus Frischlin vorgestellt Daniel Federmann uumlber dessen Leben fast nichts bekannt ist uumlbersetzte u a Lodovico Guicci-ardinis Fazetiensammlung ins Deutsche (Basel 1574) bdquoHoumlfische Repraumlsentation und nationale Literatursprache in Rodolf Weckherlins bdquosbquoTriumflsquo (1616)ldquo (S 345ndash377) wird von Heiko ULLRICH analysiert Die Texte waren Weckherlins poetischem Programm (vgl S 353ndash359) verpflichtet das aber nach kurzer Zeit durch Martin Opizlsquo bdquoDeutsche Poetereyldquo abgeloumlst wurde

Im fuumlnften Themenschwerpunkt bdquoBildende Kunstldquo widmet sich der auszligerordentlich anregende Beitrag von Andreas TACKE den bdquoMalerzunftordnungen Schwabens Eine handwerksgeschichtliche Betrachtung des Bildenden Kuumlnstlers am Beispiel Mem- mingensldquo (S 381ndash393) exemplifiziert an Johann Heinrich Schoumlnfeld aus Biberach (1609ndash1684) Der Verfasser versteht seine Untersuchung als Beitrag zur bdquoKuumlnstler-

716 Buchbesprechungen

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sozialgeschichteldquo (S 381) und analysiert zu diesem Zweck die Memminger Malerzunft-ordnung von 1608 deren Vorbild die entsprechende Augsburger Ordnung war Der Kuumlnst-ler hier der Maler wurde bis zum Ende der Fruumlhneuzeit als Handwerker gesehen mithin waren Lehrzeiten und Bedingungen fuumlr die Berufsausuumlbung als Meister genau geregelt Das umfangreiche Quellencorpus wird seit 2018 vom Verfasser und seinen Mitarbeitern herausgegeben bdquoStatuta pictorum Kommentierte Edition der Maler(zunft)ordnungen im deutschsprachigen Raum des Alten Reichesldquo (Uumlbersicht der dort enthaltenen schwaumlbi-schen Ordnungen vgl S 393) Zwei Beitraumlge beschaumlftigen sich mit Fragestellungen der Architekturgeschichte Christian OTTERSBACH untersucht bdquoLand- und reichsstaumldtische Befestigungen in Suumldwestdeutschland zwischen 1500 und 1650ldquo (S 395ndash462 mit 40 Abb) Dabei wird die gaumlngige Vorstellung einer organischen Entwicklung vom Mauersystem zum Bastionaumlrsystem relativiert indem der Verfasser nachweist dass neben dem moderneren und effizienteren Bastionaumlrsystem durchaus das traditionelle System ndash nicht zuletzt aus Kostengruumlnden ndash beibehalten wurde Stefan UHL formuliert anhand von Grundrissen bdquoGedanken zur Entwicklung des Schlossbaues in der Spaumltrenaissance in Suumldwestdeutschlandldquo (S 463ndash494 mit 19 Abb) Der fruumlhmoderne Schlossbau ent-wickelte sich dem Verfasser zufolge aus dem spaumltmittelalterlichen Kastenbau zumeist ohne Tuumlrme der als Grundform auch beibehalten wurde zunaumlchst mit vier Ecktuumlrmen dann als Mehr- in der Regel Vierfluumlgelanlage Als fruumlhester Repraumlsentativbau dieser Gruppe wird das ab 1557 errichtete Meszligkircher Schloss der Grafen von Zimmern vorge-stellt Im noumlrdlichen Schwaben entstand unter wuumlrttembergischen Einfluss eine Variante regelmaumlszligiger Vierfluumlgelanlagen bei der die Ecktuumlrme nur noch durch kleine Dachauf-bauten markiert waren eine weitere Gruppe ist gekennzeichnet durch runde Ecktuumlrme und die Bekroumlnung der Fluumlgelbauten durch repraumlsentative Giebel Die Binnengliederung des Schlosses nahm ihren Ausgang vom zweiraumlumigen Gemach bestehend aus Stube und Kammer erweitert zum Schema des dreiraumlumigen Gemachs (Stube und zwei Kam-mern) Insgesamt ist fuumlr den Verfasser bdquodie Entwicklung des Renaissanceschlossbaues in Schwaben sehr heterogen [hellip] Der Schlossbau der Spaumltrenaissance ist damit ein Sam-melbecken vielfaumlltiger Formen und Konzeptionen von denen einzelne absterben andere aber die nachfolgenden Zeiten mitbestimmenldquo (S 494)

In seiner Einfuumlhrung rechtfertigt der Herausgeber die Nichtberuumlcksichtigung der Musikgeschichte zu der erst 2010 ein Sammelband erschienen war und die Auswahl der Themen fuumlr den vorliegenden Band In der Regel seien Themen ausgespart worden bdquodie Gegenstand neuerer Buchpublikationen gewesen sindldquo (S 13) Der Inhalt des Bandes bestaumltigt die Richtigkeit dieser Entscheidung Die Beitraumlge sind durchweg instruktiv und zeigen ndash gemeinhin auf dem neuesten oft von den Autoren mitbestimmten Forschungs-stand beruhend ndash neue Perspektiven fuumlr die Weiterarbeit an den behandelten Problemen und Fragestellungen Personen- und Ortsregister erschlieszligen den Band lateinische Zitate werden in den Anmerkungen ins Deutsche uumlbersetzt

Eike Wolgast

Klaus ARNOLD Franz FUCHS (Hg) Johannes Trithemius (1462ndash1516) Abt und Buumlcher-sammler Humanist und Geschichtsschreiber (Publikationen aus dem Kolleg bdquoMittel-alter und Fruumlhe Neuzeitldquo Bd 4) Wuumlrzburg Koumlnigshausen amp Neumann 2019 369 S Abb Brosch EUR 58ndash ISBN 978-3-8260-6904-8

Der Sponheimer Abt Johannes Trithemius (1462ndash1516) gehoumlrt wohl zu den schillernd-sten Persoumlnlichkeiten des Fruumlhhumanismus Seine Sammelleidenschaft fuumlr Buumlcher

717Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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sozialgeschichteldquo (S 381) und analysiert zu diesem Zweck die Memminger Malerzunft-ordnung von 1608 deren Vorbild die entsprechende Augsburger Ordnung war Der Kuumlnst-ler hier der Maler wurde bis zum Ende der Fruumlhneuzeit als Handwerker gesehen mithin waren Lehrzeiten und Bedingungen fuumlr die Berufsausuumlbung als Meister genau geregelt Das umfangreiche Quellencorpus wird seit 2018 vom Verfasser und seinen Mitarbeitern herausgegeben bdquoStatuta pictorum Kommentierte Edition der Maler(zunft)ordnungen im deutschsprachigen Raum des Alten Reichesldquo (Uumlbersicht der dort enthaltenen schwaumlbi-schen Ordnungen vgl S 393) Zwei Beitraumlge beschaumlftigen sich mit Fragestellungen der Architekturgeschichte Christian OTTERSBACH untersucht bdquoLand- und reichsstaumldtische Befestigungen in Suumldwestdeutschland zwischen 1500 und 1650ldquo (S 395ndash462 mit 40 Abb) Dabei wird die gaumlngige Vorstellung einer organischen Entwicklung vom Mauersystem zum Bastionaumlrsystem relativiert indem der Verfasser nachweist dass neben dem moderneren und effizienteren Bastionaumlrsystem durchaus das traditionelle System ndash nicht zuletzt aus Kostengruumlnden ndash beibehalten wurde Stefan UHL formuliert anhand von Grundrissen bdquoGedanken zur Entwicklung des Schlossbaues in der Spaumltrenaissance in Suumldwestdeutschlandldquo (S 463ndash494 mit 19 Abb) Der fruumlhmoderne Schlossbau ent-wickelte sich dem Verfasser zufolge aus dem spaumltmittelalterlichen Kastenbau zumeist ohne Tuumlrme der als Grundform auch beibehalten wurde zunaumlchst mit vier Ecktuumlrmen dann als Mehr- in der Regel Vierfluumlgelanlage Als fruumlhester Repraumlsentativbau dieser Gruppe wird das ab 1557 errichtete Meszligkircher Schloss der Grafen von Zimmern vorge-stellt Im noumlrdlichen Schwaben entstand unter wuumlrttembergischen Einfluss eine Variante regelmaumlszligiger Vierfluumlgelanlagen bei der die Ecktuumlrme nur noch durch kleine Dachauf-bauten markiert waren eine weitere Gruppe ist gekennzeichnet durch runde Ecktuumlrme und die Bekroumlnung der Fluumlgelbauten durch repraumlsentative Giebel Die Binnengliederung des Schlosses nahm ihren Ausgang vom zweiraumlumigen Gemach bestehend aus Stube und Kammer erweitert zum Schema des dreiraumlumigen Gemachs (Stube und zwei Kam-mern) Insgesamt ist fuumlr den Verfasser bdquodie Entwicklung des Renaissanceschlossbaues in Schwaben sehr heterogen [hellip] Der Schlossbau der Spaumltrenaissance ist damit ein Sam-melbecken vielfaumlltiger Formen und Konzeptionen von denen einzelne absterben andere aber die nachfolgenden Zeiten mitbestimmenldquo (S 494)

In seiner Einfuumlhrung rechtfertigt der Herausgeber die Nichtberuumlcksichtigung der Musikgeschichte zu der erst 2010 ein Sammelband erschienen war und die Auswahl der Themen fuumlr den vorliegenden Band In der Regel seien Themen ausgespart worden bdquodie Gegenstand neuerer Buchpublikationen gewesen sindldquo (S 13) Der Inhalt des Bandes bestaumltigt die Richtigkeit dieser Entscheidung Die Beitraumlge sind durchweg instruktiv und zeigen ndash gemeinhin auf dem neuesten oft von den Autoren mitbestimmten Forschungs-stand beruhend ndash neue Perspektiven fuumlr die Weiterarbeit an den behandelten Problemen und Fragestellungen Personen- und Ortsregister erschlieszligen den Band lateinische Zitate werden in den Anmerkungen ins Deutsche uumlbersetzt

Eike Wolgast

Klaus ARNOLD Franz FUCHS (Hg) Johannes Trithemius (1462ndash1516) Abt und Buumlcher-sammler Humanist und Geschichtsschreiber (Publikationen aus dem Kolleg bdquoMittel-alter und Fruumlhe Neuzeitldquo Bd 4) Wuumlrzburg Koumlnigshausen amp Neumann 2019 369 S Abb Brosch EUR 58ndash ISBN 978-3-8260-6904-8

Der Sponheimer Abt Johannes Trithemius (1462ndash1516) gehoumlrt wohl zu den schillernd-sten Persoumlnlichkeiten des Fruumlhhumanismus Seine Sammelleidenschaft fuumlr Buumlcher

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machte die Klosterbibliothek in Sponheim kurzzeitig zu einem uumlberregional bedeutenden Ort der Wissenschaft und seine zahlreichen historischen wie aszetischen Werke ihn zu einem geachteten aber auch umstrittenen Autor Besonders die Erfindung der Chroniken von Meginfried und Hunibald als historische Quellen zog seine Glaubwuumlrdigkeit bereits bei den Zeitgenossen in Mitleidenschaft Sein Werk wie seine umstrittene Position machen es daher immer wieder lohnenswert sich mit ihm auseinanderzusetzen wie dies 2012 waumlhrend einer Tagung in Trittenheim und Sponheim sowie 2016 in Wuumlrzburg geschah Die Beitraumlge liegen nun in einem gemeinsamen Sammelband vor

Die Ambivalenz des Trithemius wird bereits in den ersten beiden zusammenfasssenden Aufsaumltzen zu seiner Biographie deutlich Waumlhrend Klaus ARNOLD ein fast hymnisches Bild zeichnet das aber groumlszligtenteils auf der Selbstdarstellung des Gelehrten beruht und somit zu apologetisch geraumlt bietet Harald MUumlLLER eine nuumlchternere Analyse Wie schon in seiner Habilitationsschrift bdquoHabit und Habitusldquo ist Trithemius fuumlr Muumlller ein gutes Beispiel dafuumlr warum er den Begriff bdquoKlosterhumanismusldquo ablehnt An dem Sponheimer Abt lasse sich gut zeigen dass Humanist kein Beruf gewesen sei sondern eine intellek-tuelle Praumlgung die in einem speziellen Sprachstil in einer speziellen gelehrten Taumltigkeit und im intellektuellen Austausch mit anderen Humanisten zum Ausdruck komme Fuumlr Trithemius kann Muumlller dies alles konstatieren Trithemius schreibt ein humanistisch gepraumlgtes Latein sammelt leidenschaftlich Buumlcher meist antiker Autoren und ist bestens mit den Humanisten seiner Zeit vernetzt Interessanter Weise fehlt bei Trithemius aller-dings die Abfassung eines eigenen Werks zur Antike Nach seiner Absetzung als Abt in Sponheim und seiner Einsetzung als Abt des Wuumlrzburger Schottenklosters aumlndert sich dieses Bild deutlich Die Sponheimer Klosterbibliothek wurde verkauft sein Kontakt zu den Humanisten bricht ab und Trithemius widmet sich vermehrt seinen aszetischen Schriften Er stelle somit so Muumlllers gut nachvollziehbare These ein gutes Beispiel fuumlr die Bruumlchigkeit des Humanismus in seiner Fruumlhzeit dar

In den darauf folgenden Einzeldarstellungen wird mehrmals die enge Verbindung des Trithemius zur Bursfelder Kongregation deutlich Das ist insofern uumlberraschend als diese benediktinische Reformbewegung eher einen spirituellen denn einen gelehrten Schwer-punkt hatte Wie Nita DZEMAILI anhand der Reden die Trithemius auf den Kapiteltagen der Bursfelder Kongregation hielt uumlberzeugend nachweist versuchte der Sponheimer bzw Wuumlrzburger Abt die nicht mehr zeitgemaumlszlige Ablehnung der Wahrnehmung von Bildungsaufgaben in den Reformkloumlstern durch eine Verbindung von der monastischen Askese mit Bildung zu uumlberwinden wobei er kein dezidiertes humanistisches Programm entwarf In seiner Taumltigkeit als Abt stand er sowohl in Sponheim wie in Wuumlrzburg vor der Aufgabe ein heruntergekommenes Kloster zu reformieren Wie die Beitraumlge von Johannes Moumltsch und Helmut Flachenecker nahelegen war er dabei nur bedingt erfolg-reich

Aus seinem Engagement fuumlr die Reformbewegung erwuchs auch sein historisches Interesse vom Mittelalter bis in seine Gegenwart Wie Anna Claudia NIERHOFF fuumlr die Darstellung der historischen Verbindungen des Klosters Hirsau zu anderen Kloumlstern zur Ausbreitung der cluniazensischen Reformbewegung und Arno MENTZEL-REUTERS zur Behandlung Ekkehards von Aura als Fortsetzer der Frutolf-Chronik darlegen entspricht das Vorgehen des Trithemius in seinen historischen Werken den Grundzuumlgen einer hu-manistischen Geschichtsschreibung so dass seine Werke quellenkritisch nicht vorsich-tiger als andere Historiographen seiner Zeit behandelt werden muumlssen Als Zeithistoriker wurde er in der wissenschaftlichen Forschung dagegen kaum rezipiert wie Joachim

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Schneider feststellt Seine Naumlhe zum Heidelberger Humanistenkreis lieszlig Trithemius zu einem Anhaumlnger des dortigen Kurfuumlrsten Philipps des Aufrichtigen werden was den Kon-flikt des Sponheimer Abts mit seinem Konvent verschaumlrfte Als Produkte einer Heidel-berger Hofhistoriographie koumlnnen die Werke des Trithemius allerdings nicht gelesen werden Auch Kaiser Maximilian I wollte der Abt nicht als Hofhistoriograph dienen der Interesse an der genealogischen Ruumlckfuumlhrung seiner Familie auf die Franken und schlieszlig-lich auf die Trojaner hatte wie sie die gefaumllschten Quellen des Trithemius nahelegen wie aus dem Beitrag von Michael EMBACH hervorgeht

Mit den Zweifeln an Trithemiuslsquo Seriositaumlt als Historiker bereits durch die Zeit- genossen beginnt eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte die in zwei Beitraumlgen nach-gezeichnet wird Winfried ROMBERG fuumlhrt dabei aus dass Trithemius bereits im 16 Jahr-hundert von katholischen Gelehrten als Gewaumlhrsmann einer intakten alten Kirche breit rezipiert wurde Martin Luther dagegen hielt den Sponheimer Abt wegen seiner Veroumlf-fentlichung zur Kryptologie worin er als Erfinder der polyalphabetischen Substitution von Bedeutung ist wie Anton WALDER in seinem Beitrag betont fuumlr einen Magier der im reformatorischen Deutschland keiner weiteren Beachtung gewuumlrdigt wurde Parallel verlaumluft die Entwicklung im Kulturkampf wie Wolfgang WEISS herausarbeitet Ultra-montane Historiker bewerteten Trithemius im 19 Jahrhundert durchwegs positiv liberale Kirchenhistoriker lehnten ihn im Verlauf der Diskussion immer deutlicher ab Erst im Zuge einer Neubewertung der humanistischen Geschichtsschreibung insgesamt wurde Trithemius wieder einer differenzierteren Betrachtung unterzogen in deren Tradition auch der vorliegende Sammelband steht Er stellt somit einen wichtigen Beitrag dar Trithemius als Gelehrten in seiner gesamten Spannbreite wahrzunehmen

Den Band vervollstaumlndigen der Beitrag von Christoph SCHMITT zu den zeitgenoumlssi-schen bildlichen Darstellungen des Trithemius und ein Verzeichnis des Nachlasses des Trithemius von Klaus Arnold Hier wird der Benediktiner tatsaumlchlich auch als Buumlcher-sammler greifbar Ein Beitrag zur Sponheimer Klosterbibliothek deren Sammlung das Selbstverstaumlndnis des Fruumlhhumanisten deutlich machen koumlnnte fehlt allerdings in diesem Band

Magnus Ulrich Ferber

Joachim KNAPE Thomas WILHELMI (Hg) Sebastian Brant Bibliographie Forschungs-literatur bis 2016 Unter Mitarbeit von Gloria ROumlPKE-MARFURT und mit einem Beitrag von Nikolaus HENKEL (Gratia Tuumlbinger Schriften zur Renaissanceforschung und Kulturwissenschaft Bd 63) Wiesbaden Harrassowitz 2018 381 S geb EUR 98ndash ISBN 978-3-447-11152-2

Der hier zu besprechende Band versteht sich als zweiter Teil der Sebastian Brant Bibliographie Er ergaumlnzt den 2015 erschienenen ersten Teil zu den Werken und ihrer Uumlberlieferung indem er die Forschungsliteratur bis 2016 versammelt Sie wird in zehn Abteilungen aufgeteilt auf Forschung zu Biographie und historischem Kontext (1) folgt die zu den Briefen (2) zu Brant-Bildnissen (3) zu seinem Wirken als Jurist und juristi-schem Publizisten (4) zu Buchschmuck allgemein (5) zum Narrenschiff (6) zu den Ge-dichten und Liedern (7) zur bdquoAktualitaumltendichtung in Einblattdrucken und Flugschriftenldquo (8) zu weiteren selbstaumlndigen Werken (9) und zuletzt zu Editionen mit Beigaben von Brant (10) Dabei sind die umfangreicheren Abschnitte (4 6 7 9 und 10) in sich noch einmal breit untergliedert Der Band wird ergaumlnzt durch mehrere Nachtraumlge zum ersten Teil So erweitert ein Register zu Werktiteln Personen und Sachen zum Werkverzeichnis

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das Register des fruumlheren Bandes das sich auf die Uumlberlieferung bezieht Ebenso weist das Initien- und Originaluumlberschriftenregister diese anhand der im ersten Band vergebe-nen Werknummern nach Ergaumlnzt wird die Reihe durch eine Konkordanz der Siglen des Werkverzeichnisses mit den Sigle der Edition der bdquoKleinen Texteldquo von Wilhelmi Vor dem abschlieszligenden Personenregister zur Forschung das die verzeichneten Forschungs-beitraumlge alphabetisch nach Namen geordnet per Siglen nachweist folgen noch eine kurze Liste von Nachtraumlgen zu den Testimonien und Archivalien im vorangehenden Band sowie eine Liste von Addenda und Corrigenda zu eben diesem die Nikolaus Henkel beigesteuert hat Die Uumlbersendung der Liste an die Urheber wie die Aufnahme in den folgenden Band scheint mir ein besonders gutes Beispiel fuumlr konstruktive Kritik und den angemessenen Umgang damit zu sein

Der Hauptteil nennt also die bdquoBeitraumlge zur Brantforschung nach ihrer Erstpublikation und gegebenenfalls auch nach ihrer letzten Auflageldquo (Vorwort S 5) Dabei wird die Bibliographie nach den oben benannten Sachkapiteln gegliedert und die Beitraumlge werden entsprechend einsortiert moumlgliche (und sehr haumlufig vorkommende) Mehrfachbezuumlge werden durch Querverweise sichtbar gemacht Die Bibliographie folgt darin dem System des Vorgaumlngerbandes von KnapeWuttke von 1990 den insbesondere der vorliegende Teil ersetzen soll Die aufgefuumlhrten Titel bekommen eine mit L beginnende Sigle mit der sie in das im ersten Band begonnene System integriert werden mit der Sigle W wird jeweils ein Werk Brants angesprochen mit A ein Autograph mit D ein Druck usw (Die Systematik wird in Band I auf den S 11ndash13 erlaumlutert) Die verzeichneten Beitraumlge der Forschung werden so mit einer L-Sigle eindeutig identifizierbar was zumindest die Systematisierung der wissenschaftlichen Arbeit erleichtert

Fuumlr den angegebenen Zeitraum ist die Bibliographie ndash soweit ich sehen kann ndash sehr vollstaumlndig Selbst solche fuumlr die Rezeptionsforschung wertvollen Funde wie die Aumluszlige-rungen zu Brant von Christoph Martin Wieland im Teutschen Merkur (L 319 indirekt in einem Stuumlck uumlber Geiler von Kaysersberg L 1331) oder von Ludwig Uhland in seinen Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage (L 892) sind zu finden Das darf aller-dings nicht dazu verfuumlhren sich auf die Vollstaumlndigkeit der Verweise zu bestimmten Fragestellungen zu verlassen (was wohl in keiner Bibliographie funktionieren koumlnnte) So wird z B der Aufsatz von Joachim Theisen (L 886) den ich unter Literatur zum Titelblattholzschnitt erwartet haumltte ndash wiederum berechtigterweise ndash unter 63 (bdquoLiteratur zu Quellen Vorlaumlufern und Vorbildernldquo) verzeichnet weil er anhand des Titelblatts Bezuumlgen zu Petrarca nachgeht Beitraumlge zu generellen Oberthemen werden unter dieser Rubrik verzeichnet ohne dass auf die einzelnen Kapitel auf die sie sich stuumltzen verwie-sen wuumlrde So bespricht z B die Studie von Hans-Joachim Raupp (L 1117) exemplarisch die Illustrationen mehrerer einzelner Kapitel des bdquoNarrenschiffsldquo wird aber lediglich summarisch unter 67 (bdquoBildbestandteileldquo) aufgefuumlhrt Das ist legitim denn natuumlrlich erhebt sich hier auch die Frage wie weit eine solch tiefgreifende Verschlagwortung durchfuumlhrbar waumlre die durch zahlreichere Querverweise zunehmend Vollstaumlndigkeit uggerieren wuumlrde wo sie sich letztlich gar nicht herstellen lieszlige

Solche wohlfeilen Klagen allerdings sollen denn auch weniger einer Kritik an der Systematik dienen als vielmehr darauf aufmerksam machen dass ein solches Hilfsin-strument richtig verwendet (und eben in mehrerlei Perspektive befragt werden) will und dabei die Intentionen des einzelnen Nutzers nicht wird antizipieren koumlnnen Die Brant-forschung wird aus den nun verfuumlgbaren beiden Baumlnden groszligen Nutzen ziehen

Michael Rupp

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Urs B LEU Peter OPITZ (Hg) Conrad Gessner (1516ndash1565) Die Renaissance der Wissenschaften The Renaissance of Learning BerlinBoston de Gruyter Oldenbourg 2019 X 712 S Abb geb EUR 12995 ISBN 978-3-11-049696-3

Zum 500 Geburtstag des Zuumlrcher Universalgelehrten Conrad Gessner veranstaltete die Universitaumlt Zuumlrich vom 6 bis 9 Juni 2016 einen groszligen internationalen Kongress mit 44 Vortraumlgen von denen 33 in dem vorliegenden Tagungsband dokumentiert sind Der Mitherausgeber Urs B LEU Leiter der Abteilung Alte Drucke und Rara der Zentral-bibliothek Zuumlrich ist der weltweit beste Kenner von Gessners Leben und Werk Auch an den uumlbrigen Zuumlrcher Aktivitaumlten und Ausstellungen aus Anlass des Jubilaumlums war er federfuumlhrend beteiligt besonders zu erwaumlhnen sind diesbezuumlglich seine umfassende neue Biographie bdquoConrad Gessner (1516ndash1565) Universalgelehrter und Naturforscher der Re-naissanceldquo und der von ihm und Mylegravene Ruoss herausgegebene wunderschoumln illustrierte Sammelband bdquoFacetten eines Universums Conrad Gessner 1516ndash1565ldquo die beide 2016 erschienen sind

Auf eine regelrechte Einleitung in den schwergewichtigen Tagungsband haben die bei-den Herausgeber verzichtet das kurze Vorwort auf S V muss genuumlgen Die Beitraumlge in deutscher (18) englischer (12) franzoumlsischer (2) und italienischer (1) Sprache sind neun alphabetisch geordneten Sachgebieten zugeordnet 1 Bibliographien und Enzy[k]lopauml-distik (drei Aufsaumltze) 2 Botanik (drei) 3 Erdwissenschaften (drei) 4 Kunst (zwei) 5 Medizin und Pharmazie (sechs) 6 Netzwerk (fuumlnf) 7 Philosophie und Theologie (vier) 8 Sprachwissenschaften (zwei) und 9 Zoologie (fuumlnf) Als Anhaumlnge folgen ab S 655 eine umfangreiche Bibliographie (Abkuumlrzungen Handschriften Gedruckte Quel-len und Sekundaumlrliteratur) ein Personenregister (S 697ndash706) sowie Kurzvorstellungen der Autorinnen und Autoren

Der Tagungsband bietet somit einen bdquoreichhaltige[n] Blumenstrauss an Fachgebieten und Themenldquo (so die Formulierung im Vorwort) der in diesem Fall aber weniger der gegenwaumlrtigen Hochkonjunktur der Multi- Inter- Trans- und Supradisziplinaritaumlt ge-schuldet ist sondern ganz einfach der Universalitaumlt des Polyhistors Gessner entspricht den Leu gerne (augenzwinkernd) als einen bdquoLeonardo da Vinci der Schweizldquo bezeichnet Einige der Tagungsbeitraumlge vertiefen dabei Themen die von ihren Autorinnen und Au-toren bereits in dem oben erwaumlhnten Sammelband von 2016 behandelt wurden Dies trifft insbesondere auf den Beitrag von Anja-Silvia GOEING uumlber Buchannotationen in Gessners Lehrbuch bdquoDe animaldquo zu das dieser 1563 zusammen mit drei schon aumllteren themenglei-chen Kommentaren von Juan Luis Vives Veit Amerbach und Philipp Melanchthon fuumlr Studenten der Philosophie und Medizin herausgab (S 433ndash452) Es gilt eingeschraumlnkt aber auch fuumlr den Beitrag von Massimo DANZI zu Gessners balneologischer Schrift bdquoDe Germaniae et Helvetiae thermisldquo von 1553 (S 253ndash272) und fuumlr die interessanten und reich illustrierten kunsthistorischen Beitraumlge von Daniel HESS (S 161ndash194) und Mylegravene RUOSS (S 195ndash233) zu Gessners beeindruckenden Pflanzen- und Tierdarstellungen im Kontext der Grafik und Malerei des 16 Jahrhunderts Der lesenswerte Beitrag von Simona BOSCANI LEONI zu Gessners Interesse fuumlr alpine Landschaften bzw seinem bdquoEnthusiasm for Mountainsldquo (S 119ndash128) ist eine geringfuumlgig erweiterte englische Fas-sung ihres drei Jahre aumllteren deutschen Textes Und auch Manfred PETERSrsquo Untersuchung zu Gessners bdquoMithridates De differentiis linguarum [hellip] observationesldquo von 1555 (S 499ndash516) stimmt weitgehend mit seiner drei Jahre aumllteren emphatischen Wuumlrdigung Gessners als innovativem Sprachwissenschaftler uumlberein der in Anlehnung an eine Einschaumltzung Jakob Baumlchtolds (vgl S 500 f mit Anm 9) formulierte Schlusssatz ist jetzt

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allerdings markanter bdquoDass er [Gessner] der groumlszligte Linguist seiner Zeit gewesen ist kann nach dem heutigen Stand der Forschung niemand mehr bezweifelnldquo

Die Themenfuumllle des Bandes laumlsst sich in einer kurzen Besprechung nicht in den Griff bekommen sie reicht von Gessners monumentaler bdquoBibliotheca universalisldquo von 1545 die ihm den Ehrentitel eines bdquoFather of Bibliographyldquo (Jens Christian Bay) eintrug uumlber die fuumlnfbaumlndige bdquoHistoria animaliumldquo (erschienen 1551 1554 1555 1558 und postum 1587) bis hin zu Gessners Pflege seiner Kaktusfeige aus der Neuen Welt 1558ndash1561 (zur bdquoEarly History of the Prickly Pear Cactusldquo vgl den reich illustrierten Beitrag von Urs EGGLI S 43ndash66) Beeindruckend ist wie Gessner seine Vernetzung innerhalb der Res publica literaria fuumlr seine botanischen und zoologischen Forschungen nutzte indem er sich europaweit Informationen Naturalien und Zeichnungen von Pflanzen und Tieren zukommen lieszlig (vgl exemplarisch den Beitrag von Robert OFFNER S 405ndash425) Diese Kontakte ziehen sich auch durch die Texte der drei Plenarvortraumlge bdquoThe two men [Gess-ner und John Caius] sent each other not only letters but also thingsldquo (Anthony GRAFTON S 360) bdquoGessner used the public forum of a dedication to exert whatever pressure he could on these potential contributorsldquo (Ann BLAIR S 549) bdquoYet the evidence concerning the multidirectional image exchanges in which he was involved indicates that Gessner participated in practices of image collecting and use shared by many other 16th-century naturalistsldquo (Florike EGMOND and Sachiko KUSUKAWA S 604)

Mitunter leicht missverstaumlndlich ist der gelegentliche Hinweis dass Zeichnungen bdquoad vivam effigiemldquo oder bdquoad vivumldquo gemalt seien bdquoIm Erasmus-Bildnis wird diese Aussage zugespitzt wenn Duumlrer vermerkt dass er das Bildnis zwar nach dem Leben gezeichnet habe ein besseres Bild jedoch die Werke des Erasmus zeigtenldquo (Hess S 163) bdquoLike Durerrsquos famous rhinoceros many vivid and influential images of animals labeled as made sbquoad vivumlsquo were fashioned at one or more removes from the original modelsldquo (GRAFTON S 369) Walther Ludwig hat 1998 in einem Aufsatz im bdquoPhilologusldquo nachgewiesen dass die Ausdruumlcke bdquoad vivam effigiemldquo und bdquoad vivumldquo in der Fruumlhen Neuzeit nicht das Por-traumltieren nach dem lebenden Modell bezeichnen sondern die Lebendigkeit der Darstel-lung betonen Sophia HENDRIKX S 635 (Anm 83) stellt es richtig dar bdquoAs pointed out by Sachiko Kusukawa with this phrase [sbquoad vivumlsquo] Gessner referred to the effect an image had on the beholder rather than the question wheather an image was a true portrait of something in natureldquo

Ebenso spannend wie die Werke und Taumltigkeiten des reifen Polyhistors und Pestarztes (vgl vor allem den Beitrag von Charles GUNNOE uumlber die Pestepidemie 1562ndash1566 der auch Gessner selbst zum Opfer fiel S 295ndash309) ist die Betrachtung der handschriftlich erhaltenen vierzehn griechischen Gedichte die Gessner 1532 als Sechzehnjaumlhriger () auf Zwinglis Tod in der Schlacht bei Kappel verfasst hat bdquoThrinodiae sive sacra magna-nimi herois Huldrychi Zwinglii patris patriae fortissimildquo Katja VOGEL nimmt drei dieser Gedichte naumlher in den Blick sie werden zusammen mit dem lateinischen Widmungsbrief an Heinrich Bullinger und Theodor Bibliander im griechischen Original und in deutscher Uumlbersetzung wiedergegeben (S 465ndash484) Der tote Zwingli erscheint in ihnen unter anderem als ein zweiter Herakles der die katholische Hydra bekaumlmpfte und sich feiger Pygmaumlen zu erwehren hatte Gessners Vertrautheit mit der griechischen Dichtersprache ist dabei selbst fuumlr einen ambitionierten sbquoTeenagerlsquo des 16 Jahrhunderts auszligergewoumlhnlich Sein 72 Hexameter umfassender Homer-Cento bildet das laumlngste Gedicht der Sammlung und ist ein interessantes Beispiel fuumlr den in Humanistenkreisen gepflegten poetischen Paganismus Der in der Schlacht gefallene Zwingli wird von Engeln in den Olymp

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getragen wo Zeus Hermes Athene die Muse Urania und Apollon um seine Seele streiten bis schlieszliglich die spaumlter herbeigerufene Themis sie Athene und sich selbst zuerkennt

Vogel zeigt sich angesichts dieser seltsamen Mischung von paganem Mythos und der christlichen Vorstellung vom Himmel als einem Jenseitsort der Gerechten zu Recht ver-wundert (S 468) Am Ende wird dem leer ausgegangenen Hermes als Trostpreis noch die Seele Luthers zugesprochen sobald der Wittenberger Reformator dereinst gestorben sei Waumlhrend Zwingli also an der Hand der Goumlttin der Gerechtigkeit himmlische Ehren zuteil werden wartet auf Luther ein Hermes der die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt fuumlhrt Diese Passage lieszlige sich meines Erachtens auch als Andeutung einer kuumlnftigen Houmlllenfahrt Luthers interpretieren Koumlnnte sie in Anbetracht der Spannungen zwischen Wittenberg und Zuumlrich (Abendmahlsstreit) polemisch gemeint sein Vogel uumlbersetzt die Verse 60ndash63 wie folgt bdquoLuther aber wenn er stirbt soll der gluumlckbringende Hermes nehmen der raubend und listenreich [] ein Helfer der Menschen ist er der die Seelen der Verstorbenen unter die Tiefen der Erde fuumlhrt denn Gleiches freut sich immer wie sie sagen an Gleichemldquo Vers 61 bedeutet aber wahrscheinlich bdquoder ein Helfer der Diebe und listigen Menschen istldquo unter Aumlnderung eines Akzents muumlsste man also wohl schreiben ὃς κλεπτῶν δολίων τrsquo ἀνθρώπων ἐστὶν ἀμύντωρ Dadurch fiele die Pointe noch deutlicher aus Zwingli kommt nach dem Tod zur Goumlttin der Gerechtig-keit in den Olymp (Himmel) waumlhrend Luther beim Gott der Diebe in der Unterwelt (Houmllle) landen wird jedem nach seinem Verdienst (vgl Joh 10 1)

Fuumlr jeden der sich mit der Fruumlhen Neuzeit beschaumlftigt ist der Tagungsband zu Conrad Gessner und der von ihm musterguumlltig verkoumlrperten bdquoRenaissance der Wissenschaftenldquo eine anregende fesselnde und ergiebige Fundgrube

Matthias DallrsquoAsta

Sven GUumlTERMANN Matern Hatten Ein Intellektuellenleben zwischen Humanismus und Reformation am Oberrhein Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2017 144 S Abb geb EUR 1690 ISBN 978-3-89735-979-6

Unbekannt war der in Speyer geborene Humanist Matern Hatten (1470ndash1546) in der Forschung nicht gewesen Es ist das Verdienst Guumltermanns dass er die bisherigen Erkenntnisse weiterfuumlhrt und eine ansprechende auf die Quellen gestuumltzte Lebens- geschichte vorlegt Auch wenn nur fuumlnf authentische Texte Hattens uumlberliefert sind erwartet die Leser ein spannungsvolles Lebensbild

Den ersten Teil widmet Guumltermann den Speyerer Jahren 1470ndash1527 In Speyer gehoumlrte die Familie Hatten wiederholt zu den Ratsherrn Auch Verwandte der Mutter aus der Familie Ruszlig bzw Reuszlig sind mehrfach urkundlich belegt (S 21f) Die handschriftliche Widmung einer kleinen Schrift an Sebastian Brandt von 1502 gibt den Namen bdquoMaternus Hattenauwerus dictus Reuszligldquo wieder (S 22) Hatten konnte in Leipzig studieren sein Name wird in der Matrikel zum Wintersemester 1496 bezeugt (S 16) Nach Speyer zuruumlckgekehrt gehoumlrte Hatten zu der groszligen Schar der am Domstift installierten Vikare seit 1504 ist er nachweisbar als Mitglied der Martinsherren oder bdquoMartinensesldquo Sie hatten als Priester auch den Gesang in der Martinskapelle zu unterstuumltzen Fruumlh kam Hatten in Kontakt mit kritisch- reformatorischen Gedanken Nach dem Wormser Reichstag 1521 wurde den Martinsherrn vorgeworfen dass sie im Chor vermutlich lutherische Buumlchlein lasen und so fuumlr groszlige Verwirrung sorgten Martinsherrn gehoumlrten auch zu den Zuhoumlrern bei den evangelischen Predigern waumlhrend des Speyerer Reichstags 1526 Vor allem der

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Martinsvikar Jakob Beringer der ein Neues Testament in deutscher Sprache erscheinen lieszlig hatte mit Strafandrohungen des Domkapitels zu rechnen Auch Hatten wurde des Luthertums verdaumlchtigt Ein Briefwechsel mit Bucer aus dieser Zeit zeigt Hattens prekaumlr gewordene Situation in Speyer an

1527 kam Hatten dann auch durch Bucers Initiative nach Straszligburg nun als Vikar in St Thomas auszligerdem vermutlich als Lehrer taumltig Dieser Neuanfang wurde die bdquoent-scheidende Zaumlsurldquo in seinem Leben nun stand er offiziell im Dienst der evangelischen Sache Wir finden ihn in engem Kontakt mit den Reformatoren der Stadt auch mit dem aus Bergzabern stammenden Bucer- Mitarbeiter Konrad Hubert (1507ndash1577) Guumltermann kann zum ersten Mal einige Briefe Bucers aus dem Jahr 1537 fuumlr die Biographie aus- werten (S 92ndash98) Dass die Kontakte nach Speyer nicht abbrachen beweist 1534 die Dedikation einer Streitschrift an den beim Reichskammergericht taumltigen Advokaten Jakob Schenck (S 87ndash93) Weit uumlber sechzig Jahre alt heiratete Hatten 1537 Barbara Hager mit der er einen Sohn Hieronymus hatte 1546 starb Hatten 1561 wurde seine gewiss betraumlchtliche Privatbibliothek verkauft (S 104)

Sehr sinnvoll ruumlckt Guumltermann zwischen die Darstellung der Speyerer und der Straszligburger Jahre einen Abschnitt uumlber Hatten bdquoals wichtiges Glied des humanistischen Netzwerks am Oberrheinldquo (S 46ndash79) Dazu gehoumlrten in Speyer von 1483 bis 1498 Jakob Wimpfeling (1450ndash1528) und sein Nachfolger als Domprediger Jodocus Gallus (1459ndash1517) Prominente Mitglieder des humanistischen Freundeskreises zu dem Hatten Kontakte pflegte waren auch Beatus Rhenanus (1450ndash1528) Johannes Kieher (dagger1519) und Thomas Truchsess von Wetzhausen (1460ndash1523) Ein schoumlnes Beispiel fuumlr das Zutrauen zu Hatten bieten die Briefe von Johannes Brenz (1499ndash1570) und Theobald Billican (1493ndash1554) beide baten 1521 um Unterstuumltzung fuumlr den Studenten Johannes Portius aus Rheinzabern (S 78 108ndash111) Wohl noch in die Speyerer Zeit gehoumlrt die Rezension des fruumlher Alkuin (735ndash804) zugeschriebenen Streitgedichtes bdquoConflic- tus Veris et Hiemisldquo Guumltermann kann dieses Dokument zum ersten Mal vorstellen (S 29ndash37) Wir erleben Hatten sogar in direktem Kontakt mit Erasmus von Rotterdam den Hatten 1515 in Speyer beherbergen konnte (S 57) In einem Brief vom 1517 nennt ihn Erasmus einen bdquoFreund mit schneeweiszligem Herzenldquo (S 61)

Guumltermann ergaumlnzt sein Buch um eine knappe zusammenfassende Vita (S 106) Au-szligerdem bietet er 17 Quellentexte im lateinischen Original und zum Teil mit Uumlbersetzung (S 108ndash133) Am Schluss folgen das Quellen- und Literaturverzeichnis (S 134ndash141) schlieszliglich ein ausfuumlhrliches Personenregister 29 Abbildungen bereichern das Werk Das Buch bietet ein sympathisches Bild des bisher weithin nicht beachteten Humanisten aus Speyer der als reformerischer Geist innerhalb der Kirche schlieszliglich zum Anhaumlnger und Parteigaumlnger der Reformation wurde

Klaus Buumlmlein

Johann Heinrich ANDREAE Neapolis Nemetum Palatina uumlbersetzt und erlaumlutert von Lenelotte MOumlLLER (Briefe aus dem Haus der Geschichte Bd 2) Neustadt an der Wein-straszlige Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung 2019 124 S Abb Brosch EUR 25ndash ISBN 978-3-942189-27-9

Die in Neustadt an der Weinstraszlige beheimatete ruumlhrige Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung nahm nunmehr eine siebte Reihe bdquoGldquo in Angriff als deren zweite Nummer die Leiterin des dortigen Kurfuumlrst Ruprecht-Gymnasiums soeben die vor 250 Jahren erschienene Arbeit ebenfalls eines Schulmanns aus dem Lateinischen

724 Buchbesprechungen

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uumlbersetzte und mit Erlaumluterungen versah Der Verfasser Andreae stand zwar nicht wie hier im sbquoEditorialrsquo richtigzustellen war dem Neustadter sondern dem Heidelberger Casimirianum vor Neben der hier nun einem breiteren Publikum zugaumlnglich gemachten bdquoerste[n] Monographie zur Geschichte von Neustadt an der Haardtldquo (S 16) brachte er ndash zu entnehmen dem Verzeichnis seiner Schriften (S 7ndash11) ndash solche Arbeiten zu zwoumllf weiteren kurpfaumllzischen Staumldten bzw deren Schulen heraus (Kaiserslautern 1767 Bretten 1769 Mosbach und Simmern 1771 Ladenburg 1772 Boxberg 1773 Bacharach und Ger-mersheim 1776 Alzey 1777 Oppenheim 17789 Weinheim 1779 und schlieszliglich fuumlr seine Heimatstadt Kreuznach besonders umfangreich 1780ndash1784) Er kompilierte dafuumlr unkri-tisch jeweils die ihm erreichbare Literatur die die Bearbeiterin fuumlr Neustadt sorgsam ermittelt und ebenfalls in ihrer Einleitung aufgefuumlhrt hat Dass eine solche Fleiszligarbeit uumlber bdquoden fruumlhen Stand des Historismusldquo (S 3) Auskunft zu geben vermoumlchte will frei-lich nicht einleuchten Denn stadtgeschichtliche Entwicklungslinien zeichnen sich in der Darstellung nirgends ab Gleichwohl vermag Andreaes Werk dessen Zustandekommen hier sorgfaumlltig belegt ist einen Eindruck vom Stand der regionalen Geschichtswissen-schaft im spaumlteren 18 Jahrhundert zu vermitteln Das in neunzehn Paragraphen geglie-derte Werk selbst ist auf S 73ndash100 aus einem Digitalisat faksimiliert wiedergegeben Vorgeschaltet ist die Uumlbersetzung (S 17ndash70) der jeweils unter der Paragraphenzahl eine das Verstaumlndnis erleichternde Inhaltsangabe beigegeben wurde Andreaes Anmerkungen wurden ebenfalls als solche uumlbersetzt durch Namenskuumlrzel unterschieden von denen in der fortlaufenden Zaumlhlung dazwischen eingestreuten der Bearbeiterin Schon der Titel des Werks suggeriert dass Neustadt eine antike Gruumlndung im Gebiet der Nemeter gewe-sen sei und auch die Entstehung von Winzingen in jener Zeit wurde sagenhaft nach Jakob bdquoBeurlinldquo referiert (S 23) leider fehlt in der zugehoumlrigen Anmerkung der Verweis auf Michael Klein Formen epigonaler Verwertung humanistischer Schriften und ihr Publi-kum Die sbquoLuumlgenchronikenrsquo von Jakob Beyrlin (1576ndash1618) in Kurt Andermann (Hg) Historiographie am Oberrhein im spaumlten Mittelalter und in der fruumlhen Neuzeit (Ober-rheinische Studien Bd 7) Sigmaringen 1988 S 247ndash273 Einen Schwerpunkt bildet die Gruumlndung des Casimirianums 1578 durch Pfalzgraf Johann Casimir als (calvinisti-sche) Nebenuniversitaumlt der schon bei Andreae vorhandene Abdruck der Gruumlndungsur-kunde (in deutscher Sprache) wurde S 44ndash48 wiederholt ohne dass klar wird ob das Exemplar im Stadtarchiv Neustadt dabei kollationiert wurde Dessen ungeachtet bringen die anschlieszligenden vielfach auch Persoumlnlichkeiten gewidmeten Partien auch dank aus-fuumlhrlicher Anmerkungen einen relativ hohen Ertrag Indessen koumlnnen Einwaumlnde gegen den editorischen Umgang mit einer solchen Quelle nicht unterdruumlckt werden Man mag auf dem Standpunkt stehen dass eine (philologisch) bdquorichtigeldquo Uumlbersetzung genuumlge Dann mag wenn es um die Neustadter Stiftskirche geht bdquoEcclesiam cathedralem S Aegidio consecratamldquo (S 79)ldquo mit bdquoKathedralkirche die dem hl Aegidius geweiht wurdeldquo (S 29)ldquo uumlbersetzt werden Wenn jedoch auch bdquoerlaumlutertldquo wird haumltte es hier der sachlichen Richtigstellung bedurft dass es sich eben nicht um eine Bischofskirche (Andreae duumlrfte kaum geahnt haben dass seine Formulierung zu den landeskirchenherr-lichen Bestrebungen der Kurfuumlrsten gepasst haumltte) handelte sondern um die Gruumlndung einer Stiftskirche was auch einen Patroziniumswechsel von Aumlgidius zu Unserer Lieben Frau nach sich zog Und wenn ndash ebenda ndash bdquosedecim praebendisldquo mit bdquo16 Praumlbendenldquo (weshalb nicht bdquoPfruumlndenldquo) uumlbersetzt und dieser Begriff mit bdquoEinkommen aus einem kirchlichen Amtldquo erklaumlrt wird wuumlnscht man sich auch die Richtigstellung in der Sache denn es gab nie mehr als 14 Stiftsherrenpfruumlnden von denen ndash im Ergebnis ndash nur drei

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bauliche und personelle Veraumlnderungen die Einfuumlhrung der EDV verschiedene Zerti- fizierungen der Schule und andere Gegenstaumlnde der Gesamtlehrerkonferenzen deren Protokolle hier akribisch ausgewertet worden sind in einer tendenziell eher chrono- logisch und dadurch manchmal etwas unsystematisch wirkenden Abfolge praumlsentiert Im letzten Abschnitt zur Gegenwart der Schule werden die an der ZGB angebotenen Schularten aufgelistet und kurz charakterisiert wobei dem Leser u a die Aufschluumlsselung manch krude klingender Abkuumlrzung geboten wird ndash oder haumltten Sie gewusst dass sich hinter bdquo1BKFHTldquo das bdquoEinjaumlhrige Berufskolleg Technikldquo verbirgt dessen erfolg- reiche Absolvierung zur Fachhochschulreife fuumlhrt Mit einer Namensliste des aktu- ellen Kollegiums und einem beinahe ebenso aktuellen Kollegiumsfoto (aus dem Jahr 2016) schlieszligt der darstellende Teil der Untersuchung dem noch ein Anhang mit Quel-lenteil folgt

Angesichts der Tatsache dass eigentlich kein Jubilaumlumsjahr der Schule begangen wird ist es umso bemerkenswerter mit welchem Elan und mit welcher Bereitschaft zur Investition von (Frei-)Zeit und Energie die Verfasserin hier eine historische Darstellung erarbeitet hat wie sie sich jede Bildungseinrichtung im Kampf um oumlffentliche Praumlsenz und gegen ndash im Schlusswort beklagte (vgl S 93) und wohl nur auf dem Wege verstaumlrkten Marketings umzukehrende ndash sinkende Schuumllerzahlen nur wuumlnschen kann Einen Eindruck von der Bedeutung einer solchen Studie fuumlr die mit der Schule verbundenen Menschen der Region vermitteln auch die beiden geradezu enthusiastischen Gruszligworte des aktuellen Schulleiters Konrad Trabold und des Landrats Achim Broumltel dessen Vater die Geschicke der ZGB ein Vierteljahrhundert lang gelenkt hat Umfangreiches Bildmaterial insbeson-dere zur Baugeschichte der Schule seit der Nachkriegszeit aber auch einzelne Fotografien aus dem 19 Jahrhundert sowie zu aktuellen Projekten und Entwicklungen erhoumlhen die Anschaulichkeit des Dargestellten Dass die Publikation praktisch keine syntaktischen oder sonstigen grammatikalischen Fehler aufweist und auch orthographisch nichts zu be-anstanden ist sollte eigentlich selbstverstaumlndlich sein hebt das Buch aber in der heutigen Zeit haumlufig fehlender Lektorate aus der breiten Masse deutlich heraus und rundet den positiven Gesamteindruck ab

Heiko Ullrich

Gabriela SIGNORI (Hg) Inselkloumlster ndash Klosterinseln Topographie und Toponymie einer monastischen Formation (Studien zur Germania Sacra NF Bd 9) BerlinBoston De Gruyter Akademie Forschung 2019 VI 254 Seiten Abb Kt geb EUR 11995 ISBN 978-3-11-064266-7

Der vorliegende Sammelband widmet sich der Topographie und Toponymie von bdquoInselkloumlstern ndash Klosterinselnldquo und ist das Ergebnis einer internationalen Tagung die unter gleichnamigem Titel vom 27 bis 28 Januar 2017 auf der Insel Reichenau statt- gefunden hat Untersuchungsgegenstand dieser Publikation ist ndash wie die Herausgeberin in einer kurzen Einleitung (S 1ndash12) erlaumlutert ndash grundsaumltzlich die Verbindung von Moumlnch-tum und Natur beziehungsweise die Frage inwieweit bei fruumlhen Klostergruumlndungen be-wusst Orte die bdquoGrenzen zwischen Natur und Kultur markierenldquo (S 3) gewaumlhlt wurden Daneben geht es um die Symbolik der Insellage (Ausgangspunkt fuumlr Mission oder Welt-flucht) Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Klosterinseln bzw zwischen den Inseln und ihren GruumlndernStiftern Ziel der Publikation ist aufgrund der bisherigen For-schungslage weniger eine systematische Erforschung dieser Fragestellung als zunaumlchst ein europaumlischer Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

740 Buchbesprechungen

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zugunsten der Universitaumlt Heidelberg abgegeben werden mussten was uumlbrigens auch in der Einleitung im Abriss der Geschichte von Neustadt (S 12) unzutreffend dargestellt wurde Ein Fallstrick war leider auch der (auszugsweise) Abdruck der Urkunde Graf Walrams von Zweibruumlcken aus dem Jahr 1291 mit der dieser seine Aufnahme als Burg-mann bestaumltigte Hier haumltte sich der Hinweis auf Carl PoumlhlmannAnton Doll Regesten der Grafen von Zweibruumlcken (Veroumlffentlichungen der Pfaumllzischen Gesellschaft zur Foumlr-derung der Wissenschaften Bd 42) Speyer 1962 Nr 331 empfohlen denn dann waumlre wohl auch die Tagesdatierung (S 81) bdquo4 Kal Augustildquo (= 29 Juli) nicht mit bdquoam 4 Au-gustldquo (S 32) uumlbersetzt worden ndash Ausleitend ist ein bdquoProgramm der Redner (offenbar Schuumller) und Themenldquo wiedergegeben was darauf schlieszligen laumlsst dass der Anlass der Entstehung von Andreaes Werken dieser Art wohl Schulveranstaltungen in Heidelberg waren Ein Register (S 101ndash115) schlieszligt in willkommener Weise geographische Namen Institutionen und Personen auf gefolgt von einem Verzeichnis der Sekundaumlrliteratur und zwei auch abgebildeten Kirchenbucheintraumlgen

Volker Roumldel

Reiner HAEHLING VON LANZENAUER Der badische Jurist Reichlin von Meldegg und seine Zeit (Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe Bd 35) Karlsruhe Verlag der Gesellschaft fuumlr Kulturhistorische Dokumentation e V 2019 141 S Abb Brosch EUR 25ndash ISBN 978-3-922596-28-8

Der badische Jurist und Beamte Joseph Reichlin von Meldegg (1806ndash1876) ist keine historisch herausragende Persoumlnlichkeit kein Mittermaier Rotteck oder Welcker Gerade deshalb eignet er sich als Figur um die Landes- und Rechtsgeschichte Badens vom Ende des Alten bis hin zur Gruumlndung des Neuen Reiches plastisch nachzuzeichnen Bei Reich-lin von Meldegg verstellt keine uumlbergroszlige Figur den Blick auf das aus Sicht der Sozial- und Kulturgeschichte durchaus interessante Alltagsleben in den badischen Amtsstuben des 19 Jahrhunderts Zugleich ist er nicht derart unbedeutend dass wir nichts uumlber ihn wissen koumlnnten er hat deutliche Fuszligspuren in der Geschichte hinterlassen Seine ge-druckten Lebenserinnerungen heben Reichlin von Meldegg aus der gesichtslosen Masse badischer Juristen hervor Gleichwohl genuumlgt eine geeignete Figur allein selbstverstaumlnd-lich nicht Der Autor Reiner Haehling von Lanzenauer ist nicht nur ein versierter Lan-deshistoriker sondern als ehemaliger Leitender Oberstaatsanwalt sozusagen auch Insider des regionalen Staatsapparates und uumlberdies ein talentierter Erzaumlhler

Die Geschichten des Buches spielen in Mittel- und vor allem in Suumldbaden Im Zentrum steht der Lebensweg eines Verwaltungsjuristen vom Studium im Breisgau in den 1820er Jahren bis zum Amt eines Geheimen Regierungsrates in der Konstanzer Kreisregierung von 1859 bis 1862 Der Autor versteht es kunstvoll die allgemeine Geschichte von Land und Recht in seine Erzaumlhlung einzuweben Ruumlck- und Seitenblicke beispielsweise zum Rastatter Gesandtenmord im Jahr 1799 komplettieren die Geschichte von Reichlin von Meldegg Zahlreiche Anekdoten zu Charakterkoumlpfen in Verwaltung Justiz und Gesell-schaft lockern den Text auf und gewaumlhren interessante Einblicke in die Sozialstruktur des Vormaumlrz und der Restaurationszeit Aus heutiger Sicht moumlgen manche Schilderungen beispielsweise zum Auspeitschen als Kriminalstrafe oder zu erpressten Gestaumlndnissen anachronistisch erscheinen Viele andere Beobachtungen indessen wie die eigenwillige Auslegung des Verfahrensrechtes oder demotivierte Beamte in der Provinz duumlrften dem heutigen Leser durchaus vertraut sein

726 Buchbesprechungen

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Jahr 1844 bis zur endguumlltigen Gruumlndung am 6 Dezember 1847 nach und beschreibt die grundsaumltzliche Funktionsweise der neugegruumlndeten Schule Den naumlchsten Schritt in der Entwicklung der Gewerbeschule stellt die vom Innenministerium geforderte Trennung der Gewerbeschulen von den Houmlheren Buumlrgerschulen dar der Erlass von 1851 wurde in Buchen bis 1853 umgesetzt wenn auch eine Verflechtung der beiden Schulen durch das teils identische Lehrpersonal noch bis 1872 fortbestand Detaillierte Informationen zu Stundentafel Schulgeld Koordination von Unterricht und Arbeit der Lehrlinge im Be-trieb sowie Schuumllerzahlen vermitteln hier einen differenzierten Einblick in den Alltag an der Buchener Gewerbeschule Im Mittelpunkt des naumlchsten Abschnitts stehen erneut zwei wichtige Gesetze aus den Jahren 1868 und 1872 die im Umfeld der Reichsgruumlndung entscheidende Bedeutung fuumlr die badischen und deutschen Gewerbeschulen erlangen sollten Insbesondere im Gefolge der Gewerbeordnung von 1872 etablierte sich die Ge-werbeschule im Kontext einer gesamtdeutschen Konsolidierung dieses Schulkonzeptes ndash eine Entwicklung der Arnstein durch eine abwechselnde Betrachtung der reichsweiten und regionalen Tendenzen gerecht wird Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war gepraumlgt von ersten Zentralisierungstendenzen aus denen die Standort Buchen und Wallduumlrn gestaumlrkt hervorgingen waumlhrend kleinere und schlechter ausgestattete Schulorte wie Hettingen aufgegeben wurden Hier uumlberzeugt Arnsteins Darstellung in besonderem Maszlige durch eine mithilfe einer Vielzahl von Quellen ndash Statistiken Gesetzestexten ver-schiedenen Zeitdokumenten ndash erreichte Anschaulichkeit die zudem stets im Blick behaumllt inwiefern die damals eingeleiteten Veraumlnderungen in der gewerblichen Bildung noch heute nachwirken

Waumlhrend der Herrschaft der Nationalsozialisten unterlag das Schulwesen wie alle Bereiche des taumlglichen Lebens einer engmaschigen staatlichen Kontrolle ein Erbe der Zeit das Arnstein besonders hervorhebt ist die pauschale Bezeichnung der verschiedenen Bildungsmoumlglichkeiten im gewerblichen Bereich als bdquoBerufsschuleldquo (S 50) In den Kontext von Entnazifizierungsmaszlignahmen und der Integration zahlreicher Heimat- vertriebener stellt Arnstein dann die Darstellung der Nachkriegszeit die in Buchen zunaumlchst von einer schnellen Wiedereroumlffnung der Schule gepraumlgt war Die bereits 1947 erfolgte und durch Aktenmaterial belegte Erhebung zur Zentralgewerbeschule mit den beiden Standorten Buchen und Wallduumlrn ndash zu Lasten der nach und nach geschlossenen Gewerbeschulen in Mudau Adelsheim Hardheim und Eubigheim ndash zunaumlchst noch als bdquoVersuchsmaszlignahmeldquo (S 55) wird in die Darstellung der oumlkonomischen Gesamtstruktur Buchens integriert wobei insbesondere auf die Einrichtung von Fachklassen eingegangen wird die eine enorme Qualitaumltssteigerung der schulischen Ausbildung und damit wieder eine Staumlrkung des oumlrtlichen Gewerbes bewirkt habe Der Abschnitt zur baulichen Erwei-terung der Schule seit den Fuumlnfzigerjahren beschreibt dann eine quantitative wie quali-tative Weiterentwicklung der Schule auch der naumlchste Abschnitt der eigentlich die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen seit der Gruumlndung des Bundeslandes Baden-Wuumlrttem-berg behandelt und insbesondere die Maszlignahmen zur Schaffung von Akzeptanz in der Bevoumllkerung fuumlr dieses neue politische Konstrukt in den Mittelpunkt ruumlckt geht schlieszlig-lich wieder in die Beschreibung des strukturellen und infrastrukturellen Wandels der Schule uumlber

Dagegen veraumlnderten sich seit den Siebzigerjahren im Zuge der Einfuumlhrung neuer Lehrplaumlne und der Einrichtung neuer Schularten wie der Berufsfachschule verschiedener Richtungen (Metall Koumlrperpflege Holztechnik Elektrotechnik Fahrzeugtechnik) oder des Berufskollegs insbesondere die gelehrten Inhalte daneben werden aber weiter auch

739Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Autorin nicht nur aufgrund ihrer Recherchen sondern auch durch die taumlgliche Arbeit als Lehrkraft der ZGB aus eigener Anschauung genauestens kennt

Der Hauptteil ihrer Studie der dem letztlich gewaumlhlten Titel nun vollstaumlndig entspricht gliedert die Schulgeschichte in klassischer chronologischer Weise nach Gruumlndungsphase Anfangsjahren und der Erlangung der Selbstaumlndigkeit bevor dann weltgeschichtliche Ereignisse wie der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik die Zeit des National- sozialismus und der Zweite Weltkrieg die Schulentwicklung auch in Buchen maszliggeblich praumlgten schlieszliglich leiten die Betrachtungen zur Wiedereroumlffnung der Schule nach dem Krieg der Eingliederung in die Schullandschaft des neugegruumlndeten Bundeslandes Baden-Wuumlrttemberg und einer als bdquoPhase der Expansionldquo titulierten Zeitspanne ab den Siebzigerjahren zur Gegenwart uumlber (S 23ndash95) Der Anhang versammelt dann etwas heterogenes Material ndash eine chronologische Liste der Schulleiter Zeitzeugen- und Erfahrungsberichte sowie Anekdotisches ndash umfasst aber auch einen Quellenteil in dem zunaumlchst die wichtigsten Erlasse zur Gewerbeschule im Baden des 19 und fruumlhen 20 Jahrhunderts abgedruckt werden bevor die bdquoQuellen zur Geschichte der Zentral- gewerbeschule Buchenldquo neben die Satzung der Schule aus dem Jahr 1924 die Abschieds-rede des langjaumlhrigen 1994 pensionierten Schulleiters Erhard Broumltel stellen

Im ersten Abschnitt legt Arnstein in einer komprimierten Darstellung der badischen Geschichte im 19 Jahrhundert den Fokus auf die Reformbestrebungen eines der moder-neren deutschen Kleinstaaten in den fuumlr ihre Untersuchung zentralen Bereichen der Oumlkonomie und des Bildungswesens Indem die Verfasserin betont das Groszligherzog- tum sei in dieser Zeit zum bdquoVorreiter in der Hebung des Bildungsniveaus im Bereich des Gewerbesldquo geworden (S 4) stellt sie dabei strategisch geschickt die exemplarische Bedeutung ihrer Studie fuumlr die Entwicklung des deutschen Gewerbeschulwesens ins- gesamt heraus Der zweite Abschnitt setzt dann zunaumlchst in der fruumlhen Neuzeit an und referiert einige wichtige Entwicklungen des allgemeinen Bildungsgedankens waumlhrend der Zeit des Renaissancehumanismus und der Reformation Dabei werden beide Be- wegungen in ihrer Relevanz fuumlr die ideelle Begruumlndung bzw die institutionelle Etab- lierung neuer schulischer Konzepte gewuumlrdigt bevor Arnstein sich den weiteren Aus- formulierungen und Erweiterungen dieser Konzepte im 18 Jahrhundert zuwendet die dann im 19 Jahrhundert zur Einrichtung gewerblicher Sonntags- und Winterschulen fuumlhrten

Nach dieser ersten Verortung ihres Themas in den grundsaumltzlichen Bildungsdiskursen der Zeit wendet sich Arnstein dem fuumlr die Geschichte der gewerblichen Schulbildung zentralen Konflikt zwischen dem uumlberkommenen Zunftwesen und staatlichen Vorstel-lungen von oumlkonomischer Effizienz zu die einen weiten Bogen vom (eher kursorisch behandelten) Mittelalter uumlber die wichtigen Reformen des bereits vom Geist einer fruumlhen Aufklaumlrung gepraumlgten Reichsgesetzes von 1731 bis in die Gruumlndungszeit der ZGB in der Mitte des 19 Jahrhunderts spannt Dabei stehen die Entwicklungen in Baden zunehmend im Vordergrund sodass die Betrachtung der Bestrebungen im Umfeld des spaumlteren Staats-ministers Carl Friedrich Nebenius und der Polytechnischen Hochschule Karlsruhe uumlber den Gruumlndungserlass der badischen Gewerbeschulen von 1834 unmittelbar zum dritten Abschnitt der Untersuchung uumlberleitet

Die Geschichte der ZGB beginnt mit der gleichzeitigen Einrichtung einer houmlheren Buumlr-gerschule und einer Gewerbeschule in Buchen Arnstein zeichnet den ndash insbesondere aufgrund der vorerst ungeklaumlrten Finanzierung ndash schwierigen Gang der staumldtischen Initiatoren durch die Behoumlrden des badischen Staatsapparats von der ersten Eingabe im

738 Buchbesprechungen

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Trotz der hohen Erzaumlhlkunst bleibt die Lektuumlre voraussetzungsreich Aus Sicht des Rezensenten ist zu ergaumlnzen dass Reichlin von Meldegg keine zweite juristische Staats-pruumlfung absolvieren musste Baden ging in der ersten Haumllfte des 19 Jahrhunderts eigene Wege Das 5 Organisationsedikt vom 24 Februar 1803 uumlber die bdquoVorbereitung weltlicher Staatsdienerldquo begnuumlgte sich mit einer einzigen Pruumlfung vor dem Hofgericht nach dem Studium Bei Reichlin von Meldegg schloss sich an das Examen eine rund vierjaumlhrige unbezahlte Praktikantenzeit bei den unteren Justiz- und Verwaltungsbehoumlrden an Erst die Verordnung vom 16 Dezember 1853 fuumlhrte in Baden das preuszligische Ausbildungs-modell mit zwei Staatsexamina und allen damit zusammenhaumlngenden Nachteilen ein Sachliche Gruumlnde fuumlr den Sinneswandel gab es keine nur den Druck der Vormacht Preuszligens zur Gleichschaltung der Justiz im Deutschen Bund

Nach diesem kleinen Exkurs zuruumlck auf den Hauptweg In der Summe liefert Haehling von Lanzenauer einen sowohl profunden als auch abwechslungsreichen Beitrag zur badischen Landes- und Rechtsgeschichte Sein Buch schaumllt fuumlr Baden als Musterland des deutschen Liberalismus den Kern der Entwicklung im Deutschen Bund heraus weg vom Staumlndestaat mit all seinen Privilegien hin zu Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit vor dem Gesetz

Frank L Schaumlfer

Bernd MARTIN Die Freiburger Pathologie in Kriegs- und Nachkriegszeiten (1906ndash1963) Konstitutionspathologie Wehrpathologie und Menschenversuche bdquoPathologieldquo des Verdraumlngens Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2018 144 S Abb Brosch EUR 1990 ISBN 978-3-95505-067-2

75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Auseinandersetzung mit der Medizin in Krieg und NS-Zeit ferner die daran anschlieszligende bdquoGeschichtspolitikldquo so aktuell wie eh und je Insofern ist das Buumlchlein des ehemaligen Freiburger Historikers Bernd Martin ein interessanter Diskussionsbeitrag und zugleich selbst ein Element der erwaumlhnten Geschichtspolitik Die Broschuumlre besteht fast zur Haumllfte (S 77ndash141) aus in Faksimile abgedruckten Dokumenten uumlberwiegend Aktenstuumlcken die sich auf Franz Buumlchner beziehen

(Haupt-)Gegenstand des Buches ist das Wirken zweier bedeutender Pathologen des 20 Jahrhunderts ndash die Rede ist von Ludwig Aschoff (1866ndash1942) Leiter der Freiburger Pathologie von 1906 bis 1936 und von Franz Buumlchner (1895ndash1991) seinem Nachfolger in den Jahren von 1936 bis 1963 In einem Vorwort legt Martin seine eigene Motivation dar sich des Themas anzunehmen Dass der Verfasser die Geschichte der Medizin als Betaumltigungsfeld der Medizinhistoriker und sich selbst als bdquoLaienldquo bezeichnet weist auf ein problematisches Selbstverstaumlndnis der eigenen Rolle Seit Jahrzehnten wird was Mar-tin entgangen zu sein scheint die Geschichte der Medizin in Deutschland und weltweit uumlberwiegend von HistorikerInnen bearbeitet Entscheidend fuumlr den wissenschaftlichen Wert medizinhistorischer Arbeiten sind nicht medizinische Spezialkenntnisse sondern die in der Geschichtswissenschaft uumlblichen Standards

Worum es Martin geht wird in der Einleitung recht schnell deutlich Er beklagt das Fehlen einer bdquoEinsicht in eine Art akademische Kollektivschuldldquo (S 9) der deutschen Professoren allgemein und Franz Buumlchners im Besonderen Weniger klar scheint jedoch die Argumentation oder liegt vielleicht ein Versaumlumnis des Lektorats vor () wenn es weiter heiszligt bdquoDieser Irrweg der Freiburger Pathologie [hellip] endete nicht 1945 [hellip] son-dern haumllt als fruchtbare Diskussion zum Nutzen der historischen und auch medizinischen

727Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

historische Phase an Optionen erinnert und somit die Zukunftsoffenheit schulpolitischer Fragen im Bewusstsein gehalten Auch wenn der Aufbau des Werkes grundsaumltzlich einer Chronologie verpflichtet ist brechen immer wieder gekonnt thematische Schwerpunkt-setzungen ndash wie etwa die Geschlechterspezifik konfessionelle Bildung Privatschulen oder das heil- und sonderpaumldagogische Angebot ndash vorschnell imaginierte zeitliche Stringenzen So wird die politikgeschichtlich getriebene Tendenz schulhistorische Epochenabgrenzungen seit der zweiten Haumllfte des 19 Jahrhundert entlang der Amts- perioden von jeweiligen Erziehungsdirektoren vorzunehmen gleichsam selbstreflexiv bearbeitet auch wenn eine gewisse Bewunderung fuumlr die den Erziehungsdirektoren Klein und Hauser zugeschriebenen Leistungen zu bemerken ist Die Einteilung einer Bil-dungsgeschichtsschreibung mit klar abgrenzbaren Zeitabschnitten wird abgeschwaumlcht zugunsten einer Darstellung mit ausgefransten Raumlndern unerwarteten Bruumlchen und holprigen Uumlbergaumlngen

Zum Schluss seien noch wenige Kritikpunkte genannt die auf die Auslotung weiteren Potentials dieses verlaumlsslichen Zugriffs zielen Das von Felder herangezogene vielfaumlltige Material haumltte es zugelassen noch deutlicher von den Versuchen zu berichten politische Entscheidungen durch wissenschaftliche zu ersetzen Andeutungen hierzu finden sich durchaus im Buch z B hinsichtlich des fruumlhen Sprachenlernens Der problematische Gebrauch von (Bildungs-) Wissenschaften als Wahrheitsinstanz in der Bildungspolitik und das Aufkommen von alternativen Epistemologien in einigen reformpaumldagogischen Ansaumltzen sowie die damit zusammenhaumlngende Abkehr von Wissenschaftsexpertise haumltte man als Untersuchungsgegenstand das Volksschulfeld in seinem Gewordensein und als Verhandlungsort gesellschaftlicher Uumlberzeugungen noch schaumlrfer konturieren koumlnnen Diese gewisse Unschaumlrfe gegenuumlber der Frage wie das weite Feld der Volksschule durch verschiedene Akteure Wissen und Kulturen gemeinsame Deutungen scharfe Konflikte und kaum hinterfragte Alltagsroutinen angetrieben wurde und wird koumlnnte Anlass sein die Studie Felders der viele Leserinnen und Leser zu wuumlnschen sind als Ausgangspunkt fuumlr weitere Forschungsbewegungen zu sehen

Andreas Hoffmann-Ocon

Isabell ARNSTEIN Die Geschichte der Zentralgewerbeschule Buchen (Zwischen Neckar und Main Schriften des Vereins Bezirksmuseum Buchen eV Bd 36) Baden-Baden Tectum-Verlag 2019 160 S Abb geb EUR 36ndash ISBN 978-3-8288-4334-9

Ein wenig widersprechen Titel und Abstract der vorliegenden Publikation einander schon wenn zu Beginn des letzteren formuliert wird die Studie gehe bdquoauf die Entwick-lung des Gewerbeschulwesens in Baden ein und leg[e] dabeildquo (lediglich) bdquoein besonde-res Augenmerk auf die Entwicklung der heutigen Zentralgewerbeschule Buchen (ZGB)ldquo (S XIII) Doch die Frage ob man es nun mit einer klassischen Schulchronik zu tun hat wie der Titel indiziert oder mit einer exemplarischen historischen Untersuchung wie es das Abstract nahelegt muss vielleicht gar nicht entschieden werden ndash zumal die doppelte Ausrichtung als Zielsetzung und wesentliche Staumlrke des Buches zugleich verstanden wer-den darf So gelingt es Arnstein die Schulgeschichte durch zwei einfuumlhrende Abschnitte zur historischen Situation im Groszligherzogtum Baden um die Entstehungszeit der Schule Mitte des 19 Jahrhunderts herum (S 35) sowie zur Entwicklung der gewerblichen Bil-dungsidee vom Mittelalter bis zur Institutionalisierung der Gewerbeschule in Baden (S 7ndash22) nicht nur zu kontextualisieren sondern sie schaumlrft auch immer wieder den Blick fuumlr Besonderheiten Chancen und Probleme dieses innovativen Konzepts das die

737Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 737

Wissenschaft bis heute anldquo Nachdem solcherart (un-)klar ist worauf die Publikation zielt skizziert das erste Kapitel sehr knapp die bdquoPathologie im Wandel der Zeitldquo Die fuumlr die Pathologie vor und nach 1900 wesentliche Methode der Erkenntnisgewinnung die klinische Sektion erscheint bei Martin in einem merkwuumlrdigen Licht Einige Motive die mehr uumlber den Verfasser als uumlber die Pathologie verraten kehren hier und spaumlter immer wieder So erfaumlhrt man der Pathologe sei keine bdquoeinfuumlhlsame mitleidende Be-zugspersonldquo gewesen Dass die Pathologie seinerzeit und bis heute in der klinischen Diagnostik und Therapie eine entscheidende Rolle spielt ist Martin nicht klar Fuumlr ihn sind Pathologen bdquoetwas zuruumlckhaltende Menschenldquo die auf Forschung fixiert (gewesen) seien An anderer Stelle heiszligt es apodiktisch bdquoAuf dem Irrweg der Pathologie Forschung uumlber den Menschen zu stellen folgte Buumlchner seinem Lehrer Aschoffldquo (S 73)

