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Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen 19. Jahrgang 2016 Heft 2 Seite 6 Migration fürsorglich Seite 11 Feldenkrais abenteuerlich Seite 16 Sommerfrische erinnerlich „Das schönste Jugendheim Deutschlands“ Erich Mendelsohns Haus der jüdischen Jugend in Essen 1932–1938 Harald Lordick bends noch im jüdischen Jugendheim, wie ein Palast, Turnhalle, Säle, Zimmer, Café, notierte Marta Goldschmidt 1936 in ihrer wortkargen Art in ihr Tagebuch. Die aus Esslingen am Neckar stam- mende Schülerin war mit ihrer Familie zu Besuch, im Grunde auf einer „Abschiedsreise“ durch Deutsch- land vor ihrer erzwungenen Emigration, und das Es- sener Jugendheim machte sichtlich Eindruck. 1 Die jüdische Gemeinschaft in Essen hatte sich mit ihren ungefähr 4500 Mitgliedern in den 1920er Jahren mehr und mehr zu einer beachteten Stimme im deutschen Judentum entwickelt. Hier lag die Verbandsleitung der zahlreichen jüdischen Jugend- vereine in Deutschland, und von hier gingen auch Impulse zur Gesamtorganisation des deutschen Ju- dentums aus. Rabbiner Hugo Hahn (1893–1967), in dieser Zeit Verbandsvorsitzender, machte sich insbesondere für die Einrichtung eigener jüdischer Jugendheime stark, und begann schließlich in Essen konsequent mit der Umsetzung. Ein Jugendheim mit Gedenkhalle Dieses durchaus ambitionierte Projekt war nur durch breiteste Unterstützung zu realisieren. Wäh- rend die Vorsitzenden der Essener Gemeinde, der Bankier Georg Hirschland (1885–1942) und der Rechtsanwalt Ernst Herzfeld (1875–1948), der Idee eines eigenen Jugendheims aufgeschlossen gegenü- berstanden, gab es im übrigen Vorstand und in der Gemeinde durchaus auch Widerstand. „Manche wa- ren Gegner der Jugendbewegung, weil ihre Kinder gegen das Elternhaus und seine bürgerlichen An- sichten Sturm liefen. Andere konnten sich über die Auswirkungen eines solchen Heims keine Vorstel- lung machen.“ 2 Mittels gemeinsamer Besichti- gungen nichtjüdischer Jugendheime der Umgebung versuchte Hahn damals, Bedenken auszuräumen und die Skeptiker für seine Idee zu begeistern. Als dann der Reichsbund jüdischer Frontsol- daten (RjF) an den Gemeindevorstand mit der For- derung herantrat, ein Denkmal für die Gefallenen des ersten Weltkrieges zu errichten, wurde das überraschend zur mitentscheidenden Unterstüt- zung, denn Hugo Hahn, der wenig übrig hatte für die seinerzeit geübten Formen des Gedenkens, hat- te eine ebenso kluge wie unkonventionelle Idee: „dass ein Jugendheim am besten geeignet sei, das Andenken an die Gefallenen durch die Arbeit an der heranwachsenden Jugend wachzuhalten“. So plante man den Eingangsbereich als ‚Ehren- halle‘, und wer das Jugendheim später besuchte, der konnte die an prominenter Stelle angebrachte Inschrift kaum übersehen: „Die jüdische Jugend in Essen – unseren im Weltkrieg gefallenen Brüdern.“ Es ist durchaus vorstellbar, dass gerade diese be- tonte Demonstration ‚patriotischer Gesinnung‘ da- A Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz · Fotograf/in: Dietmar Katz · CC-BY-NC-SA „Essen“ (Jugendheim): Skizze von Erich Mendelsohn

„Das schönste Jugendheim Deutschlands“...19. Jahrgang 2016 Heft 2 Seite 6 Migration fürsorglich Seite 11 Feldenkrais abenteuerlich Seite 16 Sommerfrische erinnerlich „Das schönste

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Beiträge zurdeutsch-jüdischenGeschichte aus demSalomon LudwigSteinheim-Institutan der UniversitätDuisburg-Essen

19. Jahrgang 2016Heft 2

Seite 6Migrationfürsorglich

Seite 11Feldenkrais abenteuerlich

Seite 16Sommerfrische erinnerlich

„Das schönste Jugendheim Deutschlands“Erich Mendelsohns Haus der jüdischen Jugend in Essen 1932–1938

Harald Lordick

bends noch im jüdischen Jugendheim, wie ein Palast, Turnhalle, Säle, Zimmer, Café, notierte

Marta Goldschmidt 1936 in ihrer wortkargen Art in ihr Tagebuch. Die aus Esslingen am Neckar stam-mende Schülerin war mit ihrer Familie zu Besuch, im Grunde auf einer „Abschiedsreise“ durch Deutsch-land vor ihrer erzwungenen Emigration, und das Es-sener Jugendheim machte sichtlich Eindruck.1

Die jüdische Gemeinschaft in Essen hatte sich mit ihren ungefähr 4500 Mitgliedern in den 1920er Jahren mehr und mehr zu einer beachteten Stimme im deutschen Judentum entwickelt. Hier lag die Verbandsleitung der zahlreichen jüdischen Jugend-vereine in Deutschland, und von hier gingen auch Impulse zur Gesamtorganisation des deutschen Ju-dentums aus. Rabbiner Hugo Hahn (1893–1967), in dieser Zeit Verbandsvorsitzender, machte sich insbesondere für die Einrichtung eigener jüdischer Jugendheime stark, und begann schließlich in Essen konsequent mit der Umsetzung.

Ein Jugendheim mit GedenkhalleDieses durchaus ambitionierte Projekt war nur durch breiteste Unterstützung zu realisieren. Wäh-rend die Vorsitzenden der Essener Gemeinde, der Bankier Georg Hirschland (1885–1942) und der Rechtsanwalt Ernst Herzfeld (1875–1948), der Idee eines eigenen Jugendheims aufgeschlossen gegenü-berstanden, gab es im übrigen Vorstand und in der Gemeinde durchaus auch Widerstand. „Manche wa-ren Gegner der Jugendbewegung, weil ihre Kinder gegen das Elternhaus und seine bürgerlichen An-sichten Sturm liefen. Andere konnten sich über die Auswirkungen eines solchen Heims keine Vorstel-

lung machen.“2 Mittels gemeinsamer Besichti-gungen nichtjüdischer Jugendheime der Umgebung versuchte Hahn damals, Bedenken auszuräumen und die Skeptiker für seine Idee zu begeistern.

Als dann der Reichsbund jüdischer Frontsol-daten (RjF) an den Gemeindevorstand mit der For-derung herantrat, ein Denkmal für die Gefallenen des ersten Weltkrieges zu errichten, wurde das überraschend zur mitentscheidenden Unterstüt-zung, denn Hugo Hahn, der wenig übrig hatte für die seinerzeit geübten Formen des Gedenkens, hat-te eine ebenso kluge wie unkonventionelle Idee: „dass ein Jugendheim am besten geeignet sei, das Andenken an die Gefallenen durch die Arbeit an der heranwachsenden Jugend wachzuhalten“.

So plante man den Eingangsbereich als ‚Ehren-halle‘, und wer das Jugendheim später besuchte, der konnte die an prominenter Stelle angebrachte Inschrift kaum übersehen: „Die jüdische Jugend in Essen – unseren im Weltkrieg gefallenen Brüdern.“ Es ist durchaus vorstellbar, dass gerade diese be-tonte Demonstration ‚patriotischer Gesinnung‘ da-

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Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz · Fotograf/in: Dietmar Katz · CC-BY-NC-SA

„Essen“ (Jugendheim): Skizze

von Erich Mendelsohn

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zu beitrug, dass die Stadt Essen dem Vorhaben auf-geschlossen gegenüberstand: es scheint jedenfalls in kooperativer Weise verwirklicht worden zu sein. Träger des Hauses war der Verein Jüdisches Jugend-heim (Kriegergedächtnisstiftung), der das „beson-ders wertvolle Grundstück“, wie Hahn sich erin-nerte, von der Stadt Essen erwarb. Im Gegenzug vereinbarte man, dass die Turnhalle des Jugend-heims an zwei Wochentagen auch der Allgemein-heit zur Verfügung stand.

Die Einweihungsfeier fand jedenfalls ganz im Geist des RjF statt, folgt man dem Bericht in dessen Zeitschrift Schild: „Das Jugendheim solle bis in die fernste Zeit Zeugnis ablegen, daß die jüdischen Krieger ihren christlichen Kameraden gleich, in dem großen Völkerringen ihr Leben geopfert ha-ben“,3 so Alfred Gottschalk von der Essener Orts-gruppe – man kann dieses große Engagement für das Gedenken an die 12000 deutschen jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkrieges heute insbeson-dere dann verstehen, wenn man nachvollzieht, wie tief und nachhaltig die deutschen Juden in ihrer Gesamtheit von der antisemitischen, sogenannten ‚Judenzählung‘ 1916 getroffen waren, als deren Folge der RjF sich gegründet hatte.

Für Hahn war diese Konstellation jedoch wohl vor allem eine pragmatische Möglichkeit, ‚sein‘ Ju-gendheim zu verwirklichen, und es gibt keine Hin-weise darauf, dass die lebendigen Aktivitäten im Haus der Jugend durch das ‚Kriegergedenken‘ ir-gendwie beeinträchtigt worden wären. Überhaupt hatte er klare Vorstellungen von einer zeitgemäßen, innovativen und zukunftsgewandten Konzeption: „Es war uns vollkommen klar, dass das zu errich-tende Gebäude nicht wie die Synagoge im Wilhel-minischen Stil gehalten sein durfte, sondern Aus-druck der modernen Zeit sein sollte.“

Das Bauwerk und sein ArchitektDas Projekt wurde dem jüdischen Architekten Erich Mendelsohn (1887–1953) übertragen, und das war durchaus ein Statement, denn Mendelsohn war zu dieser Zeit längst bekannt und erfolgreich, wenn nicht gar berühmt. Er stand, so hieß es, „an führender Stelle der modernen baukünstlerischen Bewegung“ und hatte unter anderem Fabrikgebäu-de, Büro-, Waren- und Kaufhäuser gebaut, für Schocken etwa, sowie den weithin beachteten ex-pressionistischen und avantgardistischen Einstein-turm, aber auch Gärtner- und Taharahaus auf dem jüdischen Friedhof in Allenstein (Ostpreußen), ein Gebäude für die jüdische Loge in Tilsit sowie die Anlagen des jüdischen Friedhofs in Königsberg.4

Über Mendelsohns Aktivitäten im Zusammen-hang des Jugendheims ist leider nur wenig überlie-fert. Der Architekt pflegte seine Ferien intensiv für das Anbahnen und Besprechen von Projekten zu nutzen, so auch mit Georg Hirschland in St. Moritz. „Dr. Hirschland – Anfang Februar Essen, soll als-dann perfekt werden“, schrieb er am 28.12.1929 seiner Frau Luise.5 Ob sich das schon auf das Ju-gendheim bezog, ist allerdings ungewiss. Für Febru-ar 1931 war in Essen ein Vortrag des Architekten „über das in Essen zu errichtende Haus der jü-dischen Jugend“ geplant, der „wegen Krankheit des Referenten“ jedoch verschoben werden musste. Die Bauunterlagen scheinen verloren, erhalten aber blieb immerhin seine eigenhändige, typisch schwungvoll-expressive Skizze. Auf die Realisierung dieses markanten Konzepts freute sich auch die Es-sener Volkszeitung: „Wenn das Heim bis zum Ende des Jahres fertiggestellt werden sollte, wird Essen um ein charakteristisches Bauwerk mehr bereichert sein.“6 Ein weiterer Brief Mendelsohns vom 2.6.1932 an seine Frau Luise enthält allerdings den Hinweis: „Köln und Essen funktionieren nicht“.7 Essen kann sich eigentlich nur auf das gerade eben im Bau befindliche Jugendheim bezogen haben – um welche Schwierigkeiten es wohl dabei ging? Die Projektleitung in Mendelsohns Büro hatte bis No-vember 1932 Ernst Sagebiel (der 1933 in die NS-DAP eintrat und Karriere als NS-Architekt machte).

