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Adolf Loos. Leben und Werke

Adolf Loos. Leben und Werke...Adolf Loos über die Ethik des Architekten Ich brauche meine entwürfe überhaupt nicht zu zeichnen. Eine gute architektur, wie etwas zu bauen ist, kann

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Adolf Loos. Leben und Werke

Adolf Loos über die Ethik des Architekten

Ich brauche meine entwürfe überhaupt nicht zu zeichnen. Eine gute architektur, wie etwas zu bauen

ist, kann geschrieben werden. Das Parthenon kann man niederschreiben.

Ich bin gegen das photographieren von interieurs. Es kommt dabei etwas ganz anderes heraus. Es gibt

architekten, die einrichtungen machen, nicht damit der mensch in ihnen gut wohne, sondern damit es

beim photographieren schön ausfalle. Das sind die sogenannten gezeichneten architekturen, die

durch ihre mechanische zusammenstellung von schatten- und lichtlinien am besten wieder einem me-

chanischen apparat entsprechen, hier also der dunkelkammer. Nach photographien oder reproduktio-

nen lassen sich meine wohnungseinrichtungen überhaupt nicht beurteilen. Ich bin gewiß, daß es auf

der photographie elend, effektlos ausfällt.

Die photographie entstofflicht nämlich, aber ich will gerade, daß die menschen in meinen zimmern den

stoff um sich fühlen, daß er auf sie wirke, daß sie von dem geschlossenen raum wissen, daß sie den

stoff, das holz fühlen, daß sie es mit ihrem gesicht und tastsinn, überhaupt sinnlich wahrnehmen, daß

sie sich bequem setzen dürfen und den stuhl auf einer großen fläche ihres peripheren körpertastsinns

fühlen und sagen: Hier sitzt es sich vollkommen. Wie soll ich auf der photographie jemand beweisen,

dem menschen, der diese photographie sieht, beweisen, damit er fühle, wie gut man auf diesem mei-

nem noch so gut photographierten stuhl sitzt?

Sie sehen also, die photographie sagt nichts. Die photographie zeichnet hübsche oder weniger hübsche

bildchen. Durch sie werden die menschen von dem eigentlichsten ding abgeleitet. Falsch erzogen. Die

photographie hat es auf dem gewissen, daß die leute sich einrichten wollen, nicht um gut zu wohnen,

sondern damit es hübsch aussehe. Die photographie täuscht. Niemals wollte ich mit meinen sachen

jemand täuschen. Eine solche methode verwerfe ich. Aber unsere architekten sind nur und nur in die-

ser methode der täuschung erzogen und wachsen aus ihr empor; ihren ruf begründen sie auf hübschen

zeichnungen und schönen photographien. Sie tun es bewußt, denn sie wissen, daß die menschen

derart ratlos sind, daß ihnen eine zeichnerische, photographische illusion genügt, um darin zu wohnen

und darauf sogar stolz zu sein. Dabei sind die kunden so wenig aufrichtig sich selbst gegenüber, daß

sie es sich gar nicht gestehen wollen, wenn sie in all diesen zeichnungen und photographien mit

selbstverleugnung wohnen.

Ich habe es daher nicht gern, wenn man mich architekt nennt. Ich heiße einfach Adolf Loos.

Adolf Loos: Von der Sparsamkeit. In: Wohnungskultur, Heft 2/3, 1924.

Ralf Bock

ADOLF LOOSLEBEN UND WERKE 1870–1933

Für Julius, Elias, Amadeus und Susanne

Deutsche Verlags-Anstalt

Mit Aufnahmen von Philippe RuaultAus dem Italienischen übersetzt

von Ulrike Stopfel

Inhalt

EinführungBiographischesDas schriftliche WerkLäden und LokaleWohnungenVillen und LandhäuserSiedlungsbau

Neunundzwanzig erhaltene Werke

und ein Projekt

Café Museum, 1899Villa Karma, 1903–1906, 1909–1912Wohnung Adolf Loos, 1903Kärntner Bar, 1908Haus am Michaelerplatz, 1909–1911Haus Steiner, 1910Schneidersalon Kniže, 1910–1913Wohnung Friedrich Boskovits I, 1910Haus Stoessel, 1911–1913Haus Horner, 1912Haus Scheu, 1912–1913Buchhandlung Manz, 1909–1912Haus Rosenfeld, 1917

Wohnung Friedrich Boskovits II, 1913Anglo-Österreichische Bank II, 1914Villa Duschnitz, 1915–1916Villa Mandl, 1916Villa Bauer, 1918Villa Strasser, 1918–1919Siedlung »Friedensstadt«, Lainz, 1921Haus Rufer, 1922Landhaus Spanner, 1924Haus Tristan Tzara, 1925–1926Haus Moller, 1926–1927Haus Josephine Baker, 1927Haus Brummel, 1928Villa Müller, 1928–1930Landhaus Khuner, 1929–1930Doppelhaus der Wiener Werkbundsiedlung,1930–1932Haus Mitzi Schnabl, 1931–1937

Anhang

Die Werke von Adolf Loos in chronologischerAbfolgeAusgewählte Literatur

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Titel der englischen/italienischen Erstausgabe: Works and Projects/Opere e Progetti© 2007 Skira Editore S.p.A., MailandAll rights reserved Skira

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifiziertePapier Gardamatt liefert Cartiere del Garda.

1. AuflageCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehalten

Farbfotos: Philippe RuaultSchwarzweißfotos: Graphische Sammlung Albertina,Archiv, Wien, abgedruckt mit freundlicherGenehmigung des Archivs, gekennzeichnet mit ALAund folgender InventarnummerZeichnungen: Irene Ciampi, Thijs PullesGrafische Gestaltung: Paola RanziniSatz der deutschen Ausgabe: Boer Verlagsservice,GrafrathDruck und Bindung: Printer TrentoPrinted and bound in ItalyISBN 978-3-421-03747-3

www.dva.de

AbbildungenUmschlagvorderseite: Haus am Michaelerplatz,1909–1911, Destail; Foto Philippe RuaultUmschlagrückseite: Adolf Loos, 1922, und CaféMuseum, 1899Frontispiz, Seite 2: Adolf Loos, 1924, Foto TrudeFleischmann (ALA 2111)

MixProduktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wäldern und anderen kontrollierten Herkünftenwww.fsc.org Zert.-Nr. CQ-COC-000012© 1996 Forest Stewardship Council

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<Die Anfänge dieses Buches gehen auf das Jahr2001 zurück. Damals bat Philippe Ruault mich ummeine Mitarbeit bei einem kleinen Projekt für eine ja-panische Architekturzeitschrift, die eine Serie über diegrößten Architekten des 20. Jahrhunderts heraus-bringt, in Form eines Supplements zum jeweils letz-ten Heft eines Jahres. 2001 war das entsprechendeHeft dem Architekten Adolf Loos gewidmet, undder Herausgeber hoffte, den Texten eine Reihe vonAufnahmen der von Loos errichteten Bauten beifü-gen zu können. Ich akzeptierte spontan, ohne zuwissen, worauf ich mich einließ und ob es über-haupt möglich sein würde, die Aufnahmen anzufer-tigen, da alle Loos’schen Häuser in Privatbesitz undbewohnt sind. Wie auch immer – ich nahm die Her-ausforderung an: Ich hatte mir immer gewünscht,mehr über diesen Adolf Loos und über den Mythosin Erfahrung zu bringen, der ihn noch heute umgibt.Hier bot sich die Gelegenheit zu dem Versuch, seinWerk besser kennenzu lernen. Das Projekt sollte innerhalb von sechs Wochen ab-geschlossen werden. Es war nicht zuletzt dieserknapp angesetzte Termin, der mich bewog, Philippemeine Hilfe ohne Zögern zuzusagen. Ich machtemich sofort an die Arbeit und knüpfte so viele Kon-takte wie nur irgend möglich zu den derzeitigen Ei-gentümern. Dabei suchte ich zunächst nach einerOrganisation, die sich heute mit Loos und mit seinemVermächtnis beschäftigt, etwa einer Stiftung: DieSuche war allerdings vergeblich, so etwas gibt esnicht – es wäre auch zu einfach gewesen. Also be-gann ich mit verschiedenen Institutionen, die sichmit der Wiener Architektur befassen, zu telefonieren,und ich wandte mich an die Albertina, die das Ar-chiv von Loos aufbewahrt. Diese Ansprechpartnerbrachten mich in direkten Kontakt mit heutigen Ei-gentümern oder lieferten mir zumindest Hinweisezu ihrer Auffindung. So gelang es mir mit derfreundlichen Unterstützung vieler Personen – an

dieser Stelle danke ich ihnen sehr herzlich – in tele-fonischen Kontakt zu den derzeitigen Besitzern eini-ger Bauten von Loos zu kommen. Stets hatte ich esmit sehr liebenswürdigen und hilfsbereiten Men-schen zu tun, die uns freundlich ihr Haus öffneten unddas Fotografieren gestatteten. Ohne ihre Bereitwil-ligkeit wäre dieses Buch nie zustande gekommen.Dafür möchte ich ihnen meine tiefe Dankbarkeitaussprechen. Es gelang Philippe Ruault und mir, in sechs Wochenetwa zehn Objekte zu besuchen und zu fotografieren.In kurzer Zeit haben wir die Innenräume verschie-dener Schöpfungen von Loos bewundert, und je-des Mal waren wir fasziniert von der Wirkung undAtmosphäre dieser Räume, die uns auch achtzig bisneunzig Jahre nach ihrer Fertigstellung anrührten.Es überraschte uns, dass die Räume sehr viel moder -ner und lebendiger erschienen als auf den schwarz-weißen Archivfotos, die wir zuvor gesehen hatten.Dazu kam, dass sie ihrem Originalzustand dank derPflege durch ihre heutigen Besitzer in der Regelnoch weitgehend ähnelten und dass sie von Men-schen bewohnt wurden, die sich in einer von Loosgeschaffenen Umgebung wohlfühlen. Wir hattenes also nicht mit Museen oder Ausstellungsräumenund auch nicht mit wenig genutzten Zweit- oderDrittresidenzen zu tun, sondern mit Häusern, dievon Familien bewohnt werden, die hier den Mittel-punkt ihres Lebens haben.Als Philippe Ruault und ich die ersten Drucke derFarbfotos sahen, wirkten die Loos’schen Arbeitenplötzlich ganz aktuell, ganz anders als auf den Ar-chivbildern, die in der Literatur über Loos als wich-tigstes Illustrationsmaterial reproduziert sind. DieFotos von Martin Gerlach jun., zwischen 1928 und1930 für die erste, bei Schroll in Wien erschieneneMonografie über Loos aufgenommen, haben uns inden letzten Jahren begleitet. Sie sind von großerQualität, und wir haben sie als Bezugspunkt unserer

Einführung

Villa Duschnitz, 1915–1916. Blick von derKaminnische auf Esszimmer und WintergartenAufnahme Philippe Ruault, 2004

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eigenen Arbeit betrachtet. Zweifellos sind es Doku-mente, auch wenn in manchen Fällen mehr alszwanzig Jahre zwischen der Fertigstellung der Ob-jekte und dem Entstehungsdatum der Fotos lagen.Fast alle Gebäude waren allerdings zum Zeitpunktder Aufnahmen noch von den Auftraggebern be-wohnt, die sie zusammen mit Loos errichtet hatten,und Loos selbst hatte die Anfertigung und Auswahldieser Aufnahmen so weit überwacht und gelenkt,wie seine Gesundheit es zuließ. In einigen Fällenwar er ganz unmittelbar am Originalmaterial tätig ge-worden und hatte mit Hilfe von Fotomontage undRetusche korrigiert. Die Abfassung der ersten Loos-Monografie aus dem Jahr 1931 verdanken wir sei-nem langjährigen treuen Mitarbeiter Heinrich Kulka,der auch die Herausgabe seines Buches besorgte. Jetzt allerdings hatten wir eine Anzahl großformati-ger und farbiger Diapositive in der Hand, die unssehr wirkungsvoll erschienen. Wir waren so erfülltvon dem, was wir gesehen und getan hatten, dasswir noch lange und bis in die kleinsten Details überdas diskutierten, was uns an den Arbeiten von Loosso berührte. Wir analysierten, wir stellten Hypothe-sen auf, wir formulierten Fragen, die keine Antwortfanden. Es war diese Erfahrung, die mich in dem Ent-schluss bestärkte, mich eingehender mit Loos zubefassen, um zu verstehen, was mich so stark be-rührt hatte. Der Mythos Loos hatte mich gefangen-genommen; ich wollte mehr wissen, ich wollte zuverstehen suchen. Damals beschloss ich, Verbin-dung mit allen derzeitigen Besitzern Loos’scherHäuser aufzunehmen. Es war mein Glück, dass ich die Schriften von Loos,die ich als Student gelesen hatte, bei meinen ers tenBesuchen in seinen Häusern nicht mehr so genau imGedächtnis hatte. So konnten diese Häuser un-mittelbar auf mich wirken, ohne den Umweg überdas Denken. Die Gefühle, die sie in mir weckten,waren ausschließlich meine Gefühle, sie ent-stammten meiner eigenen Wahrnehmung, und siedrängten mich zur Suche nach Erklärungen. Nach-dem ich seine Gebäude dann aufgesucht hatte, hates mir eine gewisse Befriedigung verschafft, dieAufsätze von Loos wieder zu lesen und zu entde-cken, dass er das Ziel seiner Tätigkeit darin gese-hen hatte, Raumstimmung zu schaffen und Emotio-nen zu wecken. Wenn man sich mit den Schriften und dem Werkvon Loos befasst, stößt man allerdings auch auf die

Komplexität dieses Schaffens und auf das, was da -ran zunächst widersprüchlich erscheint. Nur zuleicht erliegt man der Illusion, man könnte Loosnach einer raschen Lektüre seiner Schriften und vordem Hintergrund des Themas, dem er seine Be-kanntheit verdankt – der Kampf gegen das Orna-ment –, gewisser Widersprüche zwischen seinemgeschriebenen und seinem gebauten Werk über-führen. Macht man sich allerdings von allen Vorur-teilen und Stereotypen frei, liest die Texte sehr auf-merksam und betrachtet die Objekte vorbehaltlos,wird man feststellen, dass die inhaltlichen Wider-sprüche sich auflösen. Was bleibt, sind die unter-schiedlichen stilistischen Mittel, über die beide Dis-ziplinen, Architektur und Literatur, verfügen, umÜberzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Aber derKern der Botschaft findet auf beiden Gebieten seinenschlüssigen und einstimmigen Niederschlag. Und jetzt, einige Jahre später, nachdem ich vieleweitere Arbeiten von Loos gesehen und analysiert,eine Vielzahl von Primär- und Sekundärquellen stu-diert und mit Loos-Spezialisten, mit den Erben derAuftraggeber sowie mit den gegenwärtigen Be-wohnern gesprochen habe, möchte ich meine Pas-sion mit diesem Buch dokumentieren. Es ist derVersuch, Adolf Loos in seinem Wesen und in sei-nem Denken zu verstehen und zu erklären, seinWerk aus unterschiedlichen Perspektiven zu doku-mentieren und zu beleuchten. Vielleicht ist es aufdiese Weise möglich, ein umfassenderes Verständ-nis seiner Persönlichkeit und seines Schaffens zuvermitteln. Diese Annäherung macht sich die Aufnahmen vonPhilippe Ruault zunutze, der es dank seiner Technikund seiner Erfahrung, besser gesagt: dank seinerKunst, vermag, die sinnlichen Eindrücke, die dieseRäume vermitteln, in die beiden Dimensionen derFotografie zu übertragen. Er hat immer ohne zu-sätzliche Beleuchtung und ohne Blitz gearbeitet,ein Umstand, der entscheidend zur Authentizitätder Bilder beiträgt. Seine Aufnahmen zeugen da-von, dass Loos die Gabe besaß, mit dem Licht, derStruktur, dem Material, der Oberfläche und derAuswahl der Möbel Räume voller Atmosphäre zuerschaffen. Wir haben Innenräume und Außenan-sichten immer unter der Voraussetzung fotogra-fiert, dass die Grundidee von Loos erkennbar würde,auch wenn bei den fotografierten Objekten nichtimmer alles im Original erhalten war. Wichtig waruns allein, dem Loos’schen Grundsatz der »Be-

quemlichkeit des Wohnens« gerecht zu werden.Wenn die ursprüngliche Wirkung aufgrund von Ver-änderungen, radikalen Umbauten oder des Fehlensder Inneneinrichtung verloren gegangen war, habenwir nicht fotografiert; in diesen Fällen zeigen wirAufnahmen, die den Zustand um 1930 wiederge-ben. Den Fotos sind Pläne beigefügt. Ein Grundsatz vonLoos war, dass die zeichnerische Darstellung in derArchitektur nicht an erster Stelle stehen dürfe, son-dern nur ein Instrument oder ein technisches Hilfs-mittel sein solle, niemals mehr. Deshalb wurde inseinem Büro nur die unbedingt notwendige Zahlvon Zeichnungen angefertigt, Loos diskutiertemeist seine Absichten im direkten Gespräch mitBauherren und Bauleuten und skizzierte die Lösun-gen mit ihnen gemeinsam. Zudem ordnete er 1924anlässlich seiner Übersiedlung nach Paris an, alle inseinem Wiener Büro aufbewahrten Zeichnungen zuvernichten. Nur ein kleiner Teil dieser Dokumentewurde von Mitarbeitern versteckt und damit gerettet.Darüber hinaus haben sich jene Entwürfe erhalten,die zur Genehmigung an die städtischen Behördenweitergeleitet worden waren. Die Realisierung waraber in manchen Fällen mit gewissen Modifikatio-nen verbunden, die nicht dokumentiert sind. Angesichts des sehr unterschiedlichen Entwurfs-materials, wie ich es in Veröffentlichungen, in Ar-chiven und in den Unterlagen der heutigen Eigentü-mer finden konnte, war es schwierig festzustellen,welche Lösung Loos im einzelnen Fall schließlichrealisiert hat. Möglich wurde mir diese Feststellungdadurch, dass ich die fraglichen Häuser aufsuchteund dokumentierte, mit den Besitzern sprach unddie höchst qualitätvollen Archivaufnahmen MartinGerlachs auswertete. In diesem Zusammenhangmöchte ich meine Anerkennung zum Ausdruckbringen für Irene Ciampi und Thijs Pulles, die aufder Grundlage meiner Recherchen Grundrisse,Schnitte und Ansichten unermüdlich umgezeichnethaben, ein präzises Unternehmen mit vielen Kor-rekturstadien, so dass wir heute eine vollständige, dievergleichende Analyse ermöglichende Sammlungder Planungsunterlagen sowie ein digitales Archivder Loos’schen Projekte besitzen. Darüber hinaus befasst sich das Buch auch mit derPerson Adolf Loos. Die Darstellung seines Lebens-laufs und die Analyse seines schriftlichen Werkesbringen uns Loos als Menschen und als Autor nahe.Sein Menschenbild, seine Erfahrungen und seine