Solcherart eingestimmt wird der Leser im zweiten kurzen Kapitel mit Ludwig Aschoff konfrontiert Die folgenden Abschnitte circa zwei Drittel des Textes (S 21ndash75) befassen sich mit dem Wirken Franz Buumlchners Martin stuumltzt sich hierzu auf archivalische Quellen darunter den Nachlass Franz Buumlchners und zeichnet insbesondere die Geschichte des von Buumlchner geleiteten bdquoInstituts fuumlr Luftfahrtmedizinische Pathologie des Reichsluft-fahrtministeriumsldquo nach Hier geht es dem Verfasser neben einer historischen Rekon-struktion von Forschungsfragen und -verbuumlnden insbesondere darum Buumlchner in die Naumlhe von Menschenversuchen zu bringen Die Rede ist von den Dachauer Menschen-versuchen zu Unterdruck und Unterkuumlhlung Martin referiert zum einen auf der Basis von archivalischen Quellen und (aumllterer) Forschungsliteratur die erwaumlhnten Human- experimente die auch Gegenstand des Nuumlrnberger Aumlrzteprozesses waren Zum ande- ren versucht er Franz Buumlchner den er schlankweg als bdquoaumlrztlichen Vorgesetzte[n] von Rascherldquo (S 43) bezeichnet in eine direkte Naumlhe der KZ-Versuche zu bringen Martin nennt dies bdquonicht leicht zu beantwortende Fragenldquo (S 43) aber in Wirklichkeit handelt es sich um Spekulationen ohne Quellenbasis Charakteristisch fuumlr die Arbeitsweise des Autors ist dass er derartige Spekulationen geschickt vermischt mit historisch beleg- ten Ereignissen wie Buumlchners Teilnahme an der Nuumlrnberger Tagung im Oktober 1942 waumlhrend der die Dachauer Menschenversuche referiert wurden Bekannt und in der Forschungsliteratur oft und ausfuumlhrlich behandelt ist die Kontroverse um die Frage ob bzw dass Buumlchner nicht offiziell gegen die Menschenversuche protestiert habe Martin stellt die Zusammenhaumlnge verkuumlrzt dar ihm geht es darum dass Buumlchner ruumlckblickend eine bdquoFalschaussageldquo gemacht habe Die Quellenverweise lassen jedoch Fragen offen da Martin nicht genau zitiert Wenn es konkret werden sollte verwendet er gerne Aus-fluumlchte Ein wichtiges Detail bdquoist nicht zu klaumlrenldquo (S 46) im naumlchsten Satz erwaumlhnt er bdquoweitere Indizien fuumlr eine moumlgliche Verstrickung Buumlchnersldquo Hier geht es um einen Aufsatz im Zentralblatt fuumlr Chirurgie (Bd 70 1943 S 1553ndash1557) Im Aufsatz so Martin verfasst von August Weltz bdquokommen die Namen von Rascher Holzloumlhner und Buumlchner in losem Zusammenhang vorldquo (S 46) Und fast triumphierend fuumlgt er hinzu bdquoDer entsprechende Zeitschriftenband fehlt sowohl in der Freiburger Universitaumltsbiblio-thek als auch in der Bibliothek der Chirurgieldquo Ob das stimmt konnte ich nicht pruumlfen aber darum scheint es auch nicht zu gehen Vielmehr soll die Phantasie des Lesers in eine bestimmte Richtung gelenkt werden vom bdquolosen Zusammenhangldquo zum Verschwin-den eines Bandes Doch bleibt es nicht beim Spekulieren Martin behauptet (S 43) bdquoein Professor Buumlchnerldquo sei in einem Schreiben an Himmler als Referent einer Tagung genannt Das als Quelle angegebene Dokument ist in der Broschuumlre in Faksimile (S 93) abgebildet Dort sind einige Namen erwaumlhnt aber derjenige Buumlchners ist nicht darunter

728 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 728

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

weiteren Skizzierung des zeitgenoumlssischen bildungspolitischen Klimas zieht der Autor die Aufbruchstimmung rund um die eidgenoumlssische Abstimmung zum nationalen Frauenstimmrecht aber auch einen ersten Gesamtschulversuch im Kanton Solothurn oder den Cycle drsquoorientation in Genf als Umsetzung hinzu die Volksschuloberstufe durch- laumlssiger zu gestalten Eine neue Subjektkultur fuumlhrte zur Veraumlnderung der Schuumllerrolle traditionelle Unterrichtsformen wurden durch neue ergaumlnzt auch durch die visionaumlr erscheinende Einrichtung von Sprachlaboratorien in den 1960er- und 1970er Jahren Diese versprachen zunaumlchst mit einer neuen Sprachdidaktik effizientes und individua- lisiertes Lernen ndash werden aus der Retrospektive dennoch treffend als dem Zeitgeist ge-schuldeten Ausdruck technokratischer Begeisterung gedeutet (S 234) Die Einfuumlhrung von Versuchsschulen fand zu Beginn der 1970 Jahre in Basel kaum Akzeptanz eine wei-tere Mobilisierung der an Schule beteiligten Akteure reichte lediglich fuumlr eine defensive bdquoinnere Schulreformldquo (S 248) die das Basler Problem der Fruumlhselektion nach vier Pri-marschuljahren unbearbeitet belieszlig Eine durch die Politik angestoszligene Mittelstufen- reform ndash die Einfuumlhrung einer dreijaumlhrigen Orientierungsschule an welche mit dem gym-nasialen Bildungsgang oder mit dem Besuch einer zweijaumlhrigen Weiterbildungsschule angeschlossen werden konnte ndash erschien 1988 zunaumlchst als kompromisshafter Weg fand jedoch auf Dauer keine Akzeptanz (S 264) Wie eine gut gemeinte zusaumltzliche Maszlig-nahme die Einfuumlhrung von Klassen mit erweiterten Musikunterricht von privilegierten Eltern zur Distinktion gegenuumlber Migrationsfamilien die weniger Naumlhe zur schweizeri-schen Musikkultur aufwiesen obstruktiv genutzt wurde und so die weitere Erosion der neuen Orientierungsschule vorantrieb zeigt Felder feinsinnig auf Damit regt der Autor zum weiteren Nachdenken uumlber Bildungsreformen an die Chancengerechtigkeit in einer integrativ gedachten Schulform anpeilen und trotzdem soziale Selektionen ohne recht- lich definierte Leistungskriterien nach sich ziehen (S 270) Felders eingangs erfolgter Hinweis auf den politisch verbraumlmten und sbquoverbranntenlsquo Begriff der Volksschule an der Schwelle zum 20 Jahrhundert scheint sich ebenfalls als weiterfuumlhrend hinsichtlich des Begriffs bdquoVersuchsschuleldquo zu Beginn des 21 Jahrhunderts zu bestaumltigen Um Detailliert-heit bemuumlht hebt er hervor dass die Schulgesetzgebung oftmals jahrelang bewaumlhrter Praxis folgte und verweist auf die seit 2010 bestehende Moumlglichkeit im Kanton Basel-Stadt eine bdquoErfahrungsschuleldquo einzurichten wie dies inzwischen mit einem befristeten Projekt geschehen ist das altersdurchmischte Klassen und offene Lernateliers vorsieht (S 310)

Insgesamt widersteht das Uumlberblickswerk Felders uumlberzeugend der Versuchung eine unkritische Erfolgsgeschichte der Volksschule zu leisten um etwa die jeweiligen reform-skeptischen Akteure als Statisten nachtraumlglich in das bereits feststehende Bild zu inte-grieren Der Autor wendet sich gegen vorschnelle Synthesen und weicht dem Eindruck eines geschlossenen Modells von Schulentwicklung aus Auch wenn Uumlberblicksdar- stellungen zur vergangenen Lehrpersonenbildung gehoumlrten handelt es sich mit dieser Studie nicht um eine sbquoSchulmaumlnnerlehrelsquo die etwa ein Berufsverstaumlndnis zukuumlnftig Unterrichtender stabilisieren und in eine Richtung leiten moumlchte Vielmehr legt Felder eine materialnahe und streckenweise mikroskopische Beschreibung vor die auch viel Neues aus bildungspolitischen und schulkulturellen Spannungen und zeitgenoumlssische Wahrnehmungen der untersuchten Perioden herausdestilliert das aus aktuellen Schul- debatten nicht einfach ableitbar ist Widerspruumlche in ihrer Zeit werden betont ohne eine Gegengeschichte von eigensinnigen oder widerstaumlndigen Alternativen anzustreben Mit einem beachtlichen Rechercheaufwand wird in der Annaumlherung an die jeweilige

736 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 736

Martin hat also so der ernuumlchternde Befund seine eigenen Quellen an den entscheiden-den Punkten nicht (richtig) gelesen Andere Kapitel der Broschuumlre haben mit Buumlchner nichts und mit der Freiburger Pathologie wenig zu tun Deutlich wird dass der Autor fuumlr das Fach Pathologie kein Verstaumlndnis hat denn er bemaumlngelt entsprechend dem schon erwaumlhnten Grundmotiv nach dem 27 November 1944 blieben die bdquoPathologen die ohnehin als praktische Aumlrzte kaum eingesetzt werden konnten noch immer staumlrker auf die Forschung fixiert als auf die (leidenden) Menschenldquo (S 53) Dass sich Buumlchner durch die Explosion einer Zeitzuumlnderbombe in den Truumlmmern seines Instituts erheblich verletzt nach Hinterzarten begab nennt Martin ein bdquoAbtauchenldquo woruumlber bdquovermutlich [] auch in den Reihen der houmlheren Sanitaumltsoffiziere Geruumlchte kursiertenldquo (S 53) Ein im Januar 1945 von Buumlchner verfasstes Schreiben an Paul Rostock in dem er die Weiterfuumlhrung seiner pathologischen Taumltigkeit und das Wiedererscheinen medizinischer Fachzeitschriften thematisiert ist fuumlr Martin bdquoeine Loyalitaumltsadresse an das Regimeldquo (S 54) Die Werturteile von Martin uumlber Buumlchner sind uumlberwiegend negativ und nicht historisch sondern moralisch belegt Allerdings stellt er auch fest dass Buumlchner weder an toumldlichen Menschenversuchen teilgenommen noch sie gebilligt oder angeordnet habe (S 74)

Eingestreut in die Arbeit finden sich einige Bemerkungen zu Buumlchners oumlffentlichem Vortrag bdquoDer Eid des Hippokratesldquo vom 18 November 1941 den Martin bdquoungewoumlhnlich aumluszligerst mutigldquo nennt (S 35) Ungeachtet dieser recht positiven Einschaumltzung ist die Dar-stellung die er gibt tendenzioumls verkuumlrzend und nicht dem Forschungsstand entspre-chend Auch hinsichtlich der sog bdquoAktion T 4ldquo (Krankenmord) und deren Fortsetzung seit Herbst 1941 scheint Martin nicht recht im Bild zu sein Die Fehler stecken im Detail und sie sind (zu) zahlreich So ist der Titel des Vortrags nicht richtig wiedergegeben er lautete auch am 18 November 1941 bdquoDer Eid des Hippokratesldquo und nicht erst nach Kriegsende bei der Erstpublikation (S 59) Der in der NS-Zeit singulaumlre Protest eines Medizinprofessors gegen den Krankenmord denn darum handelte es sich bei Buumlchners Vortrag hatte in der Tat eine breite Rezeptionsgeschichte nach 1945 Martin bemerkt hierzu malizioumls Buumlchner habe sich mit der Publikation bdquoein Denkmal als Widerstands-kaumlmpferldquo gesetzt dem Autor sind die komplexen Vorgaumlnge und Strukturen der bdquoVergan-genheitsbewaumlltigungldquo die seit 1945 und bis heute in Schuumlben verlaumluft offensichtlich unklar geblieben Buumlchner hatte die ambivalente Rolle der Medizin im NS-Staat nicht nur bemerkt und in seiner eigenen Person mitgetragen sondern er hatte unmittelbar nach Kriegsende auch innerhalb der Medizinischen Fakultaumlt fuumlr eine differenzierte Auseinan-dersetzung geworben Dass eher die NS-Vergangenheit verdraumlngt und Belastete weit- gehend reintegriert wurden gehoumlrt zur problematischen Geschichte der Medizinischen Fakultaumlt der Freiburger und aller anderen im Kontext der ersten Nachkriegsjahre Be-sonders fuumlr Freiburg war dass mit dem Vortrag Buumlchners vom November 1941 ein dokumentierter Protest vorlag der ruumlckschauend als eine Art bdquoGemeinschaftsleistungldquo der Fakultaumlt ausgegeben wurde Buumlchner hatte jedoch im November 1941 alleine gestan-den und keinerlei Unterstuumltzung vonseiten seiner Fachkollegen erhalten Gleichwohl war er nach 1945 bereit die erwaumlhnte Umdeutung seines Vortrags zu einem gemeinschaft- lichen Protest mit zu tragen Hier erwies er sich als pragmatischer Hochschulpolitiker Die moralisierende Deutung der komplexen Vorgaumlnge wie Martin sie vornimmt greift jedenfalls zu kurz und entspricht nicht dem historischen Forschungsstand Dass der Ver-fasser des Bandes bei dieser Arbeitsweise kein konsistentes Bild Buumlchners schaffen kann liegt auf der Hand

729Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

gesellschaftlichen Kreisen Aumlngste vor der Entchristlichung der Schule oder vor der Dominanz des Kognitiven ausloumlsen

Mit welchen paumldagogischen Maszlignahmen im Unterricht oder institutionell mit (priva-ten) Schulneugruumlndungen nach einer kindgerechten Erziehung gesucht wie mit dem Schulgesetz von 1929 mehr Mitsprache von Lehrpersonen Eltern sowie Schuumllern erzielt wurde und wie in Kriegs- und Krisenzeiten der Schulbetrieb sich veraumlnderte sind Fragen denen in den Kapiteln 7 8 und 9 nachgegangen wird Der Bogen vielgestaltiger Strouml-mungen der Reformpaumldagogik und ihrer Kritiker wird hier weit gespannt Waumlhrend die Prinzipien der Arbeitsschule die Volksschule derart praumlgen konnten dass Handarbeits-unterricht nach 1929 als Pflichtfach in die Volksschule ndash jedoch geschlechtsspezifisch ausgerichtet ndash aufgenommen wurde (S 166) fuumlhrten andere Ausrichtungen zu Gruumlndun-gen von Privatschulen etwa zu den Rudolf-Steiner-Schulen die wiederum Einfluss auf die oumlffentliche Volksschule nahmen Das Schulgesetz von 1929 wird nicht nur einfach mit seinen Ergaumlnzungen zum Schulsystem von 1880 abgehandelt sondern mit der Ver-schiebung des fruumlheren auch in die Bildungspolitik hineinspielenden Gegensatzes von bdquoliberal gegen konservativldquo hin zur bdquoPolarisierung zwischen sozialistisch und buumlrgerlichldquo breit kontextualisiert (S 188) Dem sozialdemokratisch pragmatisch agierenden Erzie-hungsdirektor Fritz Hauser gelang es ein Schulgesetz vorzulegen gegen das kein Refe-rendum ergriffen wurde Aus seiner Sicht hatte die gewuumlnschte Akzeptanz ihren Preis Zwar konnten u a Maturitaumltskurse fuumlr Berufstaumltige eingefuumlhrt die bisher freiwillige Schulsynode in ein staatliches bdquolegales Parlament der Lehrerschaftldquo (S 196) uumlberfuumlhrt Mitspracherechte fuumlr Eltern sowie Schuumller und Schuumllerinnen etabliert und eine Lehrer-bildungsinstitution fuumlr alle Schultypen aufgebaut werden Aber buumlrgerliche Kreise bekaumlmpften weiterhin eine zeitliche Verkuumlrzung der Maturitaumltsschulen zugunsten einer laumlngeren Phase der Volksschuloberstufe resp spaumlteren Sekundarstufe I Die Gymnasien wurden in verschiedene Typen differenziert zu denen nun auch das Maumldchengymnasium als ehemalige Toumlchterschule gehoumlrte Mit dem Blick auf Kriegs- und Krisenzeiten wird deutlich wie der Unterrichtsalltag durch Unterbrechungen und Ausfall gepraumlgt sein konnte Anlaumlsslich der Spanischen Grippe zum Ende des Ersten Weltkrieges fiel die Schule fuumlr acht Wochen aus und ein Schulhaus musste zum Grippespital umgeruumlstet werden (S 203) Als in einer wahrgenommenen Phase der sozialen Not 1922 das Berufs-verbot fuumlr verheiratete Lehrerinnen eingefuumlhrt wurde konnte es sich bis 1965 halten Eindruumlcklich ist wie deutlich die Schulrituale mit Gedenkfeiern Ausfluumlgen und Geschen-ken ab den 1930er Jahren von der Geistigen Landesverteidigung beeinflusst waren (S 209)

Die letzten fuumlnf Kapitel befassen sich mit der Bildungsexpansion in der Nachkriegs-zeit der damit zusammenhaumlngenden Mittelstufenreform der kulturellen Heterogenitaumlt und dem (limitierten) Beitrag der Volksschule zur sozialen Kohaumlsion dem Reformmodell der teilautonomen Lern- und Lebensraumlume der Sonderpaumldagogik zwischen Aussonde-rung und Integration und dem Anschluss der Volksschule des Kantons Basel-Stadt an die gesamtschweizerische Entwicklung seit den 1970er Jahren Um die zweite Haumllfte des 20 und die knapp ersten beiden Jahrzehnte des 21 Jahrhunderts schulgeschichtlich pro-duktiv zu erschlieszligen hat Felder mit dem vom Bevoumllkerungswachstum getriebenen Anstieg der Schuumllerzahlen und beschaumlftigten Lehrpersonen mit der Verlaumlngerung der Schullaufbahnen und der Oumlffnung der Schulangebote fuumlr neue Gruppen sowie mit der Ausschoumlpfung der Begabungsreserven als (wiederkehrendes) Gebot der Stunde einen plausiblen Hintergrund fuumlr eine umfassende Betrachtung geschaffen (S 220) Zur

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Viele in der Forschungsliteratur unterdessen genau rekonstruierte Vorgaumlnge werden von Martin vergroumlbernd unscharf dargestellt wofuumlr noch ein Beispiel genuumlgen moumlge dem KZ-Arzt Hoven der in Freiburg 1943 mit der Bestnote promoviert worden war wurde im April 1947 der Doktorgrad entzogen Martin behauptet dies sei geschehen bdquoals er wegen toumldlicher Fleckfieberversuche an Haumlftlingen im Nuumlrnberger Aumlrzteprozess zum Tode verurteilt worden warldquo (S 65) Richtig ist dass Hoven depromoviert wurde aber wegen Betrugs ndash ein anderer hatte seine Dissertation geschrieben Im April 1947 befand sich Hoven in amerikanischer Haft der Prozess begann erst im Dezember 1947 Von der neueren Literatur vermisse ich unter anderem die Arbeit von Nadine Kopp Die Medizinische Fakultaumlt Freiburg 1945 bis 19691970 Entwicklungslinien und Prota- gonisten im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Oumlffentlichkeit Frankfurt am MainBerlinBern u a 2015 ferner den Katalog der Ausstellung zur NS-Zeit in Freiburg (2016) und die daran anknuumlpfende Publikation von P Kalchthaler T v Stockhausen (Hg) Freiburg im Nationalsozialismus Freiburg 2017 Ungenauigkeiten und Fehler bei der Schreibweise von Namen historischer Personen und Autoren der Sekundaumlrliteratur sind bei Martin auszligerordentlich haumlufig und haumltten von einem Lektorat profitiert Buumlchner der ein Universitaumltsinstitut leitete wird als bdquoChef einer Universitaumltsklinikldquo (S 72) und als bdquoKlinikchefldquo (S 72) bezeichnet Das Buumlchlein ist leider auch technisch recht nach-laumlssig gefertigt die Klebebindung loumlst sich nach einmaligem Lesen auf Fazit Martin hat ein quellenreiches Buumlchlein uumlber Franz Buumlchner vorgelegt das seinem Anspruch ndash der Uumlberfuumlhrung der Hauptperson ndash allerdings nicht gerecht wird nicht gerecht werden kann sei hinzugefuumlgt Drei Generationen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die historische Forschung weiter geschritten Martins moralisierender Standpunkt wirkt ana-chronistisch Auszligerdem merkt man zu deutlich dass er den Protagonisten seines Buches nicht mag Das muss auch nicht sein sollte aber die historische Kritikfaumlhigkeit nicht beeinflussen Eine Chance vertan

Karl-Heinz Leven

Clemens BRODKORB Dominik BURKARD (Hg) Der Kardinal der Einheit Zum 50 Todes-tag des Jesuiten Exegeten und Oumlkumenikers Augustin Bea (1881ndash1968) (Jesuitica Bd 22) Regensburg Schnell amp Steiner 2018 512 S Abb geb EUR 4995 ISBN 978-3-7954-3350-5

In Augustin Beas Geburtsort Riedboumlhringen wo ein ruumlhriger Foumlrderverein u a durch das im Geburtshaus des Kardinals eingerichtete Museum die Erinnerung an den groszligen Kirchenmann wachhaumllt konnte im November 2018 anlaumlsslich der Gedenkfeier zum 50 Todestag des Kardinals in Anwesenheit des Freiburger Erzbischofs Stephan Burger der vorliegende Band der Oumlffentlichkeit vorgestellt werden Es handelt sich dabei um eine nicht nur aumluszligerlich gewichtige Veroumlffentlichung die die bisherige Bea-Forschung buumlndelt und um wesentliche neue Erkenntnisse ergaumlnzt Sie bildet somit eine solide und detailreiche Grundlage fuumlr weitere Studien uumlber das Wirken des Kardinals als Jesuit Exeget und Oumlkumeniker ndash so der Untertitel ndash sowie als Mann der Kurie Wenn in seinem Wirken sein Einsatz als Praumlsident des damaligen Sekretariats fuumlr die Einheit der Christen fuumlr das Zweite Vatikanische Konzil in einer gewissen Weise im Mittelpunkt steht so ver-weist dies darauf dass mit dem Andenken Beas auch die ihm mitzuverdankende bdquooumlku-menische Grundausrichtung der Konzilsbeschluumlsseldquo (so Beas Nachfolger Kurt Kardinal KOCH in seinem Gruszligwort S 7) bleibende Verpflichtung ist

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Die 16 Beitraumlge des Bandes sind in drei Abschnitte unterteilt die sich Beas Dienst am Orden an der Weltkirche und an der Verstaumlndigung widmen Damit ergibt sich eine klar gegliederte und profunde Zusammenschau eines weitverzweigten Schaffens Den ersten Teil eroumlffnet Clemens BRODKORB mit einer ausfuumlhrlichen Praumlsentation der Taumltigkeiten Beas im und fuumlr den Jesuitenorden und arbeitet dabei insbesondere auch die jesuitische Praumlgung des Bauernsohnes von der Baar heraus Klaus SCHATZ widmet sich Beas Zeit als Provinzial in den zwanziger Jahren Franz-Josef MOHR und Dominik BURKARD seiner Japan-Visitation am Ende dieses Jahrzehnts Mit den 1930er Jahren beginnt der Einsatz Beas fuumlr die Weltkirche zunaumlchst als Rektor des Paumlpstlichen Bibelinstituts und Konsultor der Paumlpstlichen Bibelkommission Klemens STOCK kann hier zeigen wie das beharrliche und praumlzise Arbeiten Beas dazu beitrug die katholische Exegese langsam aber sicher zu veraumlndern und jene Oumlffnungen vorzubereiten die das Zweite Vatikanische Konzil dann ermoumlglichte Michael PFISTERS Beitrag uumlber Beas Bibelauslegung am Beispiel der Sintfluterzaumlhlung der um die entscheidenden Details ebenso weiszlig wie um deren Zusam-menhang mit den groszligen Linien ist ein gelungenes Beispiel fuumlr eine theologiegeschicht-liche Einordnung des Wirkens Beas in einem Gelaumlnde das vor dem Konzil in mehrfacher Hinsicht vermint war Matthias DAUFRATSHOFER und Dominik Burkard gehen in zwei Beitraumlgen Beas Wirken im Umfeld Piuslsquo XII sowie des Sanctum Officium nach und zeigen wie Bea sowohl offiziell wie auch informell und gelegentlich unter Nutzung bdquoflacher Hierarchienldquo (vgl S 188) Loyalitaumlt und Situationsoffenheit zu verbinden wusste ndash zwar in den vor dem Konzil gesetzten Grenzen aber durchaus auch die grundsaumltzlichen Prob-leme der kirchlichen und theologischen Ablaumlufe vor dem Konzil erspuumlrend Bei-spielsweise zeigt sich im Briefwechsel mit dem Oumlkumeniker Otto Karrer dessen Werk indiziert wurde der lange Atem des Bauernsohnes von der Baar wenn Bea Karrer troumlstet bdquoIch darf Ihnen aber doch sagen dass wir uns (gewisse Kreise) bemuumlhen gewissen Un-zutraumlglichkeiten den Boden zu entziehen Aber das geht langsam Jahrhunderte ziehen tiefe Furchenldquo (S 202) Nicht zuletzt solches Gespuumlr machte Bea die epochale Bedeutung des Konzils bewusst Sandra MAROTTAS gelungener und hintergruumlndiger Beitrag widmet sich der Zusammenarbeit Beas mit Lorenz Kardinal Jaeger einem weiteren wichtigen Impulsgeber und Schrittmacher der Oumlkumene Dabei weist sie aufgrund neuer Archiv- recherchen nach dass wohl doch Bea bei der lange Zeit eher Kardinal Jaeger zugeschrie-benen Initiative Papst Johannes XXIII eine bdquoCommissioldquo zur Foumlrderung der Einheit der Christen zu errichten der entscheidende Anteil zukommt Wie dem auch sei das bdquoTandemldquo Bea-Jaeger konnte nicht zuletzt dank Beas Einvernehmen mit Johannes XXIII wirkungsvoll agieren ndash obwohl Marotta Hinweise ausmacht dass Bea zunaumlchst bdquoeher zufaumlllig und ohne unmittelbare Veranlassung auf die Liste der neuen Kardinaumlle gelangt istldquo (S 232) dann freilich uumlber die erste Begegnung mit dem Papst sagte bdquoWir haben uns vollkommen verstandenldquo (S 233) Ein besonderes Kleinod insbesondere fuumlr Leserinnen aus dem Erzbistum Freiburg stellt die ausfuumlhrliche Untersuchung von Dominik Burkard und Christoph SCHMIDER dar in der sie akribisch Beas Positionierungen und Aktivitaumlten rund um die Freiburger Bischofswahl des Jahres 1958 nachgehen und dabei sowohl ein aufschlussreiches Portraumlt des Kirchenpolitikers Bea als auch ndash geradezu ein kleines Freiburger bdquowho is wholdquo beinhaltend ndash der Stimmungslage in dessen Hei-matbistum vorlegen Bei aller Freude an den hervorragend dargestellten dioumlzesan- geschichtlichen Details ist dieser Beitrag aber auch grundsaumltzlich fuumlr das Verstaumlndnis der Kirche am Vorabend des Konzils von Interesse an dem der schlieszliglich gewaumlhlte Erz- bischof Hermann Schaumlufele dann als Konzilsvater teilnahm Weniger uumlberraschend aber

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einander existierenden teilweise sich konkurrierenden Praktiken des Schulehaltens zur Sprache bringen und ins Bild setzen will wie Lehren und Lernen sich im Alltag abge-spielt haben koumlnnte So wird deutlich dass Liederbuumlchlein Katechismen Psalmensamm-lungen oder das Evangelium zur Grundlage eines repetitiven elementaren Unterricht- ganges zumeist nur fuumlr Knaben und somit als Lehrmittel fuumlr den Leseerwerb verwendet wurden obgleich sie nicht fuumlr diesen Gebrauch geschaffen waren (S 26 f) Neben Ab-bildungen zu diesen bdquouneigentlichenldquo Schulbuumlchern taucht wenige Seiten spaumlter ein Bild mit Silbermuumlnzen auf welche mit einem Baselstab dem Muumlnster oder einer Minerva versehen waren mit denen der Schulordnung des Gymnasiums zufolge besonders fleissige Schuumller belohnt wurden (S 41) In der Verbindung der Unterrichtsalltaumlglichkei-ten mit den seinerzeit der Schulkommission des Grossen Rates vorgelegten Vorschlaumlgen des christlich-humanistischen Aufklaumlrers Isaak Iselins fuumlr eine Schulreform ndash also mit den geteilten Deutungen und Ordnungsvorstellungen einer kritischen buumlrgerlich-geistigen Elite die trotz Standes- und geschlechtertypologischen Uumlberlegungen zentrale Gedanken einer Volksschule vorwegnahmen ndash entwickelt Felder sachkundig eine fast historisch-praxeologische Perspektive

Die Kapitel 4 5 und 6 widmen sich in der Interpretation des Autors einem bildungs-historischen Kippmoment und den daran anschlieszligenden Folgekonflikten der Begruumln-dung der Volksschule welche im Schulgesetz von 1880 Ausdruck fand dem Streit um Laizismus und Religion sowie der Konsolidierung des neuen Unterrichtswesens bis in die 1930er Jahre Mit dem ersten linksfreisinnigen Vorsteher des Erziehungsdeparte-ments Wilhelm Klein tauchten nach der Abschaffung des Ratsherrenregimes durch die Kantonsverfassung von 1875 neue Optionen und neues Wissen auf das Bildungswesen weiterzudenken Kleins erster Entwurf sah vor dass alle Basler Kinder gemeinsam fuumlnf Jahre in die Primarschule und drei Jahre in die Sekundarschule gehen waumlhrend die Auf-teilung in parallele leistungsdifferenzierte Schultypen erst danach erfolgen sollte Das Gymnasium so zur nachobligatorischen Schulstufe zu bdquodegradierenldquo galt in der Zeit davor als unsagbar und wurde von der standesbewussten staumldtischen Buumlrgerschaft auch als Affront aufgefasst (S 85) Derartige Beispiele nimmt Felder gekonnt auf und weitet das Blickfeld indem er die historischen Bedingungen aufzeigt wie eine fruumlhe Idee von der Ausschoumlpfung der Begabungsreserven mit Verweis auf das Zuumlrcher Unterrichtsgesetz von 1832 erst Relevanz bekommen konnte um dann in einer einsetzenden Polyphonie von Gegenstimmen abgeschliffen zu werden und in Kleins Abwahl zu enden Mit der- artigen Zugriffen betont der Autor dass neue Konzeptionen im Bildungsbereich nicht in einem Vakuum auftreten Zuvor ereignen sich auf politischen kulturellen und wissen-schaftlichen Feldern Abloumlsungen und Verschiebungen Bildungspolitische Verfechter des Neuen benoumltigen vorgaumlngige leidenschaftliche Debatten und neues Wissen eben Mate-rial das dann weiter umgestaltet als vorbildhaft und traditionsorientiert markiert werden kann so dass etwa ein Schulgesetzentwurf nicht zu sehr als Zaumlsur wahrgenommen wird Der Ausbau der Volksschule nach 1880 wurde durch ein allgemeines Erneuerungsklima beguumlnstigt So wurden Lehrmittel die den Unterrichtsalltag staumlrker praumlgen als Lehrplaumlne (S 121) unentgeltlich abgegeben nur noch Lehrpersonen mit Lehrpatent angestellt repraumlsentative bdquoSchulpalaumlsteldquo ndash welche mit neuen Schulbaumlnken und Duschen im Zeichen hygienischen Fortschritts versehen waren ndash angesichts des exorbitanten Bevoumllkerungs-wachstums errichtet und Spezialklassen fuumlr schwach begabte Kinder eingefuumlhrt (S 134) Die diesen Wandel begleitenden Sozialtechnologien und paumldagogischen Interventionen u a der Aufbau von schulaumlrztlichen und -psychologischen Diensten konnten je nach

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

nicht weniger informiert sind die Beitraumlge von Nikolaus KLEIN zu Beas Wirken im Ein-heitssekretariat und Joachim BUumlRKLES exemplarische Studie zu den Aktivitaumlten Beas als Konzilsvater

Der dritte und letzte Teil enthaumllt eine wiederum sehr ausfuumlhrliche Studie Dominik Bur-kards uumlber Beas fruumlhe Sondierungen im Umfeld der spaumlteren oumlkumenischen Partner eine von Margarethe HOPF verfasste konzis und kompetent dargestellte bdquofremdprophetischeldquo Perspektive des Heidelberger Theologen und Konzilsbeobachter der EKD Edmund Schlink auf Bea (dieser konnte als Schlinks bdquoSprachrohrldquo [S 455] auf dem Konzil fun-gieren Schlink wiederum als Beas bdquoFuumlrsprecherldquo [S 457] bei den evangelischen Theo-logenkollegen) sowie einen englischsprachigen Beitrag von Susannah HESCHEL uumlber die Freundschaft Beas mit ihrem Vater dem Rabbiner Abraham Joshua Heschel der sich im Umfeld des Konzils groszlige Verdienste um das juumldisch-christliche Verstaumlndnis erworben hat Ulrich RUH schlieszliglich praumlsentiert in gleichsam kongenialer Weise Bea als bdquoMann der Medienldquo

Ein ausfuumlhrlicher Anhang mit Autorenverzeichnis Personen- und Ortsregister macht aus dem Band ein veritables Nachschlagewerk nicht nur fuumlr die Bea-Forschung sondern auch fuumlr die Geschichte der Oumlkumene im 20 Jahrhundert Der Fuumllle der Ergebnisse und Erkenntnisse die fuumlr viele Bereiche der Kirchen- und Theologiegeschichte Froumlmmig-keits- und Mentalitaumltsgeschichte Weiterfuumlhrendes und Bedenkenswertes bereithalten kann man an dieser Stelle nur exemplarisch gerecht werden Umso mehr bleibt als Bilanz der Dank fuumlr eine verdiente und verdienstvolle Wuumlrdigung eines der bedeutendsten Oumlku-meniker des 20 Jahrhunderts Dass dessen Wirken aufbauend auf dem hier dargelegten Wissensstand weiter erforscht wird und somit Inspiration fuumlr weitere Schritte auf dem Weg zur Einheit bleibt kann man den Kirchen und Theologien im 21 Jahrhundert nur wuumlnschen

Michael Quisinsky

Pierre FELDER Fuumlr alle Die Basler Volksschule seit ihren Anfaumlngen (Neujahrsblatt der Gesellschaft fuumlr das Gute und Gemeinnuumltzige Basel Bd 197) Basel Schwabe 2019 382 S Abb Brosch EUR 35ndash ISBN 978-3-7965-3907-7

Historische Abhandlungen zu regionalen oder nationalen Bildungsraumlumen wurden in den letzten Jahren zumeist in Form von Sammelbaumlnden herausgegeben Vielfach wei-sen diese zwar facettenreiche Perspektiven auf laufen teilweise aber auch Gefahr mit einem eher schwachen inhaltlichen Kern Redundanzen zu erzeugen Die einzelnen Beitraumlge sind dann haumlufig auf abgrenzbare bildungshistorische Gegenstaumlnde konzen- triert ndash etwa auf spezifische Schultypen in einer ausgewaumlhlten Epoche auf Lehrmittel zu einem bestimmten Unterrichtsfach auf Lehrpersonenbiographien etc ndash die dann mit recht enggefassten Fragestellungen und Perspektivierungen forschend umkreist werden jedoch weniger dazu geeignet erscheinen einen ganzen Horizont aufzuspannen Pierre Felder Historiker und ehemaliger Leiter der Volksschulen im Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt hat nun eine Geschichte der Basler Volksschule auf knapp 400 Seiten im Alleingang zusammengestellt ndash ein Uumlberblickswerk wie es vom Genre her fruumlher in der Lehrpersonenbildung sehr gebraumluchlich war Auch wenn der zeitliche Rahmen mit der Angabe bdquoseit ihren Anfaumlngenldquo weit gesteckt ist gibt es deutliche Fokus-sierungen u a auf ausgewaumlhlte historische Perioden in der in 15 Kapiteln gegliederten Darstellung Ein Hauptaugenmerk gilt den Zeiten in denen sich in einem Zustand der Unsicherheit in Unterricht Schule Bildungsadministration und -politik konflikthaft

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eine neue Praxis zu etablieren beginnt die spaumlter oftmals eine Grundlage fuumlr die Schul-gesetzgebung bildet Zahlreiche Grafiken welche uumlber den geplanten oder beschlossenen Aufbau des Schulsystems nach einer Bildungsreform orientieren Bilder und Quellen-auszuumlge ergaumlnzen Felders Studie die ebenfalls als Nachschlagewerk genutzt werden koumlnnte

Es geht Felder darum generell aufzuzeigen wie sehr sich die Volksschule zu verschie-denen Zeiten als Streitobjekt in der oumlffentlichen Diskussion befand und bildungspoliti-sche Entscheide immer dann auf Akzeptanz bei den je vorherrschenden Entscheidungs- traumlgern aber auch bei dem Souveraumln stieszligen wenn diese offen genug angelegt waren um fuumlr unterschiedliche Interessengruppen Anknuumlpfungspunkte zu bieten Dabei setzt der Autor auf eine nur moderat ausgepraumlgte Theorie- und Thesenleitung die im Ausblick noch einmal bestaumltigt wird Die Herstellung von Homogenitaumlt im Volksschulwesen im Allgemeinen und in Jahrgangsklassen im Speziellen sei ndash trotz haumlufiger Klagen ndash nicht nur eine Illusion sondern auch dysfunktional gegenuumlber unterschiedlichen Bildungs- beduumlrfnissen Um der paradoxen fundamentalen Frage historisch nachzuspuumlren wie die auf Langfristigkeit angelegte individuelle Foumlrderung von Heranwachsenden und ihre Selektion angesichts bildungsbegrenzender Barrieren gegenuumlber sozial marginalisierten Kreisen zugleich in der Volksschule zu gestalten sind sei es lohnend zu erschlieszligen ob und wie in vergangenen Zeiten eine Durchlaumlssigkeit zwischen den verschiedenen Bil-dungswegen hergestellt wurde

In der Einleitung stellt der Autor quasi als Selbstbegrenzung gegenuumlber dem Wunsch nach einer bdquototalen Geschichteldquo (Koselleck 2006) der Volksschule die Differenz von Begriffs- Politik- und Sozialgeschichte dar indem er aufzeigt dass im Kanton Basel faktisch eine Volksschule seit den 1880er Jahren vorherrschte auch wenn der Begriff aus politischen Gruumlnden in den Schulgesetzen bis 1929 nicht erwaumlhnt werden konnte Was sich langfristig ereignet aber sprachlich nicht niedergeschlagen hat das muss einer Quellenkontrolle unterworfen werden Felders Hauptaugenmerk gilt einer auch kultur-geschichtlich sensiblen Praumlsentation der gegenwaumlrtigen Schule als etwas Gewordenes ndash bdquogerade in einer Zeit in der die Schule von einem beispiellosen Wandel ergriffen scheint und den Aumllteren fremd zu werden drohtldquo (S 14) Die einem solchen Prinzip der Gegen-wartsdiagnose innewohnenden normativen Implikationen Schulgeschichtsschreibung etwa als kritische Begleiterin von Bildungsreformen zu verstehen begegnet Felder mit der Reflexion seiner Sprecherposition und Standortgebundenheit Nicht auf eine ein- gaumlngige fortschrittsgeschichtliche Narration in der Art einer Darstellung der immer mehr Bildungsgerechtigkeit und Integration gewaumlhrleistenden Volksschule zielt Felders Zugang sondern vielmehr auf Verflechtungen laufend extern in den Schulbetrieb ein-greifender Kraumlfte die eine Kontinuitaumlt von Konflikten bis heute begruumlnden Mit diesen nicht uumlberbordenden theoretischen Markierungen zeigt Felder einen Weg auf wie die Geschichte der Volksschule im Kanton Basel quellennah zwar in chronologischer Linienfuumlhrung aber dennoch mit dem Blick auf Diskontinuitaumlten Bruumlche und Krisen-momente erzaumlhlt werden kann

Die ersten drei Kapitel befassen sich mit den zeitlichen Abschnitten vor der Begruumln-dung der Volksschule ndash und zwar mit den kaum aufeinander abgestimmten Schulen im Ancien Reacutegime ndash also der Zeit vor der Helvetischen Revolution 1798 ndash mit den Ideen und Plaumlnen zur Bildungsreform waumlhrend der Aufklaumlrung sowie der Phase von Aufbruch und Verweltlichung staumldtischer und laumlndlicher Schulen vor und nach der Kantonstrennung zu Beginn der 1830er Jahre Auffaumlllig ist dass Felder von Beginn an die vielen neben-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

eine neue Praxis zu etablieren beginnt die spaumlter oftmals eine Grundlage fuumlr die Schul-gesetzgebung bildet Zahlreiche Grafiken welche uumlber den geplanten oder beschlossenen Aufbau des Schulsystems nach einer Bildungsreform orientieren Bilder und Quellen-auszuumlge ergaumlnzen Felders Studie die ebenfalls als Nachschlagewerk genutzt werden koumlnnte

Es geht Felder darum generell aufzuzeigen wie sehr sich die Volksschule zu verschie-denen Zeiten als Streitobjekt in der oumlffentlichen Diskussion befand und bildungspoliti-sche Entscheide immer dann auf Akzeptanz bei den je vorherrschenden Entscheidungs- traumlgern aber auch bei dem Souveraumln stieszligen wenn diese offen genug angelegt waren um fuumlr unterschiedliche Interessengruppen Anknuumlpfungspunkte zu bieten Dabei setzt der Autor auf eine nur moderat ausgepraumlgte Theorie- und Thesenleitung die im Ausblick noch einmal bestaumltigt wird Die Herstellung von Homogenitaumlt im Volksschulwesen im Allgemeinen und in Jahrgangsklassen im Speziellen sei ndash trotz haumlufiger Klagen ndash nicht nur eine Illusion sondern auch dysfunktional gegenuumlber unterschiedlichen Bildungs- beduumlrfnissen Um der paradoxen fundamentalen Frage historisch nachzuspuumlren wie die auf Langfristigkeit angelegte individuelle Foumlrderung von Heranwachsenden und ihre Selektion angesichts bildungsbegrenzender Barrieren gegenuumlber sozial marginalisierten Kreisen zugleich in der Volksschule zu gestalten sind sei es lohnend zu erschlieszligen ob und wie in vergangenen Zeiten eine Durchlaumlssigkeit zwischen den verschiedenen Bil-dungswegen hergestellt wurde

In der Einleitung stellt der Autor quasi als Selbstbegrenzung gegenuumlber dem Wunsch nach einer bdquototalen Geschichteldquo (Koselleck 2006) der Volksschule die Differenz von Begriffs- Politik- und Sozialgeschichte dar indem er aufzeigt dass im Kanton Basel faktisch eine Volksschule seit den 1880er Jahren vorherrschte auch wenn der Begriff aus politischen Gruumlnden in den Schulgesetzen bis 1929 nicht erwaumlhnt werden konnte Was sich langfristig ereignet aber sprachlich nicht niedergeschlagen hat das muss einer Quellenkontrolle unterworfen werden Felders Hauptaugenmerk gilt einer auch kultur-geschichtlich sensiblen Praumlsentation der gegenwaumlrtigen Schule als etwas Gewordenes ndash bdquogerade in einer Zeit in der die Schule von einem beispiellosen Wandel ergriffen scheint und den Aumllteren fremd zu werden drohtldquo (S 14) Die einem solchen Prinzip der Gegen-wartsdiagnose innewohnenden normativen Implikationen Schulgeschichtsschreibung etwa als kritische Begleiterin von Bildungsreformen zu verstehen begegnet Felder mit der Reflexion seiner Sprecherposition und Standortgebundenheit Nicht auf eine ein- gaumlngige fortschrittsgeschichtliche Narration in der Art einer Darstellung der immer mehr Bildungsgerechtigkeit und Integration gewaumlhrleistenden Volksschule zielt Felders Zugang sondern vielmehr auf Verflechtungen laufend extern in den Schulbetrieb ein-greifender Kraumlfte die eine Kontinuitaumlt von Konflikten bis heute begruumlnden Mit diesen nicht uumlberbordenden theoretischen Markierungen zeigt Felder einen Weg auf wie die Geschichte der Volksschule im Kanton Basel quellennah zwar in chronologischer Linienfuumlhrung aber dennoch mit dem Blick auf Diskontinuitaumlten Bruumlche und Krisen-momente erzaumlhlt werden kann

Die ersten drei Kapitel befassen sich mit den zeitlichen Abschnitten vor der Begruumln-dung der Volksschule ndash und zwar mit den kaum aufeinander abgestimmten Schulen im Ancien Reacutegime ndash also der Zeit vor der Helvetischen Revolution 1798 ndash mit den Ideen und Plaumlnen zur Bildungsreform waumlhrend der Aufklaumlrung sowie der Phase von Aufbruch und Verweltlichung staumldtischer und laumlndlicher Schulen vor und nach der Kantonstrennung zu Beginn der 1830er Jahre Auffaumlllig ist dass Felder von Beginn an die vielen neben-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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einander existierenden teilweise sich konkurrierenden Praktiken des Schulehaltens zur Sprache bringen und ins Bild setzen will wie Lehren und Lernen sich im Alltag abge-spielt haben koumlnnte So wird deutlich dass Liederbuumlchlein Katechismen Psalmensamm-lungen oder das Evangelium zur Grundlage eines repetitiven elementaren Unterricht- ganges zumeist nur fuumlr Knaben und somit als Lehrmittel fuumlr den Leseerwerb verwendet wurden obgleich sie nicht fuumlr diesen Gebrauch geschaffen waren (S 26 f) Neben Ab-bildungen zu diesen bdquouneigentlichenldquo Schulbuumlchern taucht wenige Seiten spaumlter ein Bild mit Silbermuumlnzen auf welche mit einem Baselstab dem Muumlnster oder einer Minerva versehen waren mit denen der Schulordnung des Gymnasiums zufolge besonders fleissige Schuumller belohnt wurden (S 41) In der Verbindung der Unterrichtsalltaumlglichkei-ten mit den seinerzeit der Schulkommission des Grossen Rates vorgelegten Vorschlaumlgen des christlich-humanistischen Aufklaumlrers Isaak Iselins fuumlr eine Schulreform ndash also mit den geteilten Deutungen und Ordnungsvorstellungen einer kritischen buumlrgerlich-geistigen Elite die trotz Standes- und geschlechtertypologischen Uumlberlegungen zentrale Gedanken einer Volksschule vorwegnahmen ndash entwickelt Felder sachkundig eine fast historisch-praxeologische Perspektive

Die Kapitel 4 5 und 6 widmen sich in der Interpretation des Autors einem bildungs-historischen Kippmoment und den daran anschlieszligenden Folgekonflikten der Begruumln-dung der Volksschule welche im Schulgesetz von 1880 Ausdruck fand dem Streit um Laizismus und Religion sowie der Konsolidierung des neuen Unterrichtswesens bis in die 1930er Jahre Mit dem ersten linksfreisinnigen Vorsteher des Erziehungsdeparte-ments Wilhelm Klein tauchten nach der Abschaffung des Ratsherrenregimes durch die Kantonsverfassung von 1875 neue Optionen und neues Wissen auf das Bildungswesen weiterzudenken Kleins erster Entwurf sah vor dass alle Basler Kinder gemeinsam fuumlnf Jahre in die Primarschule und drei Jahre in die Sekundarschule gehen waumlhrend die Auf-teilung in parallele leistungsdifferenzierte Schultypen erst danach erfolgen sollte Das Gymnasium so zur nachobligatorischen Schulstufe zu bdquodegradierenldquo galt in der Zeit davor als unsagbar und wurde von der standesbewussten staumldtischen Buumlrgerschaft auch als Affront aufgefasst (S 85) Derartige Beispiele nimmt Felder gekonnt auf und weitet das Blickfeld indem er die historischen Bedingungen aufzeigt wie eine fruumlhe Idee von der Ausschoumlpfung der Begabungsreserven mit Verweis auf das Zuumlrcher Unterrichtsgesetz von 1832 erst Relevanz bekommen konnte um dann in einer einsetzenden Polyphonie von Gegenstimmen abgeschliffen zu werden und in Kleins Abwahl zu enden Mit der- artigen Zugriffen betont der Autor dass neue Konzeptionen im Bildungsbereich nicht in einem Vakuum auftreten Zuvor ereignen sich auf politischen kulturellen und wissen-schaftlichen Feldern Abloumlsungen und Verschiebungen Bildungspolitische Verfechter des Neuen benoumltigen vorgaumlngige leidenschaftliche Debatten und neues Wissen eben Mate-rial das dann weiter umgestaltet als vorbildhaft und traditionsorientiert markiert werden kann so dass etwa ein Schulgesetzentwurf nicht zu sehr als Zaumlsur wahrgenommen wird Der Ausbau der Volksschule nach 1880 wurde durch ein allgemeines Erneuerungsklima beguumlnstigt So wurden Lehrmittel die den Unterrichtsalltag staumlrker praumlgen als Lehrplaumlne (S 121) unentgeltlich abgegeben nur noch Lehrpersonen mit Lehrpatent angestellt repraumlsentative bdquoSchulpalaumlsteldquo ndash welche mit neuen Schulbaumlnken und Duschen im Zeichen hygienischen Fortschritts versehen waren ndash angesichts des exorbitanten Bevoumllkerungs-wachstums errichtet und Spezialklassen fuumlr schwach begabte Kinder eingefuumlhrt (S 134) Die diesen Wandel begleitenden Sozialtechnologien und paumldagogischen Interventionen u a der Aufbau von schulaumlrztlichen und -psychologischen Diensten konnten je nach

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

gesellschaftlichen Kreisen Aumlngste vor der Entchristlichung der Schule oder vor der Dominanz des Kognitiven ausloumlsen

Mit welchen paumldagogischen Maszlignahmen im Unterricht oder institutionell mit (priva-ten) Schulneugruumlndungen nach einer kindgerechten Erziehung gesucht wie mit dem Schulgesetz von 1929 mehr Mitsprache von Lehrpersonen Eltern sowie Schuumllern erzielt wurde und wie in Kriegs- und Krisenzeiten der Schulbetrieb sich veraumlnderte sind Fragen denen in den Kapiteln 7 8 und 9 nachgegangen wird Der Bogen vielgestaltiger Strouml-mungen der Reformpaumldagogik und ihrer Kritiker wird hier weit gespannt Waumlhrend die Prinzipien der Arbeitsschule die Volksschule derart praumlgen konnten dass Handarbeits-unterricht nach 1929 als Pflichtfach in die Volksschule ndash jedoch geschlechtsspezifisch ausgerichtet ndash aufgenommen wurde (S 166) fuumlhrten andere Ausrichtungen zu Gruumlndun-gen von Privatschulen etwa zu den Rudolf-Steiner-Schulen die wiederum Einfluss auf die oumlffentliche Volksschule nahmen Das Schulgesetz von 1929 wird nicht nur einfach mit seinen Ergaumlnzungen zum Schulsystem von 1880 abgehandelt sondern mit der Ver-schiebung des fruumlheren auch in die Bildungspolitik hineinspielenden Gegensatzes von bdquoliberal gegen konservativldquo hin zur bdquoPolarisierung zwischen sozialistisch und buumlrgerlichldquo breit kontextualisiert (S 188) Dem sozialdemokratisch pragmatisch agierenden Erzie-hungsdirektor Fritz Hauser gelang es ein Schulgesetz vorzulegen gegen das kein Refe-rendum ergriffen wurde Aus seiner Sicht hatte die gewuumlnschte Akzeptanz ihren Preis Zwar konnten u a Maturitaumltskurse fuumlr Berufstaumltige eingefuumlhrt die bisher freiwillige Schulsynode in ein staatliches bdquolegales Parlament der Lehrerschaftldquo (S 196) uumlberfuumlhrt Mitspracherechte fuumlr Eltern sowie Schuumller und Schuumllerinnen etabliert und eine Lehrer-bildungsinstitution fuumlr alle Schultypen aufgebaut werden Aber buumlrgerliche Kreise bekaumlmpften weiterhin eine zeitliche Verkuumlrzung der Maturitaumltsschulen zugunsten einer laumlngeren Phase der Volksschuloberstufe resp spaumlteren Sekundarstufe I Die Gymnasien wurden in verschiedene Typen differenziert zu denen nun auch das Maumldchengymnasium als ehemalige Toumlchterschule gehoumlrte Mit dem Blick auf Kriegs- und Krisenzeiten wird deutlich wie der Unterrichtsalltag durch Unterbrechungen und Ausfall gepraumlgt sein konnte Anlaumlsslich der Spanischen Grippe zum Ende des Ersten Weltkrieges fiel die Schule fuumlr acht Wochen aus und ein Schulhaus musste zum Grippespital umgeruumlstet werden (S 203) Als in einer wahrgenommenen Phase der sozialen Not 1922 das Berufs-verbot fuumlr verheiratete Lehrerinnen eingefuumlhrt wurde konnte es sich bis 1965 halten Eindruumlcklich ist wie deutlich die Schulrituale mit Gedenkfeiern Ausfluumlgen und Geschen-ken ab den 1930er Jahren von der Geistigen Landesverteidigung beeinflusst waren (S 209)

Die letzten fuumlnf Kapitel befassen sich mit der Bildungsexpansion in der Nachkriegs-zeit der damit zusammenhaumlngenden Mittelstufenreform der kulturellen Heterogenitaumlt und dem (limitierten) Beitrag der Volksschule zur sozialen Kohaumlsion dem Reformmodell der teilautonomen Lern- und Lebensraumlume der Sonderpaumldagogik zwischen Aussonde-rung und Integration und dem Anschluss der Volksschule des Kantons Basel-Stadt an die gesamtschweizerische Entwicklung seit den 1970er Jahren Um die zweite Haumllfte des 20 und die knapp ersten beiden Jahrzehnte des 21 Jahrhunderts schulgeschichtlich pro-duktiv zu erschlieszligen hat Felder mit dem vom Bevoumllkerungswachstum getriebenen Anstieg der Schuumllerzahlen und beschaumlftigten Lehrpersonen mit der Verlaumlngerung der Schullaufbahnen und der Oumlffnung der Schulangebote fuumlr neue Gruppen sowie mit der Ausschoumlpfung der Begabungsreserven als (wiederkehrendes) Gebot der Stunde einen plausiblen Hintergrund fuumlr eine umfassende Betrachtung geschaffen (S 220) Zur

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weiteren Skizzierung des zeitgenoumlssischen bildungspolitischen Klimas zieht der Autor die Aufbruchstimmung rund um die eidgenoumlssische Abstimmung zum nationalen Frauenstimmrecht aber auch einen ersten Gesamtschulversuch im Kanton Solothurn oder den Cycle drsquoorientation in Genf als Umsetzung hinzu die Volksschuloberstufe durch- laumlssiger zu gestalten Eine neue Subjektkultur fuumlhrte zur Veraumlnderung der Schuumllerrolle traditionelle Unterrichtsformen wurden durch neue ergaumlnzt auch durch die visionaumlr erscheinende Einrichtung von Sprachlaboratorien in den 1960er- und 1970er Jahren Diese versprachen zunaumlchst mit einer neuen Sprachdidaktik effizientes und individua- lisiertes Lernen ndash werden aus der Retrospektive dennoch treffend als dem Zeitgeist ge-schuldeten Ausdruck technokratischer Begeisterung gedeutet (S 234) Die Einfuumlhrung von Versuchsschulen fand zu Beginn der 1970 Jahre in Basel kaum Akzeptanz eine wei-tere Mobilisierung der an Schule beteiligten Akteure reichte lediglich fuumlr eine defensive bdquoinnere Schulreformldquo (S 248) die das Basler Problem der Fruumlhselektion nach vier Pri-marschuljahren unbearbeitet belieszlig Eine durch die Politik angestoszligene Mittelstufen- reform ndash die Einfuumlhrung einer dreijaumlhrigen Orientierungsschule an welche mit dem gym-nasialen Bildungsgang oder mit dem Besuch einer zweijaumlhrigen Weiterbildungsschule angeschlossen werden konnte ndash erschien 1988 zunaumlchst als kompromisshafter Weg fand jedoch auf Dauer keine Akzeptanz (S 264) Wie eine gut gemeinte zusaumltzliche Maszlig-nahme die Einfuumlhrung von Klassen mit erweiterten Musikunterricht von privilegierten Eltern zur Distinktion gegenuumlber Migrationsfamilien die weniger Naumlhe zur schweizeri-schen Musikkultur aufwiesen obstruktiv genutzt wurde und so die weitere Erosion der neuen Orientierungsschule vorantrieb zeigt Felder feinsinnig auf Damit regt der Autor zum weiteren Nachdenken uumlber Bildungsreformen an die Chancengerechtigkeit in einer integrativ gedachten Schulform anpeilen und trotzdem soziale Selektionen ohne recht- lich definierte Leistungskriterien nach sich ziehen (S 270) Felders eingangs erfolgter Hinweis auf den politisch verbraumlmten und sbquoverbranntenlsquo Begriff der Volksschule an der Schwelle zum 20 Jahrhundert scheint sich ebenfalls als weiterfuumlhrend hinsichtlich des Begriffs bdquoVersuchsschuleldquo zu Beginn des 21 Jahrhunderts zu bestaumltigen Um Detailliert-heit bemuumlht hebt er hervor dass die Schulgesetzgebung oftmals jahrelang bewaumlhrter Praxis folgte und verweist auf die seit 2010 bestehende Moumlglichkeit im Kanton Basel-Stadt eine bdquoErfahrungsschuleldquo einzurichten wie dies inzwischen mit einem befristeten Projekt geschehen ist das altersdurchmischte Klassen und offene Lernateliers vorsieht (S 310)

Insgesamt widersteht das Uumlberblickswerk Felders uumlberzeugend der Versuchung eine unkritische Erfolgsgeschichte der Volksschule zu leisten um etwa die jeweiligen reform-skeptischen Akteure als Statisten nachtraumlglich in das bereits feststehende Bild zu inte-grieren Der Autor wendet sich gegen vorschnelle Synthesen und weicht dem Eindruck eines geschlossenen Modells von Schulentwicklung aus Auch wenn Uumlberblicksdar- stellungen zur vergangenen Lehrpersonenbildung gehoumlrten handelt es sich mit dieser Studie nicht um eine sbquoSchulmaumlnnerlehrelsquo die etwa ein Berufsverstaumlndnis zukuumlnftig Unterrichtender stabilisieren und in eine Richtung leiten moumlchte Vielmehr legt Felder eine materialnahe und streckenweise mikroskopische Beschreibung vor die auch viel Neues aus bildungspolitischen und schulkulturellen Spannungen und zeitgenoumlssische Wahrnehmungen der untersuchten Perioden herausdestilliert das aus aktuellen Schul- debatten nicht einfach ableitbar ist Widerspruumlche in ihrer Zeit werden betont ohne eine Gegengeschichte von eigensinnigen oder widerstaumlndigen Alternativen anzustreben Mit einem beachtlichen Rechercheaufwand wird in der Annaumlherung an die jeweilige

736 Buchbesprechungen

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historische Phase an Optionen erinnert und somit die Zukunftsoffenheit schulpolitischer Fragen im Bewusstsein gehalten Auch wenn der Aufbau des Werkes grundsaumltzlich einer Chronologie verpflichtet ist brechen immer wieder gekonnt thematische Schwerpunkt-setzungen ndash wie etwa die Geschlechterspezifik konfessionelle Bildung Privatschulen oder das heil- und sonderpaumldagogische Angebot ndash vorschnell imaginierte zeitliche Stringenzen So wird die politikgeschichtlich getriebene Tendenz schulhistorische Epochenabgrenzungen seit der zweiten Haumllfte des 19 Jahrhundert entlang der Amts- perioden von jeweiligen Erziehungsdirektoren vorzunehmen gleichsam selbstreflexiv bearbeitet auch wenn eine gewisse Bewunderung fuumlr die den Erziehungsdirektoren Klein und Hauser zugeschriebenen Leistungen zu bemerken ist Die Einteilung einer Bil-dungsgeschichtsschreibung mit klar abgrenzbaren Zeitabschnitten wird abgeschwaumlcht zugunsten einer Darstellung mit ausgefransten Raumlndern unerwarteten Bruumlchen und holprigen Uumlbergaumlngen

Zum Schluss seien noch wenige Kritikpunkte genannt die auf die Auslotung weiteren Potentials dieses verlaumlsslichen Zugriffs zielen Das von Felder herangezogene vielfaumlltige Material haumltte es zugelassen noch deutlicher von den Versuchen zu berichten politische Entscheidungen durch wissenschaftliche zu ersetzen Andeutungen hierzu finden sich durchaus im Buch z B hinsichtlich des fruumlhen Sprachenlernens Der problematische Gebrauch von (Bildungs-) Wissenschaften als Wahrheitsinstanz in der Bildungspolitik und das Aufkommen von alternativen Epistemologien in einigen reformpaumldagogischen Ansaumltzen sowie die damit zusammenhaumlngende Abkehr von Wissenschaftsexpertise haumltte man als Untersuchungsgegenstand das Volksschulfeld in seinem Gewordensein und als Verhandlungsort gesellschaftlicher Uumlberzeugungen noch schaumlrfer konturieren koumlnnen Diese gewisse Unschaumlrfe gegenuumlber der Frage wie das weite Feld der Volksschule durch verschiedene Akteure Wissen und Kulturen gemeinsame Deutungen scharfe Konflikte und kaum hinterfragte Alltagsroutinen angetrieben wurde und wird koumlnnte Anlass sein die Studie Felders der viele Leserinnen und Leser zu wuumlnschen sind als Ausgangspunkt fuumlr weitere Forschungsbewegungen zu sehen

Andreas Hoffmann-Ocon

Isabell ARNSTEIN Die Geschichte der Zentralgewerbeschule Buchen (Zwischen Neckar und Main Schriften des Vereins Bezirksmuseum Buchen eV Bd 36) Baden-Baden Tectum-Verlag 2019 160 S Abb geb EUR 36ndash ISBN 978-3-8288-4334-9

Ein wenig widersprechen Titel und Abstract der vorliegenden Publikation einander schon wenn zu Beginn des letzteren formuliert wird die Studie gehe bdquoauf die Entwick-lung des Gewerbeschulwesens in Baden ein und leg[e] dabeildquo (lediglich) bdquoein besonde-res Augenmerk auf die Entwicklung der heutigen Zentralgewerbeschule Buchen (ZGB)ldquo (S XIII) Doch die Frage ob man es nun mit einer klassischen Schulchronik zu tun hat wie der Titel indiziert oder mit einer exemplarischen historischen Untersuchung wie es das Abstract nahelegt muss vielleicht gar nicht entschieden werden ndash zumal die doppelte Ausrichtung als Zielsetzung und wesentliche Staumlrke des Buches zugleich verstanden wer-den darf So gelingt es Arnstein die Schulgeschichte durch zwei einfuumlhrende Abschnitte zur historischen Situation im Groszligherzogtum Baden um die Entstehungszeit der Schule Mitte des 19 Jahrhunderts herum (S 35) sowie zur Entwicklung der gewerblichen Bil-dungsidee vom Mittelalter bis zur Institutionalisierung der Gewerbeschule in Baden (S 7ndash22) nicht nur zu kontextualisieren sondern sie schaumlrft auch immer wieder den Blick fuumlr Besonderheiten Chancen und Probleme dieses innovativen Konzepts das die

737Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

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Autorin nicht nur aufgrund ihrer Recherchen sondern auch durch die taumlgliche Arbeit als Lehrkraft der ZGB aus eigener Anschauung genauestens kennt

Der Hauptteil ihrer Studie der dem letztlich gewaumlhlten Titel nun vollstaumlndig entspricht gliedert die Schulgeschichte in klassischer chronologischer Weise nach Gruumlndungsphase Anfangsjahren und der Erlangung der Selbstaumlndigkeit bevor dann weltgeschichtliche Ereignisse wie der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik die Zeit des National- sozialismus und der Zweite Weltkrieg die Schulentwicklung auch in Buchen maszliggeblich praumlgten schlieszliglich leiten die Betrachtungen zur Wiedereroumlffnung der Schule nach dem Krieg der Eingliederung in die Schullandschaft des neugegruumlndeten Bundeslandes Baden-Wuumlrttemberg und einer als bdquoPhase der Expansionldquo titulierten Zeitspanne ab den Siebzigerjahren zur Gegenwart uumlber (S 23ndash95) Der Anhang versammelt dann etwas heterogenes Material ndash eine chronologische Liste der Schulleiter Zeitzeugen- und Erfahrungsberichte sowie Anekdotisches ndash umfasst aber auch einen Quellenteil in dem zunaumlchst die wichtigsten Erlasse zur Gewerbeschule im Baden des 19 und fruumlhen 20 Jahrhunderts abgedruckt werden bevor die bdquoQuellen zur Geschichte der Zentral- gewerbeschule Buchenldquo neben die Satzung der Schule aus dem Jahr 1924 die Abschieds-rede des langjaumlhrigen 1994 pensionierten Schulleiters Erhard Broumltel stellen

Im ersten Abschnitt legt Arnstein in einer komprimierten Darstellung der badischen Geschichte im 19 Jahrhundert den Fokus auf die Reformbestrebungen eines der moder-neren deutschen Kleinstaaten in den fuumlr ihre Untersuchung zentralen Bereichen der Oumlkonomie und des Bildungswesens Indem die Verfasserin betont das Groszligherzog- tum sei in dieser Zeit zum bdquoVorreiter in der Hebung des Bildungsniveaus im Bereich des Gewerbesldquo geworden (S 4) stellt sie dabei strategisch geschickt die exemplarische Bedeutung ihrer Studie fuumlr die Entwicklung des deutschen Gewerbeschulwesens ins- gesamt heraus Der zweite Abschnitt setzt dann zunaumlchst in der fruumlhen Neuzeit an und referiert einige wichtige Entwicklungen des allgemeinen Bildungsgedankens waumlhrend der Zeit des Renaissancehumanismus und der Reformation Dabei werden beide Be- wegungen in ihrer Relevanz fuumlr die ideelle Begruumlndung bzw die institutionelle Etab- lierung neuer schulischer Konzepte gewuumlrdigt bevor Arnstein sich den weiteren Aus- formulierungen und Erweiterungen dieser Konzepte im 18 Jahrhundert zuwendet die dann im 19 Jahrhundert zur Einrichtung gewerblicher Sonntags- und Winterschulen fuumlhrten

Nach dieser ersten Verortung ihres Themas in den grundsaumltzlichen Bildungsdiskursen der Zeit wendet sich Arnstein dem fuumlr die Geschichte der gewerblichen Schulbildung zentralen Konflikt zwischen dem uumlberkommenen Zunftwesen und staatlichen Vorstel-lungen von oumlkonomischer Effizienz zu die einen weiten Bogen vom (eher kursorisch behandelten) Mittelalter uumlber die wichtigen Reformen des bereits vom Geist einer fruumlhen Aufklaumlrung gepraumlgten Reichsgesetzes von 1731 bis in die Gruumlndungszeit der ZGB in der Mitte des 19 Jahrhunderts spannt Dabei stehen die Entwicklungen in Baden zunehmend im Vordergrund sodass die Betrachtung der Bestrebungen im Umfeld des spaumlteren Staats-ministers Carl Friedrich Nebenius und der Polytechnischen Hochschule Karlsruhe uumlber den Gruumlndungserlass der badischen Gewerbeschulen von 1834 unmittelbar zum dritten Abschnitt der Untersuchung uumlberleitet

Die Geschichte der ZGB beginnt mit der gleichzeitigen Einrichtung einer houmlheren Buumlr-gerschule und einer Gewerbeschule in Buchen Arnstein zeichnet den ndash insbesondere aufgrund der vorerst ungeklaumlrten Finanzierung ndash schwierigen Gang der staumldtischen Initiatoren durch die Behoumlrden des badischen Staatsapparats von der ersten Eingabe im

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Jahr 1844 bis zur endguumlltigen Gruumlndung am 6 Dezember 1847 nach und beschreibt die grundsaumltzliche Funktionsweise der neugegruumlndeten Schule Den naumlchsten Schritt in der Entwicklung der Gewerbeschule stellt die vom Innenministerium geforderte Trennung der Gewerbeschulen von den Houmlheren Buumlrgerschulen dar der Erlass von 1851 wurde in Buchen bis 1853 umgesetzt wenn auch eine Verflechtung der beiden Schulen durch das teils identische Lehrpersonal noch bis 1872 fortbestand Detaillierte Informationen zu Stundentafel Schulgeld Koordination von Unterricht und Arbeit der Lehrlinge im Be-trieb sowie Schuumllerzahlen vermitteln hier einen differenzierten Einblick in den Alltag an der Buchener Gewerbeschule Im Mittelpunkt des naumlchsten Abschnitts stehen erneut zwei wichtige Gesetze aus den Jahren 1868 und 1872 die im Umfeld der Reichsgruumlndung entscheidende Bedeutung fuumlr die badischen und deutschen Gewerbeschulen erlangen sollten Insbesondere im Gefolge der Gewerbeordnung von 1872 etablierte sich die Ge-werbeschule im Kontext einer gesamtdeutschen Konsolidierung dieses Schulkonzeptes ndash eine Entwicklung der Arnstein durch eine abwechselnde Betrachtung der reichsweiten und regionalen Tendenzen gerecht wird Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war gepraumlgt von ersten Zentralisierungstendenzen aus denen die Standort Buchen und Wallduumlrn gestaumlrkt hervorgingen waumlhrend kleinere und schlechter ausgestattete Schulorte wie Hettingen aufgegeben wurden Hier uumlberzeugt Arnsteins Darstellung in besonderem Maszlige durch eine mithilfe einer Vielzahl von Quellen ndash Statistiken Gesetzestexten ver-schiedenen Zeitdokumenten ndash erreichte Anschaulichkeit die zudem stets im Blick behaumllt inwiefern die damals eingeleiteten Veraumlnderungen in der gewerblichen Bildung noch heute nachwirken

Waumlhrend der Herrschaft der Nationalsozialisten unterlag das Schulwesen wie alle Bereiche des taumlglichen Lebens einer engmaschigen staatlichen Kontrolle ein Erbe der Zeit das Arnstein besonders hervorhebt ist die pauschale Bezeichnung der verschiedenen Bildungsmoumlglichkeiten im gewerblichen Bereich als bdquoBerufsschuleldquo (S 50) In den Kontext von Entnazifizierungsmaszlignahmen und der Integration zahlreicher Heimat- vertriebener stellt Arnstein dann die Darstellung der Nachkriegszeit die in Buchen zunaumlchst von einer schnellen Wiedereroumlffnung der Schule gepraumlgt war Die bereits 1947 erfolgte und durch Aktenmaterial belegte Erhebung zur Zentralgewerbeschule mit den beiden Standorten Buchen und Wallduumlrn ndash zu Lasten der nach und nach geschlossenen Gewerbeschulen in Mudau Adelsheim Hardheim und Eubigheim ndash zunaumlchst noch als bdquoVersuchsmaszlignahmeldquo (S 55) wird in die Darstellung der oumlkonomischen Gesamtstruktur Buchens integriert wobei insbesondere auf die Einrichtung von Fachklassen eingegangen wird die eine enorme Qualitaumltssteigerung der schulischen Ausbildung und damit wieder eine Staumlrkung des oumlrtlichen Gewerbes bewirkt habe Der Abschnitt zur baulichen Erwei-terung der Schule seit den Fuumlnfzigerjahren beschreibt dann eine quantitative wie quali-tative Weiterentwicklung der Schule auch der naumlchste Abschnitt der eigentlich die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen seit der Gruumlndung des Bundeslandes Baden-Wuumlrttem-berg behandelt und insbesondere die Maszlignahmen zur Schaffung von Akzeptanz in der Bevoumllkerung fuumlr dieses neue politische Konstrukt in den Mittelpunkt ruumlckt geht schlieszlig-lich wieder in die Beschreibung des strukturellen und infrastrukturellen Wandels der Schule uumlber

Dagegen veraumlnderten sich seit den Siebzigerjahren im Zuge der Einfuumlhrung neuer Lehrplaumlne und der Einrichtung neuer Schularten wie der Berufsfachschule verschiedener Richtungen (Metall Koumlrperpflege Holztechnik Elektrotechnik Fahrzeugtechnik) oder des Berufskollegs insbesondere die gelehrten Inhalte daneben werden aber weiter auch

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bauliche und personelle Veraumlnderungen die Einfuumlhrung der EDV verschiedene Zerti- fizierungen der Schule und andere Gegenstaumlnde der Gesamtlehrerkonferenzen deren Protokolle hier akribisch ausgewertet worden sind in einer tendenziell eher chrono- logisch und dadurch manchmal etwas unsystematisch wirkenden Abfolge praumlsentiert Im letzten Abschnitt zur Gegenwart der Schule werden die an der ZGB angebotenen Schularten aufgelistet und kurz charakterisiert wobei dem Leser u a die Aufschluumlsselung manch krude klingender Abkuumlrzung geboten wird ndash oder haumltten Sie gewusst dass sich hinter bdquo1BKFHTldquo das bdquoEinjaumlhrige Berufskolleg Technikldquo verbirgt dessen erfolg- reiche Absolvierung zur Fachhochschulreife fuumlhrt Mit einer Namensliste des aktu- ellen Kollegiums und einem beinahe ebenso aktuellen Kollegiumsfoto (aus dem Jahr 2016) schlieszligt der darstellende Teil der Untersuchung dem noch ein Anhang mit Quel-lenteil folgt