Das Jugendheim lag im Südostviertel an der 1910/11 nach Plänen Otto Linnes aufwendig und re-präsentativ gestalteten Grünanlage „Moltkeplatz“, auf einem Areal von annähernd dreieckiger Grund-fläche zwischen der Ruhrallee und der Morsehof-straße (später Saarbrücker Straße). Die Ausschach-

Bildnachweis: Alte Synagoge Essen – Haus jüdischer Kultur · Archiv

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tungsarbeiten begannen im Januar 1932 und am 19. November des gleichen Jahres fand schon die Ein-weihungsfeier statt. Das Gebäude ist also innerhalb nur eines Jahres entstanden – Mendelsohn war be-kannt für extrem kurze Bauzeiten durch perfekte Bü-roorganisation und Einsatz modernster Bautech-niken.8 An den markanten, halbkreisförmigen, ein-geschossigen, vorgelagerten Gebäudeteil schloss sich quer ein viergeschossiger Mittelteil an, dem dahinter längs die große Mehrzweckhalle angegliedert war, die sich zu Terasse und Gartenfläche öffnete. Das Gebäude muss komplett unterkellert gewesen sein.

Zwischen dem wohl mit dem Gebäude perfekt harmonierenden und sicher gleichzeitig entstande-nen Gehweg und der Halbrotunde ist ein umlau-fender Lichtschacht erkennbar, der für Tageslicht in den Kellerräumen sorgte. Das Areal war durch eine Mauer im Terassenbereich, im Garten durch Be-pflanzung gegenüber den dahinterliegenden Fel-dern und Gärten sowie durch eine Mauer an der Ruhralle rundum abgegrenzt. Zum Glück blieben einige Fotos erhalten. Auf der eindrucksvollen Luftaufnahme ist sehr schön zu erkennen, wie gut es hier gelungen war, auch städtebaulich einen Ak-zent im Geist der Moderne zu setzen.

„Eine grandiose Sache“Es sind eher bruchstückhafte Erinnerungen der Überlebenden, von Hahn und Herzfeld und dem Verwalter des Jugendheims, Walter Sternberg,8 ins-besondere auch der damaligen Kinder und Jugend-lichen, sowie einige Fotos, die, wie in einem Puzzle, doch halbwegs ein Bild von der durchdachten und beeindruckenden Funktionalität vermitteln.

Von der Gedenkhalle im Erdgeschoss gelangte man auf der einen Seite in die Halbrotunde mit ih-rem großen Café und Speisesaal mit anschließender Küche. Auf der gegenüberliegenden Seite lag die Turnhalle, deren Geräte im Fußboden und in der Decke versenkbar waren. So konnte man die Mehr-zweckhalle schnell in einen großen Vortragssaal oder Theaterraum mit Bühne verwandeln. Die zur Terrasse führende Hallenlängsseite war großflä-chig verglast; die unteren Fenster ließen sich nach oben schieben, so dass Halle und Terrasse zu einer gemeinsam nutzbaren, barrierefreien Fläche ver-schmolzen. Einige Fotos zeigen entsprechende Sze-nen von Turn- und Tanzunterricht.

Im Untergeschoss, so Walter Sternbergs Erinne-rungen, gab es eine Kegelbahn, Umkleide- und

Waschräume, später eine Tischlerei und Schlosserei, Waschküche, Bügel- und Abstellraum. Eine Biblio-thek befand sich in der ersten Etage, ebenso ein wei-terer Vortragssaal. Hier fanden Unterrichtskurse, aber auch Zusammenkünfte verschiedenster Orga-nisationen statt. Gleich nach der Eröffnung tagte (außerordentlich) im Dezember 1932 der Rheinisch-Westfälische Rabbinerverband im neuen Jugendheim und bekam natürlich zunächst eine Besichtigung des Hauses geboten, die den Korrespondenten des Isra-elitischen Familienblatts von einem „einzig in seiner Art dastehenden und überaus schönen Heim“ schwärmen ließ.9 Auch später gab es ähnliche Tref-fen; so erinnerte sich der Lehrer der jüdischen Volks-schule, Salo Weindling, an eine Tagung der jüdischen Lehrer Rheinlands und Westfalens im Essener jü-dischen Jugendheim, „bei der wir uns alle der An-wesenheit von zwei Gestapoleuten bewusst waren“.

In den Räumen der zweiten und dritten Etage fanden die einzelnen Jugendbünde wie Habonim, Esra, Haschomer Hazair, jüdische Pfadfinder und Jugendverein ihren Platz. „Ein reges Jugendleben entwickelte sich in diesen beiden Stockwerken und gab dem ganzen Hause den Charakter der Jugend-lichkeit“, freute sich Rabbiner Hahn.

Das Heim blieb den Jugendlichen, die die NS-Zeit überlebten, lebhaft im Gedächtnis. Man erin-

Bildnachweis: Alte Synagoge Essen – Haus jüdischer Kultur · Archiv

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nerte sich an „eine grandiose Sache“, ein „architek-tonisches Meisterwerk“, in dem eine Fülle von Ak-tivitäten stattfand, an „einen großen Zuschauerraum mit einer modernen Bühne“ und an „verborgene Vorrichtungen zum Turnen“, mit denen „sich der Raum in kurzer Zeit in eine Turnhalle umwandeln“ ließ. Kegelbahn, Bücherei, dutzende Gruppen- und Leseräume, Café „und eine Menge begeisterter Nut-zer. Wir führten im Jugendheim unsere Gruppen-treffen durch, spielten Tischtennis, gingen in Sport-kurse und besuchten viele Kulturereignisse.“10

Ungebetene ‚Gäste‘ Doch die Freude am neuen Haus währte zunächst nur kurz – kaum ein dreiviertel Jahr nach Fertig-stellung nahm die Situation eine ungeahnte, drama-tische Wendung: das Jugendheim wurde von den Nazis, der ‚Hitlerjugend‘, dreist besetzt. Der Ge-meindevorstand leitete zwar umgehend rechtliche Schritte ein, doch der eingeschaltete Anwalt legte aus Opportunismus sein Mandat bald nieder, die Polizei weigerte sich einzugreifen, andere NS-Be-hörden verschleppten den Vorgang, Akten gingen wiederholt ‚verloren‘, und keines der angespro-chenen Ministerien erklärte sich für zuständig. In einem Brief an den Essener Oberbürgermeister er-läuterte Hugo Hahn, dass das Heim eine essentielle Funktion nicht nur für die jüdische Jugend, son-dern für die gesamte Gemeinde erfüllte – vermut-lich wollte er so den Vorwand entkräften, dass ein ‚nur‘ der Jugend gewidmetes Heim als verzichtbar für die jüdische Gemeinde aufgefasst werden konn-te. Öffentlichkeit galt es aus der Sicht des Vorstands in dieser Sache zu vermeiden, stattdessen versuchte man, in diskreten Verhandlungen die Situation zu klären. Ein gewisser Hebel lag darin, dass aus dem Grundstückskauf monatliche Raten an die Stadt zu leisten waren, auf die die Gemeinde sich nun ver-klagen ließ.11

Angesichts der Zeitumstände erscheint es rück-blickend bemerkenswert, dass es 1934 dann doch noch gelang, nach langen 15 Monaten, das Jugend-heim zurückzuerobern – sämtliches bewegliche In-ventar war allerdings geplündert.

Ort der ZufluchtDer skandalöse Vorgang, der ungeahndet blieb, war ein Symptom dafür, wie radikal die Umstände sich durch die NS-Machtübernahme 1933 verän-dert hatten, war ein Beispiel für die rapide um sich

greifende Entrechtung der jüdischen Bevölkerung durch das NS-Regime. Dadurch änderten sich ge-zwungenermaßen die Aufgaben des Jugendheims. Von Hugo Hahn ursprünglich als Ort unbe-schwerter freier Entfaltung der Jugend im Sinne reformpädagogischer Ideale geplant, wurde das Haus den jüdischen Jugendlichen nun zum beinahe einzigen Rückzugsort in einer immer feindlicheren Umwelt. Man kann sich das heute kaum noch wirklich vorstellen: Ausgegrenzt, ausgestoßen glich ihr Alltag oft einem Spießrutenlauf, beherrscht durch äußerste Zurückhaltung. Nicht selten fin-den wir Hinweise auf Belästigungen durch die ‚Hitlerjugend‘ bis hin zu handgreiflichen Ausein-andersetzungen.

So wurde gerade der Sport im Jugendheim zum unentbehrlichen Mittel der Selbstbehauptung, und das Haus spätestens jetzt zu einem intensiv ge-nutzten Gemeindezentrum, das auch der Erwachse-nenbildung diente. Ein Bibliothekar kümmerte sich um die Bibliothek, die an vier Tagen der Woche ge-öffnet war, Neuigkeiten las man am Schwarzen Brett, Sonntags tauschten die Jugendlichen unter fachkundiger Anleitung Briefmarken, und beim wöchentlichen Nähnachmittag wurde für die Jü-dische Winterhilfe Kleidung gefertigt, die zu Cha-nukka an Bedürftige verteilt wurde.

Als die jüdischen Schüler keine Lehrstellen und keine Anstellung mehr fanden, richtete Hugo Hahn erfolgreich ein 9. Schuljahr ein. Beinahe alle der wenigen erhaltenen Fotos stammen aus dieser (späten) Zeit des 9. Schuljahrs. Wir sehen die Ju-gendlichen, wie sie Holz- und Metallbearbeitung lernen, im Hebräischunterricht, im Näh- und Hauswirtschaftskurs, beim disziplinierten Sport.

Die Ausbildung stand nun mehr und mehr im Zeichen der Auswanderung: Die Lage in Palästina, das „Palästina-Aufbauwerk“ wurden zum jederzeit gegenwärtigen Thema, das die entsprechend prak-tisch angelegten Bildungs- und Sprachkurse be-stimmte. Ernst Herzfeld hatte sich sogar vor Ort kundig gemacht und schilderte die Eindrücke sei-ner Palästinareise vor interessiertem Publikum.