Analyse des täglichen Lebens finden Ausdruck inseinen Werken. Loos wollte nicht als Architekt be-zeichnet werden. Man hat von ihm wahlweise alsvon einem Reformer, einem Lehrer, einem Mäzenusw. gesprochen. Ich habe versucht, seine intellek-tuelle Welt sichtbar zu machen, wie sie uns in seinenSchriften und ausgeführten Arbeiten übermitteltist. Ich habe auch Deutungsversuche zu seinemWerk unternommen und dabei Aspekte beleuchtet,die von der Literatur über Loos bisher nicht behan-delt worden sind. Die Auftraggeber pflegten über den Abschluss der Ar-beiten hinaus eine enge und anhaltende Freund-schaft mit Loos und verschafften ihm weitere Auf-träge, und Loos wiederum konnte, wie die Biografienseiner Bauherren zeigen, zahlreiche Kontakte auchdank seines Freundeskreises knüpfen, zu dem KarlKraus, Arnold Schönberg und Peter Altenberg zähl-ten. Es war mir ein besonderes Anliegen, hier auchüber dieses außerordentlich gute Verhältnis zwi-schen dem »Architekten« Loos und seinen Auftrag-gebern zu berichten, da die Realität sich in der Regelja keineswegs mit dem Idealbild deckt: Vielleichtzeigt dieses Beispiel heutigen Vertretern der Archi-tektur, dass es sehr wohl möglich ist, auf den Auf-traggeber einzugehen, wenn der eigene Horizontentsprechend weit und gefestigt ist. Zum Beispielwürde es schon helfen, wenn der Blick mehr auf»das Wohnen« als auf »den Entwurf« gerichtet wäre. Ich wünsche mir, dass die Lektüre dieses Bu-ches Freude macht. Zum Schluss möchte ich von Herzen dem Kultur-amt der Stadt Wien danken, das meine umfangrei-chen Recherchen finanziell unterstützt hat, und derAlbertina für die großzügige Zusammenarbeit unddas Zurverfügungstellen des Archivmaterials. Einbesonderer Dank gilt meiner Frau Susanne undmeinen Kinder Julius, Elias und Amadeus. Mit ihrerGeduld und ihrem Verständnis haben sie es mir er-möglicht, dieses Buch zu schreiben, das ich ihnenzum Dank widme.

Wien, im Juni 2009 Ralf Bock

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Kindheit, Jugendjahre, Ausbildung

Am 10. Dezember 1870 wurde Adolf Loos als ers tesder drei Kinder von Adolf Loos und seiner Frau Ma-rie, geb. Hertl, im mährischen Brünn (heute Brno)geboren. Ihm folgten die Schwestern Hermine undIrma. Loos wurde katholisch getauft. Sein Vater be-trieb eine Bildhauer- und Steinmetzwerkstatt, seineArbeiten waren bekannt und geschätzt. Wohnhaus,Werkstatt und Steinlager befanden sich auf demgleichen Grundstück, und so wuchs Loos mit dertäglichen Arbeit seines Vaters, der Steinbearbei-tung, auf. Er schätzte und bewunderte seinen Vatersehr; dessen plötzlicher Tod im März 1879 (im 48. Le-bensjahr) war für den Achtjährigen ein einschnei-dendes traumatisches Erlebnis, mit ihm verlor erdie Unbekümmertheit der Kindheit, seine schuli-schen Leistungen ließen in der Folge stark nach.Die Mutter und der strenge Vormund, N. Nedved,verloren den inneren Kontakt zu dem Jungen: Ihre er-zieherischen Maßnahmen setzten Adolf zuneh-mend unter Druck und bewirkten, dass er immer eigenwilliger wurde. Die Mutter konnte das Geschäft des Vaters mit Er-folg weiterführen. 1881 schickte sie Adolf zu ihren El-tern ins böhmische Iglau, wo er das Gymnasiumbesuchte. Hier lernte Adolf den gleichaltrigen JosefHoffmann (1870–1956) kennen. Das erste gymnasi-ale Schuljahr musste er wiederholen, doch in derFolge waren seine Leistungen sehr gut. 1883 holtedie Mutter ihn zurück nach Brünn und schrieb ihnan einem Gymnasium ein.Sein Verhalten und sein Fleiß gaben ständig Anlasszu Schwierigkeiten, seine schulischen Leistungenhingegen waren nahezu immer sehr gut. Die häufi-gen Schulwechsel und das gespannte Verhältniszur Mutter erschwerten ihm die soziale Integration;er musste früh lernen, sich allein zu behaupten. 1884 besuchte er das von Benediktinern geleiteteGymnasium von Melk, und hier ließen seine Leis-

tungen stark nach, so dass ein erneuter Schulwech -sel erforderlich wurde. Die Mutter schickte ihn auf dieStaatsgewerbeschule in Reichenberg, Böhmen;spä ter setzte er die gleiche Ausbildung in Brünnfort. Als er 1889 mit der »Reifeprüfung« abschloss,hatte er den Entschluss, Architekt zu werden, be-reits gefasst. Ohne die allgemeine Hochschulreife und folglichohne die Hoffnung, als ordentlicher Hörer zugelassenzu werden, ging Loos für ein Jahr als Hospitant an dieTechnische Hochschule in Dresden. Nach zwei Se-mestern wurde er exmatrikuliert, weil er die Stu-diengebühren nicht bezahlt hatte. In Dresden kam erin Kontakt mit dem Werk und den Schriften Gott-fried Sempers, der hier bis 1848 gearbeitet und ge-lehrt hatte. Das Schaffen Sempers sollte später einewesentliche Grundlage seines schriftlichen undtheoretischen Werkes wie auch seiner praktischen ar-chitektonischen Tätigkeit werden.1890 meldete Loos sich als Einjährig-Freiwilligerzum Militärdienst und übersiedelte anschließend,1891, nach Wien, um an der Akademie der bildendenKünste Architektur zu studieren – ein Vorhaben, daser allerdings aus unbekannten Gründen nicht um-setzte. In diese Periode fiel ein Ereignis, dasschwerwiegende Folgen haben sollte und das RolandSchachel wie folgt beschreibt: »Sein Pate […] hatteihn ins Bordell geführt. Bei späterer Gelegenheit er-krankte Loos an einer venerischen Krankheit. Als ererst mit Fieber zum Arzt ging, war das Leidenschon sehr weit fortgeschritten. Eine sehr starkeHodenentzündung war die Folge. […] Loos war vie-le Monate bettlägerig und hatte große Schmerzen. Erwurde geheilt, aber er war zeugungsunfähig.«1 Sei-ne Mutter nahm ihn auf und ließ ihn pflegen. Nachseiner Genesung kehrte er unverzüglich nach Wienzurück. Noch 1892 nahm Loos vorübergehend sein Stu-dium in Dresden wieder auf, beschloss aber 1893,

Biografisches

Der 21-jährige Adolf Loos, 1892 .FotoOtto Mayer, Dresden (Aus Rukschcio/Schachel, S. 10)

Adolf Loos im Alter von 17 Jahren,1887/88 (ALA 2058)

Oskar Kokoschka, Porträtzeichnung Adolf Loos,Februar 1916 (ALA 999)

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nach Amerika zu reisen, um seinen Onkel in Phil-adelphia zu besuchen und die Weltausstellung inChicago zu sehen. Allein und ohne Unterstützung durch seine Angehö-rigen reiste er nach New York, von dort zum Bruderseines Vaters nach Philadelphia und zur Weltaus-stellung nach Chicago. Tief beeindruckt schreibt er:»Als ich vor jahren die heimat verließ […], war ichnoch voll überzeugt von der überlegenheit desdeutschen kunsthandwerkes. In Chicago ging ichmit stolzem hochgefühl durch die deutsche und österreichische abteilung. Mitleidig lächelnd blickteich auf die amerikanischen regungen des ›kunstge-werbes‹. Und wie hat sich das in mir geändert! Der jahrelan-ge aufenthalt drüben hat es bewirkt, daß mir nochheute die schamesröte ins gesicht steigt, wenn ichbedenke, welche blamage sich das deutsche kunst-handwerk in Chicago geholt hatte! Die stolzenprachtleistungen, die stilvollen prunkstücke, sie wa-ren nichts als banausische verlogenheit […]. Da-mals aber hatte ich eine stille wut über diese (ame-rikanischen) sachen. Da gab es portemonnaies,schreibzeuge, koffer, taschen etc., alles, alles glatt,ohne ornamentalen schmuck […] Ich schämte michdieser arbeiten. […] Jetzt aber stehe ich nicht an zuerklären, daß mich damals das dümmste gigerl an ge-schmack übertroffen hätte.«2 (Gigerl: Ist einmensch dem die kleidung nur dazu dient, sich von derumgebung abzuheben. A.L.) Loos’ Onkel zog nach dem Tod seines Sohnes aufsLand, wo Adolf Hilfsarbeiten verrichtete und sichnützlich machte. Da er mit diesem Leben aber nichtzufrieden war, beschloss er, nach New York zu gehen.Immerhin hatte er im Haushalt des Onkels diegleichberechtigte Stellung der Frau und das geringekulturelle Gefälle zwischen der ländlichen und derStadtbevölkerung im Amerika jener Jahre beobach-ten können. Die Landbevölkerung lebte in kleinenVillen, den sogenannten farmhouses; man kleidetesich außerhalb der Arbeitszeit städtisch und hatteengen Kontakt zur Stadt.In New York schlägt er sich mehr schlecht als rechtdurch. Wir haben kaum Nachrichten darüber, waser tat, aber nach dem, was er selbst erzählt hat, wa-ren es anfangs Gelegenheitsarbeiten. Erst nachüber einem Jahr erhielt er eine Stelle als Zeichner ineinem Baubüro. Die drei Jahre, die er in Amerika verbrachte, und dieRückreise über England hinterließen bei ihm einen

nachhaltigen Eindruck, sie waren für ihn eine ArtSelbstbefreiung. Der Vergleich der amerikanischenund englischen mit der österreichischen und deut-schen Kultur sollte sein weiteres Leben prägen. 1896 kehrt er nach Wien zurück, nicht ohne vorherStation in England zu machen und sich von LondonerMaßschneidern komplett einkleiden zu lassen. Sobetritt Loos als gut gekleideter Gentleman wiederdas Wiener Kulturleben. Die Vorliebe für Maßanzügesollte ihn sein Leben lang begleiten. Die Bedeu-tung, die er guter Kleidung beimaß, kommt in zahl-reichen seiner Essays zum Ausdruck, die er ab1898 in der Neuen Freien Presse veröffentlichte.Originalzitat Loos: »Ein amerikanischer philosoph sagt irgendwo, einjunger mann ist reich, wenn er verstand im kopfund einen guten anzug im kasten hat. Dieser philo-soph kennt sich aus. Der kennt seine leute. Wasnützte aller verstand, wenn man ihn nicht durch gu-te kleider zur geltung bringen vermöchte? Denn dieEngländer und die Amerikaner verlangen von je-dem, daß er gut gekleidet ist.«3

Loos’ Mutter hatte den Sohn während seines Ame-rikaaufenthaltes entmündigen lassen und unter Ku-ratel gestellt, weil er ihrer Bitte, sofort zurückzu-kommen, das väterliche Erbe anzutreten und ihr imGeschäft zur Seite zu stehen, nicht entsprochenhatte. Daraufhin hat Adolf Loos endgültig alle Brückenzu seiner Mutter abgebrochen. Von Wien aus versuchte Loos, die Vormundschaftrückgängig zu machen, was sich als außerordent-lich mühsam und aufwendig erwies. Er schreibt: »Die sache endete mit einem vergleich. Es ärgertmich, daß ich ihn eingegangen bin. Geld erhielt ichja keines. Ich wäre allerdings heute noch unter ku-ratel, aber der gedanke, in dieser verfassung zu leben,war mir unerträglich. […] Aber genutzt hat mir die auf-hebung der kuratel nichts. Es war schon zu spät.«4

Diese Situation machte es ihm unmöglich, eine aka-demische Laufbahn einzuschlagen, wie Josef Hoff-mann es getan hatte. Und nicht nur das: Auf länge-re Sicht konnte er auch nicht mit öffentlichen Auf-trägen rechnen. Besonders traf ihn, dass er keineAussicht auf eine Lehrtätigkeit hatte, denn die Bil-dung und Entwicklung des Menschen waren ihmstets ein Anliegen. Als Fazit dieses Überblicks über seine Ausbildungbleibt: Adolf Loos war ein Autodidakt, der wederein Studium abschloss noch eine handwerklicheAusbildung hatte.

Die Anfänge der beruflichen Tätigkeit

1896 nahm Loos eine Stellung im Wiener Büro vonCarl Mayreder an, Professor an der technischenUniversität Wien, dessen Frau Rosa eine Wegbe -reiterin der Emanzipationsbewegung in Österreichwar. Carl Mayreder schätzte die klassische Archi-tektur und befasste sich vornehmlich mit Fragendes Städtebaus. In dieser Zeit fand Loos den Kontakt zum Kaffee -haus-Stammtisch des Literaten Peter Altenberg(1859–1919), einer Gruppe, zu der unter anderender Essayist, Lyriker, Dramatiker und AphoristikerKarl Kraus (1874–1936) sowie der Komponist undMaler Arnold Schönberg (1874–1951) gehörten.In künstlerischer Hinsicht gingen die Freunde späterihren jeweils eigenen, einsamen Weg, auf derGrundlage allerdings des ihnen gemeinsamen Ver-ständnisses von Ethik und Kultur und der Suchenach Wahrheit. Sie unterstützten sich in allen Le-benssituationen gegenseitig; Kraus und Schönbergzum Beispiel vermittelten Loos einige seiner Auf-traggeber.1897 begann Loos Objekte auszugestalten und ein-zurichten. Soweit bekannt, war sein erster Auftrag dieAusstattung der Geschäftsräume des Hofschnei-ders Ebenstein. Für die Neue Freie Presse, eine der damals angese-hensten Zeitungen im deutschsprachigen Raum,verfasste er anlässlich der Wiener Jubiläumsaus-stellung von 1898 eine Serie von Artikeln, in denener zu Fragen der Mode, der Kultur und der Gestaltungvon Gegenständen des täglichen Gebrauchs Stel-lung nimmt. Diese Überlegungen bildeten dieGrundlage von Loos’ schriftlichem Werk und sei-nem späteren architektonischen Wirken. Seine Arti-kel trugen ihm eine gewisse Popularität ein undmachten seine Person wie auch seine Ansichtenrasch weithin bekannt. In seinen Schriften übertrug Loos gerne die Bedeu-tung der Kleidung für den kultivierten Menschenauf den Bereich der Architektur; er suchte nach Pa-rallelen zur Fassadengestaltung, zur Inneneinrich-tung von Wohnungen und Geschäften. Darüber hin-aus war die Kleidung für ihn weiterhin das Mittelder Repräsentation: Er trug ausschließlich Modelle imenglischen Schnitt, die er sich nach Maß von denbesten Wiener Schneiderateliers anfertigen ließ;Anzüge von der Stange kaufte er nicht. Bessie Bruce (1886–1921) pflegte zu sagen, Loos sei bes-ser gekleidet als ein englischer Gentleman, und