Angesichts der Tatsache dass eigentlich kein Jubilaumlumsjahr der Schule begangen wird ist es umso bemerkenswerter mit welchem Elan und mit welcher Bereitschaft zur Investition von (Frei-)Zeit und Energie die Verfasserin hier eine historische Darstellung erarbeitet hat wie sie sich jede Bildungseinrichtung im Kampf um oumlffentliche Praumlsenz und gegen ndash im Schlusswort beklagte (vgl S 93) und wohl nur auf dem Wege verstaumlrkten Marketings umzukehrende ndash sinkende Schuumllerzahlen nur wuumlnschen kann Einen Eindruck von der Bedeutung einer solchen Studie fuumlr die mit der Schule verbundenen Menschen der Region vermitteln auch die beiden geradezu enthusiastischen Gruszligworte des aktuellen Schulleiters Konrad Trabold und des Landrats Achim Broumltel dessen Vater die Geschicke der ZGB ein Vierteljahrhundert lang gelenkt hat Umfangreiches Bildmaterial insbeson-dere zur Baugeschichte der Schule seit der Nachkriegszeit aber auch einzelne Fotografien aus dem 19 Jahrhundert sowie zu aktuellen Projekten und Entwicklungen erhoumlhen die Anschaulichkeit des Dargestellten Dass die Publikation praktisch keine syntaktischen oder sonstigen grammatikalischen Fehler aufweist und auch orthographisch nichts zu be-anstanden ist sollte eigentlich selbstverstaumlndlich sein hebt das Buch aber in der heutigen Zeit haumlufig fehlender Lektorate aus der breiten Masse deutlich heraus und rundet den positiven Gesamteindruck ab

Heiko Ullrich

Gabriela SIGNORI (Hg) Inselkloumlster ndash Klosterinseln Topographie und Toponymie einer monastischen Formation (Studien zur Germania Sacra NF Bd 9) BerlinBoston De Gruyter Akademie Forschung 2019 VI 254 Seiten Abb Kt geb EUR 11995 ISBN 978-3-11-064266-7

Der vorliegende Sammelband widmet sich der Topographie und Toponymie von bdquoInselkloumlstern ndash Klosterinselnldquo und ist das Ergebnis einer internationalen Tagung die unter gleichnamigem Titel vom 27 bis 28 Januar 2017 auf der Insel Reichenau statt- gefunden hat Untersuchungsgegenstand dieser Publikation ist ndash wie die Herausgeberin in einer kurzen Einleitung (S 1ndash12) erlaumlutert ndash grundsaumltzlich die Verbindung von Moumlnch-tum und Natur beziehungsweise die Frage inwieweit bei fruumlhen Klostergruumlndungen be-wusst Orte die bdquoGrenzen zwischen Natur und Kultur markierenldquo (S 3) gewaumlhlt wurden Daneben geht es um die Symbolik der Insellage (Ausgangspunkt fuumlr Mission oder Welt-flucht) Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Klosterinseln bzw zwischen den Inseln und ihren GruumlndernStiftern Ziel der Publikation ist aufgrund der bisherigen For-schungslage weniger eine systematische Erforschung dieser Fragestellung als zunaumlchst ein europaumlischer Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

740 Buchbesprechungen

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Der erste Beitrag von Anne-Marie HELVEacuteTIUS beschaumlftigt sich mit den ersten Kloster-inseln Galliens (S 13ndash38) insbesondere mit den Anfaumlngen der Abtei Leacuterins auf der Insel Saint-Honorat in Suumldfrankreich Hanna NUumlLLEN (S 39ndash63) untersucht im Anschluss daran die Definition und Klassifizierung von Inseln in der Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum von Beda Venerabilis und geht dabei besonders auf die fruumlheste Phase der angelsaumlchsischen Inselkloumlster ein die sie in zwei Gruppen ndash eine noumlrdliche Gruppe mit Iona Lindisfarne Hartlepool den beiden Eremitagen Farn Island und St Herbert sowie dem iroschottischen Kloster Inishbofin und eine suumldliche Gruppe mit Ely Chertsey Selsey sowie Bosanham ndash unterteilt Im folgenden Beitrag fragt Janet BURTON nach der zeitgenoumlssischen Wahrnehmung bezuumlglich Angemessenheit und Zweckmaumlszligigkeit von Inselkloumlstern im mittelalterlichen England (S 65ndash81) und kommt dabei zu der interessanten Feststellung dass Inselstandorte bevorzugt fuumlr weibliche Religiose aus dem Aspekt der Isolation gewaumlhlt wurden waumlhrend sie fuumlr Zisterzienser oder Regu- larkanoniker nicht in Frage kamen In bewusster Abgrenzung zur englischen Situa- tion beschaumlftigt sich Karen STOumlBER mit sechs Inselkloumlstern im mittelalterlichen Wales (S 83ndash99) die in den nach der normannischen Eroberung entstandenen historiographi-schen Quellen beschrieben werden und kann dabei herausarbeiten dass es sich bei vier von sechs Kloumlstern um Augustinerchorherren handelt Der Studie von Annette KEHNEL (S 101ndash120) die sich den mittelalterlichen Inselkloumlstern in Irland zuwendet ist im Anhang eine Liste mit wichtigen Informationen zur Entstehungszeit und Ordenszugehouml-rigkeit der irischen Inselkloumlster beigefuumlgt Im Kontrast zu den vorherigen Beitraumlgen zum angelsaumlchsischen Raum steht der Untersuchungsbefund von Anne DIEKJOBST zu den frie-sischen Kloumlstern im Mittelalter (S 121ndash148) da sich dort fuumlr das 1213 Jahrhundert keine Inselkloumlster nachweisen lassen Zwar gab es in Friesland Inseln die im Kloster- besitz standen doch aufgrund der durch die extreme Gefaumlhrdungslage gepraumlgten Wahr-nehmung dieser Gebiete kam es nicht zur Ansiedlung monastischer Gemeinschaften auf friesischen Inseln Ganz anders gestaltet sich hingegen die Situation auf den Bodensee-inseln Reichenau und Mainau die fuumlr die mittelalterlichen Zeitgenossen durchaus als geeignete Klosterstandorte erachtet wurden wie Harald DERSCHKA im Anschluss (S 149ndash165) zeigen kann Der Beitrag von Johannes LANG ist der Entstehung altbayeri-scher Inselkloumlster gewidmet von denen er exemplarisch Frauen- und Herrenchiemsee Woumlrth im Staffelsee Maria Woumlrth Seeon und Houmlglwoumlrth behandelt (S 167ndash183) Einen ganz anderen Aspekt kann Hedwig ROumlCKELEIN anhand der Klosterinsel Stuben aufzeigen (S 185ndash205) Das Augustinerchorfrauenstift Stuben das auf einer Halbinsel bei Bremm an der Mosel gelegen war schien trotz der Insellage kein Ort der Isolation sondern ein wichtiges Bindeglied fuumlr die Verbreitung der Springiersbacher Reform und eine beliebte Pilgeranlaufstelle gewesen zu sein Der abschlieszligende Beitrag dieses Sammelbandes von Uwe ISRAEL widmet sich unter dem Titel bdquoKloumlster-Archipel in der Lagune ndash ein Schutz-schild fuumlr Venedigldquo (S 207ndash224) der Frage inwieweit man im Mittelalter versuchte durch den Kranz von heiligen Inseln um die Lagunenstadt die sich im Laufe der Jahre von zunaumlchst isolierten Klosterinseln durch Aufschuumlttungen mit dem Stadtkoumlrper ver-bunden hatten Venedig zur bdquogottgewollten Stadt im Wasserldquo als Abbild des himmlischen Jerusalems zu stilisieren

Dieser sorgfaumlltig konzipierte Tagungsband zeigt eindrucksvoll die Symbolkraft von Inseln und die zeitgenoumlssischen Motivationen fuumlr die Insellage von Kloumlstern auf ndash wie beispielsweise die bewusste Isolation von allem Irdischen Ruumlckzug in die Askese Nach-ahmung der Wuumlstenvaumlter oder Mission Durch den europaumlischen Vergleich verschiedener

741Orden Kloumlster und Stifte

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horizonten und in verwandten Gelaumlndereliefsldquo (S 13) Von der Burg Stallegg berichtet Weis beispielsweise bdquoOb ein Bergfried vorhanden war ein Palas eine Vorburg eine Wehrmauer ndash wir wissen es nichtldquo (S 113) Dennoch sind alle diese Bauteile auf der Rekonstruktionszeichnung drei Seiten davor dargestellt

Etliche Befunde und Darstellungen des Bandes sind fragwuumlrdig ndash hier einige Beispiele Am Weg von Huumlfingen nach Riegel vermutet Weis bdquoRoumlmertuumlrmeldquo die der bdquoReiselfinger Dorflehrer Theodor Laubenbergerldquo am Standort der andernorts im Band behandelten Burgen Stahleck und Tanneck bereits im Jahr 1908 angenommen hatte (S 42 f) Dass in den uumlber 100 Jahren seither keinerlei Uumlberreste oder Spuren dieser Tuumlrme aufgefunden werden konnten ficht Weis nicht an bdquoDas Fehlen solcher Beweise ndash nach denen auch noch nie gesucht wurde ndash beweist natuumlrlich noch lange nicht das Fehlen an sichldquo Diese Argumentation ist wohlfeil Seine bdquoSpekulationldquo uumlber die Roumlmertuumlrme versucht Weis mit der Herleitung des Namens der Freiburger Patrizierfamilie Turner von einem Roumlmerturm zu unterfuumlttern den Joseph Bader im Jahr 1866 auf der Schwarzwaldhoumlhe Thurner annahm In der Freiburger stadtgeschichtlichen und burgenkundlichen Literatur besteht allerdings schon seit langem Konsens dass der Name der Familie von einem ndash mittel- alterlichen ndash Turm im ehemals im heutigen Stadtteil Wiehre gelegenen Turnsee herzu-leiten ist

Die Burg Wiesneck zaumlhlt zu den aumlltesten historisch belegten Burgen am Oberrhein Ihre erste Erwaumlhnung findet sich zum Jahr 1079 Die Entstehung der Burg wird zu einem nicht genauer eingrenzbaren Zeitpunkt im 11 Jahrhundert vor diesem Datum angenom-men wobei insbesondere archaumlologische Funde aus dieser Entstehungsphase bislang feh-len Nachdem Weis wohl auf Grundlage der einschlaumlgigen Literatur die Geschichte der Burg in Eckdaten nachzeichnet (S 54 ff) widmet er sich der Frage nach ihrem bdquowahren Alterldquo (S 56) Ohne Naumlheres auszufuumlhren schreibt er von vielen Indizien die fuumlr eine bdquofraumlnkische alemannische oder gar keltische Vergangenheit des Burgplatzesldquo spraumlchen Im Kern argumentiert er dass es in jenen Zeiten bereits Wege uumlber den Schwarzwald ge-geben habe die von der Burg Wiesneck aus bereits damals geschuumltzt worden sein koumlnnten (bdquoDie Burg Wiesneck haumltte dazu an der richtigen Stelle gestandenldquo) und bringt als Er-bauer bdquokleinadelige Pioniereldquo ins Gespraumlch die hier die Funktion der Schutzherren uumlber-nommen haumltten

Unter dem Namen bdquoKasteleckldquo fuumlhrt Weis eine kleine Motte bei Oberried ein (S 59 ff) die jedoch unter diesem Namen in den Quellen gar nicht auftaucht Das Toponym gehoumlrt zu einer Bergnase gegenuumlber der in der Ebene gelegenen Burgstelle und in ca 500 m Entfernung In einer nicht nachvollziehbaren Argumentation vermischt er den Flurnamen ein in der Literatur genanntes festes Haus das bei diesem Kasteleck gelegen haben soll und eben die namenlose Motte bei Oberried Zudem plaumldiert Weis auch hier fuumlr ein deutlich houmlheres Alter als bislang angenommen Hierzu fuumlhrt ihn die Annahme eines Wegenetzes auf den Hochschwarzwald wie bereits bei der Burg Wies-neck postuliert das von der Motte aus geschuumltzt werden sollte

Auf den Anhoumlhen zwischen dem Houmlllental und dem Weilersbacher-Zastlertal gibt es die Toponyme Roteck und Schwarzeck Wegen in der Gegend gelaumlufiger Sagen nimmt Weis auch hier die Existenz zweier Burgen an Obwohl es keinerlei archaumlologische oder historische Quellen gibt wird auch diesem Artikel eine Rekonstruktion einer der beiden Burgen vorangestellt (S 67) Zudem verunsichert es Weis nicht dass in der Sage die vom Schwarzeck uumlberliefert ist gar keine Burg vorkommt Die Sage vom Roteck ndash hier gibt es immerhin eine stereotype Erzaumlhlung von einem grausamen Burgherrn der mitsamt

756 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Inselkloumlster oder Klosterinseln koumlnnen dem Leser zahlreiche teilweise auch unerwartete Perspektiven eroumlffnet werden Abgerundet wird diese Publikation durch ein Personen- und Ortsregister (S 231ndash254) sowie durch einen Tafelteil der insgesamt 22 qualitativ hochwertige Abbildungen umfasst

Julia Becker

Jutta KRIMM-BEUMANN (Bearb) Die Benediktinerabtei St Peter im Schwarzwald (Germania Sacra Dritte Folge Bd 17 Die Bistuumlmer der Kirchenprovinz Mainz Das Bistum Konstanz Bd 7) BerlinBoston De Gruyter Akademie Forschung 2018 XV 633 S Abb Kt geb EUR 16995 ISBN 978-3-11-063082-4

Sieben Jahre nach der Edition der Guumlterverzeichnisse des Klosters St Peter im Schwarzwald hat Jutta Krimm-Beumann eine groszlige Monographie uumlber diese jahrhun-dertelang bedeutsame religioumlse Institution des deutschen Suumldwestens vorgelegt Die gruumlndliche Bearbeitung folgt dabei dem stark ausdifferenzierten Schema der Germania Sacra Im einleitenden Teil geraten nach der Uumlbersicht zu Quellen und Literatur zunaumlchst die Denkmaumller in den Blick und dabei in erster Linie Kirche und Abteigebaumlude Hierzu aumluszligert Krimm-Beumann die ansprechende Vermutung dass die zeitlich eng getakteten Weihedaten 1093 1113 und 1148 nicht jeweils neue Gebaumlude betrafen sondern eher ein sukzessiv wachsender Kirchenbau anzunehmen ist (S 17 f) In der historischen Uumlbersicht bringt sie eine bislang nicht beachtete Quellennotiz zu den Umstaumlnden der Verlegung der Weilheimer Propstei an den Rand des suumldlichen Schwarzwalds ins Spiel (S 62) Im Uumlbrigen ist der historische Abriss recht kurz gehalten mit zahlreichen Verweisen auf den personengeschichtlichen Teil Das macht die Lektuumlre mitunter etwas muumlhsam ist aber dem Gesamtkonzept der bdquohistorisch-statistischen Beschreibung der Kirche des Alten Reichesldquo wie der fruumlhere Reihentitel der Germania Sacra lautete geschuldet

Der folgende Abschnitt bdquoVerfassung und Verwaltungldquo beschreibt die Aumlmterstruktur der Institution wie ihr Verhaumlltnis zu kirchlichen und weltlichen Herrschaftstraumlgern Wenn S 83 davon die Rede ist dass die bdquoMehrzahl der Sanpetriner Aumlbte [hellip] soweit sich das nachweisen laumlsst buumlrgerlicher Herkunftldquo war so trifft dies aufs Ganze gesehen sicher zu doch waumlre zu beruumlcksichtigen dass bis ca 1300 Nachrichten zur sozialen Herkunft der Aumlbte fast voumlllig fehlen Abt Rudolf von Reutenhalden im spaumlten 12 Jahrhundert war jedenfalls adliger Abstammung (S 356) Sehr informativ und gelungen ist die ausfuumlhr- liche Passage uumlber das Verhaumlltnis des Klosters zu Reich und Landesherrn (S 121ndash135) Hier geht es um die Vogtei ausgehend von den Zaumlhringern deren distanziertes Verhaumlltnis zu ihrem bdquoHausklosterldquo ab der zweiten Haumllfte des 12 Jahrhunderts hervorgehoben wird bis zu den spaumlteren komplizierten Verhaumlltnissen in der fruumlhen Neuzeit mit dem doppelten Schutzschirm von Reichsunmittelbarkeit und Landsaumlssigkeit den die Abtei je nach Interessenlage zu nutzen suchte

Auf das Kapitel bdquoReligioumlses und geistiges Lebenldquo mit einem Uumlberblick u a zu den An-niversarstiftungen zur Klosterschule seit dem spaumlten Mittelalter zum kloumlsterlichen Gym-nasium im 18 Jahrhundert zur wissenschaftlichen Ausbildung der Moumlnche und zu der aus Sorge um die Daseinsberechtigung gepflegten Historiographie im 18 Jahrhundert fol-gen dann die beiden Abschnitte bdquoBesitzldquo (S 165ndash339) und bdquoPersonallistenldquo (S 341ndash587) die den Hauptanteil des Werkes ausmachen Nach einem instruktiven Abriss zu Erwerb und Entwicklung des Besitzes dessen Entwicklung von Krisenphasen und Neuauf-schwung im 17 Jahrhundert infolge der Inkorporation des Priorats St Ulrich und der Propstei Soumllden gepraumlgt ist werden die Besitzungen nach Regionen gegliedert alphabe-

742 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 742

Diese gut mit Abbildungen und Plaumlnen ausgestattete Publikation vermag den derzei-tigen Stand der Burgenforschung naumlmlich ihre interdisziplinaumlre und diachrone Leistungs-faumlhigkeit ihre Themen- und Methodenvielfalt aber auch ihre Probleme gut bewusst zu machen Sie verdient daher Aufmerksamkeit weit uumlber dieses Fachgebiet hinaus ebenso auch raumlumlich weit uumlber die im Titel suggerierte Beschraumlnkung auf die Pfalz

Volker Roumldel

Roland WEIS Burgen im Hochschwarzwald Ostfildern Thorbecke 2019 240 S Abb

geb EUR 29ndash ISBN 978-3-7995-1368-5

Das von dem Neustaumldter Autor und Historiker Roland Weis vorgelegte Buch uumlber Burgen im Hochschwarzwald behandelt das Gebiet zwischen dem Dreisambecken im Westen der Schluchsee-Gegend im Suumlden dem Uumlbergangsbereich von Schwarzwald und Baar im Osten und bis Voumlhrenbach im Norden Hier liegt ein Interessenschwerpunkt des Autors der neben etlichem anderen bereits mehrere Baumlnde uumlber den Hochschwarzwald mit der zeitlichen Ausdehnung von der Praumlhistorie bis heute aber auch mehrere Hoch-schwarzwald-Wanderfuumlhrer und -Kriminalromane veroumlffentlicht hat Der Band will mit bdquopopulaumlrwissenschaftlichem Ansatz als Lese- und Einfuumlhrungsbuch verstanden seinldquo Zur leichteren Lesbarkeit wurde auf Fuszlignoten im Text verzichtet wobei der Autor den bdquowissenschaftlichen Anspruchldquo dadurch nicht geschmaumllert sieht (S 15) Der Band ist mit einem Literaturverzeichnis und einem Orts- und Personenregister ausgestattet

Eine definitorische Eingrenzung was eine Burg ist wird nicht vorgenommen Daher werden vielfaumlltige Formen von Befestigungen und repraumlsentativen Gebaumluden behandelt die in der Fachliteratur gewoumlhnlich unterschieden werden Das chronologisch geordnete Buch beginnt mit praumlhistorischen Anlagen die bis ca 800 n Chr datiert werden gefolgt von weiteren zeitlichen Kategorien bdquobis 1000 nach Christusldquo bdquobis 1300 nach Christusldquo bdquobis 1500 nach Christusldquo und bdquobis heuteldquo (Kartierung auf S 8 f) Unter den aumlltesten Anlagen finden sich eisen- und voumllkerwanderungszeitliche darunter Tarodunum im Drei-samtal und das Roumlmerkastell in Huumlfingen Die drei mittleren zeitlichen Kategorien behandeln mittelalterliche Adelsburgen wobei besonders bei den aumllteren die zeitliche Einreihung mitunter deutlich von der bisherigen burgenkundlichen Literatur abweicht die keinen Anlass sieht fuumlr diese Burgen eine Entstehung vor dem mittleren 11 Jahrhun-dert anzunehmen In der letzten Kategorie werden vier Schloumlsser bzw Amtshaumluser behandelt von denen drei auf aumlltere herrschaftliche Gebaumlude folgten

Der Band behandelt insgesamt 52 Anlagen denen fast durchgaumlngig Fotografien des Autors beigegeben werden Diese sind mal mehr mal weniger aussagekraumlftig was mit der teils schwer fotografierbaren Situation vor Ort zu tun haben mag Die vom Autor in den Bildern festgestellten Befunde koumlnnen vom Betrachter nicht immer nachvollzogen werden Eigene Grundrisszeichnungen die diesbezuumlglich vielleicht haumltten Abhilfe schaf-fen koumlnnen fehlen Ebenfalls beigegeben werden zu fast allen Anlagen Rekonstruktions-zeichnungen die das Laienpublikum gerne sieht die Fachwelt jedoch ablehnt Weis ist sich der Problematik bewusst dass die archaumlologischen und baukundlichen Befunde solche Rekonstruktionen so gut wie nie zulassen moumlchte aber dennoch in Anlehnung an Arthur Hauptmanns populaumlre Darstellung bdquoBurgen einst und jetztldquo nicht darauf verzich-ten da auf diese Weise bdquoromantisierende Annaumlherungenldquo moumlglich seien bdquodie bis zu einem gewissen Grad hohe Plausibilitaumlt in sich bergenldquo Dabei stuumltzt er sich auf aumlltere Darstel-lungen der Anlagen oder orientiert sich an bdquovergleichbaren Bauten in vergleichbaren Zeit-

755Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 755

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

reichen adligen Burggruumlndungen die als eigenstaumlndig und nicht (mehr) von der Kaiser- pfalz Hagenau abhaumlngend qualifiziert werden

In seinem Beitrag bdquoDie Bedeutung von Burgen fuumlr den Niederadel an der Wende vom 15 zum 16 Jahrhundertldquo vermag Joachim SCHNEIDER auch dank eines prosopographi-schen Ansatzes Wertvolles zum Wesen der Ganerbenburgen ndash bdquoKristallisationskernen adliger Vergesellschaftungldquo (S 173) ndash beizubringen naumlmlich hinsichtlich eines Inte- ressenausgleichs untereinander Schaffung einer gemeinsamen Identitaumlt und Foumlrderung gemeinsamer standespolitischer Zielsetzungen Nur dass ebenso wie Franz von Sickingen 1510 auch Koumlnig Maximilian I 1505 (nur) aus Prestigegruumlnden in die Ganerbschaft Drachenfels eingetreten sei moumlchte man hinterfragen

Aus eigener editorischer Erfahrung speist Hans-Joachim KUumlHN seinen Beitrag bdquoPfalz-Zweibruumlcker Burgbesatzungen im Spiegel spaumltmittelalterlicher Rechnungenldquo (S 175ndash200) als mit uumlberraschend wenig und noch dazu mehrfunktional eingesetztem Personal der Wandel sogar von Residenzburgen von der Wehrhaftigkeit zum Verwal-tungssitz zu organisieren war

Anders als im Fall der klassischen Ministerialenburg Muumlnzenberg in der Wetterau ist von der Burg (Neu-)Bolanden des mindestens ebenso prominenten am Donnersberg beheimateten Ministerialengeschlechts der Bolanden fast nichts Aufgehendes mehr zu sehen Aus dieser Not machen Olaf WAGENER und Achim WENDT (S 201ndash272 ebenso ein Wiederabdruck) eine Tugend indem sie aus Anlass und dank einer 2014 begonnenen umfassenden Untersuchung musterhaft alle Informationen zur Geschichte Abbildungen und Karten eine geophysikalische Prospektion und den Baubefund systematisch zu einer eindrucksvollen Synthese verdichten gefolgt von einer Abschichtung von der aumllteren wohl um 1200 aufgegebenen Niederungsburg Alt-Bolanden und im Vergleich mit Burg Muumlnzenberg mit der das Ermittelte ndash naumlmlich die bauliche Dimension eines Grafensitzes mit einem Bergfried von 13 m Seitenlaumlnge und groszligem Palasbau ndash keinen Vergleich zu scheuen braucht ein Essay zur imperialen Architekturrepraumlsentation mit einer Warnung vor Uumlberinterpretationen kroumlnt das Ganze

Die ideologische Indienstnahme von Burgen thematisiert Fabian LINK der die durch den bayrischen Ministerpraumlsidenten Ludwig Siebert betriebene nicht konservierende sondern bdquoim staufischen Geistldquo Neues schaffen wollende Wiederrichtung des Trifels als Zeugnis eines bdquonationalsozialistischen Mediaumlvalismus und der NS-Kulturpolitik in der Pfalzldquo (S 273ndash298) beschreibt und dabei auch auf die Herleitung solchen Gedankenguts aus der aumllteren Heimatbewegung und auf Parallelen im spanischen und italienischen Faschismus hinweist so wundert es nicht dass 1948 ein Komitee zur Fertigstellung der Baumaszlignahme Rudolf Esterers aufrief die von 1955 bis 1966 stattfand

Musterhaft stellen Bernhard METZ und Thomas BILLER (S 299ndash344) die Geschichte und Bauanalyse der als Schutz von Rodungsgebiet angelegten Burg Hohnack hoch ober-halb Colmar dar die Mitte des 14 Jahrhunderts als Nebensitz der Rappoltsteiner aufge-geben aber um 147080 als im Unterschied zu deren Stammburgen kanonensicherer Sitz gleichsam zur Proto-Festung umgestaltet wurde was 1655 Frankreich zur ihrer Schlei-fung veranlasste Schlieszliglich widmet sich Stefan ULRICH akribisch der Erforschung der gegenuumlber Neuleiningen gelegenen und viele Raumltsel aufgebenden bdquoAlten Burg zu Bat-tenbergldquo (S 345ndash384) sie duumlrfte zunaumlchst um 1200 auf Besitz der Abtei Murbach wohl unberechtigt erbaut und daher bald wieder niedergelegt worden sein um etwa 1600 durch die Grafen von Leiningen-Hardenberg als Sitz wiedererrichtet und nach Teilzerstoumlrungen wohl 1689 1747 erneut aufgegeben zu werden

754 Buchbesprechungen

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tisch aufgelistet Dabei sind die Orte an denen das Kloster in der Zaumlhringerzeit Besitz erhalten bzw erworben hat mit einem Sternchen gekennzeichnet Mit Hilfe der Karten am Ende des Bandes entsteht das Bild dass auf der Baar und am mittleren Neckar fast keine Position fuumlr die Zeit nach 1218 belegt ist waumlhrend insbesondere am Oberrhein der dichtesten Besitzlandschaft des Klosters ndash die Ortsliste umfasst mehr als 100 Seiten ndash aber auch in der Schweiz zahlreiche Besitztitel die erst ab dem spaumlteren Mittelalter haupt-saumlchlich in Zinsroumldeln und Berainen erwaumlhnt werden verzeichnet sind Mancher Erwerb koumlnnte auch noch in die spaumlte Zaumlhringerzeit zuruumlckgehen aus der sich ein Traditionsbuch der Abtei nur fragmentarisch erhalten hat (S 174) Insofern waumlre bei den Karten statt von bdquoBesitzerwerb nach 1218ldquo vorsichtiger von bdquoErwaumlhnung nach 1218ldquo zu sprechen

Eine wahre Fundgrube sind die Personallisten geordnet nach Aumlbten Konventualen und Konversen natuumlrlich in erster Linie die Listen der Aumlbte die sich auf fast 150 Seiten verteilen Hier werden die groszligen geschichtlichen Linien des Klosters im Spiegel der Viten seiner Vorsteher ausgezogen Im 12 Jahrhundert ragen Eppo (1109ndash1132) und Gozmann (1137ndash1154) der den beruumlhmten Rotulus Sanpetrinus anlegen lieszlig heraus Im spaumlten 13 Jahrhundert wirkte Eberhard (1291ndash1295) der in fuumlr die Abtei schwierigen Zeiten die Stiftermemoria maszliggeblich erneuerte Um 1500 sorgte Peter III Gremmels-bach (1496ndash1512) fuumlr den Wiederaufbau der brandgeschaumldigten Kirche aber auch mit seinem Liber vitae fuumlr die Stiftermemoria uumlberdies legte er den Grund fuumlr die wirtschaft-liche Konsolidierung der Abtei Daniel Wehinger (1566ndash1580) erlieszlig eine erste Polizei-ordnung fuumlr die kloumlsterlichen Untertanen und im 18 Jahrhundert der letzten Bluumlte- zeit des Klosters wirkten die bedeutenden drei Aumlbte Ulrich Buumlrgi (1719ndash1739) der den Anstoszlig zum Neubau von Kirche und Konventsgebaumlude gab Philipp Jakob Steyrer (1749ndash1795) der die Verbindung zum Markgrafenhaus als willkommener weltlicher Stuumltze des Klosters pflegte und Ignaz Speckle (1795ndash1806) der das bittere Ende von St Peter begleiten musste Die Liste der Konventualen laumlsst schlieszliglich deutlich werden wie haumlufig in der Zaumlhringerzeit Angehoumlrige der herzoglichen Klientel in das Kloster eintraten worauf bereits Joachim Wollasch aufmerksam gemacht hat So vermitteln die Personallisten ein farbiges Bild der rund siebenhundertjaumlhrigen Klostergeschichte

Ein ausfuumlhrliches Register Abbildungen und Besitzkarten runden dieses Werk ab das von der jahrzehntelangen Arbeit der Autorin an diesem Thema eindrucksvoll Zeugnis ablegt Fuumlr Paul Fridolin Kehr den groszligen Organisator der Germania Sacra in der ersten Haumllfte des 20 Jahrhunderts waren die Erzeugnisse dieses wissenschaftlichen Unterneh-mens lediglich ein bdquoHalbfabrikatldquo als Vorstufe fuumlr ein spaumlteres Endprodukt Trifft diese mindere Einschaumltzung ohnehin fuumlr die meisten Baumlnde der Germania Sacra nicht zu so ganz gewiss nicht fuumlr das vorliegende Buch das dem Kloster St Peter auf dem Schwarz-wald ein wuumlrdiges Denkmal setzt

Thomas Zotz

Dieter LAMMERS Kloster Lorsch ndash die archaumlologischen Untersuchungen der Jahre 2010ndash2016 Zehntscheune und Forstgarten (Schriften zum Kloster Lorsch Bd 2) Regensburg Schnell amp Steiner 2018 324 S Abb geb EUR 59ndash ISNB 978-3-7954-3348-2

Wie aus dem Titel hervorgeht sind in diesem Band die Grabungen im Bereich der Zehntscheune (Kap 1 S 9ndash92) und im Forstgarten (Kap 2 suumldwestlicher Forstgarten S 93ndash176 Kap 3 uumlbriger Forstgarten S 177ndash216 Kap 4 zusammenfassende Inter-pretation S 217ndash248) enthalten Die Vorlage ausgewaumlhlter Funde (uumlberwiegend Fotos

743Orden Kloumlster und Stifte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 743

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Juumlrgen KEDDIGKEIT Stefan ULRICH (Hg) Ausgewaumlhlte Beitraumlge der pfaumllzischen Bur-genforschung 2014ndash2018 (Burgen in der Pfalz Reihe F Bd 1) Neustadt an der Wein-straszlige Selbstverlag der Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung 2018 XXXIV 385 S Abb geb EUR 43ndash ISBN 978-3-942189-24-8

Seit 1993 finden mit wechselnd zusammengesetzter Ausrichterschaft bdquoPfaumllzische Burgensymposienldquo statt Das 25 bot Anlass deren Programme zu publizieren (S IXndashXXXIV) und erstmals ausgewaumlhlte Referate im Sinne einer bdquohaptischen Plattformldquo ndash so das Vorwort der Herausgeber ndash zum Abdruck zu bringen Zunaumlchst gibt (S 1ndash30) Juumlrgen KEDDIGKEIT einen Uumlberblick uumlber die Burgenforschung dieses historischen Raums beginnend 1726 mit einer Zweibruumlcker Schuumllerarbeit zur Geschichte des Trifels von Johannes Schlaaff (vgl dazu die Rezension der Neuedition von 2016 in ZGO 165 [2017] S 544 f) und spaumlter gepraumlgt durch das unverbundene und daher unfruchtbare Neben- einander von geschichtlich und baugeschichtlich orientierten Werken darunter auch badischer Autoren wie J Naeher was im Grunde neuerdings erst durch das Zusammen-wirken von Thomas Biller und Bernhard Metz uumlberwunden wurde bestaumltigt durch die Bearbeitung des Pfaumllzischen Burgenlexikons (1999ndash2007) das seinerseits weitere Aktivitaumlten wie Fuumlhrer und Quelleneditionen anregte

Es folgt (S 31ndash56) der Wiederabdruck eines Beitrags bdquoBerg Burg und Herrschaft im hohen Mittelalterldquo von Stefan WEINFURTER (dagger) der eine Feststellung Manfred Grotens fuumlr den Raum des Erzstifts Koumlln aufgreifend die eigentliche Adelsburg als Gipfelburg ca 1080 also im Investiturstreit entstanden sah als Manifestation hochadligen Aufstei-gertums und Kern spaumlterer Territorialstaatlichkeit zu Lasten der hergebrachten Land-rechtspraxis

Andreas Urban FRIEDMANN konnte einen 2014 unter dem Titel bdquoDer Enthalt in den pfaumllzischen Burgfriedensurkundenldquo gehaltenen Vortrag dank seiner 2018 erschienenen Quellenedition (vgl die Rezension in ZGO 167 [2019] S 458ndash460) nun umarbeiten zu bdquoBurg und Fehde im Spiegel der pfaumllzischen Burgfriedensurkundenldquo (S 57ndash92) und ver-steht dabei ndash viel zu eng gefuumlhrt ndash die Burgfriedensurkunde bdquowesentlich als fehderecht-liche Ausnahme- persoumlnliche eben und oumlrtliche Unterlassungserklaumlrungldquo (S 58 vgl auch S 87) Da der Rezensent 2009 in einem Aufsatz auf der Grundlage von 80 Burg-friedensurkunden das Phaumlnomen der Burgfrieden systematisch zu beschreiben versucht hat diese Arbeit von Friedmann jedoch lediglich einmal an entlegener Stelle (Anm 96) erwaumlhnt wird um eine dort nur in Anlehnung an fruumlhere Arbeiten getroffene Feststellung zur Dauer des Enthalts zu verwerfen (was Anm 100 in bdquoUnsinn solch traditionell gewordener Wertungldquo gipfelt) nimmt er wegen Befangenheit zu diesem Beitrag nicht weiter Stellung

Mit Vergnuumlgen nimmt man dagegen zur Kenntnis was Martin ARMGART (S 93ndash116) uumlber bdquoDie Schenken von Ramberg und ihre Stiftung Muszligbachldquo ndash im bdquoHerrenhofldquo dort finden neuerdings die Burgensymposien statt ndash auszufuumlhren weiszlig naumlmlich zur Rolle des Johanniterordens und seiner Kommende Heimbach deren membrum Muszligbach aus jener Stiftung entstand und ndash neu ndash zum mutmaszliglich Hochstift-Speyerer Schenkenamt des der Reichsministerialitaumlt entstammenden Familie von Ramberg Die hier schon sichtbar ge-wordene ertragreiche Verschraumlnkung mit der Bearbeitung des Pfaumllzischen Klosterlexikons bestaumltigt auch Ulrich BURKHARTS Beitrag (S 117ndash150) uumlber das von der lothringischen Herzogsfamilie ndash sogar zeitweise als Grablege ndash gegruumlndete Zisterzienserkloster Stuumlr-zelbronn (zwischen Weiszligenburg im Elsass und Bitsch) im Kontext der benachbarten zahl-

753Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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wenige Zeichnungen) erfolgt in Kapitel 5 (S 249ndash321) Die wichtigste Keramik wird bei den Befunden abgebildet Ein Verzeichnis der abgekuumlrzten Literatur sowie die Abbildungsnachweise bilden den Abschluss Die Lage aller Grabungsschnitte findet sich auf dem hinteren Buchdeckel in gruumln sind hier die der Zehntscheune und des Forst- gartens markiert

Die bearbeiteten Grabungen im Bereich des Klosters Lorsch erfolgten in den Jahre 2010 bis 2016 durch das Institut fuumlr Europaumlische Kunstgeschichte der Universitaumlt Heidelberg Der Autor Dieter Lammers ist seit vielen Jahren zusammen mit Matthias Untermann Leiter des Projektes und hat die Auswertung der Grabungen sowie die Publi-kation der Ergebnisse durchgefuumlhrt Dass jahrelange archaumlologische Grabungen zeitnah ausgewertet und vorgelegt werden ist bekanntlich eher die Ausnahme Umso erfreulicher ist es wenn dies bei einem der bedeutendsten fruumlhmittelalterlichen Kloumlster des noumlrdlichen Oberrheingebietes erfolgt Die Veroumlffentlichung war in drei Teilen geplant von denen der erste und der zweite Band 2018 und der dritte Band 2019 erschienen sind Diese Kon-zeption erklaumlrt weshalb die Baumlnde aufeinander aufbauen und inhaltlich miteinander verwoben sind Sie ergaumlnzen auch die 2004 von I Ericsson und M Sanke vorgelegten Ergebnisse des Forschungsprojektes der Universitaumlt Bamberg (1998ndash2008) auf die in der vorliegenden Publikation immer wieder Bezug genommen wird So findet man bei Sanke Ausfuumlhrungen zu Fundgruppen die vorzugsweise im Bereich der Klausur gefun-den wurden und die deswegen im zweiten Band nicht besprochen werden (Ofenkacheln opus-sectile- und andere Steine sowie ornamentierte Bodenfliesen) Die Informationen uumlber das juumlngere Projekt selbst finden sich nur im ersten Band Dies ist kein Mangel weil dadurch Redundanzen vermieden werden erklaumlrt aber weshalb die Baumlnde nicht fuumlr sich alleine stehen koumlnnen Wer sich mit dem Projekt und den Ergebnissen beschaumlftigen will muss alle drei Baumlnde und die Publikationen von M Sanke zu Rate ziehen

Das erste Kapitel widmet sich zunaumlchst dem bestehenden Bau der mit 785 x 115 m sehr groszligen Zehntscheune die durch Bauforscher untersucht wurde Sie wurde am Ende des 16 Jahrhunderts als 63 m langes Gebaumlude errichtet und um 1720 erweitert Da das Kloster schon 1556 aufgeloumlst worden war ist sie dem danach gegruumlndeten landwirtschaft-lichen Betrieb zuzuweisen In diesem Gebaumlude wurde das archaumlologische Schaudepot eingerichtet was zu zahlreichen baubedingten Bodeneingriffen insbesondere im suumld- lichen Drittel gefuumlhrt hat Archaumlologische oder bauhistorische Fragestellungen spielten bei der Anlage der Schnitte keine Rolle Deshalb wundert es nicht wenn nur wenige Schnitte die Schichten erreichen in denen Funde aus der Zeit der Klostergruumlndung ent-halten sind Alle wesentlichen Schnitte werden mit Fotos umgezeichneten Profilzeich-nungen sowie einer knappen Befundbeschreibung inklusive Angabe der enthaltenen Funde sowie der wichtigsten Keramik vorgestellt wobei verstaumlndlicherweise die Wie-dergabe der klosterzeitlichen Keramik uumlberwiegt Die Grabungen im Bereich der Zehnt-scheune erbrachten keine Baubefunde Ein grabenfoumlrmiger Befund koumlnnte noch fruumlh- mittelalterlich sein Ansonsten zeigt sich das Areal bis zur Erbauung der Scheune als Freiflaumlche

Auch im Forstgarten erreichten nur wenige Schnitte den gewachsenen Boden Sie lassen aber erkennen dass der heutige Forstgarten den Bereich einer ehemaligen Senke zwischen Spittelsberg und der Klosterkirche einnimmt Pfostenspuren belegen das Vor-handensein von einfachen Holzgebaumluden die hier im 7ndash9 Jahrhundert standen Dabei muss offenbleiben ob diese Besiedlung vor der Klostergruumlndung zu datieren ist oder danach Das Gelaumlnde wurde in den folgenden Jahrhunderten um bis zu zwei Meter auf-

744 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 744

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

lungen fassen Diese Veraumlnderungen sieht Bloumlck mit dem Zuzug germanischer Bevoumllke-rungsgruppen in Zusammenhang stehend

Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Autor eine archaumlologisch wie auch histo-risch uumlberaus anregende Siedlungsgeschichte des suumldlichen rechten Oberrheingebiets vorgelegt hat die sowohl fuumlr zukuumlnftige archaumlologische wie auch historische Forschun-gen zu diesem Gebiet aber auch zu Obergermanien als Ganzem ein wichtiges Referenz-werk sein wird Daruumlber hinaus duumlrften von dieser Arbeit ebenfalls Impulse fuumlr weitere uumlbergeordnete Fragen wie beispielsweise dem Ablauf der sogenannten Reichskrise des 3 Jh n Chr im Norden des Imperium Romanum oder der Ausgestaltung roumlmischer Grenzzonen ausgehen

Markus Zimmermann

Francisca FERAUDI-GRUEacuteNAIS Renate LUDWIG Die Heidelberger Roumlmersteine Bild-werke Architekturteile und Inschriften im Kurpfaumllzischen Museum Heidelberg Heidelberg Kurpfaumllzisches Museum u a 2017 123 S Brosch EUR 16ndash ISBN 978-3-8253-6693-3

Schon der im fruumlhen 3 Jh n Chr schreibende Historiker Cassius Dio haumllt in seinem Werk fest dass in den Provinzen taumlglich Dinge geschehen wuumlrden von denen man in Rom nichts erfahre (Cass Dio 53 19 4 f) Diese Ausgangslage ist fuumlr die heutzutage an der roumlmischen Geschichte Suumlddeutschlands Interessierten durch die fragmentarische Uumlberlieferung der antiken Literatur und deren Rom-Zentrierung nicht gerade besser ge-worden und so waumlre unsere Kenntnis der Geschichte des rechtsrheinischen Obergerma-nien ohne die Archaumlologie und die Epigraphik recht gering Es ist deshalb uumlberaus zu begruumlszligen dass Francisca Feraudi-Grueacutenais und Renate Ludwig mit den im Kurpfaumllzi-schen Museum ausgestellten Steindenkmaumllern sowie einigen Kleininschriften diese fuumlr die Geschichte des Heidelberger Raumes in roumlmischer Zeit so wichtige Quellengruppe der Oumlffentlichkeit in einem mit einleitenden Erlaumluterungen versehenen Katalog zugaumlng-lich gemacht haben

In den einfuumlhrenden Kapiteln (S 9ndash20) werden knapp aber konzise die Forschungs- und Sammlungsgeschichte die Funktion von roumlmischen Inschriften der archaumlologische Kenntnisstand zum antiken Heidelberg und die Aussagekraft der Heidelberger Inschriften fuumlr unsere Kenntnis der dortigen Verhaumlltnisse in roumlmischer Zeit skizziert Die Fachwis-senschaft wird in diesem Teil nichts Neues finden Die interessierte Oumlffentlichkeit jedoch an die sich das Werk laut Vorwort richtet bekommt hier das Ruumlstzeug auf den Weg mit-gegeben das fuumlr ein Verstaumlndnis der im Katalog vorgestellten Denkmaumller notwendig ist Der ausfuumlhrliche Katalog (S 21ndash106) bildet das Herzstuumlck des Buches und praumlsentiert die einzelnen Denkmaumller Diese sind mit Farbfotographien abgebildet Sollte eine In-schrift vorhanden sein was bei der Mehrzahl der Denkmaumller der Fall ist so ist dieser eine deutsche Uumlbersetzung beigegeben Ein Kommentar sowie ein kleiner Infokasten zu jedem Denkmal liefern weitere nuumltzliche Informationen Insgesamt ist der Katalogteil als sehr gelungen zu bezeichnen und liefert alle Informationen die man fuumlr eine weitere Beschaumlftigung mit den Denkmaumllern benoumltigt Abgeschlossen wird das Buch durch ein hilfreiches und ausfuumlhrliches Register (S 107ndash122) und den Abbildungsnachweis (S 123) Insgesamt haben die Autorinnen ein informatives Werk vorgelegt wobei der Katalogteil nicht nur der interessierten Oumlffentlichkeit sondern bestimmt auch Studieren-den oder Forschenden die sich einen Uumlberblick uumlber die Ausstellungsstuumlcke des Mu- seums verschaffen wollen gute Dienste leisten wird Markus Zimmermann

752 Buchbesprechungen

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gefuumlllt Bemerkenswert sind die nicht wenigen Hinweise auf die Verarbeitung von Steinen wie Porphyr und Glas Offenbar befanden sich in diesem Bereich spaumltestens im aus- gehenden Mittelalter Handwerksbetriebe Dies belegen auch zwei Buntmetalloumlfen Weiter ist auf den Nachweis von Leistenziegel in karolingerzeitlichem Kontext hinzuweisen (S 286ndash289) Ob sie damals hergestellt wurden oder ob roumlmisches Baumaterial zweitverwendet wurde laumlsst sich nicht entscheiden Eine tabellarische Auflistung der Befunde ihrer Datierung und der Angabe wo man sie im Planum findet und wo sie im Buch besprochen werden erleichtert sehr die Handhabung (suumldwestlicher Forstgarten S 121ndash123 Forsthaus S 201)

Dass man nicht nur die (schematisierten) Umzeichnungen der Profile und Plana abge-bildet sondern auch sehr viele Fotos der Befunde und diese zudem mit den zugehoumlrigen Befunden beschriftet hat ist besonders erwaumlhnenswert Die Legende zu den Umzeich-nungen jedoch nur auf der hinteren Buchklappe anzubringen ist etwas ungeschickt Zu-sammenfassend zeigt sich im Bereich der untersuchten Flaumlchen eine insgesamt geringe klosterzeitliche Bebauung Die Areale duumlrften uumlberwiegend Freiflaumlchen gewesen sein die mehrheitlich gaumlrtnerisch genutzt wurden Denkmalpflegerisch interessant ist die Be-obachtung dass die fruumlhmittelalterlichen Schichten und Befunde hier vielfach unter zum Teil maumlchtigen Auffuumlllungen liegen und somit von oberflaumlchennahen Bodeneingriffen nicht betroffen sind Dies ist fuumlr zukuumlnftige Bau-Planungen im Bereich des Weltkultur-erbes nicht unwesentlich

Dass die Aufmachung das Papier und die Abbildungen eine hohe Qualitaumlt aufweisen ist im Hinblick auf den Verlag Schnell amp Steiner nicht uumlberraschend

Andreas Haasis-Berner

Harald DERSCHKA (Bearb) Die Reichenauer Lehenbuumlcher der Aumlbte Friedrich von Zollern

(1402ndash1427) und Friedrich von Wartenberg (1428ndash1453) (Veroumlffentlichungen der Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Reihe A Quel-len Bd 61) Stuttgart Kohlhammer 2018 LXXXVI 416 S Abb Kt geb EUR 48ndash ISBN 978-3-17-033573-8

Die Benediktinerabtei Reichenau befand sich im Spaumltmittelalter in einer Phase des Wandels und nicht in einer Phase des Niedergangs wie Thomas Kreutzer in seiner 2008 veroumlffentlichten Dissertation herausarbeitet hat Damit relativierte er aumlltere Forschungen zur Geschichte der Reichenau die das 14 und 15 Jahrhundert als Krisenzeit fuumlr die Abtei brandmarkten Die hier zu besprechende Edition der Reichenauer Lehenbuumlchern der Aumlbte Friedrich von Zollern (1402ndash1427) und Friedrich von Wartenberg (1428ndash1453) die von Harald Derschka angefertigt und ausgewertet wurde unterstuumltzt die Befunde von Kreutzer Die sorgfaumlltige Grundlagenarbeit zu den aumlltesten erhaltenen Lehenbuumlchern zeigt dass die Abtei auch im Spaumltmittelalter und besonders waumlhrend des Abbatiats Friedrichs von Wartenberg noch uumlber einigen machtpolitischen Einfluss in der Region verfuumlgte

Die Edition ist von 2013ndash2016 im Rahmen eines DFG-gestuumltzten Forschungsprojektes an der Universitaumlt Konstanz entstanden Beide edierten Lehenbuumlcher werden im Gene-rallandesarchiv Karlsruhe aufbewahrt (GLA 671690 und GLA 671099) Sie verzeichnen Eintraumlge uumlber Lehen im Umkreis der Insel Reichenau und zwar sowohl auf deutscher als auch auf schweizerischer Seite wobei der Untersee einen Schwerpunkt des Lehen-besitzes bildet

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

ausgingen und das Militaumlr daran beteiligt sahen festhaumllt dass die dortige Besiedlung erst in neronisch-fruumlhflavischer Zeit eingesetzt habe und zivil gepraumlgt gewesen sei In diesem Teil des Arbeitsgebiets seien dann aber nicht nur villae sondern mit dem vicus Riegel auch gleich ein wichtiger Zentralort errichtet worden Der Autor kann ferner wahrschein-lich machen dass im Zuge dieser Besiedlung umfangreiche Rodungsmaszlignahmen durch-gefuumlhrt worden sein duumlrften und zumindest ein Groszligteil der fruumlhen Siedler im suumldlichen Teil des Untersuchungsgebiets aus dem nahegelegenen linksrheinischen helvetisch- raurakischen Gebiet gestammt haben duumlrfte Im spaumlten 1 und fruumlhen 2 Jh n Chr habe sich die Anzahl der Siedlungen vermehrt Es seien weitere vici gegruumlndet und auch wei-tere villae errichtet sowie schon bestehende teilweise vergroumlszligert worden wie z B die Axialhofvilla von Heitersheim Teilweise habe man im 2 Jh n Chr in den Siedlungen repraumlsentative Bauten errichtet wie die um 120 n Chr fertiggestellte Basilika in Riegel oder die wahrscheinlich ebenfalls in der ersten Haumllfte des 2 Jh n Chr errichtete Ther-menanlage in Badenweiler In der zweiten Haumllfte des 2 Jh n Chr sei es zu einer weiteren infrastrukturellen Erschlieszligung des Gebiets gekommen was beispielsweise aus der Gruumln-dung der Bergbausiedlung in Sulzburg hervorgehe Gleichzeitig duumlrfte der Ruumlckgang der Bestattungen darauf hindeuten dass auch manche Siedlungsstelle verlassen worden sei Im 3 Jh n Chr habe eine Siedlungsreduktion eingesetzt deren genauer chronologischer Ablauf aber schwer zu rekonstruieren sei Neben einer Reduktion des Siedlungsareals wie es sich im vicus von Riegel nachweisen lieszlige habe man mehrere andere vici im ersten Drittel des 3 Jh n Chr ganz aufgegeben Ebenso duumlrften einige villae in diesem Zeitraum verlassen worden sein in anderen habe eine Reduktion und Umnutzung der Baustruktur stattgefunden Allerdings seien auch vereinzelte Beispiele fuumlr repraumlsentative Umbauten an villae feststellbar so dass kein gleichmaumlszligiger krisenhafter Verfallsprozess zu konstatieren sei Es lasse sich auch kein Zusammenhang mit den historisch bekannten Germaneneinfaumlllen herstellen weshalb Bloumlck von einem Transformationsprozess der Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen ausgeht der zur Aufgabe oder Reduktion einiger Siedlungsstellen gefuumlhrt habe Um die Mitte des 3 Jh n Chr sei es zu weiteren Reduk-tionen im Siedlungsbild gekommen Hierbei habe keine komplette Raumlumung des Gebiets im Zuge des sogenannten Limesfalls in den Jahren um 260 n Chr stattgefunden sondern einige Siedlungen vici wie auch villae haumltten noch bis in die Zeit um 28090 n Chr Be-stand gehabt Ein endguumlltiger Abbruch der roumlmischen Besiedlung des Untersuchungs- gebiets sei erst in tetrarchischer Zeit im Zuge des militaumlrischen Ausbaus des Rheins als Grenze feststellbar Nachdem man den Rhein unter der Tetrarchie als Grenzzone ein-gerichtet habe und die zivile roumlmische Besiedlung im Untersuchungsgebiet abgebrochen war koumlnne man in der ersten Haumllfte des 4 Jh n Chr Militaumlrplaumltze in Grenzach-Wyhlen und vielleicht in Bad Saumlckingen und Riegel nachweisen Da diese Orte an wichtigen Verkehrsknotenpunkten des rechtsrheinischen Gebiets lagen vermutet Bloumlck dass das Verkehrsnetz aus roumlmischer Zeit in der ersten Haumllfte des 4 Jh n Chr noch funktioniert habe und durch die Militaumlrplaumltze kontrolliert worden sei Ebenso seien weiterhin Roh-stoffe im Rechtsrheinischen gewonnen worden was vom Tuniberg im Kaiserstuhl stam-mende Steine belegen die man fuumlr den Bau des praetorium in Breisach verwendet habe Uumlber die laumlndliche Besiedlung zu dieser Zeit sei wenig bekannt die bekannten Funde koumlnnten jedoch die Vermutung unterstuumltzen dass germanische Siedler sich an einigen zuvor roumlmischen Siedlungsplaumltzen niedergelassen haumltten Einen wirklichen Wandel in der Besiedlung koumlnne man aber erst im spaumlten 4 Jh n Chr und im fruumlhen 5 Jh n Chr mit der Errichtung von Houmlhensiedlungen und laumlndlichen germanisch gepraumlgten Sied-

751Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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Harald Derschka hat seiner Edition eine ausfuumlhrliche Einleitung (S XXIndashLXXXVI) vorgeschaltet in der er zunaumlchst die Quellen unter formalen und quellenkundlichen Aspekten vorstellt Daran schlieszligen sich inhaltliche Ausfuumlhrungen zu Lehenobjekten zur Reichenauer Lehenmannschaft Lehenrecht und Lehenpflichten sowie generell zur Lehenschriftlichkeit an

Nach kurzen Hinweisen zur Datierung herangezogene Feier- und Heiligentage zu Karten Textgestaltung und Registern folgen die Editionen der Lehenbuumlcher sowie die ausfuumlhrlichen Register

In der hinteren Einbandinnenseite befindet sich zudem eine uumlbersichtliche Karte von Orten mit Reichenauer Lehenobjekten sodass sich die (in den Lehenbuumlchern leider nur inkonsequent angewandte) geographische Anordnung der Lehenbuumlcher gut nachvoll- ziehen laumlsst Zugleich verdeutlicht die Karte den umfangreichen und weit verstreuten Besitz der Abtei

Angefertigt anlaumlsslich des jeweiligen Amtsantritts der Aumlbte Friedrich von Zollern und Friedrich von Wartenberg bieten die Lehenbuumlcher einen guten Uumlberblick uumlber den Reichenauer Lehenbesitz Personenkreise und Einzelinformationen in der ersten Haumllfte des 15 Jahrhunderts Vor allem Abt Friedrich von Wartenberg eine der herausragenden Fuumlhrungspersoumlnlichkeiten der Reichenau bemuumlhte sich durch klosterinterne Reform-maszlignahmen und Ausloumlsung von Pfandschaften und Lehen um Konsolidierung der tief verschuldeten Abtei Harald Derschka traumlgt mit seiner Edition nun dazu bei diese Be-muumlhungen im Rahmen der Lehenschriftlichkeit mitverfolgen zu koumlnnen

Terminologisch rechnet der Editor beide Lehenbuumlcher die jeweils kurze Eintraumlge uumlber den vollzogenen Belehnungsakt verzeichnen unter die Lehenaktregister Das aumlltere Lehenaktregister (Edition S 1ndash87) das unter Abt Friedrich von Zollern angelegt wurde ist ein gut erhaltener Pergamentcodex und verzeichnet auf 36 Blatt 704 Lehenaktnotizen von insgesamt 708 Eintraumlgen der Jahre 1402ndash1427 Neben Eintraumlgen uumlber erfolgte Beleh-nungen Notizen uumlber Huldigung des Abtes durch die Buumlrger von Frauenfeld die Freiheit der Stadt Radolfzell sowie den Eid der Reichenauer Gotteshausleute findet sich unter Ein-trag Nr 707 auch die auf Latein verfasste Nachricht Koumlnig Sigismund habe im Jahr 1415 mit seiner Gattin Barbara von Cilli die Reichenau besucht und im Kloster uumlbernachtet

Das Lehenbuch des Abtes Friedrich von Wartenberg (Edition S 89ndash278) hingegen weist im Vergleich mit den Handschriften der Vorgaumlnger bereits eine fortgeschrittene Schriftlichkeit und Systematisierung des Reichenauer Lehenhofes auf So handelt es sich bei diesem Lehenaktregister um einen 179 Blatt umfassenden Papierkodex der 1169 Lehenaktnotizen von insgesamt 1186 Eintraumlgen der Jahre 1428ndash1453 enthaumllt Auszligerdem wurden unter anderem paumlpstliche Zustimmungen zum Verkauf Reichenauer Lehen sowie eine Einladung zum Lehengerichtstag des Jahres 1448 vermerkt Letztere listet in staumln-discher Gliederung 59 Vasallen auf zu denen eine Markgraumlfin und ihr Traumlger sowie vier Grafen vier Freiherren fuumlnf Ritter und 44 niederadelige Vasallen gehoumlren (Nr 1183) Insgesamt ergeben die Auswertungen Derschkas zu den Reichenauer Lehenleuten das Bild eines heterogen zusammengesetzten Lehenhofes Erste Ergebnisse dazu hatte der Editor bereits in einem 2017 erschienenen Aufsatz vorgelegt Neben adligen und nieder-adligen Vasallen setzte sich der Lehenhof zudem aus Buumlrgern besonders aus Konstanz und sogar aus Reichenauer Eigenleuten zusammen

Die Reichenauer Lehenobjekte hat Harald Derschka sorgfaumlltig nach den Kategorien Grundbesitz Herrschaftsrechte Abgaben und Menschen (Eigenleute) aufgelistet und aus-gewertet Zur raumlumlichen Verteilung der Lehenobjekte erhob der Editor die Befunde

746 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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dass es sich bei den meisten ausgegebenen Lehen um Reichenauer Besitz handelte Dem-entsprechend lassen sich die Lehenobjekte gehaumluft in den Orten der fruumlh- und hoch- mittelalterlichen Grundherrschaft verorten Als weiterer Befund wurde vermerkt dass sich die Gebiete innerhalb und auszligerhalb der Reichenauer Niedergerichtsherrschaft hin-sichtlich ihrer Lehen unterschieden So handelte es sich bei den Lehenobjekten innerhalb der Niedergerichtsherrschaft welche die Abtei vor allem auf der Insel Reichenau und in Bereichen des Untersees ausuumlbte groumlszligtenteils um Grundbesitz und Abgaben waumlhrend auszligerhalb der Niedergerichtsherrschaft auch Herrschaftsrechte groszligzuumlgig verliehen wur-den Als Grund fuumlr diese Schwerpunktsetzung fuumlhrt der Editor an dass die Abtei wohl die Herrschaft uumlber die Gebiete im Nahbereich der Abtei nicht durch lehnrechtliche Ver-leihungen habe verlieren wollen Des Weiteren haumltten sich die Aumlbte erfolgreich um Ruumlck-erwerb einstmals verlorener Herrschaftsrechte verdient gemacht und auch wie im Fall Abt Friedrichs von Wartenberg im Jahr 1446 aktiv Pfandausloumlsungen am Untersee betrieben (S XLII)

Trotz der zeitlich nahen Entstehungszeit der beiden Handschriften wurden im Vergleich Unvollstaumlndigkeiten in der Lehenschriftlichkeit bemerkt (S LXXII) Dabei lieszligen sich nicht nur zwischen den beiden Lehenbuumlchern Abweichungen hinsichtlich der Eintraumlge feststellen sondern auch im Abgleich mit erhaltenen Lehenurkunden in den verstreuten Urkundenbestaumlnden saumlmtlicher Archive

Die auf die Einleitung folgenden Editionen werden ihrem Ziel bdquodie beiden Lehen- buumlcher in einer leicht handhabbaren und selbsterklaumlrenden Form zu erschlieszligenldquo (S LXXXI) mehr als gerecht Als besonders nutzerfreundlich erweist sich die Entschei-dung des Editors Nachtraumlge in den Lehenbuumlchern durch Einruumlckungen kenntlich zu ma-chen Die fortlaufenden Nummerierungen der Eintraumlge die teils vorhanden teils ergaumlnzt wurden tragen ebenfalls zur Lesbarkeit bei Die Gestaltung der Editionen und der dazu-gehoumlrenden Apparate wurden in der Einleitung gut vorbereitet und erlaumlutert (S LXXXI) sodass sich auf formaler Ebene die Texte mit ihren Anmerkungen dem Leser leicht erschlieszligen

Den groumlszligten Gewinn dieser Editionen stellen jedoch die sauber gearbeiteten Register dar die sich aus Orts- Personen- und Sachregister zusammensetzen und fuumlr beide Le-henbuumlcher einzeln erarbeitet wurden Das Sachregister zum Lehenbuch Abt Friedrichs von Wartenberg foumlrdert dabei manch kurioses Lemma zu Tage (z B im Eintrag Nr 820)

Abschlieszligend sei der im Vorwort geaumluszligerten Bemerkung des Editors es handele sich bei dieser Quellenedition um eine bdquoeher unspektakulaumlre Grundlagenforschungldquo vehement widersprochen Solide Grundlagenforschung wurde zwar tatsaumlchlich betrieben jedoch ist diese dank der gewinnbringenden und nutzerfreundlichen Aufarbeitung insbesondere durch die sorgfaumlltigen Register und das Kartenmaterial auf ihre Art und Weise spekta-kulaumlr Hinsichtlich des dreizehnhundertjaumlhrigen Gruumlndungsjubilaumlums des Inselklosters im Jahr 2024 und daruumlber hinaus duumlrfte diese Edition die Basis fuumlr weiterfuumlhrende Studien geschaffen haben

Barbara Frenk

Ruth WIEDERKEHR Lesen schreiben beten heilen Die Bibliothek des mittelalterlichen Klosters Hermetschwil (Murensia Bd 6) Zuumlrich Chronos-Verlag 2018 65 S Abb Brosch EUR 12ndash ISBN 978-3-0340-1494-6

Das seit 1985 wieder bestehende Benediktinerinnenkloster Hermetschwil im schwei-zerischen Kanton Aargau geht auf ein Doppelkloster in Muri zuruumlck um 1200 siedelten

747Orden Kloumlster und Stifte

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teten Provinz Obergermanien wurden waumlre ohne die archaumlologische Erforschung dieser Gebiete um ein vielfaches geringer Jedoch ist allein durch Ausgrabungen noch nichts gewonnen erst Bearbeitung Auswertung und Publikation des archaumlologischen Fund- materials erschlieszligen diese wichtige Informationsquelle der Forschung Aus diesem Grund ist das Erscheinen der umfangreichen und detaillierten Monographie von Lars Bloumlck uumlber die roumlmerzeitliche Besiedlung des rechten suumldlichen Oberrheingebiets sehr erfreulich Der Autor praumlsentiert die Siedlungsgeschichte des Raumes in klarer und uumlbersichtlicher Art und Weise Das Buch teilt sich in einen ausfuumlhrlichen Analyseteil (S 13ndash283) und einen umfangreichen Katalogteil (S 284ndash464) in dem alle roumlmerzeit-lichen Fundstellen des Untersuchungsgebiets mit den jeweils wichtigsten Informatio- nen praumlsentiert werden Abgeschlossen wird die Arbeit durch Listen (S 465ndash470) die die gezielte Suche im Katalogteil erleichtern ein Quellen- und Literaturverzeichnis (S 471ndash510) und einen Abbildungsnachweis (S 511) Ferner sind dem Buch mehrere Karten beigegeben

Auf eine instruktive Einleitung (S 13ndash28) in der das Untersuchungsgebiet die Fragestellung und die Forschungsgeschichte naumlher vorgestellt werden und einige Bemerkungen zur Genese des Quellenbestandes (S 29ndash39) folgt mit dem Kapitel bdquoTypologie und Auswertung der Plaumltze mit roumlmerzeitlichen Befunden bzw Fundenldquo (S 40ndash201) das Herzstuumlck des Analyseteils In diesem Kapitel wird dem Leser die im Katalogteil steckende Masse an Informationen durch eine detaillierte wissenschaftliche Auswertung der Befunde und Funde uumlbersichtlich praumlsentiert Daran anschlieszligend wird naumlher auf die Chronologie eingegangen (S 202ndash222) und eine archaumlologisch-historische Auswertung bezuumlglich der Siedlungsgeschichte des Arbeitsgebiets vorgenommen (S 223ndash277) Abgeschlossen wird der Analyseteil durch eine Zusammenfassung (S 278ndash283) Im Analyseteil seiner Arbeit liefert Bloumlck eine Vielzahl an interessanten Beobachtungen zu den Siedlungsarten und den einzelnen Siedlungsstellen Im Folgenden sollen nur die wichtigsten siedlungsgeschichtlichen und historischen Schlussfolgerungen des Autors zusammengefasst werden da sie nicht nur fuumlr die Lokalgeschichte sondern auch fuumlr uumlbergeordnete Fragen wie der Bedeutung des Rheins als Grenze der sogenann-ten Reichskrise des 3 Jh n Chr und den damit zusammenhaumlngenden Komplexen des sogenannten Limesfalls und der sogenannten Alemannischen Landnahme von Interesse sind Nach Meinung des Rezensenten legt der Autor eine schluumlssige Rekonstruktion der Siedlungsgeschichte seines Untersuchungsraumes vor In seinem Arbeitsgebiet habe laut Bloumlck die spaumltlategravenezeitliche Besiedlung gegen 80 v Chr und somit schon vor dem Ein-treffen der Roumlmer groumlszligtenteils ein Ende gefunden so dass diese bei der Ankunft Caesars am Rhein einen mehr oder weniger siedlungsleeren Raum vorgefunden haumltten Im Zuge der Feldzuumlge unter Augustus haumltten die Roumlmer deshalb ohne Probleme temporaumlre Mili-taumlranlagen im rechtsrheinischen Gebiet anlegen koumlnnen Obwohl sich die rechtsrheini-schen Gebiete noch offiziell auszligerhalb des Roumlmischen Reiches befanden habe eine zivile roumlmische Besiedlung im suumldlichen Teil des Untersuchungsgebiets in tiberisch-fruumlhclau-discher Zeit eingesetzt In dieser Zeitspanne seien ausschlieszliglich villae gegruumlndet worden ndash die noumlrdlichste in Heitersheim ndash die ihre Waren ins linksrheinische Gebiet von Augusta Raurica abgesetzt haben duumlrften waumlhrend vici dieser Zeitstellung nicht nachweisbar seien In claudisch-fruumlhflavischer Zeit habe die dortige Besiedlung zugenommen und es seien nun auch die ersten vici errichtet worden Etwas anders habe es sich im noumlrd- lichen Teil des Untersuchungsgebiets verhalten wo Bloumlck entgegen fruumlherer Forschungs-meinungen die von einer beginnenden Erschlieszligung dieses Gebiets in claudischer Zeit

750 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 750

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

die Nonnen nach Hermetschwil uumlber Ab dem 14 Jahrhundert eigenstaumlndig wurde das Kloster von der Reformation in Mitleidenschaft gezogen erlebte aber in der zweiten Haumllfte des 16 Jahrhunderts einen Wiederaufstieg Nach einem Brand in den 1670er Jahren entstand ein Archivturm der auch die Bibliothek aufnahm Ein Verzeichnis aus dem Jahre 1697 fuumlhrt drei Buumlchergestelle auf die 380 handschriftliche und gedruckte Buumlcher enthielten Vergleichsweise wenige Buumlcherkataloge aus Frauenkloumlstern haben sich erhalten

Die Hermetschwiler Nonnen stammten aus habsburgischen Verwalterfamilien und aus dem Stadtadel Ihr Kloster gehoumlrte zu den spezifisch suumlddeutschen Einrichtungen die wichtige Uumlberlieferer mystischer und anderer volkssprachiger Literatur des Mittelalters waren Quellengrundlage der Publikation sind 56 Handschriften des 12 bis 16 Jahr- hunderts die sich ein Sonderfall in der Schweiz vor Ort erhalten haben

Dieser Handschriftenfonds laumlsst mit seinen Besitzeintraumlgen das konkrete Interesse ein-zelner Nonnen an bestimmten Texten erkennen Schenkungsvermerke beispielsweise Widmungen von Buumlchern an einzelne Nonnen oder an den Konvent sind Quellen fuumlr die Netzwerke in die das Kloster eingebunden war Besonders beliebte Buumlcher waren das sbquoBuumlchlein der ewigen Weisheitlsquo des aus Konstanz stammenden Dominikaners Heinrich Seuse sowie die sbquo24 Altenlsquo des in Basel wirkenden Franziskaners Otto von Passau In der Summe dominiert auch sonst die deutsche Literatur Zu nennen waumlren als Grundlage des monastischen Lebens Bibeln liturgische Buumlcher Predigten und Ordensregeln Eine zweite Gruppe bildeten Chroniken Heiligenviten und Mirakelbuumlcher Von besonderer Wichtigkeit sind innerhalb dieses Fonds die 17 meist deutschsprachigen Gebets- und Andachtsbuumlcher die etwa im Zeitraum von 1380 bis 1520 entstanden sind 1697 waren es noch 30 Exemplare dieser Art Auf der Grundlage liturgischer Texte entstanden indi-viduelle Zusammenstellungen die Gebete zu den Tagzeiten Fuumlrbitten Passionsandach-ten Traktate zur Marienverehrung zur Eucharistie und anderes mehr enthalten Meist handelt es sich um kleinformatige Baumlnde in schlichten Einbaumlnden deren starke Abnut-zungsspuren einen intensiven Gebrauch uumlber Generationen hinweg bezeugen Diese Buumlcher wurden von den Nonnen selbst geschrieben die den Sprachstand ihrem eigenen Dialekt anpassten Vorlagen kamen aus anderen geistlichen Einrichtungen der Region Der wichtigste Repraumlsentant dieser Gattung ist das aus dem ersten Viertel des 15 Jahr-hunderts stammende sbquoHermetschwiler Gebetbuchlsquo Cod Chart 208 mit 101 Blaumlttern in einem Kopertumschlag Die dort uumlberlieferten Texte sind teils Uumlbersetzungen aus dem Lateinischen teils lassen sich die Quellen nicht naumlher bestimmen

Auch andere Textsorten erhellen den Alltag des einen landwirtschaftlichen Eigen- betrieb fuumlhrenden Klosters Arzneibuumlcher mit Rezepten und Aderlassbuumlcher dienten der Bekaumlmpfung von Krankheiten Prognostiken sollten die Organisation der Landwirtschaft im Jahreslauf erleichtern Hinzu kamen Beschwoumlrungen Heil- und Wettersegen Grund-lagenwissen uumlberlieferten auch Kalendarien die die Struktur des monastischen Jahres vorgaben und Abecedarien die in einpraumlgsamer Form Anweisungen fuumlr ein gutes Leben boten

Das Buch zieren 35 farbige Abbildungen fast alle aus den 56 Handschriften des 12 bis 16 Jahrhunderts aus Hermetschwil Sie uumlberliefern eine volkssprachige typisch weib-liche Bibliothek des Glaubens weltliche Literatur fehlt hier ganz Von lateinischen aus Muri stammenden Liturgica abgesehen handelt es sich hier um eine wichtige Quelle fuumlr den monastischen Alltag gebildeter Nonnen in einem laumlndlichen Raum zwar existierten Netzwerke in der Region der Alltag musste aber vor Ort organisiert werden Persoumlnliche

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31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 748

individuell zusammengestellte Gebetbuumlcher lassen die tagtaumlgliche intensive und mysti-sche Andachts- und Gebetspraxis der Hermetschwiler Benediktinerinnen nachvollziehen die ein Zentrum ihres monastischen Lebens bildete Armin Schlechter

Johannes MEYER Das Amptbuch Ed by Sarah Glenn DEMARIS (Monumenta Ordinis

Fratrum Praedicatorum historica Bd 31) Rom Angelicum University Press 2015 XXXII 538 S Abb Brosch EUR 65ndash ISBN 978-88-88660-66-0

Sarah Glenn DeMaris ist es gelungen mit der kritischen Editon des bdquoAmptbuchsldquo von Johannes Meyer OP (1422ndash1485) eine zentrale Quelle des Dominikanerordens vorzu- legen die insgesamt fuumlr die Kirchen- und Ordensgeschichte aber auch fuumlr die Germa- nistik von groszligem Interesse ist Johannes Meyer verfasste in der Mitte des 15 Jahrhun-derts fuumlr reformierte Frauenkloumlster dieses Werk das unter verschiedenen Titeln bekannt ist (z B bdquoBuch der Aumlmterldquo oder bdquoAumlmterbuchldquo) Die Frauen sollten nicht nur ein regel-treues Leben fuumlhren sondern auch uumlber die Gewohnheiten und die Geschichte ihres Ordens informiert werden

Als Leithandschrift waumlhlte DeMaris die aumllteste uumlberlieferte Handschrift die im Besitz des Reformklosters Schoumlnensteinbach war im Kloster St Katharina in Nuumlrnberg uumlber-liefert wurde (daher die Sigel N erhielt) und heute im Besitz der Lilly Library in Bloo-mington Indiana ist (Ricketts 198) Die Edition basiert auf insgesamt sechs Hand- schriften (die neben Nuumlrnberg urspruumlnglich aus Medlingen Zoffingen Pforzheim und Freiburg im Breisgau stammen und die DeMaris in Teil III fundiert beschreibt) DeMaris legt nicht nur eine musterguumlltige Edition vor sondern fuumlhrt zuerst umfassend in Meyers Leben Werk und seine Bedeutung fuumlr die Dominikanerobservanz ein (Teil I) Mit dem bdquoAmptbuchldquo wurden wiederholt noch weitere zentrale Texte zur Observanz uumlberliefert z B Meyers bdquoBuch der Ersetzungldquo oder Konrad von Preuszligens bdquoOrdnung des Dominika-nerinnenklosters Schoumlnensteinbachldquo sowie Exzerpte aus dem bdquoAdelshauser Schwes- ternbuchldquo Diese stellt DeMaris ebenso kenntnisreich vor wie die Verbreitung des bdquoAmptbuchesldquo (Teil II) Der Abbildungsteil (S 107ndash120) zeigt zum ersten Mal atembe-raubend bebilderte Initialen der edierten Handschriften die vor allem Nonnen darstellen und diese werden hoffentlich noch von Kunsthistorikern und -historikerinnen untersucht