Neben dem vielfältigen Kursangebot gab es re-gelmäßig auch größere Veranstaltungen. Im Essener jüdischen Gemeindeblatt liest man von Vorträgen mit überaus großer Zuhörerschar, die den großen Saal des Jugendheims füllten, von dem 6. Zionis-tentag für Rheinland und Westfalen, der dort ausge-richtet wurde, von einem Vortrag der Jewish Agen-

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cy mit 500 Zuhörern sowie Kegelveranstaltungen zugunsten der jüdischen Winterhilfe mit „völlig überfülltem Restaurationsraum des Jugendheims“. Der Kulturbund organisierte zweimal im Monat sein Angebot, Klavier- und Liederabende, Komö-die, Oper, Schauspiel, bunte Abende; der Palästina-film Der neue Weg wurde gezeigt, ein großes Ge-meinschaftssingen fand statt. Im März 1937 bestritt „im gutbesuchten Saal des Essener Jugendheims“ eine Auswahlmannschaft des westdeutschen Mak-kabi einen Wettkampf gegen den belgischen Cen-tral Boxing Club Charleroi.12 Es gab also beinahe pausenlos Programm, und die für 1937 berichtete Zahl von monatlich 10000 Besuchern des Jugend-heims ist dann nicht mehr wirklich überraschend. Aber dies spiegelt auch die völlige Isolation unter dem NS-Regime wider, die mangelnden Alterna-tiven in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Zerstört im NovemberpogromIn der Nacht des Novemberpogroms 1938 hatte sich Hugo Hahn mit seiner Familie nur in größter Not aus dem brennenden Gemeindehaus und der Synagoge retten können. Sie versuchten, sich ir-gendwie in Sicherheit zu bringen: Auf unserem Weg zum Hause eines Gemeindemitgliedes, in dem wir Schutz suchen wollten, kamen wir am Jugendheim vorbei. Zu unserer grossen Freude war es noch voll-kommen intakt. Es hatte offenbar den Wutausbruch unserer Feinde überstanden. Als wir eine Stunde später auf dem Weg zum jüdischen Schwesternheim, wo ich meine Familie unterbringen wollte, während ich selber nach Berlin fuhr, um Hilfe von der Reichs-vertretung zu erwirken, am Jugendheim wieder vor-beikamen, fanden wir nur noch Asche und Trümmer vor. Die Nachbarn berichteten uns, dass der Verwal-ter mit seiner Frau und seinem Kinde im letzten Au-genblick sich hat retten können. Die ausgebrannte Ruine des wenige Jahre zuvor noch bewunderten, nun jedoch als ‚undeutsch‘ diffamierten Gebäudes wurde 1939 restlos beseitigt.

Das jüdische Jugendheim Essen hat nur kurze Zeit, gerade einmal sechs Jahre, existiert. 1932 fertig-gestellt, 1933/34 seinen Besitzern gestohlen, 1938 in den Novemberpogromen niedergebrannt, die Überreste 1939 abgetragen. Kaum verwunderlich, dass wenig, allzu wenig seiner wechselvollen Ge-schichte noch überliefert ist. In der 1930 erschie-nenen, für Erich Mendelsohns Werk (und für die

weitere Forschung) jahrzentelang maßgeblichen Publikation seines Gesamtschaffens konnte das erst danach entstandene Jugendheim noch nicht be-rücksichtigt sein. Und in der ab 1933 zügig ‚gleich-geschalteten‘ Fachpresse, die bis dahin lebhaftestes Interesse am Werk von Mendelsohn gezeigt hatte, hatte ein jüdisches Bauwerk keine Chance mehr auf angemessene Wahrnehmung. Die jüdische Gemein-de war nach der überstandenen Besetzung des Hauses sicher einfach nur froh, dass sie ihr uner-setzliches Kleinod wiederhatte – vermutlich galt es, jede Aufmerksamkeit in dieser Hinsicht zu vermei-den. So spricht nun einiges dafür, dass dieser sei-nerzeit innovativ, multifunktional und zukunftswei-send angelegte Bau von Erich Mendelsohn unter-schätzt wird.

Seit 1959 steht auf dem Gelände die neue Syn-agoge Essen. Eine Gedenktafel an der Fassade erin-nert an das ehemalige „Haus der jüdischen Ju-gend“. Hugo Hahn blieb zeitlebens stolz auf ‚sein‘ Jugendheim, und auch darüber, in welcher Gestalt es ihm gelungen war, so notierte er in den 1960er Jahren: „Es ist wohl keine Übertreibung, wenn fest-gestellt wird, daß der Bau das schönste Jugendheim in Deutschland war.“

Bildnachweis Alle Fotos, sofern nicht anders angege-ben: Courtesy of the Leo Baeck Institute.

Anmerkungen sind möglichst sparsam gesetzt. Mehr Quellen und Nachweise bringt ein Beitrag im Band „Jugendbewegung und soziale Praxis“ des Arbeits-kreises jüdische Wohlfahrt.1 Den Hinweis auf diese Passage verdanke ich Ernst Kühnle:

Das „Esslinger Tagebuch“ der jüdischen Schülerin Marta Goldschmidt (1935/36), Ostfildern 2015.

2 Dies und die folgenden Zitate Hahns: Hugo Hahn Collec-tion, Leo Baeck Institute, DigiBaeck.

3 Der Schild 12 (1933), Nr. 1, S. 7.4 Erich Mendelsohn: Das Gesamtschaffen des Architekten.

Skizzen, Entwürfe, Bauten, Berlin 1930.5 EMA - Erich Mendelsohn Archiv, Der Briefwechsel von

Erich und Luise Mendelsohn 1910-1953.6 Essener Volkszeitung, 14.01.1932, zit. n. Bernhard von

Schmettow: Jüdische Kindheit in Essen, 2007, S. 443.7 EMA, Briefwechsel.8 Vgl. Regina Stephan, Mendelsohn und seine Mitarbeiter,

S. 185, in: dies. (Hg.): Erich Mendelsoh – gebaute Welten, Ostfildern-Ruit 1998.

9 Israelitisches Familienblatt, 15.12.1932, S. 4.10Nach Schmettow, S. 443ff., basierend auf von der Alten

Synagoge Essen erhobenen Erinnerungsberichten.11Vgl. Ernst Herzfeld: Meine letzten Jahre in Deutschland

1933–1938, in: Das Münster am Hellweg 38 (1985), S. 219.12CV-Zeitung, 25.3.1937, 5. Beiblatt.

Erinnerung an das

Jugendheim: Gedenktafel

am 1959 eröffneten jüdischen

Gemeindezentrum Essen

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LANGFRISTIG

Migration organisierenPaul Nathan und der Hilfsverein der deutschen Juden (1881–1914/18)

David Hamann

ngesichts der aktuell geführten politischen Debatten um die Aufnahme von Flüchtlingen

in Deutschland erinnerte Götz Aly kürzlich an den Berliner Journalisten Paul Nathan (1857–1927) und die Aktivitäten des Hilfsvereins der deutschen Juden.1 Dass Nathan einer der wichtigsten Akteure jüdischer Hilfsorganisationen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war, ist heutzutage beinahe in Vergessenheit geraten, ebenso sein Engagement als streitbarer Kämpfer gegen den Antisemitismus im Berlin der 1880er und 1890er Jahre. Dasselbe gilt für den 1901 in Berlin gegründeten und maßgeb-lich von Nathan initiierten Hilfsverein der deut-schen Juden, einer der einflussreichsten jüdischen Wohltätigkeitsvereine zur Zeit des Kaiserreichs.

Mit 27.000 Mitgliedern und einem Gesamtein-kommen von 933.500 Mark im Jahr 1913 gehörte der Hilfsverein zu den größten und finanzstärksten deutschen Wohlfahrtsverbänden am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Er verfügte über ein reichsweites Netzwerk von Regional- und Lokalfilialen sowie über Dutzende von Informationsbüros im Ausland. Zählt man auch jene hinzu, die mit weniger als fünf Reichsmark Jahresbeitrag nicht als „ordentliche Mitglieder“ galten, so waren etwa 4,5% aller deut-schen Jüdinnen und Juden Mitglieder des Hilfsver-eins.2 Zwischen 1901 und 1918 verbuchte der Ver-ein Einnahmen in Höhe von über 47 Millionen Mark (etwa 382 MillionenEuro).3 Der im Vergleich

mit anderen Hilfsorganisationen seiner Zeit sehr er-folgreiche Hilfsverein verfolgte, ähnlich wie die 1860 in Paris gegründete Alliance Israélite Univer-selle (AIU), zuerst das Ziel, die Juden Osteuropas politisch zu emanzipieren und ihre Lebensbedin-gungen zu verbessern, um so ihre Auswanderung langfristig unnötig zu machen. Zu diesem Zweck wurden Bildungs- und Ausbildungsprojekte für Ju-den in Galizien, Rumänien und Russland ins Leben gerufen. In Palästina gründete der Hilfsverein – als Teil seines Bildungswerks für die Juden des Orients – Kindergärten und Schulen und beteiligte sich an der Gründung eines modernen Schulwesens.

Darüber hinaus sah sich der Hilfsverein für die durch Deutschland führende jüdische Osteuropa-Auswanderung verantwortlich. Die deutschen Ju-den waren in der „Migrationsfürsorge“ für ihre ost-europäischen Glaubensgenossen sowohl kulturell als auch logistisch das Scharnier zwischen den emanzipierten Juden Westeuropas und den politisch und gesellschaftlich unterdrückten „Ostjuden“. Die Emigrationshilfe lag seit 1881 zumeist in den Hän-den lokaler jüdischer Honoratioren; sie ist eng mit der Geschichte der frühen „Abwehr“ des Antisemi-tismus verwoben, was mit Paul Nathan, der sich in beiden Bereichen bewegte, sehr gut dargestellt wer-den kann. Nathan selbst bevorzugte zumeist die Rolle eines „stillen Teilhabers“4 statt einer expo-nierten Stellung im Vordergrund. Im Hilfsverein übernahm der bekannte Berliner Kunstmäzen James Simon (1851–1932)5 die Rolle des repräsentie-renden Vorsitzenden, während Nathan die Vereins-arbeit als „Geschäftsführer im Ehrenamt“6 ausübte. Doch nicht nur deshalb ist Nathan in Vergessenheit geraten, denn wesentlich bedeutsamer dafür waren die Zäsuren durch das „Dritte Reich“. 1938 wurde der Hilfsverein aufgelöst, der Großteil der Mit-glieder entweder zur Emigration gezwungen oder ermordet. Das Bewusstsein des vielfältigen zivilge-sellschaftlichen und sozialen Engagements des deut-schen jüdischen Bürgertums im Kaiserreich, das we-sentlich zur Dynamik der modernen deutschen Ge-sellschaftsentwicklung beigetragen hatte, verblasste angesichts der Erfahrungen der Shoa. Sichtbar wird dies auch an der Quellenüberlieferung des Hilfsver-eins: Obwohl jedem „ordentlichen Mitglied“ jähr-lich ein Geschäftsbericht zugeschickt wurde, sind nur sehr wenige Exemplare erhalten.

Paul Nathan war gebürtiger Berliner, lebte und arbeitete beinahe sein ganzes Leben in der Haupt-

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Kindergarten des Hilfsvereins

in Beirut (6. Geschäftsbericht

1907, S. 75)

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FRISTIGLANG

stadt, die als Heimat der größten deutschen jü-dischen Gemeinde sowohl für die deutschen Juden als auch für die gesellschaftspolitische Entwicklung Deutschlands ein Schlüsselort war. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren die deutschen Juden all-mählich zu einer „Kerngruppe des Bürgertums“ ge-worden und hatten am Aufschwung des jungen Kai-serreichs entscheidenden Anteil genommen. Mit dem Aufkommen des völkischen Nationalismus und verstärkt durch den „Gründerkrach“ von 1873 wurde diese Inklusion jedoch politisch wie gesell-schaftlich zunehmend infrage gestellt und eine „plu-ralistische“ Gesellschaft durch die sich radikalisie-rende Ablehnung vermeintlich „fremder“ Elemente langfristig unmöglich gemacht. Wie die jüngere For-schung überzeugend dargelegt hat, war die Tren-nung des deutschen Bürgertums in „Deutsche“ und „Juden“ bereits eine Konstruktion der Zeitgenos-sen. Viele deutsche Juden, auch Paul Nathan, ver-standen sich als patriotische „Deutsche“ und wand-ten sich erst angesichts der Bedrohung ihrer staats-bürgerlichen Integrität spezifisch „jüdischen Belan-gen“ zu.