Elsie Altmann-Loos (1899–1984) schrieb: »Loossah aus wie ein typischer Engländer, hatte gute Ma-nieren, es war leicht, ihn zu lieben.« Jene Schnei-derateliers wurden auf diesem Weg seine Kunden:Nachdem er die Geschäftsräume des AteliersEbenstein gestaltet hatte, arbeitete Loos auch fürKniže, für Erich Mandl und für Goldman & Salatsch.Im Jahr 1898 stellte Josef Maria Olbrich (1867 bis1908) das Gebäude der Wiener Secession unter derPräsidentschaft von Gustav Klimt (1862–1918) fertig.Josef Hoffmann erhielt den Auftrag, einige Innen-räume auszustatten, und Loos bat den Freund aus ge-meinsamer Schulzeit, ihn ohne Bezahlung den Ver-sammlungssaal ausstatten zu lassen. Hoffmannschlug ihm diese Bitte ab, was zum Bruch mit der Se-cession, aber auch mit Hoffmann führte: zwischenden beiden entstand eine lebenslange Feindschaft.Insbesondere Loos ließ keine Gelegenheit aus,Hoffmann und die von diesem mitgegründete und ge-leitete Wiener Werkstätte öffentlich anzugreifen.Gegen Ende der zwanziger Jahre meint er:»[…] jetzt lache ich darüber. Aber damals hat esmeinem kampf gegen das ornament geschadet.Daß ein zeichner von sechs ansichtskarten, ›künst-lerpostkarten‹ nannte er sie, auf grund dieser lei -stung professor an der kunstgewerbeschule wer-den konnte, daß derselbe auf grund einer exkursionin der wohnung Stössler seine prinzipien über bordwarf und nun, dank der möglichkeit seiner ausstel-lungen, die er immer selbst arrangierte und mich,den unangenehmen, ausgeplünderten konkurren-ten nie dazu einlud, für den ornamentlosen, glattenpropagator des neuen stils galt, war nur vorüberge-hend. Denn in wirklichkeit war seine damalige undheutige ornamentlosigkeit (seit der Pariser blama-ge) nur ein ornament.«5

Mit der Gestaltung des Cafés Museum errang Loos1899 große Aufmerksamkeit. Die Kritiker erkanntenin dieser Arbeit in unmittelbarer Nachbarschaft dessoeben errichteten Ausstellungsgebäudes der Se-cessionisten eine eindeutige Alternative zur Posi-tion der Wiener Secession. Ludwig Hervesi, dersonst den Aufstieg der Secession mit seinen Kritikenunterstützte, äußerte sich vorausschauend überLoos’ Fähigkeiten und interpretierte auch gleichtreffsicher die dahinterstehende Einstellung. 1902 heiratete Loos die gerade zwanzigjährige LinaObertimpfler (1882–1950), verehrt auch von PeterAltenberg, der sie dichterisch zur Göttin stilisierte. Am22. Dezember mietete Loos eine kleine Wohnung

Adolf Loos im Alter von 28 Jahren,1898/99. Foto Otto Mayer, Dresden(Aus: Rukschcio/Schachel, S. 34)

Adolf Loos’ erste Ehefrau Lina Obertimpf-ler, 1904. Foto Pietzner (Aus: Rukschcio/Schachel, S. 79)

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im fünften Stock des Hauses Giselastraße 3 (heuteBösendorferstraße 3) in der Nähe der Ringstraße.Diese Wohnung sollte Loos sein Leben lang behal-ten: sie wurde zum Mittelpunkt seines Lebens, zu einem Ort, an den er nach vielen Reisen und langenAuslandsaufenthalten immer wieder zurückkehrte. Im darauffolgenden Jahr 1903 gestaltete Loos dieWohnung nach seinen Vorstellungen um und rich-tete sie ein. Auch diese Einrichtung blieb bis ansein Lebensende erhalten. Bemerkenswert ist,dass fast alle Elemente, die Loos in der Folge ent-wickelte und verwendete, zumindest in nuce be-reits hier vorhanden waren. Das spricht für die Rei-fe des mittlerweile dreiunddreißigjährigen Architek-ten, der sich schon zu Beginn seiner Laufbahn eineganz eigene Vorstellung vom Bauen und Wohnenerarbeitet hatte. Ebenfalls 1903 erschienen die beiden Nummernder von Loos herausgegebenen und gestaltetenZeitschrift »Das Andere – Ein Blatt zur Einführungabendländischer Kultur in Österreich«. Loos be-merkt in diesem Zusammenhang: »Auch glaube ich, in den 24 heften dieses jahr -ganges alles sagen zu können, was ich zu sagen ha-be. Zweck der zeitschrift ist, mir meine berufsarbeitzu erleichtern. Ich richte nämlich wohnungen ein.Das kann ich nur für leute, die abendländische kulturbesitzen. Ich war so glücklich, drei jahre in Amerikazu leben und westliche kulturformen kennen zu ler-nen. Da ich von deren überlegenheit überzeugt bin,halte ich es für charakterlos, auf das österreichi-sche niveau – subjektiv gesprochen – herabzusteigen.Das führt zu kämpfen. Und in diesen kämpfen steheich einsam da.«6

Schon 1904 trennte Loos sich von seiner Frau, die ihnseit Monaten mit dem Abiturienten Hans Lang be-trogen hatte. Als die Geschichte an die Öffentlich-keit gelangte, nahm Lang sich das Leben; Auslöser fürden Selbstmord dürfte eine Bemerkung Peter Alten-bergs gewesen sein: »Stirb, sie ist eine Göttin!«,sagte er, als Lang sich ihm offenbarte. Lina nahmdaraufhin ein Engagement in Amerika an und verließWien für einige Zeit; offiziell geschieden wurde dasPaar nach ihrer Rückkehr im folgenden Jahr. In einem Vortrag, den er 1905 hielt, sprach Loossich für die Abschaffung der staatlichen Kunstför-derung aus mit der Begründung, die Kunst habe,anders als der Staat, die Möglichkeit, revolutionärzu sein. Wörtlich heißt es: »Die sorge um die kunst ist sache jedes einzelnen.

Pflicht des staates ist es, sie zur sache jedes einzel-nen zu machen. […] Mein schluß scheint mir daherbündig: Wenn schon der staat gezwungen wird,sich um kunstsachen zu kümmern, so kann er nur se-gensreiches leisten durch bevorzugung der unfä-higkeit oder drangsalierung des genies.«7

Ende 1905 lernte Loos bei seinen nächtlichenStreifzügen mit Peter Altenberg im Casino de Parisdie neunzehnjährige englische Tänzerin Bessie Bruce (1886–1921) kennen. Auch Altenberg machteihr den Hof, Erfolg hatte aber wiederum Loos, waseine monatelange Krise der Freundschaft beider zurFolge hatte. Bessie war bereits an Tuberkulose er-krankt und musste ihre Bühnenlaufbahn wenig spä-ter aufgeben. Aus der leidenschaftlichen Liebe wur-de eine dauerhafte Partnerschaft, geprägt durchden weiteren Krankheitsverlauf.Nachdem Loos in den Jahren zuvor mehrere Woh-nungen eingerichtet hatte, organisierte er im De-zember 1907 zwei öffentliche »Wohnungswande-rungen«: Er führte das interessierte Publikum durchdie von ihm gestalteten Wohnungen und zwei Ge-schäftslokale, um auf seine Arbeit aufmerksam zumachen. 1908 entstand der Essay »Ornament und Verbre-chen«, der allerdings erst 1929 in deutscher Spracheerschien. Eine französische Übersetzung wurde be-reits 1913 in der Zeitschrift Cahiers d’aujourd’huiabgedruckt. Daher lernte Le Corbusier (1887–1965)schon früh die Loos’schen Ideen kennen und mach-te sie zum Fundament eigener Überlegungen. Loosfasste seine Lehre in jenem Aufsatz in literarischerForm zusammen, wahrscheinlich anlässlich der»Kunstschau Wien 1908«, die von Gustav Klimt ge-leitet wurde und für deren Gestaltung Josef Hoff-mann verantwortlich war. Die Ausstellung bot ei-nen Überblick über das Schaffen der Secessions-Künstler und feierte den Gedanken des Gesamt-kunstwerks, was Loos zu seiner polemischen Re-aktion veranlasste.Mit dem Thema des Aufsatzes beschäftigte Loossich auch in Vorträgen, belegt sind diese für Münchenund Wien. Wo immer er sprach, konnte er sichersein, ein großes Publikum anzuziehen, das seine Artdes Vortrags schätzte. Er sprach frei, ohne Manu-skript, und konnte daher mühelos auf das Publikumeingehen. Auch pflegte er seine Zuhörer am Endedes Vortrags zu ermutigen, Fragen zu stellen undmit ihm zu diskutieren. Später, als sein Hörvermögensich zunehmend verschlechterte, ließ er bei seinen

Vorträgen Zettel verteilen, damit die Zuhörer ihreFragen schriftlich stellen konnten. In der Kunstschau 1908 stellte auch Oskar Ko-koschka (1886–1980) aus, den die Kritik allerdingsabfällig als »Oberwildling« bezeichnete. Loos er-griff sogleich Partei für den Maler und bemühtesich zeit seines Lebens, ihm zu helfen. So führte erihn in den Kreis seiner Bekannten und Auftraggeberein und konnte viele von ihnen dazu bewegen, sichvon Kokoschka porträtieren zu lassen. Gefiel einemAuftraggeber das Bild nicht, kaufte Loos es; so kamer zu einer Sammlung von Kokoschka-Werken, die erspäter, wenn er Geld brauchte, nach und nach wie-der verkaufte. In jenen Jahren hielt Bessie sich in Schweizer Sa-natorien auf, um ihre Tuberkulose behandeln zu las-sen. Loos bezahlte die Kuraufenthalte und besuchteBessie wiederholt. Auch schickte er Kokoschka fürlängere Zeit zu ihr, damit er ihr Gesellschaft leistete.

Erste Bauten in Wien

1910 begann die öffentliche Debatte über die»nackte« Fassade mit einfach eingeschnittenenFenstern des im Zentrum der Stadt gegenüber derkaiserlichen Hofburg von Loos geplanten Gebäudesfür Goldman & Salatsch am Michaelerplatz. Mit Hil-fe des Stadtrats und der Presse wollte man Looszwingen, sein Fassadenprojekt zu überarbeiten. AlsLoos und seine Auftraggeber Leopold Goldman undEmanuel Aufricht nicht darauf eingingen, wurde derFassadenentwurf im Auftrag der Stadt historistischüberarbeitet. Als man auch darüber zu keiner Einigungmit den Auftraggebern kam, forderte die StadtWien einen Fassadenwettbewerb und drohte denBauherren mit empfindlichen Strafen für den Fall,dass das Loos’sche Projekt unverändert weiter rea-lisiert würde. Die Lokalpresse berichtete ausführ-lich über den Fall und trug damit entscheidend zurEntstehung eines polemischen Klimas in der Öf-fentlichkeit bei. Im Sommer 1911 einigte man sichschließlich auf einen von Loos vorgeschlagenenKompromiss: An einigen Fenstern wurden Blumen-kästen aus Bronze angebracht. Die ständigen Aufregungen hatten zur Folge, dass dieMagenbeschwerden, die Loos schon 1905 und1908 gequält hatten, sich erneut einstellten. Ermusste sich in einem Sanatorium behandeln las-sen, und die Genesung erfolgte nur sehr langsam.Noch Jahre später ernährte er sich nahezu aus-schließlich von Schinken und Sahne.

1912 gründete Loos die Adolf-Loos-Bauschule,nachdem die letzten Schüler Otto Wagners (1841bis 1918), angeführt von Rudolf Michael Schind ler(1887–1953), ihn gebeten hatten, sich um die Nach-folge auf dessen Lehrstuhl an der Akademie der bil-denden Künste zu bewerben. Otto Wagner hattebereits das Höchstalter von siebzig Jahren erreichtund ging in den Ruhe stand. Loos’ Bewerbung hattekeinen Erfolg, aber eine Folge: »Ein lichtstrahl in meinem leben: Einige Wagner-schüler, meiner ansicht nach die besten, ersuchtenmich, für die verwaiste lehrkanzel Otto Wagners zukandidieren. Selbstverständlich war ich von der er-folglosigkeit eines solchen beginnens überzeugt.Aber das vertrauen unserer besten jugend gab mir diekraft, meine eigene schule ins leben zu rufen. Und soentstand die Adolf-Loos-Bauschule.«8

Das spricht für die große Bedeutung, die Lehre undAusbildung für Loos hatten. Sie waren ihm stets einstarkes Anliegen, aber auch zunehmend belastend, daihm der offizielle Status eines Professors und damitdie akademische Anerkennung verwehrt waren.An seiner Bauschule, die bis Kriegsbeginn 1914 Be-stand hatte und 1920 bis 1922 noch einmal fortge-führt wurde, sollten drei Grundfächer gelehrt wer-den: Kunstgeschichte, Innerer Ausbau und Materi-alkunde; darüber hinaus waren regelmäßige Exkur-sionen vorgesehen, deren einzelne Stationen Loosschon in seinem ersten Lehrplan festlegte. Rudolf Schleicher aus Stuttgart, Schüler der Bau-schule, erinnerte sich an sein erstes Gespräch mitLoos in dessen Arbeitszimmer: »Schon auf derTreppe frappierte mich eine glatte metallene Zu-gangstür zum Büro, die mit spiegelglatter roterZinnoberfarbe gestrichen war. Das war für mich derneue Geist. […] Wir sprachen zuerst über die Möbeldes Empfangsraumes, in dem wir standen: ein altergotischer Schrank, eine Biedermeierkommode, etwanoch ein Barockspiegel an der Wand, also Dinge,die aus ganz verschiedenen Zeiten stammten undfür die Loos jeweils ein klärendes Wort fand. Auchdas war für mich neu. Dazu die Tür in zinnoberroterLackfarbe, für mich: die neue Welt.«9

Im Laufe seines Lebens versuchte Loos mehr mals,eine private Bauschule zu gründen. Ohne staatlicheUnterstützung war es allerdings nicht möglich, einesolche Institution auf Dauer zu erhalten. 1914 richtete Loos ein kleines Appartement fürGrethe Hentschel ein, eine junge Absolventin derSchwarzwald-Schule, der ersten Mädchenschule in

Bessie Bruce, 1905 (Aus: Rukschcio/Schachel, S. 105)

Adolf Loos und Grethe Hentschel, 1916(Aus: Rukschcio/Schachel, S. 208)

Adolf Loos im Alter von 32 Jahren, 1903Foto Otto Mayer, Dresden(Aus: Rukschcio/Schachel, S. 80)

Adolf Loos im Alter von 42 Jahren,Win ter 1912 (Aus: Rukschcio/Schachel,S. 172)

Adolf Loos, 1914 (ALA 2073)

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Österreich, die zum Abitur führte. Zu ihr entwickel-te sich eine enge Beziehung, doch seinen Heirats-antrag lehnte Grethe 1915 ab, wohl weil ihr Vaterseine Zustimmung verweigerte. Beide hielten fürden Rest ihres Lebens freundschaftlichen Kontakt.1917 begegnete Loos der siebzehnjährigen ElsieAltmann, auch sie eine Studentin der Schwarzwald-Schule. Elsie nahm Ballettunterricht bei den Schwes-tern Wiesenthal, deren Studio sich in dem Gebäudebefand, in dem Loos sein Büro hatte. 1919 wurdeElsie Altmann die zweite Ehefrau von Loos, der da-mals 48 Jahre alt war. Zuvor, im Mai 1918, hatteLoos einen Blutsturz erlitten, und da Verdacht auf ei-ne Krebserkrankung bestand, musste er sich umge-hend einer schweren Operation unterziehen. ErichMandl nahm den Rekonvaleszenten in sein Hausauf – Loos hatte es 1916 für ihn umgebaut – undpflegte ihn, unterstützt von seiner Familie, wiedergesund.

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg

Als die Habsburger Monarchie nach dem ErstenWelt krieg aufgelöst, in Österreich die Erste Repu-blik entstanden war und neue Staaten gebildet wur-den, nahm Loos die tschechoslowakische Staats-bürgerschaft an. Sein Freund und Bauherr Gustav Scheu, dessen Fa-milie an der Gründung der SozialdemokratischenPartei in Österreich beteiligt war, bat Loos darum,»Richtlinien für ein Kunstamt« zusammenzustellen.Die Vorschläge sollten in die Neugründung des Mi-nisteriums für Kultur einfließen. Loos versichertesich der Mitarbeit des Kunsthistorikers Max Ermers(1881–1950), Karl Kraus’, des Literaturkritikers Leo-pold Liegler (1882–1949), des Kunsthistorikers Lud-wig Münz (1889–1957) und Arnold Schönbergs,und am 28. März 1919 wurden die »Richtlinien« imVerlag Richard Larny veröffentlicht. Grundgedankewar, dass der Staat verpflichtet sei, »das Volk demwahren Künstler möglichst nahezubringen«. Im Ein-klang mit dem stets von ihm vertretenen evolutio-nären Prinzip war Loos der Meinung, dass Bildungund Kultur des Volks entwickelt werden müssten,damit es dem Genie folgen könne, im Gegensatzzum Gedanken der Wiener Werkstätte um JosefHoffmann, deren »angewandte Kunst« an das Volkherangetragen und ihm dienstbar gemacht werdensollte. Die wichtige Schlussfolgerung war für Loos,das Genie, das seiner Zeit intellektuell voraus sei,dürfe nicht durch die unsensible Förderung der

Mittelmäßigkeit behindert werden. Dem Staat fallefolglich die Aufgabe zu, das allgemeine kulturelleNiveau so zu heben, dass die Vorstellungen des Ge-nies auf Verständnis treffen können: »Der widerstand, den die menschheit ihren führendengeistern entgegensetzt, wird um so stärker sein, jegrößer die kluft ist, die zwischen volk und künstler […]sich auftut. Die zeitgenossen des künstlers gehörenverschiedenen perioden an. In der gewesenen mon-archie verteilten sich die einwohner auf die letzten tau-send jahre. […] so gebietet es der geist dem staate,dem künstlermenschen jene umgebung zu schaf-fen, die ihm die geringsten widerstände entgegen-setzt. Die geringsten widerstände werden ihm men-schen entgegensetzen, die nicht nur leiblich, son-dern auch geistig seine zeitgenossen sind: Men-schen aus dem zwanzigsten jahrhundert. Der staat hatdaher die pflicht, das volk dem künstler möglichstnahe zu bringen. Eine andere art der kunstfürsorgekann der staat nicht leisten.«10

Im selben Jahr 1919 nahm Rudolf Schindler vonAmerika aus wieder Kontakt zu Loos auf und batihn, den europäischen Verlegern Louis Sullivans(1856–1924) Manuskript »Kindergarten Chats« an-zubieten, da sich in Amerika keine Möglichkeit zurVeröffentlichung auftat; Schindler wollte dem in Ar-mut lebenden Sullivan helfen. Loos ließ sich dasManuskript schicken, fand aber keinen Verleger da-für. Später bot er Sullivan die Leitung seiner Bau-schule an, die er von Wien nach Paris verlegenwollte. Sullivan war interessiert, fühlte sich aber zualt und wollte zunächst Aufnahmen der Loos’schenProjekte sehen, um sich eine Vorstellung machenzu können.Zur gleichen Zeit trat Loos als Vermittler bei der Vor-bereitung einer Ausstellung der Werke des Schwei-zer Malers Johannes Itten (1888–1967) auf. Itten,der nach Abschluss seines Studiums 1916 nachWien gekommen war, stand im Zuge seiner Überle-gungen zu Parallelen zwischen der Farben- undKlanglehre in Kontakt mit Arnold Schönberg. InWien lernte er Walter Gropius (1883–1969) kennen,der zu jener Zeit mit Alma Mahler verheiratet war.Gropius lud Itten ein, am Bauhaus zu lehren, dassich in Weimar etablierte. Seinem Schüler Richard Neutra (1892–1970) emp-fahl Loos, nach Amerika zu gehen, wo jener in LosAngeles Robert M. Schindler traf, der aufgrund derbegeisterten Schilderungen ihres Lehrers bereitsdorthin emigriert war.