Der Band bietet nicht nur die Edition sondern endet mit einer Uumlbersetzung des bdquoAmptbuchesldquo ins Englische diese Entscheidung ist ein kluger Schachzug um deutsch-sprachigen Quellen auch in Zukunft eine breite internationale Rezeption zu garantieren denn im englischsprachigen Raum wird der Kreis der Akademiker und Akademikerinnen zusehends kleiner der des Deutschen noch maumlchtig ist und hier auch noch in einer aumllteren Sprachstufe Da hilft kein Jammern viel mehr helfen konstruktive Loumlsungen wie diese Uumlbersetzung So bleibt zu hoffen dass der angezeigte Band in Forschung und Lehre eine breite Rezeption erfaumlhrt Sabine von Heusinger

Lars BLOumlCK Die roumlmerzeitliche Besiedlung im rechten suumldlichen Oberrheingebiet (For-

schungen und Berichte zur Archaumlologie in Baden-Wuumlrttemberg Bd 1) Wiesbaden Reichert 2016 511 S Abb Kt geb EUR 79ndash ISBN 978-3-95490-215-6 kostenlose Online-Ressource httpsbooksubuni-heidelbergdepropylaeumcatalogbook503 ISBN 978-3-947450-46-6

Unsere Kenntnis uumlber die rechtsrheinischen im heutigen Baden-Wuumlrttemberg gelege-nen Gebiete des Imperium Romanum die unter Kaiser Domitian Teil der neu eingerich-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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individuell zusammengestellte Gebetbuumlcher lassen die tagtaumlgliche intensive und mysti-sche Andachts- und Gebetspraxis der Hermetschwiler Benediktinerinnen nachvollziehen die ein Zentrum ihres monastischen Lebens bildete Armin Schlechter

Johannes MEYER Das Amptbuch Ed by Sarah Glenn DEMARIS (Monumenta Ordinis

Fratrum Praedicatorum historica Bd 31) Rom Angelicum University Press 2015 XXXII 538 S Abb Brosch EUR 65ndash ISBN 978-88-88660-66-0

Sarah Glenn DeMaris ist es gelungen mit der kritischen Editon des bdquoAmptbuchsldquo von Johannes Meyer OP (1422ndash1485) eine zentrale Quelle des Dominikanerordens vorzu- legen die insgesamt fuumlr die Kirchen- und Ordensgeschichte aber auch fuumlr die Germa- nistik von groszligem Interesse ist Johannes Meyer verfasste in der Mitte des 15 Jahrhun-derts fuumlr reformierte Frauenkloumlster dieses Werk das unter verschiedenen Titeln bekannt ist (z B bdquoBuch der Aumlmterldquo oder bdquoAumlmterbuchldquo) Die Frauen sollten nicht nur ein regel-treues Leben fuumlhren sondern auch uumlber die Gewohnheiten und die Geschichte ihres Ordens informiert werden

Als Leithandschrift waumlhlte DeMaris die aumllteste uumlberlieferte Handschrift die im Besitz des Reformklosters Schoumlnensteinbach war im Kloster St Katharina in Nuumlrnberg uumlber-liefert wurde (daher die Sigel N erhielt) und heute im Besitz der Lilly Library in Bloo-mington Indiana ist (Ricketts 198) Die Edition basiert auf insgesamt sechs Hand- schriften (die neben Nuumlrnberg urspruumlnglich aus Medlingen Zoffingen Pforzheim und Freiburg im Breisgau stammen und die DeMaris in Teil III fundiert beschreibt) DeMaris legt nicht nur eine musterguumlltige Edition vor sondern fuumlhrt zuerst umfassend in Meyers Leben Werk und seine Bedeutung fuumlr die Dominikanerobservanz ein (Teil I) Mit dem bdquoAmptbuchldquo wurden wiederholt noch weitere zentrale Texte zur Observanz uumlberliefert z B Meyers bdquoBuch der Ersetzungldquo oder Konrad von Preuszligens bdquoOrdnung des Dominika-nerinnenklosters Schoumlnensteinbachldquo sowie Exzerpte aus dem bdquoAdelshauser Schwes- ternbuchldquo Diese stellt DeMaris ebenso kenntnisreich vor wie die Verbreitung des bdquoAmptbuchesldquo (Teil II) Der Abbildungsteil (S 107ndash120) zeigt zum ersten Mal atembe-raubend bebilderte Initialen der edierten Handschriften die vor allem Nonnen darstellen und diese werden hoffentlich noch von Kunsthistorikern und -historikerinnen untersucht

Der Band bietet nicht nur die Edition sondern endet mit einer Uumlbersetzung des bdquoAmptbuchesldquo ins Englische diese Entscheidung ist ein kluger Schachzug um deutsch-sprachigen Quellen auch in Zukunft eine breite internationale Rezeption zu garantieren denn im englischsprachigen Raum wird der Kreis der Akademiker und Akademikerinnen zusehends kleiner der des Deutschen noch maumlchtig ist und hier auch noch in einer aumllteren Sprachstufe Da hilft kein Jammern viel mehr helfen konstruktive Loumlsungen wie diese Uumlbersetzung So bleibt zu hoffen dass der angezeigte Band in Forschung und Lehre eine breite Rezeption erfaumlhrt Sabine von Heusinger

Lars BLOumlCK Die roumlmerzeitliche Besiedlung im rechten suumldlichen Oberrheingebiet (For-

schungen und Berichte zur Archaumlologie in Baden-Wuumlrttemberg Bd 1) Wiesbaden Reichert 2016 511 S Abb Kt geb EUR 79ndash ISBN 978-3-95490-215-6 kostenlose Online-Ressource httpsbooksubuni-heidelbergdepropylaeumcatalogbook503 ISBN 978-3-947450-46-6

Unsere Kenntnis uumlber die rechtsrheinischen im heutigen Baden-Wuumlrttemberg gelege-nen Gebiete des Imperium Romanum die unter Kaiser Domitian Teil der neu eingerich-

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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teten Provinz Obergermanien wurden waumlre ohne die archaumlologische Erforschung dieser Gebiete um ein vielfaches geringer Jedoch ist allein durch Ausgrabungen noch nichts gewonnen erst Bearbeitung Auswertung und Publikation des archaumlologischen Fund- materials erschlieszligen diese wichtige Informationsquelle der Forschung Aus diesem Grund ist das Erscheinen der umfangreichen und detaillierten Monographie von Lars Bloumlck uumlber die roumlmerzeitliche Besiedlung des rechten suumldlichen Oberrheingebiets sehr erfreulich Der Autor praumlsentiert die Siedlungsgeschichte des Raumes in klarer und uumlbersichtlicher Art und Weise Das Buch teilt sich in einen ausfuumlhrlichen Analyseteil (S 13ndash283) und einen umfangreichen Katalogteil (S 284ndash464) in dem alle roumlmerzeit-lichen Fundstellen des Untersuchungsgebiets mit den jeweils wichtigsten Informatio- nen praumlsentiert werden Abgeschlossen wird die Arbeit durch Listen (S 465ndash470) die die gezielte Suche im Katalogteil erleichtern ein Quellen- und Literaturverzeichnis (S 471ndash510) und einen Abbildungsnachweis (S 511) Ferner sind dem Buch mehrere Karten beigegeben

Auf eine instruktive Einleitung (S 13ndash28) in der das Untersuchungsgebiet die Fragestellung und die Forschungsgeschichte naumlher vorgestellt werden und einige Bemerkungen zur Genese des Quellenbestandes (S 29ndash39) folgt mit dem Kapitel bdquoTypologie und Auswertung der Plaumltze mit roumlmerzeitlichen Befunden bzw Fundenldquo (S 40ndash201) das Herzstuumlck des Analyseteils In diesem Kapitel wird dem Leser die im Katalogteil steckende Masse an Informationen durch eine detaillierte wissenschaftliche Auswertung der Befunde und Funde uumlbersichtlich praumlsentiert Daran anschlieszligend wird naumlher auf die Chronologie eingegangen (S 202ndash222) und eine archaumlologisch-historische Auswertung bezuumlglich der Siedlungsgeschichte des Arbeitsgebiets vorgenommen (S 223ndash277) Abgeschlossen wird der Analyseteil durch eine Zusammenfassung (S 278ndash283) Im Analyseteil seiner Arbeit liefert Bloumlck eine Vielzahl an interessanten Beobachtungen zu den Siedlungsarten und den einzelnen Siedlungsstellen Im Folgenden sollen nur die wichtigsten siedlungsgeschichtlichen und historischen Schlussfolgerungen des Autors zusammengefasst werden da sie nicht nur fuumlr die Lokalgeschichte sondern auch fuumlr uumlbergeordnete Fragen wie der Bedeutung des Rheins als Grenze der sogenann-ten Reichskrise des 3 Jh n Chr und den damit zusammenhaumlngenden Komplexen des sogenannten Limesfalls und der sogenannten Alemannischen Landnahme von Interesse sind Nach Meinung des Rezensenten legt der Autor eine schluumlssige Rekonstruktion der Siedlungsgeschichte seines Untersuchungsraumes vor In seinem Arbeitsgebiet habe laut Bloumlck die spaumltlategravenezeitliche Besiedlung gegen 80 v Chr und somit schon vor dem Ein-treffen der Roumlmer groumlszligtenteils ein Ende gefunden so dass diese bei der Ankunft Caesars am Rhein einen mehr oder weniger siedlungsleeren Raum vorgefunden haumltten Im Zuge der Feldzuumlge unter Augustus haumltten die Roumlmer deshalb ohne Probleme temporaumlre Mili-taumlranlagen im rechtsrheinischen Gebiet anlegen koumlnnen Obwohl sich die rechtsrheini-schen Gebiete noch offiziell auszligerhalb des Roumlmischen Reiches befanden habe eine zivile roumlmische Besiedlung im suumldlichen Teil des Untersuchungsgebiets in tiberisch-fruumlhclau-discher Zeit eingesetzt In dieser Zeitspanne seien ausschlieszliglich villae gegruumlndet worden ndash die noumlrdlichste in Heitersheim ndash die ihre Waren ins linksrheinische Gebiet von Augusta Raurica abgesetzt haben duumlrften waumlhrend vici dieser Zeitstellung nicht nachweisbar seien In claudisch-fruumlhflavischer Zeit habe die dortige Besiedlung zugenommen und es seien nun auch die ersten vici errichtet worden Etwas anders habe es sich im noumlrd- lichen Teil des Untersuchungsgebiets verhalten wo Bloumlck entgegen fruumlherer Forschungs-meinungen die von einer beginnenden Erschlieszligung dieses Gebiets in claudischer Zeit

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ausgingen und das Militaumlr daran beteiligt sahen festhaumllt dass die dortige Besiedlung erst in neronisch-fruumlhflavischer Zeit eingesetzt habe und zivil gepraumlgt gewesen sei In diesem Teil des Arbeitsgebiets seien dann aber nicht nur villae sondern mit dem vicus Riegel auch gleich ein wichtiger Zentralort errichtet worden Der Autor kann ferner wahrschein-lich machen dass im Zuge dieser Besiedlung umfangreiche Rodungsmaszlignahmen durch-gefuumlhrt worden sein duumlrften und zumindest ein Groszligteil der fruumlhen Siedler im suumldlichen Teil des Untersuchungsgebiets aus dem nahegelegenen linksrheinischen helvetisch- raurakischen Gebiet gestammt haben duumlrfte Im spaumlten 1 und fruumlhen 2 Jh n Chr habe sich die Anzahl der Siedlungen vermehrt Es seien weitere vici gegruumlndet und auch wei-tere villae errichtet sowie schon bestehende teilweise vergroumlszligert worden wie z B die Axialhofvilla von Heitersheim Teilweise habe man im 2 Jh n Chr in den Siedlungen repraumlsentative Bauten errichtet wie die um 120 n Chr fertiggestellte Basilika in Riegel oder die wahrscheinlich ebenfalls in der ersten Haumllfte des 2 Jh n Chr errichtete Ther-menanlage in Badenweiler In der zweiten Haumllfte des 2 Jh n Chr sei es zu einer weiteren infrastrukturellen Erschlieszligung des Gebiets gekommen was beispielsweise aus der Gruumln-dung der Bergbausiedlung in Sulzburg hervorgehe Gleichzeitig duumlrfte der Ruumlckgang der Bestattungen darauf hindeuten dass auch manche Siedlungsstelle verlassen worden sei Im 3 Jh n Chr habe eine Siedlungsreduktion eingesetzt deren genauer chronologischer Ablauf aber schwer zu rekonstruieren sei Neben einer Reduktion des Siedlungsareals wie es sich im vicus von Riegel nachweisen lieszlige habe man mehrere andere vici im ersten Drittel des 3 Jh n Chr ganz aufgegeben Ebenso duumlrften einige villae in diesem Zeitraum verlassen worden sein in anderen habe eine Reduktion und Umnutzung der Baustruktur stattgefunden Allerdings seien auch vereinzelte Beispiele fuumlr repraumlsentative Umbauten an villae feststellbar so dass kein gleichmaumlszligiger krisenhafter Verfallsprozess zu konstatieren sei Es lasse sich auch kein Zusammenhang mit den historisch bekannten Germaneneinfaumlllen herstellen weshalb Bloumlck von einem Transformationsprozess der Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen ausgeht der zur Aufgabe oder Reduktion einiger Siedlungsstellen gefuumlhrt habe Um die Mitte des 3 Jh n Chr sei es zu weiteren Reduk-tionen im Siedlungsbild gekommen Hierbei habe keine komplette Raumlumung des Gebiets im Zuge des sogenannten Limesfalls in den Jahren um 260 n Chr stattgefunden sondern einige Siedlungen vici wie auch villae haumltten noch bis in die Zeit um 28090 n Chr Be-stand gehabt Ein endguumlltiger Abbruch der roumlmischen Besiedlung des Untersuchungs- gebiets sei erst in tetrarchischer Zeit im Zuge des militaumlrischen Ausbaus des Rheins als Grenze feststellbar Nachdem man den Rhein unter der Tetrarchie als Grenzzone ein-gerichtet habe und die zivile roumlmische Besiedlung im Untersuchungsgebiet abgebrochen war koumlnne man in der ersten Haumllfte des 4 Jh n Chr Militaumlrplaumltze in Grenzach-Wyhlen und vielleicht in Bad Saumlckingen und Riegel nachweisen Da diese Orte an wichtigen Verkehrsknotenpunkten des rechtsrheinischen Gebiets lagen vermutet Bloumlck dass das Verkehrsnetz aus roumlmischer Zeit in der ersten Haumllfte des 4 Jh n Chr noch funktioniert habe und durch die Militaumlrplaumltze kontrolliert worden sei Ebenso seien weiterhin Roh-stoffe im Rechtsrheinischen gewonnen worden was vom Tuniberg im Kaiserstuhl stam-mende Steine belegen die man fuumlr den Bau des praetorium in Breisach verwendet habe Uumlber die laumlndliche Besiedlung zu dieser Zeit sei wenig bekannt die bekannten Funde koumlnnten jedoch die Vermutung unterstuumltzen dass germanische Siedler sich an einigen zuvor roumlmischen Siedlungsplaumltzen niedergelassen haumltten Einen wirklichen Wandel in der Besiedlung koumlnne man aber erst im spaumlten 4 Jh n Chr und im fruumlhen 5 Jh n Chr mit der Errichtung von Houmlhensiedlungen und laumlndlichen germanisch gepraumlgten Sied-

751Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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lungen fassen Diese Veraumlnderungen sieht Bloumlck mit dem Zuzug germanischer Bevoumllke-rungsgruppen in Zusammenhang stehend

Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Autor eine archaumlologisch wie auch histo-risch uumlberaus anregende Siedlungsgeschichte des suumldlichen rechten Oberrheingebiets vorgelegt hat die sowohl fuumlr zukuumlnftige archaumlologische wie auch historische Forschun-gen zu diesem Gebiet aber auch zu Obergermanien als Ganzem ein wichtiges Referenz-werk sein wird Daruumlber hinaus duumlrften von dieser Arbeit ebenfalls Impulse fuumlr weitere uumlbergeordnete Fragen wie beispielsweise dem Ablauf der sogenannten Reichskrise des 3 Jh n Chr im Norden des Imperium Romanum oder der Ausgestaltung roumlmischer Grenzzonen ausgehen

Markus Zimmermann

Francisca FERAUDI-GRUEacuteNAIS Renate LUDWIG Die Heidelberger Roumlmersteine Bild-werke Architekturteile und Inschriften im Kurpfaumllzischen Museum Heidelberg Heidelberg Kurpfaumllzisches Museum u a 2017 123 S Brosch EUR 16ndash ISBN 978-3-8253-6693-3

Schon der im fruumlhen 3 Jh n Chr schreibende Historiker Cassius Dio haumllt in seinem Werk fest dass in den Provinzen taumlglich Dinge geschehen wuumlrden von denen man in Rom nichts erfahre (Cass Dio 53 19 4 f) Diese Ausgangslage ist fuumlr die heutzutage an der roumlmischen Geschichte Suumlddeutschlands Interessierten durch die fragmentarische Uumlberlieferung der antiken Literatur und deren Rom-Zentrierung nicht gerade besser ge-worden und so waumlre unsere Kenntnis der Geschichte des rechtsrheinischen Obergerma-nien ohne die Archaumlologie und die Epigraphik recht gering Es ist deshalb uumlberaus zu begruumlszligen dass Francisca Feraudi-Grueacutenais und Renate Ludwig mit den im Kurpfaumllzi-schen Museum ausgestellten Steindenkmaumllern sowie einigen Kleininschriften diese fuumlr die Geschichte des Heidelberger Raumes in roumlmischer Zeit so wichtige Quellengruppe der Oumlffentlichkeit in einem mit einleitenden Erlaumluterungen versehenen Katalog zugaumlng-lich gemacht haben

In den einfuumlhrenden Kapiteln (S 9ndash20) werden knapp aber konzise die Forschungs- und Sammlungsgeschichte die Funktion von roumlmischen Inschriften der archaumlologische Kenntnisstand zum antiken Heidelberg und die Aussagekraft der Heidelberger Inschriften fuumlr unsere Kenntnis der dortigen Verhaumlltnisse in roumlmischer Zeit skizziert Die Fachwis-senschaft wird in diesem Teil nichts Neues finden Die interessierte Oumlffentlichkeit jedoch an die sich das Werk laut Vorwort richtet bekommt hier das Ruumlstzeug auf den Weg mit-gegeben das fuumlr ein Verstaumlndnis der im Katalog vorgestellten Denkmaumller notwendig ist Der ausfuumlhrliche Katalog (S 21ndash106) bildet das Herzstuumlck des Buches und praumlsentiert die einzelnen Denkmaumller Diese sind mit Farbfotographien abgebildet Sollte eine In-schrift vorhanden sein was bei der Mehrzahl der Denkmaumller der Fall ist so ist dieser eine deutsche Uumlbersetzung beigegeben Ein Kommentar sowie ein kleiner Infokasten zu jedem Denkmal liefern weitere nuumltzliche Informationen Insgesamt ist der Katalogteil als sehr gelungen zu bezeichnen und liefert alle Informationen die man fuumlr eine weitere Beschaumlftigung mit den Denkmaumllern benoumltigt Abgeschlossen wird das Buch durch ein hilfreiches und ausfuumlhrliches Register (S 107ndash122) und den Abbildungsnachweis (S 123) Insgesamt haben die Autorinnen ein informatives Werk vorgelegt wobei der Katalogteil nicht nur der interessierten Oumlffentlichkeit sondern bestimmt auch Studieren-den oder Forschenden die sich einen Uumlberblick uumlber die Ausstellungsstuumlcke des Mu- seums verschaffen wollen gute Dienste leisten wird Markus Zimmermann

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Juumlrgen KEDDIGKEIT Stefan ULRICH (Hg) Ausgewaumlhlte Beitraumlge der pfaumllzischen Bur-genforschung 2014ndash2018 (Burgen in der Pfalz Reihe F Bd 1) Neustadt an der Wein-straszlige Selbstverlag der Stiftung zur Foumlrderung der pfaumllzischen Geschichtsforschung 2018 XXXIV 385 S Abb geb EUR 43ndash ISBN 978-3-942189-24-8

Seit 1993 finden mit wechselnd zusammengesetzter Ausrichterschaft bdquoPfaumllzische Burgensymposienldquo statt Das 25 bot Anlass deren Programme zu publizieren (S IXndashXXXIV) und erstmals ausgewaumlhlte Referate im Sinne einer bdquohaptischen Plattformldquo ndash so das Vorwort der Herausgeber ndash zum Abdruck zu bringen Zunaumlchst gibt (S 1ndash30) Juumlrgen KEDDIGKEIT einen Uumlberblick uumlber die Burgenforschung dieses historischen Raums beginnend 1726 mit einer Zweibruumlcker Schuumllerarbeit zur Geschichte des Trifels von Johannes Schlaaff (vgl dazu die Rezension der Neuedition von 2016 in ZGO 165 [2017] S 544 f) und spaumlter gepraumlgt durch das unverbundene und daher unfruchtbare Neben- einander von geschichtlich und baugeschichtlich orientierten Werken darunter auch badischer Autoren wie J Naeher was im Grunde neuerdings erst durch das Zusammen-wirken von Thomas Biller und Bernhard Metz uumlberwunden wurde bestaumltigt durch die Bearbeitung des Pfaumllzischen Burgenlexikons (1999ndash2007) das seinerseits weitere Aktivitaumlten wie Fuumlhrer und Quelleneditionen anregte

Es folgt (S 31ndash56) der Wiederabdruck eines Beitrags bdquoBerg Burg und Herrschaft im hohen Mittelalterldquo von Stefan WEINFURTER (dagger) der eine Feststellung Manfred Grotens fuumlr den Raum des Erzstifts Koumlln aufgreifend die eigentliche Adelsburg als Gipfelburg ca 1080 also im Investiturstreit entstanden sah als Manifestation hochadligen Aufstei-gertums und Kern spaumlterer Territorialstaatlichkeit zu Lasten der hergebrachten Land-rechtspraxis

Andreas Urban FRIEDMANN konnte einen 2014 unter dem Titel bdquoDer Enthalt in den pfaumllzischen Burgfriedensurkundenldquo gehaltenen Vortrag dank seiner 2018 erschienenen Quellenedition (vgl die Rezension in ZGO 167 [2019] S 458ndash460) nun umarbeiten zu bdquoBurg und Fehde im Spiegel der pfaumllzischen Burgfriedensurkundenldquo (S 57ndash92) und ver-steht dabei ndash viel zu eng gefuumlhrt ndash die Burgfriedensurkunde bdquowesentlich als fehderecht-liche Ausnahme- persoumlnliche eben und oumlrtliche Unterlassungserklaumlrungldquo (S 58 vgl auch S 87) Da der Rezensent 2009 in einem Aufsatz auf der Grundlage von 80 Burg-friedensurkunden das Phaumlnomen der Burgfrieden systematisch zu beschreiben versucht hat diese Arbeit von Friedmann jedoch lediglich einmal an entlegener Stelle (Anm 96) erwaumlhnt wird um eine dort nur in Anlehnung an fruumlhere Arbeiten getroffene Feststellung zur Dauer des Enthalts zu verwerfen (was Anm 100 in bdquoUnsinn solch traditionell gewordener Wertungldquo gipfelt) nimmt er wegen Befangenheit zu diesem Beitrag nicht weiter Stellung

Mit Vergnuumlgen nimmt man dagegen zur Kenntnis was Martin ARMGART (S 93ndash116) uumlber bdquoDie Schenken von Ramberg und ihre Stiftung Muszligbachldquo ndash im bdquoHerrenhofldquo dort finden neuerdings die Burgensymposien statt ndash auszufuumlhren weiszlig naumlmlich zur Rolle des Johanniterordens und seiner Kommende Heimbach deren membrum Muszligbach aus jener Stiftung entstand und ndash neu ndash zum mutmaszliglich Hochstift-Speyerer Schenkenamt des der Reichsministerialitaumlt entstammenden Familie von Ramberg Die hier schon sichtbar ge-wordene ertragreiche Verschraumlnkung mit der Bearbeitung des Pfaumllzischen Klosterlexikons bestaumltigt auch Ulrich BURKHARTS Beitrag (S 117ndash150) uumlber das von der lothringischen Herzogsfamilie ndash sogar zeitweise als Grablege ndash gegruumlndete Zisterzienserkloster Stuumlr-zelbronn (zwischen Weiszligenburg im Elsass und Bitsch) im Kontext der benachbarten zahl-

753Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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reichen adligen Burggruumlndungen die als eigenstaumlndig und nicht (mehr) von der Kaiser- pfalz Hagenau abhaumlngend qualifiziert werden

In seinem Beitrag bdquoDie Bedeutung von Burgen fuumlr den Niederadel an der Wende vom 15 zum 16 Jahrhundertldquo vermag Joachim SCHNEIDER auch dank eines prosopographi-schen Ansatzes Wertvolles zum Wesen der Ganerbenburgen ndash bdquoKristallisationskernen adliger Vergesellschaftungldquo (S 173) ndash beizubringen naumlmlich hinsichtlich eines Inte- ressenausgleichs untereinander Schaffung einer gemeinsamen Identitaumlt und Foumlrderung gemeinsamer standespolitischer Zielsetzungen Nur dass ebenso wie Franz von Sickingen 1510 auch Koumlnig Maximilian I 1505 (nur) aus Prestigegruumlnden in die Ganerbschaft Drachenfels eingetreten sei moumlchte man hinterfragen

Aus eigener editorischer Erfahrung speist Hans-Joachim KUumlHN seinen Beitrag bdquoPfalz-Zweibruumlcker Burgbesatzungen im Spiegel spaumltmittelalterlicher Rechnungenldquo (S 175ndash200) als mit uumlberraschend wenig und noch dazu mehrfunktional eingesetztem Personal der Wandel sogar von Residenzburgen von der Wehrhaftigkeit zum Verwal-tungssitz zu organisieren war

Anders als im Fall der klassischen Ministerialenburg Muumlnzenberg in der Wetterau ist von der Burg (Neu-)Bolanden des mindestens ebenso prominenten am Donnersberg beheimateten Ministerialengeschlechts der Bolanden fast nichts Aufgehendes mehr zu sehen Aus dieser Not machen Olaf WAGENER und Achim WENDT (S 201ndash272 ebenso ein Wiederabdruck) eine Tugend indem sie aus Anlass und dank einer 2014 begonnenen umfassenden Untersuchung musterhaft alle Informationen zur Geschichte Abbildungen und Karten eine geophysikalische Prospektion und den Baubefund systematisch zu einer eindrucksvollen Synthese verdichten gefolgt von einer Abschichtung von der aumllteren wohl um 1200 aufgegebenen Niederungsburg Alt-Bolanden und im Vergleich mit Burg Muumlnzenberg mit der das Ermittelte ndash naumlmlich die bauliche Dimension eines Grafensitzes mit einem Bergfried von 13 m Seitenlaumlnge und groszligem Palasbau ndash keinen Vergleich zu scheuen braucht ein Essay zur imperialen Architekturrepraumlsentation mit einer Warnung vor Uumlberinterpretationen kroumlnt das Ganze

Die ideologische Indienstnahme von Burgen thematisiert Fabian LINK der die durch den bayrischen Ministerpraumlsidenten Ludwig Siebert betriebene nicht konservierende sondern bdquoim staufischen Geistldquo Neues schaffen wollende Wiederrichtung des Trifels als Zeugnis eines bdquonationalsozialistischen Mediaumlvalismus und der NS-Kulturpolitik in der Pfalzldquo (S 273ndash298) beschreibt und dabei auch auf die Herleitung solchen Gedankenguts aus der aumllteren Heimatbewegung und auf Parallelen im spanischen und italienischen Faschismus hinweist so wundert es nicht dass 1948 ein Komitee zur Fertigstellung der Baumaszlignahme Rudolf Esterers aufrief die von 1955 bis 1966 stattfand

Musterhaft stellen Bernhard METZ und Thomas BILLER (S 299ndash344) die Geschichte und Bauanalyse der als Schutz von Rodungsgebiet angelegten Burg Hohnack hoch ober-halb Colmar dar die Mitte des 14 Jahrhunderts als Nebensitz der Rappoltsteiner aufge-geben aber um 147080 als im Unterschied zu deren Stammburgen kanonensicherer Sitz gleichsam zur Proto-Festung umgestaltet wurde was 1655 Frankreich zur ihrer Schlei-fung veranlasste Schlieszliglich widmet sich Stefan ULRICH akribisch der Erforschung der gegenuumlber Neuleiningen gelegenen und viele Raumltsel aufgebenden bdquoAlten Burg zu Bat-tenbergldquo (S 345ndash384) sie duumlrfte zunaumlchst um 1200 auf Besitz der Abtei Murbach wohl unberechtigt erbaut und daher bald wieder niedergelegt worden sein um etwa 1600 durch die Grafen von Leiningen-Hardenberg als Sitz wiedererrichtet und nach Teilzerstoumlrungen wohl 1689 1747 erneut aufgegeben zu werden

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Diese gut mit Abbildungen und Plaumlnen ausgestattete Publikation vermag den derzei-tigen Stand der Burgenforschung naumlmlich ihre interdisziplinaumlre und diachrone Leistungs-faumlhigkeit ihre Themen- und Methodenvielfalt aber auch ihre Probleme gut bewusst zu machen Sie verdient daher Aufmerksamkeit weit uumlber dieses Fachgebiet hinaus ebenso auch raumlumlich weit uumlber die im Titel suggerierte Beschraumlnkung auf die Pfalz

Volker Roumldel

Roland WEIS Burgen im Hochschwarzwald Ostfildern Thorbecke 2019 240 S Abb

geb EUR 29ndash ISBN 978-3-7995-1368-5

Das von dem Neustaumldter Autor und Historiker Roland Weis vorgelegte Buch uumlber Burgen im Hochschwarzwald behandelt das Gebiet zwischen dem Dreisambecken im Westen der Schluchsee-Gegend im Suumlden dem Uumlbergangsbereich von Schwarzwald und Baar im Osten und bis Voumlhrenbach im Norden Hier liegt ein Interessenschwerpunkt des Autors der neben etlichem anderen bereits mehrere Baumlnde uumlber den Hochschwarzwald mit der zeitlichen Ausdehnung von der Praumlhistorie bis heute aber auch mehrere Hoch-schwarzwald-Wanderfuumlhrer und -Kriminalromane veroumlffentlicht hat Der Band will mit bdquopopulaumlrwissenschaftlichem Ansatz als Lese- und Einfuumlhrungsbuch verstanden seinldquo Zur leichteren Lesbarkeit wurde auf Fuszlignoten im Text verzichtet wobei der Autor den bdquowissenschaftlichen Anspruchldquo dadurch nicht geschmaumllert sieht (S 15) Der Band ist mit einem Literaturverzeichnis und einem Orts- und Personenregister ausgestattet

Eine definitorische Eingrenzung was eine Burg ist wird nicht vorgenommen Daher werden vielfaumlltige Formen von Befestigungen und repraumlsentativen Gebaumluden behandelt die in der Fachliteratur gewoumlhnlich unterschieden werden Das chronologisch geordnete Buch beginnt mit praumlhistorischen Anlagen die bis ca 800 n Chr datiert werden gefolgt von weiteren zeitlichen Kategorien bdquobis 1000 nach Christusldquo bdquobis 1300 nach Christusldquo bdquobis 1500 nach Christusldquo und bdquobis heuteldquo (Kartierung auf S 8 f) Unter den aumlltesten Anlagen finden sich eisen- und voumllkerwanderungszeitliche darunter Tarodunum im Drei-samtal und das Roumlmerkastell in Huumlfingen Die drei mittleren zeitlichen Kategorien behandeln mittelalterliche Adelsburgen wobei besonders bei den aumllteren die zeitliche Einreihung mitunter deutlich von der bisherigen burgenkundlichen Literatur abweicht die keinen Anlass sieht fuumlr diese Burgen eine Entstehung vor dem mittleren 11 Jahrhun-dert anzunehmen In der letzten Kategorie werden vier Schloumlsser bzw Amtshaumluser behandelt von denen drei auf aumlltere herrschaftliche Gebaumlude folgten

Der Band behandelt insgesamt 52 Anlagen denen fast durchgaumlngig Fotografien des Autors beigegeben werden Diese sind mal mehr mal weniger aussagekraumlftig was mit der teils schwer fotografierbaren Situation vor Ort zu tun haben mag Die vom Autor in den Bildern festgestellten Befunde koumlnnen vom Betrachter nicht immer nachvollzogen werden Eigene Grundrisszeichnungen die diesbezuumlglich vielleicht haumltten Abhilfe schaf-fen koumlnnen fehlen Ebenfalls beigegeben werden zu fast allen Anlagen Rekonstruktions-zeichnungen die das Laienpublikum gerne sieht die Fachwelt jedoch ablehnt Weis ist sich der Problematik bewusst dass die archaumlologischen und baukundlichen Befunde solche Rekonstruktionen so gut wie nie zulassen moumlchte aber dennoch in Anlehnung an Arthur Hauptmanns populaumlre Darstellung bdquoBurgen einst und jetztldquo nicht darauf verzich-ten da auf diese Weise bdquoromantisierende Annaumlherungenldquo moumlglich seien bdquodie bis zu einem gewissen Grad hohe Plausibilitaumlt in sich bergenldquo Dabei stuumltzt er sich auf aumlltere Darstel-lungen der Anlagen oder orientiert sich an bdquovergleichbaren Bauten in vergleichbaren Zeit-

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horizonten und in verwandten Gelaumlndereliefsldquo (S 13) Von der Burg Stallegg berichtet Weis beispielsweise bdquoOb ein Bergfried vorhanden war ein Palas eine Vorburg eine Wehrmauer ndash wir wissen es nichtldquo (S 113) Dennoch sind alle diese Bauteile auf der Rekonstruktionszeichnung drei Seiten davor dargestellt

Etliche Befunde und Darstellungen des Bandes sind fragwuumlrdig ndash hier einige Beispiele Am Weg von Huumlfingen nach Riegel vermutet Weis bdquoRoumlmertuumlrmeldquo die der bdquoReiselfinger Dorflehrer Theodor Laubenbergerldquo am Standort der andernorts im Band behandelten Burgen Stahleck und Tanneck bereits im Jahr 1908 angenommen hatte (S 42 f) Dass in den uumlber 100 Jahren seither keinerlei Uumlberreste oder Spuren dieser Tuumlrme aufgefunden werden konnten ficht Weis nicht an bdquoDas Fehlen solcher Beweise ndash nach denen auch noch nie gesucht wurde ndash beweist natuumlrlich noch lange nicht das Fehlen an sichldquo Diese Argumentation ist wohlfeil Seine bdquoSpekulationldquo uumlber die Roumlmertuumlrme versucht Weis mit der Herleitung des Namens der Freiburger Patrizierfamilie Turner von einem Roumlmerturm zu unterfuumlttern den Joseph Bader im Jahr 1866 auf der Schwarzwaldhoumlhe Thurner annahm In der Freiburger stadtgeschichtlichen und burgenkundlichen Literatur besteht allerdings schon seit langem Konsens dass der Name der Familie von einem ndash mittel- alterlichen ndash Turm im ehemals im heutigen Stadtteil Wiehre gelegenen Turnsee herzu-leiten ist

Die Burg Wiesneck zaumlhlt zu den aumlltesten historisch belegten Burgen am Oberrhein Ihre erste Erwaumlhnung findet sich zum Jahr 1079 Die Entstehung der Burg wird zu einem nicht genauer eingrenzbaren Zeitpunkt im 11 Jahrhundert vor diesem Datum angenom-men wobei insbesondere archaumlologische Funde aus dieser Entstehungsphase bislang feh-len Nachdem Weis wohl auf Grundlage der einschlaumlgigen Literatur die Geschichte der Burg in Eckdaten nachzeichnet (S 54 ff) widmet er sich der Frage nach ihrem bdquowahren Alterldquo (S 56) Ohne Naumlheres auszufuumlhren schreibt er von vielen Indizien die fuumlr eine bdquofraumlnkische alemannische oder gar keltische Vergangenheit des Burgplatzesldquo spraumlchen Im Kern argumentiert er dass es in jenen Zeiten bereits Wege uumlber den Schwarzwald ge-geben habe die von der Burg Wiesneck aus bereits damals geschuumltzt worden sein koumlnnten (bdquoDie Burg Wiesneck haumltte dazu an der richtigen Stelle gestandenldquo) und bringt als Er-bauer bdquokleinadelige Pioniereldquo ins Gespraumlch die hier die Funktion der Schutzherren uumlber-nommen haumltten

Unter dem Namen bdquoKasteleckldquo fuumlhrt Weis eine kleine Motte bei Oberried ein (S 59 ff) die jedoch unter diesem Namen in den Quellen gar nicht auftaucht Das Toponym gehoumlrt zu einer Bergnase gegenuumlber der in der Ebene gelegenen Burgstelle und in ca 500 m Entfernung In einer nicht nachvollziehbaren Argumentation vermischt er den Flurnamen ein in der Literatur genanntes festes Haus das bei diesem Kasteleck gelegen haben soll und eben die namenlose Motte bei Oberried Zudem plaumldiert Weis auch hier fuumlr ein deutlich houmlheres Alter als bislang angenommen Hierzu fuumlhrt ihn die Annahme eines Wegenetzes auf den Hochschwarzwald wie bereits bei der Burg Wies-neck postuliert das von der Motte aus geschuumltzt werden sollte

Auf den Anhoumlhen zwischen dem Houmlllental und dem Weilersbacher-Zastlertal gibt es die Toponyme Roteck und Schwarzeck Wegen in der Gegend gelaumlufiger Sagen nimmt Weis auch hier die Existenz zweier Burgen an Obwohl es keinerlei archaumlologische oder historische Quellen gibt wird auch diesem Artikel eine Rekonstruktion einer der beiden Burgen vorangestellt (S 67) Zudem verunsichert es Weis nicht dass in der Sage die vom Schwarzeck uumlberliefert ist gar keine Burg vorkommt Die Sage vom Roteck ndash hier gibt es immerhin eine stereotype Erzaumlhlung von einem grausamen Burgherrn der mitsamt

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seinem Schloss am Ende in einem unterhalb der Burgstelle gelegenen See versank ndash ist der einzige Hinweis auf eine an dieser Stelle gelegene Burg Dies nimmt Weis als Indiz fuumlr das hohe Alter der Anlage die hier einst gestanden habe bdquoin [der] Zeit vor den urkundlichen Belegenldquo (S 70) Dass die Sage eines historischen Kerns entbehren koumlnnte wird dagegen nicht in Erwaumlgung gezogen

Weis geht generell von einer fruumlheren Besiedlung des Hochschwarzwalds aus als weit-hin angenommen Dies wirkt vor allem in die Diskussionen um die Entstehungszeit der aumlltesten Burgen hinein Fuumlr die dabei ins Gespraumlch gebrachten Zeitraumlume kann Weis dann allerdings keine validen Belege beibringen so dass diese Abschnitte spekulativ sind ndash in aller Regel durchaus auch so gekennzeichnet bzw bezeichnet Hinzu kommt eine weithin unkritische Einstellung der aumllteren und aumlltesten Literatur sowie an den Orten gelaumlufigen Sagen gegenuumlber denen Weis stets bereitwillig vertraut wenn sie einen Hinweis auf eine Burg liefern Damit bleibt ein kritisches Fazit zu ziehen

Boris Bigott

Joumlrg KREUTZ Berno MUumlLLER (Hg) Sakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreis Heidelberg Eigenverlag Rhein-Neckar-Kreis 2018 613 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-932102-39-4

Einem Messbuch gleich liegt der groszligformatige Band auf dem Tisch 616 Seiten mit ca 1400 Abbildungen 38 kg Gewicht lila Hardcover Lesebaumlndchen in Lila und Gelb Auf dem Einband eine kreuzfoumlrmige Fotocollage mit Werken kirchlicher Kunst aus ver-schiedenen Jahrhunderten Kruzifix Wand- und Deckenmalerei Madonnenfigur Glas-fenster Kanzel Orgel Glocke Damit ist der Inhalt des Buches umrissen bdquoSakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreisldquo Das Werk vereint eine riesige uumlber Jahre hinweg zusammen-getragene und beschriebene Materialfuumllle ndash eine Leistung fuumlr die den Herausgebern dem Autorenteam aus verschiedenen fuumlr das Thema relevanten Fachgebieten und der Foto-grafin groszliger Respekt zu zollen ist

Der Band erlaumlutert Architektur und kuumlnstlerische Ausstattung von 210 katholischen und evangelischen Kirchen aus den 54 Staumldten und Gemeinden des Rhein-Neckar- Kreises Gleichzeitig beschreibt er rund tausend Jahre religioumlse Architektur und Kunst-geschichte Von der auf einer roumlmischen Marktbasilika basierenden Kirche St Gallus in Ladenburg deren Krypta im 11 Jahrhundert erbaut wurde bis zum evangelischen Pau-lushaus in Malsch das 2016 fertiggestellt wurde Zudem ist es den Machern des Buches wichtig die Kirchen als Orte der Froumlmmigkeit und des geistlichen Lebens vorzustellen und zum Besuch derselben einzuladen

Den Anfang machen zwei Beitraumlge von Hans GERKE Der ehemalige Direktor des Hei-delberger Kunstvereins hat sich lange mit Kirchen beschaumlftigt In der renommierten Reihe der Kunstfuumlhrer des Verlags Schnell amp Steiner hat Gerke seit 1970 Kirchenfuumlhrer ver- oumlffentlicht und schoumlpft fuumlr den vorliegenden Band aus diesem Wissensspeicher Er erlaumlutert die Konfessions- und Kirchengeschichte des Rhein-Neckar-Kreises und bettet sie in die uumlber die Jahrhunderte hinweg sich wandelnde politische wirtschaftliche und kulturelle Geschichte der Kurpfalz ein Gerke beschreibt das Nebeneinander der katho-lischen und evangelischen (lutherischen und reformierten) Konfessionen und Kirchen-gemeinden was sich in zahlreichen Simultankirchen manifestierte Seine Abhandlung macht aber auch deutlich dass die Verwaltungseinheit des Rhein-Neckar-Kreises die dem Band konzeptionell zugrunde liegt nur ein Ausschnitt aus der ehemaligen Kurpfalz und dem Oberrheingebiet ist So bleiben insbesondere die Kirchen in den heute kreis-

757Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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In den Norden des Reichs fuumlhrt die Geschichte der bdquoLuumlbischen Waumlhrungsunionldquo in der sich zwischen 1379 und der Mitte des 16 Jahrhunderts Luumlbeck Hamburg Luumlneburg und Wismar sowie andere wechselnde Partner zusammenfanden Die Partner legten ge-meinsam den Muumlnzfuszlig fuumlr bestimmte Praumlgungen fest Luumlbeck dominierte den Verbund in Zeiten in denen die Stadt sich fernhielt funktionierte die Union eher schlecht

Deventer in einem anscheinend kaiserfernen Raum gelegen erhielt 1486 ein Muumlnz-privileg Kaiser Friedrichs III fuumlr die Praumlgung von Goldmuumlnzen Damit stellt sich die Frage nach dem Status der Stadt zumal die Initiative offenbar von ihr ausging Evelien TIMPENER sieht aber auch die Interessen Friedrichs III an den Niederlanden und die Reichsferne Deventers als ausschlaggebend an Praumlgungen solch weit entfernter Kom-munen beeinflussten den Geldumlauf im Innern des Reiches kaum

Dortmund geriet durch die bdquoGroszlige Fehdeldquo von 138889 gegen den Grafen von Mark und den Erzbischof von Koumlln in eine Schuldenfalle Vor der Auseinandersetzung hatte sich die Stadt im Wesentlichen aus indirekten Steuern finanziert die allerdings stark im Steigen begriffen waren Das fuumlhrte zu innerstaumldtischen Auseinandersetzungen zwischen Rat und Buumlrgerschaft uumlber die dann notwendige direkte Besteurung und den noumltigen Steuersatz wie Thomas Schilp schreibt Anschlieszligend uumlberstand Dortmund die Bedro-hung zwar siegreich sah sich aber mit gewaltigen Schulden konfrontiert Der Rat fuumlhrte eine hohe Akzise ein und verlangte eine Vermoumlgensteuer von fuumlnf Prozent wofuumlr die Zustimmung der Buumlrger einzuholen war Die Zuumlnfte verlangten detaillierte Rechenschaft des Rates und besetzten schlieszliglich das Rathaus Am Ende stand ein Kompromiss der den Buumlrgervertretern eine direkte Mitwirkung im Rat zugestand

Dass Staumldte auch ohne den Erwerb direkter Herrschaftsrechte ein Territorium kon- trollieren konnten zeigt das von Stefan SONDEREGGER geschilderte Beispiel der Stadt St Gallen Ihre Buumlrgerinnen und Buumlrger erwarben zahlreiche Rechte im Herrschafts- bereich der Abtei St Gallen ndash trotz des konfessionellen Gegensatzes Die einzelnen Rechte dienten dabei unterschiedlichen Zielen ein Hafen gehoumlrte ebenso dazu wie Rechte an Bauernhoumlfen die Wein oder Getreide produzierten und fuumlr Versorgung der Stadt dienten Private Landsitze und Schloumlsser schlieszliglich hatten wirtschaftliche Aufgaben unterstrichen aber auch das Prestige der Besitzerfamilien

Staumldte wie Konstanz und Esslingen hatten zunaumlchst Interesse an der finanziellen Aus-beutung ihrer juumldischen Gemeinden Im 15 Jahrhundert wurden die Juden weitgehend aus beiden Staumldten vertrieben Die von Christian HAGEN vorgestellte Auswertung des Konstanzer Ammanngerichtsbuch zeigt tatsaumlchlich die schwindende Bedeutung juumldischer Kreditgeber die wohl zunehmend in den Bereich Kleinkredite abgedraumlngt wurden

Muumlhlhausen in Thuumlringen und Nordhausen feierten am Freitag vor Palmsonntag die Erinnerung an die Abwehr zweier Versuche die Staumldte zu erobern Sie riefen dazu Ge-daumlchtnisspenden ins Leben die der Verteilung von Brot und Heringen an Arme gewidmet waren Die Spenden uumlberdauerten die Zeiten die Erinnerung an ihren Anlass aber ver-schwand wie Julia MANDRY darlegt Die Stadtgesellschaft inszenierte sich bei der Spen-denverteilung selbst Einbezogen wurden zunehmend groszlige Teile der Stadtbevoumllkerung auch die Baumlcker profitierten wohl

In Windsheim sind Stadtrechnungen ab 139394 erhalten die auch Nachweise der Haushalte dieser kleinen Reichsstadt enthalten Gabriel ZEILINGER lotet die Moumlglichkeiten aus solche Quellen zu analysieren Rechnungen sind oft die fruumlhesten erhaltenen Quellen und ermoumlglichen auch detaillierte Einblicke in die Politik- und Kommunikations- geschichte ndash uumlber ihre wirtschaftlichen und sozialen Informationen hinaus

772 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

freien Staumldten Heidelberg und Mannheim und damit die weltlichen religioumlsen und kulturellen Zentren des Gebietes von der Beschreibung ausgeschlossen Mehrfach eingestreute kleine Texte mit der Uumlberschrift bdquoBlick nach Heidelbergldquo suchen dies aus-zugleichen

Gerkes zweiter rund 250 Seiten umfassender Beitrag ist regional gegliedert und bietet Einzelbeschreibungen der Kirchen mit ihrer jeweiligen Geschichte Architektur und kuumlnstlerischen Ausstattung Dabei stuumltzt sich der Autor weitgehend auf vorliegende Sekundaumlrliteratur so dass ndash so Gerke S 37 ndash bdquonicht alle Kirchen gleichermaszligen und gleich ausfuumlhrlich beruumlcksichtigtldquo werden Die Vorlage eines umfassenden wissenschaft-lich bewerteten Inventars war nicht geplant So kommt zwangslaumlufig manche Kirche zu kurz z B die Evangelische Martin-Luther-Kirche in Ilvesheim Obwohl sie in einer neugierig machenden Bildunterschrift (S 50) als eine der bdquointeressantesten Kirchen- neubauten des 20 Jahrhunderts im Rhein-Neckar-Kreisldquo beschrieben ist umfasst ihre Beschreibung nur zwoumllf Zeilen

Es folgen mehrere Beitraumlge zu Einzelaspekten Dabei werden zum einen konfessionelle Gesichtspunkte angesprochen So beschreibt die Kunsthistorikerin Maria Lucia Weigel bdquoReformatoren im Bildnisldquo Der Kirchenbaudirektor Werner WOLF-HOLZAumlPFEL erlaumlutert bdquoKatholische Sakralraumlume im Spannungsfeld von Kunst Liturgie und Denkmalpflegeldquo Dass die Erhaltung der Kirchen eine groszlige Aufgabe und dauerhafte Herausforderung fuumlr die Denkmalpflege darstellt ist immer wieder deutlich dokumentiert Exemplarisch herausgehoben wird dieser Aspekt im Beitrag der beiden Restauratoren Karin und Ray-mond BUNZ uumlber bdquoDie Konservierung und Restaurierung der Jugendstilkirche St Georg in Hockenheimldquo Auch ruft der Band ins Bewusstsein dass Kirchen und ihre Ausstattung ndash dass religioumlse Kunst ndash bis heute ein wesentliches Arbeitsfeld der bildenden Kuumlnstler sind Hans-Michael KISSEL Guumlnter BRAUN Madeleine DIETZ und Clapeco VAN DER HEIDE erlaumlutern in kurzen Beitraumlgen aus Kuumlnstlersicht die konzeptionellen Hintergruumlnde zu Kunstwerken die sie fuumlr Kirchen geschaffen haben

Berno MUumlLLER der Referent fuumlr historische und politische Bildung am Archiv des Rhein-Neckar-Kreises ist stellt in einem weiteren Hauptbeitrag uumlber rund 150 Seiten in persoumlnlich getroffenen Werkzusammenstellungen kirchliche Ausstattungsstuumlcke vor Kir-chenportale Malereien an Waumlnden und Decken Kirchenfenster Prinzipalien Kreuze Tabernakel Kreuzwege Heiligenfiguren und Christusbilder

Michael Gerhard KAUFMANN Orgelsachverstaumlndiger der Erzdioumlzese Freiburg und fuumlr die Evangelische Landeskirche Baden erlaumlutert die wichtigsten Orgeln im Land- kreis bdquoals Kunstwerk[e] im Kirchenraumldquo Und schlieszliglich beschreibt Kurt KRAMER ehemaliger Glockensachverstaumlndiger der Erzdioumlzese Freiburg und einer der weltweit fuumlhrenden Experten auf diesem Gebiet die Geschichte der Kirchenglocken im Land-kreis

Ein Verzeichnis aller Kirchen mit jeweils zwei Abbildungen und den wichtigsten Daten schlieszligt das Werk ab

Der Band waumlre nicht denkbar ohne die rund 1400 eindrucksvollen Abbildungen fuumlr die die Fotografin des Rhein-Neckar-Kreises Dorothea BURKHARDT sorgte Sie zeigt die Kirchen in ihrer Architektur und sakralen Ausstattung und ruumlckt sie als Gesamtkunst-werke in sehr gutes Licht

Trotz aller fachlicher Kompetenz der Autorinnen erhebt das Buch keinen wissen-schaftlichen Anspruch wie die Herausgeber in ihrem Vorwort (S 11) betonen Deshalb gibt es keine Fuszlignoten und keine Quellennachweise Die Literaturangaben beschraumlnken

758 Buchbesprechungen

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Die Geldgeschichte wird von vier Faktoren bestimmt herrschaftlichen theologischen naturraumlumlichen und wirtschaftlichen Herrschaftstraumlger lieszligen ihre Symbole auf Muumlnzen praumlgen womit sie ihre Intentionen propagierten und behaupteten die Waumlhrungssicherheit zu garantieren Edelmetalle mussten oft von weither bezogen werden Bargeldlose Zah-lungsverfahren wie die Verrechnung von Krediten und Wechsel entstanden in den mit-telalterlichen Staumldten Geld wurde zum Maszligstab fuumlr Erfolg Die Herrschaft von Reichs- staumldten uumlber ihr Umland manifestiert sich auch in der Kontrolle der Zahlungsstroumlme Die Theologen schlieszliglich hielten an der Ablehnung von Kredit und Wucher fest was auch als Appell verstanden werden kann die Ungerechtigkeiten der sich durchsetzenden Geld-wirtschaft durch taumltige Fuumlrsorge fuumlr die Armen zu mildern

Steuern kamen in mittelalterlichen Staumldten in vielen Formen vor Die Reichsstaumldte mussten an ihren Stadtherrn den Koumlnig Abgaben entrichten die Freien Staumldte konnten nur in Ausnahmesituationen in Anspruch genommen werden was Eberhard ISENMANN in seinem Beitrag ausdifferenziert Die Staumldte selbst erhoben aber auch fuumlr eigene Be-lange zunehmend Steuern (Vermoumlgensteuern und indirekte Steuern) ndash angefangen mit der Finanzierung des Baus von Stadtmauern Die Reichssteuern wurden im 15 Jahrhun-dert entweder als Matrikularbeitraumlge der Reichsstaumlnde oder als allgemeine Vermoumlgen-steuern konzipiert Letztere mussten durch eine Notlage des Reiches in den Hussiten- bzw Tuumlrkenkriegen begruumlndet werden Eine komplizierte Steuerordnung wurde 1471 dis-kutiert eine einfache kam dann 1495 mit dem Gemeinen Pfennig zum Zuge Schlieszliglich setzten sich doch die Matrikularbeitraumlge durch Die kommunalen Steuern wiederum wur-den als solidarische Zwangsabgabe eingefuumlhrt und dienten der Finanzierung unspezifi-zierter Aufgaben Die Staumldte finanzierten sich in unterschiedlichem Maszlig aus direkten oder indirekten Steuern Zur Bekaumlmpfung von Steuerhinterziehung gab es elaborierte Verfahren

Die Staumldte brauchten schon fruumlh Kredite um ihre Aufgaben zu finanzieren Schulden-freiheit blieb zwar ein Ideal wie Hans-Joumlrg GILOMEN am Beispiel der Schweizer Reichs-staumldte schildert aber die Realitaumlt sah oft anders aus Basel etablierte sich fruumlh als wichtigster Finanzplatz fuumlr die Schweiz (neben Straszligburg) Die Stadtrechnungen zu ent-schluumlsseln stellt sich als schwierige Aufgabe heraus Es gab zahlreiche separate Kassen mit eigenen Rechnungen die nicht zu einer Gesamtrechnung zusammengefuumlhrt wurden Anleihen waren oft das Mittel der Wahl wenn auszligergewoumlhnliche Belastungen (in der Regel Kriege oder Ankaumlufe von Herrschaftsrechten) zu bewaumlltigen waren Hier gab es die Alternative zwischen Leibrenten und Wiederkaufsrenten Zinssaumltze waren bis zu einem gewissen Grad Verhandlungssache Auch Wohnort des Glaumlubigers und die Stuumlcke-lung der Anleihen mussten bedacht werden Fuumlr viele Schweizer Staumldte spielten Pen- sionszahlungen Frankreichs des Papstes etc eine herausragende Rolle fuumlr die Finanzie-rung ihrer Haushalte

Im Falle ernster Probleme konnten staumldtische Solidaritaumlten mobilisiert werden Muumlhlhausen im Elsass steckte in der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts in ernst- haften Zahlungsschwierigkeiten die seinen Status als Reichsstadt bedrohten Laurence BUCHHOLZER-REMY zeigt wie sich andere Staumldte engagierten um den Zugriff von Fuumlrsten auf die Stadt abzuwenden Sie gewaumlhrten Muumlhlhausen Kredite Tilgungsplaumlne wurden gemeinsam festgelegt Ausgaben der Stadt gekuumlrzt Die Befriedigung der Anspruumlche der eigenen Buumlrger spielte dabei nicht die wichtigste Rolle sondern die politischen Ziele standen im Vordergrund

771Allgemeine Stadtgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Verhaumlltnis zur Entstehungszeit gespannt war) Gleichwohl bleibt nach der Lektuumlre dieses spannenden Beitrags die Frage offen ob der Aspekt der materiellen Kultur hier nicht gegenuumlber der Ikonographie nachrangig ist

Fuumlr das spaumltmittelalterliche Oberrheingebiet untersucht Olivier RICHARD Funktion und Bedeutung von Objekten im Kontext von Eidesleistungen Waumlhrend res sacrae wie Reliquiare und Evangelien welche die Akteure bdquoberuumlhren halten oder anschauenldquo konn-ten (S 96) die Eide bekraumlftigen sollten erhielten die gesprochenen Formeln in Statu-tenbuumlchern Schwoumlrbriefen und Eidbuumlchern ihrerseits eine materielle Form Als bdquoRequi- siten der Eidesleistungldquo (S 116) nimmt Richard zudem Waffen Tuumlren und die in Basel an Kinder verschenkten Birnen in den Blick Die materiellen Objekte eroumlffnen somit interessante Perspektiven auf bdquodas Verhaumlltnis zwischen Religion sozialen Beziehungen und Politikldquo (S 120) Julia BRUCH naumlhert sich der Materialitaumlt zweier staumldtischer Chro-niken des 16 Jahrhunderts der Ulmer Chronik des Schuhmachers Sebastian Fischer und der Esslinger Chronik des Handwerkers Dionysius Dreytwein kodikologisch und palaumlo-graphisch an Sie kann dadurch unterschiedliche Vorgehensweisen der Schreiber ndash einen bdquolinearen Schreibprozessldquo im Esslinger Fall im Gegensatz zur bdquovorausplanenden Anlageldquo und nichtlinearen Arbeitsweise des Ulmer Chronisten ndash nachweisen und zeigen wie die Autoren ihr Material ordneten

Birgitt BORKOPP-RESTLE stellt die reiche Uumlberlieferung kostbarer Textilien vor die spaumltmittelalterliche Individuen und Korporationen in die Danziger Marienkirche stifteten Die Paramente aus zentralasiatischen und italienischen Seidenstoffen verdeutlichen Wohlstand Leistungsfaumlhigkeit und Repraumlsentationsbeduumlrfnis der Stifter zeigen aber auch die weitreichenden Beziehungen der Ostseestadt an Anna PAWLIK zeichnet anhand ver-schiedener Medien und Objekte ndash Geschlechterbuumlcher Stammbaumlume Totenschilde und Pokale ndash nach wie Nuumlrnberger Patrizier des 15 und 16 Jahrhunderts nach hochadeligen Vorbildern den bdquoSpitzenahnldquo ihres jeweiligen Geschlechts imaginierten und in Gestalt der Figur eines schlafenden bzw lagernden Ritters darstellen lieszligen Regula SCHMID rekonstruiert den Bestand von ndash materiell kaum uumlberlieferten ndash Alltagswaffen in spaumlt-mittelalterlichen Schweizer Staumldten anhand sogenannter Harnischroumldel Bei genauer Lek-tuumlre geben diese auf den ersten Blick sproumlden und stereotypen Listen bemerkenswerte Hinweise auf Qualitaumlt Zustand Gebrauch und Weitergabe der Harnische Kettenhemden Hieb- und Stichwaffen in eidgenoumlssischen Haushalten

Jan KEUPPS abschlieszligendes Resuumlmee erinnert unter dem schoumlnen Titel bdquoDie Stadt ding-fest machenldquo daran dass Georg Simmels bdquoEinsicht in die Macht des Materiellen nach-gerade am Beginn sozialwissenschaftlicher Staumldteforschungldquo gestanden habe (S 227) Indem sie sich nun wieder verstaumlrkt der materiellen Kultur zuwendet kehrt die Stadt- geschichtsforschung also gleichsam zu ihren Anfaumlngen zuruumlck Dies bedeutet freilich nicht dass Forscherinnen und Forscher die sich dem sbquomaterial turnlsquo verschreiben ledig-lich alten Wein in neue Schlaumluche fuumlllen Vielmehr vermoumlgen die Beitraumlge dieses lesens-werten Bandes gerade dort am meisten zu uumlberzeugen wo sie bekannte Quellen und etablierte Methoden mit neuen Fragestellungen kombinieren

Mark Haumlberlein

Michael ROTHMANN Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt und Geld 5 Tagung des Muumlhl-haumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte Muumlhlhausen 27 Februar bis 1 Maumlrz 2017 (Studien zur Reichsstadtgeschichte Bd 5) Petersberg Imhof 2018 397 S Abb geb EUR 2995 ISBN 978-3-7319-0651-3

770 Buchbesprechungen

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sich auf Nennungen im Kirchenverzeichnis Misslich ist dass das Ortsregister auf der Ebene der Staumldte und Gemeinden stehen bleibt und nicht auf die einzelnen Kirchen heruntergebrochen ist Dies erschwert doch erheblich das Zusammensuchen der uumlber die verschiedenen Buchbeitraumlge verstreuten Informationen und Abbildungen zu den einzel-nen Kirchen

Die bdquoSakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreisldquo dokumentiert den groszligen Reichtum der Region an wandfester Kirchenausstattung Renommierte Kuumlnstler sind hier mit Werken der angewandten Kunst vertreten die dem uumlblicherweise auf die akademischen Kuumlnste (Malerei Bildhauerei Graphik) gerichteten Blick der Kunstrezeption gerne verborgen bleiben Uumlber sein Kuumlnstlerregister laumldt der Band zum entsprechenden Stoumlbern ein Aus dem Bereich der Glasmalerei finden sich beispielsweise herausragende Werke von Klaus Arnold Franz Dewald Peter Dreher Theacuteo Kerg (von ihm vor allem der 1960 entstan-dene radikal abstrakte Kreuzweg aus Betonglas in St Andreas in Edingen-Neckarhau-sen) Harry McLean Emil Wachter Raphael Seitz Rosemarie Vollmer und anderen mehr Auch diese Zusammenstellungen sind ein Verdienst dieser Publikation

Jutta Dresch

Hans Rudolf SENNHAUSER Hans Rudolf COURVOISIER (dagger) in Zusammenarbeit mit Alfred HIDBER Eckart KUumlHNE Werner PETER Das Basler Muumlnster Die fruumlhen Kathedralen und der Heinrichsdom Ausgrabungen 1966 und 197374 Ostfildern Thorbecke 2018 454 S Abb Kt Plaumlne geb EUR 80ndash ISBN 978-3-7995-1265-7

Das Jubilaumlum der groszligen Basler Domweihe von 1019 hat Anlass gegeben zu zwei kon-kurrierenden Auswertungen der umfangreichen Ausgrabungen von 1966 und 197374 die die gesamte Domkirche umfasst haben Da der damalige Grabungsleiter Hans Rudolf Sennhauser mit seinem (2013 verstorbenen) Grabungstechniker Hans Rudolf Courvoisier uumlber viele Jahrzehnte hinweg die Grabungspublikation nicht vorlegte wurde fuumlr den ebenso lang erwarteten im Herbst 2019 erschienenen Inventarband der bdquoKunstdenkmaumller der Schweizldquo zum Basler Muumlnster der junge Archaumlologe Marco Bernasconi mit einer eigenen knappen Ausarbeitung der Grabungsergebnisse beauftragt Als Sennhauser 2017 schlieszliglich doch sein umfangreiches Manuskript abschloss wurde ihm laut Vorwort eine Publikation in Basel erst nach dem Muumlnsterjubilaumlum zugesagt so dass er das Werk 2018 in einem deutschen Verlag veroumlffentlichte In nicht unwesentlichen Details unter-scheiden sich die beiden Grabungsauswertungen ndash ein genauer Vergleich kann aber nicht Aufgabe dieser Rezension sein Die Benutzer des hier anzuzeigenden Bands sollten diesen Hintergrund jedenfalls kennen und beruumlcksichtigen

Der hochverdiente Mittelalterarchaumlologe und Kunsthistoriker Sennhauser legt mit diesem Band erstmals eine seiner zahlreichen groszligen Ausgrabungen vollstaumlndig und detailliert vor Gegenuumlber den wenigen Vorberichten haben sich einige jeweils kritisch reflektierte Aumlnderungen ergeben Die Praumlsentation der Grabungsbefunde wurde von Courvoisier erarbeitet ihre Interpretation von Sennhauser Der Band richtet sich mit den detaillierten Argumentationen und komplexen Nummern- und Abbildungssystemen an Mittelalterarchaumlologen er bietet eine umfangreiche Begruumlndung aller Aussagen zu Periodisierung Datierung und Rekonstruktion der Grabungsbefunde im Basler Muumlnster Wesentliches Ziel ist daruumlber hinaus die Grabungsdokumentation in ihren wesentlichen Elementen nachhaltig zu sichern und oumlffentlich verfuumlgbar zu machen Bekanntlich sind bei jeder Ausgrabung die Befunde und Kontexte nur kurzzeitig sichtbar und bdquolesbarldquo werden dann aber ganz oder teilweise zerstoumlrt so dass nur Publikationen dieser Art als

759Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

gehaltenen Siechenhaumluser Leprosorien auszligerhalb von Staumldten Im Fall von Festungs-staumldten waren andererseits der fruumlhneuzeitlichen Entwicklung von Vororten oft enge Grenzen gesetzt

Der internationale und gleichsam regionalgeschichtliche Ansatz des Konferenzbandes bietet eine spannende und facettenreiche interdisziplinaumlre Lektuumlre fuumlr deren Herausgabe und Bearbeitung Guy Thewes (Staumldtisches Museum Luxemburg) und Martin Uhrmacher (Assistenzprofessor an der Universitaumlt Luxemburg Institut fuumlr Geschichte) nur zu danken ist Der mit nicht wenigen und durchaus qualitaumltvollen farbigen Abbildungen versehene Band hat natuumlrlich in gedruckter Form seinen Preis weshalb auch auf die minimal guumlns-tigere E-Book-Variante hingewiesen werden soll Ein Verzeichnis der Ortsnamen am Ende des Bandes schlieszligt einen gehaltvollen Sammelband ab

Joachim Kemper

Sabine VON HEUSINGER Susanne WITTEKIND (Hg) Die materielle Kultur der Stadt in Spaumltmittelalter und Fruumlher Neuzeit (Staumldteforschung Reihe A Darstellungen Bd 100) Wien Koumlln Weimar Boumlhlau 2019 256 S Abb geb EUR 35ndash ISBN 978-3-412-51612-3

Der vorliegende Sammelband greift den seit einigen Jahren in den Kulturwissenschaf-ten intensiv diskutierten sbquomaterial turnlsquo auf und sucht ihn fuumlr die vormoderne Stadtge-schichtsforschung fruchtbar zu machen Wie Sabine von Heusinger und Susanne Wittekind in ihrer ndash leider recht knappen ndash Einleitung schreiben sollen die von ihnen herausgegebenen zehn Texte bdquozu einer objektbasierten Kulturanalyse beitragen die anhand von Objekten und Artefakten die Verflechtung von materiellen kulturellen reli-gioumlsen sozio-politischen und wirtschaftlichen Aspekten einer Zeit und eines Ortes erschlieszligt und damit fuumlr die Stadtgeschichte der Vormoderne neue Forschungsfelder eroumlffnetldquo (S 18)

Im ersten dieser zehn Beitraumlge geht Julia A SCHMIDT-FUNKE der Frage nach ob es bdquoeine spezifische Materialitaumlt des Urbanenldquo gibt (S 19) Ihr Vorschlag bdquodie historische Stadt von den Dingen her zu denkenldquo (S 21) gliedert sich in zwei Teile Zum einen gehe es darum bdquodie Bedeutung von Dingen in Prozessen staumldtischer Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu analysierenldquo (ebd) was Schmidt-Funke am Beispiel der Kleidung sowie des Waffenbesitzes und -gebrauchs exemplifiziert Zum anderen koumlnnten Staumldte bdquoals Orte erhoumlhter Dingverfuumlgbarkeitldquo (S 34) in den Blick genommen werden in denen Objekte in wesentlich groumlszligerer Anzahl und Vielfalt vorhanden waren als auf dem Lande Schmidt-Funke verweist dazu beispielhaft auf Sammlungen Kunst- und Naturalienkam-mern die es freilich auch auf manchen laumlndlichen Adelssitzen gab

Elisabeth GRUBER untersucht anschlieszligend in welcher Form Objekte in der staumldtischen Rechnungsfuumlhrung des 15 Jahrhunderts erscheinen Die Ausstattung der Wiener Rats-stube gibt ihr zufolge subtile Hinweise auf soziale und funktionale Differenzierungen innerhalb der staumldtischen Elite sowie auf das Selbstverstaumlndnis der Ratsherren Susanne WITTEKIND thematisiert anhand von Beispielen aus Buumldingen Frankfurt am Main und Coventry die Rolle von Wappen als bdquoMedien der symbolischen Kommunikationldquo (S 52) und entschluumlsselt ihre heraldischen Botschaften Kirsten Lee BIERBAUM bietet eine scharf-sinnige Analyse des um 1500 entstandenen Bildprogramms des bdquoHuldigungssaalsldquo im Goslarer Rathaus Sie weist strukturelle Aumlhnlichkeiten des Saalprogramms mit dem Bild-programm der Schedelschen Weltchronik nach und argumentiert uumlberzeugend dass der Goslarer Rat seine Legitimation staumlrker von Gott herleitete als vom Kaiser (zu dem das

769Allgemeine Stadtgeschichte

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bdquoarchaumlologisches Urkundenbuchldquo eine Nachvollziehbarkeit sicherstellen und eine quali-fizierte Debatte archaumlologischer Aussagen ermoumlglichen Diesen Zielen dienen einleitende Aussagen zum Messsystem ebenso wie die Wiedergabe zahlreicher Handskizzen der Katalog der bdquoPositionsnummernldquo mit denen alle Befunde bezeichnet wurden und zwoumllf groszligformatige Plaumlne Die ausfuumlhrlichen Aufzeichnungen in den Tagebuumlchern der Grabung sind in den erlaumluternden Text eingeflossen Bei den Fotos wurde nur eine ndash vergleichs-weise ndash kleine Auswahl abgedruckt meist in Schwarzweiszlig ndash Farbdias duumlrften aber verfuumlgbar sein Nicht leicht ist der Uumlberblick zu gewinnen welche Zeichnungen wo abgebildet sind viele Rekonstruktionsversuche und Vergleichsabbildungen finden sich zusaumltzlich im Anhang oder sogar bei den 28 losen Beilagen alle jedoch (ggf verkleinert und mehrfach) im laufenden Text

Entgegen Erwartungen an moderne Archaumlologie argumentieren Courvoisier und Senn-hauser nicht mit Erdschichten und Funden sondern fast ausschlieszliglich mit Mauern bzw deren Anschluumlssen Moumlrtelqualitaumlten und Fuszligboumlden Zum Teil ist dies im Befund begruumln-det Umfangreicher Bodenabtrag im 11 Jahrhundert die ausgedehnte Krypta und zahl-reiche Graumlber haben die fruumlh- bis hochmittelalterlichen Erdschichten weitestgehend zerstoumlrt so dass gleich unter dem Boden des 11 Jahrhunderts roumlmische und noch aumlltere Befunde lagen Im Basler Muumlnster erlaubten die Moumlrtelqualitaumlten eine Zuordnung der Mauern nach bdquoroumlmischldquo bdquokarolingischldquo bdquoottonischldquo und bdquospaumltromanischldquo Juumlngere Befunde werden nicht diskutiert sind aber in den Plaumlnen zu finden hier ist auf die Publikation von Bernasconi zu verweisen Aumlrgerlich ist dass Keramik- und Glasfunde nicht abgebildet werden auch dann nicht wenn sie fuumlr die Deutung der Stratigraphie relevant sind

Die Befunde werden nach Bau- und Nutzungsperioden vorgelegt und diskutiert die begleitenden Bauphasenplaumlne sind im Anhang S 355ndash362 nochmals zusammengefasst In allen Plaumlnen und vielen Fotos werden die gleichen Farben benutzt um Bauphasen zu bezeichnen dies erleichtert die Orientierung sehr teilweise sind allerdings nur die Posi-tionsnummern entsprechend gefaumlrbt Nicht immer gluumlcklich ist die von der Autoritaumlt der beiden Autoren gepraumlgte enge Verquickung von Befundbeschreibung Diskussion und Rekonstruktion dies macht ihre Gedanken nachvollziehbar erschwert aber allzu oft den Zugriff auf Befundsituationen und verschlieszligt an wichtigen Stellen den Blick auf moumlg-liche Deutungsalternativen

Die parallel arbeitende zweite Grabungsequipe unter Andres Furger hat die vor- bis fruumlhmittelalterlichen Befunde dokumentiert und in zwei Baumlnden vorgelegt (Bd 1 1979 Bd 2 19832000 fertiggestellt ca 2011 digital publiziert academiaedu5676125) Sennhauser legt ergaumlnzende Beobachtungen zu den Mauern des groszligen roumlmischen Baukomplexes vor die nicht einheitlich sind und distanziert sich damit implizit von dessen Deutung als bdquooumlffentlicher Repraumlsentationsbauldquo oder gar bdquoPraumltoriumldquo Dies ist von Relevanz fuumlr die Frage ob die erste Basler Bischofskirche einen herausgehobe- nen Standort in der Stadt erhielt oder doch ndash wie andernorts ndash in einem eher untergeord- net genutzten Areal errichtet wurde Von beiden Equipen dokumentiert wurden auch die spaumlrlichen fruumlhmittelalterlichen Reste im Muumlnster Sie erlauben nur indirekt den Schluss auf die Existenz einer vorkarolingischen Kirche die Rekonstruktion einer bdquoOstkircheldquo auszligerhalb des Muumlnsters wird erst S 80 im Kontext der Auszligenkrypta dis- kutiert Vergleichbar mit den duumlnnen schwach fundamentierten mit Spolien gebauten Mauern die Sennhauser Nebengebaumluden einer fruumlhen Kirche zuweist sind die Mauern des fruumlhmittelalterlichen Wormser Doms und jetzt auch die neuen Befunde im bdquoAlten

760 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 760

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Durch den Aufbau von Verteidigungssystemen oumlffentlicher Ordnung Brandschutz sozialer Fuumlrsorge Hygiene Ver- und Entsorgung sowie Schulwesen kam mittelalterlichen Staumldten eine Vorbildfunktion bei der Leistungsverwaltung zu Staumldtebuumlnde und Land- friedensbuumlnde waren Zeichen einer zunehmenden kommunalen Autonomie und Zeichen politischer Selbstaumlndigkeit Staumldte wurden aufgrund ihrer Wirtschaftskraft zu Kultur- traumlgern Orten kultureller Produktion sowie Mittelpunkt von Wissenschaft Kuumlnsten und Unterhaltung verschiedenster Art Als raumpraumlgende durch Zentralitaumlt geformte Siedlung als im Kern immer noch erkennbare bauliche Entitaumlt als Ort wirtschaftlicher Innovation einer differenzierten sich immer wieder erneuernden Gesellschaft und kul-turellen Vielfalt vor allem aber als kleinraumlumiges Modell selbstverwalteter Ordnung und politischer Partizipation wirken in der modernen Stadt immer noch mittelalterliche Phaumlnomene nach