Der gesellschaftliche Druck auf jüdische Bürger, jegliche Formen jüdischer Identität vollends zuguns-ten des „Deutschseins“ aufzugeben, wird in dem zeitgenössischen Begriff „Assimilation“ sehr deut-lich. Nicht nur Heinrich von Treitschkes vielzi-tierter Satz „Die Juden sind unser Unglück“, son-dern auch Theodor Mommsens Charakterisierung der jüdischen „Sonderart“ fallen ins Spannungsfeld einer ab 1879 zunehmend wachsenden „Intoleranz vor der Differenz“. Da viele Juden politisch liberal eingestellt waren, geriet auch der politische Libera-lismus, namentlich die liberale Wirtschaftspolitik, als „jüdischer Liberalismus“ ins Visier der antisemi-tischen Bewegung. Mehrheitlich (links)liberal re-gierte Großstädte wurden zu Brutstätten jüdischen Einflusses stilisiert. Die völkisch-nationalistisch mo-tivierte Ablehnung „fremder Elemente“ beinhaltete auch eine generelle Abwehr von Immigration, was nicht nur „Ostjuden“, sondern z.B. auch polnische Saisonarbeiter zu spüren bekamen. Antisemitisch angeheizte Debatten um den jüdischen Einfluss wa-ren somit immer auch Einwanderungsdebatten.7 Berlin war als kulturelles und politisches Zentrum einer der Kristallisationspunkte dieser Entwicklung. Nicht zuletzt war die Stadt seit den 1870er Jahren auch der zentrale Durchgangsort für osteuropäische Auswanderer auf dem Weg nach Westen.

Deutschland war bis zum Ersten Weltkrieg das wichtigste Transitland der osteuropäischen Massen-auswanderung, die zu großen Teilen über die Nord-seehäfen Bremen und Hamburg erfolgte. Die jü-dische Emigration war ein spezifischer Bestandteil dieser Migrationsbewegung. Um 1880 lebten von ca. zehn Millionen Juden weltweit etwa 7,5 Millio-nen in Osteuropa. Zwischen 1880 und 1933 emi-grierten ca. drei Millionen – aus dem Russischen Reich, aber auch aus Rumänien und Galizien – an-gesichts katastrophaler Lebensbedingungen und ju-denfeindlicher Gesetze vor allem nach Übersee: in die USA, nach Kanada, Argentinien, aber auch nach Palästina und in andere Länder.8

Nicht allein die massive Migrationsbewegung an sich, auch die europäische Dimension des moder-nen Antisemitismus und die zunehmend gewalttä-tigen Ausschreitungen gegen osteuropäische Juden9 machte eine internationale Vernetzung jüdischer Hilfsorganisationen unerlässlich. Die frühen „Hülfs-“ und „Grenz-Comités“, die jüdische Emi-granten bei ihrer Auswanderung unterstützten, be-standen teilweise bereits seit den 1860er Jahren. Eine zentrale Koordinierung wurde erstmals 1881 notwendig, als nach dem Attentat auf Zar Alexan-der II. Pogrome im Gebiet der heutigen Ukraine ausbrachen. Tausende Juden flohen über die öster-reichische Grenze in die galizische Stadt Brody. Im April 1882 konstituierte sich in Berlin ein internati-onales Hülfs-Comité für die nothleidenden rus-sischen Juden, dem amerikanische, britische, franzö-sische, österreichische und deutsche Komitees ange-hörten und dem der Berliner Notar Hermann Mar-kower (1820–1897) vorstand. Da Deutschland und Österreich ihre Grenzen für russische Juden schlos-sen, wanderten bis Juni 1882 ca. 9.200 von ihnen überwiegend in die USA aus, wobei junge und ar-beitsfähige Menschen bevorzugt wurden. Etwa 13.000 wurden nach Russland repatriiert.10

Zur selben Zeit kehrte Paul Nathan als frischge-backener Dr. phil. aus Heidelberg nach Berlin zu-rück und begann sich politisch und publizistisch ei-nen Namen zu machen. 1881 lernte er die beiden liberalen Reichstagsmitglieder Theodor Barth und Ludwig Bamberger kennen und arbeitete bald für die der „Sezession“ (der Abspaltung des linken Flü-gels der Nationalliberalen) um Bamberger naheste-hende Tribüne. Ab 1883 schrieb er für die von Barth herausgegebene Zeitschrift Die Nation. Wo-chenschrift für Politik, Volkswirthschaft und Littera-

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LANGFRISTIG

tur. Politisch stand Nathan der (1893 gegründeten) Freisinnigen Vereinigung nahe und war von 1899 bis 1919 Berliner Stadtverordneter für die Sozial-fortschrittliche Fraktion. Dank seines hervorra-genden Organisationstalents wurde er 1884 Mit-herausgeber der Nation und blieb es bis 1904. Die Nation diente innerparteilichen Debatten, garan-tierte aber auch die Verbindung von liberaler Partei und lokalem Milieu und avancierte zu einer bedeu-tenden linksliberalen Zeitschrift im Spektrum der Hauptstadtpresse.11 Innerhalb der liberalen Partei-strukturen erwarb sich Nathan sein organisato-risches Knowhow. Das auf dem Honoratiorenprin-zip beruhende, relativ lose reichsweite Netzwerk aus Orts- und Regionalverbänden mit einem Zen-tralverband an der Spitze diente ihm später als Ma-trix für den Aufbau des Hilfsvereins.

Im Lauf der 1880er Jahre hatte sich die Lage der russischen Juden im „Ansiedlungsrayon“ weiter verschlechtert. Ansiedlungs-, Häuserkauf- und Be-rufsverbote, Quoten an Schulen und Universitäten und schließlich 1891 die planmäßige Vertreibung sämtlicher Juden aus Moskau ließen die Flücht-lingszahlen in die Höhe schnellen. Auch die rumä-nischen Juden, zunehmend drangsaliert und recht-lich zu „Ausländern“ im eigenen Land degradiert, sahen sich verstärkt zur Auswanderung gedrängt. Zwischen 1882 und 1891 entstanden als Reaktion auf die zunehmende Migration aus Osteuropa zahl-reiche neue lokale Unterstützungskomitees in Deutschland.

Auch die Organisation des Transits konnte er-heblich verbessert werden. 1891 wurde der Aus-wandererbahnhof Berlin-Ruhleben als Durchgangs-station für alle osteuropäischen Auswanderer ein-gerichtet. In Kooperation mit der preußischen Re-gierung und den beiden Schifffahrtsgesellschaften HAPAG und LLOYD wurden ab 1892 die preu-ßischen Grenzübergänge de facto privatisiert. An-gestellte von HAPAG und LLOYD übernahmen die Registrierung der ankommenden Flüchtlinge – ein lukratives Geschäft für die Unternehmen. Alle in Preußen registrierten jüdischen Flüchtlinge erhiel-ten Schiffspassagen von HAPAG oder LLOYD, die vom Berliner Zentralkomitee zu speziellen Konditi-onen bezahlt wurden. Diese Praxis behielt später auch der Hilfsverein bei, selbst nachdem es 1904

im Zuge eines Preiskampfes zwischen den deut-schen Schifffahrtsgesellschaften und der norwe-gischen Cunard-Linie zu heftigen Auseinanderset-zungen zwischen Paul Nathan und dem HAPAG-Reeder Albert Ballin gekommen war.12

Trotz aller Verbesserungen bestand die bis 1900 übliche Praxis darin, bei humanitären Katastrophen spontane Geldsammlungen durchzuführen; einen professionell arbeitenden, zentral koordinierenden Verband hingegen gab es nicht. Hilfsmaßnahmen funktionierten zu ineffektiv und zu langsam, was komitee-erfahrene Personen wie Paul Nathan und James Simon kritisierten. Erst mit Gründung des Hilfsvereins im Jahr 1901 wurde dieses Problem gelöst und die Aktivitäten konnten unter einem ef-fizient arbeitenden Dachverband zusammenge-führt werden.

Binnen nur eines Jahres entwickelte sich der Hilfsverein dank des schnell wachsenden, spenden-finanzierten Jahresbudgets und einer engen Zusam-menarbeit mit der deutschen B‘nei B‘rith-Großloge, zu einem weitaus handlungsfähigeren Verband, als es die mit der AIU kooperierenden deutschen Hilfs-komitees gewesen waren. Wichtig waren auch Na-thans und Simons gute Kontakte zum Auswärtigen Amt, was für den Ausbau des Hilfswerks in Palästi-na von beachtlichem Vorteil war. Bezüglich einer potentiell „deutschen“ Ausrichtung des Hilfsver-eins gegenüber der französischen AIU waren einige deutsche AIU-Mitglieder anfangs skeptisch. Auch wenn bezüglich des Bildungswerks Differenzen be-standen, überwogen doch die gemeinsamen An-strengungen in der Migrationsfürsorge, und man arbeitete in freundschaftlicher Konkurrenz zusam-men. Diese Kooperation wurde durch eine bewusst betriebene „Politik der Personalunionen“ in den Vorständen begünstigt.

Der Idee eines jüdischen Nationalstaates stan-den die meisten Mitglieder in der Führungsriege fern oder sogar feindlich gegenüber, dennoch stie-ßen auch zionistisch eingestellte Personen zum Hilfsverein. Die jüdische Besiedlung Palästinas stellte im Zusammenhang mit der osteuropäischen Auswanderung eine wichtige Option dar, weswe-gen die Erschließung Palästinas durchaus im Sinne des Hilfsvereins war, was eine auf pragmatischen Motiven beruhende Kooperation mit zionistischen Gruppierungen möglich machte. Paul Nathan selbst war Mitglied des zionistischen Vereins „Esra“ und galt als profunder Kenner Palästinas. Der be-

„Einschiffung in Bremerhaven

zur Fahrt nach Galveston“ (6.

Geschäftsbericht 1907, S. 102)

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GROMEPO

kannteste im Vorstand des Hilfsvereins engagierte Zionist war der Botanikprofessor und spätere Prä-sident der Zionistischen Weltorganisation, Otto Warburg (1859–1938).