1920 beteiligte Loos sich mit seinem Projekt fürdas Hotel am Semmering am Pariser Herbstsalon. Zu Beginn des Jahres 1921 brachte Loos BessieBruce zurück nach London. Bis dahin hatte Bessiesich in Lungensanatorien in der Schweiz aufgehalten,und Loos war für die Kos ten aufgekommen. Im Juli1921 starb Bessie, erst 35 Jahre alt, im LondonerHaus ihrer Mutter.Nach den ersten Wiener Gemeinderatswahlen imJahr 1919, aus denen die Sozialdemokraten als Sie-ger hervorgegangen waren, wurde Gustav Scheuunter dem Bürgermeister Reumann Stadtrat für dasWohnungswesen und bat Loos, ihm als Berater zu-zuarbeiten. Das Siedlungsamt leitete Max Ermers,der schon an der Abfassung der »Richtlinien für einKunstamt« beteiligt gewesen war. Wie Ermers spä-ter in seinen Memoiren berichtet, war er fasziniertvom enthusiastischen Eifer, mit dem Loos sich die-ser Aufgabe widmete, obwohl er in den ersten Jah-ren nicht einmal dafür bezahlt wurde. Erst 1921 er-reichte Scheu, dass Loos, wenn auch nur mit ei-nem Jahresvertrag, zum Chefarchitekten des Sied-lungsamtes berufen wurde. Nach Streitigkeiten mitden städtischen Beamten gab Ermers 1922 die Lei-tung des Siedlungsamtes ab, und sein Posten wur-de Loos angeboten. Dieser zögerte, weil er nichtzum Bürokraten werden, sich die Möglichkeit derfreien Meinungsäußerung bewahren wollte. Mit Elsie Altmann sprach er nicht über das Problem; eswar vielmehr Mitzi Schnabl (1885–nach 1955), seinelangjährige Haushälterin, die ihn bewog, das Angebotaus finanziellen Gründen anzunehmen; er hattestets Schwierigkeiten im Umgang mit Geld, unddarunter litt der ganze Haushalt immer wieder. Im Ju-ni 1924 kam es zum Bruch mit der Stadt Wien, weilsich der Schwerpunkt zunehmend zum Geschoss-mietwohnungsbau verlagerte, weg vom Eigen-heimbau, den das Siedlungsamt förderte. Loos er-arbeitete in dieser Situation noch einen neuenHaustyp, das »Terrassenhaus«, eine Wohnzeile mitübereinandergestapelten zweigeschossigen Wohn -einheiten mit Terrassen. Es war die Kompromisslö-sung eines verdichteten Siedlingshauskonzeptes,hinter der Loos’ Überzeugung stand, dass die Men-schen lieber in kleineren Häusern wohnen als inGeschosswohnungen zur Miete. Doch konnte sichder Typus des Terrassenhauses nicht durchsetzen.Scheu, Ermers und Loos waren begeisterte Anhän-ger der Gartenstadt- und Siedlerbewegung, wassich im Wien jener Jahre allerdings durchsetzte,

waren gigantische, palastähnliche Wohnblöcke alsMietskasernen. Für Loos ging es bei alldem wenigerum ein Problem der Architektur oder der Ästhetikals vielmehr um ein soziales und demokratischesAnliegen. Das Eigenheim mit Selbstversorgergar-ten verbesserte jedenfalls die Situation der einzel-nen Familie in wirtschaftlichen Krisen. 1922 beteiligte sich Loos mit dem legendären Projekteiner monumentalen dorischen Säule aus poliertemschwarzem Granit am Wettbewerb für das neueRedaktionsgebäude der Chicago Tribune.

Abkehr von Wien

Nach der Kontroverse und dem Bruch mit der StadtWien beschloss Loos im Sommer 1924, nach Parisüberzusiedeln. Er verließ die österreichische Haupt-stadt in der Hoffnung und der Überzeugung, dassseine Ideen in der kulturell aufgeschlossenerenHauptstadt Frankreichs auf fruchtbaren Boden fal-len würden. Tatsächlich hoffte und wünschte er,endlich größere Projekte realisieren zu können.Allerdings hatte er in Paris keine regelmäßigen Ein-nahmen und lebte ohne feste Adresse in Pensio-nen, Hotels oder bei Bekannten; er wurde geachtetund hatte viele Verbindungen vor allem im Kreis derEmigranten, aber nach dem, was wir heute wissen,gibt es in Frankreich mit Ausnahme des HausesTzara und der Einrichtung der Filiale der Firma Knižekeine weiteren realisierten Arbeiten von ihm. Bei ei-nem Besuch in Wien ordnete Loos 1925 an, seinBüro in der Beatrixgasse 25 aufzulösen und alle Plä-ne und Unterlagen zu verbrennen. Im März 1926 reichte Elsie Altmann die Schei dungein und nahm ein Engagement in New York an. Bisdahin hatte Loos versucht, sie dazu zu bewegen,ihm nach Paris zu folgen, obwohl es ihm dort anAufträgen fehlte und er ihr keine Zukunftsperspekti-ve bieten konnte. Die Nachricht, dass sie sich von ihmtrennen wollte, traf ihn hart; in einem Brief an MitziSchnabl gestand er ein, dass er sich in Paris zutiefsteinsam fühlte, zumal er die Sprache nicht be-herrschte. Gegen Ende der zwanziger Jahre ver-schlechterte sich sein Hörvermögen merklich; esfiel ihm immer schwerer, Unterhaltungen zu folgen,obwohl er ein Hörrohr benutzte. Mit der Zeit wurdeer nahezu taub. Im Jahr 1928 hielt Loos sich häufig in Pilsen auf, wosein langjähriger Bewunderer, der DrahtfabrikantOtto Beck, ihm Aufträge aus dem Kreis seiner Be-kannten verschaffte. Bereits 1908 hatte Loos das

Adolf Loos im Alter von 52 Jahren, 1922(Aus: Rukschcio/Schachel, S. 258)

Adolf Loos, Fotografie von Man Ray,Paris 1926 (Aus: Rukschcio/Schachel,S. 316)

Adolf Loos mit seiner zweiten EhefrauElsie Altmann, 1919 (Aus: Rukschcio/Schachel, S. 238)

Adolf Loos im Alter von 49 Jahren, 1919.Foto Franz Löwy, Wien (Aus: Rukschcio/Schachel, S. 228)

Adolf Loos, 1925. Foto Trude Fleisch-mann (ALA 2115)

Der 59-jährige Adolf Loos in seinerWohnung. Foto Claire Beck, 1929(ALA 2116)

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Pilsener Haus von Otto Beck und das des Beck-So-zius’ Wilhelm Hirsch eingerichtet. Nun erhielt erwiederum mehrere Aufträge für Häuser in Pilsen,und wahrscheinlich machte er in dieser Zeit die Be-kanntschaft des Bauunternehmers Frantisek Mül-ler, der sich eine Villa in Prag bauen wollte. Im Hau-se Beck lernten sich Loos und Otto Becks TochterClaire (1905–1945), die damals 23 Jahre alt war,kennen; obwohl ihr Vater entschieden gegen eineVerbindung war, heirateten Adolf und Claire im Juni1929. 1928 war auch das Jahr des »Falles Loos«: Looswurde verhaftet und nach vier Tagen gegen Kautionfreigelassen. Nach eigenen Angaben hatte er imPrater zwei ungepflegt aussehende Mädchen ange-sprochen und sie mit nach Hause genommen, ummit ihnen zu sprechen (Loos gehörte zu den Initia-toren der Stiftung »Haus in der Sonne« von EugenieSchwarzwald, der Schulgründerin; die Stiftung er-möglichte mittellosen Wiener Kindern, ihre Ferienin Frankreich zu verbringen). Zuhause angekom-men, scheint Loos, dem Sauberkeit und Gepflegt-heit schon immer sehr wichtig gewesen waren, dieMädchen aufgefordert zu haben, ein Bad zu neh-men.. Die Mädchen berichteten ihren Eltern davon,und diese sorgten mit ihrer Anzeige dafür, dassLoos verhaftet wurde. Die Presse machte den Fall so-fort bekannt, und ganz Wien sprach darüber. In derVernehmung am 4. Dezember wurde Loos auf derGrundlage des Artikels 132/III des Strafgesetzbu-ches, der die Aufforderung an einen Schutzbefohle-nen zur Durchführung oder Duldung unzüchtigerHandlungen unter Strafe stellte, zu vier MonatenHaft auf Bewährung verurteilt. 1929 reiste Loos nach Frankfurt, wo mittlerweileGrethe Klimt, geborene Hentschel, lebte, von derenVermittlung er sich Aufträge für Wohn bauten undSiedlungen erhoffte und die auch seine Bewerbungum die Nachfolge des Frankfurter StadtbauratsErnst May unterstützte, der nach Moskau übersiedelnwollte. Von dieser Reise zurückgekehrt, erkrankteLoos schwer. Er wurde in ein Wiener Sanatoriumeingeliefert, wo er, gepflegt von Claire, drei Monateverbringen musste. Im Frühjahr 1930 sah er sich er-neut zu einem langen Kuraufenthalt gezwungen,diesmal im schlesischen Zuckmantel. Im Dezemberdes Jahres würdigte die Stadt Prag Adolf Loos mit einer Feier zu seinem sechzigsten Geburtstag. Vonder Presse, von Personen des öffentlichen Lebensund natürlich von Freunden und Bekannten erhielt

Loos Zeichen des Dankes und der Anerkennung fürsein Wirken. Der tschechoslowakische Staat ge-währte ihm eine Ehrengabe von 10000 Kronen als Le-bensrente. Am Abend fand ein Fest in der Villa Mül-ler statt. 1931 brachen Adolf und Claire Loos zu einem wei-teren langen Aufenthalt nach Paris auf; sie machtenStation in Deutschland, Italien und Südfrankreich.Die Hoffnung, diese Reise würde ihm schon unter-wegs neue Aufträge eintragen, erfüllte sich nicht,und Loos richtete nun alle Erwartungen auf Paris.Doch als Projekte, die dort bereits besprochen undbewilligt waren, wieder abgesagt wurden, geriet erin eine tiefe Krise. Er war enttäuscht und verbittert,hinzu kam im Juli 1931 der Bruch mit Claire. GegenEnde des Sommers verschlechterte sich sein Ge-sundheitszustand weiter, und Loos musste sich in einSanatorium für Nerven- und Gemütsleiden in derNähe von Prag begeben.Im Februar 1932 erfolgte die Scheidung von Claire.Loos kehrte nach Wien zurück und hielt sich in derFolge in verschiedenen Heilanstalten in Österreichund der damaligen Tschechoslowakei auf. Auf einerReise nach Wien ereilte ihn am 3. Dezember 1932 einSchlaganfall, und er wurde in das Sanatorium Ro-sen hügel gebracht. Freunde und ehemalige Auf-traggeber kümmerten sich um ihn, darunter Scheu,Moller, Steiner und vor allem seine treue HaushälterinMitzi Schnabl, aber mittlerweile erkannte er sienicht mehr. Am 23. August 1933 starb Loos im Altervon 62 Jahren verarmt im Sanatorium Kalksburg beiWien, wahrscheinlich an den Spätfolgen der Syphi-lis.

1 Burkhardt Rukschcio, Roland Schachel:Adolf Loos. Leben und Werk. Salzburg1982 (im folgenden R +S), S. 20.2 Adolf Loos: Der Silberhof und seineNachbarschaft. In: N.F.P., Wien, 15.5.1898;R+S, S. 24.3 Adolf Loos: Die Herrenmode. In: N.F.P.,Wien, 22. 5. 1898; R +S, S. 27.4 zitiert nach R + S, S. 35.5 Adolf Loos: undatiertes Manuskriptfrag-ment, R+S, S. 63.

6 Adolf Loos: Das Andere – Ein Blatt zurEinführung der abendländischen Kultur inÖsterreich. Ankündigung in: Die Zukunft,Berlin, 30.1.1904; R+S, S. 85.7 Adolf Loos: Kunstförderung. Unveröf-fent lichtes Manuskript, R+S, S. 102.8 Adolf Loos: Meine Bauschule. In: DerArchitekt, 29, Heft 10, Wien, Oktober1913. Auch in: Adolf Loos, SämtlicheSchriften. Erster Band, Trotzdem. Wien,München 1962, S. 322.

9 Gustav Schleicher: Antworten auf 9 Fra-gen. Typoskript vom 10. Juni 1970; R+S,S. 172.10 Adolf Loos: Richtlinien für ein Kunst-amt. In: Der Friede, Bd. III, Nr. 62. Wien1919; zitiert in R+S, S. 230.

Adolf Loos im Alter von 61 Jahren,1931/32. Foto Emil Theis, Dessau, ausdem Nachlass von Gustav Schindler (Aus: Rukschcio/Schachel, S. 380)

Adolf Loos mit seiner dritten EhefrauClaire Beck, 1929 (Aus: Rukschcio/Schachel, S. 350)

Adolf Loos mit Hörrohr vor dem Kamin,Foto von Claire Beck, 1929

Adolf Loos auf der Terrasse des Sanato-riums Rosenhügel in Wien, 1932 (Aus:Rukschcio/Schachel, S. 387)

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»Ich habe es daher gar nicht gern, wenn man micharchitekt nennt. Ich heiße einfach Adolf Loos.«1

Das schriftliche Werk von Adolf Loos besteht ausEssays, Aufsätzen und Vortragstexten. Sie ergebenkein zusammenhängendes theoretisches Werk,sondern eine Serie von Einzelüberlegungen, dieLoos’ Auffassungen und Erkenntnisse zu einer Rei-he von Themen wiedergeben. In ihrer Gesamtheit zei-gen diese Schriften eine kom plexe Betrachtungs-weise gestalterischer und kultureller Fragen. Es seijedem geraten, diese kurzen, in einer einfachen,klaren und pointierten Sprache gehaltenen Texte zulesen. Sie lassen in verständlichen Beispielen dasWesen der Dinge aufleuchten, so, wie Loos sie ge-sehen hat, und vermitteln eine Fülle klarer undüberraschender Einsichten. Robert Scheu, der Bru-der von Gustav Scheu und langjährige Freund vonLoos, beschreibt die Faszination dieser Texte: »Loos machte eigentlich niemals Witze und meintealles tödlich ernst. Und trotzdem wirkte er unaus-sprechlich amüsant. Für mich war Loos der amü-santeste Mensch, dem ich je begegnet bin. Witzund Wahrheit in einer Form, die sie erträglichmacht. […] Ich unterscheide drei Gattungen vonSchriftstellern: Bei der ersten Gattung sage ich mir:Wenn mir das eingefallen wäre, dann hätte ichmich gehütet, es niederzuschreiben. Bei der zweitenGattung: Warum habe ich das nicht geschrieben,ich habe mir ja das gleiche gedacht? Die dritte Gat-tung: Da denke ich mir: Warum habe ich das nie ge-dacht? Nur die letzte Gattung ist die wahrhaft inter-essante und zu dieser gehörte Adolf Loos. SeineGedanken fassen nicht in Worte, was schon lange inuns nach Ausdruck rang, sondern sie sind Überra-schungen, die uns beschämen.«2

Hier ist auch daran zu erinnern, dass Loos’ grundle-gende schriftliche Äußerungen zwischen 1897 und1900 entstanden, also vor Beginn seiner Laufbahn als