Ein ausfuumlhrlicher Anmerkungsapparat praumlsentiert grundlegende und weiterfuumlhrende Literatur Auf komprimiertem Raum praumlgnant zusammengefasst bietet der kleine Beitrag einen fulminanten und aumluszligerst lesenswerten Einstieg in die aktuelle Stadtgeschichtsfor-schung sowie in das Phaumlnomen der europaumlischen Stadt

Juumlrgen Treffeisen

Guy THEWES Martin UHRMACHER (Hg) Extra muros Vorstaumldtische Raumlume in Spaumlt- mittelalter und fruumlher Neuzeit Espaces suburbains au bas Moyen Acircge et agrave lrsquoeacutepoque moderne (Staumldteforschung Reihe A Darstellungen Bd 91) Wien Koumlln Weimar Boumlhlau 2019 521 S Abb Kt geb EUR 70ndash ISBN 978-3-412-22273-4 E-Book EUR 5999 ISBN 978-3-412-51517-1

Der hier anzuzeigende voluminoumlse Band geht auf eine gleichnamige internationale Konferenz der Universitaumlt Luxemburg und des staumldtischen Historischen Museums der Hauptstadt des Groszligherzogtums zuruumlck die im Jahr 2013 veranstaltet worden war Nun sind sechs Jahre bis zum Erscheinen eines Konferenzbandes keine kurze Zeit es bleibt aber durchaus festzuhalten Das Warten auf den Sammelband mit seinen 19 Beitraumlgen hat sich gelohnt zumal sich einige Bezuumlge zum Oberrhein bieten Die Beitraumlge spiegeln die Bandbreite und diversen wissenschaftlichen Disziplinen der Autorinnen von den Geschichtswissenschaften (mit zahlreichen regionalen bzw landeskundlichen Aspekten) uumlber die Kunstgeschichte bis hin zur Archaumlologie und Baugeschichte Neben Beitraumlgen von deutschen und franzoumlsischen Autorinnen stehen Texte aus Luxemburg Belgien Italien Oumlsterreich Polen und Ungarn Die Beitraumlge selbst sind dem uumlberregionalen europaumlischen Rahmen verpflichtet in deutscher franzoumlsischer oder (weniger haumlufig) eng-lischer Sprache verfasst die Abstracts bieten (dreisprachig) einen vereinfachten Zugang zu allen Beitraumlgen

Im Zentrum des Bandes stehen das staumldtische Umland bzw konkreter bdquovorstaumldtische Raumlumeldquo die in acht Kapiteln behandelt werden Die kartographische Repraumlsentation vor-staumldtischer Raumlume Festungsstaumldte und vorstaumldtische Raumlume Vorstaumldte Sozialtopogra-phie vorstaumldtischer Raumlume Inklusion Exklusion Kontrolle Staumldtische Einflussgebiete Vorstaumldtische Raumlume kleiner Staumldte Zwei Fallstudien Bereits in der Einleitung der Herausgeber wird auf die Ambivalenz der Vorstaumldte hingewiesen die von Desintegra- tion bzw abgestufter Bindung an die Kernstaumldte (typische Merkmale Zuwanderung Randgruppen Kranke und Arme) bis hin zum Bild einer positiv konnotierten laumlnd- lichen Gegend (Stichworte Gaumlrten Idylle Gasthaumluser adlige Sommersitze etc) reichen Bemerkenswert sind sicherlich in diesem Kontext auch die nicht selten repraumlsentativ

768 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 768

Domldquo zu Mainz die dort tatsaumlchlich zu fruumlhmittelalterlichen Groszligbauten gehoumlren Ein-geschoben werden allgemeinere Uumlberlegungen zum Alter der Basler Pfarrkirche St Mar-tin und zum moumlglichen Alter einer Bischofskirche in Basel ndash das Bistum wurde vor dem fruumlhen 7 Jahrhundert von Augst nach Basel verlegt entsprechend alt muumlsste eine erste Kirche auf dem Muumlnsterhuumlgel sein Die Grabungsbefunde im Umfeld des Muumlnsters 1991 vorgelegt von Guido Helmig u a und 2005 von Karin Leuch-Bartels werden nur knapp genannt die Neuauswertung von Markus Asal 2017 wird im Resuumlmee noch erwaumlhnt (S 236 f) Fuumlr ein Bild des Muumlnsterhuumlgels und seiner Kirchen im Fruumlhmittel- alter bleibt der weitere interdisziplinaumlre Abgleich von Befunden und Interpretationen notwendig

Der erste im Befund fassbare groszlige Dombau wird aufgrund der Schriftquellen Bischof HaitoHeito zugewiesen (Bischof 806 dagger 836) und dementsprechend bdquokarolingischldquo da-tiert Er erscheint sbquodreischiffiglsquo mit breiten tiefen Fundamenten zwei Rundtuumlrmen im Westen und einer Krypta im Osten von der nur die Eingaumlnge erhalten sind Zwei Punkt-fundamente gehoumlren wohl zu einer Schranke die den Mittelraum teilte Waumlhrend die Sei-tenraumlume gerade enden ist die entsprechende Rekonstruktion eines geraden Abschlusses fuumlr den Mittelraum nicht bdquooffenbarldquo (S 49) ndash im Bereich der juumlngeren Krypta waumlre durch-aus ein eingezogener Altarraum oder eine Apsis rekonstruierbar Sennhauser argumentiert hier mit der Bischofskirche in Konstanz und der Klosterkirche in St Gallen (deren Be-funde allerdings nicht ausreichend publiziert sind) Die Laumlngsmauern waren nur im Fun-dament erhalten das karolingische Fuszligbodenniveau wurde im 11 Jahrhundert abgeraumlumt In bemerkenswerter Weise ummanteln die spaumltromanischen Fundamente diese aumllteren Mauern wie dies an den Domen in Mainz nachgewiesen in Worms wahrscheinlich ist ndash dort allerdings erst fuumlr die Fundamente des 11 Jahrhunderts Die aumluszligeren Mauern gehoumlren in Basel nicht zum urspruumlnglichen Bau und sehen sogar bdquoottonischldquo aus (S 62) so dass die karolingische Bischofskirche ein groszliger Saalraum ohne Seitenschiffe war ndash auch wenn die Tuumlrme mit dem Anschluss solcher Seitenraumlume rechneten Sennhauser legt unterschiedliche Rekonstruktionen vor mit und ohne noumlrdlichen Anraum mit und ohne Arkaden Irritierend ist dass die juumlnger aussehenden Mauern nicht entsprechend farblich markiert und einer juumlngeren Phase zugeordnet werden ndash die weitere Argumentation folgt erst S 118 Aus den Krypteneingaumlngen sind jedenfalls Annexraumlume im Osten zu erschlie-szligen Insgesamt bleibt die Rekonstruktion dieser Kirche zu diskutieren und festzuhalten ist auch dass Sennhausers Datierung dieser Bauphase nicht auf archaumlologischen Argu-menten und tragfaumlhigen Vergleichen beruht

Die bdquoAuszligenkryptaldquo oumlstlich des Muumlnsters ist anders orientiert als der bdquokarolingischeldquo Groszligbau Aufgrund historischer Uumlberlegungen datiert Sennhauser sie ins fruumlhe 10 Jahr-hundert und deutet sie als Grablege fuumlr Bischof Rudolf (dagger 91718) ausfuumlhrlich setzt er sich dann ndash offenbar nach erster Fertigstellung des Manuskripts ndash mit der Neuinterpre-tation der Situation durch Furger auseinander Die Verteilung von Plaumlnen und Befund-diskussion auf zwei Kapitel erschwert dabei den Nachvollzug Eingefuumlhrt wird hier eine fruumlhmittelalterliche bdquoOstkircheldquo auf die sich diese Auszligenkrypta als Anbau ndash unstrittig ndash beziehen muss Deren freie Rekonstruktion als kleine Saalkirche mit Annexraumlumen ist seltsamerweise nicht an fruumlhen Bischofskirchen sondern an kleinen Kloster- und Pfarr-kirchen orientiert Erneut scheinen ndash zumal bei der ungeloumlsten Frage des Ostabschlusses der bdquokarolingischenldquo Kirche ndash ganz andere Loumlsungen denkbar

Die Darstellung des 1019 in Anwesenheit Kaiser Heinrichs II geweihten und von ihm mit der bdquoGoldenen Tafelldquo ausgestatteten bdquoHeinrichsmuumlnstersldquo beginnt mit historischen

761Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 761

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Michel PAULY Martina STERCKEN Stadtentwicklung im vormodernen Europa Beob-achtungen zu Kontinuitaumlt und Bruumlchen (Mediaumlvistische Perspektiven Bd 8) Zuumlrich Chronos-Verlag 2019 96 S Abb Brosch EUR 15ndash ISBN 978-3-0340-1549-3

Die beiden kompetenten Autoren ndash Michel Pauly und Martina Stercken ndash praumlsentieren Permanenzen und Wandel der europaumlischen Stadt von deren Anfaumlngen bis ins 19 Jahr-hundert in Teilen bis heute Mit den fruumlhen Bischofsstaumldten und Marktorten entstanden die ersten regionalen sowie uumlberregionalen Zentren die ihren urbanen Charakter in der Regel bis heute bewahren konnten Mit der Entfaltung des Staumldtewesens verdichteten sich durch den Anschluss an den uumlberregionalen Handelsverkehr die urbanen Raumlume Es entstanden Staumldtenetze die allerdings infolge von Neugruumlndungen wieder ausgeduumlnnt werden konnten Die Entstehung der Nationalstaaten im 19 Jahrhundert bedingte die Ausbildung von Metropolen mit groszliger politischer wirtschaftlicher kultureller und ver-kehrstechnischer Ausstrahlung

Um 1200 entstand aufbauend auf bereits bestehenden Siedlungen die neue Lebensform Stadt Im Spaumltmittelalter und der fruumlhen Neuzeit bauten einzelne Kommunen ein eigenes Territorium auf Der innerstaumldtische Raum wurde durch das Rathaus die Marktplaumltze die Kaufhaumluser die Kirchen die Kloumlster das Hospital die Wohntuumlrme sowie Befestigung mit den Tuumlrmen gepraumlgt Die Entfestigung der Staumldte im ausgehenden 18 sowie im 19 Jahrhundert veraumlnderte das Stadtbild nachhaltig

Wohn- und Arbeitsbereich gehoumlrten zusammen Der Marktplatz kristallisierte sich als raumlumliches oumlkonomisches und soziales Zentrum heraus Marktraumlume lagen grundsaumltzlich an Knotenpunkten von Uumlberlandverbindungen Jahrmaumlrkte und Messen etablierten sich hingegen wegen des nur temporaumlr notwendigen Platzbedarfs auszligerhalb der Stadtmauern

Eine besondere Form des Wirtschaftens gilt vielfach als das entscheidende Charakte-ristikum der mittelalterlichen Stadt Der taumlgliche Markt und der Wochen- sowie Jahrmarkt in der Stadt stellten zunaumlchst einen Nahmarkt fuumlr die laumlndliche Bevoumllkerung des staumldti-schen Um- und Hinterlandes dar auf dem agrarische Produkte und gewerbliche Erzeug-nisse aus der Stadt ebenso abgesetzt wurden wie unter Umstaumlnden Fernhandelsguumlter Durch den Fernhandel wurden Staumldte in Partnerschaften mit anderen Kommunen einge-bunden so dass sich urbane Netzwerke knuumlpfen lieszligen Gewerbetreibende stellten den groumlszligten Teil der hochmittelalterlichen Stadtbevoumllkerung Das Vorhandensein bestimmter naturraumlumlicher Gegebenheiten beguumlnstigte die Entstehung besonderer Gewerbeland-schaften mit spezialisierter Produktion Zuumlnfte partizipierten in unterschiedlichem Maszlige an der Stadtherrschaft

Im Spaumltmittelalter und der fruumlhen Neuzeit etablierten sich mit den Bergbaustaumldten Festungs- und Residenzstaumldten Wallfahrtsorten Kur- und Baumlderstaumldten neue funktionale Stadttypen Seit dem 19 Jahrhundert kamen Industriestaumldte sowie Finanzzentren hinzu

Das Buumlrgertum entwickelte sich sukzessive seit dem 11 Jahrhundert als Rechts- gemeinschaft Die groumlszligte Autonomie gewaumlhrten die norditalienischen Staumldte sowie die Reichsstaumldte Die mittelalterliche Stadtgesellschaft war dabei nicht nur durch unterschied-liche Formen der Freiheit sowie Moumlglichkeiten der Partizipation differenziert sondern auch durch raumlumlich bestimmte soziale Entitaumlten (Stadtviertel Pfarrgemeinde)

In Italien hatte die Stadt uumlber den Untergang des roumlmischen Reiches hinaus eine erhebliche Permanenz Groumlszligere sowie wirtschaftlich potente Staumldte entwickelten sich oft zu freien Staumldten mit einer zum Teil betraumlchtlichen eigenen Herrschaft uumlber ihr Hinter-land Stadtherren von kleineren Staumldten tendierten eher zum eigenen Stadtregiment und beeinflussten die Besetzung der Schaltstellen der Buumlrgergemeinden selbst

767Allgemeine Stadtgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 767

Hypothesen zu Altarweihen in der Krypta und mit einer Neuinterpretation der bemer-kenswerten bdquoBaumeistertafelldquo Im Osten weist Sennhauser den gesamten heutigen Grund-riss mit zweiraumlumiger Binnenkrypta Kryptenumgang Vierung und Querarmen dem 1019 geweihten Dombau zu In Langhaus wurde nach Abtrag des aumllteren Bodens ein neuer Estrich gegossen die aumllteren Laumlngsmauern hat man fuumlr die Auszligenwaumlnde und fuumlr die Stuumltzen des Mittelschiffs weiterbenutzt Mit weit ausgreifenden Hypothesen rekonstruiert er schon fuumlr diesen Bau Langhaus-Emporen und stellt schriftlich uumlberlieferte Bauzeiten anderer Kirchen zusammen um die Bauzeit vor 1019 erschlieszligen zu koumlnnen Auch hier fehlen archaumlologische Datierungshinweise die komplexe Ostanlage findet in der Tat um 10001010 gute Parallelen Der Bau der fruumlhromanischen Doppelturmfassade leitet dann uumlber zur letzten behandelten Bauphase mit den archaumlologischen Befunden zum Brand von 1185 und dem nachfolgenden spaumltromanischen Neubau

Da die Graumlber 2013 durch Christine Ochsner publiziert wurden werden nur bauhisto-risch relevante Graumlber diskutiert und Korrekturen angemerkt Die bdquokarolingischeldquo Kirche uumlberlagert einige fruumlhmittelalterliche Bestattungen bemerkenswert sind aber wenige Graumlber die aufgrund der 14C-Daten dieser Epoche zugeordnet werden koumlnnen ndash trotz des grundsaumltzlich befolgten Verbots von Kirchenbestattungen Hervorzuheben sind dann etwas juumlngere Graumlber am Kreuzaltar und in den Chorflankentuumlrmen

Die Kontinuitaumlt vom bdquokarolingischenldquo Kirchenbau zum bdquoottonischen Heinrichs- muumlnsterldquo und zum spaumltromanischen Dom ist eine zentrale These des Resuumlmees und fuumlgt sich in vergleichbare juumlngere Forschungsthesen zur hochrangigen Sakralarchitektur des 1213 Jahrhunderts

Mit diesem Band ist ein sehr gewichtiger Baustein fuumlr die weitere Forschung zum Basler Muumlnster gewonnen Nicht alle Schlussfolgerungen werden sich durchsetzen und die architekturgeschichtliche Stellung des Muumlnsters im Reigen der Bischofskirchen des deutschen Reichs Burgunds und Oberitaliens bleibt weiter zu diskutieren

Matthias Untermann

Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften in den Kreuzgaumlngen des

Basler Muumlnsters Basel Schwabe 2016 407 S Abb geb EUR 58ndash ISBN 978-3-7965-3558-1

Andreas PRONAY (Bearb) Die lateinischen Grabinschriften der Basler Kirchen Bd 2 Muumlnster und Martinskirche Muttenz Schwabe 2019 312 S Abb geb EUR 48ndash ISBN 978-3-7965-3883-4

Basel verfuumlgt uumlber eine faszinierende zu wesentlichen Teilen gluumlcklicherweise auch edierte Uumlberlieferung seines mittelalterlichen Totengedenkens erinnert sei hier nur an das Anniversarbuch (ed Paul Bloesch 1975) und an das Graumlberbuch des Domstifts (ed Lisa Roumlthinger und Gabriela Signori 2009) beide im Bestand des Generallandesarchivs Karlsruhe Und tief beeindruckend ist nicht zuletzt der im Muumlnster und seinen Kreuz-gaumlngen bewahrte reiche Denkmaumllerbestand vom 12 bis ins 19 Jahrhundert ein getreuer Spiegel des der fruumlhneuzeitlichen Basler Oberschicht eigenen Selbstbewusstseins Dass dieser Schatz der dem Betrachter nicht nur manche sprachliche Schwierigkeit bereitet sondern sich bisweilen auch nur unter koumlrperlichen Verrenkungen oder mit Hilfe eines Fernglases entziffern laumlsst nunmehr sehr bequem zugaumlnglich ist hat man dem Basler Altphilologen Andreas PRONAY zu verdanken der einer Anregung seines Lehrers Peter Buxtorf (dagger1971) folgend und den eigenen Ruhestand nutzend sich der muumlhsamen Inven-

762 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 762

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

tarisation und Bearbeitung der vielen Inschriften unterzogen hat Die durchweg farbigen Photographien stammen von Jens Roth Erklaumlrter Zweck der beiden so entstande- nen Baumlnde ist es bdquodie lateinischen Grabinschriften der Basler Kirchen einer groumlsseren Leserschaft zugaumlnglich zu machen und zugleich die Grundlage fuumlr weiterfuumlhrende Stu-dien zu diesen Texten zu schaffenldquo Allein in den Kreuzgaumlngen des Muumlnsters werden damit 119 Inschriften gewuumlrdigt im Muumlnster selbst und seiner Krypta 35 in der Mar- tinskirche 28 Die Betrachtung der Denkmaumller geschieht in Rundgaumlngen durch die ein-zelnen Kreuzgaumlnge Kirchen und Kapellen Die Praumlsentation eines jeden Epitaphis be-ginnt mit seiner photographischen Abbildung und einer exakten Standortskizze die das Auffinden vor Ort ganz wesentlich erleichtert Darauf folgen die Wiedergabe des latei-nischen Texts und dessen Uumlbersetzung sowie in Gestalt von Zeilenkommentaren laumlngere oder kuumlrzere Erlaumluterungen zu Sprache und Inhalt Den Schluss bilden knappe Angaben zur Person und Bedeutung des jeweiligen Verstorbenen sowie Hinweise auf die einschlauml-gige Literatur Die Einleitungen beider Baumlnde beschraumlnken sich auf die noumltigsten Infor-mationen zur Geschichte der betrachteten Kirchen und zu den in ihnen gepflegten Bestattungsgewohnheiten In einer Zeit in der auf die Herstellung von Buumlchern be- dauerlicherweise nicht immer die groumlszligte Sorgfalt verwendet wird darf schlieszliglich noch hervorgehoben werden dass diese beiden Buumlcher auch bibliophilen Anspruumlchen genuumlgen das beginnt mit einem gefaumllligen Papier und reicht uumlber Typographie und Layout bis hin zur Fadenheftung Wer die Basler Kirchen besucht und sich ihren groszligartigen Denk- maumllerbestand erschlieszligen will wird sich dieser hilfreichen Inventare gern bedienen aber auch der wissenschaftlich Forschende wird sie mit Gewinn zu Rate ziehen In den Basler Kirchen sollen rund 350 lateinische Grabinschriften erhalten sein Dem Autor bleibt also die Kraft zu wuumlnschen dass er auch die restlichen 170 Inschriften noch zu bewaumlltigen vermag

Kurt Andermann

Hans Joachim HILDENBRAND Grabplatten Epitaphien und Gedenktafeln im Konstanzer Muumlnster Konstanz Hartung-Gorre 2019 152 S Abb Brosch EUR 3480 ISBN 978-3-86628-630-6

Das Konstanzer Muumlnster besitzt als historische Kathedralkirche des Bodenseebistums einen reichen Bestand an fruumlhneuzeitlichen Grabdenkmaumllern die nicht nur als Beispiele konfessioneller Memorialkultur gedeutet sondern auch als Reflex der adligen Netzwerke am Domstift und dessen Umfeld interpretiert werden koumlnnen Der reformatorische Bildersturm hinterlieszlig auch im Bereich der Grabmale in der Kathedrale seine Spuren lediglich rund zehn Epitaphien entstammen dem Spaumltmittelalter waumlhrend der Hauptteil (ca 115 Stuumlck) in die Zeit zwischen der Ruumlckkehr des Domkapitels nach der Rekatholi-sierung der ehemaligen Reichsstadt in der Mitte des 16 Jahrhunderts und der Aufhebung der Dioumlzese im fruumlhen 19 Jahrhundert zu datieren ist

Heribert Reiners hat bereits 1955 (Die Kunstdenkmaumller Suumldbadens Bd 1) die Inschrif-ten aller Grabstaumltten und Epitaphien im Druck publiziert Der Altphilologe Hans Joachim Hildenbrand hat sich nun der Muumlhe unterzogen die Texte in Verbindung mit Farbfoto-grafien zu publizieren Die zum Teil nicht einfach zu entschluumlsselnden Kuumlrzel hat er auf-geloumlst und die lateinischen Inschriften die den Hauptteil des Textbestandes ausmachen ins Deutsche uumlbertragen

Bescheiden bezeichnet der Autor die Publikation als bdquoArbeit eines Amateursldquo (S 10) Zurecht weist er im gleichen Satz auf die zum Teil mangelhafte Qualitaumlt der Abbildungen

763Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 763

Orgeln breiter Raum zu uumlber andere Kunstwerke erfaumlhrt man Naumlheres nur im Rahmen des Rundgangs

Der Band ist sorgfaumlltig gemacht Durch sein groszligzuumlgiges Format kommen die Groszlig-teils juumlngeren Aufnahmen sehr gut zur Geltung so dass man das Buch auch ohne es lesen zu wollen gerne zur Hand nimmt Der Rezensent vermisst jedoch einen brauch- baren Grundriss und Laumlngsschnitt des Doms der auch dem interessierten Leser zur besseren Orientierung verholfen haumltte Trotzdem kann man das Projekt bdquoFestschriftldquo als ein insgesamt gelungenes Unternehmen bezeichnen

Wolfgang Schenkluhn

Gerhard FOUQUET Ferdinand OPLL Sven RABELER Martin SCHEUTZ (Hg) Social

Functions of Urban Spaces through the Ages Soziale Funktionen staumldtischer Raumlume im Wandel (Residenzenforschung Neue Folge Stadt und Hof Bd 5) Ostfildern Thorbecke 2018 288 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-7995-4534-1

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung der Internationalen Kommission fuumlr Staumldtegeschichte zuruumlck die als gemeinschaftliche Veranstaltung des Goumlttinger Aka- demieprojekts bdquoResidenzstaumldte im Alten Reichldquo (Arbeitsstelle Kiel) sowie des Instituts fuumlr Oumlsterreichische Geschichtsforschung vom 15 bis 16 September 2016 in Kiel statt-fand was sich auch in der Herausgeberschaft widerspiegelt Gleichwohl ein internatio-naler Tagungsband ist die uumlberwiegende Mehrzahl der Beitraumlge des Sammelbandes in deutscher Sprache gehalten namentlich die (englische) Einfuumlhrung der Herausgeber wird aber zweifellos die uumlberregionale Rezeption befoumlrdern Neben der Einfuumlhrung stehen zehn weitere Beitraumlge die abgesehen von der uumlbergreifenden Perspektive Pierre MONNETS (Raum und Stadt Raum der Stadt Eine staumldtische Sozialgeschichte zwischen Verortung und Verordnung) mit den Schlagwoumlrtern bdquoMitte und Randldquo bdquoOben und Untenldquo sowie bdquoInnen und Auszligenldquo ganz treffend beschrieben sind Das Spektrum reicht dabei von polnischen juumldischen Gemeinden und Spitaumllern in adligen boumlhmischen Residenzstaumldten uumlber kommunale soziale Konflikte in Flandern im spaumlten Mittelalter bis hin zu den Um-weltbeziehungen der Krainer Hauptstadt LaibachLjubljana (Wasser Wald Agrargesell-schaft im Umland) Auch houmlfische Orte in Staumldten des spaumlten Mittelalters und namentlich die Staumldte Regensburg (als Reichs- wie auch Reichstags- und Residenzstadt) und Weil-burg werden betrachtet (Harriet RUDOLPH bzw Matthias MUumlLLER) Hervorgehoben sei dabei auch dass der Blick weit in das 19 und sogar bis ins 20 Jahrhundert geht etwa bei den Beitraumlgen von Friedrich LENGER (Cities as Sites of Social Protest) bzw von An-drea PUumlHRINGER und Holger Th GRAumlF (Orte der Fuumlrsorge im Stadtraum der Kurstadt Das Beispiel Bad Homburg vor der Houmlhe) Ein opulenter und teils farbiger Abbildungsteil (S 243ndash288) beschlieszligt einen stadt- wie sozialhistorisch sehr lesenswerten Sammelband der es auch vermag regional einen weiten Bogen zu uumlberspannen Die einzelnen Beitraumlge sind mit jeweils eigenen Literatur- und Quellenverzeichnissen versehen Sie ermoumlglichen so einen bequemen Zugang und weitere Forschungsmoumlglichkeiten das Fehlen eines Registers faumlllt dagegen kaum ins Gewicht Soweit man an den neueren Publikationen des Projekts bdquoResidenzstaumldte im Alten Reichldquo ersehen kann (httpsadw-goede forschungforschungsprojekte-akademienprogrammresidenzstaedtepublikationen) ist mit einer baldigen Online-Bereitstellung des Bandes (Open Access) uumlber den Doku- mentenserver der Akademie der Wissenschaften zu Goumlttingen zu rechnen was nur zu begruumlszligen ist

Joachim Kemper

766 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 766

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

hin (haumltte hier nicht der Verlag helfen koumlnnen) Man bedauert auch dass Hildenbrand ndash im Gegensatz zu Heribert Reiners ndash darauf verzichtet in der Wiedergabe der Inschriften deutlich zu machen was tatsaumlchlicher Buchstabenbestand der Vorlage ist und was von ihm als aufgeloumlste Kuumlrzung ergaumlnzt wurde Bei manchen Stellen wuumlrde man schon gern wissen ob die Bezeichnung des Verstorbenen als Canonicus oder als Custos tatsaumlchlich auf dem Grabmal steht oder durch die Aufloumlsung eines C durch den Autor erst so gedeutet wurde Leider verzichtet die Arbeit darauf jeweils auf die Beschreibung bei Reiners zu verweisen (dies hat der Leser selbst herzustellen) ebenso fehlen knappe Angaben zu den Bestatteten die uumlber den eigentlichen Text der Inschrift hinausgehen Auch waumlren manche Worterklaumlrungen zu praumlzisieren (canonicus ist nicht zwangslaumlufig ein Domherr sondern lediglich ein Mitglied eines Stiftskapitels ndash wie z B St Stephan oder St Johann in Konstanz)

Der eigentliche Wert der Publikation liegt in den zum Teil freien aber sprachlich sehr gelungenen Uumlbersetzungen der Inschriften die auch fuumlr einen des Latein maumlchtigen Be-trachter nicht so leicht zu verstehen sind Formen der adligen Repraumlsentation im Kontext der Reichskirche werden in den Texten ebenso erkennbar wie Strategien des Umgangs mit Tod und Auferstehungshoffnung im konfessionellen Zeitalter Deshalb wird man kuumlnftig bei einem Rundgang durch das Muumlnster gern den kleinen Band bei sich fuumlhren

Wolfgang Zimmermann

Peter KOHLGRAF Tobias SCHAumlFER Felicitas JANSON (Hg) Der Dom zu Worms Krone

der Stadt Festschrift zum 1000-jaumlhrigen Weihejubilaumlum des Doms Regensburg Schnell amp Steiner 2018 247 S Abb geb EUR 3495 ISBN 978-3-7954-3146-4

Der vorliegende Band wurde anlaumlsslich der 1000-jaumlhrigen Wiederkehr der Weihe der Wormser Kathedrale unter Bischof Burchard (1000ndash1025) veroumlffentlicht Diese fand den Quellen nach am 9 Juni 1018 unter Anwesenheit Kaiser Heinrichs II statt Allerdings dient das hochrangige Ereignis dem Werk nur als Referenzpunkt da es dem Dom einen bunten Strauszlig an Beitraumlgen zu verschiedenen Aspekten der Kirche und ihrer Ausstattung widmet Das Bukett umfasst meist kurze Abhandlungen zur Bauforschung Geschichte Kunstgeschichte Denkmalpflege bis hin zur Theologie und Seelsorge unserer Tage Im Kern handelt es sich wie im Vorwort vermerkt um Vortraumlge aus Festveranstaltungen der Katholischen Akademie der Jahre 201011 sowie ergaumlnzende Aufsaumltze die alle den Kennt-nisstand von 201516 spiegeln So wird die vom Mainzer Bischof Peter Kohlgraf dem Domprobst Tobias Schaumlfer und der Studienleiterin der Katholischen Akademie Felicitas Janson herausgegebene Publikation zu Recht als bdquoFestschriftldquo tituliert

Gleichsam eingebunden sind die Beitraumlge durch einen Vortrag des bekannten 2018 verstorbenen Mainzer Bischofs Kardinal LEHMANN der aus der Perspektive des geist- lichen Hirten einen einleitenden Uumlberblick zur Geschichte des Verhaumlltnisses des Wormser Bistums zu seinem Dom gibt und durch kurze Beitraumlge seines Nachfolgers und des Wormser Domprobstes zum Gemeindeleben am heutigen Dom am Ende der Publikation Dazwischen befinden sich die fachwissenschaftlichen Beitraumlge mit einem Schwerpunkt auf den baugeschichtlichen Untersuchungen der letzten Jahre insbesondere im Bereich des Ostchors zu seiner Bauabfolge und Datierung Fuumlr bauforscherisch Unerfahrene zum Einstieg keine leichte Kost die durch eine nur spaumlrliche Bebilderung den Nachvollzug der Schlussfolgerungen zusaumltzlich schwermacht Gleichwohl stellen sie ein Exempel fuumlr die Bemuumlhungen um die Aufklaumlrung der Baugeschichte dar die den Wormser Dom aus

764 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 764

der Sphaumlre des kleinen Nachzuumlglers im Konzert der rheinischen Kaiserdome zu einem wichtigen Akteur in der architekturhistorischen Entwicklung gemacht hat Respekt auch fuumlr den Mut eine fachspezifische Grundsatzkontroverse (Matthias UNTERMANN Dethard VON WINTERFELD) um die Ausfuumlhrung des Ostchors und seine zeitliche Einordnung in die Abfolge des romanischen Neubaus in einer an eine breite Oumlffentlichkeit gerichteten Publikation zu dokumentieren

Wer hingegen den Jubilar zunaumlchst einmal kennenlernen will dem sei der Domrund-gang von Irene SPILLE in der Mitte der Publikation ans Herz gelegt In anschaulicher Weise wird hier in Wort und Bild die Kirche sowohl am Aumluszligeren als auch im Innern dem Leser vorgestellt Danach sollte man den Aufsatz des kuumlrzlich verstorbenen Historikers Stephan WEINFURTER lesen der ein spannendes Kapitel aus der Herrschaftsgeschichte der Staufer vor dem Hintergrund des Wormser Doms erzaumlhlt In seiner unnachahmlichen Art laumlsst er den Kampf zwischen Kaiser und Koumlnig zwischen Vater und Sohn sowie den beteiligten weltlich wie kirchlich Maumlchtigen vor den Augen des Lesers entstehen der mehr uumlber die Bedeutung von Worms und seiner Bischofskirche aussagt als manch fach-wissenschaftlich fokussierte Detailanalyse

Ebenso spannend aber leider viel zu kurz sind die Einlassungen zur funktionalen Nut-zung des Kirchenraums durch Clemens KOSCH Sein Interesse gilt vor allem dem West-chor im Rahmen der Doppelchoranlage die am Mittel- und Oberrhein bzw in Suumld- deutschland nicht selten vorkommt und einen wichtigen Ausgangspunkt um 800 in der Errichtung der Ratgarbasilika in Fulda hatte Dort fand der hl Bonifatius seinen Grab- legeort im Westchor in Worms wurde ein solcher erst unter Bischof Burchard nach 1000 angelegt Er diente wohl als Bischofsmemorie gar als Gedaumlchtnisort fuumlr den Bauherrn was bemerkenswert ist wohingegen das Domkapitel traditionell im Ostchor ansaumlssig war Damit ist die uumlbliche Deutung von Doppelchoranlagen als Ausdruck von Regnum und Sacerdotium auch fuumlr Worms hinfaumlllig Unerwaumlhnt bleibt die Nutzung der beiden Chorseiten anlaumlsslich des ersten Provinzkapitels der Franziskaner in Deutschland 1221 das mit Erlaubnis durch Bischof und Domkapitel im Wormser Dom stattfand wie Jordan von Giano in seiner 1262 geschriebenen Chronik zur Ausbreitung seines Ordens noumlrdlich der Alpen berichtet Zur Messe und Predigt kam man in der Domkirche zusammen bdquowo die Kanoniker sich mit der einen Chorseite begnuumlgten und die andere den Bruumldern uumlber-lieszligen Ein Bruder des Ordens feierte die Messe und die eine Chorseite sang mit der anderen Chorseite um die Wette []ldquo

Die kunsthistorischen Beitraumlge fallen dagegen durch ihre stark stilgeschichtliche Ausrichtung auf und durch den Versuch die der Forschung im Grunde gelaumlufige Verbin-dung zur lombardischen Baukunst am Mittel- und Oberrhein im 11 und 12 Jahrhundert auch fuumlr Worms naumlher zu bestimmen Dabei werden auch ikonographische Hinweise gegeben Was allerdings eine bdquoNixeldquo in der mittelalterlichen Bauplastik sein soll siehe die Abb 18 auf S 53 ist unklar Die an ihrer Brust sich naumlhrenden Schlangen weisen eher auf eine Darstellung der Luxuria hin

Mit den Abbildungen in dem vorliegenden Band zu arbeiten ist nicht ganz einfach da sie uumlber die Beitraumlge hinweg durchnummeriert und nicht im Text verortet sind Das erleichtert zwar den Bildnachweis doch der Leser muss das passende Bild oft suchen ja manchmal erraten Schlieszliglich sind die Beitraumlge zur Denkmalpflege in ihrer nuumlch- ternen Berichtsform zu erwaumlhnen die das restauratorische Geschehen um den Dom in den letzten Jahren informativ erlaumlutern Aus der Fuumllle der Ausstattung der Wormser Kathedrale kommt insbesondere dem barocken Hauptaltar dem Chorgestuumlhl und den

765Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 765

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

der Sphaumlre des kleinen Nachzuumlglers im Konzert der rheinischen Kaiserdome zu einem wichtigen Akteur in der architekturhistorischen Entwicklung gemacht hat Respekt auch fuumlr den Mut eine fachspezifische Grundsatzkontroverse (Matthias UNTERMANN Dethard VON WINTERFELD) um die Ausfuumlhrung des Ostchors und seine zeitliche Einordnung in die Abfolge des romanischen Neubaus in einer an eine breite Oumlffentlichkeit gerichteten Publikation zu dokumentieren

Wer hingegen den Jubilar zunaumlchst einmal kennenlernen will dem sei der Domrund-gang von Irene SPILLE in der Mitte der Publikation ans Herz gelegt In anschaulicher Weise wird hier in Wort und Bild die Kirche sowohl am Aumluszligeren als auch im Innern dem Leser vorgestellt Danach sollte man den Aufsatz des kuumlrzlich verstorbenen Historikers Stephan WEINFURTER lesen der ein spannendes Kapitel aus der Herrschaftsgeschichte der Staufer vor dem Hintergrund des Wormser Doms erzaumlhlt In seiner unnachahmlichen Art laumlsst er den Kampf zwischen Kaiser und Koumlnig zwischen Vater und Sohn sowie den beteiligten weltlich wie kirchlich Maumlchtigen vor den Augen des Lesers entstehen der mehr uumlber die Bedeutung von Worms und seiner Bischofskirche aussagt als manch fach-wissenschaftlich fokussierte Detailanalyse

Ebenso spannend aber leider viel zu kurz sind die Einlassungen zur funktionalen Nut-zung des Kirchenraums durch Clemens KOSCH Sein Interesse gilt vor allem dem West-chor im Rahmen der Doppelchoranlage die am Mittel- und Oberrhein bzw in Suumld- deutschland nicht selten vorkommt und einen wichtigen Ausgangspunkt um 800 in der Errichtung der Ratgarbasilika in Fulda hatte Dort fand der hl Bonifatius seinen Grab- legeort im Westchor in Worms wurde ein solcher erst unter Bischof Burchard nach 1000 angelegt Er diente wohl als Bischofsmemorie gar als Gedaumlchtnisort fuumlr den Bauherrn was bemerkenswert ist wohingegen das Domkapitel traditionell im Ostchor ansaumlssig war Damit ist die uumlbliche Deutung von Doppelchoranlagen als Ausdruck von Regnum und Sacerdotium auch fuumlr Worms hinfaumlllig Unerwaumlhnt bleibt die Nutzung der beiden Chorseiten anlaumlsslich des ersten Provinzkapitels der Franziskaner in Deutschland 1221 das mit Erlaubnis durch Bischof und Domkapitel im Wormser Dom stattfand wie Jordan von Giano in seiner 1262 geschriebenen Chronik zur Ausbreitung seines Ordens noumlrdlich der Alpen berichtet Zur Messe und Predigt kam man in der Domkirche zusammen bdquowo die Kanoniker sich mit der einen Chorseite begnuumlgten und die andere den Bruumldern uumlber-lieszligen Ein Bruder des Ordens feierte die Messe und die eine Chorseite sang mit der anderen Chorseite um die Wette []ldquo

Die kunsthistorischen Beitraumlge fallen dagegen durch ihre stark stilgeschichtliche Ausrichtung auf und durch den Versuch die der Forschung im Grunde gelaumlufige Verbin-dung zur lombardischen Baukunst am Mittel- und Oberrhein im 11 und 12 Jahrhundert auch fuumlr Worms naumlher zu bestimmen Dabei werden auch ikonographische Hinweise gegeben Was allerdings eine bdquoNixeldquo in der mittelalterlichen Bauplastik sein soll siehe die Abb 18 auf S 53 ist unklar Die an ihrer Brust sich naumlhrenden Schlangen weisen eher auf eine Darstellung der Luxuria hin

Mit den Abbildungen in dem vorliegenden Band zu arbeiten ist nicht ganz einfach da sie uumlber die Beitraumlge hinweg durchnummeriert und nicht im Text verortet sind Das erleichtert zwar den Bildnachweis doch der Leser muss das passende Bild oft suchen ja manchmal erraten Schlieszliglich sind die Beitraumlge zur Denkmalpflege in ihrer nuumlch- ternen Berichtsform zu erwaumlhnen die das restauratorische Geschehen um den Dom in den letzten Jahren informativ erlaumlutern Aus der Fuumllle der Ausstattung der Wormser Kathedrale kommt insbesondere dem barocken Hauptaltar dem Chorgestuumlhl und den

765Archaumlologie Bau- und Kunstgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Orgeln breiter Raum zu uumlber andere Kunstwerke erfaumlhrt man Naumlheres nur im Rahmen des Rundgangs

Der Band ist sorgfaumlltig gemacht Durch sein groszligzuumlgiges Format kommen die Groszlig-teils juumlngeren Aufnahmen sehr gut zur Geltung so dass man das Buch auch ohne es lesen zu wollen gerne zur Hand nimmt Der Rezensent vermisst jedoch einen brauch- baren Grundriss und Laumlngsschnitt des Doms der auch dem interessierten Leser zur besseren Orientierung verholfen haumltte Trotzdem kann man das Projekt bdquoFestschriftldquo als ein insgesamt gelungenes Unternehmen bezeichnen

Wolfgang Schenkluhn

Gerhard FOUQUET Ferdinand OPLL Sven RABELER Martin SCHEUTZ (Hg) Social

Functions of Urban Spaces through the Ages Soziale Funktionen staumldtischer Raumlume im Wandel (Residenzenforschung Neue Folge Stadt und Hof Bd 5) Ostfildern Thorbecke 2018 288 S Abb geb EUR 45ndash ISBN 978-3-7995-4534-1

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung der Internationalen Kommission fuumlr Staumldtegeschichte zuruumlck die als gemeinschaftliche Veranstaltung des Goumlttinger Aka- demieprojekts bdquoResidenzstaumldte im Alten Reichldquo (Arbeitsstelle Kiel) sowie des Instituts fuumlr Oumlsterreichische Geschichtsforschung vom 15 bis 16 September 2016 in Kiel statt-fand was sich auch in der Herausgeberschaft widerspiegelt Gleichwohl ein internatio-naler Tagungsband ist die uumlberwiegende Mehrzahl der Beitraumlge des Sammelbandes in deutscher Sprache gehalten namentlich die (englische) Einfuumlhrung der Herausgeber wird aber zweifellos die uumlberregionale Rezeption befoumlrdern Neben der Einfuumlhrung stehen zehn weitere Beitraumlge die abgesehen von der uumlbergreifenden Perspektive Pierre MONNETS (Raum und Stadt Raum der Stadt Eine staumldtische Sozialgeschichte zwischen Verortung und Verordnung) mit den Schlagwoumlrtern bdquoMitte und Randldquo bdquoOben und Untenldquo sowie bdquoInnen und Auszligenldquo ganz treffend beschrieben sind Das Spektrum reicht dabei von polnischen juumldischen Gemeinden und Spitaumllern in adligen boumlhmischen Residenzstaumldten uumlber kommunale soziale Konflikte in Flandern im spaumlten Mittelalter bis hin zu den Um-weltbeziehungen der Krainer Hauptstadt LaibachLjubljana (Wasser Wald Agrargesell-schaft im Umland) Auch houmlfische Orte in Staumldten des spaumlten Mittelalters und namentlich die Staumldte Regensburg (als Reichs- wie auch Reichstags- und Residenzstadt) und Weil-burg werden betrachtet (Harriet RUDOLPH bzw Matthias MUumlLLER) Hervorgehoben sei dabei auch dass der Blick weit in das 19 und sogar bis ins 20 Jahrhundert geht etwa bei den Beitraumlgen von Friedrich LENGER (Cities as Sites of Social Protest) bzw von An-drea PUumlHRINGER und Holger Th GRAumlF (Orte der Fuumlrsorge im Stadtraum der Kurstadt Das Beispiel Bad Homburg vor der Houmlhe) Ein opulenter und teils farbiger Abbildungsteil (S 243ndash288) beschlieszligt einen stadt- wie sozialhistorisch sehr lesenswerten Sammelband der es auch vermag regional einen weiten Bogen zu uumlberspannen Die einzelnen Beitraumlge sind mit jeweils eigenen Literatur- und Quellenverzeichnissen versehen Sie ermoumlglichen so einen bequemen Zugang und weitere Forschungsmoumlglichkeiten das Fehlen eines Registers faumlllt dagegen kaum ins Gewicht Soweit man an den neueren Publikationen des Projekts bdquoResidenzstaumldte im Alten Reichldquo ersehen kann (httpsadw-goede forschungforschungsprojekte-akademienprogrammresidenzstaedtepublikationen) ist mit einer baldigen Online-Bereitstellung des Bandes (Open Access) uumlber den Doku- mentenserver der Akademie der Wissenschaften zu Goumlttingen zu rechnen was nur zu begruumlszligen ist

Joachim Kemper

766 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Michel PAULY Martina STERCKEN Stadtentwicklung im vormodernen Europa Beob-achtungen zu Kontinuitaumlt und Bruumlchen (Mediaumlvistische Perspektiven Bd 8) Zuumlrich Chronos-Verlag 2019 96 S Abb Brosch EUR 15ndash ISBN 978-3-0340-1549-3

Die beiden kompetenten Autoren ndash Michel Pauly und Martina Stercken ndash praumlsentieren Permanenzen und Wandel der europaumlischen Stadt von deren Anfaumlngen bis ins 19 Jahr-hundert in Teilen bis heute Mit den fruumlhen Bischofsstaumldten und Marktorten entstanden die ersten regionalen sowie uumlberregionalen Zentren die ihren urbanen Charakter in der Regel bis heute bewahren konnten Mit der Entfaltung des Staumldtewesens verdichteten sich durch den Anschluss an den uumlberregionalen Handelsverkehr die urbanen Raumlume Es entstanden Staumldtenetze die allerdings infolge von Neugruumlndungen wieder ausgeduumlnnt werden konnten Die Entstehung der Nationalstaaten im 19 Jahrhundert bedingte die Ausbildung von Metropolen mit groszliger politischer wirtschaftlicher kultureller und ver-kehrstechnischer Ausstrahlung

Um 1200 entstand aufbauend auf bereits bestehenden Siedlungen die neue Lebensform Stadt Im Spaumltmittelalter und der fruumlhen Neuzeit bauten einzelne Kommunen ein eigenes Territorium auf Der innerstaumldtische Raum wurde durch das Rathaus die Marktplaumltze die Kaufhaumluser die Kirchen die Kloumlster das Hospital die Wohntuumlrme sowie Befestigung mit den Tuumlrmen gepraumlgt Die Entfestigung der Staumldte im ausgehenden 18 sowie im 19 Jahrhundert veraumlnderte das Stadtbild nachhaltig

Wohn- und Arbeitsbereich gehoumlrten zusammen Der Marktplatz kristallisierte sich als raumlumliches oumlkonomisches und soziales Zentrum heraus Marktraumlume lagen grundsaumltzlich an Knotenpunkten von Uumlberlandverbindungen Jahrmaumlrkte und Messen etablierten sich hingegen wegen des nur temporaumlr notwendigen Platzbedarfs auszligerhalb der Stadtmauern

Eine besondere Form des Wirtschaftens gilt vielfach als das entscheidende Charakte-ristikum der mittelalterlichen Stadt Der taumlgliche Markt und der Wochen- sowie Jahrmarkt in der Stadt stellten zunaumlchst einen Nahmarkt fuumlr die laumlndliche Bevoumllkerung des staumldti-schen Um- und Hinterlandes dar auf dem agrarische Produkte und gewerbliche Erzeug-nisse aus der Stadt ebenso abgesetzt wurden wie unter Umstaumlnden Fernhandelsguumlter Durch den Fernhandel wurden Staumldte in Partnerschaften mit anderen Kommunen einge-bunden so dass sich urbane Netzwerke knuumlpfen lieszligen Gewerbetreibende stellten den groumlszligten Teil der hochmittelalterlichen Stadtbevoumllkerung Das Vorhandensein bestimmter naturraumlumlicher Gegebenheiten beguumlnstigte die Entstehung besonderer Gewerbeland-schaften mit spezialisierter Produktion Zuumlnfte partizipierten in unterschiedlichem Maszlige an der Stadtherrschaft

Im Spaumltmittelalter und der fruumlhen Neuzeit etablierten sich mit den Bergbaustaumldten Festungs- und Residenzstaumldten Wallfahrtsorten Kur- und Baumlderstaumldten neue funktionale Stadttypen Seit dem 19 Jahrhundert kamen Industriestaumldte sowie Finanzzentren hinzu

Das Buumlrgertum entwickelte sich sukzessive seit dem 11 Jahrhundert als Rechts- gemeinschaft Die groumlszligte Autonomie gewaumlhrten die norditalienischen Staumldte sowie die Reichsstaumldte Die mittelalterliche Stadtgesellschaft war dabei nicht nur durch unterschied-liche Formen der Freiheit sowie Moumlglichkeiten der Partizipation differenziert sondern auch durch raumlumlich bestimmte soziale Entitaumlten (Stadtviertel Pfarrgemeinde)

In Italien hatte die Stadt uumlber den Untergang des roumlmischen Reiches hinaus eine erhebliche Permanenz Groumlszligere sowie wirtschaftlich potente Staumldte entwickelten sich oft zu freien Staumldten mit einer zum Teil betraumlchtlichen eigenen Herrschaft uumlber ihr Hinter-land Stadtherren von kleineren Staumldten tendierten eher zum eigenen Stadtregiment und beeinflussten die Besetzung der Schaltstellen der Buumlrgergemeinden selbst

767Allgemeine Stadtgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Durch den Aufbau von Verteidigungssystemen oumlffentlicher Ordnung Brandschutz sozialer Fuumlrsorge Hygiene Ver- und Entsorgung sowie Schulwesen kam mittelalterlichen Staumldten eine Vorbildfunktion bei der Leistungsverwaltung zu Staumldtebuumlnde und Land- friedensbuumlnde waren Zeichen einer zunehmenden kommunalen Autonomie und Zeichen politischer Selbstaumlndigkeit Staumldte wurden aufgrund ihrer Wirtschaftskraft zu Kultur- traumlgern Orten kultureller Produktion sowie Mittelpunkt von Wissenschaft Kuumlnsten und Unterhaltung verschiedenster Art Als raumpraumlgende durch Zentralitaumlt geformte Siedlung als im Kern immer noch erkennbare bauliche Entitaumlt als Ort wirtschaftlicher Innovation einer differenzierten sich immer wieder erneuernden Gesellschaft und kul-turellen Vielfalt vor allem aber als kleinraumlumiges Modell selbstverwalteter Ordnung und politischer Partizipation wirken in der modernen Stadt immer noch mittelalterliche Phaumlnomene nach

Ein ausfuumlhrlicher Anmerkungsapparat praumlsentiert grundlegende und weiterfuumlhrende Literatur Auf komprimiertem Raum praumlgnant zusammengefasst bietet der kleine Beitrag einen fulminanten und aumluszligerst lesenswerten Einstieg in die aktuelle Stadtgeschichtsfor-schung sowie in das Phaumlnomen der europaumlischen Stadt

Juumlrgen Treffeisen

Guy THEWES Martin UHRMACHER (Hg) Extra muros Vorstaumldtische Raumlume in Spaumlt- mittelalter und fruumlher Neuzeit Espaces suburbains au bas Moyen Acircge et agrave lrsquoeacutepoque moderne (Staumldteforschung Reihe A Darstellungen Bd 91) Wien Koumlln Weimar Boumlhlau 2019 521 S Abb Kt geb EUR 70ndash ISBN 978-3-412-22273-4 E-Book EUR 5999 ISBN 978-3-412-51517-1

Der hier anzuzeigende voluminoumlse Band geht auf eine gleichnamige internationale Konferenz der Universitaumlt Luxemburg und des staumldtischen Historischen Museums der Hauptstadt des Groszligherzogtums zuruumlck die im Jahr 2013 veranstaltet worden war Nun sind sechs Jahre bis zum Erscheinen eines Konferenzbandes keine kurze Zeit es bleibt aber durchaus festzuhalten Das Warten auf den Sammelband mit seinen 19 Beitraumlgen hat sich gelohnt zumal sich einige Bezuumlge zum Oberrhein bieten Die Beitraumlge spiegeln die Bandbreite und diversen wissenschaftlichen Disziplinen der Autorinnen von den Geschichtswissenschaften (mit zahlreichen regionalen bzw landeskundlichen Aspekten) uumlber die Kunstgeschichte bis hin zur Archaumlologie und Baugeschichte Neben Beitraumlgen von deutschen und franzoumlsischen Autorinnen stehen Texte aus Luxemburg Belgien Italien Oumlsterreich Polen und Ungarn Die Beitraumlge selbst sind dem uumlberregionalen europaumlischen Rahmen verpflichtet in deutscher franzoumlsischer oder (weniger haumlufig) eng-lischer Sprache verfasst die Abstracts bieten (dreisprachig) einen vereinfachten Zugang zu allen Beitraumlgen

Im Zentrum des Bandes stehen das staumldtische Umland bzw konkreter bdquovorstaumldtische Raumlumeldquo die in acht Kapiteln behandelt werden Die kartographische Repraumlsentation vor-staumldtischer Raumlume Festungsstaumldte und vorstaumldtische Raumlume Vorstaumldte Sozialtopogra-phie vorstaumldtischer Raumlume Inklusion Exklusion Kontrolle Staumldtische Einflussgebiete Vorstaumldtische Raumlume kleiner Staumldte Zwei Fallstudien Bereits in der Einleitung der Herausgeber wird auf die Ambivalenz der Vorstaumldte hingewiesen die von Desintegra- tion bzw abgestufter Bindung an die Kernstaumldte (typische Merkmale Zuwanderung Randgruppen Kranke und Arme) bis hin zum Bild einer positiv konnotierten laumlnd- lichen Gegend (Stichworte Gaumlrten Idylle Gasthaumluser adlige Sommersitze etc) reichen Bemerkenswert sind sicherlich in diesem Kontext auch die nicht selten repraumlsentativ

768 Buchbesprechungen

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gehaltenen Siechenhaumluser Leprosorien auszligerhalb von Staumldten Im Fall von Festungs-staumldten waren andererseits der fruumlhneuzeitlichen Entwicklung von Vororten oft enge Grenzen gesetzt

Der internationale und gleichsam regionalgeschichtliche Ansatz des Konferenzbandes bietet eine spannende und facettenreiche interdisziplinaumlre Lektuumlre fuumlr deren Herausgabe und Bearbeitung Guy Thewes (Staumldtisches Museum Luxemburg) und Martin Uhrmacher (Assistenzprofessor an der Universitaumlt Luxemburg Institut fuumlr Geschichte) nur zu danken ist Der mit nicht wenigen und durchaus qualitaumltvollen farbigen Abbildungen versehene Band hat natuumlrlich in gedruckter Form seinen Preis weshalb auch auf die minimal guumlns-tigere E-Book-Variante hingewiesen werden soll Ein Verzeichnis der Ortsnamen am Ende des Bandes schlieszligt einen gehaltvollen Sammelband ab

Joachim Kemper

Sabine VON HEUSINGER Susanne WITTEKIND (Hg) Die materielle Kultur der Stadt in Spaumltmittelalter und Fruumlher Neuzeit (Staumldteforschung Reihe A Darstellungen Bd 100) Wien Koumlln Weimar Boumlhlau 2019 256 S Abb geb EUR 35ndash ISBN 978-3-412-51612-3

Der vorliegende Sammelband greift den seit einigen Jahren in den Kulturwissenschaf-ten intensiv diskutierten sbquomaterial turnlsquo auf und sucht ihn fuumlr die vormoderne Stadtge-schichtsforschung fruchtbar zu machen Wie Sabine von Heusinger und Susanne Wittekind in ihrer ndash leider recht knappen ndash Einleitung schreiben sollen die von ihnen herausgegebenen zehn Texte bdquozu einer objektbasierten Kulturanalyse beitragen die anhand von Objekten und Artefakten die Verflechtung von materiellen kulturellen reli-gioumlsen sozio-politischen und wirtschaftlichen Aspekten einer Zeit und eines Ortes erschlieszligt und damit fuumlr die Stadtgeschichte der Vormoderne neue Forschungsfelder eroumlffnetldquo (S 18)

Im ersten dieser zehn Beitraumlge geht Julia A SCHMIDT-FUNKE der Frage nach ob es bdquoeine spezifische Materialitaumlt des Urbanenldquo gibt (S 19) Ihr Vorschlag bdquodie historische Stadt von den Dingen her zu denkenldquo (S 21) gliedert sich in zwei Teile Zum einen gehe es darum bdquodie Bedeutung von Dingen in Prozessen staumldtischer Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu analysierenldquo (ebd) was Schmidt-Funke am Beispiel der Kleidung sowie des Waffenbesitzes und -gebrauchs exemplifiziert Zum anderen koumlnnten Staumldte bdquoals Orte erhoumlhter Dingverfuumlgbarkeitldquo (S 34) in den Blick genommen werden in denen Objekte in wesentlich groumlszligerer Anzahl und Vielfalt vorhanden waren als auf dem Lande Schmidt-Funke verweist dazu beispielhaft auf Sammlungen Kunst- und Naturalienkam-mern die es freilich auch auf manchen laumlndlichen Adelssitzen gab

Elisabeth GRUBER untersucht anschlieszligend in welcher Form Objekte in der staumldtischen Rechnungsfuumlhrung des 15 Jahrhunderts erscheinen Die Ausstattung der Wiener Rats-stube gibt ihr zufolge subtile Hinweise auf soziale und funktionale Differenzierungen innerhalb der staumldtischen Elite sowie auf das Selbstverstaumlndnis der Ratsherren Susanne WITTEKIND thematisiert anhand von Beispielen aus Buumldingen Frankfurt am Main und Coventry die Rolle von Wappen als bdquoMedien der symbolischen Kommunikationldquo (S 52) und entschluumlsselt ihre heraldischen Botschaften Kirsten Lee BIERBAUM bietet eine scharf-sinnige Analyse des um 1500 entstandenen Bildprogramms des bdquoHuldigungssaalsldquo im Goslarer Rathaus Sie weist strukturelle Aumlhnlichkeiten des Saalprogramms mit dem Bild-programm der Schedelschen Weltchronik nach und argumentiert uumlberzeugend dass der Goslarer Rat seine Legitimation staumlrker von Gott herleitete als vom Kaiser (zu dem das

769Allgemeine Stadtgeschichte

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Verhaumlltnis zur Entstehungszeit gespannt war) Gleichwohl bleibt nach der Lektuumlre dieses spannenden Beitrags die Frage offen ob der Aspekt der materiellen Kultur hier nicht gegenuumlber der Ikonographie nachrangig ist

Fuumlr das spaumltmittelalterliche Oberrheingebiet untersucht Olivier RICHARD Funktion und Bedeutung von Objekten im Kontext von Eidesleistungen Waumlhrend res sacrae wie Reliquiare und Evangelien welche die Akteure bdquoberuumlhren halten oder anschauenldquo konn-ten (S 96) die Eide bekraumlftigen sollten erhielten die gesprochenen Formeln in Statu-tenbuumlchern Schwoumlrbriefen und Eidbuumlchern ihrerseits eine materielle Form Als bdquoRequi- siten der Eidesleistungldquo (S 116) nimmt Richard zudem Waffen Tuumlren und die in Basel an Kinder verschenkten Birnen in den Blick Die materiellen Objekte eroumlffnen somit interessante Perspektiven auf bdquodas Verhaumlltnis zwischen Religion sozialen Beziehungen und Politikldquo (S 120) Julia BRUCH naumlhert sich der Materialitaumlt zweier staumldtischer Chro-niken des 16 Jahrhunderts der Ulmer Chronik des Schuhmachers Sebastian Fischer und der Esslinger Chronik des Handwerkers Dionysius Dreytwein kodikologisch und palaumlo-graphisch an Sie kann dadurch unterschiedliche Vorgehensweisen der Schreiber ndash einen bdquolinearen Schreibprozessldquo im Esslinger Fall im Gegensatz zur bdquovorausplanenden Anlageldquo und nichtlinearen Arbeitsweise des Ulmer Chronisten ndash nachweisen und zeigen wie die Autoren ihr Material ordneten

Birgitt BORKOPP-RESTLE stellt die reiche Uumlberlieferung kostbarer Textilien vor die spaumltmittelalterliche Individuen und Korporationen in die Danziger Marienkirche stifteten Die Paramente aus zentralasiatischen und italienischen Seidenstoffen verdeutlichen Wohlstand Leistungsfaumlhigkeit und Repraumlsentationsbeduumlrfnis der Stifter zeigen aber auch die weitreichenden Beziehungen der Ostseestadt an Anna PAWLIK zeichnet anhand ver-schiedener Medien und Objekte ndash Geschlechterbuumlcher Stammbaumlume Totenschilde und Pokale ndash nach wie Nuumlrnberger Patrizier des 15 und 16 Jahrhunderts nach hochadeligen Vorbildern den bdquoSpitzenahnldquo ihres jeweiligen Geschlechts imaginierten und in Gestalt der Figur eines schlafenden bzw lagernden Ritters darstellen lieszligen Regula SCHMID rekonstruiert den Bestand von ndash materiell kaum uumlberlieferten ndash Alltagswaffen in spaumlt-mittelalterlichen Schweizer Staumldten anhand sogenannter Harnischroumldel Bei genauer Lek-tuumlre geben diese auf den ersten Blick sproumlden und stereotypen Listen bemerkenswerte Hinweise auf Qualitaumlt Zustand Gebrauch und Weitergabe der Harnische Kettenhemden Hieb- und Stichwaffen in eidgenoumlssischen Haushalten

Jan KEUPPS abschlieszligendes Resuumlmee erinnert unter dem schoumlnen Titel bdquoDie Stadt ding-fest machenldquo daran dass Georg Simmels bdquoEinsicht in die Macht des Materiellen nach-gerade am Beginn sozialwissenschaftlicher Staumldteforschungldquo gestanden habe (S 227) Indem sie sich nun wieder verstaumlrkt der materiellen Kultur zuwendet kehrt die Stadt- geschichtsforschung also gleichsam zu ihren Anfaumlngen zuruumlck Dies bedeutet freilich nicht dass Forscherinnen und Forscher die sich dem sbquomaterial turnlsquo verschreiben ledig-lich alten Wein in neue Schlaumluche fuumlllen Vielmehr vermoumlgen die Beitraumlge dieses lesens-werten Bandes gerade dort am meisten zu uumlberzeugen wo sie bekannte Quellen und etablierte Methoden mit neuen Fragestellungen kombinieren

Mark Haumlberlein

Michael ROTHMANN Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt und Geld 5 Tagung des Muumlhl-haumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte Muumlhlhausen 27 Februar bis 1 Maumlrz 2017 (Studien zur Reichsstadtgeschichte Bd 5) Petersberg Imhof 2018 397 S Abb geb EUR 2995 ISBN 978-3-7319-0651-3

770 Buchbesprechungen

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Die Geldgeschichte wird von vier Faktoren bestimmt herrschaftlichen theologischen naturraumlumlichen und wirtschaftlichen Herrschaftstraumlger lieszligen ihre Symbole auf Muumlnzen praumlgen womit sie ihre Intentionen propagierten und behaupteten die Waumlhrungssicherheit zu garantieren Edelmetalle mussten oft von weither bezogen werden Bargeldlose Zah-lungsverfahren wie die Verrechnung von Krediten und Wechsel entstanden in den mit-telalterlichen Staumldten Geld wurde zum Maszligstab fuumlr Erfolg Die Herrschaft von Reichs- staumldten uumlber ihr Umland manifestiert sich auch in der Kontrolle der Zahlungsstroumlme Die Theologen schlieszliglich hielten an der Ablehnung von Kredit und Wucher fest was auch als Appell verstanden werden kann die Ungerechtigkeiten der sich durchsetzenden Geld-wirtschaft durch taumltige Fuumlrsorge fuumlr die Armen zu mildern

Steuern kamen in mittelalterlichen Staumldten in vielen Formen vor Die Reichsstaumldte mussten an ihren Stadtherrn den Koumlnig Abgaben entrichten die Freien Staumldte konnten nur in Ausnahmesituationen in Anspruch genommen werden was Eberhard ISENMANN in seinem Beitrag ausdifferenziert Die Staumldte selbst erhoben aber auch fuumlr eigene Be-lange zunehmend Steuern (Vermoumlgensteuern und indirekte Steuern) ndash angefangen mit der Finanzierung des Baus von Stadtmauern Die Reichssteuern wurden im 15 Jahrhun-dert entweder als Matrikularbeitraumlge der Reichsstaumlnde oder als allgemeine Vermoumlgen-steuern konzipiert Letztere mussten durch eine Notlage des Reiches in den Hussiten- bzw Tuumlrkenkriegen begruumlndet werden Eine komplizierte Steuerordnung wurde 1471 dis-kutiert eine einfache kam dann 1495 mit dem Gemeinen Pfennig zum Zuge Schlieszliglich setzten sich doch die Matrikularbeitraumlge durch Die kommunalen Steuern wiederum wur-den als solidarische Zwangsabgabe eingefuumlhrt und dienten der Finanzierung unspezifi-zierter Aufgaben Die Staumldte finanzierten sich in unterschiedlichem Maszlig aus direkten oder indirekten Steuern Zur Bekaumlmpfung von Steuerhinterziehung gab es elaborierte Verfahren

Die Staumldte brauchten schon fruumlh Kredite um ihre Aufgaben zu finanzieren Schulden-freiheit blieb zwar ein Ideal wie Hans-Joumlrg GILOMEN am Beispiel der Schweizer Reichs-staumldte schildert aber die Realitaumlt sah oft anders aus Basel etablierte sich fruumlh als wichtigster Finanzplatz fuumlr die Schweiz (neben Straszligburg) Die Stadtrechnungen zu ent-schluumlsseln stellt sich als schwierige Aufgabe heraus Es gab zahlreiche separate Kassen mit eigenen Rechnungen die nicht zu einer Gesamtrechnung zusammengefuumlhrt wurden Anleihen waren oft das Mittel der Wahl wenn auszligergewoumlhnliche Belastungen (in der Regel Kriege oder Ankaumlufe von Herrschaftsrechten) zu bewaumlltigen waren Hier gab es die Alternative zwischen Leibrenten und Wiederkaufsrenten Zinssaumltze waren bis zu einem gewissen Grad Verhandlungssache Auch Wohnort des Glaumlubigers und die Stuumlcke-lung der Anleihen mussten bedacht werden Fuumlr viele Schweizer Staumldte spielten Pen- sionszahlungen Frankreichs des Papstes etc eine herausragende Rolle fuumlr die Finanzie-rung ihrer Haushalte

Im Falle ernster Probleme konnten staumldtische Solidaritaumlten mobilisiert werden Muumlhlhausen im Elsass steckte in der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts in ernst- haften Zahlungsschwierigkeiten die seinen Status als Reichsstadt bedrohten Laurence BUCHHOLZER-REMY zeigt wie sich andere Staumldte engagierten um den Zugriff von Fuumlrsten auf die Stadt abzuwenden Sie gewaumlhrten Muumlhlhausen Kredite Tilgungsplaumlne wurden gemeinsam festgelegt Ausgaben der Stadt gekuumlrzt Die Befriedigung der Anspruumlche der eigenen Buumlrger spielte dabei nicht die wichtigste Rolle sondern die politischen Ziele standen im Vordergrund

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In den Norden des Reichs fuumlhrt die Geschichte der bdquoLuumlbischen Waumlhrungsunionldquo in der sich zwischen 1379 und der Mitte des 16 Jahrhunderts Luumlbeck Hamburg Luumlneburg und Wismar sowie andere wechselnde Partner zusammenfanden Die Partner legten ge-meinsam den Muumlnzfuszlig fuumlr bestimmte Praumlgungen fest Luumlbeck dominierte den Verbund in Zeiten in denen die Stadt sich fernhielt funktionierte die Union eher schlecht

Deventer in einem anscheinend kaiserfernen Raum gelegen erhielt 1486 ein Muumlnz-privileg Kaiser Friedrichs III fuumlr die Praumlgung von Goldmuumlnzen Damit stellt sich die Frage nach dem Status der Stadt zumal die Initiative offenbar von ihr ausging Evelien TIMPENER sieht aber auch die Interessen Friedrichs III an den Niederlanden und die Reichsferne Deventers als ausschlaggebend an Praumlgungen solch weit entfernter Kom-munen beeinflussten den Geldumlauf im Innern des Reiches kaum

Dortmund geriet durch die bdquoGroszlige Fehdeldquo von 138889 gegen den Grafen von Mark und den Erzbischof von Koumlln in eine Schuldenfalle Vor der Auseinandersetzung hatte sich die Stadt im Wesentlichen aus indirekten Steuern finanziert die allerdings stark im Steigen begriffen waren Das fuumlhrte zu innerstaumldtischen Auseinandersetzungen zwischen Rat und Buumlrgerschaft uumlber die dann notwendige direkte Besteurung und den noumltigen Steuersatz wie Thomas Schilp schreibt Anschlieszligend uumlberstand Dortmund die Bedro-hung zwar siegreich sah sich aber mit gewaltigen Schulden konfrontiert Der Rat fuumlhrte eine hohe Akzise ein und verlangte eine Vermoumlgensteuer von fuumlnf Prozent wofuumlr die Zustimmung der Buumlrger einzuholen war Die Zuumlnfte verlangten detaillierte Rechenschaft des Rates und besetzten schlieszliglich das Rathaus Am Ende stand ein Kompromiss der den Buumlrgervertretern eine direkte Mitwirkung im Rat zugestand

Dass Staumldte auch ohne den Erwerb direkter Herrschaftsrechte ein Territorium kon- trollieren konnten zeigt das von Stefan SONDEREGGER geschilderte Beispiel der Stadt St Gallen Ihre Buumlrgerinnen und Buumlrger erwarben zahlreiche Rechte im Herrschafts- bereich der Abtei St Gallen ndash trotz des konfessionellen Gegensatzes Die einzelnen Rechte dienten dabei unterschiedlichen Zielen ein Hafen gehoumlrte ebenso dazu wie Rechte an Bauernhoumlfen die Wein oder Getreide produzierten und fuumlr Versorgung der Stadt dienten Private Landsitze und Schloumlsser schlieszliglich hatten wirtschaftliche Aufgaben unterstrichen aber auch das Prestige der Besitzerfamilien

Staumldte wie Konstanz und Esslingen hatten zunaumlchst Interesse an der finanziellen Aus-beutung ihrer juumldischen Gemeinden Im 15 Jahrhundert wurden die Juden weitgehend aus beiden Staumldten vertrieben Die von Christian HAGEN vorgestellte Auswertung des Konstanzer Ammanngerichtsbuch zeigt tatsaumlchlich die schwindende Bedeutung juumldischer Kreditgeber die wohl zunehmend in den Bereich Kleinkredite abgedraumlngt wurden

Muumlhlhausen in Thuumlringen und Nordhausen feierten am Freitag vor Palmsonntag die Erinnerung an die Abwehr zweier Versuche die Staumldte zu erobern Sie riefen dazu Ge-daumlchtnisspenden ins Leben die der Verteilung von Brot und Heringen an Arme gewidmet waren Die Spenden uumlberdauerten die Zeiten die Erinnerung an ihren Anlass aber ver-schwand wie Julia MANDRY darlegt Die Stadtgesellschaft inszenierte sich bei der Spen-denverteilung selbst Einbezogen wurden zunehmend groszlige Teile der Stadtbevoumllkerung auch die Baumlcker profitierten wohl

In Windsheim sind Stadtrechnungen ab 139394 erhalten die auch Nachweise der Haushalte dieser kleinen Reichsstadt enthalten Gabriel ZEILINGER lotet die Moumlglichkeiten aus solche Quellen zu analysieren Rechnungen sind oft die fruumlhesten erhaltenen Quellen und ermoumlglichen auch detaillierte Einblicke in die Politik- und Kommunikations- geschichte ndash uumlber ihre wirtschaftlichen und sozialen Informationen hinaus

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Zwei Muumlnzschatzfunden in Muumlhlhausen in Thuumlringen widmen sich die Beitraumlge von Paul LAUERWALD und Martin SUumlNDER Letzterer versucht auch den Verberger des Schatzes zu identifizieren

Den Kreditbeziehungen und der Bezahlung koumlniglicher Schulden auf dem Konstanzer Konzil wendet sich Mathias KLUGE zu Koumlnig Sigismund repraumlsentierte bei seinen Auf-enthalten in der Stadt groszligzuumlgig Er kuumlmmerte sich aber auch selbst um Preise fuumlr Ein-kaumlufe und Budgets Glaumlubiger erhielten Schuldurkunden in denen je nach Schuldsumme Buumlrgen genannt waren In die Abrechnungen wurden auch die Angehoumlrigen des Hofes einbezogen Vor allem Konrad von Weinsberg spielte eine wichtige Rolle Ruumlckzahlungen erfolgten dann oft in Teilzahlungen Die Realisierung hing auch vom Status des Glaumlubi-gers ab Schulden vor Faumllligkeit einzuklagen galt als Affront gegenuumlber dem Koumlnig Uumlbergeordnetes Ziel war die Aufrechterhaltung der Kreditwuumlrdigkeit

Noumlrdlingen und Muumlhlhausen waren im 17 und 18 Jahrhundert so hoch verschuldet dass Debitkommissionen des Reichshofrates sich ihrer finanziellen Angelegenheiten annehmen mussten Antje SCHLOMS schildert detailliert das Vorgehen der Kommissare und die vereinbarten Rezesse die zu vermehrter Mitsprache der Buumlrger fuumlhrten Das Schuldenwesen der Staumldte lieszlig sich durchaus erfolgreich regeln auch weil sich die Rech-nungsfuumlhrung deutlich verbesserte

Am Ende des Alten Reiches waren allerdings zahlreiche Reichsstaumldte wieder hoch ver-schuldet wofuumlr weiterhin die Lasten durch Kriege (dann vor allem der Revolutions-kriege) verantwortlich waren Interne Reformen konnten allerdings den Schuldendienst stabilisieren wie Hans-Werner HAHN am Beispiel Wetzlar erlaumlutert Die Mediatisierung brachte dann einen definitiven Einschnitt der oft die Staumldte auf den alten Schulden sitzen lieszlig ihnen aber die Einnahmen entzog Manchmal konnte Jahre oder Jahrzehnte spaumlter wie im Falle Rottweils oder Reutlingen ein Ausgleich erzielt werden Wetzlar dagegen litt noch lange wogegen die Buumlrgerschaft politisch mobilisierte

Insgesamt bietet der vorliegende Band eine ansprechende Einfuumlhrung anhand von Ein-zelbeispielen ins Thema bdquoReichsstadt und Geldldquo wenn er auch etwas mittelalterlastig ist und die neuzeitliche Entwicklung nur wenig thematisiert wird

Andreas Maisch

Mathias KAumlLBLE Helge WITTMANN (Hg) Reichsstadt als Argument 6 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreises fuumlr Reichsstadtgeschichte Muumlhlhausen 12 bis 14 Februar 2018 (Studien zur Reichsstadtgeschichte Bd 6) Petersberg Imhof 2019 316 S Abb geb EUR 2995 ISBN 978-3-7319-0818-0