Eine gezielte Förderung der Auswanderung ins-besondere nach Deutschland war jedoch nicht das Ziel des Hilfsvereins. Dies resultierte einerseits aus Vorbehalten der liberalen westeuropäischen Juden gegenüber ihren osteuropäischen Glaubensgenos-sen, die entweder als sehr religiös galten oder de-nen eine Nähe zu sozialistischen Ideen nachgesagt wurde. Hinzu kam die Besorgnis, eine „ostjü-dische“ Einwanderung könne die ohnehin gras-sierenden antisemitischen Tendenzen in der deut-schen Gesellschaft weiter befeuern, eine Sorge, die auch vom Centralverein deutscher Staatsbürger jü-dischen Glaubens (C.V.) geteilt wurde. Das Szena-rio einer unkontrollierten Masseneinwanderung osteuropäischer Juden ins Deutsche Reich war seit den 1870er Jahren virulent. Ein Szenario, das in hohem Maße auch für das Erstarken der antisemi-tischen „Berliner Bewegung“ ab 1879 mitverant-wortlich war. Allerdings handelte es sich bei den meisten osteuropäischen Juden, die sich in Deutschland aufhielten, um Durchwanderer nach Übersee oder Palästina, nicht um Immigranten. In den Augen der Öffentlichkeit war und blieb es je-doch eine der größten Leistungen des Hilfsvereins, „im Verein mit anderen großen jüdischen Wohltä-tigkeitsorganisationen Deutschland davor bewahrt [zu haben], von russischen Juden überflutet zu wer-den“.13

Bis 1906 verschärfte sich die Situation der rus-sischen Juden dramatisch. Nach den Pogromen von Kischinjew (1903), den Unruhen in Folge des Rus-sisch-Japanischen Krieges (1904) und schließlich der Russischen Revolution (1905/06) erreichten die vom Hilfsverein für die Katastrophen- und Sofort-hilfemaßnahmen aufgebrachten Finanzmittel im Geschäftsjahr 1906 das Rekordniveau von 13.361.500 Mark. Als Folge der politischen Ent-wicklungen in Russland befürworteten der Hilfsver-ein und seine Partner nun eine gesteuerte Emigrati-on, um so viele Juden wie möglich aus Russland zu retten. Schon im Dezember 1904 berief der Hilfs-verein die Internationale Konferenz zur Organisati-on der jüdischen Auswanderung aus Osteuropa in Frankfurt am Main ein und wurde auf dieser von den übrigen internationalen jüdischen Hilfsorgani-sationen wie der AIU, der Anglo-Jewish Association

und der Israelitischen Allianz zu Wien mit der Orga-nisation der jüdischen Osteuropa-Auswanderung betraut. Dazu wurde in Berlin das Centralbureau für jüdische Auswanderungsangelegenheiten eröffnet, dem auch eine Zweigstelle in Hamburg angeglie-dert wurde. Nathan unterhielt enge Verbindungen zu dem New Yorker Bankier Jacob Philipp Schiff, der 1906 an der Gründung des American Jewish Committee beteiligt war. Auch die 1891 von Baron Maurice de Hirsch gegründete Jewish Colonization Association wurde ein wichtiger Partner des Hilfs-vereins. Bis 1914 gelang ca. 200.000 jüdischen Per-sonen mit seiner Unterstützung die Auswanderung nach Amerika oder Palästina.14

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde die Auswanderung jäh unterbrochen. Die Tätigkeit des Hilfsvereins in Osteuropa konzentrierte sich fortan auf die Katastrophenhilfe für die Juden in den Ge-bieten des ehemaligen „Ansiedlungsrayons“ und Rumäniens, die hinter der deutschen Front lagen. Für karitative Aufgaben wie die Einrichtung von Suppenküchen, Lazaretten, Wärmestuben und der Beschaffung lebensnotwendigen Brennmaterials oder von Kleidung wurden bis Kriegsende ca. 25 Millionen Mark aufgewandt, mehr als 11 Millionen allein im Jahr 1916. Alle Hilfsmaßnahmen trugen seit 1914 „interkonfessionellen“ Charakter und ka-men Juden wie Nichtjuden zugute. Auch unterhielt der Hilfsverein einen Dienst für Briefverkehr zwi-schen Osteuropa und Amerika. Geldtransfers wur-den ermöglicht, die sich bis Kriegsende auf ca. 10 Millionen Mark in Kleinbeträgen beliefen, Dienste, die auch von deutschen und ausländischen Banken und dem Roten Kreuz in Anspruch genommen wur-den. Zudem engagierte sich der Hilfsverein dafür, in Deutschland gestrandete russische Staatsangehö-rige in Sonderzügen in ihre Heimat zurückzuschi-cken; so wurden vom Hilfsverein etwa 25.000 Rus-sen befördert. Die Kontakte nach Amerika bestan-den weiterhin, allerdings brachen mit dem Kriegseintritt der USA 1917 ein Großteil der Spen-dengelder und der Verbindungen des Vereins weg.15

Die schweren finanziellen Einbußen in der In-flationszeit sowie die politische Nachkriegsord-nung bedeuteten eine weitere tiefe Zäsur für die Arbeit des Hilfsvereins. Als die USA 1921 den „Emergency Quota Act“ beschlossen und als Haupteinwanderungsland für osteuropäische Juden de facto ausfielen, wurde Deutschland vom „Tran-sitland“ verstärkt zu einem (vorübergehenden)

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POGROME

Zielland, was die Debatten um die „Ostjuden“ in den 1920er Jahren weiter befeuerte. 1922 über-nahm mit dem Historiker Mark Wischnitzer (1882-1955) eine jüngere Generation die Leitung des Hilfsvereins. Nathan blieb bis zu seinem Tod wei-terhin im Verein aktiv, bereiste noch 1926 die Sow-jetunion und engagierte sich in der jüdischen Ar-beitsvermittlung bis zu seinem Tod am 15. März 1927.

David Hamann arbeitet am Friedrich-Meinecke-Ins-titut der FU Berlin an seiner Dissertation. Er unter-sucht die Arbeit Paul Nathans und des Hilfsvereins als Teil der transnationalen deutsch-jüdischen Ge-schichte und kombiniert die institutionengeschicht-liche Erforschung des Hilfsvereins mit einer biogra-phischen Darstellung Paul Nathans.

Anmerkungen1 Vgl. Götz Aly, Vom Empfang Schutzsuchender, in: Berliner

Tageblatt (7.9.2015); www.berliner-zeitung.de/meinung/kolumne-zu-fluechtlingen-vom-empfang-schutzsuchender-,10808020,31740212.html (8.12.2015).

2 Die „Mitgliederverzeichnisse“ in den Geschäftsberichten des Hilfsvereins der deutschen Juden (GdHddJ) enthalten alphabetisch nach Städten sortierte Listen, in denen auch Personen mit Kleinstspendenbeiträgen aufgeführt sind.

3 Vgl. 12. GdHddJ (1913), Berlin 1914, S. 13; vgl. Tabelle „Gesamteinnahmen und Ausgaben des Hilfsvereins der deutschen Juden bis Kriegsende“, in: Festschrift anlässlich der Feier des 25jährigen Bestehens des Hilfsvereins der deutschen Juden. S. 59; Umrechnungsfaktor1 Reichsmark / Goldmark (1913) = 8,1 Euro (2007) (vgl. Pressglas-Kor-

respondenz, 2007/4); online: www.pressglas-korrespon-denz.de/aktuelles/pdf/pk-2007-4w-sg-gruenderkrise.pdf (20.4.2016).

4 Theodor Barth an Paul Nathan vom 30.3.1907, in: Sonderarchiv Moskau, Bestand 628, 2, Bd. 5, Bl. 6.

5 Vgl. Olaf Matthes, James Simon. Mäzen im Wilhelmi-nischen Zeitalter, Berlin 1999.

6 Vgl. 1. GdHddJ (1901-02), Berlin 1903, S. 9.7 Till van Rahden, Juden und die Ambivalenzen der bürger-

lichen Gesellschaft in Deutschland von 1800-1933, in: Christina von Braun (Hg.), Was war deutsches Judentum?, Berlin [u.a.] 2015, S. 258; vgl. Mathias Berek, Neglected German-Jewish Visions for a Pluralistic Society: Moritz La-zarus, in: LBYB 60, S. 45-59; Friedrich Stampfer, Statt eines Nachrufs!, in: C.V. Zeitung, 14.4.1927, S. 202; Zyg-munt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M. 1995, S. 136; Ingo Haar, Jü-dische Migration und Diversität in Wien und Berlin 1667/71-1918, Habil (noch ungedruckt), S. 394ff.

8 Vgl. Michael Brenner, Kleine jüdische Geschichte, Mün-chen 2008, S. 233.

9 Zur Übersicht vgl. Petersen/Salzborn (Hg.), Antisemitism in Eastern Europe. History and Present in Comparison, Frankfurt/M. 2010; Ingo Haar, Jüdische Zivilgesellschaft und transnationale Flüchtlingspolitik in Zentraleuropa um 1900. Die „Allianzen“ in Wien und Berlin vom improvi-sierten Einsatz in Brody 1881 bis zur geregelten Amerika-migration, in: Ulla Kribbernegg u.a. (Hg.), „Nach Amerika nämlich“ Jüdische Emigration in die Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert, S. 91-109; Tobias Brinkmann, Migration und Transnationalität, Paderborn 2012, S. 61ff.

10 Vgl. Ingo Haar, Jüdische Migration, S. 401f.11 Zur liberalen Presselandschaft und der Stellung der Nation

vgl. Wolther von Kiseritzky, Liberale Parteieliten und poli-tische Steuerung der Öffentlichkeit im Kaiserreich. Die Vernetzung von Partei und Presse, in: Dieter Dowe u. Jür-gen Kocka (Hg.), Parteien im Wandel. Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, München 1999, S. 85-108.

12 Vgl. Nicole Kvale Eilers, Jewish Migration through Prussia and American Remote Control, in: Tobias Brinkmann (Hg.), Points of Passage, Jewish Transmigrants from Eas-tern Europe in Scandinavia, Germany and Britain 1880-1914, New York/Oxford 2013, S. 63-84; Tobias Brink-mann, Why Paul Nathan Attacked Albert Ballin: The Tran-satlantic Mass Migration and the Privatization of Prussia's Eastern Border Inspection, 1886-1914, in: CEH 43 (2010), S. 47-83.

13 Fränkischer Kurier vom 8.1.1910, zit. nach 8. GdHddJ (1909), Berlin 1910, S. 13.

14 Vgl. Protokoll der Internationalen Konferenz zur Organi-sation der jüdischen Auswanderung aus Osteuropa zu Frankfurt am Main, 4-5. Dezember 1904, in: Sonderarchiv Moskau, Bestand 1325, opis 1, Bd. 74, Bl. 61-78, Tabelle Gesamteinnahmen und Ausgaben des Hilfsvereins der Deutschen Juden bis Kriegsende, in: Festschrift anlässlich des 25jährigen Bestehens des Hilfsvereins der Deutschen Juden, gegründet am 28ten Mai 1901, Berlin 1926, S. 59.

15 Vgl. 17. GdHddJ, Berlin 1918, S. 19; Paul Nathan, Entstehung und Aufgaben des Hilfsvereins der deutschen Juden. Pogrome/Das Hilfswerk im Kriege, in: Festschrift anlässlich der Feier des 25jähigen Bestehens, S. 14ff.