Ausstatter (»Outfitter«) und Architekt. In den Jah-ren zwischen der Rückkehr aus Amerika und der Er-richtung des Hauses am Michaelerplatz (1910) be-schränkten sich seine Aufträge auf die Innenaus-stattung von Wohnungen, Läden und Lokalen.Selbst beim Umbau der Villa Karma war Loos aus-schließlich mit der Inneneinrichtung beauftragt; dieSkizzen für den Umbau und die Fassadenplanunglieferte er ohne Honorar. Bis zu dem Zeitpunkt, zudem er zu bauen begann, also bis 1910, verfasste erweitere Aufsätze und schuf sich damit das theoreti-sche Fundament, auf dem seine Tätigkeit als Archi-tekt aufbaute. Die profunde und weitsichtige Analyse der Dinge,die schon der junge Loos vor dem Hintergrund sei-ner in Amerika und kurzzeitig in London gesammel-ten Erfahrungen erkennen ließ, zeigte seine außer-gewöhnliche Reife. Er formulierte sein gestalteri-sches Programm, noch bevor er Erfahrungen mitdem Bauen machen konnte. In den Essays vertrittLoos seinen Standpunkt, beginnend bei der Kritikan den bestehenden Verhältnissen. Über diese inder Regel bissige Kritik hinaus macht er seine eige-nen Überzeugungen deutlich und zeigt dabei neueWege auf. Ihm gelang es, die »Bewahrer« wie auchdie »Neuerer« anhand von anschaulichen Beispie-len bloßzustellen und dann einen Weg zu zeigen,der die Tradition respektiert, sogar notwendiger-weise auf ihr aufbaut, und die notwendigen Neue-rungen entsprechend der Nutzung und dem Ge-brauch berücksichtigt. Diese Gedanken bauen auf der Evolutionstheorieauf. Indem er das Prinzip der Evolution auf Archi-tektur und Raumgestaltung anwendet, steht Loosin Opposition zu den Bewahrern des Historismus,die neue Bauten mit historischen Formzitaten deko-rieren, und auch zu den Bewegungen der Modernewie der Secession, der Wiener Werkstätte oderdem deutschen Werkbund, die mit der Vergangenheit

Das schriftliche WerkDie Titelseiten der beiden Nummern der Zeit-schrift »Das Andere« und der Broschüre »Woh-nungswanderungen«

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brechen und nach unabhängigen, individuellen Lö-sungen suchen. Loos hatte keine Bedenken, herkömmliche Ge-brauchsgegenstände so, wie sie sich entwickelthatten, zu kopieren oder selbst zu verwenden, sofernsie den Erfordernissen in vollkommener Weise ent-sprechen. Ein Beispiel ist etwa der Chippendale-Stuhl, den Loos für den vollkommensten und be-quemsten Esszimmerstuhl hielt und immer wiederverwendete. So finden sich in den von ihm gestal-teten Räumen Objekte aus allen Epochen, vomägyptischen Hocker bis zur nackten Glühbirne.Loos schreibt: »Alles, was frühere jahrhunderte geschaffen ha-ben, kann heute, sofern es noch brauchbar ist, kopiertwerden. Neue erscheinungen unserer kultur (eisen-bahnwagen, telephone, schreibmaschinen usw.)müssen ohne bewußten anklang an einen bereitsüberwundenen stil formal gelöst werden. Änderun-gen an einem alten gegenstand, um ihn den mo-dernen bedürfnissen anzupassen, sind nicht er-laubt. Hier heißt es: Entweder kopieren oder neuschaffen. Damit will ich aber nicht gesagt haben,daß das neue das entgegengesetzte von dem vor-hergehenden ist.«3

Loos setzte auf die englische Kultur, die er als dieüberlegene betrachtete – diese Überlegenheit be-ruhte seiner Ansicht nach auf mehreren Faktoren.Das englische Handwerk strebe nach dem vollkom-menen, dem Zweck angemessenen und hochwer -tigen Gebrauchsgegenstand aus entsprechendenMaterialien; ein solches Produkt überzeuge durchseine Qualität und könne daher in der ganzen Weltgehandelt werden. Der Hersteller könne ein derartqualitätvolles Produkt zu einem besseren Preis ver-kaufen. Der Vorteil für den Käufer liege in der grö-ßeren Haltbarkeit im Vergleich mit einem Produkt, beidessen Herstellung gespart wurde oder das einfachnur modisch ist und nach kurzer Zeit ersetzt wer-den muss. Ein typisch Loos’sches Beispiel ist dieHerrenkleidung; der englische Gentleman besitzeunterschiedliche Anzüge und trage sie je nach Anlass(Zweck), so dass sie lange zu verwenden sind, sichnicht zu schnell abtragen und nicht dem Modediktatunterworfen sind. Das ist für Loos Sparsamkeit:langer Gebrauch spart Material und Arbeit undrechtfertigt den Einsatz von hochwertigen, langlebi-gen Materialien und bes ter handwerklicher Verar-beitung. Auf diese Weise allerdings würden Bürger,die sich Qualitätvolles leisten können, immer rei-

cher und mittellose Arbeiter, die modische Erzeug-nisse zu einem niedrigen Preis kaufen, immer är-mer. Loos möchte folglich die Menschen erziehen,ihr kulturelles Niveau heben und die Grundlagen da-für schaffen, dass auch der Arbeiter sich hochwerti-ge Produkte kaufen kann. Zu diesem Zweck hielt eres für notwendig, Arbeitern den Kauf eines Grund-stücks mit Haus zu ermöglichen. Mit einem Nutz-garten und mit Kleintierzucht könnten sie sich weit-gehend selbst versorgen, Zeiten der wirtschaft-lichen Krise besser überstehen und das gesparteGeld für gute Ausstattungstücke, für die eigene Bil-dung oder die ihrer Kinder verwenden. Loos warüberzeugt, der Besitz eines Hauses mit Grundstücksei der natürliche Wunsch des freien Menschen, daer ihn unabhängig mache. Vor diesem Hintergrund engagierte Loos sich fürdie Siedlungsbewegung, und in diesem Zusam -menhang, wiederholte er unermüdlich, komme eskeineswegs in erster Linie auf die formale Gestal-tung an; alles müsse vielmehr im Blick auf denZweck entwickelt werden. Das Budget eines Siedlersist begrenzt, und daher müssen die Häuser zum Teilso gebaut werden, dass die Eigentümer sie selbst fer-tigstellen können. Die Siedlung wie auch das ein-zelne Haus müssen also mit Blick auf den Nutzgar-ten konzipiert werden, denn es geht in erster Linieum die Selbstversorgung und den damit verbunde-nen gesellschaftlichen Nutzen.In Loos’ Augen streben die Menschen stets nachBesserem und Höherem; die dominante bürgerli-che Schicht oder die Aristokratie4 seien daher ge-halten, ein gutes Beispiel zu geben, an dem derRest der Bevölkerung sich orientieren kann. Ein Fri-seur wolle sich wie ein Graf kleiden, während einGraf nicht wie ein Friseur gekleidet sein möchte.Mit dieser Vorbildfunktion begründet Loos dennauch seine Tätigkeit für das einflussreiche und ge-bildete Großbürgertum, und damit findet auch derLuxusartikel seine Rechtfertigung und seinen Platz inden ökonomischen Überlegungen von Loos:»Der luxus ist ein sehr notwendiges ding. Qualitäts-arbeit muss von jemand bezahlt werden. Und dieseluxusindustrie, die nur wenigen dient, bedeutetdas, was ich von dem besten läufer und dem vor-trefflichsten springer gesagt habe, das heißt, daßzu dieser produktionsvollkommenheit wenigstensein kleines häufchen handwerklich fähigster men-schen mühsam gelangen muß. Durch begabungund ausdauer. Das muß beispiel der besten

menschlichen fähigkeit sein. Sonst geht es mit allemund jedem gebiete abwärts. […] Ohne die hervorra-genden menschen gelangen wir nicht über dendurchschnitt hinaus.«5

Publikationen

Die derzeit bekannten Schriften von Adolf Loossind in drei Bände zusammengefasst:1: Ins Leere gesprochen. Georges Crès & Cie.: Zü-rich, Paris 1921 (erste Auflage)Der Band versammelt die Artikel, die Loos nach derRückkehr von seiner Amerikareise, zwischen 1897und 1900 verfasste. 1898 veröffentlichte Loos inder österreichischen Tageszeitung Neue Freie Pres-se eine Artikelserie anlässlich der Wiener Jubi-läumsausstellung. Es ist nicht bekannt, wie Loos,der keine Referenzen hatte, zu dem Angebot derrenommierten, eher liberal konservativen Zeitungkam. In den Artikeln vertritt er seine Überzeugun-gen und Ansichten klar und kann auf diese Weiseauf sich aufmerksam machen. Die Beiträge für dieNeue Freie Presse sind das Fundament seinesschriftlichen Werks. Er hatte zuvor Artikel in denZeitschriften Die Wage und Die Zeit veröffentlicht,später schrieb er auch für das Wiener Tagblatt. Die-se Artikel wurden, von Loos zusammengestellt, in deroriginalen deutschen Fassung erstmals von dem inZürich und Paris beheimateten Verlag Georges Crès& Cie. veröffentlicht, und zwar 1921, also zwanzigJahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen. Anfangswar kein Verlagshaus bereit gewesen, sie zu veröf-fentlichen; später war es Loos, der zögerte. Im Vor-wort zur Erstausgabe erläutert Loos die Gründe fürdiese Verspätung: »[…] Im laufe der jahre machten mir viele verlegerden antrag, diese artikel erscheinen zu lassen. Aberich war dagegen. Diese aufsätze waren zu einerzeit und in einem blatte geschrieben, wo ich tau-send rücksichten zu nehmen hatte. Meine wahremeinung mußte ich aus pädagogischen gründen insätze fassen, die mir nach jahren beim lesen ner-venschmerzen verursachen. Aber selbst diese ver-wässerte schreibweise hat mir, nicht von den phili -stern, sondern von den ›modernen‹ künstlern denruf eingetragen, durch paradoxe schreibweise der›moderne‹ in den rücken zu fallen. Nur auf drängenmeiner lieben schüler, insbesondere des architek-ten Otto Breuer, habe ich mich entschlossen, derherausgabe dieser aufsätze zuzustimmen.«6

Der Titel »Ins Leere gesprochen« verrät eine gewis-

se Resignation auf Seiten von Loos; er vermisstedie Anerkennung seiner geistigen Arbeit und warte-te als Architekt vergeblich auf einen Auftrag für eingrößeres öffentliches Gebäude. Ihm war bewusst,dass vieles von dem, was er analysiert und voraus-gesehen hatte, mittlerweile eingetreten war odersich in dem von ihm genannten Sinne entwickelthatte, aber seine Rolle als Initiator der Diskussionüber die moderne österreichische Gesellschaftwurde ihm von der öffentlichen Meinung nicht zu-gebilligt, während die Secession doch recht schnellauf breite öffentliche, sogar staatliche Unterstüt-zung aufbauen konnte und damit die Diskussionüber die moderne Erneuerung beherrschte.

2: Trotzdem. Brenner: Innsbruck 1931 (erste Auflage)Der Band vereinigt die Schriften aus den Jahren1900 bis 1930. Die einzelnen Artikel waren im Laufder Jahre an ganz verschiedenen Orten veröffent-licht worden oder sind aus Vortragsmanuskriptenentstanden. Sie waren von Loos nicht zusammen-hängend konzipiert, sondern zu unterschiedlichenGelegenheiten verfasst worden. Der Band enthältauch den berühmten Aufsatz »Ornament und Ver-brechen«, geschrieben 1908 als Vortragsmanu-skript, anlässlich der ersten Wiener Kunstschau, dievon Josef Hoffmann künstlerisch betreut und vonGustav Klimt geleitet wurde. Erstmals in deutscherSprache veröffentlicht wurde der Artikel allerdingserst am 24. Oktober 1929 in der Frankfurter Zei-tung. Loos stellte die Artikel zusammen, der ihm bekann-te Verleger Ludwig von Ficker, Besitzer des Verlags-hauses Brenner in Innsbruck, besorgte die Veröf-fentlichung, und Karl Kraus schlug unter Berufungauf Nietzsches »Das Entscheidende geschiehttrotzdem« den Titel »Trotzdem« vor. Loos hatte zu-nächst zwei andere Titel vorgesehen: »Wer Ohren hatder höre« und »Ins Volle getroffen«.

3: Die Potemkinsche Stadt. Georg-Prachner-Verlag:Wien 1983 (erste Auflage)Der Band enthält Essays aus den Jahren zwischen1897 und 1933, also aus Loos’ gesamter Schaf-fenszeit, die nicht in die beiden ersten Bände auf-genommen sind. Alle Essays waren zu Lebzeitenvon Loos in Tageszeitungen oder Zeitschriften er-schienen; unter ihnen finden sich die Texte aus denbeiden Nummern der Zeitschrift Das Andere unddie »Richtlinien für ein Kunstamt«.

Die Titelseiten der Erstausgaben der Essaysund Artikel von Loos

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Polemik

Ein bevorzugtes Stilmittel ist bei Loos die Polemik, mitder er die bestehenden Zustände und die herr-schenden Interessengruppen angreift. Die Gründefür diese Vorliebe liegen sicher in seinem Charakter,aber vor allem ist die Polemik durch seine persönlicheSituation bedingt: Ohne ein öffentliches Amt zu be-kleiden war es in Wien schwierig, sich als Architektoffiziell Gehör zu verschaffen. Da Loos keinen Hoch-schulabschluss besaß und in jungen Jahren unseli-gerweise vorübergehend unter Kuratel gestandenhatte, war ihm der Weg zu einer Professur und damitder Lehre, die ihm soviel bedeutete, von Beginn anverschlossen. Seine Polemik hatte insbesondere Architekten, Professoren für angewandte Kunst (in erster Linie Josef Hoffmann), Künstler und Architek-ten mit akademischer Ausbildung sowie die Mitglie-der der Secession, der Wiener Werkstätte und desDeutschen Werkbundes zum Ziel. Josef Hoffmannwar in all diesen Gruppierungen ein führendes Mit-glied; zwar wird sein Name in den Texten nie er-wähnt, doch war er, für alle Zeitgenossen wohl klar er-kennbar, die Zielscheibe der Loos’schen Kritik.»Und der maurermeister, der baumeister erhielt ei-nen vormund. Der baumeister konnte nur häuserbauen: im stile seiner zeit. Aber der, der in jedemvergangenen stile bauen konnte, der, der aus demkontakt mit seiner zeit gekommen war, der entwur-zelte und verbogene, er wurde der herrschendemann, er, der architekt.Der handwerker konnte sich nicht viel um bücherkümmern. Der architekt bezog alles aus büchern.Eine ungeheure literatur versorgte ihn mit allemwissenswerten. Man ahnt nicht, wie vergiftend die-se unzahl von geschickten verlegerpublikationenauf unsere stadtkultur gewirkt, wie sie jede selbst-besinnung verhindert hat. […] Das ergebnis war im-mer ein greuel. Und dieser greuel wuchs ins un-endliche. Ein jeder war bestrebt, seine sache inneuen publikationen verewigt zu sehen, und einegroße zahl architektonischer blätter kam dem eitel-keitsbedürfnis der architekten entgegen. Und so istes geblieben bis zum heutigen tag. Aber der architekt hat den baumeister auch aus ei-nem anderen grund verdrängt. Er lernte zeichnen,und da er nichts anderes lernte, so konnte er es.Das kann der handwerker nicht, seine hand istschwer geworden. […]Die baukunst ist durch den architekten zur graphi-schen kunst herabgesunken. Nicht der erhält die

meisten aufträge, der am besten bauen kann, son-dern der, dessen arbeiten sich auf dem papier am be-sten ausnehmen. Und diese beiden sind antipoden.«7

Loos stieß aber auch die Wiener, die Österreicherganz allgemein und die Deutschen vor den Kopf, in-dem er ständig internationale Vergleiche anstellteund ihnen zeigte, dass sie sich der Welt stärker öff-nen müssten, um der internationalen Konkurrenzstandzuhalten. Er stand der Öffnung der Märkte zu-stimmend gegenüber; seiner Ansicht nach war Erfolgauf lange Sicht nicht dem lokalen Denken mit seinerAbgrenzungspolitik beschieden, sondern allein derGesellschaft, die weltweit nachgefragte Produkteherstellen kann. Für Loos musste allerdings, wenndieses ökonomische Ziel erreicht werden sollte, zu-nächst das Volk durch Erziehung zu einer höheren Kul-turstufe geführt werden. Und hierin sah er seine ei-gentliche Mission.