Das von Mathias Kaumllble und Helge Wittmann herausgegebene Buch versammelt die 14 Beitraumlge der 6 Tagung des Muumlhlhaumluser Arbeitskreise fuumlr Reichsstadtgeschichte aus dem Jahr 2018

In seiner Einfuumlhrung der Tagung erinnert Mathias KAumlLBLE daran dass die spaumltmittel-alterlichen und neuzeitlichen Reichsstaumldte eher eine politische als eine rechtliche Realitaumlt waren Vom Spaumltmittelalter bis zum Ende des Alten Reichs praumlgte sich der Status bdquoReichsstadtldquo immer staumlrker aus Verstehen inwieweit die Reichstaumldte in verschieden Kontexten ihren Status als Argument benutzen konnten bedeutet also ihre Beziehungen zum Kaiser dem Koumlnig den Fuumlrsten aber auch die Situation der bischoumlflichen und landesfuumlrstlichen Staumldte zu begreifen

Die zwei ersten Aufsaumltze untersuchen die progressive Staumlrkung der Reichsstaumldte durch ihre Partizipation in den Reichsversammlungen und die Argumentation der verschiedenen

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oder die von Doumllf WILD beschriebenen um 1330 entstandenen spektakulaumlren Wand- fresken aus dem Haus bdquoZum Brunnenhofldquo in Zuumlrich Die dort der bdquoBilderwelt der houmlfi-schen Kulturldquo entnommenen Motive fanden uumlbrigens 100 Jahre spaumlter mit dem Groszlig-fresko in dem zentralen Gebaumludekomplex der Humpisgesellschaft in Ravensburg einen prominenten Nachahmer

Eine bdquoaktuelle und um Vollstaumlndigkeit bemuumlhte Bibliographie der Veroumlffentlichungen zu den Juden am Bodenseeldquo (S 203ndash215) rundet den Band an dem insgesamt 33 Auto-rinnen und Autoren mitgewirkt haben ab Den zahlreichen Abbildungen haumltten ein grouml-szligeres Format und eine Wiedergabe auf Kunstdruckpapier gutgetan Die vielfach zu klein und durchweg zu dunkel geratenen Reproduktionen truumlben den Genuss der Betrachtung doch merklich Auch haumltte man sich ein sattelfesteres Lektorat gewuumlnscht Fluumlchtigkeits-fehler wie der unschoumlne Pleonasmus bdquozeitlich befristetldquo (S 140 142) verungluumlckte Satz-gefuumlge (S 136) der Schnitzer bdquoservi camerae nostrildquo[] (S 140) oder mehrere Trennfehler haumltten dann vielleicht vermieden werden koumlnnen Ganz bestimmt aber waumlre aufgefallen dass der in drei verschiedenen Beitraumlgen (S 12 162 166) verwendete Quellenbeleg aus dem Konzeptbuch B der Konstanzer Kurie zum Kartenspielen des Klerikers Wilhelm von Imbuch ndash angeblich ndash mit einem Juden in einem Karmeliterkloster gleich mehrfach fehlinterpretiert wurde Auch wenn das Regest von Karl Rieder noch von einem Kolle-giatstift Ehingen bei Ravensburg [] spricht so haumltte spaumltestens beim Blick in die auf S 175 abgedruckte Originalquelle die topographische Ungereimtheit auffallen muumlssen Dort hat eine spaumltere Hand mit Bleistift den offenkundigen palaumlographischen Befund korrekt mit Ehingen bei Rottenburg wiedergegeben Mit der Lokalisierung des Kolle- giatstifts St Moritz im Rottenburger Stadtteil Ehingen wird auch plausibel warum sich der Konstanzer Generalvikar ndash wie im Regest erwaumlhnt ndash in dieser Angelegenheit an den Tuumlbinger Dekan wendet Zudem hat besagter Wilhelm von Imbuch bdquoan Weihnachten mit einem Juden oumlffentlich Karten gespieltldquo ohne dass wir Naumlheres uumlber den Tatort erfahren nicht aber im bdquoKarmeliterklosterldquo und schon gar nicht im Ravensburger

Franz-Josef Ziwes

Peter KOumlRNER bdquoJetzt ist es mit Dir aushellipldquo 10 November 1938 in Aschaffenburg Opfer

Taumlter Ahndung und Erinnerung (Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaf-fenburg Beiheft Bd 5) Aschaffenburg Stadt- und Stiftsarchiv 2019 299 S Abb geb EUR 22ndash ISBN 978-3-922355-35-9

Die neueste Veroumlffentlichung aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg beschaumlf-tigt sich intensiv mit der bdquoReichspogromnachtldquo die erst seit etwa 40 Jahren so genannt wird mit ihrer bdquoBewaumlltigungldquo und der Erinnerung daran Der seit Jahrzehnten mit der Lokalgeschichte vertraute und selbst in der Erinnerungskultur aktive Historiker und Jour-nalist Peter Koumlrner hat auf einen griffigeren Titel verzichtet und stattdessen seine me-thodischen Uumlberlegungen im Buchtitel wiedergegeben

Der Autor legt einen Schwerpunkt auf die Taumlter ohne sie zu entmenschlichen oder zu daumlmonisieren wie es im Gedenkgenre nicht selten vorkommt Der Autor seziert die Ermittlungen zu den begangenen Verbrechen justiziable Prozesse und die Erinnerung seit 194546 bis heute quasi in einem Laumlngsschnitt

Die Ansicht dass die bdquoReichspogromnachtldquo meistenorts gut erforscht sei hinterfragt Koumlrner kritisch Entgegen perpetuierter Erzaumlhlungen fanden die terroristischen Ereig-nisse jener Nacht allerorten fruumlhestens eine Weile nach Mitternacht jedenfalls am

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

politischen Akteure im Spaumltmittelalter Helmut G WALTHER analysiert die Vielfalt und die fluumlchtigen Konturen des mittelalterlichen Stadtstatus die bis in die Reichsmatrikel des beginnenden 15 Jahrhunderts erkennbar waren Die Reichspolitik fuumlr die Staumldte (z B am Oberrhein) die Konflikte und die rechtlichen Debatten zwischen Staumldten Kaiser und Fuumlrsten das immer ausgepraumlgtere staumldtische Reichsbewusstsein (wie in Nuumlrn- berg) fixierten dennoch den Status und die Zustaumlndigkeitsbereiche der Reichsstaumldte in der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts Gabriele ANAS untersucht eine andere wich-tige Frage die Reichsstaumldte in Reichsversammlungen Sie konstatiert die bdquoJanuskoumlpfig-keitldquo (S 53) der Argumentation des Koumlnigs und der Reichsfuumlrsten Sie schlossen die Reichsstaumldte nach ihren eigenen Beduumlrfnissen ein oder aus Am Ende des 15 Jahrhunderts wurde progressiv bdquoeine herrscherliche Ladungspflichtldquo (S 44) durchgesetzt Auch inner-halb der Reichstaumldte bestanden deutliche Unterschiede in ihrer Haltung Die kleinen Reichsstaumldte besuchten fast nie Reichsversammlungen waumlhrend die groumlszligten sehr aktiv waren

Die naumlchsten Beitraumlge bieten Einblick in die Vielfalt der Situationen in denen die deut-schen Staumldte das Argument bdquoReichsstadtldquo verwendeten Olivier RICHARD beweist dass die spaumltmittelalterlichen elsaumlssischen Reichsstaumldte je nach Zielsetzung und ihrem Gegenuumlber mit ihren multiplen Identitaumlten spielten Das Argument bdquoReichsstadtldquo das in den Stadtbuumlchern auf dem Stadtsiegel auf den Mauern der Stadtgebaumlude stand wurde benutzt um die Interessen die Reichsunmittelbarkeit und die Freiheiten der Stadt ins-besondere in Steuerfragen zu schuumltzen Wenn das Argument unrelevant war z B im Fall Muumllhausen gegenuumlber den Habsburgern suchten die Staumldte andere Unterstuumltzer als den Kaiser Die Versuche kleiner Staumldte wie Ammerschweier Reichsstadt zu werden zeigen jedoch einen prestigevollen Status Der Wormser Rat benutzte das als Argument im Spaumltmittelalter Gerold BOumlNNEN findet zwei Gruumlnde dafuumlr das Ende der bischoumlflichen Schutzherrschaft vor allem in den Jahren 1480ndash1500 und die Legitimation der Rats-macht gegenuumlber den inneren Oppositionen z B waumlhrend den Unruhen 1513ndash1514 Der Rat mobilisierte alle moumlglichen Medien Muumlnzen Stadtsiegel Stadtraum Jedoch war das Schriftmaterial die bessere Waffe Der Rat benutzte die Archivalien und entwickelte eine echte Geschichtspolitik unter anderem durch Chroniken Obwohl andere Medien (Waffen Bilder) benutzt wurden standen die Schrift und die Archivalien im Mittelpunkt des Konflikts zwischen der Stadt St Gallen und dem Abt der ihr waumlhrend der zweiten Haumllfte des 15 und am Beginn des 16 Jahrhunderts den Reichsstadtstatus verweigerte Rudolf GAMPERT erklaumlrt wie der Abt die alten Archivalien und die St Galler Geschichte vor allem in der Denkschrift von 1480 manipulierte Seine Strategie war erfolgreich vor den eidgenoumlssischen Schiedsrichtern Trotzdem bezeichnete sich die Stadt St Gallen immer noch als Reichsstadt z B in Schriften von Joachim Vadian Antje SCHLOMS erklaumlrt die zwei verschiedenen Kontexte in denen die Stadt Muumllhausen das Argument bdquoReichs-stadtldquo mobilisierte Die Ratsoligarchie benutzte es gegenuumlber den Reformationsanhaumln-gern um ihre Macht zu legitimieren und um die Buumlrger zur Einheit gegen die Herrschaftsbedrohungen anzurufen Nach ihrer Niederlage im Jahr 1525 wurde Muumllhau-sen von Fuumlrsten kontrolliert und verweigerte die finanziellen Einschraumlnkungen im Reichs-dienst weil sie keine Reichsstadt war Deshalb unternahm der Kaiser Schritte um ihr den Status zuruumlckzugeben 1542 gab Koumlnig Ferdinand I Muumllhausen die Privilegien einer Reichsstadt Henning STEINFUumlHRER erklaumlrt die Faumllle von Magdeburg und Braunschweig zwei norddeutschen Autonomiestaumldten die schon seit dem 15 Jahrhundert von der Kon-solidierung der fuumlrstlichen Staaten bedroht wurden Die beiden Staumldte hatten kein Inte-

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dennoch fuumlr den Verlauf des 15 Jahrhunderts eine deutliche Entwicklung hin zu Diskri-minierung Ausgrenzung und Ghettoisierung der juumldischen Bevoumllkerung nachzeichnen

Insbesondere in den 1430er Jahren kommt es aufgrund mehrerer Krisen und bdquounter-schiedlich gelagerter Reformbestrebungen in Kirche und Weltldquo zu einem bdquostrukturellen Bruch im nordalpinen Reichsgebietldquo mit dem die bdquoHochphase des sozialen Ausschlusses von Judenldquo eingelaumlutet wird wie Christian JOumlRG feststellt (Christen und Juden im Europa der ersten Haumllfte des 15 Jahrhunderts Zur Ausgrenzung von Juden im Umfeld der groszligen Reformkonzilien S 79ndash86) Damit einher gingen nach Christian SCHOLL auch die Be-strebungen christlicher Korporationen die bis dahin bdquokeineswegs hohlenldquo Buumlrgerrechte der Juden zu beschraumlnken und die andersglaumlubigen Konkurrenten von den Erwerbszwei-gen in Handwerk und Handel weitgehend auszuschlieszligen (Als Rechtlose in die Geldleihe abgedraumlngt Zur rechtlichen Stellung und wirtschaftlichen Taumltigkeit von Juden in den suumlddeutschen Reichsstaumldten des spaumlten Mittelalters S 24ndash31)

Die mit den Umbruumlchen im 14 und 15 Jahrhundert verbundenen Konflikte und Ge-waltausbruumlche thematisieren Martha KEIL (Im Westen von Aschkenas Aspekte von Kon-flikt und Religion im juumldischen Bodenseeraum S 70ndash78) und Johannes HEIL (Gewalt gegen Juden und Konflikte in der Stadt Uumlberlegungen zu einer verstoumlrenden bdquoNormali-taumltldquo am Beispiel der Stadt Konstanz und des Bodenseeraums S 87ndash96) Erstere kann anhand Zuumlricher Gerichtsquellen eine bdquoirritierendeldquo intensive Anrufung des Stadtgerichts bei innerjuumldischen Konflikten feststellen die im Gegensatz zu der bdquoerkaumlmpften juumldisch-rechtlichen Autonomie und in Opposition zum Anspruch der Rabbiner standldquo Diese Ent-wicklung deckt sich allerdings mit den auch andernorts nach den Pestpogromen erkennbaren Tendenzen die bis dahin weitgehend stabile innerjuumldische Gemeindeauto-nomie durch ein Regulierungsmonopol der christlichen Obrigkeit zu ersetzen Wurden die Konflikte auf der politischen Ebene ausgetragen bei der den Juden bdquojede direkte Mit-wirkungsmoumlglichkeit am andauernden innerstaumldtischen Kraumlftemessen versagt warldquo konnte dies nach Johannes Heil fuumlr die juumldische Bevoumllkerung in spezifischen Konstella-tionen ndash wie vor allem in der Mitte des 14 Jahrhunderts ndash toumldliche Konsequenzen haben Die vielen Pogrome wirkten sich nachhaltig auf die juumldische Siedlungsstruktur aus wie Michael SCHLACHTER in seinem Aufsatz bdquoSiedlungsgeschichte und Verfolgungen der Juden im Bodenseegebiet bis zum spaumlten 14 Jahrhundertldquo (S 60ndash69) ausfuumlhrt Leider verzichtet der lesenswerte Beitrag wie der gesamte Begleitband auf eine anschauliche kartographische Umsetzung der Befunde

An die Uumlberblicksartikel schlieszligen sich 14 kleinere Beitraumlge als Forschungsberichte an teilweise aus der Feder Studierender oder junger Forschender Sie behandeln neben den oben bereits erwaumlhnten kunstgeschichtlichen Artikeln von Ingrid KAUFMANN und Meygrav LEVY archaumlologische und museologische Befunde Judensiegel bildliche Dar-stellungen von Juden und von Judenhuumlten juumldische Siedlungstopographie und Friedhoumlfe besondere Quellengruppen die rechtliche Stellung der Juden sowie einen Abriss zur kurzen Geschichte der mittelalterlichen Ravensburger Judengemeinde Eine Studie von Miriam BASTIAN und Mareike HARTMANN befasst sich mit bdquoFesten und Spielen Geselli-ges Beisammensein zwischen Juden und Christenldquo (S 159ndash163)

Unter den Beschreibungen der Exponate von Leihgebern aus Frankreich Groszligbritan-nien der Schweiz Ungarn und Deutschland (S 167ndash202) finden sich neben den Pracht-kodizes weitere Highlights etwa die sogenannten bdquoKopfziegelldquo aus dem Ravensburg des 15 Jahrhunderts mit der Darstellung von Personen mit Bart und Judenhut (Caroline KLATT) regionale Urkunden mit hebraumlischen Dorsualvermerken von Andreas LEHNERTZ

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung und des hier anzuzeigenden Begleitbandes sind einige juumldische Prachthandschriften die zum Teil noch vor den groszligen Pestverfolgungen von 134849 im Bodenseeraum als Gemeinschaftswerke eines juumldischen Schreibers sowie einer kloumlsterlichen Malwerkstatt entstanden sind Sarit SHALEV-EYNI (Hebrew Illuminated Manuscripts from Lake Constance before 1348 S 32ndash47) und Katrin KOGMAN-APPEL (Juumldische Bildkultur im mittelalterlichen Deutschland S 48ndash59) bringen uns die bildli-chen Darstellungen der hebraumlischen Kodizes in ihrer Motivik und Charakteristik naumlher indem sie diese als Teil einer bdquoBildkulturldquo erkennbar werden lassen die bdquointegraler Bestandteil der Kultur ihrer Umgebungldquo ist Diese Bildkultur verlangt nach einer Wuumlr-digung die uumlber die religioumlse Identitaumlt des Kuumlnstlers hinaus auch Auftraggeber und Betrachter in den Blick nimmt (S 59) Anhand der raumltselhaften vier ganzseitigen Illu-strationen in der Darmstaumldter Haggadah demonstriert Meyrav LEVY (Enigmatic Illustra-tions in the Darmstadt Haggada A Chivalric Version of Olam ha-Ba S 132ndash139) wie die Auftraggeberin der wohl um 1430 entstandenen Handschrift durch den christlichen Illustrator modische Ideale der ritterlich-houmlfischen Kultur mit auf den ersten Blick be-fremdlichen Motiven paradiesischer Jenseitsvorstellungen des Judentums zum Ausdruck bringen lieszlig Die fuumlr juumldische Illuminationen ungewoumlhnlich bdquoliberalenldquo Darstellungen von Frauen in einem ebenso ungewoumlhnlichen chevalresken Kontext lassen auf eine Besitzerin schlieszligen die sich mit einer herausgehobenen sozialen Schicht identifiziert wissen wollte (S 138 f) Vielleicht gehoumlrte die Dame ndash der Hinweis sei an dieser Stelle erlaubt ndash zum Kreis jener Juumldinnen die im spaumlten 14 und im 15 Jahrhundert als uumlber-durchschnittlich erfolgreiche Geschaumlftsfrauen ihren Ehemaumlnnern ein Leben mit religioumlsen Studien abseits des Broterwerbs ermoumlglichen konnten und dabei ein robustes Selbst- bewusstsein entwickelten

Die bdquohoumlchst eigensinnige Teilhabe der Juden an der Welt der Gotik [hellip] als zwei Seiten derselben Kulturldquo (WELTECKE S 11) uumlberdauerte mithin die Verwerfungen die als Folge der verheerenden Pestpogrome in der Mitte des 14 Jahrhunderts zu einer merklichen Verschlechterung in der Gemeindestruktur des aschkenasischen Judentums fuumlhrten Den weitreichenden Beschraumlnkungen in der juumldischen Gemeindeautonomie standen durchaus beachtliche Karrieren gegenuumlber Dies gilt auch fuumlr die bdquoMedinat Bodaseldquo also jene gemeindeuumlbergreifende regionale Identitaumlt in der sich die Juumldinnen und Juden der Bodenseeregion von Zuumlrich bis Ravensburg miteinander verbunden fuumlhlten Zwar blieben die hiesigen Judengemeinden zahlenmaumlszligig und kulturell stets im Schatten der mittel- rheinischen Zentren gleichwohl entwickelten sich auch hier Potenziale mit kultureller Strahlkraft wie Ingrid KAUFMANN am Beispiel der Verbreitung des Zuumlrcher SeMaK in Oberitalien aufzeigt (Ein sbquoZuumlrcherlsquo jenseits der Alpen Der Zuumlrcher SeMaK als Zeugnis juumldischer Mobilitaumlt im Mittelalter S 116ndash119)

Nicht nur die kulturellen Aspekte lohnen eine genauere Betrachtung der mittelalter- lichen Bodenseeregion unter juumldischen Vorzeichen Neben den Darstellungen von Sarit SHALEV-EYNI und Katrin KOGMAN-APPEL beleuchten sechs weitere Uumlberblicksbeitraumlge die juumldische Lebenswelt im Hoch- und Spaumltmittelalter aus unterschiedlichen Perspek- tiven Markus J WENNINGER beschreibt bdquoJuden und Christen im Mittelalter Facetten ihres Zusammenlebens unter besonderer Beruumlcksichtigung des Bodenseeraumsldquo (S 14ndash23) Auch wenn Zufaumllle und strukturelle Bedingtheiten der Quellensituation haumlufig zu einer Verzerrung der Wahrnehmung fuumlhren wenn etwa allein aus dem Mehr an gericht-licher Uumlberlieferung auf eine Zunahme an Konflikten geschlossen wird so laumlsst sich

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resse Reichsstadt zu werden Trotzdem stuumltzten sie sich auf die Reichunmittelbarkeit auf die vom Kaiser gegebenen oder bestaumltigten Privilegien Ihr Bestreben nach Stadtfrei-heit wurde noch durch die Einfuumlhrung der Reformation erhoumlht Dank der Privilegien und des Buumlndnisses mit den Hansestaumldten blieben sie autonom bis zur Mitte des 17 Jahrhun-derts Nach dem Dreiszligigjaumlhrigen Krieg war die Macht der Fuumlrsten so stark dass Magde-burg und Braunschweig ihren nun nicht mehr so attraktiven Reichsstadtstatus in den 1660er Jahren verloren Im Gegensatz zu Magdeburg und Braunschweig bekam Hamburg den Status einer Reichsstadt erst in der Neuzeit nach einem von Oliver AUGE beschrie-benen langen und nicht geradlinigen Prozess Das Reich und der daumlnische Koumlnig begehr-ten die hamburgische Unterstuumltzung wegen des Wohlstandes der Stadt Die Frage der Reichsunmittelbarkeit stand im Mittelpunkt der Unruhen von 168486 Auch nach ihrem Sieg 1686 rechtfertigte der Rat seine Allianz mit dem Reich durch die hochmittelalter- lichen Freiheiten in allen moumlglichen Medien vor allem in Druckschriften Auszliger waumlhrend der Hamburger 750-Jahrfeier wird das Argument bdquoReichsstadtldquo im 20 Jahrhundert und heutzutage nicht mehr verwendet

Die folgenden zwei Aufsaumltze analysieren inwieweit das Argument bdquoReichsstadtldquo vor dem Reichskammergericht und in den internationalen Verhandlungen mobilisiert wurde Im 16 Jahrhundert spielten die von Evelien TIMPENER untersuchten Augenscheinkarten eine wichtige Rolle in den Prozessen vor dem Reichskammergericht Drei Augenschein-karten wurden gemalt um die Territorialkonflikte zwischen der Reichsstadt Frankfurt am Main und den Grafen von Hanau-Muumlnzenberg zu regeln Das Zusammenspiel des Texts und der Zeichnung auf der Karte konstituiert eine vorteilhafte Argumentation fuumlr den Kommanditaumlr Die Details vor allem die Grenzsteine oder die Identitaumltssymbole beziehungsweise das Bild der Gerichtskommission bei der Arbeit sollten die Richter beeinflussen Anhand des Protokolls der Osnabruumlcker Reichsstaumldtekurie und der Berichte des kaiserlichen Gesandten Krane an den Kaiser erneuert Siegrid WESTPHAL den Blick uumlber die Rolle der Reichsstaumldte waumlhrend den Verhandlungen des Westfaumllischen Friedens-kongresses Aktiv versuchten die Reichsstaumldte die gleiche Anerkennung wie die anderen Staaten zu erlangen Sie brauchten einen schnellen und wirksamen Frieden aus wirt-schaftlichen und politischen Gruumlnden Dank ihrer Rolle waren die Verhandlungen mit Schweden erfolgreich Im Gegensatz zu den anderen Reichsstaumlnden bekraumlftigten die Reichsstaumldte nach langen Diskussionen ihre Loyalitaumlt zum Kaiser als Garant ihrer Reichs-unmittelbarkeit in den Verhandlungen mit Frankreich Deshalb wurden die Friedens- instrumente von allen Akteuren des Dreiszligigjaumlhrigen Kriegs unterschrieben

Die drei letzten Studien stellen das Thema bdquoReichstadt als Argumentldquo in einen breiten historischen und historiographischen Kontext Steffen KRIEB untersucht nicht direkt die Argumentation der Reichsstaumldte sondern ergaumlnzt diese durch die der Ritterschaft Wie die Reichsstaumldte verlangte die Reichsritterschaft ihre Steuern direkt ans Reich zu bezah-len Waumlhrend die Reichstaumldte in derselben Situation ihre Reichsunmittelbarkeit benutzen setzte die Reichsritterschaft ihren Kriegsdienst ein den sie durch Herkommenserzaumlhlun-gen und die Fuumlhrung des Georgsbanners unterstrich Joachim J HALBEKANN legt einen historiographischen Aufsatz vor indem er einen Uumlberblick uumlber das Schaffen von Otto Borst (1924ndash2001) verfasst Als Archivar Lehrer und Professor Inhaber des Lehrstuhls fuumlr Landesgeschichte der Universitaumlt Stuttgart trug Otto Borst zur Gruumlndung von quali-tativen wissenschaftlichen Zeitschriften bei Den Esslinger Studien und der Zeitschrift fuumlr Stadtgeschichte Stadtsoziologie und Denkmalpflege Dank dieser Publikationen seiner Monografien der Gruumlndung von Forschungsgruppen und der Organisation von

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Die Schrift stand so zwischen einem eigenstaumlndigen Diskursraum und der Funktion als Element der Face-to-Face-Kommunikation Dies erlaumlutert Arlinghaus anhand des Stadtschreiberamtes des Archivs sowie der Kanzlei Trotz des Anwachsens des auf- zubewahrenden Schriftguts bevorzugte man bis zum beginnenden 15 Jahrhundert die Verwahrung der Unterlagen in Privathaumlusern Allerdings wurden diese Raumlumlichkeiten durch drei an verschiedene Personen ausgegebene Schluumlssel gesichert Die Stadtschrei-ber hatten seit dem 14 Jahrhundert haumlufig eine Universitaumlt besucht und nicht selten ein Rechtsstudium abgeschlossen manchmal mit Promotion Anders als beim Ratsherrn war das Verhaumlltnis des Schreibers zum Rat nicht das eines Mitglieds zum genossenschaft- lichen Verband sondern das eines Untergebenen zum Dienstherrn Wurden Schriftstuumlcke in Verfahren vor den Ratsgerichten oder dem Rat eingebracht wurden sie in der Regel vorgelesen und somit in die angestrebte Face-to-Face-Kommunikation eingebunden

Als bdquoFormen manifestierter Exklusionldquo (S 306ndash355) sieht Arlinghaus den Stadtver-weis und die Hinrichtung Strafe war bei Stadtverweisen nicht das klassische Motiv Die Abschiebung von Randgruppen insbesondere seit dem endenden 15 Jahrhundert sollte die Gefahr der Stoumlrung der inneren Ordnung minimieren Die Ausweisung einflussreicher materiell gesicherter Buumlrger konnte hingegen die Situation unter Umstaumlnden eher noch verschaumlrfen Mit der Verbannung ging der Stadt die Kontrolle uumlber den Delinquenten verloren Der Exilierte konnte falls er uumlber die noumltigen Ressourcen verfuumlgte auf den Rat von auszligen Druck ausuumlben Aus der Perspektive der Stadt kam der Stadtverweis einer Exkommunikation gleich Hinrichtungen die nicht vor sondern in der Stadt vollzogen wurden stehen meistens in Zusammenhang mit Revolten beziehungsweise sind primaumlr politisch einzustufen Wollte man den Hinzurichtenden aus der Gesellschaft ausschlieszligen reichte das einfache Toumlten nicht aus Erst uumlber die besondere Zurichtung des Koumlrpers und des Leichnams konnte eine vollstaumlndige Exklusion erreicht werden

Eine umfassende Zusammenfassung (S 356ndash374) sowie ein bdquoenglisch Summaryldquo (S 375ndash392) schlieszligen die aumluszligerst detailreiche und anschauliche Arbeit ab Das obliga-torische Abkuumlrzungsverzeichnis ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister beenden die weiterfuumlhrende die Mediaumlvistik anregende Abhand-lung

Juumlrgen Treffeisen

Dorothea WELTECKE (Hg) unter Mitarbeit von Mareike HARTMANN Zu Gast bei Juden Leben in der mittelalterlichen Stadt Begleitband zur Ausstellung Konstanz Stadler 2017 216 S Abb Brosch EUR 1980 ISBN 978-3-7977-0734-5

bdquoDie Ausstellung Zu Gast bei Juden leistet [hellip] etwas ungeheuer Wertvolles Sie wech-selt die Blickrichtung Sie eroumlffnet eine ganz neue Perspektive auf das juumldische Leben im Mittelalter [hellip] Die Ausstellung verdeutlicht Juden und Christen sind zwei Seiten derselben Kulturldquo Mit diesen Worten aus seinem Gruszligwort bringt der Schirmherr Josef SCHUSTER Praumlsident des Zentralrats der Juden in Deutschland die Intention der Ausstel-lung auf den Punkt Allein schon der Ausstellungstitel ist Programm und haumltte nicht besser gewaumlhlt werden koumlnnen Dorothea WELTECKE und Mareike HARTMANN wollen am Bei-spiel der juumldischen Gemeinden in der mittelalterlichen Bodenseeregion das bdquoradikale Umdenkenldquo veranschaulichen das dank der kunstgeschichtlichen Forschungen der letzten Jahre zu einer Neubewertung des Zusammenlebens von Juden und Christen gefuumlhrt haben soll und gleichzeitig falsche Vorstellungen sowie Scheintatsachen bzw Scheinfakten an der Uumlberlieferung uumlberpruumlfen (S 6 11)

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Gedenkveranstaltungen spielte Otto Borst eine wichtige Rolle beim Aufbau des Themas bdquoReichsstadtldquo und dann bdquoStadtldquo im Allgemeinen in der deutschen Forschung Zum Schluss setzt Stephen SELZER die Reichsstaumldte in den historiographischen Kontext des 20 Jahrhunderts Dann fasst er die Grundaspekte der Tagung und des Buchs zusammen die progressive Ausarbeitung einer Definition der Reichsstaumldte die Wichtigkeit der Reichsversammlungen die Behauptung aumluszligerer Autonomie gegen die Fuumlrsten oder den Kaiser aber auch die Behauptung der inneren Souveraumlnitaumlt der Ratsoligarchie durch das Argument bdquoReichsstadtldquo die Vielfalt der chronologischen und geopolitischen Stadtsitua-tionen in der Zeit und die Spezifizitaumlt der noumlrdlichen Autonomiestaumldte die Verwendung aller moumlglichen Medien aber vor allem des Schriftmaterials Er eroumlffnet Arbeitsperspek-tiven die Prosopographie der gelehrten Raumlte den systematischen Vergleich der Argu-mentation der Reichsstaumldte die soziale Vielfalt in jeder Reichsstadt

Dieses sehr reiche und spannende Buch das sich fuumlr einen langen Zeitraum und alle Reichsraumlume interessiert beschreibt die vielfaumlltigen Verwendungen des Arguments Reichsstadt Es schreibt also eine Geschichte der Reichsverfassung zwischen den Zeilen und es oumlffnet neue Forschungsperspektiven uumlber die Reichsstaumldte selbst insbesondere uumlber die inneren Beziehungen die hier weniger als die aumluszligeren Beziehungen studiert wurden

Anne Rauner

Roland DEIGENDESCH Christian JOumlRG (Hg) Staumldtebuumlnde und staumldtische Auszligenpolitik ndash Traumlger Instrumentarien und Konflikte waumlhrend des hohen und spaumlten Mittelalters 55 Arbeitstagung des Suumldwestdeutschen Arbeitskreises Stadtgeschichtsforschung in Reutlingen 18ndash20 November 2016 (Stadt in der Geschichte Bd 44) Ostfildern Thorbecke 2019 322 S Abb Kt Brosch EUR 34ndash 978-3-7995-6444-1

In einer Einfuumlhrung in das Thema (bdquoZur Einleitung Staumldtebuumlnde und staumldtische Au-szligenpolitik waumlhrend des Hoch- und Spaumltmittelaltersldquo S 7ndash17) bieten die beiden Heraus-geber einen Forschungsuumlberblick sowie eine Kurzzusammenfassung der einzelnen Beitraumlge Roland DEIGENDESCH schildert bdquoDie Schlacht bei Reutlingen 1377ldquo unter den Aspekten bdquoGeschichte ndash Wirkung ndash Erinnerungldquo (S 19ndash44) Er ordnet die Schlacht in den Zeithorizont ein schildert die Vorgeschichte und den Verlauf sowie abschlieszligend die Bedeutung des aumluszligerst brutal gefuumlhrten Kampfes fuumlr das Selbstverstaumlndnis Reutlingens Die verschriftlichte Erinnerungskultur in den Chroniken der oberdeutschen Staumldte sowie in der wuumlrttembergischen Annalistik wurde durch die jahrhundertelange Praumlsentation der eroberten Waffen und Ausruumlstungsgegenstaumlnde im Rathaus ergaumlnzt

Zwei Beitraumlge bilden die Sektion 1 bdquoStaumldtische Buumlnde in Italienldquo (S 47ndash85) Zunaumlchst beschaumlftigt sich Christoph DARTMANN mit dem Lombardenbund (bdquoRegionale Koordi- nation und mediterrane Bezuumlge im hochmittelalterlichen Oberitalienldquo S 47ndash65) In einem Uumlberblick stellt er die deutschen sowie italienischen Forschungsschwerpunkte seit dem 19 Jahrhundert vor Als neuen Ansatz sieht er die Aspekte der adligen Praumlgung der dortigen kommunalen Gesellschaft die mediterrane Dimension der Kriege mit den Stauferkoumlnigen die Vorherrschaft der Meere sowie weitere Formen regionaler Koordi- nation neben dem Lombardenbund Die benachbarten Staumldte waren miteinander verfein-det und fanden in den Nachbarn der Nachbarn ihre Verbuumlndeten Dieser Bund war auch eine Adelsgenossenschaft deren Angehoumlrige kommunale Mechanismen nutzten bdquoKommunale Buumlndnisse in Mittelitalien im spaumlteren 13 Jahrhundertldquo nimmt Christina ABEL unter den Aspekten bdquoPraxis Schriftlichkeit und Recht im Spiegel administrativer

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

waren die einzelnen Gerichtsraumlume innerhalb des Gebaumludes in groumlszligere auch anderweitig genutzte Raumlume integriert Durch Offenheit und Verzicht auf raumlumliche Ausgrenzung vermied man eine Separierung des Diskurses uumlber das Recht Rechtsprechung war somit kommunikatives Geschehen das zwar einen eigenen durchaus festen Ort beanspruchte aber auch durch seine Offenheit in das kommunale Umfeld eingeschlossen blieb Die juristische Amtshandlung wurde so als Teil des genossenschaftlichen Aktionsfeldes betrachtet

Auch das Personal der Koumllner Gerichte nimmt Arlinghaus in den Blick Dabei sieht er die Hochgerichtsschoumlffen zwischen Patriziat und Professionalisierung (S 118ndash137) Zunaumlchst rekrutierten sich die Urteiler aus dem Kreis der Koumllner Buumlrger so dass auch das Hochgericht trotz aller Kontroversen mit dem Rat eng verknuumlpft war Die Schoumlffen kooptierten sich bis in das spaumlte Mittelalter aus dem Meliorat Bis ins 16 Jahrhundert hinein war fachwissenschaftliches Studium nicht notwendig allerdings stellte seit der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts der Besuch der Artistenfakultaumlt fuumlr einen Schoumlffen keine Besonderheit mehr dar Rechtsexperten konnten als Gutachter hinzugezogen werden

Das Kapitel bdquoRichter als Deputierte des Rates Urteiler Laien und gelehrte Juristenldquo (S 137ndash176) zeigt in der zweiten Haumllfte des 16 Jahrhunderts Juristen als Richter bei den Ratsgerichten In anderen Bereichen ndash z B bei den Stadtschreibern ndash findet man schon fruumlher eine deutliche Hinwendung zu studierten Fachleuten Koumllner Juristen gaben fast ausschlieszliglich in den Faumlllen Rechtsauskunft in denen auswaumlrtige oder geistliche Gerichte oder Institutionen involviert waren Bei der Auswahl der Richter war im 17 Jahrhundert die Ratszugehoumlrigkeit beziehungsweise Deputation das wichtigste Kriterium

Breiten Raum nimmt das Kapitel bdquoKommunikationsformen Gesten Rituale Sprach-formen und Schriftldquo (S 177ndash305) ein Zunaumlchst stehen die Hochgerichtsverfahren und deren bdquoRituale Sprachformeln Eidhelfer und sbquoUmstandlsquoldquo (S 177ndash196) im Fokus Viel-faumlltige Rituale und ein stark formalisierter Verfahrensablauf praumlgten das vormoderne Pro-zessgeschehen denn jedes gesprochene Wort erzielte bereits eine unmittelbare Wirkung Daher war auch auf jedes Wort jede Geste zu achten

Erst im Verlauf des 13 Jahrhunderts gewannen die Schreinsbucheintragungen an rechtsichernder Bedeutung wobei allerdings erst fuumlr das 14 Jahrhundert eine vollguumlltige Beweiskraft zu konstatieren ist Zuvor kam diesen Dokumenten lediglich gedaumlchtnis- stuumltzende Funktion zu Ab der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts war dann der Eintrag im Schreinsbuch neben der Uumlbergabe- und Verzichtserklaumlrung ein zentraler Bestand der Liegenschaftsuumlbertragung Im 15 und 16 Jahrhundert laumlsst sich dann eine Zunahme der waumlhrend der Prozesse erzeugten und wieder in das Prozessgeschehen eingebrachten Schriftstuumlcke beobachten

Der Rechtsstreit vor den Ratsgerichten erfolgte hingegen als formloses Verfahren (bdquoDie Ratsgerichte Kommunikationsstrukturen im formlosen Verfahrenldquo S 219ndash305) Bei den vom Stadtrat initiierten Gerichten fehlten neben den Urteilern auch Vorsprecher und sonstige Prozessvertreter Diese Verfahren zielten eher auf Schlichtung ab weniger auf eine richterliche Entscheidung

Kommunikation uumlber Schickung war fuumlr den Rat eine Moumlglichkeit im staumldtischen Raum Praumlsenz zu zeigen und seinen Anordnungen entsprechendes Gewicht zu verleihen Um 1400 setzte eine breitere Schriftverwendung bei den einzelnen Gerichten ein Der Einbezug von Schriftstuumlcken veranschaulicht die Tendenz der Herausloumlsung der Streit-parteien aus ihrem sozialen Umfeld

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Quellenldquo (S 67ndash85) in den Blick Sie rekapituliert die Verhandlungen zwischen Perugia Orvieto und Spoleto 1277 und bietet uns dabei einen fast mikroskopischen Einblick Auch die Beweggruumlnde der Kommunen und die Argumentationsstraumlnge der Gesandten werden teilweise nachvollziehbar

Die zweite Sektion bdquoKommunikation und Konfliktldquo widmet sich den bdquoGrundlagen der Auszligenpolitik und Buumlndnis-Beziehungen an Fallbeispielen des Spaumltmittelaltersldquo (S 89ndash186) Bernhard KREUTZ eroumlffnet mit seinem Beitrag bdquoDer Bund der Staumldte Mainz Worms und Speyer von 1293 ndash Chancen und Grenzen staumldtebuumlndischer Politik zwischen Bischofsherrschaft und Thronstreitldquo (S 89ndash102) den Reigen der insgesamt fuumlnf Beitraumlge Die Bildung eines weitgehend autonomen buumlrgerlich dominierten Stadtrates und damit die Moumlglichkeit als Gemeinde unabhaumlngig vom Stadtherrn sowie im Konfliktfall auch gegen ihn zu handeln war eine wichtige Voraussetzung fuumlr staumldtebuumlndische Politik Staumldtebuumlnde des Mittelalters ndash so zeigt die Analyse des Bundes von 1293 ndash ihre Pro-grammatik und die tatsaumlchlichen Umsetzungschancen sind nur im Zusammenhang mit der innerstaumldtischen Geschichte und mit der jeweiligen Staumldtelandschaft zu verstehen bdquoDie Grafen von Wuumlrttemberg die schwaumlbischen Reichsstaumldte und Kaiser Karl IV in Konflikt und Kooperationldquo (S 103ndash124) zeigt uns Peter RUumlCKERT und stellt die Perspek-tive eines fuumlrstlichen Territorialherren in den Mittelpunkt seiner Ausfuumlhrungen Fuumlr den Ausbau der wuumlrttembergischen Territorialherrschaft war das Verhaumlltnis der Wuumlrttember-ger zu Koumlnig und Reich von entscheidender Bedeutung Die Wuumlrttemberger und die Reichsstaumldte waren sich uumlber die Reichslandvogtei wechselseitig verpflichtet Dem ver-trauten Verhaumlltnis zwischen Kaiser und den Grafen konnten die schwaumlbischen Reichs-staumldte nur distanziert gegenuumlberstehen und sich in Selbsthilfe staumlrken bdquoStaumldtische Diplomatie und Kriegldquo uumlberschreibt Simon LIENING seinen Beitrag und aumluszligert sich bdquoZur Verflechtung zweier Aufgabenbereiche in der Straszligburger Auszligenpolitik zur Zeit des Rheinisch-Schwaumlbischen Staumldtebundesldquo (S 125ndash137) Nicht immer wurde der Anforde-rung zur militaumlrischen Hilfe im Rahmen eines Buumlndnisses auch Folge geleistet Wichtig war dabei die diplomatische Kommunikation Neben den kommunalen Gesandten traten auch Hauptleute der staumldtischen Truppen diplomatisch in Erscheinung Ebenso begleite-ten staumldtische Gesandte das Bundesheer um gegebenenfalls im Falle von Verhandlungen schnelle und kompetente Entscheidungen treffen zu koumlnnen Florian DIRKS wendet unseren Blick in den Norden Deutschlands und behandelt bdquoStaumldte und staumldtische Fuumlh-rungsgruppen des Hanseraumes und ihre Buumlndnisse ndash Die Ratssendeboten des Spaumlt- mittelalters zwischen Kooperation und Konfliktldquo (S 139ndash151) Nach einem Forschungs-uumlberblick zeigt er Typen sowie Zusammensetzung der Ratssendeboten die eine eigene Gruppe innerhalb der kommunalen Fuumlhrungsgruppe darstellten Sie waren Fernhandels-kaufleute Ratsherren und Reisediplomaten Im Laufe des 15 Jahrhunderts trat eine zunehmende Spezialisierung und Professionalisierung ein Grundsaumltzlich schickte man ein aumllteres und ein juumlngeres Ratsmitglied gemeinsam auf Reisen Akribisch und detail-reich analysiert Patrizia HARTICH bdquoDie Rechnungslegung des Schwaumlbischen Staumldte- bundes nach dem suumlddeutschen Staumldtekrieg 144950 am Beispiel der Reichsstadt Ess- lingenldquo (S 153ndash186) Die Rechnungslegung wurde regelmaumlszligig vorgenommen wobei man die Ausgaben der einzelnen Mitglieder auf den ganzen Bund umlegte Nach Be- endigung des Konflikts verrechnete man nicht nur die Ausgaben der verbuumlndeten Staumldte sondern auch die an den Gegner geleistete Entschaumldigung Die Edition der Esslinger Rechnungen sowie dreier Briefe runden den aumluszligerst ertragreichen sowie weiterfuumlhrenden Beitrag ab

777Allgemeine Stadtgeschichte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Bausteine der suumldwestdeutschen mediaumlvistischen Landesgeschichte bilden Sie kann uneingeschraumlnkt als Vorbild fuumlr weitere derartige Dissertationsvorhaben gelten In den groszligen weitestgehend unzerstoumlrten Archiven der Staumldte Freiburg Basel und eben Straszlig-burg sowie weiteren vor allem elsaumlssischen Archiven lagern noch unzaumlhlige Archivalien die der wissenschaftlichen Auswertung harren

Juumlrgen Treffeisen

Franz-Joseph ARLINGHAUS InklusionndashExklusion Funktion und Formen des Rechts in der spaumltmittelalterlichen Stadt Das Beispiel Koumlln (Norm und Struktur Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Fruumlher Neuzeit Bd 48) Koumlln Boumlhlau 2018 439 S Abb geb EUR 70ndash ISBN 978-3-412-51165-4 kostenlose Online- Ressource httpswwwvr-elibrarydedoibook1077889783412504397 ISBN 978-3-412-50439-7

Die vorliegende Arbeit wurde 2006 als Habilitationsschrift an der Universitaumlt Kassel eingereicht Sie untersucht die Beziehung des Einzelnen zum genossenschaftlichen Verband In der mittelalterlichen Stadt war ein Konflikt immer auch eine Frage nach der Zugehoumlrigkeit so dass dem Verhaumlltnis der Streitenden zu einem Verband eine entschei-dende Bedeutung zukam Unter diesem Blickwinkel sind die Gerichte nicht als eigen-staumlndige Rechtsinstitutionen zu sehen sondern vor allem als Teil des genossenschaft- lichen Verbandes

Zunaumlchst erlaumlutert Arlinghaus ausfuumlhrlich seinen theoretischen Ansatz (S 17ndash50) Es geht um den einzelnen Menschen der Teil des Personenverbandes der kommunalen Gemeinschaft war Die an den Einzelnen gerichteten Erwartungshaltungen sowie die Kommunikation insgesamt orientierten sich an der Position die der Einzelne in der Gesellschaft insgesamt einnahm Daher wurde das Individuum ndash anders als in der Mo-derne ndash erst uumlber die Zugehoumlrigkeit (Inklusion) zu einem Verband definiert Im Umkehr-schluss war der Ausschluss (Exklusion) aus einer Gemeinschaft ein die Existenz bedrohender Akt

Arlinghaus beginnt die Untersuchung mit einem detaillierten und fundierten bdquoUumlber-blick uumlber die Gerichte in Koumllnldquo (S 60ndash74) Das erzbischoumlfliche Hochgericht reicht in seinem Ursprung bis ins 11 Jahrhundert zuruumlck und umfasste in der Regel 25 Schoumlffen Neben der Blutgerichtsbarkeit war es zunaumlchst auch fuumlr Zivilgerichtsbarkeit und die frei-willige Gerichtsbarkeit der Koumllner Altstadt zustaumlndig So verstanden sich die hier seitens des Erzbischofs installierten Schoumlffen auch als Vertreter der Koumllner Buumlrgerschaft Mit der Durchsetzung der Zunftherrschaft zu Ende des 14 Jahrhunderts war es nur noch fuumlr die Rechtsprechung vorgesehen Im 15 Jahrhundert bildete sich dann eine pragmatische Zusammenarbeit zwischen Rat und Hochgericht heraus

In einem umfangreichen Kapitel thematisiert Arlinghaus den organisatorischen Rah-men und nimmt bdquoGerichtsorte und Personalldquo in den Blick (S 75ndash176) Das Hochgericht tagte unter freiem Himmel auf dem Domhof bekam im Laufe des Spaumltmittelalters ein eigenes Gebaumlude blieb aber auf dem Domhof lokalisiert Es war durch die raumlumliche Unausgegrenztheit weiterhin integraler Teil sowohl des Stadtraumes wie des Personen-verbandes

Die Einrichtung von Ratsgerichten sowie die Integration bereits bestehender Gerichte zeigt den Anspruch des Rates als dominierender Instanz innerhalb der Stadtgemeinschaft auf Diese Gerichte lassen sich meist in unmittelbarer raumlumlicher Naumlhe zum Rathaus lokalisieren Bei der Uumlbernahme behielt man allerdings den alten Gerichtsort bei Zudem

783Allgemeine Stadtgeschichte

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Die Sektion 3 fuumlhrt unter der Thematik bdquoRegionale Buumlndnisstrukturen im Vergleichldquo (S 187ndash310) insgesamt fuumlnf Beitraumlge zusammen Unter der Praumlmisse bdquoZwischen Staumldtebund und Landfriedenldquo stellt uns Katharina HUSS den bdquoZuumlricher Bund von 1351ldquo vor (S 189ndash212) Der Bund diente dem Ziel der Friedenswahrung aber auch der Herr-schaftssicherung und -ausdehnung Stefanie RUumlTHER zeigt uns unter der Uumlberschrift bdquoDer Buumlndnisfallldquo die bdquoOrdnung und Organisation der Kriegsfuumlhrung des schwaumlbischen Staumldtebundes (1376ndash1390)ldquo (S 213ndash232) Zwischen 1376 und 1390 kaumlmpften die Mit-glieder des Bundes in unterschiedlichen Konstellationen gegen die Adligen der Region Der Beitrag untersucht die Koordinierung und Organisation des Krieges seitens der Staumldte So mussten die Buumlrger beispielsweise den Umgang mit Waffen lernen und uumlben um die angeworbenen Soumlldner zu unterstuumltzen Adlige Aus- und Pfahlbuumlrger vervollstaumln-digten das kommunale Kontingent Bei einem bdquoSpruchldquo genannten Gremium liefen alle Anfragen und Mahnungen zusammen In Briefen informierten sich die Staumldte uumlber den Verlauf militaumlrischer Aktionen und uumlber den Aufenthalt sowie die Staumlrke des Gegners Militaumlrische und politische Entscheidungsfindung waren personell und raumlumlich getrennt bdquoNuumlrnberg und seine Beziehungen zu den fraumlnkischen Reichsstaumldten im spaumlten Mittel- alterldquo nimmt Reinhard SEYBOTT unter den Stichworten bdquoPolitik ndash Information ndash Kom-munikationldquo in den Blick (S 233ndash259) Die fuumlnf fraumlnkischen Reichsstaumldte Nuumlrnberg Rothenburg ob der Tauber Windsheim Weiszligenburg am Nordgau und Schweinfurt schlos-sen sich trotz intensiven Beziehungen nie zu einem festen laumlnger andauernden Bund zusammen Die Rangunterschiede und die differenzierende Wirtschaftskraft der einzelnen Staumldte bedingte eine klare Rangabstufung und Hierarchie wobei Nuumlrnberg als eine der groumlszligten und einflussreichsten deutschen Staumldte unangefochten an der Spitze rangierte Trotzdem fand ein reger Austausch zwischen diesen Staumldten statt Man holte beispiels-weise in Nuumlrnberg Entscheidungshilfen in verschiedensten Angelegenheiten ein ebenso pflegte man verwandtschaftliche Beziehungen Bei Abkommen behielt Nuumlrnberg die eindeutige Fuumlhrungsposition inne wobei Nuumlrnberg in Fragen der Politik Diplomatie des Rechtswesens und bei innerstaumldtischen Konflikten beriet manchmal auch durch finanzielles Engagement unter die Arme griff Mit Philipp HOumlHNS Beitrag bdquoPluralismus und Homogenitaumlt ndash Hanse Konfliktraumlume und Rechtspluralismus im vormodernen Nord-europa (1400ndash1600)ldquo (S 261ndash290) wird der Blick nochmals in den Norden Deutschlands gerichtet Die Hanse war keine zentralisierte Organisation sondern eine flexible sich immer wieder von neuem findende Gruppe von Kaufleuten Sie war somit eine Schnitt-stelle im vormodernen Europa Aus der Perspektive der Konfliktregulierung erscheint die Hanse als ein dynamisches in Interaktionen immer wieder neu modelliertes System rechtlicher sozialer und politischer Beziehungen Abschlieszligend stellt uns HOumlHN den Prozess des Danziger Kaufmanns Eckart Westranse vor der sich uumlber mehr als 50 Jahre hinzog wobei er gegen die Hansestaumldte Luumlbeck Wismar und spaumlter auch Rostock klagte Jelle HAEMERS (im Inhaltsverzeichnis lesen wir bdquoHamersldquo) nimmt mit dem Aufsatz bdquoLugravenion fait la force ndash Ideology and the social history of urban leagues in Brabant (13th ndash 14th centuriesldquo) (S 291ndash310) eine wirtschaftlich und kulturell dominierende Region in Nordwesteuropa in den Blick Buumlndnispolitik staumldtischer Eliten konnte sich hier auch gegen die nach Emanzipation strebenden Handwerker richten

Die detaillierte Auflistung der Autorinnen und Autoren mit deren Kommunikations-daten ein eigenes Orts- sowie Personenregister runden die fundierte Publikation ab die sich in die von Erich Maschke und Juumlrgen Sydow begruumlndete Reihe mit dem anfaumlnglichen Fokus auf der mittelalterlichen Stadtgeschichte einreihen laumlsst Juumlrgen Treffeisen

778 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Gabriel ZEILINGER Verhandelte Stadt Herrschaft und Gemeinde in der fruumlhen Urbani-sierung des Oberelsass vom 12 bis 14 Jahrhundert (Mittelalter-Forschung Bd 60) Ostfildern Thorbecke 2018 272 S 1 Kt geb EUR 40ndash ISBN 978-3-7995-4380-4

Die vorliegende Arbeit von Gabriel Zeilinger wurde 2013 an der Philosophischen Fakultaumlt der Christian-Albrechts-Universitaumlt zu Kiel als Habilitationsschrift vorgelegt Sie versteht Urbanisierung als Veraumlnderung ganzer Raumlume durch Staumldte sowie als Ver-breitung urbaner Lebensformen in weiteren Lebensbereichen und bezeichnet so die Ent-stehung und Entwicklung von Staumldten und deren Durchdringung und Praumlgung der sie umgebenden Raumlume Zeilinger nimmt das Oberelsass des 12 bis beginnenden 14 Jahr-hunderts in den Blick vor allem die verschriftlicht fassbare Interaktion zwischen Herr-schaft und Gemeinde zur Frage der Funktion und Qualitaumlt eines Ortes

In einem umfassenden einleitenden Kapitel bdquoStaumldte in der Landschaft ndash Die mittel- alterliche Urbanisierung im Elsass im Spiegel von Uumlberlieferung und Forschungldquo (S 19ndash54) stellt Zeilinger bdquoThemen und Thesen der Forschungldquo (S 23ndash49) eine Forschungs- geschichte zur Urbanisierung Zentraleuropas und besonders des Elsass vor bdquoMethodische Uumlberlegungen und Fragestellungldquo (S 49ndash54) schlieszligen den (uumlber)langen einleitenden Teil ab Mit dem Kapitel bdquoFruumlhe Staumldte ndash viele Herren Schlettstadt Colmar Muumlhlhausen und Kaysersbergldquo (S 55ndash128) beginnen die eigenen Auswertungen des Autors Ein erster kurzer Blick gilt dem auszligerhalb des Untersuchungsraumes liegenden Hagenau (S 56ndash60) wo eine genossenschaftliche Formierung sowie die Ausbildung einer Fuumlh-rungsgruppe mit der Ausgestaltung der staumldtischen Institutionen erst fuumlr das 13 Jahrhun-dert nachzuweisen ist

In Schlettstadt (S 60ndash72) bestand 1241 ein Akteursdreieck aus den Vertretern des Koumlnigs dem Probst des Priorats St Fides und der sich allmaumlhlich zu einer Gemeinde formierenden Bewohnerschaft In die folgenden Jahre zwischen 1250 und 1280 ist der Beginn der Kommunalisierung zu datieren in der die Verfasstheit der Stadt ausgehandelt worden war Fuumlr Colmar (S 72ndash100) konstatiert Zeilinger ab der Mitte des 13 Jahrhun-derts in Folge der Konflikte im Reich und der Landschaft eine Spaltung innerhalb der kommunalen Elite Diese wurden zu interessengeleiteten sozialen und politischen Ak-teuren Der Buumlrgermeister wurde ab den 1330er Jahren seitens des koumlniglichen Stadtherrn anerkannt Mit diesen sozialen Verwerfungen ging ein wirtschaftlicher Aufschwung ein-her Colmar entwickelte sich zum wirtschaftlichen Zentrum des Oberelsass mit spaumlter drei Jahrmaumlrkten Weinhandel kommerzielle Gartenwirtschaft sowie Textilgewerbe bil-deten die Basis der kommunalen Wirtschaft Zu Ende des 13 Jahrhunderts standen hier circa 1000 Haumluser mit insgesamt ungefaumlhr 5000 Einwohnern Muumlhlhausen (S 101ndash118) heute die groumlszligte Stadt im Oberelsass wurde von einer Elite ministerialer und adliger Herkunft gefuumlhrt Das koumlnigliche Stadtrecht von 1293 bildete den Schlusspunkt der fruumlhen kommunalen Entwicklung wobei sich das staumldtische Leben in den folgenden Jahrhunderten weiter ausdifferenzierte Mit Kaysersberg (S 119ndash128) nimmt Zeilinger eine Siedlung in den Blick die allein in der Verfuumlgungskompetenz der Staufer stand und auch als deren bewusste Gruumlndung anzusehen ist Kaysersberg kann ndash neben Hagenau ndash als zweites allerdings deutlich kleineres staufisches Herrschaftszentrum nun im Ober- elsass angesehen werden 1299 bestand der Kaysersberger Rat aus fuumlnf Rittern und sieben Buumlrgern die unter dem Vorsitz des Landvogts gewaumlhlt wurden Zusammenfassend betrachtet sieht Zeilinger die Staufer als die ersten umfassenderen Staumldtefoumlrderer in der untersuchten Region

779Allgemeine Stadtgeschichte

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mende Missionen selbst aus und legten sie kommunalen Gremien zur finalen Entschei- dung vor

Gesandte Stadtschreiber und Boten erhielten unterschiedliche Bezuumlge in Form von Lohn Tagegeld Tuch fuumlr Kleidung und zusaumltzliche Absicherung Regelmaumlszligigen Lohn erhielten lediglich die von der Stadt fest angestellten Boten und Stadtschreiber Staumldtische Gesandte agierten hingegen ohne Bezahlung Nur ein Tagsatz zur Deckung der Unkosten wurde gewaumlhrt Einer der Gesandten war fuumlr die Verwaltung des Geldes zustaumlndig Es wurde auch festgelegt was die Gesandten auf ihren Reisen mitfuumlhren durften Reisemittel und Bereitstellung von Pferden oder Schiffen waren zwischen der Stadt und den Gesand-ten zum Teil detailliert abzusprechen Damit die Gesandten fuumlr die Nachrichtenuumlbermitt-lung schneller ausfindig gemacht werden konnten wurde vielfach an der Auszligenseite der Unterkunft das Stadtwappen angebracht

Eine Gruppe von wenigen Gesandten war haumlufiger fuumlr die Stadt unterwegs so dass eine personelle Kontinuitaumlt im Gesandtschaftswesen zu Beginn des 15 Jahrhunderts in Straszligburg bestand

Straszligburger Gesandte und Gesandtschaften agierten als Vertreter im auszligerstaumldtischen Bereich waren Teil politischer Handlungen und somit auch potenzielle Rezipienten Teil-nehmer und Initiatoren symbolischer Kommunikation In Zusammenhang mit Eid und Huldigung konnten Gesandte als Schwoumlrende in verschiedenen Situationen auftreten Zudem verhandelten Gesandte im Vorfeld von Huldigungen und Eidesleistungen uumlber deren Bedingungen und Ablaumlufe

Der Austausch von Geschenken spielte im diplomatischen Dienst eine wichtige Rolle Straszligburger Gesandte registrierten Geschenkvergaben politischer Akteure genau und meldeten dies der Stadt Vielfach waren dadurch Ruumlckschluumlsse auf politische Konstella-tionen moumlglich Da ein gemeinsames Mahl auch ein symbolischer Akt war berichteten die Straszligburger Gesandten daruumlber entweder aus beobachtender oder teilnehmender Perspektive

In Zusammenhang mit dem Thronwechsel 1400 wird deutlich dass sich Gesandte auch mit symbolischen Handlungen auskennen mussten um diese zum richtigen Zeitpunkt und Kontext anwenden zu koumlnnen Dabei waren auch Dokumentation Planung und recht-liche Absicherung wichtig Staumldtische Gesandte verbuumlndeter Staumldte berieten relevante Fragen gemeinsam holten sich rechtlichen Beistand informierten sich gegenseitig genau uumlber den jeweiligen Stand und richteten ihre diplomatische Taumltigkeit danach aus

Gesandtenberichte lassen auch Ruumlckschluumlsse auf die generelle Verfasstheit einer Stadt zu die sich mit anderen Quellen nur schwer erreichen lassen Da vor allem Gesandten-berichte und Protokolle innerstaumldtischer Gremien zu auszligenpolitischen Angelegenheiten Einblicke in die tatsaumlchlichen politischen Aktivitaumlten einer Stadt ermoumlglichen koumlnnen Aussagen zur politischen Praxis getroffen werden was etwa anhand kommunaler Ver-ordnungen nur bedingt moumlglich ist Gesandte waren vielseitig und anpassungsfaumlhig sie fuumlhrten ihre Taumltigkeiten sehr bewusst und planvoll durch Einzelne Handlungsschritte wurden vielfach durch Informationsbeschaffung und zwischenstaumldtischen Absprachen sowie die Hinzuziehung juristischer Experten vorbereitet und akribisch umgesetzt So war das Nachrichtenwesen Straszligburgs zu Beginn des 15 Jahrhunderts sehr gut organi-siert

Das uumlbliche Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister schlieszligen diese beeindruckende Arbeit ab Es sind genau diese die archivischen Quellen systematisch und intensiv auswertenden Arbeiten die wichtige geradezu unersetzliche

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Unter der Uumlberschrift bdquoKommunen unterm Krummstab Die Bischoumlfe von Straszligburg und die Staumldte in der Obermundatldquo (S 128ndash148) werden geistliche Staumldtefoumlrderer in den Blick genommen Die fuumlr 1106 vermutete Notgemeinschaft der verschiedenen Herrschaf-ten zuzuordnenden Bewohner Rufachs (S 130ndash142) deutet auf eine zumindest temporaumlr vorhandene herrschaftsuumlbergreifende Bewohnergemeinde hin sowie eine gewisse zen-traloumlrtliche Funktion Weitere evolutionaumlre Schritte zur Stadt sind fuumlr das 13 Jahrhundert zu konstatieren Allerdings zeigen stadtrechtliche Bestimmungen aus den 1420er Jahren trotz der Nennung von Zuumlnften und Rat keine wirklich autonome Gemeinde Obwohl fuumlr Egisheim (S 142ndash146) zur Mitte des 12 Jahrhunderts Ansaumltze fuumlr eine Gemeinde-bildung vorliegen ist fuumlr das 14 Jahrhundert nur ein uumlberschaubares urbanes Gepraumlge festzustellen Der Ort stand weiterhin unter der Kontrolle bischoumlflicher Amtstraumlger Sulz (S 146ndash148) zeigt gleichfalls im 13 Jahrhundert eine beginnende urbane Verdichtung und gewisse zentraloumlrtliche Funktionen

Die Staumldte der bdquoHabsburger und Bergheimerldquo (S 149ndash168) analysiert das folgende Kapitel Ensisheim verzeichnete parallel zum Koumlnigtum Rudolfs von Habsburg in den 1270er Jahren eine Intensivierung der herrschaftlichen Maszlignahmen Trotz einer damals gleichfalls zu beobachtenden Foumlrderung der Bewohnerschaft ist Ensisheim als klassisches Beispiel einer Landstadt mit fester Einbindung in den herrschaftlichen Rahmen und mit eher bescheidener kommunaler Rechtsausstattung zu sehen Die Herren von Rappoltstein werden im folgenden Kapitel bdquoFuumlnf Burgen anderthalb Staumldte Rappoltsweiler Gemar und die Herren von Rappoltsteinldquo (S 169ndash180) praumlsentiert Fuumlr Rappoltsweiler ist eine sich ausdifferenzierende Wirtschaft festzustellen auch wenn die um den Wein sich grup-pierenden Gewerbe dominierten Ein Stadtrecht ist hingegen nicht uumlberliefert wohl nicht einmal eine statutorische Befreiung der Einwohner Gemar blieb im Wesentlichen ein von Bauern und Fischern bewohnter Ort mit gering ausgebildeter vor allem fast aus-schlieszliglich herrschaftlich- administrativen Zentralfunktionen Fuumlr derartige Kleinststaumldte konstatiert Zeilinger zutreffend bdquoDie fortschreitende Urbanisierung einer Region mani-festiert sich eben auch darin dass selbst kleinere bis kleinste (noch) stark herrschaftlich gepraumlgte Orte sukzessive aber nicht unbeschraumlnkte staumldtische Praktiken des oumlffentlichen und privaten Lebens uumlbernahmenldquo (S 179) Als letztes Beispiel nimmt Zeilinger Tuumlrk-heim ins Visier (bdquoStadt durch Verhandlung Tuumlrkheim zwischen Kloster Koumlnig und Gemeinde 1308ndash1315ldquo S 181ndash186) Um die Wende zum 14 Jahrhundert emanzipierte sich die Gemeinde in Abgrenzung zu den Rechten des Klosters St Gregor zu Muumlnster im Muumlnstertal und dessen Dinghof

Im bdquoSchlussldquo-Kapitel (S 198ndash202) fasst der Autor seine Forschungsergebnisse zusammen Die Staumldte des Oberelsass sind der zweiten und dritten Phase der mittelalter-lichen Urbanisierungswelle in Europa zuzuordnen Auffallend ist dass bei vielen Staumldten in der vorurbanen Zeit mehrere Herren mit machtvollen Herrschaftsrechten und Vertre-tungen vor Ort praumlsent waren Dies bedeutete oftmals mehr Freiheiten fuumlr die jeweiligen Gemeinden und deren Fuumlhrungspersonen Eine wichtige Rolle bei der Kommunalisierung kam den Voumlgten Schultheiszligen Schaffnern und Ratsleuten zu Die Verfuumlgungskompetenz uumlber die lokale Kirche sowie die Allmend lieszligen sich als Ausgangspunkte fuumlr die Ver- gemeinschaftung verifizieren Die Kleinstaumldte um 1300 definierten ihren Staumldtestatus oft durch den Mauerbau Fuumlr alle Staumldte ist eine deutlich ausgebildetere Schriftlichkeit gegenuumlber den Landgemeinden zu konstatieren

Ein umfangreiches Verzeichnis der ungedruckten und gedruckten Quellen sowie der Literatur (S 204ndash262) beschlieszligt die Monographie die durch ein Orts- und Personen-

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register (S 263ndash270) abgerundet wird Eine Karte zu den Zentren im Oberrhein um 1350 schlieszligt den Band ab

Vielfach bleiben die lateinischen und mittelalterlich-deutschen Urkundenzitate unuumlbersetzt und werden nicht eindeutig interpretiert Dies macht zum einen die Abhand-lung nur fuumlr einen kleinen inneren Zirkel von Mediaumlvisten verstaumlndlich zum anderen umgeht der Verfasser damit aber auch ndash und dies gilt es hier zu bemaumlngeln ndash eine ein- gehende verantwortliche Interpretation der einzelnen Zitate Der Leser darf so jeder fuumlr sich die einzelnen Originalzitate selbst interpretieren Zeilinger legte ansonsten eine aus-fuumlhrliche Zusammenfassung der vorhandenen Orts- und regionalgeschichtlichen Literatur zum Elsass und deren Staumldte vor Die bekannte Forschung wird zum Teil neu bewertet aus einem weiteren Blickwinkel betrachtet und in die allgemeine Stadtgeschichtsfor-schung eingeordnet

Juumlrgen Treffeisen

Simon LIENING Das Gesandtschaftswesen der Stadt Straszligburg zu Beginn des 15 Jahr-hunderts (Mittelalter-Forschungen Bd 63) Ostfildern Thorbecke 2019 248 S geb EUR 34ndash ISBN 978-3-7995-4384-2

Die im Sommersemester 2017 als Dissertation eingereichte Arbeit die somit schon zwei Jahre spaumlter in gedruckter Fassung vorliegt beginnt mit einer Begriffsbestimmung Simon Liening hebt die Unterscheidung zwischen Boten und Gesandten hervor Die staumld-tischen Gesandten rekrutieren sich aus der Reihe der Stadtbuumlrger hatten in der Regel einen Sitz im Rat und uumlbten zum Teil hohe kommunale Aumlmter aus Sie waren oumlkonomisch unabhaumlngig und abkoumlmmlich Der Untersuchungszeitraum umfasst die ersten beiden Jahr-zehnte des 15 Jahrhunderts Ausgehend von den drei Ereignissen ndash Thronwechsel im deutschen Reich (1400) Marbacher Bund (1405ndash1410) Konstanzer Konzil (1414ndash1418) ndash untersucht die vorliegende Studie die innerstaumldtischen Voraussetzungen Organisa- tionsformen und Rahmenbedingungen staumldtischer Auszligenpolitik sowie die Perspektive der Gesandtschaften ihre Akteure und Taumltigkeiten Als erstes praumlsentiert der Autor den Forschungsstand dieses relativ jungen Untersuchungsgebietes Dabei gelingt ihm der zu erwartende umfassende Uumlberblick Auch die bislang entstandenen Untersuchungen zur Straszligburger Auszligenpolitik und Gesandtschaften werden vorgestellt

Gesandte versuchten Informationen zu steuern gegebenenfalls Nachrichten geheim zu halten oder nur einem ausgesuchten Personenkreis zur Kenntnis zu bringen Daruumlber hinaus ist immer wieder der Versuch zu sehen den Kreis der Mitwissenden klein zu halten In der Regel berichteten die Gesandten dem Rat der Stadt als auch gesondert dem Ammeister der als wichtigster Amtstraumlger im Grunde immer informiert sein musste Berichte der Gesandten verschickte man beispielsweise wenn eine Kurskorrektur der bisherigen Zielvorgabe notwendig wurde zusaumltzliche Informationen Beschluumlsse oder Instruktionen uumlbermittelt werden mussten oder die Akteure selbst Neuigkeiten von den Gesandten einforderten Der Informationsfluss verlief natuumlrlich auch in umgekehrter Richtung Gesandte bekamen Informationen Beschluumlsse und Instruktionen uumlbermittelt wobei dieser Quellentypus deutlich geringer uumlberliefert ist Inhaltlich findet man die Auf-forderung an einen bestimmten Ort zu reisen die Ruumlckreise anzutreten die Bitte nach weiteren Informationen bis hin zu Absprachen und Kurskorrekturen bezuumlglich der lau-fenden Verhandlungen

Die Gesandten selbst waren vielfach in die innerstaumldtischen Beratungen und Entschei-dungsfindungsprozesse aktiv eingebunden Sie arbeiteten auch Instruktionen fuumlr kom-

781Allgemeine Stadtgeschichte

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 781

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register (S 263ndash270) abgerundet wird Eine Karte zu den Zentren im Oberrhein um 1350 schlieszligt den Band ab

Vielfach bleiben die lateinischen und mittelalterlich-deutschen Urkundenzitate unuumlbersetzt und werden nicht eindeutig interpretiert Dies macht zum einen die Abhand-lung nur fuumlr einen kleinen inneren Zirkel von Mediaumlvisten verstaumlndlich zum anderen umgeht der Verfasser damit aber auch ndash und dies gilt es hier zu bemaumlngeln ndash eine ein- gehende verantwortliche Interpretation der einzelnen Zitate Der Leser darf so jeder fuumlr sich die einzelnen Originalzitate selbst interpretieren Zeilinger legte ansonsten eine aus-fuumlhrliche Zusammenfassung der vorhandenen Orts- und regionalgeschichtlichen Literatur zum Elsass und deren Staumldte vor Die bekannte Forschung wird zum Teil neu bewertet aus einem weiteren Blickwinkel betrachtet und in die allgemeine Stadtgeschichtsfor-schung eingeordnet

Juumlrgen Treffeisen

Simon LIENING Das Gesandtschaftswesen der Stadt Straszligburg zu Beginn des 15 Jahr-hunderts (Mittelalter-Forschungen Bd 63) Ostfildern Thorbecke 2019 248 S geb EUR 34ndash ISBN 978-3-7995-4384-2

Die im Sommersemester 2017 als Dissertation eingereichte Arbeit die somit schon zwei Jahre spaumlter in gedruckter Fassung vorliegt beginnt mit einer Begriffsbestimmung Simon Liening hebt die Unterscheidung zwischen Boten und Gesandten hervor Die staumld-tischen Gesandten rekrutieren sich aus der Reihe der Stadtbuumlrger hatten in der Regel einen Sitz im Rat und uumlbten zum Teil hohe kommunale Aumlmter aus Sie waren oumlkonomisch unabhaumlngig und abkoumlmmlich Der Untersuchungszeitraum umfasst die ersten beiden Jahr-zehnte des 15 Jahrhunderts Ausgehend von den drei Ereignissen ndash Thronwechsel im deutschen Reich (1400) Marbacher Bund (1405ndash1410) Konstanzer Konzil (1414ndash1418) ndash untersucht die vorliegende Studie die innerstaumldtischen Voraussetzungen Organisa- tionsformen und Rahmenbedingungen staumldtischer Auszligenpolitik sowie die Perspektive der Gesandtschaften ihre Akteure und Taumltigkeiten Als erstes praumlsentiert der Autor den Forschungsstand dieses relativ jungen Untersuchungsgebietes Dabei gelingt ihm der zu erwartende umfassende Uumlberblick Auch die bislang entstandenen Untersuchungen zur Straszligburger Auszligenpolitik und Gesandtschaften werden vorgestellt

Gesandte versuchten Informationen zu steuern gegebenenfalls Nachrichten geheim zu halten oder nur einem ausgesuchten Personenkreis zur Kenntnis zu bringen Daruumlber hinaus ist immer wieder der Versuch zu sehen den Kreis der Mitwissenden klein zu halten In der Regel berichteten die Gesandten dem Rat der Stadt als auch gesondert dem Ammeister der als wichtigster Amtstraumlger im Grunde immer informiert sein musste Berichte der Gesandten verschickte man beispielsweise wenn eine Kurskorrektur der bisherigen Zielvorgabe notwendig wurde zusaumltzliche Informationen Beschluumlsse oder Instruktionen uumlbermittelt werden mussten oder die Akteure selbst Neuigkeiten von den Gesandten einforderten Der Informationsfluss verlief natuumlrlich auch in umgekehrter Richtung Gesandte bekamen Informationen Beschluumlsse und Instruktionen uumlbermittelt wobei dieser Quellentypus deutlich geringer uumlberliefert ist Inhaltlich findet man die Auf-forderung an einen bestimmten Ort zu reisen die Ruumlckreise anzutreten die Bitte nach weiteren Informationen bis hin zu Absprachen und Kurskorrekturen bezuumlglich der lau-fenden Verhandlungen

Die Gesandten selbst waren vielfach in die innerstaumldtischen Beratungen und Entschei-dungsfindungsprozesse aktiv eingebunden Sie arbeiteten auch Instruktionen fuumlr kom-

781Allgemeine Stadtgeschichte

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mende Missionen selbst aus und legten sie kommunalen Gremien zur finalen Entschei- dung vor