„Die Auswanderer verlassen

die Hallen und begeben sich

auf den Dampfer der

Hamburg-Amerika-Linie.“

Ost und West, 1905, S. 474

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RAMAPANO

BuchgestöberItzik Manger – ein europäischer jiddischer DichterMit Niemandssprache legt Efrat Gal-Ed ein umfas-sendes Werk über Leben und Schaffen Itzik Man-gers (1901–1969) vor. Entlang der Lebensstationen Mangers und der Menschen, die ihn begleiteten, ge-staltet sie in einer Art „Schachteltechnik“ ein Ne-beneinander von „Einzelschicksal und Kontext, Le-ben und Kulturraum“. Die Anordnung des Textes, die Talmud-Ausgaben nachgebildet ist, lädt den Le-ser ein, selbst einen roten Faden durch das Leben Mangers zu spinnen, Themen und Werke zu verfol-gen, die Efrat Gal-Ed einer Lebensphase zuordnet,

aber doch den Leser selbst entscheiden lässt, ob er die beigeordnete Information jetzt oder später liest, ob er mit Hilfe des Personen-, Sach- und Werkregis-ters erneut zurückblättern wird, um einen anderen roten Faden zu verfolgen, das Bild, das er sich ge-macht hatte, zu verändern. Mangers Werke sind dank dieser Technik nicht nur der Zeit zugeordnet, in der sie entstanden sind, sondern auch früheren und späteren Zeiten, auf die sie noch oder schon Be-zug nehmen. Gal-Ed wählt als Titel das Wort „Nie-mandssprache“, mit dem Manger selbst 1925 das Jiddische bezeichnet hat und lässt diesen Titel kor-respondieren mit einem unveröffentlichten Zitat Mangers im Epilog, in dem es heißt: „Ich war Mil-lionen gewesen – Jetzt bin ich Ein-Gestalt“. Der „Ein-Gestalt“ in ihrem Werden verpflichtet, ordnet Gal-Ed im „Kommentar“ die reiche Welt jiddischer Kultur in nahezu lexikaler Genauigkeit als Mangers notwendigen Referenzrahmen bei, so dass der Leser nebenbei Zugang zu jiddischer Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts und früher findet. Man kann nur wünschen, dass dieses Buch, das etliche, hoch-wertige Fotos enthält, zahlreiche Leser findet und sie neugierig macht auf all das, was jiddische Litera-tur ausmacht. Evi Michels

Moshé Feldenkrais – das abenteuerliche Leben Obwohl die Feldenkrais-Methode seit Jahrzehnten

vielen Menschen dazu verhilft, sich von gesundheit-lichen Beschwerden zu befreien und sich ihrer kör-perlichen Fähigkeiten bewusst zu werden, war bis-lang über den Mann, der sie entwickelt und von dem sie ihren Namen hat, nicht viel bekannt. Das ändert sich nun mit einer Biographie, in der Christian Buck-ard das an unwahrscheinlichen Wendungen reiche und in seiner ersten Hälfte geradezu abenteuerliche Leben von Moshé Feldenkrais erzählt. In einer jü-dischen Familie aufgewachsen und im Cheder erzo-gen, ließ der Vierzehnjährige 1919 das weißrussische Städtchen Baranowicze hinter sich, um in Palästina ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Er arbeitete auf den Baustellen von Tel Aviv und verteidigte das im Entstehen begriffene jüdische Gemeinwesen mit der Waffe. Seine Wissbegierde und seine mathema-tisch-naturwissenschaftliche Begabung führten ihn 1930 nach Paris, wo er nach einem Studium der In-genieurswissenschaften am von Frédéric und Irène Joliot-Curie geleiteten Radium-Institut forschte. 1940 rettete er sich und ihm von der französischen Regierung anvertraute Dokumente vor den Deut-schen nach England. Seinen Beitrag zum Krieg gegen Nazi-Deutschland leistete er in einer Einrichtung, in der eine Technologie zur Ortung von U-Booten ent-wickelt wurde. 1950 entschloss sich Feldenkrais, in die Gesellschaft zurückzukehren, die er in den 20er Jahren mit aufgebaut und die inzwischen ihre staat-liche Unabhängigkeit erklärt und verteidigt hatte. 1953 ließ er sich wieder in Tel Aviv nieder, wo er bis zu seinem Tod 1984 lebte. An seiner Methode arbei-tete Feldenkrais seit den 20er Jahren. Er verfasste ein hebräisches Buch über Jiu-Jitsu, und in Paris und London suchte er sich Meister, bei denen er Judo lernte. An sich selbst und an anderen beobachtete er, wie der menschliche Körper sich bewegt und wie die-se Bewegungen mit der Psyche in Wechselwirkung stehen. Aus autodidaktisch erworbenem medizi-nischem und psychologischem Wissen, Intuition und der Fähigkeit, sich auf sein Gegenüber einzulassen, entwickelte er seine Methode. Ein gewisses Missver-hältnis von Theorie und Praxis lässt sich nicht über-sehen. Feldenkrais erhob den Anspruch auf Wissen-schaftlichkeit, es fiel ihm aber schwer, in Worte zu fassen und anderen zu vermitteln, was er machte. Die allem Anschein nach unbestreitbaren therapeu-tischen Erfolge seiner Methode lassen sich mit For-meln wie der, dass Körper und Geist eine Einheit bil-den, nicht zureichend erklären. So ist es nicht ver-wunderlich, dass einige seiner Anhänger darauf ver-

Efrat Gal-Ed: Niemandssprache. Itzik

Manger – ein europäischer Dichter. Berlin,

Jüdischer Verl. im Surkamp Verl., 784 S.,

44,00 Euro.

Ebenfalls dort erschienen: „Dunkelgold“,

Gedichte und Balladen Itzik Mangers als

zweisprachige Ausgabe, 431 S., 29,95 Eu-

ro.

Christian Buckard: Moshé Feld-

enkrais. Der Mensch hinter der

Methode, Berlin Verl. 2015,

368 S., 24,00 Euro.

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PANORAMA

fielen, Feldenkrais als Guru anzuhimmeln. Es spricht für Buckards Buch, dass sich beim Lesen solche Fra-gen stellen. Sympathie für Feldenkrais und eine ge-wisse Distanz ergeben eine erfreulich nüchterne und zugleich engagierte Darstellung. Das Buch ist so gut und gescheit geschrieben, dass einem erst beim Blick in die Anmerkungen klar wird, wie viel Arbeit darin steckt. Buckard hat eine Vielzahl von unbekannten Dokumenten ausfindig gemacht und mit Zeitzeugen gesprochen. Die für Feldenkrais’ persönliche Lebens-umstände oft entscheidende politische und gesell-schaftliche Situation ist wie nebenbei anschaulich skizziert. Auch wer für die Feldenkrais-Methode nur wenig Interesse aufzubringen vermag, liest diese so anregende wie kurzweilige Biographie über ihren Schöpfer mit Gewinn. Rainer Wenzel

Intellektuelle BiographieFür seine jetzt in deutscher Übersetzung erschienene umfassende Biographie über Theodor Herzl (1860-1904) hat der Jerusalemer Politikwissenschaftler Shlomo Avineri die bisher wenig beachteten, 1500 Seiten umfassenden Tagebücher Herzls ausgewertet. Er beschreibt die „intellektuelle und spirituelle Odyssee“, die aus dem unbedeutenden Privatmann, promovierten Juristen, Journalisten und Romancier innerhalb von neun Jahren einen führenden jü-dischen Politiker werden ließ, dem es gelang, die „Judenfrage“ auf die politische Agenda des alten Europas am Ende des 19. Jahrhunderts zu setzen. Dabei widerlegt der Autor die gängige These, die Dreyfus-Affäre, über die Herzl 1894/95 als Pariser Korrespondent berichtet hatte, habe Herzl zum Zi-onisten gemacht. Es waren vielmehr die Erschütte-rungen in der österreichisch-ungarischen Monar-chie und das Erstarken des neuzeitlichen Juden-hasses, die zu einer dramatischen Wende bei Herzls Beschäftigung mit der jüdischen Problematik führ-ten. Ihm wurde klar, dass die Juden in ganz Europa in Gefahr waren. Seine Idee, die Schaffung einer jü-dischen Heimstätte in Palästina, musste ohne die Unterstützung der Großmächte zu seinen Lebzeiten eine Vision bleiben, ein Traum, der erst unter geän-derten regionalpolitischen Voraussetzungen über 40 Jahre nach seinem frühen Tod Wirklichkeit werden konnte. Die ideologischen und politischen Grundla-gen hierfür hatte Herzl während der sieben Jahre seiner Tätigkeit als erster Präsident der 1897 beim ersten Zionistenkongress in Basel gegründeten Zio-nistischen Weltorganisation gelegt. jr

Kurz angesprochen

Anna Rohr: Dr. Heinrich Spiero (1876-1947).

Sein Wirken für die Christen jüdischer Herkunft

unter dem NS-Regime. Berlin, Metropol 2015.

312 S., Abb. ISBN 978-3-86331-269-5, 22,00

Euro.

Spiero, einst ein vielgelesener Literat und Literatur-historiker, Nachfahre der Königsberger Heimann Jolowicz-Familie von Pionieren des modernen An-tiquariatswesens, wird in dieser detaillierten Dis-sertation als hoch engagierter Helfer vieler Chris-ten jüdischer „Herkunft“ in der NS-Zeit gewürdigt. Die „etwa 400 000 christlichen und konfessions-losen „Nichtarier“ (einschließlich „Mischlinge“ und indirekt mitbetroffene Ehepartner)“ waren weitgehend auf sich allein gestellt. Jüdisch gesehen „Abtrünnige“, waren sie von vielen Kirchenge-meinden ausgeschlossen. Ein „Großteil der Kirchen sah es nicht als seine Aufgabe an, den Christen jü-discher Herkunft zu helfen“. Im Juli 1933 wurde als Selbsthilfeorganisation der Reichsverband christ-lich-deutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung e.V. gegründet. Spieros Leben, sein intensives Wirken und das seiner Mit-streiter werden als für viele „Nichtarier“ exempla-risch geschildert. Ein überzeugendes Werk zu einer noch wenig erschlossenen Dimension mutiger Selbstbehauptung unter der Diktatur.

Amalia Reisenthel: Orientalismus als Mittel zur

Identitätsfindung. Sepulkralarchitektur auf

dem Jüdischen Friedhof Breslau. Münster u.

München, LIT-Verlag (Kasseler Studien zur Se-

pulkralkultur 22) 2015. 456 S. ISBN 978-3-

643-13086-0, 119,90 Euro.

Am Beispiel des Breslauer Friedhofs (Lohestrasse/ul. Ślężna) und seinen wenigen markant orientali-sierenden Grabmalen entfaltet die überaus reich be-bilderte Dissertation (TU München) ein gesamteu-ropäisches Panorama des jüdischen „Orientalismus“ (sei's maurisierend, sei's ägyptisierend) zwischen ca. 1855 und dem II. Weltkrieg. Weiträumiger, leicht lesbarer Überblick, der auch um die allgemein-his-torische und kulturell- wie religiös-jüdische Einord-nung bemüht ist, somit auch Einführungen ins Ju-dentum der Moderne und ortsgeschichtliche Resu-més beinhaltet. Ohne die seit längerem stets zu be-mühenden „Identitätsfindungsprozesse“ und ihre

Shlomo Avineri: Theodor Herzl

und die Gründung des jü-

dischen Staates. Suhrkamp,

Berlin 2016. 362 S. 24,95 Euro.

ISBN 978-3-633-54275-8.

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KULTURMEMORIAL

„Träger“, die Bauten und Grabmale, geht es aller-dings auch hier nicht ab.