Ziele der Kritik

Als Adolf Loos 1896 aus Amerika nach Wien zu-rückkehrte, fand er ein kulturelles Umfeld vor, indem er sich mit seinen kritischen Schriften jenenRaum schuf, in dem er als Architekt arbeiten wollte.Im Wien jener Jahre herrschten historistische undeklektizistische Stilrichtungen vor, wie sie von denAkademien kultiviert wurden. Deren Architektenund Professoren waren für Loos die »Philister«, bestens bewandert in der Kunstgeschichte wie inder Entwurfstechnik und in der Lage, jeden archi-tektonischen Stil zu imitieren und jedem Zweck undjeder Vorgabe anzupassen. In Opposition zu den »Philistern« standen die »Mo-dernen«. Sie waren in der Entwurfstechnik eben-falls gut ausgebildet und gehörten der Secessionan, später der Wiener Werkstätte, die von Mitgliedernder ehemaligen Secession geführt wurde. Um dieJahrhundertwende wurde die Secession noch vonGustav Klimt geleitet und in der Architektur von Josef Hoffmann, Josef Maria Olbrich und Josef Plecnik, alle drei Schüler von Otto Wagner, reprä-sentiert. Die Secession knüpfte an den Jugendstilan und war vom Ideal des »Gesamtkunstwerks«durchdrungen: Die Künste, von der Architektur überdie Inneneinrichtung bis hin zur Fertigung von Ge-brauchsgegenständen, Kleidung und Schmuck,sollten zusammenwirken, alles sollte von Künstler-hand hergestellt werden. Auf diese Weise wollteman die Kunst dem Volk nahebringen, sie in Form vonProdukten, die von Künstlern entworfen und von

den besten Handwerkern kunst- und qualitätvoll ge-fertigt wurden, in das Alltagsleben integrieren. Über diesen Gruppierungen stand Otto Wagner,der als Angehöriger der vorangegangenen Generationbereits auf ein großes Werk zurückblickte. AuchWagner sah die Notwendigkeit eines Wandels inder Architektur, verfolgte allerdings einen persön-lichen Weg, den er in seinem Buch »Moderne Ar-chitektur« von 1896 vorstellte. Loos respektierteOtto Wagner und griff ihn niemals an: »Vor dem Ot-to Wagner’schen genius streiche ich die segel.«8

Kunst und Kultur

Im Gegensatz zur Secession und ihrer Vorstellungvom »Gesamtkunstwerk« sowie den Puristen derweißen Moderne, die dem Ideal der Abstraktionfolgten, glaubte Loos nicht, dass die Durchdringungvon Kunst und Handwerk zur Produktion funktiona-ler Gebrauchsgegenstände führen könne: Unterdem bestimmenden Einfluss des Künstlers würdendie Objekte nämlich gerade nicht nach funktionalenKriterien und nicht unter Berücksichtigung des Ma-terials konzipiert. Für Loos haben Gebrauchsfor-men eine Entwicklung, vergleichbar der natürlichenEvolution, und sind mit dem Wissen und der Erfah-rung ganzer Generationen entstanden, die weiter-zugeben Aufgabe der Handwerkerzünfte gewesensei. Daher trat er für eine saubere Trennung vonKunst und Handwerk ein. Jede Generation passeden Gebrauchsgegenstand ihren speziellen Bedürf-nissen an, aber das geschehe im Laufe der Jahre,entsprechend den Erfahrungen und Notwendigkei-ten; auf einen originären künstlerischen Entwurf seidies nicht angewiesen. »Ich sage: das kunstwerk ist ewig, das werk deshandwerkers ist vergänglich. Die wirkung deskunstwerkes ist geistig, die wirkung des ge-brauchsgegenstandes ist materiell. Das kunstwerkwird geistig konsumiert, unterliegt daher nicht der zer-störung durch den gebrauch, der gebrauchsgegen-stand wird materiell konsumiert und dadurch ver-braucht.«9

Generell möchte Loos die Verwendung des Be-griffs Kunst in der Architektur und mithin die Tätig-keit des Architekten als »Künstler« auf wenige Bau-aufgaben beschränken: »Das haus hat allen zu gefallen. Zum unterschiedevom kunstwerk. Das kunstwerk ist eine privatange-legenheit des künstlers. Das haus ist es nicht. Daskunstwerk wird in die welt gesetzt, ohne daß dafür

ein bedürfnis vorhanden wäre. Das haus deckt ein be-dürfnis. Das kunstwerk ist niemandem verantwort-lich, das haus einem jeden. Das kunstwerk will diemenschen aus ihrer bequemlichkeit reißen. Dashaus hat der bequemlichkeit zu dienen. Das kunst-werk ist revolutionär, das haus konservativ. Daskunstwerk zeigt der menschheit neue wege in die zu-kunft. Das haus denkt an die gegenwart. […] Sohätte also das haus nichts mit der kunst zu tun undwäre die architektur nicht unter die künste einzurei-hen? Es ist so. Nur ein ganz kleiner teil der architek-tur gehört der kunst an: Das grabmal und das denk-mal. Alles andere, was dem zweck dient, ist ausdem reiche der kunst auszuschließen.«10

Mit diesen Gedanken spricht er den an den Kunst-akademien ausgebildeten Architekten, den »Philis-tern« und den »Modernen«, die Vorrangstellung imBereich Architektur ab. Loos will nicht nur die Handwerker, er will die gan-ze Menschheit von der Anmaßung der Künstler be-freien; er will das allgemeine kulturelle Niveau heben,damit die Menschen in ihrem Alltag nicht mehr aufden »akademischen Künstler« angewiesen sind,den er für »kulturlos« hält. Für Loos umschließt dasKonzept von Kultur und Zivilisation die Tradition,während die Erschaffung von neuen Formen fürGebrauchsgegenstände ein rein künstlerischer Aktist. Er sieht seine eigentliche Aufgabe in der kultu-rellen Erziehung der Menschen, denen er Beispielevor Augen führen und Vorträge halten möchte über»gehen, stehen, sitzen, liegen, schlafen, essen,wohnen und sich kleiden! Wohnen lernen! Die ab-schaffung der möbel! Ornament und verbrechen!«Hier wird deutlich, dass es ganz gewöhnliche Dingesind, über die Loos spricht und schreibt, Alltägli-ches wie Bekleidung und Einrichtung, das uns inder Regel umgibt. Diese Dinge zieht er heran, um sei-nem Publikum zu erläutern, wie es mit der abend-ländischen Kultur zu seiner Zeit in anderen Ländernbestellt ist, vor allem in England und in Amerika.Die Glaubwürdigkeit seines Anliegens verleihenLoos seine elegante Kleidung und sein kosmopoliti-sches Auftreten. Nach einer Loos’schen These werde das Ornamentverschwinden, sobald das Volk vertraut gemachtsei mit der Kultur des 20. Jahrhunderts, wie er sie inAmerika kennengelernt hat:»Das unvermögen unserer kultur, ein neues orna-ment zu schaffen, bedeutet ihre größe. Evolutionder menschheit geht hand in hand mit dem entfer-

Josef Hoffmann, Palais Stoclet, Brüssel, 1906.Das Speisezimmer als Gesamtkunstwerk

Palais Stoclet, Brüssel, 1906. Speiseserviceund Besteck, entworfen von Josef Hoffmann

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nen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstan-de. Mögen unsere angewandten künst ler – ausselbsterhaltungstrieb – einwenden, was sie wollen.Für den kultivierten menschen ist ein nicht täto-wiertes antlitz schöner als ein tätowiertes undwenn die tätowierung von Kolo Moser selbst her-rühren sollte. Und der kulturmensch will nicht nurseine haut, sondern auch seine bucheinbände odersein nachtschränkchen von der tätowierungswutder staatlichen kulturbarbaren geschützt wissen.«11

Und weiter: »evolution der kultur ist gleichbedeu-tend mit dem entfernen des ornaments aus demgebrauchsgegenstande.«12

In den »Richtlinien für ein Kunstamt«, 1919, atta-ckiert Loos die akademische Ausbildung der Künst-ler und spricht sich gegen jede staatliche Förderungder Künstler aus: die wirklich großen Geister wer-den sich ohnehin trotz allen Widrigkeiten durchset-zen. Da ihre Begabung ihnen von Gott gegeben sei,werden ihre Tätigkeit und ihr Werk zu einer Art Mis-sion, die zu vollziehen sie gezwungen seien, auchangesichts aller Widerstände und Hindernisse, dieihnen das Leben entgegenstellt. Um den Wider-stand, mit dem die Gesellschaft dem Genie begeg-ne, in gewissen Grenzen zu halten – denn auch derGeist des Künstlers lebt in einem Körper und istfolglich endlich –, habe der Staat einzig die Aufgabe,das Volk zu erziehen und dessen kulturelles Be-wusstsein zu fördern, so dass es imstande sei, diegroßen Geister zu verstehen und ihnen zu folgen.Loos setzt damit die »großen Geister« den Prophe-ten gleich und verbindet ihr Wirken mit einem gött-lichen Auftrag. Zugleich postuliert er eine Hierar-chie des Gestaltens:»Ich schrieb einmal: Wenn von einem ausgestorbe-nen volke nichts anderes als ein knopf übrig bliebe,so ist es mir möglich, aus der form dieses knopfesauf die kleidung und die gebräuche dieses volkes, aufseine sitten und seine religion, auf seine kunst undseine geistigkeit zu schließen. Wie wichtig ist dieserknopf! Ich wollte damit auf den zusammenhangzwischen innerer und äußerer kultur hinweisen.Der weg ist: Gott schuf den künstler, der künstlerschafft die zeit, die zeit schafft den handwerker, derhandwerker schafft den knopf.«13

Verfolgt man diesen Gedanken weiter, muss manschließen, dass es den richtigen Weg, Künstler aus-zubilden, gar nicht gibt: Als Künstler wird man ge-boren. Es ist kein Zufall, dass Loos die an den Aka-demien ausgebildeten Künstler zugespitzt als »Pro-

stituierer der Kunst« bezeichnet und auch die Archi-tekten zu dieser Gruppe zählt. Das zweite Argument, das Loos zugunsten seinerThese anführt, wahre Kunst könne nicht in Institu-tionen gelehrt werden, ist die Beobachtung, dassdie Kunst revolutionär sein und damit den Interes-sen des Staates zuwiderlaufen könne. Bei der Aus-wahl der Lehrenden werde man also ganz sichernicht die besten Künstler bevorzugen, was wiede-rum eine nur mittelmäßige künstlerische Ausbil-dung und Folgewirkungen auch auf der gesellschaft-lichen Ebene nach sich ziehen werde, denn fast alles,was von Architekten und »angewandten Künstlern«entworfen und dann von Handwerkern ausgeführtwerde, sei unwirtschaftlich und bedeute eine sinnlo-se Verschwendung von Kapital und Arbeitskraft. IhreAusbildung habe den Architekten jedes natür licheGespür für die Notwendigkeit geraubt, sich einer Situation anzupassen; sie lasse sie vielmehr immer ab-straktere und abwegigere Vorstellungen und Idealeverfolgen. Dazu führt Loos das folgende Beispiel an: »Darf ich sie an die gestade eines bergsees füh-ren? […] Da, was ist das? Ein misston in diesemfrieden. Wie ein gekreisch, das nicht notwendig ist.Mitten unter den häusern der bauern, die nicht vonihnen, sondern von Gott gemacht wurden, steht eine villa. Das gebilde eines guten oder einesschlechten architekten? Ich weiß es nicht. Ich weißnur, daß friede, ruhe und schönheit dahin sind. […]Wie kommt es, daß ein jeder architekt, ob schlechtoder gut, den see schändet? Der bauer tut dasnicht. Auch nicht der ingenieur, der eine eisenbahnans ufer baut oder mit seinem schiffe tiefe furchenin den klaren seespiegel zieht. […] Der architekt hatwie fast jeder stadtbewohner keine kultur. Ihm fehltdie sicherheit des bauern, der kultur besitzt.«14

Aus der Sicht von Loos könnte man also das Dilem-ma der akademischen Ausbildung der Künstler ineinem Satz zusammenfassen: Zu Höherem nichtberufen, ihrer natürlichen Unschuld beraubt undfolglich überflüssig.Eben deshalb verfolgt Loos das Ziel, die Menschendahin zu führen, sich hinreichend frei zu fühlen, ihreWohnung nach ihren eigenen Vorstellungen einzu-richten – durch die kulturelle Erziehung der Men-schen wie durch die Vorbildwirkung der führendengesellschaftlichen Schicht. Die Attacken auf die »Künstler für angewandteKunst« und die Lobpreisungen des freien, gottbe -gnadeten Künstlers legen den Gedanken nahe,

dass diese Sicht der Dinge dem Lebenslauf vonLoos mit seinem einsamen Kampf gegen die Se-cession und später gegen die Wiener Werkstättenunter Josef Hoffmann, dem Professor der WienerKunstgewerbeschule, entspricht. So gesehen,dienten die »Richtlinien für ein Kunstamt« Loosauch zur Rechtfertigung seiner persönlichen Situationund zur Diffamierung seiner selbsterwählten Geg-ner. Loos wollte nicht als Architekt bezeichnet wer-den; er nannte sich einen Maurer, der Latein gelernthabe – eine deutliche Anspielung darauf, dass seineTätigkeit auf dem Handwerk und der klassischenKultur beruht, nicht auf einer akademischen Ausbil-dung.

Tradition und Fortschritt

»…und was ich gegen die ›historische Krankheit‹gesagt habe, das sagte ich als einer, der von ihrlangsam, mühsam genesen lernte und ganz und garnicht willens war, fürderhin auf ›Historie‹ zu verzich-ten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte.«

Friedrich Nietzsche15

Loos ist der Ansicht, dass Tradition und Wahrheit inÖsterreich und Deutschland in den zurückliegen-den Jahrzehnten durch die »akademischen kunst-gewerblichen Künstler« und die »Philister« ver-deckt und verschüttet worden seien; er will dieMenschen wieder an die Tradition heranführen, dieihre Wurzeln in der römischen Antike habe und im19. Jahrhundert verloren gegangen sei: »Im anfange des 19. jahrhunderts haben wir die tra-dition verlassen. Dort will ich wieder anknüpfen.«16

Die Tradition, an die Loos in der Architektur wiederanknüpfen möchte, das sind die Werke Fischer vonErlachs, Gottfried Sempers sowie Karl FriedrichSchinkels. »Unsere kultur baut sich auf der erkenntnis von deralles überragenden größe des klassischen alter-tums auf. Die technik unseres denkens und fühlenshaben wir von den Römern übernommen. […] Dasheute baut sich auf das gestern auf, sowie sich dasgestern auf das vorgestern aufgebaut hat. Nie war esanders – nie wird es anders sein. Es ist die wahr-heit, die ich lehre.«17

Die Tradition dient Loos als Grundlage seiner Über-legungen, als das Fundament der Geschichte undals etwas, das innere Sicherheit schenkt; allerdingsweigert er sich, sie als absolut zu sehen: Wenn die

Kultur eine höhere Stufe erreicht habe, wirke dasAnpassen von Elementen einer vergangenen Stil-rich tung an moderne Objekte lächerlich. Als Bei-spiele nennt er Trachten und Fassadendekorationen.Im Übrigen macht sich sein Traditionsverständnisnicht so sehr am Formalen als vielmehr an der Fra-ge fest, auf welchen gedanklichen Wegen die römi-sche Kultur zu Lösungen kam. Die Römer dachten lo-gisch, konstruktiv und effizient, sie waren gut orga-nisiert und konnten nur deshalb ihr großes Impe-rium errichten und verwalten. Anders wäre es ih-nen gar nicht möglich gewesen, eine so große Zahlvon Provinzen zu integrieren, und vor allem hätten siekeine so dauerhaften, noch heute augenfälligen kul-turellen Spuren in den eroberten Gebieten hinter-lassen können. Loos hat keinen Zweifel daran, dass jede Epocheihre eigenen Lösungen finden müsse, und das gilt be-sonders für Epochen des raschen technischen Fort-schritts. Die Aufgabe könne aber nicht dadurch ge-löst werden, dass man allem und jedem einen ein-heitlichen Stil überstülpt:»[… die erzeugnisse] sind so im stile unserer zeit,dass wir sie – und das ist das einzige kriterium – garnicht als stilvoll empfinden.«18

Nicht der einzelne Künstler könne über die Formender Alltagsgegenstände entscheiden, noch wenigerkönnen das die Künstlervereinigungen. In diesemSinne ist für Loos die Gründung des DeutschenWerkbundes (1908), in dem »angewandte Künst-ler« und Architekten sich zusam menschlossen, ummit der Industrie zu kooperieren und Produkte fürsie zu entwerfen, überflüssig. Loos lehnt dieses Ex-periment als falschen Weg ab, aus den Gründen,die ihn zuvor schon bewogen haben, sich gegenden Einfluss auszusprechen, den die im Zeichendes Gesamtkunstwerks in der Secession und späterin der Wiener Werkstätte zusammengeschlosse-nen Künstler auf die Handwerker ausübten: »Wir haben unsere kultur, unsere formen, in denensich unser leben abspielt, und die gebrauchsgegen-stände, die uns dieses leben ermöglichen. Keinmensch, auch kein verein, schuf uns unsere schrän-ke, unsere zigarettendosen, unsere schmuckstü-cke. Die zeit schuf sie uns. Sie ändern sich von jahrzu jahr, von tag zu tag, von stunde zu stunde. Dennvon stunde zu stunde ändern wir uns, unsere an-schauungen, unsere gewohnheiten. Und dadurchändert sich unsere kultur. Aber die leute vom Werk-bund verwechseln ursache und wirkung. Wir sitzen

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nicht so, weil ein tischler einen sessel so oder sokonstruiert hat, sondern der tischler macht den ses-sel so, weil wir so oder so sitzen wollen. Und daherist – zur freude eines jeden, der unsere kultur liebt –die tätigkeit des Werkbundes wirkungslos.«19