Gesandte Stadtschreiber und Boten erhielten unterschiedliche Bezuumlge in Form von Lohn Tagegeld Tuch fuumlr Kleidung und zusaumltzliche Absicherung Regelmaumlszligigen Lohn erhielten lediglich die von der Stadt fest angestellten Boten und Stadtschreiber Staumldtische Gesandte agierten hingegen ohne Bezahlung Nur ein Tagsatz zur Deckung der Unkosten wurde gewaumlhrt Einer der Gesandten war fuumlr die Verwaltung des Geldes zustaumlndig Es wurde auch festgelegt was die Gesandten auf ihren Reisen mitfuumlhren durften Reisemittel und Bereitstellung von Pferden oder Schiffen waren zwischen der Stadt und den Gesand-ten zum Teil detailliert abzusprechen Damit die Gesandten fuumlr die Nachrichtenuumlbermitt-lung schneller ausfindig gemacht werden konnten wurde vielfach an der Auszligenseite der Unterkunft das Stadtwappen angebracht

Eine Gruppe von wenigen Gesandten war haumlufiger fuumlr die Stadt unterwegs so dass eine personelle Kontinuitaumlt im Gesandtschaftswesen zu Beginn des 15 Jahrhunderts in Straszligburg bestand

Straszligburger Gesandte und Gesandtschaften agierten als Vertreter im auszligerstaumldtischen Bereich waren Teil politischer Handlungen und somit auch potenzielle Rezipienten Teil-nehmer und Initiatoren symbolischer Kommunikation In Zusammenhang mit Eid und Huldigung konnten Gesandte als Schwoumlrende in verschiedenen Situationen auftreten Zudem verhandelten Gesandte im Vorfeld von Huldigungen und Eidesleistungen uumlber deren Bedingungen und Ablaumlufe

Der Austausch von Geschenken spielte im diplomatischen Dienst eine wichtige Rolle Straszligburger Gesandte registrierten Geschenkvergaben politischer Akteure genau und meldeten dies der Stadt Vielfach waren dadurch Ruumlckschluumlsse auf politische Konstella-tionen moumlglich Da ein gemeinsames Mahl auch ein symbolischer Akt war berichteten die Straszligburger Gesandten daruumlber entweder aus beobachtender oder teilnehmender Perspektive

In Zusammenhang mit dem Thronwechsel 1400 wird deutlich dass sich Gesandte auch mit symbolischen Handlungen auskennen mussten um diese zum richtigen Zeitpunkt und Kontext anwenden zu koumlnnen Dabei waren auch Dokumentation Planung und recht-liche Absicherung wichtig Staumldtische Gesandte verbuumlndeter Staumldte berieten relevante Fragen gemeinsam holten sich rechtlichen Beistand informierten sich gegenseitig genau uumlber den jeweiligen Stand und richteten ihre diplomatische Taumltigkeit danach aus

Gesandtenberichte lassen auch Ruumlckschluumlsse auf die generelle Verfasstheit einer Stadt zu die sich mit anderen Quellen nur schwer erreichen lassen Da vor allem Gesandten-berichte und Protokolle innerstaumldtischer Gremien zu auszligenpolitischen Angelegenheiten Einblicke in die tatsaumlchlichen politischen Aktivitaumlten einer Stadt ermoumlglichen koumlnnen Aussagen zur politischen Praxis getroffen werden was etwa anhand kommunaler Ver-ordnungen nur bedingt moumlglich ist Gesandte waren vielseitig und anpassungsfaumlhig sie fuumlhrten ihre Taumltigkeiten sehr bewusst und planvoll durch Einzelne Handlungsschritte wurden vielfach durch Informationsbeschaffung und zwischenstaumldtischen Absprachen sowie die Hinzuziehung juristischer Experten vorbereitet und akribisch umgesetzt So war das Nachrichtenwesen Straszligburgs zu Beginn des 15 Jahrhunderts sehr gut organi-siert

Das uumlbliche Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister schlieszligen diese beeindruckende Arbeit ab Es sind genau diese die archivischen Quellen systematisch und intensiv auswertenden Arbeiten die wichtige geradezu unersetzliche

782 Buchbesprechungen

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Bausteine der suumldwestdeutschen mediaumlvistischen Landesgeschichte bilden Sie kann uneingeschraumlnkt als Vorbild fuumlr weitere derartige Dissertationsvorhaben gelten In den groszligen weitestgehend unzerstoumlrten Archiven der Staumldte Freiburg Basel und eben Straszlig-burg sowie weiteren vor allem elsaumlssischen Archiven lagern noch unzaumlhlige Archivalien die der wissenschaftlichen Auswertung harren

Juumlrgen Treffeisen

Franz-Joseph ARLINGHAUS InklusionndashExklusion Funktion und Formen des Rechts in der spaumltmittelalterlichen Stadt Das Beispiel Koumlln (Norm und Struktur Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Fruumlher Neuzeit Bd 48) Koumlln Boumlhlau 2018 439 S Abb geb EUR 70ndash ISBN 978-3-412-51165-4 kostenlose Online- Ressource httpswwwvr-elibrarydedoibook1077889783412504397 ISBN 978-3-412-50439-7

Die vorliegende Arbeit wurde 2006 als Habilitationsschrift an der Universitaumlt Kassel eingereicht Sie untersucht die Beziehung des Einzelnen zum genossenschaftlichen Verband In der mittelalterlichen Stadt war ein Konflikt immer auch eine Frage nach der Zugehoumlrigkeit so dass dem Verhaumlltnis der Streitenden zu einem Verband eine entschei-dende Bedeutung zukam Unter diesem Blickwinkel sind die Gerichte nicht als eigen-staumlndige Rechtsinstitutionen zu sehen sondern vor allem als Teil des genossenschaft- lichen Verbandes

Zunaumlchst erlaumlutert Arlinghaus ausfuumlhrlich seinen theoretischen Ansatz (S 17ndash50) Es geht um den einzelnen Menschen der Teil des Personenverbandes der kommunalen Gemeinschaft war Die an den Einzelnen gerichteten Erwartungshaltungen sowie die Kommunikation insgesamt orientierten sich an der Position die der Einzelne in der Gesellschaft insgesamt einnahm Daher wurde das Individuum ndash anders als in der Mo-derne ndash erst uumlber die Zugehoumlrigkeit (Inklusion) zu einem Verband definiert Im Umkehr-schluss war der Ausschluss (Exklusion) aus einer Gemeinschaft ein die Existenz bedrohender Akt

Arlinghaus beginnt die Untersuchung mit einem detaillierten und fundierten bdquoUumlber-blick uumlber die Gerichte in Koumllnldquo (S 60ndash74) Das erzbischoumlfliche Hochgericht reicht in seinem Ursprung bis ins 11 Jahrhundert zuruumlck und umfasste in der Regel 25 Schoumlffen Neben der Blutgerichtsbarkeit war es zunaumlchst auch fuumlr Zivilgerichtsbarkeit und die frei-willige Gerichtsbarkeit der Koumllner Altstadt zustaumlndig So verstanden sich die hier seitens des Erzbischofs installierten Schoumlffen auch als Vertreter der Koumllner Buumlrgerschaft Mit der Durchsetzung der Zunftherrschaft zu Ende des 14 Jahrhunderts war es nur noch fuumlr die Rechtsprechung vorgesehen Im 15 Jahrhundert bildete sich dann eine pragmatische Zusammenarbeit zwischen Rat und Hochgericht heraus

In einem umfangreichen Kapitel thematisiert Arlinghaus den organisatorischen Rah-men und nimmt bdquoGerichtsorte und Personalldquo in den Blick (S 75ndash176) Das Hochgericht tagte unter freiem Himmel auf dem Domhof bekam im Laufe des Spaumltmittelalters ein eigenes Gebaumlude blieb aber auf dem Domhof lokalisiert Es war durch die raumlumliche Unausgegrenztheit weiterhin integraler Teil sowohl des Stadtraumes wie des Personen-verbandes

Die Einrichtung von Ratsgerichten sowie die Integration bereits bestehender Gerichte zeigt den Anspruch des Rates als dominierender Instanz innerhalb der Stadtgemeinschaft auf Diese Gerichte lassen sich meist in unmittelbarer raumlumlicher Naumlhe zum Rathaus lokalisieren Bei der Uumlbernahme behielt man allerdings den alten Gerichtsort bei Zudem

783Allgemeine Stadtgeschichte

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waren die einzelnen Gerichtsraumlume innerhalb des Gebaumludes in groumlszligere auch anderweitig genutzte Raumlume integriert Durch Offenheit und Verzicht auf raumlumliche Ausgrenzung vermied man eine Separierung des Diskurses uumlber das Recht Rechtsprechung war somit kommunikatives Geschehen das zwar einen eigenen durchaus festen Ort beanspruchte aber auch durch seine Offenheit in das kommunale Umfeld eingeschlossen blieb Die juristische Amtshandlung wurde so als Teil des genossenschaftlichen Aktionsfeldes betrachtet

Auch das Personal der Koumllner Gerichte nimmt Arlinghaus in den Blick Dabei sieht er die Hochgerichtsschoumlffen zwischen Patriziat und Professionalisierung (S 118ndash137) Zunaumlchst rekrutierten sich die Urteiler aus dem Kreis der Koumllner Buumlrger so dass auch das Hochgericht trotz aller Kontroversen mit dem Rat eng verknuumlpft war Die Schoumlffen kooptierten sich bis in das spaumlte Mittelalter aus dem Meliorat Bis ins 16 Jahrhundert hinein war fachwissenschaftliches Studium nicht notwendig allerdings stellte seit der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts der Besuch der Artistenfakultaumlt fuumlr einen Schoumlffen keine Besonderheit mehr dar Rechtsexperten konnten als Gutachter hinzugezogen werden

Das Kapitel bdquoRichter als Deputierte des Rates Urteiler Laien und gelehrte Juristenldquo (S 137ndash176) zeigt in der zweiten Haumllfte des 16 Jahrhunderts Juristen als Richter bei den Ratsgerichten In anderen Bereichen ndash z B bei den Stadtschreibern ndash findet man schon fruumlher eine deutliche Hinwendung zu studierten Fachleuten Koumllner Juristen gaben fast ausschlieszliglich in den Faumlllen Rechtsauskunft in denen auswaumlrtige oder geistliche Gerichte oder Institutionen involviert waren Bei der Auswahl der Richter war im 17 Jahrhundert die Ratszugehoumlrigkeit beziehungsweise Deputation das wichtigste Kriterium

Breiten Raum nimmt das Kapitel bdquoKommunikationsformen Gesten Rituale Sprach-formen und Schriftldquo (S 177ndash305) ein Zunaumlchst stehen die Hochgerichtsverfahren und deren bdquoRituale Sprachformeln Eidhelfer und sbquoUmstandlsquoldquo (S 177ndash196) im Fokus Viel-faumlltige Rituale und ein stark formalisierter Verfahrensablauf praumlgten das vormoderne Pro-zessgeschehen denn jedes gesprochene Wort erzielte bereits eine unmittelbare Wirkung Daher war auch auf jedes Wort jede Geste zu achten

Erst im Verlauf des 13 Jahrhunderts gewannen die Schreinsbucheintragungen an rechtsichernder Bedeutung wobei allerdings erst fuumlr das 14 Jahrhundert eine vollguumlltige Beweiskraft zu konstatieren ist Zuvor kam diesen Dokumenten lediglich gedaumlchtnis- stuumltzende Funktion zu Ab der zweiten Haumllfte des 15 Jahrhunderts war dann der Eintrag im Schreinsbuch neben der Uumlbergabe- und Verzichtserklaumlrung ein zentraler Bestand der Liegenschaftsuumlbertragung Im 15 und 16 Jahrhundert laumlsst sich dann eine Zunahme der waumlhrend der Prozesse erzeugten und wieder in das Prozessgeschehen eingebrachten Schriftstuumlcke beobachten

Der Rechtsstreit vor den Ratsgerichten erfolgte hingegen als formloses Verfahren (bdquoDie Ratsgerichte Kommunikationsstrukturen im formlosen Verfahrenldquo S 219ndash305) Bei den vom Stadtrat initiierten Gerichten fehlten neben den Urteilern auch Vorsprecher und sonstige Prozessvertreter Diese Verfahren zielten eher auf Schlichtung ab weniger auf eine richterliche Entscheidung

Kommunikation uumlber Schickung war fuumlr den Rat eine Moumlglichkeit im staumldtischen Raum Praumlsenz zu zeigen und seinen Anordnungen entsprechendes Gewicht zu verleihen Um 1400 setzte eine breitere Schriftverwendung bei den einzelnen Gerichten ein Der Einbezug von Schriftstuumlcken veranschaulicht die Tendenz der Herausloumlsung der Streit-parteien aus ihrem sozialen Umfeld

784 Buchbesprechungen

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Die Schrift stand so zwischen einem eigenstaumlndigen Diskursraum und der Funktion als Element der Face-to-Face-Kommunikation Dies erlaumlutert Arlinghaus anhand des Stadtschreiberamtes des Archivs sowie der Kanzlei Trotz des Anwachsens des auf- zubewahrenden Schriftguts bevorzugte man bis zum beginnenden 15 Jahrhundert die Verwahrung der Unterlagen in Privathaumlusern Allerdings wurden diese Raumlumlichkeiten durch drei an verschiedene Personen ausgegebene Schluumlssel gesichert Die Stadtschrei-ber hatten seit dem 14 Jahrhundert haumlufig eine Universitaumlt besucht und nicht selten ein Rechtsstudium abgeschlossen manchmal mit Promotion Anders als beim Ratsherrn war das Verhaumlltnis des Schreibers zum Rat nicht das eines Mitglieds zum genossenschaft- lichen Verband sondern das eines Untergebenen zum Dienstherrn Wurden Schriftstuumlcke in Verfahren vor den Ratsgerichten oder dem Rat eingebracht wurden sie in der Regel vorgelesen und somit in die angestrebte Face-to-Face-Kommunikation eingebunden

Als bdquoFormen manifestierter Exklusionldquo (S 306ndash355) sieht Arlinghaus den Stadtver-weis und die Hinrichtung Strafe war bei Stadtverweisen nicht das klassische Motiv Die Abschiebung von Randgruppen insbesondere seit dem endenden 15 Jahrhundert sollte die Gefahr der Stoumlrung der inneren Ordnung minimieren Die Ausweisung einflussreicher materiell gesicherter Buumlrger konnte hingegen die Situation unter Umstaumlnden eher noch verschaumlrfen Mit der Verbannung ging der Stadt die Kontrolle uumlber den Delinquenten verloren Der Exilierte konnte falls er uumlber die noumltigen Ressourcen verfuumlgte auf den Rat von auszligen Druck ausuumlben Aus der Perspektive der Stadt kam der Stadtverweis einer Exkommunikation gleich Hinrichtungen die nicht vor sondern in der Stadt vollzogen wurden stehen meistens in Zusammenhang mit Revolten beziehungsweise sind primaumlr politisch einzustufen Wollte man den Hinzurichtenden aus der Gesellschaft ausschlieszligen reichte das einfache Toumlten nicht aus Erst uumlber die besondere Zurichtung des Koumlrpers und des Leichnams konnte eine vollstaumlndige Exklusion erreicht werden

Eine umfassende Zusammenfassung (S 356ndash374) sowie ein bdquoenglisch Summaryldquo (S 375ndash392) schlieszligen die aumluszligerst detailreiche und anschauliche Arbeit ab Das obliga-torische Abkuumlrzungsverzeichnis ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister beenden die weiterfuumlhrende die Mediaumlvistik anregende Abhand-lung

Juumlrgen Treffeisen

Dorothea WELTECKE (Hg) unter Mitarbeit von Mareike HARTMANN Zu Gast bei Juden Leben in der mittelalterlichen Stadt Begleitband zur Ausstellung Konstanz Stadler 2017 216 S Abb Brosch EUR 1980 ISBN 978-3-7977-0734-5

bdquoDie Ausstellung Zu Gast bei Juden leistet [hellip] etwas ungeheuer Wertvolles Sie wech-selt die Blickrichtung Sie eroumlffnet eine ganz neue Perspektive auf das juumldische Leben im Mittelalter [hellip] Die Ausstellung verdeutlicht Juden und Christen sind zwei Seiten derselben Kulturldquo Mit diesen Worten aus seinem Gruszligwort bringt der Schirmherr Josef SCHUSTER Praumlsident des Zentralrats der Juden in Deutschland die Intention der Ausstel-lung auf den Punkt Allein schon der Ausstellungstitel ist Programm und haumltte nicht besser gewaumlhlt werden koumlnnen Dorothea WELTECKE und Mareike HARTMANN wollen am Bei-spiel der juumldischen Gemeinden in der mittelalterlichen Bodenseeregion das bdquoradikale Umdenkenldquo veranschaulichen das dank der kunstgeschichtlichen Forschungen der letzten Jahre zu einer Neubewertung des Zusammenlebens von Juden und Christen gefuumlhrt haben soll und gleichzeitig falsche Vorstellungen sowie Scheintatsachen bzw Scheinfakten an der Uumlberlieferung uumlberpruumlfen (S 6 11)

785Allgemeine Stadtgeschichte

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Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung und des hier anzuzeigenden Begleitbandes sind einige juumldische Prachthandschriften die zum Teil noch vor den groszligen Pestverfolgungen von 134849 im Bodenseeraum als Gemeinschaftswerke eines juumldischen Schreibers sowie einer kloumlsterlichen Malwerkstatt entstanden sind Sarit SHALEV-EYNI (Hebrew Illuminated Manuscripts from Lake Constance before 1348 S 32ndash47) und Katrin KOGMAN-APPEL (Juumldische Bildkultur im mittelalterlichen Deutschland S 48ndash59) bringen uns die bildli-chen Darstellungen der hebraumlischen Kodizes in ihrer Motivik und Charakteristik naumlher indem sie diese als Teil einer bdquoBildkulturldquo erkennbar werden lassen die bdquointegraler Bestandteil der Kultur ihrer Umgebungldquo ist Diese Bildkultur verlangt nach einer Wuumlr-digung die uumlber die religioumlse Identitaumlt des Kuumlnstlers hinaus auch Auftraggeber und Betrachter in den Blick nimmt (S 59) Anhand der raumltselhaften vier ganzseitigen Illu-strationen in der Darmstaumldter Haggadah demonstriert Meyrav LEVY (Enigmatic Illustra-tions in the Darmstadt Haggada A Chivalric Version of Olam ha-Ba S 132ndash139) wie die Auftraggeberin der wohl um 1430 entstandenen Handschrift durch den christlichen Illustrator modische Ideale der ritterlich-houmlfischen Kultur mit auf den ersten Blick be-fremdlichen Motiven paradiesischer Jenseitsvorstellungen des Judentums zum Ausdruck bringen lieszlig Die fuumlr juumldische Illuminationen ungewoumlhnlich bdquoliberalenldquo Darstellungen von Frauen in einem ebenso ungewoumlhnlichen chevalresken Kontext lassen auf eine Besitzerin schlieszligen die sich mit einer herausgehobenen sozialen Schicht identifiziert wissen wollte (S 138 f) Vielleicht gehoumlrte die Dame ndash der Hinweis sei an dieser Stelle erlaubt ndash zum Kreis jener Juumldinnen die im spaumlten 14 und im 15 Jahrhundert als uumlber-durchschnittlich erfolgreiche Geschaumlftsfrauen ihren Ehemaumlnnern ein Leben mit religioumlsen Studien abseits des Broterwerbs ermoumlglichen konnten und dabei ein robustes Selbst- bewusstsein entwickelten

Die bdquohoumlchst eigensinnige Teilhabe der Juden an der Welt der Gotik [hellip] als zwei Seiten derselben Kulturldquo (WELTECKE S 11) uumlberdauerte mithin die Verwerfungen die als Folge der verheerenden Pestpogrome in der Mitte des 14 Jahrhunderts zu einer merklichen Verschlechterung in der Gemeindestruktur des aschkenasischen Judentums fuumlhrten Den weitreichenden Beschraumlnkungen in der juumldischen Gemeindeautonomie standen durchaus beachtliche Karrieren gegenuumlber Dies gilt auch fuumlr die bdquoMedinat Bodaseldquo also jene gemeindeuumlbergreifende regionale Identitaumlt in der sich die Juumldinnen und Juden der Bodenseeregion von Zuumlrich bis Ravensburg miteinander verbunden fuumlhlten Zwar blieben die hiesigen Judengemeinden zahlenmaumlszligig und kulturell stets im Schatten der mittel- rheinischen Zentren gleichwohl entwickelten sich auch hier Potenziale mit kultureller Strahlkraft wie Ingrid KAUFMANN am Beispiel der Verbreitung des Zuumlrcher SeMaK in Oberitalien aufzeigt (Ein sbquoZuumlrcherlsquo jenseits der Alpen Der Zuumlrcher SeMaK als Zeugnis juumldischer Mobilitaumlt im Mittelalter S 116ndash119)

Nicht nur die kulturellen Aspekte lohnen eine genauere Betrachtung der mittelalter- lichen Bodenseeregion unter juumldischen Vorzeichen Neben den Darstellungen von Sarit SHALEV-EYNI und Katrin KOGMAN-APPEL beleuchten sechs weitere Uumlberblicksbeitraumlge die juumldische Lebenswelt im Hoch- und Spaumltmittelalter aus unterschiedlichen Perspek- tiven Markus J WENNINGER beschreibt bdquoJuden und Christen im Mittelalter Facetten ihres Zusammenlebens unter besonderer Beruumlcksichtigung des Bodenseeraumsldquo (S 14ndash23) Auch wenn Zufaumllle und strukturelle Bedingtheiten der Quellensituation haumlufig zu einer Verzerrung der Wahrnehmung fuumlhren wenn etwa allein aus dem Mehr an gericht-licher Uumlberlieferung auf eine Zunahme an Konflikten geschlossen wird so laumlsst sich

786 Buchbesprechungen

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dennoch fuumlr den Verlauf des 15 Jahrhunderts eine deutliche Entwicklung hin zu Diskri-minierung Ausgrenzung und Ghettoisierung der juumldischen Bevoumllkerung nachzeichnen

Insbesondere in den 1430er Jahren kommt es aufgrund mehrerer Krisen und bdquounter-schiedlich gelagerter Reformbestrebungen in Kirche und Weltldquo zu einem bdquostrukturellen Bruch im nordalpinen Reichsgebietldquo mit dem die bdquoHochphase des sozialen Ausschlusses von Judenldquo eingelaumlutet wird wie Christian JOumlRG feststellt (Christen und Juden im Europa der ersten Haumllfte des 15 Jahrhunderts Zur Ausgrenzung von Juden im Umfeld der groszligen Reformkonzilien S 79ndash86) Damit einher gingen nach Christian SCHOLL auch die Be-strebungen christlicher Korporationen die bis dahin bdquokeineswegs hohlenldquo Buumlrgerrechte der Juden zu beschraumlnken und die andersglaumlubigen Konkurrenten von den Erwerbszwei-gen in Handwerk und Handel weitgehend auszuschlieszligen (Als Rechtlose in die Geldleihe abgedraumlngt Zur rechtlichen Stellung und wirtschaftlichen Taumltigkeit von Juden in den suumlddeutschen Reichsstaumldten des spaumlten Mittelalters S 24ndash31)

Die mit den Umbruumlchen im 14 und 15 Jahrhundert verbundenen Konflikte und Ge-waltausbruumlche thematisieren Martha KEIL (Im Westen von Aschkenas Aspekte von Kon-flikt und Religion im juumldischen Bodenseeraum S 70ndash78) und Johannes HEIL (Gewalt gegen Juden und Konflikte in der Stadt Uumlberlegungen zu einer verstoumlrenden bdquoNormali-taumltldquo am Beispiel der Stadt Konstanz und des Bodenseeraums S 87ndash96) Erstere kann anhand Zuumlricher Gerichtsquellen eine bdquoirritierendeldquo intensive Anrufung des Stadtgerichts bei innerjuumldischen Konflikten feststellen die im Gegensatz zu der bdquoerkaumlmpften juumldisch-rechtlichen Autonomie und in Opposition zum Anspruch der Rabbiner standldquo Diese Ent-wicklung deckt sich allerdings mit den auch andernorts nach den Pestpogromen erkennbaren Tendenzen die bis dahin weitgehend stabile innerjuumldische Gemeindeauto-nomie durch ein Regulierungsmonopol der christlichen Obrigkeit zu ersetzen Wurden die Konflikte auf der politischen Ebene ausgetragen bei der den Juden bdquojede direkte Mit-wirkungsmoumlglichkeit am andauernden innerstaumldtischen Kraumlftemessen versagt warldquo konnte dies nach Johannes Heil fuumlr die juumldische Bevoumllkerung in spezifischen Konstella-tionen ndash wie vor allem in der Mitte des 14 Jahrhunderts ndash toumldliche Konsequenzen haben Die vielen Pogrome wirkten sich nachhaltig auf die juumldische Siedlungsstruktur aus wie Michael SCHLACHTER in seinem Aufsatz bdquoSiedlungsgeschichte und Verfolgungen der Juden im Bodenseegebiet bis zum spaumlten 14 Jahrhundertldquo (S 60ndash69) ausfuumlhrt Leider verzichtet der lesenswerte Beitrag wie der gesamte Begleitband auf eine anschauliche kartographische Umsetzung der Befunde

An die Uumlberblicksartikel schlieszligen sich 14 kleinere Beitraumlge als Forschungsberichte an teilweise aus der Feder Studierender oder junger Forschender Sie behandeln neben den oben bereits erwaumlhnten kunstgeschichtlichen Artikeln von Ingrid KAUFMANN und Meygrav LEVY archaumlologische und museologische Befunde Judensiegel bildliche Dar-stellungen von Juden und von Judenhuumlten juumldische Siedlungstopographie und Friedhoumlfe besondere Quellengruppen die rechtliche Stellung der Juden sowie einen Abriss zur kurzen Geschichte der mittelalterlichen Ravensburger Judengemeinde Eine Studie von Miriam BASTIAN und Mareike HARTMANN befasst sich mit bdquoFesten und Spielen Geselli-ges Beisammensein zwischen Juden und Christenldquo (S 159ndash163)

Unter den Beschreibungen der Exponate von Leihgebern aus Frankreich Groszligbritan-nien der Schweiz Ungarn und Deutschland (S 167ndash202) finden sich neben den Pracht-kodizes weitere Highlights etwa die sogenannten bdquoKopfziegelldquo aus dem Ravensburg des 15 Jahrhunderts mit der Darstellung von Personen mit Bart und Judenhut (Caroline KLATT) regionale Urkunden mit hebraumlischen Dorsualvermerken von Andreas LEHNERTZ

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oder die von Doumllf WILD beschriebenen um 1330 entstandenen spektakulaumlren Wand- fresken aus dem Haus bdquoZum Brunnenhofldquo in Zuumlrich Die dort der bdquoBilderwelt der houmlfi-schen Kulturldquo entnommenen Motive fanden uumlbrigens 100 Jahre spaumlter mit dem Groszlig-fresko in dem zentralen Gebaumludekomplex der Humpisgesellschaft in Ravensburg einen prominenten Nachahmer

Eine bdquoaktuelle und um Vollstaumlndigkeit bemuumlhte Bibliographie der Veroumlffentlichungen zu den Juden am Bodenseeldquo (S 203ndash215) rundet den Band an dem insgesamt 33 Auto-rinnen und Autoren mitgewirkt haben ab Den zahlreichen Abbildungen haumltten ein grouml-szligeres Format und eine Wiedergabe auf Kunstdruckpapier gutgetan Die vielfach zu klein und durchweg zu dunkel geratenen Reproduktionen truumlben den Genuss der Betrachtung doch merklich Auch haumltte man sich ein sattelfesteres Lektorat gewuumlnscht Fluumlchtigkeits-fehler wie der unschoumlne Pleonasmus bdquozeitlich befristetldquo (S 140 142) verungluumlckte Satz-gefuumlge (S 136) der Schnitzer bdquoservi camerae nostrildquo[] (S 140) oder mehrere Trennfehler haumltten dann vielleicht vermieden werden koumlnnen Ganz bestimmt aber waumlre aufgefallen dass der in drei verschiedenen Beitraumlgen (S 12 162 166) verwendete Quellenbeleg aus dem Konzeptbuch B der Konstanzer Kurie zum Kartenspielen des Klerikers Wilhelm von Imbuch ndash angeblich ndash mit einem Juden in einem Karmeliterkloster gleich mehrfach fehlinterpretiert wurde Auch wenn das Regest von Karl Rieder noch von einem Kolle-giatstift Ehingen bei Ravensburg [] spricht so haumltte spaumltestens beim Blick in die auf S 175 abgedruckte Originalquelle die topographische Ungereimtheit auffallen muumlssen Dort hat eine spaumltere Hand mit Bleistift den offenkundigen palaumlographischen Befund korrekt mit Ehingen bei Rottenburg wiedergegeben Mit der Lokalisierung des Kolle- giatstifts St Moritz im Rottenburger Stadtteil Ehingen wird auch plausibel warum sich der Konstanzer Generalvikar ndash wie im Regest erwaumlhnt ndash in dieser Angelegenheit an den Tuumlbinger Dekan wendet Zudem hat besagter Wilhelm von Imbuch bdquoan Weihnachten mit einem Juden oumlffentlich Karten gespieltldquo ohne dass wir Naumlheres uumlber den Tatort erfahren nicht aber im bdquoKarmeliterklosterldquo und schon gar nicht im Ravensburger

Franz-Josef Ziwes

Peter KOumlRNER bdquoJetzt ist es mit Dir aushellipldquo 10 November 1938 in Aschaffenburg Opfer

Taumlter Ahndung und Erinnerung (Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaf-fenburg Beiheft Bd 5) Aschaffenburg Stadt- und Stiftsarchiv 2019 299 S Abb geb EUR 22ndash ISBN 978-3-922355-35-9

Die neueste Veroumlffentlichung aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg beschaumlf-tigt sich intensiv mit der bdquoReichspogromnachtldquo die erst seit etwa 40 Jahren so genannt wird mit ihrer bdquoBewaumlltigungldquo und der Erinnerung daran Der seit Jahrzehnten mit der Lokalgeschichte vertraute und selbst in der Erinnerungskultur aktive Historiker und Jour-nalist Peter Koumlrner hat auf einen griffigeren Titel verzichtet und stattdessen seine me-thodischen Uumlberlegungen im Buchtitel wiedergegeben

Der Autor legt einen Schwerpunkt auf die Taumlter ohne sie zu entmenschlichen oder zu daumlmonisieren wie es im Gedenkgenre nicht selten vorkommt Der Autor seziert die Ermittlungen zu den begangenen Verbrechen justiziable Prozesse und die Erinnerung seit 194546 bis heute quasi in einem Laumlngsschnitt

Die Ansicht dass die bdquoReichspogromnachtldquo meistenorts gut erforscht sei hinterfragt Koumlrner kritisch Entgegen perpetuierter Erzaumlhlungen fanden die terroristischen Ereig-nisse jener Nacht allerorten fruumlhestens eine Weile nach Mitternacht jedenfalls am

788 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 788

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

10 November statt so auch in Aschaffenburg dort ab 300 Uhr Collageartig zeigt er durch Vergleiche mit anderen Orten wie aus Erinnerungen als Hauptquelle falsche Ablaumlufe rekonstruiert werden und wie haumlufig sie kontrafaktisch kolportiert werden Er fordert statt emotional orientierter Gedenkrituale exakte zeitlich differenzierende Beschreibungen zu erarbeiten plaumldiert gegen unreflektierte Empathie fuumlr mehr Wissen-schaft also eine fundierte Gedenkkultur Dabei bezieht er sich selbstkritisch mit ein und versucht seinen postulierten Anspruch in der Studie einzuloumlsen

Zerstoumlrungen und Brandstiftungen waren typisch fuumlr den Ablauf jenes 10 November 1938 Schuumlsse mit zwei Verletzten wie in Aschaffenburg von denen einer an Komplika-tionen im Krankenhaus starb stellen vergleichsweise eine Besonderheit dar Das schlieszligt die betraumlchtliche Zahl Toter uumlberwiegend in der KZ-Haft im Anschluss des 10 November nicht aus Koumlrner geht dem Ablauf der Geschehnisse in Aschaffenburg nicht chronolo-gisch nach sondern gestuumltzt auf Quellen dem Vorgehen der drei beteiligten Trupps Der eine ein SS-Trupp drang in ausgewaumlhlte Wohnungen ein um die Bewohner zu bedrohen und zu terrorisieren ein anderer Mitglieder des SA-Musikzugs von dessen 25 Mitglie-dern sich zehn zum verabredeten Treffen um 300 Uhr zusammenfanden zog marodie-rend durch die Straszligen waumlhrend der dritte Trupp gleichfalls SA fuumlr die Synagogen- zerstoumlrung zustaumlndig war Fuumlr Aschaffenburg stellt sich die Quellenlage besonders gut dar Gestapoermittlungen zum SS-Trupp als Zulieferung fuumlr die anschlieszligende Verhand-lung vor dem Oberparteigericht im Januar 1939 sind im Staatsarchiv Wuumlrzburg uumlber- liefert Uumlberlieferungen zu Verfahren und Spruchkammerverfahren nach 1945 zu Taumltern sind aber auch andernorts haumlufig uumlberliefert Gegen Beteiligte der beiden SA-Trupps wurde nach 1945 ermittelt und Anklage erhoben Diese Uumlberlieferung stuumltzt die Re- konstruktion der Vorgaumlnge jener Nacht reich an Details aus den Verfahren nach 1945 gegen 15 Beteiligte Diese Methode ergibt profunde Ergebnisse bedeutet aber auch dass die Geschehnisse nicht allumfassend sichtbar gemacht werden koumlnnen Zusammen mit den Spruchkammerakten gelingt es dem Autor differenzierte Taumlterbiographien zu erstel-len Die Auseinandersetzung damit haumllt er fuumlr essentiell fuumlr eine reflektierte Erinnerungs-kultur Denn sichtbar wird bei den Unterschieden charakterlicher Art sozialer Herkunft und Politisierung zu verschiedenen Zeiten und unterschiedlicher Tiefe dass die Taumlter sozusagen aus der Mitte der Gesellschaft stammten Der SS-Fuumlhrer als Hauptanstifter blieb durch Selbstbelastung anderer unbehelligt im Buch werden seine Verstrickungen aufbereitet Koumlrner gelingt es Momente der Handlungswendungen herauszuarbeiten so wird deutlich dass jene Nacht nicht einfach wie nach einem Drehbuch ablief Dass das Pogrom von oben kein spontaner bdquoVolkszornldquo war ist Allgemeinwissen Doch das Han-deln der NS-Taumlter hatte durchaus Spontaneitaumlten Wie der Autor feststellt sollte dem angekuumlndigten bdquoVolkszornldquo mit Zerstoumlrungen und Brandstiftungen nicht entgegengetre-ten werden doch lautete die Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei Heydrich um 120 Uhr dass Verbrechen wie Toumltungen schwere Koumlrperverletzung Erpressung Ver-gewaltigung oder Pluumlnderungen durch die Gestapo aufzuklaumlren waumlren Das war vor der Zeit als die Trupps in Aschaffenburg wie fast uumlberall anderswo erst noch im Begriff waren sich zur Aktion zu sammeln oder loszulegen Die Taumlter mussten annehmen be-langt werden zu koumlnnen und daraufhin gleicht der Autor ihre Handlungen ab Nur die Schuumlsse des SS-Trupps wurden von der Gestapo untersucht die beiden SA-Trupps hatten innerhalb des bdquomoumlglichen Rahmensldquo gehandelt Vor dem Parteigericht fanden Verfahren gegen fuumlnf SS-Maumlnner statt Wie fast uumlberall wurden sie eingestellt bis auf eine Ver- urteilung mit milder Strafe

789Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 789

Das fuumlnfte Kapitel beleuchtet das Kriegsende und die Nachkriegszeit Heiko Haumann skizziert das Kriegsende in Waldkirch und im Elztal Wolfram Wette erinnert an die im Januar und April in Waldkirch als Deserteure erschossenen deutschen Soldaten ndash und den lokalen Umgang mit diesen Verbrechen Martin HOFFMANN wiederum wirft einen Blick auf zivile wie militaumlrische Todesopfer die die Stadt Waldkirch (und ihre fruumlher eigenstaumlndigen Ortsteile) zu beklagen hatte und wie mit dieser Erbschaft nach 1945 um-gegangen wurde Das abschlieszligende sechste Kapitel beschaumlftigt sich mit der Aufarbei-tung der NS-Vergangenheit Neben Beitraumlgen zum Umgang mit NS-Ikonographien und NS-Kriegerdenkmaumllern werden verschiedene lokalhistorische Ereignisse und Projekte der vergangenen Jahrzehnte nochmals in den Blick genommen

Die Beitraumlge dieses Sammelbandes sind hinsichtlich ihrer Qualitaumlt ihrer Originalitaumlt ihres Umfanges und des damit verbundenen Erkenntnisgewinnes recht unterschiedlich Aber etwas Anderes waumlre bei einem Projekt das engagierte und interessierte Laien Historiker und Fachwissenschaftler anderer Disziplinen sowie Nachwuchswissenschaft-ler (pensionierte) Lehrer und emeritierte Universitaumltsprofessoren zusammenfuumlhrt auch kaum denkbar Entstanden ist ein materialreiches lokalhistorisches Lesebuch das zu wei-teren Forschungen einlaumldt Es ist zu hoffen dass der Band nicht nur in der engeren Region zu Kenntnis genommen wird sondern auch als Anregung fuumlr vergleichbare Projekte anderswo dienlich ist

Christoph Kopke

Juliane GEIKE Andreas HAASIS-BERNER (Hg) Menschen in Bewegung (Lebenswelten im laumlndlichen Raum Historische Erkundungen in Mittel- und Suumldbaden Bd 4) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 237 S Abb geb EUR 2280 ISBN 978-3-95505-123-5

Unter dem Sammelbegriff bdquoWanderungsforschungldquo hat sich im deutschen Sprachraum seit der Wende vom 18 zum 19 Jahrhundert die Bewegung von Menschen in Zeit und Raum zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt Daran hatten die regionale Ge-schichtsschreibung in Form der Landesgeschichte sowie die lokale heimatgeschichtlich ausgerichtete bdquoLiebhaber-Historieldquo wie sie auch genannt wird einen besonderen Anteil Nach der Reichsgruumlndung gerieten sie und auch die am Forschungsgegenstand nun ver-staumlrkt interessierte universitaumlre Forschung in nationales zu Beginn des 20 Jahrhunderts in voumllkisches und schlieszliglich in den dreiszligiger Jahren in nationalsozialistisches Fahr- wasser Als Folge dieser Hypothek konnte die Wanderungsforschung nach 1945 nicht an ihre Traditionen anknuumlpfen sondern erfuhr als bdquoImportldquo unter dem Begriff der Migra- tionsforschung in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren einen zunaumlchst sozialhisto-risch gepraumlgten Neuanfang Mittlerweile ist die historische Migrationsforschung ob auf universitaumlrer landesgeschichtlicher oder heimatgeschichtlicher Ebene ein boomendes Feld auf dem es wuumlnschenswert waumlre wenn der Austausch zwischen den drei Ebenen verstaumlrkt wuumlrde

In diesem Kontext ist der vierte Tag fuumlr Regionalgeschichte im Juni 2017 in Yach im Landkreis Emmendingen zu sehen Auch vor dem Hintergrund des Migrationsgeschehens der Gegenwart versammelte er unter dem Thema bdquoMigration im laumlndlichen Raumldquo HistorikerInnen ArchivarInnen LehrerInnen HeimatforscherInnen und Geschichts- interessierte Der vorliegende Band spiegelt die Ergebnisse der Tagung Dabei folgen die Herausgeber der Erkenntnis bdquoMigration war und ist ein Teil unserer Geschichte die eine in Zeit und Raum variantenreiche Dynamik entfaltetldquo (S 8) Der Band umfasst elf Bei-

804 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 804

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Die etwa 25 maumlnnlichen juumldischen Opfer der Verhaftungen durch die Polizei am 10 November die schlieszliglich in das KZ Dachau uumlberstellt wurden sind mit Personen-daten und ihrem weiteren Weg aufgelistet Mit der Ahndung nach 1945 und den Prozessen breitet Koumlrner die Ablaumlufe der Nacht nochmals gewissenhaft aus Die Taumlter des SS-Trupps erhielten fuumlnf bis sieben Jahre Zuchthausstrafe der Haupttaumlter gar 15 Jahre Im Prozess gegen die SA-Beteiligten lag das Strafmaszlig zwischen sechs und 15 Monaten Zuchthaus bei drei Freispruumlchen Der Autor bewertet die Strafverfolgung so kurz nach dem Ende des NS-Regimes als erste Phase der Erinnerung die sogenannte Bewaumlltigung die auch die zeitlich etwas spaumlteren Spruchkammerverfahren miteinbezieht Hier erfolgte fast durchweg die Einstufung als Minderbelastete Auch weil die Kammern ungeeignet zur Feststellung schuldhaften Verhaltens waren und bdquoPersilscheinenldquo keine Ermittlungen entgegensetzen konnten oder wollten Die sogenannte Entnazifizierung der unmittelbaren Nachkriegszeit ging mit ihnen und dem beginnenden Kalten Krieg bereits in die Phase des Verdraumlngens und Schlussstrichdenkens uumlber

Auf 15 Seiten zeigt der Autor so komprimiert wie instruktiv die Entwicklung der Ge-denkkultur in der Bundesrepublik Deutschland der letzten Jahrzehnte auf die Teil deut-scher Identitaumltsstiftung geworden ist Koumlrner kommt Unbehagen gegen oberflaumlchliche Rituale vordergruumlndige Betroffenheit und bisweilen verbraumlmte Manipulationen auf denen er sein Credo eines reflektierten Geschichtsbewusstseins entgegenstellt

Quasi als Anhang sind die bdquoGedenktermineldquo der Aschaffenburger Erinnerungskultur beginnend mit der Gruumlnanlage am Platz der zerstoumlrten Synagoge und Aufstellung einer Gedenkstele 1946 bis heute aufgelistet auch die seit 1999 jaumlhrlich stattfindenden Ta-gungen des Vereins Haus Wolfsthalplatz an diesem Erinnerungsort

Mit diesem Buch liegt sicherlich keine bequeme Veroumlffentlichung vor Koumlrner selbst loumlst seinen Anspruch kritisch-reflektierter Erinnerung souveraumln ein Diese Studie zu Aschaffenburg kann fuumlr Forschungen an anderen Orten eine motivierende und sinnvolle Blaupause abgeben

Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer

Hermann EHMER Helfenberg Geschichte von Burg Schloss und Weiler Ostfildern Thorbecke 2019 307 S Abb 5 Stammtafeln geb EUR 30ndash ISBN 978-3-7995- 1458-3

Hermann Ehmer einst erster Leiter des neugegruumlndeten Staatsarchivs Wertheim dann viele Jahre lang Leiter des zentralen Archivs der wuumlrttembergischen Evangelischen Lan-deskirche in Stuttgart ist seit Jahrzehnten weithin bekannt als unermuumldlicher Erforscher und Erzaumlhler der wuumlrttembergischen Kirchen- und Reformationsgeschichte Daneben ist er aber auch ein uumlberaus produktiver Historiograph des Bottwartals in dem seine per-soumlnlichen Wurzeln liegen Bereits 1991 erschien sein Buch uumlber den Gleiszligenden Wolf von Wunnenstein und ein Vierteljahrhundert spaumlter seine Geschichte des Klosters und adligen Fraumluleinstifts Oberstenfeld jeweils mehrhundertseitige in den Quellen gegruumln-dete Darstellungen seine regional einschlaumlgigen Aufsaumltze und Miszellen koumlnnen hier im einzelnen gar nicht aufgezaumlhlt werden Mit der nun vorgelegten Geschichte von Burg Schloss und Weiler Helfenberg (Auenstein Ilsfeld Landkreis Heilbronn) erschlieszligt er sich die Vergangenheit einer weiteren historischen Staumltte seiner engeren Heimat und laumlsst seine Landsleute sowie alle landeskundlich Interessierten landauf landab daran teilhaben Dass es dem Autor dabei scheinbar muumlhelos gelingt mit der rund achthundertjaumlhrigen Geschichte einer Burgruine und des ihr zugehoumlrigen Weilers nicht weniger als dreihundert

790 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 790

die Enthuumlllungen uumlber die Rolle des Waldkircher Buumlrgers und SS-Standartenfuumlhrers Karl Jaumlger gewesen sein Dieser war Organisator und Vollstrecker des Massenmordes an den Juden Litauens Wolfram Wette hat zu dessen Biographie 2011 eine Monografie vorgelegt und auch im vorliegenden Band findet sich ein Text zu Karl Jaumlger Dass die notwendige Beschaumlftigung mit der regionalen NS-Geschichte kein einfaches Unterfangen ist reflek-tiert auch der zweite einleitende Beitrag von Heiko HAUMANN der auf bdquodie Schwierig-keiten die Waldkircher Geschichte im sbquoDritten Reichlsquo angemessen darzustellenldquo (S 27 ff) eingeht

Die Beitraumlge des ersten Kapitels widmen sich der Vorkriegsgeschichte Ralph BERN-HARD beispielsweise beleuchtet die Fruumlhgeschichte der NSDAP seit 1920 So gab es zwar Aktivitaumlten voumllkischer Vorlaumluferparteien aber vor dem auch in Baden geltenden Verbot von 1923 scheint es in Waldkirch keine eigenstaumlndige NSDAP-Ortsgruppe gegeben zu haben Gleichwohl waren einige Waldkircher Nationalsozialisten schon 1923 Parteimit-glieder geworden hatten sich aber Wuumlrttemberger Ortsgruppen angeschlossen wo die Behoumlrden das geltende NSDAP-Verbot kaum umsetzten Aus den verschiedenen Beitrauml-gen etwa zu den Wahlergebnissen der NSDAP in Waldkirch dem lokalen Machtwechsel 1933 auf Buumlrgermeisterebene oder zur Biographie des Waldkircher NS-Buumlrgermeisters stechen vor allem zwei Aufsaumltze hervor Wolfgang Wette rekonstruiert die lokale Buumlcherverbrennung die am 8 Juli 1933 auf dem Gipfel des Kandels inszeniert wurde Die Waldkircher Buumlcherverbrennung ist wie mutmaszliglich die meisten der oumlffentlichen Verbrennungsaktionen des Jahres 1933 in vielen Staumldten und groumlszligeren Gemeinden des Dritten Reiches von der einschlaumlgigen Forschung bislang nicht beruumlcksichtigt worden (vgl Julius H Schoeps Werner Tress (Hg) Orte der Buumlcherverbrennungen in Deutsch-land 1933 Hildesheim 2008) Mit der Darstellung der Geschichte der Waldkircher Schutzstaffel rekonstruiert Heiko WEGMANN erstmals die Zusammensetzung und die Ak-tivitaumlten der beruumlchtigten NS-Untergliederung auf lokaler Ebene Bis zu seinem Weggang im November 1936 wurde die oumlrtliche SS vom bereits erwaumlhnten Karl Jaumlger angefuumlhrt ihr gehoumlrten in jener Zeit rund 100 Maumlnner an

Das zweite Kapitel des Bandes nimmt sich der Zeit des Weltkrieges an Zwei Beitraumlge beschaumlftigen sich mit dem Bild und den Narrativen des Krieges in lokalen Feldpost- beziehungsweise Soldatenbriefen weitere Texte befassen sich unter anderem mit einzel-nen Biographien und Firmen mit der Zusammensetzung der oumlrtlichen NSDAP-Orts-gruppe oder mit den Vorgaumlngen rund um die NS-bdquoEuthanasieldquo Allein in der Toumltungs- anstalt Grafeneck fanden mindestens 14 Personen den Tod die aus Waldkirch stammten oder dort geboren waren Mutmaszliglich waren von den Euthanasieverbrechen noch mehr Menschen aus Waldkirch betroffen

Kapitel III versammelt sechs biographisch ausgerichtete Beitraumlge die Personen vor-stellen die aus unterschiedlichen Motiven und weltanschaulichen Hintergruumlnden Wider-stand gegen das NS-Regime leisteten Auch im vierten Kapitel (bdquoSchulen und Kirchenldquo) geht es um Beispiele widerstaumlndigen Verhaltens und vor allem um das Spannungsver-haumlltnis von Widerstand Resistenz Anpassung und Mitmachen Dabei sind nicht alle Texte primaumlr lokalhistorisch oder biographisch ausgerichtet Ausfuumlhrlich rekonstruiert und diskutiert etwa der Soziologe Herbert SCHWEIZER nach seiner Emeritierung 2006 bis zu seinem Tode 2017 Einwohner Waldkirchs grundsaumltzlich das Verhaumlltnis von Ka-tholischer Kirche und Nationalsozialismus wohingegen Ralph BERNHARD die oumlrtliche katholische Kirche einer kritischen Untersuchung unterzieht

803Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

ihren Funktionstraumlgerinnen und -traumlgern sowie den beigefuumlgten Statuten es gab nur zwei Den bdquoIsraelitischen Frauenvereinldquo seit 1868 und als Pendant den 1875 gegruumlndeten Maumln-nerverein bdquoVerein fuumlr heilige edle Zweckeldquo Unter Abschnitt 10 befindet sich eine schmale Information zu juumldischen Gastwirtschaften der elfte und letzte Abschnitt Feste und Ehrungen ist leer

Der Hauptteil mit dem eigentlichen Familienbuch im achten Abschnitt macht uumlber die Haumllfte des Bandes aus Im Original ist eine Seite jeweils fuumlr eine Familie vorbehalten insgesamt sind es 106 Aufgefuumlhrt sind bdquoHausvaterldquo und Hausmutterldquo mit ihrer Verhei-ratung samt Lebensdaten und Angaben zu den Eltern Aufgefuumlhrt werden die am Ort geborenen Kinder mit ihren Lebensdaten sowie Heiratsangaben soweit moumlglich Bei Heirat eines Schwetzinger Juden und anschlieszligendem Familienleben andernorts bleibt es bisweilen bei diesem alleinigen Eintrag So fuumlr die Schwetzingerin Marie Henriette Trautmann die den Karlsruher und spaumlteren badischen Finanzminister Moritz Ellstaumltter 1864 in Heidelberg heiratete Insgesamt liegt fuumlr ortsgeschichtliche und familienkund- liche Fragestellungen eine wunderbare Quellengrundlage vor die zum Teil die muumlh- seligere Recherche in den einzelnen Standesregistern erspart Das Namenregister dieses Abschnitts im Familienbuch ist gemaumlszlig dem Original enthalten

Daruumlber hinaus ist dem Band insgesamt ein Personen- und Ortsregister beigegeben worden was den Anspruch des Buches unterstreicht und es gut nutzbar macht So etwas ist wie Forschende wissen keine Selbstverstaumlndlichkeit Die zahlreichen kleinen Abbil-dungen illustrieren einerseits Ausschnitte der Geschichte der juumldischen Gemeinde allge-mein zu ihren Mitgliedern schlieszliglich auch zu Uumlberlebenden sind andererseits immer wieder Faksimiles aus dem Mikrofilm Das Buch wird fuumlr die lokale Geschichts- und Er-innerungskultur sicherlich eine wertvolle Grundlage sein Dieser Funktion entspricht die einfache Aufmachung Fuumlr diesen Zweck ist es nicht notwendig und unrealistisch den-noch moumlchte der Rezensent seinen insgeheim aufgekommenen Wunsch aussprechen Eine bibliophile Gestaltung fuumlr Quelleneditionen dieser Art waumlre etwas Erfreuliches

Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer

Wolfram WETTE (Hg) in Verbindung mit der Stadt Waldkirch und der Ideenwerkstatt

Waldkirch in der NS-Zeit bdquoHier war doch nichtsldquondashWaldkirch im Nationalsozialis- mus Bremen Donat-Verlag 2019 528 S Abb geb EUR 2980 ISBN 978-3-943425-86-4

27 Autorinnen und Autoren gehen in annaumlhernd fuumlnfzig Beitraumlgen zahlreichen Aspek-ten und Themen der Geschichte der suumldbadischen Stadt Waldkirch im Nationalsozialis-mus beziehungsweise der oumlrtlichen Nachwirkung der NS-Zeit nach Viele der Beitraumlge sind biographisch ausgerichtet Die Aufsaumltze des umfangreichen und reich illustrierten Bandes sind ndash nach zwei einleitenden Beitraumlgen ndash in sechs groszlige Kapitel uumlbersichtlich gegliedert Das Werk ist durch ein Abkuumlrzungsverzeichnis und ein Personenregister vor-bildlich erschlossen

Herausgeber Wolfgang WETTE eroumlffnet den Band und ordnet die Bestrebungen auch die NS-Geschichte Waldkirchs mit einer umfangreichen Darstellung zu beleuchten ein Auch in dieser Stadt wurde die NS-Geschichte bis weit in die 1980er Jahre uumlberwiegend beschwiegen Das aumlnderte sich ndash wie andernorts ndash erst durch zaumlhes Ringen und ge-schichtspolitische Initiativen aus der Buumlrgerschaft Eine erste Broschuumlre aus dem Jahr 1989 dokumentiert die bis dato erfolgten Bemuumlhungen Ein weiterer Meilenstein duumlrften

802 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 802

Seiten zu fuumlllen erklaumlrt sich vor allem aus den ungewoumlhnlich zahlreichen Besitzerwech-seln auf Helfenberg und aus den zeitweise dort bestehenden Ganerbschaften beziehungs-weise Kondominaten sowie aus immer wieder vorkommenden Konflikten um vielfaumlltige herrschaftliche Befugnisse und Gerechtsame woraus naturgemaumlszlig eine besonders dichte schriftliche Uumlberlieferung erwuchs deren Ermittlung und Auswertung freilich alles andere als muumlhelos gewesen sein duumlrfte Vermutlich im fruumlhen 13 Jahrhundert gegruumlndet findet Burg Helfenberg mit einem nach ihr benannten Urkundszeugen aus dem Umkreis der Markgrafen von Baden 1259 ihre erste Erwaumlhnung Auf die Bischoumlfe von Wuumlrzburg als Lehnsherren (1330) folgten spaumltestens in der ersten Haumllfte des 15 Jahrhunderts die Grafen spaumlter Herzoumlge von Wuumlrttemberg Die Abfolge der tatsaumlchlichen Besitzer des im Lauf der Zeit mit allerlei Eigenguumltern angereicherten Erblehens koumlnnte wechsel- voller kaum sein gleichwohl muss an dieser Stelle eine bloszlige Aufzaumlhlung der beteiligten Familien genuumlgen Sturmfeder von Heinriet von Weiler von Talheim Nothaft von Hohenberg Rauch von Winnenden von Wittstadt gen Hagenbach von Helmstatt von Hoheneck von Buchholz Pflaumer Boumlcklin von Boumlcklinsau Horneck von Hornberg von Reichau von Dachroumlden von Bouwinghausen und schlieszliglich von Gaisberg Seit der Mitte des 16 Jahrhunderts war das Rittergut Helfenberg beim Kanton Kocher der Schwaumlbischen Reichsritterschaft immatrikuliert Wie kompliziert die oumlrtlichen Besitz-verhaumlltnisse im Detail waren kommt 1844 zum Ausdruck als zwar am Lehen Helfenberg bdquonurldquo vier Ganerben beteiligt waren je zwei zu 412 und zu 212 am gemeinschaftlichen Allod hingegen sogar sieben Erben von denen einer allein 4272 zu beanspruchen hatte die anderen sechs aber jeweils nur 572 Zwei Jahre spaumlter als das Ganze zum Verkauf stand umfasste es neben den Wohn- und Oumlkonomiegebaumluden mit Kuumlchen- und Obstgar-ten 8 Morgen Gras- und Baumgaumlrten 55 Morgen Ackerfeld 12 Morgen Wiesen 9 Mor-gen Weinberge und 102 Morgen Laubwald

Die Perspektive der materialreichen Darstellung die zeitlich bis zur Zerstoumlrung Hel-fenbergs im April 1945 und zur Sanierung der Burgruine im Sommer 1981 reicht ist inhaltlich denkbar weit gefasst Im Fokus stehen mitnichten allein die adligen Besitzer die wo immer moumlglich auch biographische Wuumlrdigung finden ndash was mitunter weit uumlber das Bottwartal hinausfuumlhrt ndash vielmehr kommen ebenso die Baugeschichte die Wirt-schafts- und Sozialgeschichte sowie allfaumlllige Untertanenkonflikte zur Sprache daneben nicht zuletzt mancherlei kulturgeschichtliche Beobachtungen so beispielsweise wenn von einem adligen Goldmacher aus der Familie Gaisberg zu berichten ist Eine uumlppige Bebilderung sowohl mit Photographien als auch mit Bauzeichnungen Plaumlnen und Gra-phiken dazu hilfreiche Tabellen und Stammtafelauszuumlge dienen der Veranschaulichung und erleichtern das Verstaumlndnis komplexer Zusammenhaumlnge Ein ins Einzelne gehendes Inhaltsverzeichnis sowie Register der Orte und Personen erschlieszligen den reichen fuumlr unterschiedlichste Interessen ergiebigen Informationsgehalt

Kurt Andermann

Ernst Otto BRAumlUNCHE Frank ENGEHAUSEN Juumlrgen SCHUHLADEN-KRAumlMER (Hg) Aufbruumlche und Krisen Karlsruhe 1918ndash1933 (Veroumlffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs Bd 35) Bretten Info-Verlag 2020 519 S Abb EUR 2490 ISBN 978-3-96308-051-7

Der Umbruch der Jahre 191819 bedeutete zugleich einen Einschnitt in der Karlsruher Stadtgeschichte Anders als von manchen Beteiligten erwartet machte sich der Sturz der Monarchie und damit der Wegzug des Hofes kaum negativ fuumlr die Stadt bemerkbar

791Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Schwetzingen ndash Verein fuumlr regionale Zeitgeschichte eV einschlieszliglich den regionalen Gliederungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der Gewerkschaft verdi Entstan-den ist das Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzingen die zu ihrem Houmlhepunkt 1880 fast 120 Mitglieder zaumlhlte durch den Lehrer Simon Eichstetter (1865ndash1927) seit seinem Amtsantritt 1886 Nach dessen Tod fuumlhrte sein Nachfolger Lehrer und Kantor Henri Bloch bis zum erzwungenen Wegzug 1938 das Buch fort Der Band wurde nach dem gewaltsamen Ende der juumldischen Gemeinde wie uumlberall im Deutschen Reich fuumlr das Reichssippenamt (RSA) beschlagnahmt Unter den geraubten Gedaumlchtnissen der ver-schiedenen zerstoumlrten juumldischen Gemeinden befanden sich haumlufig gemeindeinterne Stan-desregister Friedhofslisten Uumlbersichten zu Funktionstraumlgern Insassen von Einrichtungen oder Mitgliederlisten religioumlser Vereinigungen und anderes Darunter bisweilen wie in Schwetzingen auch sogenannte Familienbuumlcher Fuumlr Schwetzingen ist das Familienbuch neben der Uumlbersicht zur Nachnamenannahme 18091810 die einzige Uumlberlieferung der Gemeinde in diesem Bestand Allein dadurch kommt ihm groszlige Bedeutung zu Die be-schlagnahmten Dokumente wurden waumlhrend des Zweiten Weltkriegs von der privaten Firma Gattermann fuumlr das RSA mikroverfilmt das Schwetzinger Familienbuch noch am 16 Maumlrz 1945 Waumlhrend das Original wie die geraubten Dokumente andernorts verloren ist liegt der Mikrofilm heute im Bestand J 386 des Hauptstaatsarchivs Stuttgart vor Die-ser Bestand zu den juumldischen Gemeinden in Wuumlrttemberg Baden und Hohenzollern kann inzwischen digitalisiert online eingesehen werden Zwar koumlnnen die in Baden seit 1809 vorgeschriebenen Standesregister der Konfessionen bis 1869 bevor in Baden seit 1870 kommunale Standesregister gefuumlhrt wurden inzwischen auch online eingesehen werden (Generallandesarchiv Karlsruhe Bestand 390 fuumlr Schwetzingen die laufenden Nummern 4625ndash4635 in Vereinigung mit den christlichen Standesregistern gefuumlhrt allerdings vom katholischen Pfarrer) doch geht das Familienbuch daruumlber hinaus und erleichtert familienkundliche Nachforschungen

Vor dem Editionsteil informiert Betz auf rund acht Seiten uumlber das Familienbuch zu den Verfassern und in komprimierter Form zur oumlrtlichen juumldischen Gemeinde bis zu deren Ende Auf zwei Seiten beschreibt er den Umgang mit den Uumlberlebenden und die Erinne-rungskultur am Ort Fast vier Seiten umfassen seine editorischen Hinweise was der auf-gewandten Muumlhe und Sorgfalt entspricht Die fast 650 Fuszlignoten im Quellenteil mit seinen rund 83 Seiten (das Original umfasst 115 Seiten) unterstreichen den wissenschaftlichen Anspruch stoumlren den Lesefluss fuumlr daran weniger Interessierte nicht

Das Familienbuch reicht mit seinen elf Abschnitten uumlber den angegebenen Zweck hinaus Im ersten Abschnitt behandelt Eichstetter kurz die Geschichte des Orts und seiner Juden Umfangreich ist der zweite zur bdquoSynagogeldquo beziehungsweise dass die arme Gemeinde trotz Bemuumlhungen nie einen eigenen Bau errichten konnte Seit 1897 war es ihnen durch Entgegenkommen des Hofamts moumlglich Raumlumlichkeiten im Schwetzinger Schloss zu belegen Deutlich wird in den Ausfuumlhrungen samt wiedergegebenen Doku-menten dabei auch die Verbundenheit von Groszligherzog Friedrich I und Groszligherzogin Luise zum Judentum insgesamt Auch zum eigenen Friedhof seit 1892 finden sich detaillierte Informationen einschlieszliglich Leichen- und Begraumlbnisordnung Im vierten und fuumlnften Abschnitt sind die Lehrer sowie Gemeindevorstaumlnde und ihr Wirken beschrie-ben Ein kurzer Abschnitt geht allgemein auf die Annahme erblicher Nachnamen ein Ebenso kurz weist der siebte Abschnitt uumlber die Standesbuumlcher auf die gesetzliche Grund-lage hin und zaumlhlt die Eintraumlge Diese hatte fuumlr die Schwetzinger Gemeinde der katholi-sche Pfarrer zu erledigen Der neunte Abschnitt behandelt die juumldischen Vereine mitsamt

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da diese ja weiterhin Hauptstadt des Landes Baden der Weimarer Republik blieb Weit staumlrker fiel dagegen der Verlust des vormaligen Reichslandes Elsass-Lothringen an Frank-reich ins Gewicht Nunmehr fehlte insbesondere fuumlr die Karlsruher Maschinenbauer ein Hinterland als Absatzmarkt was entsprechend negative wirtschaftliche Folgen hatte Kri-senhaft verliefen vor allem die ersten Nachkriegsjahre mit der Inflation als negativem Houmlhepunkt Gerade in diesen Jahren kam es auch wiederholt zu Versorgungsschwierig-keiten Nach einer kurzen Bluumltephase Mitte der 1920er Jahre hatte ab 1929 die Weltwirt-schaftskrise Karlsruhe fest im Griff In den 1920er Jahren wandelte sich auch die Struktur der Stadt War im Kaiserreich Karlsruhe vor allem Beamtenstadt mit zudem einem star-ken Maschinenbau so dominierten jetzt der Handel und das Dienstleistungsgewerbe

In gleicher Weise veraumlnderten sich auch die politischen Mehrheiten Auf die Dominanz der Nationalliberalen im Kaiserreich folgte in den Jahren bis 1933 die Zusammenarbeit der Parteien der Weimarer Koalition an der Stadtspitze Unter dem Eindruck der Welt-wirtschaftskrise stiegen jedoch ab 1930 die Nationalsozialisten zur staumlrksten politischen Kraft in der badischen Landeshauptstadt auf

Die wesentlichen Entwicklungen der Weimarer Zeit die hier nur angerissen werden koumlnnen hat Ernst Otto Braumlunche bereits 1998 in seiner Karlsruher Stadtgeschichte nach-gezeichnet (Ernst Otto Braumlunche Susanne Asche u a Karlsruhe ndash die Stadtgeschichte Karlsruhe 1998 S 357 ff) Inzwischen sind jedoch wie BRAumlUNCHE und Frank ENGE- HAUSEN in ihrer Einleitung (S 11ndash15) aufzeigen eine Reihe neuer Quellen ins Stadtarchiv gelangt bzw wurden dort aufbereitet Hierzu gehoumlren u a die Personalakten der Spit-zenbeamten der Karlsruher Kommunalverwaltung waumlhrend der Weimarer Republik der Nachlass des Reichsbannerfuumlhrers Erwin Sammet (1887ndash1973) oder die Sammlung Boess in der sich wichtige Zeugnisse eines fruumlhen Antisemitismus und zur Geschichte der Parteien in Karlsruhe befinden In gleicher Weise sind die Beschlussvorlagen des Buumlrgerausschusses inzwischen archivarisch erschlossen im Zusammenspiel mit der Badischen Landesbibliothek wurden schlieszliglich die Karlsruher Zeitungen digitalisiert Mit Hilfe dieser erweiterten Quellengrundlage legen die insgesamt 15 Beitraumlge drei Schwerpunkte

Dabei geht es erstens um die Taumltigkeit der Kommunalverwaltung und deren Ausbau zu einer modernen Leistungsverwaltung Unter anderem legt Braumlunche einen enzyklo-paumldischen Beitrag (S 197ndash245) vor in dessen Rahmen er die Karlsruher Stadtoberhaumlup-ter und Buumlrgermeister sowie das leitende staumldtische Personal vorstellt genauso wie er einen Blick auf die einzelnen Leistungszweige der Karlsruher Stadtverwaltung wirft Zu den schwerwiegendsten Problemen mit denen sich die Karlsruher Kommunalverwaltung auseinanderzusetzen hatte gehoumlrte die draumlngende Wohnungsnot Juumlrgen SCHUHLADEN-KRAumlMER zeigt auf (S 277ndash323) wie die Stadtverwaltung in den ersten Jahren nach dem Krieg versuchte mit Hilfe von Zwangsbewirtschaftungsmaszlignahmen der Wohnungsnot Herr zu werden Ab 1923 gelang es jedoch der Stadt Karlsruhe durch die Beteiligung bzw Kooperation an bzw mit Baugenossenschaften den Wohnungsbau erfolgreich voranzutreiben Harald RINGLER beschaumlftigt sich schlieszliglich in seinen Ausfuumlhrungen mit der staumldtebaulichen Entwicklung Karlsruhes (S 247ndash275) In diesem Zusammenhang stellt er das Strandbad Rappenwoumlrt und die dortige Vogelwarte als Beispiel fuumlr Bauen im Stil des Bauhauses vor genauso wie er auf Probleme der Stadtentwicklung waumlhrend der Weimarer Zeit eingeht

Der zweite Schwerpunkt des Bandes ist der politischen Entwicklung in Karlsruhe ge-widmet Hier legt Ernst Otto Braumlunche wiederum einen Uumlberblicksaufsatz zu Parteien in

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

ausbesserungswerke an die zu einem wichtigen Arbeitgeber in der Stadt werden Die Bedeutung von Bahnanschluumlssen an Privatgelaumlnde zeigt Maurer in seinem zweiten Bei-trag in welchem er mit Pfaudler (Biertanks) Bassermann (Konserven) sowie Neuhaus (Tabak) beispielhaft drei wichtige Industrieunternehmen vorstellt Die Ansiedlung der amerikanischen Firma Pfaudler 1907 gelang nur weil die Stadt bereit war ein Bahngleis zum Firmengelaumlnde legen zu lassen

Unter dem Oberthema bdquoKunst- und Kulturgeschichteldquo beschreibt Hans-Erhard LESSING die Bedeutung Schwetzingens fuumlr die Erfindung des Fahrrads Hier lernte Karl Drais als Forstpraktikant den aus England importierten Gartenphaeton von Kurfuumlrst Carl Theodor kennen der ihm Inspiration bot fuumlr seine spaumltere wegweisende Erfindung Und schlieszlig-lich darf auch nicht unerwaumlhnt bleiben dass die erste oumlffentliche Ausfahrt von Drais mit dem Fahrrad zwar in Mannheim begann aber auf dem Gebiet des Schwetzinger Bezirks wo seinerzeit das Relaishaus stand endete Kunst und Gedenken im oumlffentlichen Raum sind Thema des Beitrags von Barbara GILSDORF Mit zahlreichen Bildern zeigt sie auf wie reich Schwetzingen an Denkmalen und oumlffentlicher Kunst ist ndash angefangen von spaumlt-mittelalterlichen Wegkreuzen uumlber Kunstwerke aus der Reihe bdquoim Wege stehendldquo bis zu Denkmalen der modernen Erinnerungskultur

Im abschlieszligenden Oberthema bdquoTypisch Schwetzingenldquo finden sich weitere Beitraumlge zu historischen bis in die Gegenwart reichenden Spezifika der Stadt Dies gilt fuumlr die geographische Lage am Hardtwald (Karl-Heinz SOumlHNER) der eine naturraumlumliche Be-sonderheit wie auch ein wirtschaftliches Fundament des Ortes war ebenso aber fuumlr die Bedeutung des Spargelanbaus der heute neben dem Schloss sicherlich der wichtigste Botschafter der Stadt ist (Elfriede FACKEL-KRETZ-KELLER) Juumlrgen GRULER beschreibt die Entwicklung der Schwetzinger Zeitung (seit 1880) waumlhrend die Schwetzinger Fest-spiele im Mittelpunkt des Beitrags von Peter STIEBER stehen Die Vorstellung der Part-nerstaumldte Schwetzingens (FredericksburgUSA Karlshuld-NeuschwetzingenBayern LuneacutevilleFrankreich PaacutepaUngarn SchrobenhausenBayern SpoletoItalien Wachen-heim a d WeinstraszligePfalz) rundet das Oberthema wie auch den Band ab

Die beiden Baumlnde sind reich bebildert was zum Lesen oder einfach auch nur zum Schmoumlkern einlaumldt Ein Register haumltte dem Doppelband sicher gutgetan ebenfalls eine kurze uumlberblicksartige Vorstellung der Autorinnen und Autoren Dennoch ist es impo-nierend zu sehen was Schwetzingen die eigene Geschichte wert ist und dass es den Be-arbeitern gelungen ist rechtzeitig zum Jubilaumlum zu liefern Hierzu kann nur gratuliert werden Es waumlre dennoch wuumlnschenswert die oben angesprochenen teilweise doch sehr umfangreichen inhaltlichen Luumlcken zu fuumlllen Daher sei dem Herausgeber vorgeschlagen den Jubilaumlumsruumlckenwind und die sehr positive oumlffentliche Resonanz auf die Buumlcher zu nutzen und bdquoSchwetzingen ndash Geschichte(n) einer Stadtldquo mit einem weiteren Band fort-zusetzen Eine positiv gestimmte Leserschaft waumlre garantiert

Harald Stockert

Simon EICHSTETTER Geschichte und Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzin-gen (17 Jhndash1927) ndash aktualisiert von HenriHeinrich BLOCH (1928ndash1938) ndash Transkrip-tion und Einfuumlhrung Frank-Uwe BETZ Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2017 110 S Abb Brosch EUR 1490 ISBN 978-3-95505-020-7

In dem kompakten Baumlndchen liegt eine bemerkenswerte Quellenedition vor in der umfangreiche Arbeit steckt Verantwortlich zeichnet der mit der regionalen Geschichts- und Erinnerungskultur vertraute Frank-Uwe Betz mit dem Arbeitskreis Freundliches

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Karlsruhe vor (S 17ndash67) waumlhrend Leonie RICHTER einen Blick auf die Biographien der bdquoStadtraumltinnen der Weimarer Jahreldquo wirft (S 181ndash196)

Viktor FICHTENAU und Elias HANSEN beschaumlftigen sich in ihren Aufsaumltzen mit den Geg-nern der Weimarer Demokratie d h mit der Karlsruher DNVP (S 141ndash161) bzw mit der bdquopolitische(n) Gewalt der NSDAP in Karlsruheldquo (S 163ndash180) Demgegenuumlber analysiert Bernd BRAUN wie seitens der badischen Staatsregierung und der Parteien der Weimarer Koalition im Rahmen der Verfassungsfeiern fuumlr ein republikanisch-demokratisches Be-wusstsein geworben wurde (S 117ndash140) Frank Engehausen zeigt auf wie die badische Regierung mit Hilfe von Aufmarsch- und Uniformverboten sowie auf der Grundlage der Bestimmungen des Straf- und Beamtenrechts versucht hat dem Aufstieg der National-sozialisten entgegenzutreten (S 89ndash115)

Der dritte Schwerpunkt des Bandes widmet sich dem Bereich Kunst und Kultur wobei insbesondere der Beitrag von Sven GAREIS zum Badischen Landestheater zu uumlberzeugen weiszlig (S 351ndash368) Das Hoftheater seit 1918 Landestheater hatte seine groszlige Bluumlte in der zweiten Haumllfte des 19 Jahrhunderts erlebt Doch bereits vor dem Ersten Weltkrieg war es finanziell in die Krise gerutscht Der Hof konnte das Defizit des Theaters durch seine Zuschuumlsse nicht mehr auffangen so dass neben dem Staat seit 1916 die Stadt Karls-ruhe einsprang Vor allem in den ersten Jahren der Weimarer Republik hatten die finan-ziellen Probleme in Verbindung mit den allgemeinen Versorgungsproblemen schwerwie- gende Folgen Im Winter 191819 musste das Landestheater aufgrund Kohlemangels seine Vorstellungen zeitweilig einstellen Waumlhrend der gesamten Weimarer Zeit so Gareis erwirtschaftete das Theater massive Defizite die teilweise die Millionengrenze uumlber-schritten Die Kosten wurden letztlich zwischen Staat und Stadt geteilt wobei die Stadt zunaumlchst die Haumllfte ab 1930 schlieszliglich 60 uumlbernahm Auch personelle Querelen in der ersten Haumllfte der 1920er Jahre erschwerten die Situation des Theaters

Trotz dieser Schwierigkeiten kommt Gareis insgesamt zu einer positiven Bewertung der Entwicklung des Theaters in den Jahren 1919ndash1933 So bildete die Schaffung einer Theaterakademie in Karlsruhe einen Neuansatz Als die Nachwuchskuumlnstler erstmals 1932 mit einem eigenen Programm an die Oumlffentlichkeit traten traf dies auf ein positives Echo beim Publikum Uumlberhaupt hatte das Landestheater bei der Karlsruher Bevoumllkerung einen guten Ruumlckhalt Die Teiluumlbernahme der Kosten fuumlr die Kulturinstitution durch die Stadt und auch das damit verbundene Defizit waren durchaus akzeptiert Das Programm des Theaters charakterisiert Gareis als bdquoohne groszlige Houmlhepunkte und Experimente aber dennoch mit Bemuumlhung um ein umfangreiches Angebotldquo (S 359) in jedem Fall wurde es vom Publikum anerkannt