Gianfranco Miletto: La Biblioteca di Avraham

Ben David Portaleone secondo l'inventario della

sua eredità. Firenze, L. S. Olschki 2013. XII, 141

S. ISBN 978-88-222-6273-8, 19,00 Euro.

Das Inventar des Nachlasses des medico ebreo Av-raham ben David Portaleone aus Florenz (1542–1612) verzeichnet in äußerst knapper Form die Ti-tel einer der größten privaten Bibliotheken des 16./17. Jhdts. Sein Entdecker erschließt nahezu alle Werke in größtmöglicher bibliographischer Genau-igkeit: Über 1100 Titel in den Sprachen Hebräisch, Latein und Griechisch! Ein Fest also für Bibliophi-le, speziell jene der Epoche der Gegenreformation und ihrer Kultur.

Pieter Kohnstam: Mut zum Leben. Eine Familie

auf der Flucht in die Freiheit. Würzburg, Ergon

(Franconia Judaica 10) 2016. 266 S., Abb. ISBN

978-3-95650-159-3, 19,00 Euro.

Handelshaus Kohnstam, Spielwaren, Exporteur in alle Welt, Fürth. Die Flucht aus Fürth in die Frei-heit, über Amsterdam, Belgien, Frankreich nach Argentinien, lebendig erzählt. Der zweite Teil von Helmut Schwarz (Mut zum Handeln, S.184- 263) dokumentiert die Geschichte der Fa. M. Kohnstam & Co. von den Anfängen an und bis zum Kampf um die Restituierung des geraubten Eigentums: K. versus Schickedanz.

Michael Matheus; Stefan Heid (Hrsg.): Orte der

Zuflucht und personeller Netzwerke. Der Campo

Santo Teutonico und der Vatikan 1933-1955.

Freiburg i. Br., Herder 2015. 592 S. ISBN 978-3-

451-30930-4, 58,00 Euro.

Nach 1933 fanden 18000 Juden und 2000 weitere Emigranten in Italien Zuflucht, darunter auch Wis-senschaftler und Wissenschaftlerinnen – einige we-nige auch in vatikanischen Institutionen und im ex-territorial gelegenen Campo Santo Teutonico. Un-ter den 19 Beiträgen einer Tagung des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft finden sich auch solche zu prominenten Konvertiten wie Hermine Speier („Spinni“) und Stephan Kuttner, sowie zu Helfenden und um Rettung (von Juden, Kriegsge-fangenen, Deserteuren) bemühten Persönlich-

keiten wie dem Iren Hugh O'Flaherty (1898–1963). Und wie hat der kosmopolitische Charakter des Wissenschaftsstandorts Rom das jeweilige wis-senschaftliche Werk geprägt? Nicht zuletzt: „Diese deutschsprachige Welt am Tiber verfügt mit dem Friedhof des Campo Santo Teutonico sowie dem Cimitero Acattolico auch über einzigartige Orte der Memorialkultur, wo zahlreiche Deutsche bestattet wurden.“

Hans Peter Klauck: Jüdisches Leben in der Stadt und im Land-

kreis Saarlouis 1680 - 1940. (Veröffentlichungen der Vereini-

gung für die Heimatkunde im Landkreis Saarlouis 20) 2016.

955 S. ISBN 978-3-933926-65-4.

Monumentale regionalgeschichtliche Studien mit Hunderten von Kurzbiographien zu jüdischen Bür-gern und Bürgerinnen im Raum Saarlouis – famili-engeschichtlich interessant z.B. die Musiker- (Schächter-, Handelsmann-) und Komponistenfa-milie Alkan, (weitläufig verwandt mit Charles Va-lentin Alkan) – heute vergessen und unbekannt, hier wiedererinnert. Wichtiges Kompendium auch für unsere epidat-Dokumentationen der Friedhöfe Saarlouis, Dillingen-Diefflen und Saarwellingen.

Śladami Żydowskimi po Kaszubach. Przewodnik

= Jüdische Spuren in der Kaschubei : ein Reise-

handbuch. Red. von Miloslawa Borzyszkowska-

Szewczyk und Christian Pletzing. München, Mei-

denbauer [u.a.] 2010. 448 S., Abb. ISBN 978-3-

89975-178-9.

Ein interdisziplinäres, internationales Team, eine umfangreiche Einführung mit historischen, religi-ösen und kulturwissenschaftlichen Passagen, histo-rische und aktuelle Fotos, biografische Informati-onen und Zeitzeugenberichte – das Reisehandbuch ist mehr als ein Reisebegleiter, es ist eine Handrei-chung zur jüdischen Geschichte in der Kaschubei: für breite Öffentlichkeit, für Heimatforschung und für die Schulen.

Erwin Bosch, Esther Bloch, Ralph Bloch: Der jü-

dische Friedhof von Krumbach-Hürben (Quel-

len und Darstellungen zur jüdischen Geschich-

te Schwabens 4), Augsburg 2015. 624 S. ISBN

978-3-89639-990-8, 44,80 Euro.

Aufwändige Dokumentation mit ausführlich einlei-tenden Kapiteln zur Geschichte der Gemeinde und des Friedhofs, dem Tahara-Haus und der Gestal-tung der Grabmale, ergänzt durch einen Exkurs

ImpressumHerausgeberSalomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen

ISSN1436–1213

RedaktionProf. Dr. Michael BrockeDipl.-Soz.-Wiss. Harald LordickDr. Beata MacheAnnette Sommer

Satz und LayoutHarald Lordick · Beata Mache

Postanschrift der RedaktionEdmund-Körner-Platz 245127 Essen

Telefon+49(0)201-82162900

Fax+49(0)201-82162916

E-Mai [email protected]

Internetwww.steinheim-institut.de

DruckBrendow Printmedien47443 Moers

VersandVierteljährlich im Postzeitungsdienstkostenlos für unsere Leser

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MEMORIALKULTUR

zum Hürbener „Memorbuch“. Eine gründliche Auseinandersetzung mit den Inschriften, ihrem Aufbau, ihrer historischen Entwicklung über den Zeitraum der Belegung des Friedhofs fehlt jedoch. Der Dokumentationsteil hätte den hebräischen In-schriften, ihrem Verständnis und ihrer korrekten Übersetzung weitaus mehr Sorgfalt widmen müs-sen. Und sollte nicht eine so großzügig ausgestatte-te Publikation den Grabmalen selbst in größeren und besseren Abbildungen (und hier und da einem Detail) Raum geben können? Ein Anhang mit Re-gistern erleichtert den Zugang, ergänzt durch den beigelegten Plan. Es bleibt ein zwiespältiger Ein-druck.

Ludger M. Hermanns: Psychoanalyse in Selbst-

darstellungen. Frankfurt am Main, Brandes & Ap-

sel 2015. 294 S. ISBN 978-39555-8070-4, 29,90

Euro.

10. Band der Reihe „Psychoanalyse in Selbstdar-stellungen“: Fünf autobiographische Porträts aus Deutschland (Paul Lambert Janssen, Anita Eck-staedt, Hildegard Munzinger-Bornhuse), England (Anne-Marie Sandler, aus der Schweiz stammend) und den USA (Peter J. Loewenberg, Los Angeles, geb. Hamburg 1933, Enkel des Dichters und Päda-gogen Jakob Loewenberg). Alle setzen sich mit dem „geschichtlichen Kontext“ intensiv auseinan-der – eine nicht nur für psychoanalytisch Interes-sierte attraktive Lektüre.

Eingegangene Bücher (Besprechung vorbehalten)

Cölestine Margarethe Drexler; Roland Paul: Briefe aus Mannheim, Gurs und Grenoble (1939–1942). Das Schicksal einer jüdischen Frau aus Landau in der Pfalz. Kaiserslautern, Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde 2014. 392 S., Abb. ISBN 978-3-927754-82-9, 19,80 Euro.

Else Sohn-Rethel; Hans Pleschinski: Ich war glücklich, ob es regnete oder nicht. Lebenserinnerungen. München, C. H. Beck 2016. 255 S. ISBN 978-3-406-69165-2, 22,95 Euro.

Institut für die Geschichte der deutschen Juden. 50 Jahre, 50 Quellen. Festschrift zum Jubiläum des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden. Hamburg 2016. 188 S.

Rotraud Ries; Rebekka Denz: Mitten unter uns. Landju-den in Unterfranken vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhun-dert : die Wanderausstellung im Buch. Kooperationspro-

jekt „Landjudentum in Unterfranken“ und Johanna-Stahl-Zentrum. Würzburg 2015. 141 S., Abb.

Christian Dietrich: Verweigerte Anerkennung. Berlin u. Potsdam, Metropol 2014. 240 S. ISBN 978-3-86331-151-3, 22,00 Euro.

Hanno Müller: Juden in Laubach und Ruppertsburg. Neustadt a. d. Aisch, Philipp Schmidt 2015. 228 S., Abb. ISBN 978-3-87707-979-9, 15,00 Euro.

Waltraut Zachhuber: Ein Foto spricht zu uns. Stolper-steine für jüdische Schulkinder in Magdeburg. Halle (Saale), Mitteldeutscher Verl. 2015. 136 S., Abb. ISBN 978-3-95462-401-0, 9,95 Euro.

Hanno Müller: Juden in Pohlheim. Neustadt a.d. Aisch, Philipp Schmidt 2015. 208 S., Abb. ISBN 978-3-87707-954-6, 15,00 Euro.

Fritz Backhaus; Raphael Gross; Sabine Kößling; Mirjam Wenzel: Die Frankfurter Judengasse. Katalog der Dauer-ausstellung des jüdischen Museums Frankfurt. Geschich-te, Politik, Kultur. München, C.H. Beck 2016. 192 S., Abb. ISBN 978-3-406-68987-1, 14,95 Euro.

Aschkenas. Themenschwerpunkt: Jüdisches Erbe. 2015, Heft 2,25. Berlin u. New York, de Gruyter 2015. 213 S.

Ingrid Wölk: Leo Baer. 100 Jahre deutsch-jüdische Ge-schichte. Essen, Klartext (Schriften des Bochumer Zen-trums für Stadtgeschichte 6) 2016. 436 S. ISBN 978-3-89861-595-2, 19,95 Euro.

Gisela Friedemann: Begegnungen mit dem Camp de Rivesaltes. Zur Geschichte eines Internierungslagers in Südfrankreich 1939–2007. Konstanz, Hartung-Gorre Verl. 2016. 72 S., Abb. ISBN 978-3-86628-558-3, 14,80 Euro.

Ingild Janda-Busl: Juden im Landkreis Tirschenreuth. Band 3: Waldsassen. Bamberg, Weiß 2013. 432 S., Abb. ISBN 978-3-940-82127-0.

Benigna Schönhagen: „Wir denken voll Wehmut zurück“. Der Weg der Familie Jacob aus Augsburg = „We think back full of sorrow“. Augsburg, Jüdisches Kulturmuseum Aug-sburg-Schwaben (Lebenslinien 8) 2015. 116 S. ISBN 978-3-9814958-9-8.

Lili Thau: Versuche zu überleben. Die Geschichte einer jüdischen Familie unter NS-Herrschaft in Lemberg und Galizien. Konstanz, Hartung-Gorre 2016. 366 S. ISBN 978-3-86628-553-8, 29,80 Euro.

Madeleine Dreyfus: Ein ziemlich jüdisches Leben. Säku-lare Identitäten im Spannungsfeld interreligiöser Bezie-hungen. Köln [u.a.], Böhlau (Reihe Jüdische Moderne; 16) 2016. 296 S. ISBN 978-3-412-50350-5, 40,00 Euro.