Loos bezeichnet daher die Mitglieder des DeutschenWerkbundes, an dessen Gründung auch Josef Hoff-mann aktiv beteiligt war, als »die Überflüssigen«. Loos äußert sich klar zu der Frage, was man kopie-ren dürfe und wann es notwendig sei, etwas Neueszu erschaffen: »Meine schüler wissen: Eine veränderung gegen -über dem althergekommenen ist nur dann erlaubt,wenn die veränderung eine verbesserung bedeu-tet. Und da reißen die neuen erfindungen große lö-cher in die tradition, in die traditionelle bauweise.Die neuen erfindungen, das elektrische licht, dasholzzementdach, gehören nicht einem bestimmtenlandstrich, sie gehören dem ganzen erdball.«20

An anderer Stelle:»Alles, was frühere jahrhunderte geschaffen haben,kann heute, sofern es noch brauchbar ist, kopiertwerden. Neue erscheinungen unserer kultur (eisen-bahnwagen, telefone, schreibmaschinen usw.) müs -sen ohne bewußten anklang an einen bereits über-wundenen stil formal gelöst werden.«21

Seine Verteidigung des Fortschritts auf dem Funda-ment der Tradition, wie sie sich auch in seinen Arbei-ten ausdrückt, hat Loos die Kritik der »Modernen«eingetragen, in deren Augen sein architektonischesŒuvre nicht radikal genug mit der Tradition breche.Manche der kritischen Bemerkungen erschienenLoos natürlich als Lob, da er genau das hatte erreichenwollen, was der Kritiker ihm vorwarf: »Und in diesem wahne wurde ich noch durch denausspruch eines mir feindlich gesinnten modernenkünstlers bestärkt, der sagte: ›Das will ein modernerarchitekt sein und baut ein haus wie die alten Wie-ner häuser!‹«22

Wie schwer sich die Vertreter der klassischen Mo-derne mit Loos’ architektonischem wie schriftstel-lerischem Werk taten, machen schriftliche undmündliche Äußerungen anlässlich seines 60. Ge-burtstages deutlich:

Walter Gropius»Adolf Loos ist ein Seher. In der Zeit, als alles noch im Schlummer einesseichten Eklektizismus lag, hat er vom einsamstenPlatze aus zukünftige Entwicklungen vorausgesagt,

deren Verwirklichung heute nahegerückt ist. Er hatklare Forderungen aufgestellt, deren Inbegriff etwadas ist, was wir heute funktionelles Gestalten nen-nen. […] Wie sehr ihm die kaiserliche Zeit diesenkämpferischen Mut verargte, zeigt die Tatsache,daß er für seine weitschauenden, heute noch gülti-gen Aufsätze ›Ins Leere gesprochen‹, die in denJahren 1897 bis 1900 für die ›Neue Freie Presse‹ inWien geschrieben wurden, weder in Österreichnoch in Deutschland einen Verleger fand. Erst nachdem Kriege erschienen sie – in Frankreich im Jahre1921 bei Crès in deutscher Sprache. – Loos hatselbst nur wenig gebaut, man erkannte ihn nicht,aber wenn er an seinem 60. Geburtstag das Fazitseines bisherigen Lebens zieht, wird er die Genug-tuung haben, daß seine wichtigsten Forderungen,die er schon am Ende des vorigen Jahrhunderts›ins Leere sprach‹, schließlich doch von einer ganzenGeneration vernommen wurden.«23

Gropius zollt nur dem theoretischen Werk von Loosseine Anerkennung, er würdigt den Mut, mit demLoos als Erster einsam gegen den Historismus an-kämpfte, und er sieht in ihm einen Vorläufer desfunktionalen Bauens – eine Einschätzung, gegendie Loos sich zu Lebzeiten heftig zur Wehr setzte.Schon 1924 schrieb er: »Ich habe aber damit niemals gemeint, was die pu-risten ad absurdum getrieben haben, daß das orna-ment systematisch und konsequent abzuschaffensei.«24

Hier sieht Loos sich gezwungen, die polemischeund radikale Kritik, wie er sie in »Ornament und Ver-brechen« vorgetragen hat, zu relativieren, denn erwar ja stets bestrebt, eine individuelle, der Nutzungdes einzelnen Raums entsprechende Stimmung zuschaffen – das konnte ihm allein mit vier nacktenweißen Wänden natürlich nicht gelingen. »Orna-ment und Verbrechen« hatte eine große Verbrei-tung erfahren und ein starkes Echo gefunden, waszum Bild von Loos als einem radikalen, kompro-misslosen Neuerer beitrug, einem Bild, das mit sei-nem schriftlichen und architektonischen Gesamt-werk nicht übereinstimmt. Darin liegt zweifellos einGroßteil seiner persönlichen Tragödie.Gegen Ende seines Lebens erkannte man, dassdas, was er schon am Ende des 19. Jahrhunderts vor-ausgesagt hatte, eingetroffen war, aber er fühltesich weiterhin unverstanden, seine Tätigkeit als Ar-chitekt traf auf wenig internationales Interesse undwurde kaum publiziert.

Eine Ursache für diese Situation ist zweifellos derweltweite Siegeszug der »klassischen Moderne«als einer neuen Stilrichtung, von der Loos sich nichtvereinnahmen ließ, so wie er sich auch zuvor nie-mals einer architektonischen Strömung ange-schlossen hatte. Theoretische Grundlage der klassi-schen Moderne war unter anderem – als Reaktion aufden Historismus – der endgültige Bruch mit denherkömmlichen Stilen; damit gab es keinen Ort für diekomplexe Auffassung vom Verhältnis zwischenFortschritt und Tradition, wie Loos sie vertrat. Und sokonnte es auch geschehen, dass Mies van der Ro-he ihn 1927 nicht aufforderte, am Bau der Werk-bundsiedlung »Am Weißenhof« in Stuttgart teilzu-nehmen, obwohl Loos damit gerechnet hatte, denner war der Ansicht, hier mit der Idee des »Wohnensim Raum« in der Tat etwas Neues beisteuern zukönnen.

Le Corbusier»Loos erschien plötzlich inmitten unserer architek-tonischen Sorgen mit einem glänzenden Artikel, imJahre 1913, ›Ornament und Verbrechen‹. Wir be-fanden uns am Abschluß einer sentimentalen Peri-ode: wir hatten den Anschluß an die Natur wieder-gefunden (Bewegung von 1900) und die neuenTechniken vollständig erobert (Eisen- und Beton-konstruktionen, neue Maschinen, neue Materia-lien). Das alles bedeutete den entschiedenen Bruchmit der Vergangenheit, wie sie von den Akademienkünstlich gepflegt wurde, und sehnsuchtsvolle Vor-bereitung auf eine Zukunft. Loos fegte unter unserenFüßen, mit einer homerischen Säuberung – genau,philosophisch und lyrisch. Dadurch hat Loos unser ar-chitektonisches Schicksal beeinflußt.«25

Le Corbusier bezieht sich ausschließlich auf Loos’Schriften und deren Einfluss im Zusam menhangmit der Überwindung des Historismus; das archi-tektonische Werk erwähnt er nicht einmal. »Loosfegte unter unseren Füßen« impliziert, dass Loos1930 nicht mehr auf einer Stufe mit der modernenBewegung stehe, denn er habe, anders als Le Cor-busier, den Bruch mit der Vergangenheit nicht gänz-lich vollzogen. Die revolutionäre und idealistischeAusrichtung Le Corbusiers in seinen Schriften warLoos fremd, dessen Gedanken eher evolutionär,konkret und vor allem am Wohl der Nutzer von Ar-chitektur orientiert waren. Dies zeigt auch den ge-nerellen Unterschied in der Architektur der beiden be-deutenden Architekten zu Beginn des 20. Jahrhun-

derts sowie die Heterogenität innerhalb der Bewe-gung der sogenannten Moderne.

Sigfried GiedionSchließlich die Stimme Sigfried Giedions, Propa-gandist des »Neuen Bauens« in den zwanziger Jah-ren. Als Ingenieur und gelernter Kunsthistoriker warGiedion Angehöriger, aktiver Befürworter und Chro-nist dieser Bewegung. Sein Hauptwerk »Die Herr-schaft der Mechanisierung«, erschienen 1948, gehtder radikalen Veränderung unserer Kultur durch diezunehmende Mechanisierung aller Lebensbereichenach. Zum Sechzigsten von Loos schrieb er:»Wir luden Loos nach Brüssel. Unauffindbar. Im-mer auf der Wanderschaft. Man kann ihn nicht ganzfassen. Weder persönlich noch objektiv. Er ist Pro-phet. Er ist geistreich bis zum Selbstzweck. Ver-wandt mit Michelangelo, aber auch mit Oscar Wilde.Mietshaus am Michaelerplatz. Unten: mächtigeSäulen und grüngesprenkelter Marmor. Oben: glatt,abgekratzt! Man spürt, wie er dachte: ›Wie werdensie sich ärgern!‹ Aber gleichzeitig säuberte er damitdie Architektur. Er hat vielen geholfen, den Wichtig-sten von heute zuerst, denn er hat ihnen gezeigt:›Dorthin geht es.‹ Wegweiser. Sein Werk ist nichtkontinuierlich. […] Aber er hat Augenblicke. In diesenAugenblicken hat er kühner, stichhaltiger und weitergesehen als alle, die mit ihm begannen. Kein Archi-tekt lebt heute, der nicht ein Stück Loos in sich trü-ge. Genügt das?«26

Auch Giedion sieht in erster Linie das theoretischeWerk, während das gebaute Werk von Loos ihmentweder nicht lückenlos bekannt ist oder einzelneGebäude sich nicht in sein Bild des »funktionalenStils« einfügen lassen; daher bezeichnet er es als»nicht kontinuierlich«. Wie Le Corbusier betrachtetauch Giedion Loos nur als Wegbereiter, der amoberen Teil des Hauses am Michaelerplatz zumin-dest ansatzweise die funktionale Fassade einge-führt hat. Eine Auseinandersetzung mit dem viel-schichtigen Loos-Œuvre findet hier noch nicht statt.Eher selektiv werden Loos’sche Vorstellungenübernommen zur Untermauerung eigener Überzeu-gungen, während das, was nicht in diese Vorstel-lungswelt passt, nicht wahrgenommen oder ausge-blendet wird. Es waren also nur einige wenige Ideen, die Loosinternationale Anerkennung eintrugen. Verständnisund Würdigung seines Gesamtwerkes blieben hin-gegen weitgehend aus.

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Material und Qualität

Für das architektonische Œuvre von Adolf Loossind die Wahl der Materialien und die hohe Qualitätder handwerklichen Verarbeitung von großer Be-deutung: »Ich habe den satz aufgestellt: Die formeines gegenstandes halte so lange, das heißt, siesei so lange erträglich, so lange der gegenstandphysisch hält.«27

Die Qualität der Verarbeitung und die Form müssenso gewählt sein, dass zum Beispiel ein Tisch die Le-bensdauer des Holzes hat, aus dem er gefertigt ist.Er dürfe in dieser Zeit nicht aus der Mode kommenund müsse den funktionalen Ansprüchen genügen.Bei der Verarbeitung der Materialien setzte Loossehr gute handwerkliche Qualität voraus. Es gehtalso um höchste Qualität und um die für den jewei-ligen Zweck am besten geeigneten Materialien. Dieweiter unten dokumentierten Arbeiten von Loos(Seite 105 ff.) lassen erkennen, dass die Wandver-kleidungen aus Marmor oder Holz rund hundertJahre nach ihrer Fertigung noch immer im Original-zustand erhalten sind und die Bewohner der Häu-ser mit ihnen leben. Dass für den Erhalt dieser Ma-terialien nur geringe Wartungsarbeiten notwendigwaren, belegt eindrucksvoll den ökonomischen Ge-danken, der sich hinter aller Schönheit und Funktio-nalität bei Loos verbirgt.»Man bedenke, daß edles material und gute arbeitfehlende ornamentik nicht etwa bloß aufwiegen,sondern daß sie ihr an köstlichkeit weit überlegensind. Ja, sie schließen die ornamentik aus, dennselbst der verkommenste mensch wird sich heutescheuen, eine edle holzfläche mit intarsien zu ver-zieren, das seltsame naturspiel einer marmortafelzu gravieren oder einen herrlichen silberfuchs inkleine quadrate zu zerschneiden, um damit einschachbrettmuster mit anderem pelzwerk zu-sammenzustückeln. […] Das edle material ist Gotteswunder.«28

Das mit Bedacht gewählte und richtig bearbeitetenatürliche Material mache also jede weitere Verzie-rung überflüssig, und nicht nur das – besser als jedesOrnament bringe es die vom Architekten ge-wünschte Wirkung allein durch die Beschaffenheitseiner Oberfläche hervor. Das kostbare natürlicheMaterial wecke die Bewunderung des Betrachters fürGottes Schöpfung und steigere damit die Gesamt-wirkung. Der Wegfall der Ornamentierung spare zu-dem viel Arbeitszeit und mache das Produkt weitweniger anfällig für modische Tendenzen.

»Der Engländer hat für eine bestimmte gelegenheitnur einen anzug, ein bett, ein bicycle. […] Verände-rungen an der form entspringen nicht der neue -rungssucht, sondern dem wunsche, das gute nochzu vervollkommnen. Nicht den neuen sessel gilt esunserer zeit zu geben, sondern den besten.«29

Loos spricht hier das Streben nach dem jeweilsqualitativ besten und geeignetsten Produkt an, einStreben, das immer Vorrang vor der Suche nachVielfalt und subjektiven formalen Einfällen habenmüsse. Ein rundum bequemer Sessel, in dem manrasch zur Ruhe kommen und sich entspannen kann,sei mehr wert als vier unbequeme Sessel. Triebfedersolle stets das Anliegen sein, ein Produkt den indi-viduellen Bedürfnissen anzupassen und es zu ver-bessern, niemals aber die reine Neuerungssucht,die allein auf das Formale ziele und nur zu unkon-trolliertem Konsum, nicht aber zur Befriedigung vonAnsprüchen führe. Erst wenn die Nachfrage vondem Wunsch nach Qualität und Verbesserung be-stimmt sei, werde sich das Angebot an diesen Vor-gaben ausrichten. Ein entscheidender Grund, wa-rum die Erziehung der Menschen in kulturellen Din-gen im deutschsprachigen Raum für Loos so be-deutend war.»Der künstler hat nur einen ehrgeiz: das material ineiner weise zu beherrschen, die seine arbeit vondem werte des rohmaterials unabhängig macht.Unsere baukünstler aber kennen diesen ehrgeiznicht. Für sie ist ein quadratmeter mauerfläche ausgranit wertvoller als einer aus mörtel. […] Fischervon Erlach brauchte keinen granit, um sich ver-ständlich zu machen. Aus lehm, kalk und sandschuf er werke, die uns so mächtig ergreifen wiedie besten bauwerke aus den schwer zu bearbei-tenden materialien.«30

In diesem Zitat klingt auch eine Begabung an, dieLoos’ architektonisches Werk bestimmt und aus-zeichnet: Je nach Budget, gesellschaftlicher Stel-lung und Charakter eines Auftraggebers kann erRäume von beeindruckender Wirkung durchausauch mit günstigen Materialien realisieren. Aller-dings macht er darauf aufmerksam, dass der Architektspezifische Eigenschaften eines Materials, welchesauch immer er verwendet, in Betracht ziehen undwissen müsse, dass jedes Material seine eigeneFormensprache habe und nur Wirkungen einer be-stimmten Art hervorbringen könne. Zuerst müssealso geklärt werden, welche Atmosphäre ein Raumausstrahlen und welche Wirkung er erzeugen solle,

erst dann können die Materialien ausgewählt, bear-beitet und oberflächenbehandelt werden. »Ein jedes material hat seine eigene formenspra-che, und keines kann die formen eines anderen ma-terials für sich in anspruch nehmen. Denn die for-men haben sich aus der verwendbarkeit und her-stellungsweise eines jeden materials gebildet, siesind mit dem material und durch das material ge-worden.«31

In der Materialimitation erkennt Loos eines der gro-ßen Übel seiner Zeit. Man versuche, besonderskostbare Materialien zu imitieren, indem man einenErsatzstoff verwendet. Mit dem Ersatzmaterial lassesich aber kein Raum erschaffen, der eine Wirkungausstrahlt: die menschliche Seele lasse sich nichttäuschen, sie erkenne den Betrug. Ehrfurcht undBewunderung, wie sie nur das echte Material we-cken könne, wollen sich nicht einstellen. Loos führtin diesem Zusammenhang Nietzsches Parvenu an,um einen Menschen zu kennzeichnen, der sich mitImitationen und Surrogaten umgibt, um mehr zuscheinen als er ist (Friedrich Nietzsche: Philosophiedes Parvenu – Will man einmal eine Person sein, somuss man auch seine Schatten in Ehren halten. In:Menschlich allzu Menschliches II, 1879). Ein sol-cher Mensch könne niemals Träger unserer Kultursein: »[...] diejenigen, die er betrügen will, diejenigen de-ren mittel es erlauben würden, sich mit diamanten,pelzwerk und steinfassaden zu umgeben, könnennicht getäuscht werden. Die finden solche anstren-gungen komisch. Und für die unterstehenden sind siewieder unnötig, wenn er sich seiner überlegenheit so-wieso bewußt ist.«32

In dem Essay »Die Baumaterialien« erklärt Loos dar-über hinaus, dass der Wert eines Objekts sich letzt-lich nicht quantitativ, also nicht durch die Arbeitszeitbestimme, die zu seiner Herstellung erforderlichwar, sondern durch die Qualität der Materialbearbei-tung. Loos ist sich darüber im Klaren, dass Zeit inunserem System eine leicht zu messende, folglichleicht zu bewertende Größe (Einheit) ist, die in denKaufpreis eines Materials eingeht. Die Qualität derBearbeitung des Materials sei dagegen nicht objektivmessbar. Zu ihrer Beurteilung bedürfe es speziellerKenntnisse oder Erfahrungen. Späteren Generatio-nen gehe es allerdings nur noch um den qualitativenAspekt, also um die Qualität der Materialbearbei-tung, die für den langfristigen Wert eines Gegen-standes oder einer Einrichtung bestimmend sei.