Schlieszliglich beschritt das Theater neue Wege in der Vermarktung Hierzu gehoumlrten Gastkonzerte in Baden-Baden und Pforzheim aber auch die Einrichtung einer Buslinie nach Philippsburg speziell fuumlr Theaterbesuche Daneben schloss das Theater einen Ver-trag mit dem Suumlddeutschen Rundfunk zur Uumlbertragung von Buumlhnendarbietungen aber auch zur Werbung im Suumlddeutschen Rundfunk Im Rahmen der seit 1920 jeweils im Sep-tember veranstalteten bdquoBadischen Wochenldquo bildeten die Vorstellungen des Landestheaters Houmlhepunkte Hier wurden nunmehr vor allem Werke von Schriftstellern und Kompo- nisten aus Baden gespielt

Durch die Kooperation mit dem Verein Volksbuumlhne eV gelang es dem Landestheater schlieszliglich breitere Bevoumllkerungskreise zu erreichen

Die insgesamt positive Entwicklung des Karlsruher Landestheaters wurde freilich durch die NS-Machtuumlbernahme abgebrochen Schon am Beginn der 1930er Jahre hatte

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Andreas HENSEN zu den im 18 Jahrhundert durchgefuumlhrten Ausgrabungen im Schloss-garten mit den oben genannten Funden zur Roumlmer- und Merowingerzeit die das Selbst-bild von Kurfuumlrst und Hof als Traditionstraumlger fruumlherer Kulturen unterstuumltzten Kai BUDDE weist in seinem Beitrag schlieszliglich auf technische Innovationen am Schloss hin dessen Wasserwerk dem Versailler Vorbild folgte sowie auf die Bedeutung der Stern-warte als astronomisch-meteorologischem Forschungsort

Rein quantitativ dominiert im zweiten Band das Oberthema bdquoPolitikgeschichteldquo Joa-chim Kresin gibt einen guten Uumlberblick zur Entwicklung Schwetzingens im 19 Jahrhun-dert das 1803 als badische Amtsstadt eine neue Funktion erhaumllt und 1833 die Stadtrechte verliehen bekommt Parallel dazu steigt die wirtschaftliche Bedeutung des Ortes dank der Intensivierung der Sonderkulturen Hopfen Tabak und auch Spargel Frank ENGE-HAUSEN widmet sich der politischen Bedeutung Schwetzingens fuumlr das Groszligherzogtum Waumlhrend der Wahlkreis bis in die 1840er Jahre mit dem Abgeordneten Itzstein gewisser-maszligen an der Spitze des Fortschritts und der liberalen Opposition stand gewannen nach einer umstrittenen Wahl 1842 die konservativen Kraumlfte die Oberhand und behielten sie uumlber die folgenden Jahrzehnte Dennoch blieb auch Schwetzingen von der Revolution der Jahre 184849 nicht unberuumlhrt (Wilhelm KREUTZ) gab es hier doch mit dem Arzt Heinrich Tiedemann einen Hecker-Sympathisanten an prominenter Stelle Eine Konse-quenz der Niederschlagung der Revolution war auch hier eine verstaumlrkte Auswanderung Der Wegzug war freilich kein neues Phaumlnomen in der Ortsgeschichte wie Roland PAUL uumlberblicksartig herausarbeitet und unter anderem aumlltere Schwetzinger Spuren in den USA Russland Juumltland sowie in Bayern vorstellt Es folgen Beitraumlge uumlber die Zeit Schwetzin-gens in den beiden Weltkriegen (Karl-Heinz SOumlHNER) der auf deren tiefe Einschnitte fuumlr den Ort hinweist sowie ndash ausgesprochen militaumlrtechnokratisch ndash zur Geschichte der 1938 eingerichteten Panzerkaserne (Karlheinz MUumlNCH) Etwas aus dem Rahmen faumlllt der Bei-trag von Cord ARENDES zur Geschichte Schwetzingens in der Zeit des Nationalsozialis-mus Gekonnt beschreibt hier der Autor moderne Herangehensweisen und methodische Fragestellungen zur Erforschung der NS-Zeit auf lokaler Basis so die Bedeutung von Sprache von Bildern wie auch deren notwendige Kontextualisierung Dies zeichnet er anhand der Inszenierung der nationalsozialistischen bdquoVolksgemeinschaftldquo sowie des Schwetzinger Spargelfestes beispielhaft nach Diese Schlaglichter sind ausgesprochen erhellend allerdings waumlre in einem Werk wie dem vorliegenden ein eher faktenorientier-ter Uumlberblick zur NS-Zeit aus Sicht des Rezensenten wuumlnschenswert gewesen Wie ver-gleichsweise gut das Schicksal von Zwangsarbeitern in Schwetzingen erforscht ist zeigt der Beitrag von Irene WACHTEL Gestuumltzt auf eine Datenbank mit uumlber 1500 Namen (die nach Einschaumltzung der Autorin nur die bdquoSpitze des Eisbergsldquo darstellen Band 2 S 183) gelingt es ihr dieses Thema nicht nur quantitativ zu fassen sondern auch den Blick auf Zwangsarbeiter einsetzende Betriebe Lebensbedingungen vor Ort und nicht zuletzt auf Einzelschicksale freizugeben Schwetzingen zeigt sich bei der Aufarbeitung dieses The-mas als ausgesprochen vorbildlich fuumlr eine Stadt dieser Groumlszlige Die Guumlte und Tiefe dieses Beitrags kontrastiert etwas irritierend mit dem uumlber Heimatvertriebene in Schwetzingen (Peter KAISER) der nicht einmal zwei Seiten einnimmt

Das Oberthema bdquoWirtschaftsgeschichteldquo wird im Wesentlichen von Lars Maurer bearbeitet Mit der Anbindung Schwetzingens an das Eisenbahn- und Straszligenbahnnetz (Rheinbahn 1870 Strecke HeidelbergndashSpeyer 1873 Strecke SchwetzingenndashFriedrichs-feld 1880) identifiziert er den maszliggeblichen Beschleuniger fuumlr die Industrialisierung der Stadt Am Knotenpunkt Schwetzingen siedeln sich zudem ab 1913 die Eisenbahn-

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das NS-Organ bdquoDer Fuumlhrerldquo einen Skandal am Landestheater (ein Ballettmeister hatte ein Verhaumlltnis mit zwei Taumlnzerinnen) weidlich ausgeweitet Unmittelbar nach der NS-Machtuumlbernahme in Karlsruhe entlieszlig der kommissarische NS-Kultusminister Otto Wacker (1899ndash1940) den Intendanten sowie alle juumldischen Schauspieler denen pauschal der Bezug uumlberhoumlhter Gehaumllter vorgeworfen wurde

Ebenfalls bereits im April 1933 wurde durch Wacker im Zusammenspiel mit dem neuen Direktor der Kunsthalle Hans-Adolf Buumlhler (1877ndash1951) die sogenannte bdquoSchand-ausstellungldquo bdquoRegierungskunst 1918ndash1933ldquo inszeniert die nach Uumlberzeugung Engehau-sens eine dreifache Stoszligrichtung hatte (vgl die Ausfuumlhrungen Engehausens S 399ndash411) So sollte den Weimarer Regierungen vorgeworfen werden fuumlr schlechte Kunst Steuer-mittel verschwendet zu haben Auch sollten die personellen bdquoSaumluberungenldquo im Kunst- betrieb begruumlndet werden genauso wie mittels der Ausstellung die Abwendung der staat-lichen Kunstfoumlrderung von der Unterstuumltzung der Moderne eingelaumlutet werden sollte

Gleich zu Beginn seiner Amtszeit setzte Wacker die Leiterin der Kunsthalle Lilli Fischel (1891ndash1978) ab und ersetzte sie durch Buumlhler der bereits im bdquoKampfbund fuumlr deutsche Kulturldquo gewirkt hatte Fischel wurde zur Last gelegt zeitgenoumlssische Kuumlnstler aus Baden nicht protegiert zu haben zudem missfiel Wacker dass Fischel moderne insbesondere impressionistische Kunst bei ihren Erwerbungen bevorzugt hatte Fuumlr Wacker war Kunstpolitik in der Folge bdquoChefsacheldquo (S 401) Durch Buumlhler lieszlig er sich bereits im Maumlrz durch die bislang gezeigte Ausstellung zu Emil Bizer fuumlhren wobei Buumlhler die Arbeiten Bizers als bdquoBelanglosigkeitldquo (S 402) abqualifiziert und polemisch davon sprach Kunstbolschewismus werde zukuumlnftig beseitigt Die Ausfuumlhrungen Wackers und Buumlhlers flankierte bdquoDer Fuumlhrerldquo durch Polemiken gegen die Entwicklung der Kunsthalle seit 1921

Ab 8 April 1933 organisierte Buumlhler dann auch eine Zusammenstellung von als bolschewistisch und krankhaft diffamierter Bilder die von den Weimarer Regierungen angekauft wurden und in deren Rahmen u a 18 Bilder und 79 Zeichnungen von Max Slevogt Karl Hofer Emil Bizer Hans Purrmann Edvard Munch Otto Dix und Paul Nolde gezeigt wurden Um die Weimarer Regierungen zu diskreditieren wurde der Preis und der Name des jeweils fuumlr die Erwerbung verantwortlichen Ministers aufgefuumlhrt waumlh-rend gleichzeitig der bdquoFuumlhrerldquo wie auch die inzwischen gleichgeschaltete Karlsruher Zei-tung kraumlftig gegen die gezeigten Kunstwerke polemisierten Eine Kritik der Ausstellung musste schon allein deshalb ausfallen da wie Engehausen aufzeigt die Blaumltter von Zen-trum und Sozialdemokratie zum Zeitpunkt der Ausstellungseroumlffnung verboten waren

Fuumlr Wacker und Buumlhler als Initiatoren der Ausstellung hatte diese unterschiedliche Folgen Wacker konnte sich innerhalb des NS-Systems profilieren Durch offenbar hohe Besucherzahlen wie auch angesichts aumlhnlicher Ausstellungen in anderen Mittelstaaten praumlgte Wacker 1933 die NS-Kunstpolitik gleichsam mit was ihm die endguumlltige Bestal-lung als Kultusminister und uumlbergangsweise auch die Leitung des Justizministeriums einbrachte Buumlhler konnte sich dagegen nicht dauerhaft als Leiter der Kunsthalle halten Dies hing u a damit zusammen dass er im Rahmen der bdquoSchandausstellungldquo auch Werke von Alexander Kanoldt (1881ndash1939) gezeigt hatte Dieser war jedoch seit 1932 NSDAP-Mitglied und war im Fruumlhjahr 1933 zum Direktor der Berliner Hochschule der Bildenden Kuumlnste aufgestiegen Selbstverstaumlndlich beklagte sich Kanoldt beim badischen Kultus-ministerium uumlber Buumlhler dem er auch mit Blick auf andere in der bdquoSchandausstellungldquo gezeigten Kunstwerke fehlende Sachkompetenz nachwies 1934 musste Buumlhler seinen Posten an der Spitze der Kunsthalle raumlumen nachdem er ein Gemaumllde von Munch das

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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ebenfalls in der bdquoSchandausstellungldquo praumlsentiert worden war veraumluszligert hatte und es hieruumlber zu oumlffentlicher Empoumlrung gekommen war

Die Autoren legen einen lesenswerten Sammelband zu bislang noch nicht in diesem Maszlige gewuumlrdigten Aspekten der Karlsruher Stadtgeschichte waumlhrend der Weimarer Jahre vor zugleich gibt die abschlieszligende Auswahlbibliographie (S 484ndash491) Hinweise fuumlr eine weitere wissenschaftliche Vertiefung

Michael Kitzing

Peter KALCHTHALER Robert NEISEN Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Nationalsozia-lismus in Freiburg Begleitbuch zur Ausstellung des Augustinermuseums in Koopera-tion mit dem Stadtarchiv Petersberg Imhof 2016 286 S Abb Brosch EUR 2480 ISBN 978-3-7319-0362-8

Peter KALCHTHALER Tilmann VON STOCKHAUSEN (Hg) Freiburg im Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Badischen Heimat Bd 12) Freiburg Rombach 2017 191 S Abb Brosch EUR 26ndash ISBN 978-3-7930-5163-3

Beide vorzustellende Publikationen stehen im Zusammenhang mit der groszligen stadt-geschichtlichen Ausstellung die das Freiburger Augustinermuseum in Zusammenarbeit mit dem Freiburger Stadtarchiv von November 2016 bis zum Oktober 2017 gezeigt hat Dabei bildet gerade der als Begleitbuch konzipierte Ausstellungskatalog bdquoNationalsozia-lismus in Freiburgldquo eine sinnvolle Ergaumlnzung zur Ausstellung die wie heutzutage uumlblich vor allem zahlreiche Objekte und wenig erlaumluternden Text praumlsentierte Nicht immer so die vielleicht antiquierte Auffassung des Rezensenten (und Ausstellungsbesuchers) erschlieszligen sich daraus fuumlr den durchschnittlich informierten Betrachter hinreichend die zeithistorischen Zusammenhaumlnge Umso erfreulicher ist es dass der von Kalchthaler Neisen und Stockhausen herausgegebene Band opulent mit Abbildungen ausgestattet hier Abhilfe schafft Bevor bdquoausgewaumlhlte Objekte Themen und Personenldquo die in der Ausstellung praumlsentiert wurden naumlher erlaumlutert werden sind fuumlnf kuumlrzere Aufsaumltze vorangestellt Heiko HAUMANN skizziert die Geschichte Freiburgs in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus Ulrich HERBERT wiederum ordnet die lokalhisto-rischen Ereignisse insofern ein als dass sein Beitrag einen Blick auf bdquodie deutsche Gesellschaft im sbquoDritten Reichlsquoldquo wirft Sinnvoll ist auch der Verweis auf den Versailler Friedensvertrag und das damit verbundene sbquonationale Traumalsquo Damit verbunden so Joumlrn LEONHARD waren von Beginn an bdquodie Anhaumlnger der jungen Republik in eine defensive Position gedraumlngtldquo (S 33) was den steten Aufstieg der radikalen Rechten beguumlnstigte Die beiden abschlieszligenden Aufsaumltze widmen sich wieder Freiburger Per-spektiven Bernd MARTIN untersucht das Milieu der Freiburger Intelligenz mit ihren besonderen politischen und konfessionellen Grenzziehungen Unter den Bedingungen einer bdquoselbst gleichgeschalteten katholischen Kirche einer radikal umgestalteten Uni-versitaumltldquo (S 37) und dem Machtgewinn der sogenannten sbquoDeutschen Christenlsquo innerhalb des Protestantismus konnte sich mit dem bdquoFreiburger Kreisldquo eine kleine Gruppe evan-gelischer Universitaumltsprofessoren bilden die sich schlieszliglich dem buumlrgerlichen Wider-stand gegen den Nationalsozialismus anzuschlieszligen suchte Heinrich SCHWENDEMANN wiederum gibt einen knappen Uumlberblick uumlber den Verlauf der Entrechtung Diskriminie-rung und Verfolgung (auch) der Freiburger Juumldinnen und Juden der schlieszliglich in der Deportation der in der Stadt Verbliebenen in das franzoumlsische Camp de Gurs und von dort meist in das Vernichtungslager Auschwitz gipfelte In den nachfolgenden kurzen

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fessionsgeschichte und hier vor allem der im 18 Jahrhundert erfolgte Bau der Gottes-haumluser die Schwetzingen seine heute noch praumlgende Silhouette verleihen werden von Otto THILEMANN (Katholiken) bzw Johanna BAUMANN (Protestanten) behandelt Otto GLOumlCKLER beschaumlftigt sich mit der Geschichte der Juden dabei sehr stark fokussierend auf die Ausgrenzungs- und Verfolgungsgeschichte im 20 Jahrhundert und anhand von Einzelschicksalen Gleich mehrere Beitraumlge sind der Geschichte des Schlosses gewidmet Peter KNOCH und Robert ERB stellen in ihrem etwas unkonventionell gegliederten den-noch bemerkenswerten Beitrag aktuelle archaumlologische Forschungsergebnisse zur Bau-geschichte vor durch die manche bislang nur archivalisch eher pauschal begruumlndete Datierung mittels dendrochronologischer Untersuchungen des Bauholzes praumlzisiert und teilweise auch korrigiert werden konnte Demnach wurde etwa mit den Bauten um den Schlosshof (170910 statt 1711) wie auch des Theaters (175051 statt 1752) fruumlher begon-nen als bisher angenommen Stadtbaugeschichte beschreibt Joachim Kresin mit seinen Ausfuumlhrungen uumlber die Entstehung der Schwetzinger Neustadt um den Schlossplatz ab 1748 der dem Ort ein voumlllig neues Gepraumlge gab und an fruumlhneuzeitliche Planstaumldte erinnert Spannend aber nicht weiter ausgefuumlhrt erscheint in diesem Zusammenhang die Frage warum Schwetzingen in jener Zeit nicht die Stadtrechte verliehen bekam und lediglich den Rechtstatus eines weniger privilegierten Marktfleckens erhielt Untrennbar mit dem Schloss verbunden ist der zugehoumlrige Garten dessen Entwicklung die uumlber das Jahr 1778 hinausreicht detailliert und kenntnisreich von Uta SCHMITT beschrieben wird (auch wenn man nicht ihre Einschaumltzung teilen mag dass Schwetzingen von 1720 bis 1731 alleinige Residenz der Kurpfalz gewesen ist S 124)

Das zweite Oberthema gilt der fruumlhen Besiedlung und Entwicklung von Schwetzingen Hier wird gezeigt dass die Geschichte des Ortes eben nicht mit der Ersterwaumlhnung im Lorscher Kodex beginnt Hiervon zeugen diverse archaumlologische Funde etwa aus der Jungsteinzeit (vgl Beitrag von Claudia GERLING zur Bandkeramikkultur) wie auch aus der Roumlmer- wie der Merowingerzeit Im 6 Jahrhundert und damit mehr als 200 Jahre vor der Lorscher Erwaumlhnung gab es demnach einen fraumlnkischen Militaumlrstuumltzpunkt auf der heutigen Gemeindegemarkung (Ursula KOCH) Das Dokument das den Anlass fuumlr das Jubilaumlum wie auch fuumlr den vorliegenden Band bot wird von Hermann SCHEFERS beschrie-ben und analysiert Demzufolge war Agana die dem Kloster Lorsch ihren Grundbesitz in bdquosuezzingenldquo schenkte vermutlich keine Ortsansaumlssige und damit keine Schwetzin-gerin was freilich 2016 die Feiernden nicht davon abhielt sich als ihre Nachfahren zu sehen Der mit uumlber fuumlnfzig Seiten bei weitem umfangreichste Beitrag entstammt der Feder von Stefan BAUST der die Entwicklung Schwetzingens im Mittelalter sehr quel-lennah und ausgesprochen dicht beschreibt Hier zeigt sich das sehr breite Spektrum in der fachlichen Tiefe der Beitraumlge waumlhrend hier annaumlhend 300 Fuszlignoten aufgelistet sind finden sich in anderen Faumlllen nur knapp ein Dutzend

bdquoKurpfaumllzischer Hof und Residenzstadtldquo lautet das letzte Oberthema des ersten Bandes Stefan Moumlrz gilt landlaumlufig als der Experte zur Carl-Theodor-Zeit in der Kurpfalz und wird diesem Ruf auch in seinem Beitrag zur houmlfischen Welt bdquozwischen Absolutismus und Aufklaumlrungldquo gerecht Schwetzingen war im Sommer das beliebte Refugium von Kur-fuumlrst und Hofstaat und damit auch ein kleines Abbild des Mannheimer Hofes der als ein kulturelles und wissenschaftliches Zentrum von nationalem Rang gelten konnte Dies zeigte sich etwa im 1752 erbauten Schwetzinger Rokokotheater das einen eindrucks- vollen Spielplan aufweisen konnte und zum Anziehungspunkt einer ganzen Kolonie von Musikanten avancierte (Baumlrbel PELKER) Spannend zu lesen sind die Ausfuumlhrungen von

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Beitraumlgen wird nicht nur die Deportation der Freiburger Juumldinnen und Juden nach Gurs nochmals eigens aufgegriffen es werden zahlreiche recht unterschiedliche Themen behandelt wie etwa die Verfolgung der Freiburger Homosexuellen oder die 1938 erfolgte Zwangseingemeindung St Georgens Aus verschiedenen Perspektiven werden Vorge-schichte Aufstieg und die Machtdurchsetzung des Nationalsozialismus gezeigt sowie zahlreiche Facetten von Inszenierung und Heilsversprechen auf der einen Seite Diskri-minierung Herabwuumlrdigung und Verfolgung auf der anderen Seite beleuchtet Sehr zahl-reich finden sich auch Einzelbiographien Vordenker Taumlter und Mitlaumlufer Verfolgte Beschaumldigte Opfer ndash im Einzelnen freilich nicht immer zweifelsfrei und unumstritten zuzuordnen

Der Band bdquoNationalsozialismus in Freiburgldquo ist ebenfalls im Kontext der Ausstellung entstanden und versammelt einige der Beitraumlge die im Rahmen zweier Vortragreihen praumlsentiert wurden Sie beschreiben nicht nur den beziehungsweise die bdquoWeg(e) zu einer Ausstellungldquo wie es im Titel des einfuumlhrenden Beitrages von Robert Neisen heiszligt son-dern ergaumlnzen und vertiefen wichtige Themen und Fragestellungen Heiko HAUMANN widmet sich ausfuumlhrlich der Verfolgung der Sinti und geht auf einzelne Verfolgungs-schicksale Ortsansaumlssiger ein Auch in Freiburg und Umgebung wurden Sinti-Familien bdquorassischldquo erfasst einzelne Maumlnner zwangssterilisiert und die Familien schlieszliglich in die Vernichtungslager verschleppt Zu Recht verweist der Autor auf die beschaumlmende Tat- sache des Weiterlebens antiziganistischer Vorurteile bis in die Nachkriegszeit so etwa durch die bis in die fruumlhen 1960er Jahre erfolgten Bemuumlhungen der Freiburger Stadt- verwaltung den Zuzug von bdquoZigeunernldquo nach Freiburg zu unterbinden Weitere Studien befassen sich mit der bdquoFaszlignacht in Freiburg zwischen Volksbrauch und sbquoVolkstumlsquoldquo (Peter KALCHTHALER) der Baupolitik in der NS-Zeit und ihren Auswirkungen auf die staumldtebauliche Entwicklung (Heinrich SCHWENDEMANN) mit dem Volkskundler Johannes Kuumlnzig (Werner MEZGER) und dem Augustinermuseum im Nationalsozialismus (Tilmann VON STOCKHAUSEN) Karl-Heinz LEVEN widmet sich der Darstellung der Rolle der Me-dizinischen Fakultaumlt waumlhrend der NS-Zeit Hier geht er unter anderem auf die Personalie des KZ-Arztes Waldemar Hoven ein der 1943 an dieser Fakultaumlt promovierte Sein Bei-spiel zeigt bdquodass die Freiburger Medizinische Fakultaumlt von den KZ-Versuchen nicht nur wusste sondern keine Bedenken trug eine derartige Dissertation zu akzeptierenldquo (S 96) Der Fall Hoven das sei hier am Rande angemerkt wurde auch in der Ausstellung und im Begleitband thematisiert Zwei Beitraumlge zeigen wie schwierig das historische Urteil zu zwei so bekannten wie umstrittenen Freiburger Akteuren auch heute noch faumlllt Chris-toph SCHMIDER breitet den Verlauf der Debatte um das Verhaumlltnis des seinerzeitigen Erz-bischofs Conrad Groumlber zum Nationalsozialismus aus Bemuumlht kein abschlieszligendes Urteil zur Rolle Groumlbers geben zu wollen werden auch die schwierigen Punkte in Grouml-bers Biographie nicht ausgeklammert Dass die Debatte wohl noch zu keinem Schluss gekommen ist verdeutlicht nicht zuletzt die Nachbemerkung Schmiders in der er auf eine zwischenzeitlich erfolgte Publikation hinweist die eine schaumlrfere Verurteilung Groumlbers einfordert Nicht weniger umstritten ist auch die Personalie Martin Heideggers Ruumldiger SAFRANSKI vertritt hier die These dass die antisemitischen Texte Heideggers zwar bdquoAspekteldquo seien die zum Bild dazu gehoumlrten aber bdquomehr nichtldquo (S 133) Es ist ein durchschaubarer Versuch der beilaumlufigen Ehrenrettung des Philosophen der sich tief mit dem Nationalsozialismus eingelassen hat und dessen im Mai 1933 erfolgte Antrittsrede an der Freiburger Universitaumlt Christian Graf von Krockow einmal treffend als bdquoVer- flachung durch Tiefsinnldquo charakterisiert hat Alles in allem zeigen die Beitraumlge beider

796 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 796

Publikationen die Ausdifferenzierung der historischen Forschung verweisen aber auch auf Desiderata und anhaltende Kontroversen Nicht zuletzt zeugen beide Titel und das seinerzeit groszlige oumlffentliche Interesse an der Ausstellung von der anhaltenden geschichts-politischen Brisanz und der Notwendigkeit mit der Aufarbeitung und der Auseinander-setzung mit der NS-Geschichte gerade auf regionaler Ebene fortzufahren

Christoph Kopke

Stadt Schwetzingen (Hg) Schwetzingen Geschichte(n) einer Stadt 2 Baumlnde (Schwet-

zinger historische Schriften Bd 1) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2016 und 2018 XI 318 XI 441 S zahlr Abb geb EUR 2280 und 2980 ISBN 978-3-89735-984-0 und 978-3-89735-985-7

Wie zahlreiche andere Gemeinden der Region nahm auch Schwetzingen seine Erst- erwaumlhnung vor 1250 Jahren zum Anlass ein opulentes Jubilaumlum mit zahlreichen Feier-lichkeiten zu begehen Dabei nutzte die Spargelstadt die Gelegenheit nicht nur auf die Ortsgeschichte zuruumlckzublicken sondern diese auch wissenschaftlich aufzuarbeiten Herausgekommen ist ein bemerkenswerter Doppelband dessen ersterer im Wesentlichen der Zeit bis etwa 1800 gewidmet ist waumlhrend der zweite die Entwicklung des modernen Schwetzingen beschreibt Bewusst haben sich dabei die Bearbeiter Joachim KRESIN und Lars MAURER gegen eine strikte chronologische Struktur entschieden Stattdessen wird die Geschichte des Orts in insgesamt 39 Einzelbeitraumlgen meist unterschiedlicher Auto-rinnen und Autoren erarbeitet die jeweils eigene Themenschwerpunkte verfolgen und unabhaumlngig voneinander sind Ergaumlnzt werden diese Kapitel von sogenannten Fenster-texten (in der Regel zwei bis drei Seiten) die entweder Personenportraumlts oder aber klei-nere mit dem jeweiligen Hauptkapitel sachverwandte Exkurse beinhalten Dabei weisen die Bearbeiter darauf hin dass sowohl Akademikerinnen und Akademiker wie auch kenntnisreiche Heimatforscherinnen und -forscher als Beitragende gewonnen werden konnten ndash ein Faktum das eine gewisse Diskrepanz (Formulierungen Anmerkungs- apparate) der Beitraumlge untereinander zu erklaumlren vermag

Diese Herangehensweise offenbart Staumlrken und Schwaumlchen gleichermaszligen So werden die meisten zentralen Themen der Stadtgeschichte gut abgehandelt Zusaumltzlich gibt es Raum fuumlr Einzelaspekte die nun geschlossen dargestellt werden (z B Geschichte des Spargels des Hardtwalds der Kirchen in Schwetzingen) ndash mithin Themen die Gefahr laufen in einer strikt chronologischen Darstellung erwaumlhnt aber nicht hinreichend ge-wuumlrdigt zu werden Auf diese Weise wird die Geschichte Schwetzingens hauptsaumlchlich in Geschichten erzaumlhlt was so die Bearbeiter ein bdquoLesen nach Bedarfldquo (Band I S VIII) ermoumlglicht Demgegenuumlber birgt dieses kleinteilige Konzept freilich auch die Gefahren von Redundanzen in sich (z B wird die Ersterwaumlhnung 766 mehrmals dargestellt) aber auch von inhaltlichen Luumlcken So wird beispielsweise der Sozialgeschichte Schwetzin-gens im 19 aber auch im 20 Jahrhundert wenig Raum geboten ebenso der Geschichte der Stadt in der Weimarer Zeit sowie seit 1945 (z B wie wurde gewaumlhlt wer waren die (Ober-)Buumlrgermeister bzw politischen Mandatstraumlger wie entwickelte sich die Bevoumll-kerung ndash Stichwort Migration)

Als Gliederung der Beitraumlge dienen Oberthemen startend im ersten Band mit bdquoGe-schichtliche Grundlagen ndash ein Uumlberblickldquo Einleitend gibt hier Joachim Kresin einen kurzen Abriss der Ortsgeschichte ehe Stefan MOumlRZ den politischen Rahmen von Schwet-zingen als Teil der Kurpfalz im Mittelalter und der Fruumlhen Neuzeit absteckt Die Kon-

797Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 797

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Publikationen die Ausdifferenzierung der historischen Forschung verweisen aber auch auf Desiderata und anhaltende Kontroversen Nicht zuletzt zeugen beide Titel und das seinerzeit groszlige oumlffentliche Interesse an der Ausstellung von der anhaltenden geschichts-politischen Brisanz und der Notwendigkeit mit der Aufarbeitung und der Auseinander-setzung mit der NS-Geschichte gerade auf regionaler Ebene fortzufahren

Christoph Kopke

Stadt Schwetzingen (Hg) Schwetzingen Geschichte(n) einer Stadt 2 Baumlnde (Schwet-

zinger historische Schriften Bd 1) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2016 und 2018 XI 318 XI 441 S zahlr Abb geb EUR 2280 und 2980 ISBN 978-3-89735-984-0 und 978-3-89735-985-7

Wie zahlreiche andere Gemeinden der Region nahm auch Schwetzingen seine Erst- erwaumlhnung vor 1250 Jahren zum Anlass ein opulentes Jubilaumlum mit zahlreichen Feier-lichkeiten zu begehen Dabei nutzte die Spargelstadt die Gelegenheit nicht nur auf die Ortsgeschichte zuruumlckzublicken sondern diese auch wissenschaftlich aufzuarbeiten Herausgekommen ist ein bemerkenswerter Doppelband dessen ersterer im Wesentlichen der Zeit bis etwa 1800 gewidmet ist waumlhrend der zweite die Entwicklung des modernen Schwetzingen beschreibt Bewusst haben sich dabei die Bearbeiter Joachim KRESIN und Lars MAURER gegen eine strikte chronologische Struktur entschieden Stattdessen wird die Geschichte des Orts in insgesamt 39 Einzelbeitraumlgen meist unterschiedlicher Auto-rinnen und Autoren erarbeitet die jeweils eigene Themenschwerpunkte verfolgen und unabhaumlngig voneinander sind Ergaumlnzt werden diese Kapitel von sogenannten Fenster-texten (in der Regel zwei bis drei Seiten) die entweder Personenportraumlts oder aber klei-nere mit dem jeweiligen Hauptkapitel sachverwandte Exkurse beinhalten Dabei weisen die Bearbeiter darauf hin dass sowohl Akademikerinnen und Akademiker wie auch kenntnisreiche Heimatforscherinnen und -forscher als Beitragende gewonnen werden konnten ndash ein Faktum das eine gewisse Diskrepanz (Formulierungen Anmerkungs- apparate) der Beitraumlge untereinander zu erklaumlren vermag

Diese Herangehensweise offenbart Staumlrken und Schwaumlchen gleichermaszligen So werden die meisten zentralen Themen der Stadtgeschichte gut abgehandelt Zusaumltzlich gibt es Raum fuumlr Einzelaspekte die nun geschlossen dargestellt werden (z B Geschichte des Spargels des Hardtwalds der Kirchen in Schwetzingen) ndash mithin Themen die Gefahr laufen in einer strikt chronologischen Darstellung erwaumlhnt aber nicht hinreichend ge-wuumlrdigt zu werden Auf diese Weise wird die Geschichte Schwetzingens hauptsaumlchlich in Geschichten erzaumlhlt was so die Bearbeiter ein bdquoLesen nach Bedarfldquo (Band I S VIII) ermoumlglicht Demgegenuumlber birgt dieses kleinteilige Konzept freilich auch die Gefahren von Redundanzen in sich (z B wird die Ersterwaumlhnung 766 mehrmals dargestellt) aber auch von inhaltlichen Luumlcken So wird beispielsweise der Sozialgeschichte Schwetzin-gens im 19 aber auch im 20 Jahrhundert wenig Raum geboten ebenso der Geschichte der Stadt in der Weimarer Zeit sowie seit 1945 (z B wie wurde gewaumlhlt wer waren die (Ober-)Buumlrgermeister bzw politischen Mandatstraumlger wie entwickelte sich die Bevoumll-kerung ndash Stichwort Migration)

Als Gliederung der Beitraumlge dienen Oberthemen startend im ersten Band mit bdquoGe-schichtliche Grundlagen ndash ein Uumlberblickldquo Einleitend gibt hier Joachim Kresin einen kurzen Abriss der Ortsgeschichte ehe Stefan MOumlRZ den politischen Rahmen von Schwet-zingen als Teil der Kurpfalz im Mittelalter und der Fruumlhen Neuzeit absteckt Die Kon-

797Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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fessionsgeschichte und hier vor allem der im 18 Jahrhundert erfolgte Bau der Gottes-haumluser die Schwetzingen seine heute noch praumlgende Silhouette verleihen werden von Otto THILEMANN (Katholiken) bzw Johanna BAUMANN (Protestanten) behandelt Otto GLOumlCKLER beschaumlftigt sich mit der Geschichte der Juden dabei sehr stark fokussierend auf die Ausgrenzungs- und Verfolgungsgeschichte im 20 Jahrhundert und anhand von Einzelschicksalen Gleich mehrere Beitraumlge sind der Geschichte des Schlosses gewidmet Peter KNOCH und Robert ERB stellen in ihrem etwas unkonventionell gegliederten den-noch bemerkenswerten Beitrag aktuelle archaumlologische Forschungsergebnisse zur Bau-geschichte vor durch die manche bislang nur archivalisch eher pauschal begruumlndete Datierung mittels dendrochronologischer Untersuchungen des Bauholzes praumlzisiert und teilweise auch korrigiert werden konnte Demnach wurde etwa mit den Bauten um den Schlosshof (170910 statt 1711) wie auch des Theaters (175051 statt 1752) fruumlher begon-nen als bisher angenommen Stadtbaugeschichte beschreibt Joachim Kresin mit seinen Ausfuumlhrungen uumlber die Entstehung der Schwetzinger Neustadt um den Schlossplatz ab 1748 der dem Ort ein voumlllig neues Gepraumlge gab und an fruumlhneuzeitliche Planstaumldte erinnert Spannend aber nicht weiter ausgefuumlhrt erscheint in diesem Zusammenhang die Frage warum Schwetzingen in jener Zeit nicht die Stadtrechte verliehen bekam und lediglich den Rechtstatus eines weniger privilegierten Marktfleckens erhielt Untrennbar mit dem Schloss verbunden ist der zugehoumlrige Garten dessen Entwicklung die uumlber das Jahr 1778 hinausreicht detailliert und kenntnisreich von Uta SCHMITT beschrieben wird (auch wenn man nicht ihre Einschaumltzung teilen mag dass Schwetzingen von 1720 bis 1731 alleinige Residenz der Kurpfalz gewesen ist S 124)

Das zweite Oberthema gilt der fruumlhen Besiedlung und Entwicklung von Schwetzingen Hier wird gezeigt dass die Geschichte des Ortes eben nicht mit der Ersterwaumlhnung im Lorscher Kodex beginnt Hiervon zeugen diverse archaumlologische Funde etwa aus der Jungsteinzeit (vgl Beitrag von Claudia GERLING zur Bandkeramikkultur) wie auch aus der Roumlmer- wie der Merowingerzeit Im 6 Jahrhundert und damit mehr als 200 Jahre vor der Lorscher Erwaumlhnung gab es demnach einen fraumlnkischen Militaumlrstuumltzpunkt auf der heutigen Gemeindegemarkung (Ursula KOCH) Das Dokument das den Anlass fuumlr das Jubilaumlum wie auch fuumlr den vorliegenden Band bot wird von Hermann SCHEFERS beschrie-ben und analysiert Demzufolge war Agana die dem Kloster Lorsch ihren Grundbesitz in bdquosuezzingenldquo schenkte vermutlich keine Ortsansaumlssige und damit keine Schwetzin-gerin was freilich 2016 die Feiernden nicht davon abhielt sich als ihre Nachfahren zu sehen Der mit uumlber fuumlnfzig Seiten bei weitem umfangreichste Beitrag entstammt der Feder von Stefan BAUST der die Entwicklung Schwetzingens im Mittelalter sehr quel-lennah und ausgesprochen dicht beschreibt Hier zeigt sich das sehr breite Spektrum in der fachlichen Tiefe der Beitraumlge waumlhrend hier annaumlhend 300 Fuszlignoten aufgelistet sind finden sich in anderen Faumlllen nur knapp ein Dutzend

bdquoKurpfaumllzischer Hof und Residenzstadtldquo lautet das letzte Oberthema des ersten Bandes Stefan Moumlrz gilt landlaumlufig als der Experte zur Carl-Theodor-Zeit in der Kurpfalz und wird diesem Ruf auch in seinem Beitrag zur houmlfischen Welt bdquozwischen Absolutismus und Aufklaumlrungldquo gerecht Schwetzingen war im Sommer das beliebte Refugium von Kur-fuumlrst und Hofstaat und damit auch ein kleines Abbild des Mannheimer Hofes der als ein kulturelles und wissenschaftliches Zentrum von nationalem Rang gelten konnte Dies zeigte sich etwa im 1752 erbauten Schwetzinger Rokokotheater das einen eindrucks- vollen Spielplan aufweisen konnte und zum Anziehungspunkt einer ganzen Kolonie von Musikanten avancierte (Baumlrbel PELKER) Spannend zu lesen sind die Ausfuumlhrungen von

798 Buchbesprechungen

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Andreas HENSEN zu den im 18 Jahrhundert durchgefuumlhrten Ausgrabungen im Schloss-garten mit den oben genannten Funden zur Roumlmer- und Merowingerzeit die das Selbst-bild von Kurfuumlrst und Hof als Traditionstraumlger fruumlherer Kulturen unterstuumltzten Kai BUDDE weist in seinem Beitrag schlieszliglich auf technische Innovationen am Schloss hin dessen Wasserwerk dem Versailler Vorbild folgte sowie auf die Bedeutung der Stern-warte als astronomisch-meteorologischem Forschungsort

Rein quantitativ dominiert im zweiten Band das Oberthema bdquoPolitikgeschichteldquo Joa-chim Kresin gibt einen guten Uumlberblick zur Entwicklung Schwetzingens im 19 Jahrhun-dert das 1803 als badische Amtsstadt eine neue Funktion erhaumllt und 1833 die Stadtrechte verliehen bekommt Parallel dazu steigt die wirtschaftliche Bedeutung des Ortes dank der Intensivierung der Sonderkulturen Hopfen Tabak und auch Spargel Frank ENGE-HAUSEN widmet sich der politischen Bedeutung Schwetzingens fuumlr das Groszligherzogtum Waumlhrend der Wahlkreis bis in die 1840er Jahre mit dem Abgeordneten Itzstein gewisser-maszligen an der Spitze des Fortschritts und der liberalen Opposition stand gewannen nach einer umstrittenen Wahl 1842 die konservativen Kraumlfte die Oberhand und behielten sie uumlber die folgenden Jahrzehnte Dennoch blieb auch Schwetzingen von der Revolution der Jahre 184849 nicht unberuumlhrt (Wilhelm KREUTZ) gab es hier doch mit dem Arzt Heinrich Tiedemann einen Hecker-Sympathisanten an prominenter Stelle Eine Konse-quenz der Niederschlagung der Revolution war auch hier eine verstaumlrkte Auswanderung Der Wegzug war freilich kein neues Phaumlnomen in der Ortsgeschichte wie Roland PAUL uumlberblicksartig herausarbeitet und unter anderem aumlltere Schwetzinger Spuren in den USA Russland Juumltland sowie in Bayern vorstellt Es folgen Beitraumlge uumlber die Zeit Schwetzin-gens in den beiden Weltkriegen (Karl-Heinz SOumlHNER) der auf deren tiefe Einschnitte fuumlr den Ort hinweist sowie ndash ausgesprochen militaumlrtechnokratisch ndash zur Geschichte der 1938 eingerichteten Panzerkaserne (Karlheinz MUumlNCH) Etwas aus dem Rahmen faumlllt der Bei-trag von Cord ARENDES zur Geschichte Schwetzingens in der Zeit des Nationalsozialis-mus Gekonnt beschreibt hier der Autor moderne Herangehensweisen und methodische Fragestellungen zur Erforschung der NS-Zeit auf lokaler Basis so die Bedeutung von Sprache von Bildern wie auch deren notwendige Kontextualisierung Dies zeichnet er anhand der Inszenierung der nationalsozialistischen bdquoVolksgemeinschaftldquo sowie des Schwetzinger Spargelfestes beispielhaft nach Diese Schlaglichter sind ausgesprochen erhellend allerdings waumlre in einem Werk wie dem vorliegenden ein eher faktenorientier-ter Uumlberblick zur NS-Zeit aus Sicht des Rezensenten wuumlnschenswert gewesen Wie ver-gleichsweise gut das Schicksal von Zwangsarbeitern in Schwetzingen erforscht ist zeigt der Beitrag von Irene WACHTEL Gestuumltzt auf eine Datenbank mit uumlber 1500 Namen (die nach Einschaumltzung der Autorin nur die bdquoSpitze des Eisbergsldquo darstellen Band 2 S 183) gelingt es ihr dieses Thema nicht nur quantitativ zu fassen sondern auch den Blick auf Zwangsarbeiter einsetzende Betriebe Lebensbedingungen vor Ort und nicht zuletzt auf Einzelschicksale freizugeben Schwetzingen zeigt sich bei der Aufarbeitung dieses The-mas als ausgesprochen vorbildlich fuumlr eine Stadt dieser Groumlszlige Die Guumlte und Tiefe dieses Beitrags kontrastiert etwas irritierend mit dem uumlber Heimatvertriebene in Schwetzingen (Peter KAISER) der nicht einmal zwei Seiten einnimmt

Das Oberthema bdquoWirtschaftsgeschichteldquo wird im Wesentlichen von Lars Maurer bearbeitet Mit der Anbindung Schwetzingens an das Eisenbahn- und Straszligenbahnnetz (Rheinbahn 1870 Strecke HeidelbergndashSpeyer 1873 Strecke SchwetzingenndashFriedrichs-feld 1880) identifiziert er den maszliggeblichen Beschleuniger fuumlr die Industrialisierung der Stadt Am Knotenpunkt Schwetzingen siedeln sich zudem ab 1913 die Eisenbahn-

799Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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ausbesserungswerke an die zu einem wichtigen Arbeitgeber in der Stadt werden Die Bedeutung von Bahnanschluumlssen an Privatgelaumlnde zeigt Maurer in seinem zweiten Bei-trag in welchem er mit Pfaudler (Biertanks) Bassermann (Konserven) sowie Neuhaus (Tabak) beispielhaft drei wichtige Industrieunternehmen vorstellt Die Ansiedlung der amerikanischen Firma Pfaudler 1907 gelang nur weil die Stadt bereit war ein Bahngleis zum Firmengelaumlnde legen zu lassen

Unter dem Oberthema bdquoKunst- und Kulturgeschichteldquo beschreibt Hans-Erhard LESSING die Bedeutung Schwetzingens fuumlr die Erfindung des Fahrrads Hier lernte Karl Drais als Forstpraktikant den aus England importierten Gartenphaeton von Kurfuumlrst Carl Theodor kennen der ihm Inspiration bot fuumlr seine spaumltere wegweisende Erfindung Und schlieszlig-lich darf auch nicht unerwaumlhnt bleiben dass die erste oumlffentliche Ausfahrt von Drais mit dem Fahrrad zwar in Mannheim begann aber auf dem Gebiet des Schwetzinger Bezirks wo seinerzeit das Relaishaus stand endete Kunst und Gedenken im oumlffentlichen Raum sind Thema des Beitrags von Barbara GILSDORF Mit zahlreichen Bildern zeigt sie auf wie reich Schwetzingen an Denkmalen und oumlffentlicher Kunst ist ndash angefangen von spaumlt-mittelalterlichen Wegkreuzen uumlber Kunstwerke aus der Reihe bdquoim Wege stehendldquo bis zu Denkmalen der modernen Erinnerungskultur

Im abschlieszligenden Oberthema bdquoTypisch Schwetzingenldquo finden sich weitere Beitraumlge zu historischen bis in die Gegenwart reichenden Spezifika der Stadt Dies gilt fuumlr die geographische Lage am Hardtwald (Karl-Heinz SOumlHNER) der eine naturraumlumliche Be-sonderheit wie auch ein wirtschaftliches Fundament des Ortes war ebenso aber fuumlr die Bedeutung des Spargelanbaus der heute neben dem Schloss sicherlich der wichtigste Botschafter der Stadt ist (Elfriede FACKEL-KRETZ-KELLER) Juumlrgen GRULER beschreibt die Entwicklung der Schwetzinger Zeitung (seit 1880) waumlhrend die Schwetzinger Fest-spiele im Mittelpunkt des Beitrags von Peter STIEBER stehen Die Vorstellung der Part-nerstaumldte Schwetzingens (FredericksburgUSA Karlshuld-NeuschwetzingenBayern LuneacutevilleFrankreich PaacutepaUngarn SchrobenhausenBayern SpoletoItalien Wachen-heim a d WeinstraszligePfalz) rundet das Oberthema wie auch den Band ab

Die beiden Baumlnde sind reich bebildert was zum Lesen oder einfach auch nur zum Schmoumlkern einlaumldt Ein Register haumltte dem Doppelband sicher gutgetan ebenfalls eine kurze uumlberblicksartige Vorstellung der Autorinnen und Autoren Dennoch ist es impo-nierend zu sehen was Schwetzingen die eigene Geschichte wert ist und dass es den Be-arbeitern gelungen ist rechtzeitig zum Jubilaumlum zu liefern Hierzu kann nur gratuliert werden Es waumlre dennoch wuumlnschenswert die oben angesprochenen teilweise doch sehr umfangreichen inhaltlichen Luumlcken zu fuumlllen Daher sei dem Herausgeber vorgeschlagen den Jubilaumlumsruumlckenwind und die sehr positive oumlffentliche Resonanz auf die Buumlcher zu nutzen und bdquoSchwetzingen ndash Geschichte(n) einer Stadtldquo mit einem weiteren Band fort-zusetzen Eine positiv gestimmte Leserschaft waumlre garantiert

Harald Stockert

Simon EICHSTETTER Geschichte und Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzin-gen (17 Jhndash1927) ndash aktualisiert von HenriHeinrich BLOCH (1928ndash1938) ndash Transkrip-tion und Einfuumlhrung Frank-Uwe BETZ Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2017 110 S Abb Brosch EUR 1490 ISBN 978-3-95505-020-7

In dem kompakten Baumlndchen liegt eine bemerkenswerte Quellenedition vor in der umfangreiche Arbeit steckt Verantwortlich zeichnet der mit der regionalen Geschichts- und Erinnerungskultur vertraute Frank-Uwe Betz mit dem Arbeitskreis Freundliches

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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Schwetzingen ndash Verein fuumlr regionale Zeitgeschichte eV einschlieszliglich den regionalen Gliederungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der Gewerkschaft verdi Entstan-den ist das Familienbuch der juumldischen Gemeinde Schwetzingen die zu ihrem Houmlhepunkt 1880 fast 120 Mitglieder zaumlhlte durch den Lehrer Simon Eichstetter (1865ndash1927) seit seinem Amtsantritt 1886 Nach dessen Tod fuumlhrte sein Nachfolger Lehrer und Kantor Henri Bloch bis zum erzwungenen Wegzug 1938 das Buch fort Der Band wurde nach dem gewaltsamen Ende der juumldischen Gemeinde wie uumlberall im Deutschen Reich fuumlr das Reichssippenamt (RSA) beschlagnahmt Unter den geraubten Gedaumlchtnissen der ver-schiedenen zerstoumlrten juumldischen Gemeinden befanden sich haumlufig gemeindeinterne Stan-desregister Friedhofslisten Uumlbersichten zu Funktionstraumlgern Insassen von Einrichtungen oder Mitgliederlisten religioumlser Vereinigungen und anderes Darunter bisweilen wie in Schwetzingen auch sogenannte Familienbuumlcher Fuumlr Schwetzingen ist das Familienbuch neben der Uumlbersicht zur Nachnamenannahme 18091810 die einzige Uumlberlieferung der Gemeinde in diesem Bestand Allein dadurch kommt ihm groszlige Bedeutung zu Die be-schlagnahmten Dokumente wurden waumlhrend des Zweiten Weltkriegs von der privaten Firma Gattermann fuumlr das RSA mikroverfilmt das Schwetzinger Familienbuch noch am 16 Maumlrz 1945 Waumlhrend das Original wie die geraubten Dokumente andernorts verloren ist liegt der Mikrofilm heute im Bestand J 386 des Hauptstaatsarchivs Stuttgart vor Die-ser Bestand zu den juumldischen Gemeinden in Wuumlrttemberg Baden und Hohenzollern kann inzwischen digitalisiert online eingesehen werden Zwar koumlnnen die in Baden seit 1809 vorgeschriebenen Standesregister der Konfessionen bis 1869 bevor in Baden seit 1870 kommunale Standesregister gefuumlhrt wurden inzwischen auch online eingesehen werden (Generallandesarchiv Karlsruhe Bestand 390 fuumlr Schwetzingen die laufenden Nummern 4625ndash4635 in Vereinigung mit den christlichen Standesregistern gefuumlhrt allerdings vom katholischen Pfarrer) doch geht das Familienbuch daruumlber hinaus und erleichtert familienkundliche Nachforschungen

Vor dem Editionsteil informiert Betz auf rund acht Seiten uumlber das Familienbuch zu den Verfassern und in komprimierter Form zur oumlrtlichen juumldischen Gemeinde bis zu deren Ende Auf zwei Seiten beschreibt er den Umgang mit den Uumlberlebenden und die Erinne-rungskultur am Ort Fast vier Seiten umfassen seine editorischen Hinweise was der auf-gewandten Muumlhe und Sorgfalt entspricht Die fast 650 Fuszlignoten im Quellenteil mit seinen rund 83 Seiten (das Original umfasst 115 Seiten) unterstreichen den wissenschaftlichen Anspruch stoumlren den Lesefluss fuumlr daran weniger Interessierte nicht

Das Familienbuch reicht mit seinen elf Abschnitten uumlber den angegebenen Zweck hinaus Im ersten Abschnitt behandelt Eichstetter kurz die Geschichte des Orts und seiner Juden Umfangreich ist der zweite zur bdquoSynagogeldquo beziehungsweise dass die arme Gemeinde trotz Bemuumlhungen nie einen eigenen Bau errichten konnte Seit 1897 war es ihnen durch Entgegenkommen des Hofamts moumlglich Raumlumlichkeiten im Schwetzinger Schloss zu belegen Deutlich wird in den Ausfuumlhrungen samt wiedergegebenen Doku-menten dabei auch die Verbundenheit von Groszligherzog Friedrich I und Groszligherzogin Luise zum Judentum insgesamt Auch zum eigenen Friedhof seit 1892 finden sich detaillierte Informationen einschlieszliglich Leichen- und Begraumlbnisordnung Im vierten und fuumlnften Abschnitt sind die Lehrer sowie Gemeindevorstaumlnde und ihr Wirken beschrie-ben Ein kurzer Abschnitt geht allgemein auf die Annahme erblicher Nachnamen ein Ebenso kurz weist der siebte Abschnitt uumlber die Standesbuumlcher auf die gesetzliche Grund-lage hin und zaumlhlt die Eintraumlge Diese hatte fuumlr die Schwetzinger Gemeinde der katholi-sche Pfarrer zu erledigen Der neunte Abschnitt behandelt die juumldischen Vereine mitsamt

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Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

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ihren Funktionstraumlgerinnen und -traumlgern sowie den beigefuumlgten Statuten es gab nur zwei Den bdquoIsraelitischen Frauenvereinldquo seit 1868 und als Pendant den 1875 gegruumlndeten Maumln-nerverein bdquoVerein fuumlr heilige edle Zweckeldquo Unter Abschnitt 10 befindet sich eine schmale Information zu juumldischen Gastwirtschaften der elfte und letzte Abschnitt Feste und Ehrungen ist leer

Der Hauptteil mit dem eigentlichen Familienbuch im achten Abschnitt macht uumlber die Haumllfte des Bandes aus Im Original ist eine Seite jeweils fuumlr eine Familie vorbehalten insgesamt sind es 106 Aufgefuumlhrt sind bdquoHausvaterldquo und Hausmutterldquo mit ihrer Verhei-ratung samt Lebensdaten und Angaben zu den Eltern Aufgefuumlhrt werden die am Ort geborenen Kinder mit ihren Lebensdaten sowie Heiratsangaben soweit moumlglich Bei Heirat eines Schwetzinger Juden und anschlieszligendem Familienleben andernorts bleibt es bisweilen bei diesem alleinigen Eintrag So fuumlr die Schwetzingerin Marie Henriette Trautmann die den Karlsruher und spaumlteren badischen Finanzminister Moritz Ellstaumltter 1864 in Heidelberg heiratete Insgesamt liegt fuumlr ortsgeschichtliche und familienkund- liche Fragestellungen eine wunderbare Quellengrundlage vor die zum Teil die muumlh- seligere Recherche in den einzelnen Standesregistern erspart Das Namenregister dieses Abschnitts im Familienbuch ist gemaumlszlig dem Original enthalten

Daruumlber hinaus ist dem Band insgesamt ein Personen- und Ortsregister beigegeben worden was den Anspruch des Buches unterstreicht und es gut nutzbar macht So etwas ist wie Forschende wissen keine Selbstverstaumlndlichkeit Die zahlreichen kleinen Abbil-dungen illustrieren einerseits Ausschnitte der Geschichte der juumldischen Gemeinde allge-mein zu ihren Mitgliedern schlieszliglich auch zu Uumlberlebenden sind andererseits immer wieder Faksimiles aus dem Mikrofilm Das Buch wird fuumlr die lokale Geschichts- und Er-innerungskultur sicherlich eine wertvolle Grundlage sein Dieser Funktion entspricht die einfache Aufmachung Fuumlr diesen Zweck ist es nicht notwendig und unrealistisch den-noch moumlchte der Rezensent seinen insgeheim aufgekommenen Wunsch aussprechen Eine bibliophile Gestaltung fuumlr Quelleneditionen dieser Art waumlre etwas Erfreuliches

Juumlrgen Schuhladen-Kraumlmer

Wolfram WETTE (Hg) in Verbindung mit der Stadt Waldkirch und der Ideenwerkstatt

Waldkirch in der NS-Zeit bdquoHier war doch nichtsldquondashWaldkirch im Nationalsozialis- mus Bremen Donat-Verlag 2019 528 S Abb geb EUR 2980 ISBN 978-3-943425-86-4

27 Autorinnen und Autoren gehen in annaumlhernd fuumlnfzig Beitraumlgen zahlreichen Aspek-ten und Themen der Geschichte der suumldbadischen Stadt Waldkirch im Nationalsozialis-mus beziehungsweise der oumlrtlichen Nachwirkung der NS-Zeit nach Viele der Beitraumlge sind biographisch ausgerichtet Die Aufsaumltze des umfangreichen und reich illustrierten Bandes sind ndash nach zwei einleitenden Beitraumlgen ndash in sechs groszlige Kapitel uumlbersichtlich gegliedert Das Werk ist durch ein Abkuumlrzungsverzeichnis und ein Personenregister vor-bildlich erschlossen

Herausgeber Wolfgang WETTE eroumlffnet den Band und ordnet die Bestrebungen auch die NS-Geschichte Waldkirchs mit einer umfangreichen Darstellung zu beleuchten ein Auch in dieser Stadt wurde die NS-Geschichte bis weit in die 1980er Jahre uumlberwiegend beschwiegen Das aumlnderte sich ndash wie andernorts ndash erst durch zaumlhes Ringen und ge-schichtspolitische Initiativen aus der Buumlrgerschaft Eine erste Broschuumlre aus dem Jahr 1989 dokumentiert die bis dato erfolgten Bemuumlhungen Ein weiterer Meilenstein duumlrften

802 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 802

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

die Enthuumlllungen uumlber die Rolle des Waldkircher Buumlrgers und SS-Standartenfuumlhrers Karl Jaumlger gewesen sein Dieser war Organisator und Vollstrecker des Massenmordes an den Juden Litauens Wolfram Wette hat zu dessen Biographie 2011 eine Monografie vorgelegt und auch im vorliegenden Band findet sich ein Text zu Karl Jaumlger Dass die notwendige Beschaumlftigung mit der regionalen NS-Geschichte kein einfaches Unterfangen ist reflek-tiert auch der zweite einleitende Beitrag von Heiko HAUMANN der auf bdquodie Schwierig-keiten die Waldkircher Geschichte im sbquoDritten Reichlsquo angemessen darzustellenldquo (S 27 ff) eingeht

Die Beitraumlge des ersten Kapitels widmen sich der Vorkriegsgeschichte Ralph BERN-HARD beispielsweise beleuchtet die Fruumlhgeschichte der NSDAP seit 1920 So gab es zwar Aktivitaumlten voumllkischer Vorlaumluferparteien aber vor dem auch in Baden geltenden Verbot von 1923 scheint es in Waldkirch keine eigenstaumlndige NSDAP-Ortsgruppe gegeben zu haben Gleichwohl waren einige Waldkircher Nationalsozialisten schon 1923 Parteimit-glieder geworden hatten sich aber Wuumlrttemberger Ortsgruppen angeschlossen wo die Behoumlrden das geltende NSDAP-Verbot kaum umsetzten Aus den verschiedenen Beitrauml-gen etwa zu den Wahlergebnissen der NSDAP in Waldkirch dem lokalen Machtwechsel 1933 auf Buumlrgermeisterebene oder zur Biographie des Waldkircher NS-Buumlrgermeisters stechen vor allem zwei Aufsaumltze hervor Wolfgang Wette rekonstruiert die lokale Buumlcherverbrennung die am 8 Juli 1933 auf dem Gipfel des Kandels inszeniert wurde Die Waldkircher Buumlcherverbrennung ist wie mutmaszliglich die meisten der oumlffentlichen Verbrennungsaktionen des Jahres 1933 in vielen Staumldten und groumlszligeren Gemeinden des Dritten Reiches von der einschlaumlgigen Forschung bislang nicht beruumlcksichtigt worden (vgl Julius H Schoeps Werner Tress (Hg) Orte der Buumlcherverbrennungen in Deutsch-land 1933 Hildesheim 2008) Mit der Darstellung der Geschichte der Waldkircher Schutzstaffel rekonstruiert Heiko WEGMANN erstmals die Zusammensetzung und die Ak-tivitaumlten der beruumlchtigten NS-Untergliederung auf lokaler Ebene Bis zu seinem Weggang im November 1936 wurde die oumlrtliche SS vom bereits erwaumlhnten Karl Jaumlger angefuumlhrt ihr gehoumlrten in jener Zeit rund 100 Maumlnner an

Das zweite Kapitel des Bandes nimmt sich der Zeit des Weltkrieges an Zwei Beitraumlge beschaumlftigen sich mit dem Bild und den Narrativen des Krieges in lokalen Feldpost- beziehungsweise Soldatenbriefen weitere Texte befassen sich unter anderem mit einzel-nen Biographien und Firmen mit der Zusammensetzung der oumlrtlichen NSDAP-Orts-gruppe oder mit den Vorgaumlngen rund um die NS-bdquoEuthanasieldquo Allein in der Toumltungs- anstalt Grafeneck fanden mindestens 14 Personen den Tod die aus Waldkirch stammten oder dort geboren waren Mutmaszliglich waren von den Euthanasieverbrechen noch mehr Menschen aus Waldkirch betroffen

Kapitel III versammelt sechs biographisch ausgerichtete Beitraumlge die Personen vor-stellen die aus unterschiedlichen Motiven und weltanschaulichen Hintergruumlnden Wider-stand gegen das NS-Regime leisteten Auch im vierten Kapitel (bdquoSchulen und Kirchenldquo) geht es um Beispiele widerstaumlndigen Verhaltens und vor allem um das Spannungsver-haumlltnis von Widerstand Resistenz Anpassung und Mitmachen Dabei sind nicht alle Texte primaumlr lokalhistorisch oder biographisch ausgerichtet Ausfuumlhrlich rekonstruiert und diskutiert etwa der Soziologe Herbert SCHWEIZER nach seiner Emeritierung 2006 bis zu seinem Tode 2017 Einwohner Waldkirchs grundsaumltzlich das Verhaumlltnis von Ka-tholischer Kirche und Nationalsozialismus wohingegen Ralph BERNHARD die oumlrtliche katholische Kirche einer kritischen Untersuchung unterzieht

803Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 803

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

Das fuumlnfte Kapitel beleuchtet das Kriegsende und die Nachkriegszeit Heiko Haumann skizziert das Kriegsende in Waldkirch und im Elztal Wolfram Wette erinnert an die im Januar und April in Waldkirch als Deserteure erschossenen deutschen Soldaten ndash und den lokalen Umgang mit diesen Verbrechen Martin HOFFMANN wiederum wirft einen Blick auf zivile wie militaumlrische Todesopfer die die Stadt Waldkirch (und ihre fruumlher eigenstaumlndigen Ortsteile) zu beklagen hatte und wie mit dieser Erbschaft nach 1945 um-gegangen wurde Das abschlieszligende sechste Kapitel beschaumlftigt sich mit der Aufarbei-tung der NS-Vergangenheit Neben Beitraumlgen zum Umgang mit NS-Ikonographien und NS-Kriegerdenkmaumllern werden verschiedene lokalhistorische Ereignisse und Projekte der vergangenen Jahrzehnte nochmals in den Blick genommen

Die Beitraumlge dieses Sammelbandes sind hinsichtlich ihrer Qualitaumlt ihrer Originalitaumlt ihres Umfanges und des damit verbundenen Erkenntnisgewinnes recht unterschiedlich Aber etwas Anderes waumlre bei einem Projekt das engagierte und interessierte Laien Historiker und Fachwissenschaftler anderer Disziplinen sowie Nachwuchswissenschaft-ler (pensionierte) Lehrer und emeritierte Universitaumltsprofessoren zusammenfuumlhrt auch kaum denkbar Entstanden ist ein materialreiches lokalhistorisches Lesebuch das zu wei-teren Forschungen einlaumldt Es ist zu hoffen dass der Band nicht nur in der engeren Region zu Kenntnis genommen wird sondern auch als Anregung fuumlr vergleichbare Projekte anderswo dienlich ist

Christoph Kopke

Juliane GEIKE Andreas HAASIS-BERNER (Hg) Menschen in Bewegung (Lebenswelten im laumlndlichen Raum Historische Erkundungen in Mittel- und Suumldbaden Bd 4) Ubstadt-Weiher u a Verlag Regionalkultur 2019 237 S Abb geb EUR 2280 ISBN 978-3-95505-123-5

Unter dem Sammelbegriff bdquoWanderungsforschungldquo hat sich im deutschen Sprachraum seit der Wende vom 18 zum 19 Jahrhundert die Bewegung von Menschen in Zeit und Raum zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt Daran hatten die regionale Ge-schichtsschreibung in Form der Landesgeschichte sowie die lokale heimatgeschichtlich ausgerichtete bdquoLiebhaber-Historieldquo wie sie auch genannt wird einen besonderen Anteil Nach der Reichsgruumlndung gerieten sie und auch die am Forschungsgegenstand nun ver-staumlrkt interessierte universitaumlre Forschung in nationales zu Beginn des 20 Jahrhunderts in voumllkisches und schlieszliglich in den dreiszligiger Jahren in nationalsozialistisches Fahr- wasser Als Folge dieser Hypothek konnte die Wanderungsforschung nach 1945 nicht an ihre Traditionen anknuumlpfen sondern erfuhr als bdquoImportldquo unter dem Begriff der Migra- tionsforschung in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren einen zunaumlchst sozialhisto-risch gepraumlgten Neuanfang Mittlerweile ist die historische Migrationsforschung ob auf universitaumlrer landesgeschichtlicher oder heimatgeschichtlicher Ebene ein boomendes Feld auf dem es wuumlnschenswert waumlre wenn der Austausch zwischen den drei Ebenen verstaumlrkt wuumlrde

In diesem Kontext ist der vierte Tag fuumlr Regionalgeschichte im Juni 2017 in Yach im Landkreis Emmendingen zu sehen Auch vor dem Hintergrund des Migrationsgeschehens der Gegenwart versammelte er unter dem Thema bdquoMigration im laumlndlichen Raumldquo HistorikerInnen ArchivarInnen LehrerInnen HeimatforscherInnen und Geschichts- interessierte Der vorliegende Band spiegelt die Ergebnisse der Tagung Dabei folgen die Herausgeber der Erkenntnis bdquoMigration war und ist ein Teil unserer Geschichte die eine in Zeit und Raum variantenreiche Dynamik entfaltetldquo (S 8) Der Band umfasst elf Bei-

804 Buchbesprechungen

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 804

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607

FRENK Barbara Ruprecht-Karls-Universitaumlt Heidelberg Zentrum fuumlr Europaumlische Geschichts- und Kulturwissenschaften Historisches Seminar Grabengasse 3ndash5 69117 Heidelberg 745ndash747

FURTWAumlNGLER Dr Martin Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg Eugenstraszlige 7 70182 Stuttgart 686 f 690ndash694

GAumlDEKE Dr Nora Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Niedersaumlchsische Landesbibliothek Waterloostraszlige 8 30169 Hannover 285ndash306

HAAG Prof Dr Norbert Landeskirchliches Archiv Balinger Straszlige 331 70567 Stuttgart 623 f

HAASIS-BERNER Dr Andreas Landesamt fuumlr Denkmalpflege im Regierungspraumlsidium Stuttgart Dienstsitz Freiburg Guumlnterstalstraszlige 67 79100 Freiburg im Breisgau 743ndash745

HAumlBERLEIN Prof Dr Mark Universitaumlt Bamberg Institut fuumlr Geschichtswissenschaften und Europaumlische Ethnologie Lehrstuhl fuumlr Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte Fischstraszlige 57 96045 Bamberg 769 f

HAINMUumlLLER Dr Bernd Blaues Haus Breisach Radbrunnenallee 15 79206 Breisach am Rhein 559ndash576

HAUG-MORITZ Prof Dr Gabriele Karl-Franzens-Universitaumlt Graz Institut fuumlr Geschichte Attemsgasse 8 8010 Graz Oumlsterreich 676 f

HEILBRONNER Oded Prof Dr Senior Lecture for Cultural Studies and History The Hebrew University Shenkar College for Industry Design amp Art Anna Frank St 12 Ramat Gan Israel 439ndash498

HEUSINGER Prof Dr Sabine von Universitaumlt zu Koumlln Historisches Seminar Albertus-Magnus-Platz 50923 Koumlln 749

HIRBODIAN Prof Dr Sigrid Eberhard-Karls-Universitaumlt Tuumlbingen Historisches Seminar Institut fuumlr Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften Wilhelmstraszlige 36 72074 Tuumlbingen 141ndash146

HOCHSTUHL Dr Kurt co Staatsarchiv Freiburg Colombistraszlige 4 79098 Freiburg im Breisgau 707

HOFFMANN-OCON Prof Dr Andreas Paumldagogische Hochschule Zuumlrich F-FE-ZSG (Schulgeschichte) Fachgruppe Erziehungs- und Sozialwissenschaften Lagerstraszlige 2 8090 Zuumlrich Schweiz 732ndash737

HOLZ Stefan G MA Landesarchiv Baden-Wuumlrttemberg Hauptstaatsarchiv Stuttgart Konrad-Adenauer-Straszlige 4 70173 Stuttgart 65ndash114

HUTHWELKER Dr Thorsten Ruprecht-Karls-Universitaumlt Heidelberg Universitaumltsbibliothek Ploumlck 107ndash109 69117 Heidelberg 649 f

KEMPER Dr Joachim Stadt- und Stiftsarchiv der Stadt Aschaffenburg Wermbachstraszlige 15 63739 Aschaffenburg 766ndash769

KITZING Dr Michael Samlandstraszlige 31 78224 Singen (Hohentwiel) 687ndash690 705 f 791ndash795

KOPKE Prof Dr Christoph Hochschule fuumlr Wirtschaft und Recht Berlin FB 5 Polizei und Sicherheitsmanagement Alt Friedrichsfelde 60 10315 Berlin 795ndash797 802ndash804

KRETZSCHMAR Prof Dr Robert Fuchsgrabenweg 8 74379 Ingersheim 628ndash630

KRIEB Prof Dr Steffen Johannes-Gutenberg-Universitaumlt Mainz Historisches Seminar Jakob-Welder-Weg 18 55128 Mainz 632ndash635

KRIMM Prof Dr Konrad co Generallandesarchiv Karlsruhe Noumlrdliche Hildapromenade 3 76133 Karlsruhe 65ndash114

LEVEN Prof Dr Karl-Heinz Friedrich-Alexander-Universitaumlt Erlangen-Nuumlrnberg Medizinische Fakultaumlt Institut fuumlr Geschichte und Ethik der Medizin Gluumlckstraszlige 10 91054 Erlangen 727ndash730

808

32 Verzeichnis der Mitarbeiter S807-810qxp_Layout 1 030221 0952 Seite 808

traumlge zu verschiedenen Migrationsformen (Aus- und Einwanderung Binnen- und Fern-migration lokale und transatlantische Migrationen Arbeits- und Zwangsmigration Ein-zel- und Gruppenmigration usw) der Zeit zwischen dem 18 und 20 Jahrhundert Die Beitraumlge ob von ausgebildeten ArchivarInnen und HistorikerInnen oder interessierten historischen Laien fuszligen auf Archivrecherchen vor allem auf Literaturstudien die oft nicht dem aktuellen Forschungsstand entsprechen auf Presseauswertung und Oral History Ebenso unterschiedlich sind die verwendeten Zugaumlnge zum jeweiligen Thema Sie reichen von historischen Analysen uumlber referierende Darstellungen bis hin zu Bei-traumlgen die vor allem Ego-Dokumente sprechen lassen

Migration ist wie die Beitraumlge des Bandes erkennen lassen ein komplexes alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beruumlhrendes Phaumlnomen Dadurch entzieht es sich einer klaren Differenzierung und Kategorisierung Das zeigt der Beitrag zum bdquoFah-renden Volkldquo (mit dem der Autor u a Jenische Zigeuner Sinti und Roma zusammen-fasst) der die Migration dieser Gruppen in und aus dem alemanischen Raum im 19 und 20 Jahrhundert thematisiert Dessen ungeachtet und immer unter Beruumlcksichtigung der Uumlberschneidungen die Migrationsprozesse charakterisieren lassen sich die weite- ren Beitraumlge des Bandes grob zwei Gruppen zuordnen ndash Auswanderungen und Zuwan-derungen

Auswanderungen aus der untersuchten Region stehen im Mittelpunkt von sechs Auf-saumltzen Dabei werden hier in chronologischer Reihenfolge angefuumlhrt Migrationen von ehemaligen Leibeigenen und freien Untertanen aus dem Stift Waldkirch in Tri- berg Kinzigtaumller Floumlszliger an der oumlsterreichischen Ybbs und vor allem Auswanderungen im 19 Jahrhundert nach Nordamerika untersucht Gleich vier Beitraumlge sind diesem Kom-plex verpflichtet Sie betrachten die Auswanderungen aus drei Perspektiven der Mas- senemigration aus Baden der Auswanderer aus Simonswald darunter auch jene die sich in Australien niederlieszligen sowie eines Denzlinger Seilers und eines Buchholzer Buumlrgers die in der zweiten Haumllfte des 19 Jahrhunderts in die USA ausgewandert sind

Einwanderungen des 19 und 20 Jahrhunderts in die Region die im Mittelpunkt des Bandes steht thematisieren drei Beitraumlge Neben der italienischen Arbeitsmigration ins Elztal vor allem im 19 Jahrhundert werden in einem Beitrag die Evakuierten zeit- genoumlssisch als bdquoWestwallzigeunerldquo bezeichnet untersucht die mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs aus den westlichen Grenzregionen des Deutschen Reiches auch nach Elzach und Yach umgesiedelt wurden Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf deutschen Fluumlchtlingen und Vertriebenen die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den beiden Orten aufgenommen werden mussten Ein Beitrag stellt die Lebensgeschichte einer Frau aus Ostpreuszligen vor die in Friesenheim eine neue Heimat gefunden hat

Der Band beleuchtet anschaulich unterschiedliche Migrationsformen ihre Motive sowie ihre persoumlnlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen und bietet damit im Sinne der Herausgeber ein vielfaumlltiges Bild der Wanderungen mit Ausgang und Ziel in der Region Er verdeutlicht Staumlrken und Schwaumlchen eines regional- und lokalhistorischen Zugangs zu Migrationsphaumlnomenen bdquoMenschen in Bewegungldquo ist dabei der kleinste gemeinsame Nenner der die Beitraumlge vereint Ein einleitender migrationstheoretischer Beitrag haumltte helfen koumlnnen die Fallstudien zu einem regionalen migrationsgeschicht- lichen Mosaik zu verbinden In diesem Sinn ist den Herausgebern zuzustimmen wenn sie hoffen mit dem Band weitere vertiefende Forschungen zum Thema anzuregen

Mathias Beer

805Geschichte von Regionen Staumldten und Gemeinden

31 Rezensionen S607-806qxp_Layout 1 030221 0957 Seite 805

Zeitschrift fuumlr die Geschichte des Oberrheins 168 (2020) S 607-805 copy Kommission fuumlr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wuumlrttemberg

ISSN 0044-2607