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Mitteilungen30 Jahre Steinheim-Institut | Johannes-Rau-Forschungs-gemeinschaft vor Ort Vor 150 Jahren, am 1. Mai 1866, starb der jüdische Arzt und Gelehrte Salomon Lud-wig Steinheim in Zürich. 120 Jahre später wurde in Duisburg das Institut zur Erforschung der deutsch-jüdischen Geschichte gegründet, das seinen Namen trägt. Den 30. Geburtstag des Steinheim-Instituts wollen wir zum Anlass nehmen, am 15. November 2016 Projekte aus unserer aktuellen Arbeit zu prä-sentieren und mit prominenten Gästen Schlaglichter

auf Themen und Trends der Jüdischen Studien zu werfen. Zu dieser Veranstaltung im Rahmen der Rei-he „JRF vor Ort“ laden wir schon jetzt sehr herzlich Kollegen, Freunde und an jüdischer Kultur Interes-sierte nach Essen in das einstige Rabbinerhaus an der Alten Synagoge ein. red

Schenkung Jonas-Cohn-Archiv Im Jahr 2001 hat das Steinheim-Institut von Prof. Dr. Dieter-Jürgen Lö-wisch das Jonas Cohn-Archiv als Dauerleihgabe er-halten. Seither wurde das Archiv, das den wissen-schaftlichen und große Teile des privaten Nachlasses des Philosophen und Pädagogen (1869–1947) um-fasst, wissenschaftlich bearbeitet. Seit 2011 ist es durch eine Online-Präsentation erschlossen (http://

steinheim-institut.de/jonas-cohn-archiv/). Der Nachlass des in der Emigration verstorbenen Gelehrten bietet eine Fülle von Quellen und Material zu philosophischen, pädagogischen und psychologischen Themen, zu Zeitgeschichte, Religion und Literatur. Er ist Spiegel eines deutsch-jüdischen Gelehrtenlebens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Anlässlich seines 80. Ge-burtstags hat nun Prof. Löwisch das Jonas Cohn-Ar-chiv unserem Institut geschenkt. Wir danken ihm sehr herzlich für diese Gabe zum passenden Zeit-punkt: Das Steinheim-Institut bereitet eine kritische Neuausgabe ausgewählter Werke und Handschriften

aus dem Nachlass vor. Sobald eine Förderzusage vor-liegt, kann die Arbeit beginnen. red

Promotionspreis Die Universität Duisburg-Essen hat die Mitarbeiterin des Steinheim-Instituts, Dr. Beata Mache, für ihre herausragende Leistung mit dem Promotionspreis ausgezeichnet. Beata Mache hat eine vollständige digitale Edition der beinahe ver-schollenen Universal-Kirchenzeitung vorgelegt, die-se entsprechend zeitgemäßer Editionsstandards er-schlossen und mittels Methoden der Digital Huma-nities analysiert. Die 1837 erschienene Universal-Kirchenzeitung für die Geistlichkeit und die gebil-dete Weltklasse des protestantischen, katholischen und israelitischen Deutschlands war ein früher pu-blizistischer Versuch interreligiöser Verständigung; dass ihre digitale Edition nun durch Open Access schrankenlos online zugänglich ist, erlaubt weitere spannende Forschungen. red

Wissensnacht Ruhr Das Ruhrgebiet als Wissensmetro-pole – Live-Experimente, Mitmach-Aktionen, Workshops und Diskussionen – selbstverständlich beteiligt sich auch unser Institut an der Wissens-nacht Ruhr, 30.9.2016, 16–22 Uhr. Den interak-tiven Infostand Orte jüdischer Geschichte entdecken – Mit dem Steinheim-Institut auf historischer Spu-rensuche finden Sie im Haus der Technik gegenüber dem Hbf. Essen. Wir freuen uns darauf, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen und zeigen gerne unsere digitalen Angebote zur deutsch-jüdischen Geschich-te, die Sie auch selbst ausprobieren können. hl

Die Kooperation des Steinheim-Instituts mit demArbeitskreis jüdische Wohlfahrt nimmt Gestalt an. Ge-meinsam mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland planen wir die Konferenz „100 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle“ am 19.–21. November 2017. Vorschläge für Tagungsbeiträge sind uns will-kommen. Details finden Sie auf der neuen Home-page http://akjw.hypotheses.org des Arbeitskreises, mit dem wir nun auch eine der Geschichte der jüdischen Wohfahrt gewidmete Mailingliste unterhalten. hl

Ulrich Radtke, Rektor der Uni-

versität Duisburg-Essen, mit

Beata Mache

Dieter-Jürgen Löwisch,

Margret Heitmann,

Michael Brocke (v. r.)

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Sommerfrischeeine Eltern machten jeden Sommer eine Ver-gnügungsreise, doch wir Kinder wurden zu

Hause gelassen. Nur einmal entschloß sich Mutter auf Anregung der Schwägerin Pauline, die mit fünf Sprößlingen gesegnet war, sich auch mit ihren zwei Kindern einer gemeinsamen Reise ins Riesengebirge anzuschließen. Man mußte damals Betten, Wäsche und alles, was dazu gehört, mitnehmen. Endlich wa-ren alle Vorbereitungen getroffen und wir fuhren los. Zwei Mütter mit sieben Kindern und zwei mächtigen Bettsäcken, in die noch zuletzt allerhand Kochgeschirr hinein gestopft wurde, was ihre Wurstform nicht veredelte. Die Eisenbahnfahrt en-dete damals in Hirschberg. Die Mütter nahmen dort einen Wagen, um ein Quartier zu suchen, während die eine Kinderhälfte – die anderen mußten zur Be-wachung der Bettsäcke auf dem Bahnhof bleiben – in der alten Stadt und ihren Bogengängen herum-strolchte. Für mich war das Interessanteste die Gna-denkirche, nicht wegen ihres Alters oder ihrer Bau-art, sondern wegen eines wundervollen Echos, das man dort hören konnte. War es möglich? Stand wirklich kein Mensch drüben an der inneren Seite, der die Worte nachsprach? Erst langsam gelang es meinem klugen Vetter, dem Tertianer, mich zu über-zeugen daß es ein richtiges Echo war. Ja, Reisen bildet! Spät kamen die Mütter zurück. Sie hatten, nach vielem Suchen endlich in Hermsdorf eine freundliche Wirtin gefunden, die sich nicht an dem Kinderreichtum stieß. Doch die Bettenfrage war schwierig. Zwei Kinder mußten immer zusammen-schlafen, anders ging es nicht. Da sieben durch zwei nicht glatt aufgeht, so bekam mein Bruder ein gan-zes Bett für sich. Er mußte immer eine Extrawurst haben! Mir wurde die jüngste Kusine Martha zuge-teilt, sie war erst sechs Jahre alt und hatte kurze Bei-ne. Von Hirschberg fuhren wir mit einem Leiterwa-gen, auf den Bettsäcken thronend, vergnügt in die Berge hinein. Ich war sehr enttäuscht. Einen Berg hatte ich mir wie einen mächtigen Eiskegel vorge-stellt, auf einer Seite steigt man herauf, auf der an-deren rutscht man herunter. Nein, die Berge waren lange nicht so hoch und nicht so spitz, wie ich ge-dacht. So geht es einem gewöhnlich im Leben; es ist nichts so groß und nichts so klein wie man denkt.

In Hermsdorf empfing uns die freundliche Wir-tin. Es war uns eingeschärft worden, uns sehr still und sittsam zu benehmen. Wir benahmen uns. Das Haus hatte einen kleinen Vorgarten, wenn man den

passierte, kam etwas Wunderschönes, — nämlich ein Bach. Ein rauschender klarer Gebirgsbach, nicht so ein übel duftender Rinnstein, wie in der Breslauer Straße. Dieser Bach gab uns Anregung in Hülle und Fülle. Wir setzten vorsichtig Papier-schiffe mit Vergißmeinnicht beladen in das Wasser, blickten ihnen nach, wie sie stolz dem großen Meere zueilten, wir sahen flinke Forellen vorbei-schießen, wir waren nicht geschickt genug, sie zu fangen – dazu mußte man eingeboren sein –, wir warfen große Steine in den Bach, um einen Steg zu bauen. An diesem Bach verlebten wir unsere Feri-enwochen. Außer dem Kynast mit seiner verfal-lenen Burg, in der die schöne Kunigunde mit ihrem Ritter gehaust hat, sahen wir nichts vom Riesenge-birge. Aber meine große Kusine, die damals sech-zehn Lenze zählte, war von einer befreundeten Lehrersfamilie zu einem Ausflug auf die Schnee-koppe eingeladen worden. Es war nicht leicht, von ihrer Mutter die Erlaubnis zu dieser gefahrvollen Tour zu erhalten. Als sie spät am Abend wohlbehal-ten ohne Absturz zurückkam, wurde sie von uns al-len bejubelt wie der Bezwinger des Mont Blanc.

Wie alles Schöne, so verging auch die Ferienzeit viel zu rasch. Am letzten Abend wollten wir drei Jüngsten noch von unserem geliebten Bach Ab-schied nehmen. Bei der Gelegenheit muß die kleine Martha sich zu liebevoll über ihn geneigt haben, denn sie fiel herein. Da es stark geregnet hatte, war der Bach angeschwollen, nur mit Mühe konnten wir sie herausziehen. Als die Mutter das triefende und heulende Mägdelein sah, rief sie voll Entset-zen: „Der gute Mantel“. So sieht mütterliche Liebe in Wirklichkeit aus, im Roman würde es heißen: „Komm an mein Herz, geliebtes Kind!“

Am nächsten Morgen deklamierte die große Ku-sine: „Lebt wohl Ihr Berge, Ihr geliebten Triften!“ Was waren uns Berge und Triften! Wir hielten esmit Friderike Kempner: „Vor dem Hause fließt ein Bach – aber ach!“

Der Auszug der Kinder Israel aus Hermsdorf ging glücklich von statten, glücklich war wahr-scheinlich die Wirtin, denn so still und sittsam wie beim Einzug haben wir uns die vier Wochen sicher-lich nicht benommen.

Die Eisenbahnfahrt verging rasch und ange-nehm, wir futterten von Hirschberg bis Posen. Es war eine herrliche Reise. Sie blieb die einzige, bis ich ein erwachsenes Mädchen war.

M

Ein scharfgesehenes, mit an-

mutigem Humor treffend dar-

gestelltes, interessantes Kul-

turbild aus dem letzten Drittel

des vorigen Jahrhunderts;

und zwar in einem Bericht

über die Geschichte eines

hochkultivierten jüdischen

Bürgerhauses.

Wer sich einige Stunden gut

unterhalten will, verschaffe

sich das Büchlein! Die Lektüre

löst herzliches und befreiendes

Lachen aus; ein in unserer

ernsten unerquicklichen

Gegenwart besonders erfreu-

liches Ergebnis. (Posener Hei-

matblätter, 7.1932, Nr. 2)

Anna Kronthal wurde 1862 in

Posen als Tochter des Fabrikan-

ten Gustav Kronthal geboren.

Sie war Cousine von Arthur

Kronthal (Kalonymos 2016.1).

Ihre Jugenderinnerungen,

Posener Mürbekuchen (1932)

zeigen ein modernes, selbstbe-

wusstes, humorvolles, gar fre-

ches Mädchen, eine nicht

immer fleißige Schülerin, eine

besonders neugierige Beob-

achterin und meinungsfrohe

Kommentatorin.

Burgruine Kynast (Zamek

Chojnik) im Riesengebirge