Wie erwähnt, untermauert Loos seine ablehnendeHaltung gegenüber dem Historismus und der Se-zession nicht allein mit künstlerischen und kulturel-len, sondern auch mit ökonomischen Argumenten,um zu zeigen, dass seine Ideen und seine Sicht derDinge unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunktenzwingend seien. Er hebt sein Anliegen also über dieEbene der kunst- und kulturpolitischen Debatte hin-aus und macht es zu einer Frage des kulturellenund wirtschaftlichen Überlebens. Dazu einige Zitate:»Das ornament, das nicht organisch der mensch-lichen seele entspringt wie beim alten meister oderbeim neuen orientalen, ist wertlos. Wertlos, verlorenearbeit, verschwendetes material. Und diese wertlo-sigkeit steigert sich von tag zu tag. […] Man täu-sche sich nicht: auch den gegenständen, die nach derheutigen unkultivierten, daher unzeitgemäßen, alsounmodernen richtung erzeugt werden, blüht in eini-gen jahren dasselbe schicksal.«33

»Aber es ist ein verbrechen an der volkswirtschaft,daß dadurch menschliche arbeit, geld und material zu-grunde gerichtet werden. Diesen schaden kann diezeit nicht ausgleichen.«34

»Der wechsel der ornamente hat eine frühzeitigeentwertung des arbeitsproduktes zur folge. Die zeitdes arbeiters, das verwertete material sind kapitalien,die verschwendet werden.«35

»Wenn zwei menschen nebeneinander wohnen,die bei gleichen bedürfnissen, bei denselben an-sprüchen an das leben und demselben einkommenverschiedenen kulturen angehören, kann man,volkswirtschaftlich betrachtet, folgenden vorgangwahrnehmen: der mann des zwanzigsten jahrhun-derts wird immer reicher, der mann des achtzehntenjahrhunderts immer ärmer. […] Der mann deszwanzigsten jahrhunderts kann seine bedürfnissemit einem viel geringeren kapital decken und daherersparnisse machen. […] Ornamentierte teller sindsehr teuer, während das weiße geschirr, aus demes dem modernen menschen schmeckt, billig ist.Der eine macht ersparnisse, der andere schulden.So ist es mit ganzen nationen. Wehe, wenn ein volkin der kulturellen entwicklung zurückbleibt. DieEngländer werden reicher und wir ärmer ...«.36

Mode und Bekleidung

In zwei verschiedenen Zusammenhängen beschäf-tigt sich Loos mit Mode und Bekleidung: zum einenmit der menschlichen Kleidung, insbesondere derHerrenkleidung, und ihrer kulturellen Bedeutung;

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zum anderen mit dem, was er in seinem Essay»das Prinzip der Bekleidung« nennt. Diese Vorstel-lung von der Bekleidung in der Architektur, vonGottfried Semper Mitte des 19. Jahrhunderts ent-wickelt, bezieht sich auf die Bedeutung der textilenKunst für die Architektur. Hier sei zunächst das Thema Herrenmode aufgegriffen, sowie der Zu-sammenhang, den Loos zur Architektur herstellt.

Kleidung und Architektur

Loos hat sich sehr eingehend mit Bekleidung undMode befasst, für ihn ein sehr persönliches Thema. Erselbst trug ausschließlich Maßkleidung, im klassi-schen englischen Schnitt, von den besten Schnei-dern, Schuhmachern und Hutmachern gefertigt; auf-grund dessen und aufgrund seiner guten Manierengalt er als Gentleman. Loos kannte die besten Her-renschneider von Wien als Kunde: Ebenstein, C.M.Frank, Goldman & Salatsch, Kniže, Mandl; alle botenso gut wie ausschließlich englische Schnitte undModelle an, und alle – so Loos – betrachteten die Er-nennung zum k Hoflieferanten als eine hohe Aus-zeichnung. Die Inhaber der Maßschneidereien Eben-stein, Goldman & Salatsch, Kniže und Mandl wurdendann auch zu Loos’ Kunden, sie ließen ihre Ge-schäftsräume und Werkstätten wie auch ihre Privat-wohnungen von ihm einrichten. Zu den Loos’schen Es-says zum Thema Kleidung gehören: »Die Herrenmo-de«, »Die Herrenhüte«, »Die Fußbekleidung«, »Da-menmode« oder »Die englische Uniform«.Am Beispiel der englischen Herrenmode erklärtLoos, dass »modern« kein zeitlicher, sondern einQualitätsbegriff sei: »Modern gekleidet ist man nur dann, wenn man immittelpunkte der kultur bei einer bestimmten gele-genheit in der besten gesellschaft nicht auffällt.«37

Mit dieser Definition stellt Loos eine Verbindungzwischen den Themen Kleidung und Architekturher: Die Architektur im klassischen Sinne wie imLoos’schen Verständnis erhebe den Anspruch aufDauerhaftigkeit und kulturelle Integrität; sie könneweder modisch und auffallend sein noch einfachnur den Zeitgeschmack bedienen.Bis 1910, also in all den Jahren, in denen Loos sichvornehmlich mit der Einrichtung von Geschäftsräu-men und Wohnungen befasste, betrachtete er sichals Ausstatter oder Outfitter, er wollte nicht als Ar-chitekt bezeichnet werden. Auch Goldman & Sa-latsch bezeichneten sich in Werbeanzeigen als »Tai-lors & Outfitters«; sie führten neben der Maß-

schneiderei auch einen Handel mit Erzeugnissenund Accessoires der feinen Herrenmode aus Eng-land, die sie in ihrem Geschäft zu individuellen Gar-deroben zusammen stellten. Ganz ähnlich ging Loosbei seinen Wohnungseinrichtungen vor: »Und wenn er eine wohnung einrichtet, versichert er:Es ist immer dasselbe. Wie ein frack nicht anders aus-sehen kann. Das futter natürlich wird anders seinund die taschen nach bedarf variiert, aber frack istfrack. Das ist meine kredenz, das ist mein schreib-tisch. Und doch sieht jedes zimmer ganz andersaus. Die mannigfaltigkeit ist unendlich.«38

Tatsächlich arbeitete Loos mit einer begrenzten An-zahl von Wandmaterialien und Einzelmöbeln ausverschiedenen Stilepochen, die seinen Ansprüchengenügten. Unter diesen traf er von Fall zu Fall seineWahl und stellte die Stücke zu einer genau auf die Be-dürfnisse und Präferenzen des Kunden abgestimm-ten Ausstattung zusammen. Der Stil des englischen Gentleman bedeutete fürLoos in erster Linie, korrekt und gebrauchstauglichgekleidet zu sein; dies seien die Voraussetzungendafür, dass man sagen könne, ein Gentleman seischön gekleidet. Der Begriff Gentleman war für ihnnicht auf eine bestimmte Klasse oder sozialeSchicht begrenzt. Er konnte einen Aristokraten wieeinen Bürger oder Künstler bezeichnen; der Gentle-man definiere sich über sein Benehmen und seinkorrektes Auftreten in der Öffentlichkeit und nichtin erster Linie über seine soziale Herkunft. Insoweithabe die Bekleidung zumindest nach außen hin einenSieg über das Gesellschaftssystem der Stände zurZeit der Monarchie errungen; nicht mehr nur dieGeburt sei ausschlaggebend für die gesellschaft -liche Stellung, sondern Erziehung und persönlichesVerhalten seien von Bedeutung.Loos überträgt diese Überlegung in seine Vorstel-lung von Architektur: Das Haus müsse allen gefallen,und seine Fassade schütze die private gegenüberder öffentlichen Sphäre: »Wer heute im samtrockherumläuft, ist kein künstler, sondern ein hans-wurst oder ein anstreicher. Wir sind feiner, subtiler ge-worden. Die herdenmenschen mußten sich durchverschiedene farben unterscheiden, der modernemensch braucht sein kleid als maske. So ungeheu-er stark ist seine individualität, daß sie sich nicht inkleidungsstücken ausdrücken läßt.«39

Und mit Bezug auf die Architektur: »Das haus sei nach außen verschwiegen, im innerenoffenbare es seinen ganzen reichtum.«40

Loos, der sich immer für den Gedanken der Eman-zipation einsetzte, sah die Zukunft der Frauen in derwirtschaftlichen Unabhängigkeit, die sie in ihrenEntscheidungen freier machen und sie nicht längerzwingen würde, sich den Männern aus schiererNotwendigkeit zu unterwerfen. Die Emanzipationder Frau würde im Übrigen die weibliche Beklei-dung der männlichen annähern, auch wenn Frauenweiterhin mit ihrer Sinnlichkeit und mit dem Orna-ment spielen würden. Der Schmuck werde alsoniemals aus der Welt verschwinden, aber Frauenwürden nicht mehr so ausschließlich auf ihn ange-wiesen sein. »Das edle am weibe kennt nur die eine sehnsucht,sich neben dem großen, starken manne zu behaup-ten. Diese sehnsucht kann gegenwärtig nur in er-füllung gehen, wenn das weib die liebe des man-nes erringt. Die liebe macht ihr den mann untertan.[…] Das nackte weib aber ist für den mann reizlos.Es kann wohl die liebe des mannes entflammen,nicht aber erhalten. […] Die begierde und denwunsch des mannes zu erregen, ist des weibeshoffnung. Der mann kann das weib durch die stel-lung, die er sich in der menschlichen gesellschafterrungen hat, beherrschen. […] das Weib ist dahergezwungen, durch seine kleidung an die sinnlich-keit des mannes zu appellieren. […] Aber wir geheneiner neuen, größeren zeit entgegen. Nicht mehrdie durch den appell an die sinnlichkeit, sondern diedurch arbeit erworbene wirtschaftliche unabhängig-keit der frau wird eine gleichstellung mit dem man-ne hervorrufen. Wert oder unwert der frau werdennicht im wechsel der sinnlichkeit fallen oder stei-gen. Dann wird die wirkung von samt und seide,blumen und bändern, federn und farben versagen. Siewerden verschwinden.«41

Das Prinzip der Bekleidung in der Architektur

Die Überlegungen zum architektonischen Prinzipder Bekleidung gehen auf Gottfried Semper (1803 bis1879) zurück, der sie in »Der Stil in den technischenund tektonischen Künsten« (erschienen in zweiBänden 1860–1863) ausgearbeitet vorlegte. Dervon Loos sehr geschätzte Architekt und Architek-turtheoretiker Semper hatte als junger Mann im Zu-ge seiner Studien der Antike und seiner Mitarbeitbei archäologischen Ausgrabungen die Polychro-mie der griechischen und römischen Tempelbautennachgewiesen. Er lehrte und baute zunächst inDresden, wo Loos während eines Studienaufent-

haltes seine Architektur kennenlernte. Semper hat-te wegen seiner Beteiligung an der 1848er Revolu-tion aus Dresden fliehen müssen und war nachZwischenstationen in London und Zürich schließ-lich nach Wien gelangt, wo ihm die Planung desKaiserforums angetragen wurde. In »Der Stil in den technischen und tektonischenKünsten« fasst Semper die Erfahrungen und Kennt-nisse, die er bis dahin gesammelt hat, zusammen.Das Werk fand große Verbreitung. Otto Wagnernahm es zum Ausgangspunkt seiner Überlegungenin »Moderne Architektur« (= in 4. Auflage »Die Bau-kunst unserer Zeit«); er stimmte zwar nicht in allenPunkten mit Semper überein, aber dessen Einflussist doch deutlich zu erkennen. Loos hingegen wardem Original stark verbunden; er übernahm die eineoder andere Sempersche Ansicht unmittelbar inseine Essays, wenn auch in der Argumentation gekürzt und in dem für ihn typischen polemischenTon.42

Semper teilt die Baukunst in »Bauteile« auf und kategorisiert dabei nach Wertigkeit:1) textile Kunst (entsprechend der Wand)2) keramische Kunst (entsprechend dem Herd)3) Tektonik (Zimmerei) (entsprechend dem Dach)4) Stereotomie (Mauerei etc.) (entsprechend derStütze)In einer späteren Ausgabe fügte Semper hinzu:5) Metallotechnik (vereinigt alle vier vorangehendenKlassen)Hierzu Gottfried Semper: »Wohl am mächtigstenhaben diejenigen Lehren auf unsere Kunstzuständeeingewirkt, welche Anweisung geben, den Stoff zubaulichen und struktiven Zwecken zu bewältigen.Sie entsprechen der allgemeinen praktischen Rich-tung unserer Zeit und werden unterstützt und ge-tragen durch die großartigen Bauunternehmungen,die besonders das Eisenbahnwesen veranlaßte. Sietrifft im allgemeinen der Vorwurf, die Idee zu sehr anden Stoff geschmiedet zu haben durch die Annahmedes unrichtigen Grundsatzes, es sei die architekto-nische Formenwelt ausschließlich aus stofflichenkonstruktiven Bedingungen hervorgegangen undließe sich nur aus diesen weiter entwickeln; dadoch vielmehr der Stoff der Idee dienstbar, und kei-neswegs für das sinnliche Hervortreten der letzterenin der Erscheinungswelt alleinig maßgebend ist.Die Form, die zur Erscheinung gewordene Idee,darf dem Stoffe, aus dem sie gemacht ist, nichtwidersprechen.«43

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»Das Prinzip der Bekleidung hat auf den Stil derBaukunst und der anderen Künste zu allen Zeitengroßen Einfluß geübt.«44

»Mögen klimatische Einflüsse und andere Verhält-nisse hinreichen diese kulturgeschichtliche Erschei-nung zu erklären und mag aus ihr nicht unbedingthervorgehen daß dies der normale überall gültigeGang der Civilisation sei, immer bleibt gewiss, daßdie Anfänge des Bauens mit den Anfängen des Tex-tilen zusammenfallen.«45

Semper widerspricht dem nicht zuletzt später auchvon Otto Wagner vertretenen Gedanken, dass dieArchitektur sich aus den konstruktiven Möglichkeitenentwickle. Für Semper wie für Loos lautet die Aus-gangsfrage, welches Gefühl, welche Atmosphäre,welche Wirkung von Fall zu Fall hervorgerufen wer-den solle; erst danach stellt sich die Frage nach derUmsetzung. Mit anderen Worten: An die Konstruk-tion denkt der Architekt erst in einem zweitenSchritt oder, um Loos zu zitieren: »Die erforderliche festigkeit, die notwendige kon-struktion verlangen oft materialien, die mit dem ei-gentlichen zwecke des gebäudes nicht im einklangstehen. Der architekt hat etwa die aufgabe, einenwarmen wohnlichen raum herzustellen. Warm undwohnlich sind teppiche. Er beschließt daher, einenteppich auf dem fußboden auszubreiten und vierteppiche aufzuhängen, welche die vier wände bil-den sollen. Aber aus teppichen kann man kein hausbauen. Sowohl der fußteppich wie der wandtep-pich erfordern ein konstruktives gerüst, das sie inder richtigen lage erhält. Dieses gerüst zu erfinden,ist die zweite aufgabe des architekten. Das ist derrichtige, logische weg, der in der baukunst einge-schlagen werden soll. So, in dieser reihenfolge, hatdie menschheit auch bauen gelernt. Im anfangewar die bekleidung. Der mensch suchte schutz vorden unbilden des wetters, schutz und wärme wäh-rend des schlafes. Er suchte sich zu bedecken. Diedecke ist das älteste architekturdetail.«46

Stimmungen und Wirkung

»Der künstler aber, der architekt, fühlt zuerst diewirkung, die er hervorzubringen gedenkt, und siehtdann mit seinem geistigen auge die räume, die erschaffen will.«47

Damit kommen wir zu einem Thema, das im ge-bauten Werk von Loos von größter Bedeutung ist.Loos möchte Stimmungen erzeugen und Gefühle

wecken, und sein architektonisches Werk zeigt,dass er dieses Anliegen konsequent verwirklicht.Es geht in keinem Fall um Provokation, sondern da-rum, die vorgesehene Nutzung des jeweiligen Rau-mes zu charakterisieren und zu unterstreichen. »Die architektur erweckt stimmungen im men-schen. Die aufgabe des architekten ist es daher,diese stimmung zu präzisieren. Das zimmer mussgemütlich, das haus wohnlich aussehen. Das justiz-gebäude muss dem heimlichen laster wie eine dro-hende gebärde erscheinen. Das bankhaus muss sa-gen: hier ist dein geld bei ehrlichen leuten fest undgut verwahrt.«48

In dieser Klarheit hätte man diese Aussage vonLoos nicht erwartet, der doch in seinem Essay »Or-nament und Verbrechen« (1908) die Abkehr vomOrnament gepredigt hatte. Allerdings wollte er damitlediglich der sinnlosen Dekoration von Gebrauchs-gegenständen und Baukörpern in einer Epoche Ein-halt gebieten, in der Historismus und Jugendstil alszugleich kritiklose Bewahrer und Neuerer dazu ten-dierten, alles mit Ornamenten zu bedecken. SeinAppell war grell und laut, denn Loos wollte, dass ergehört wurde, was auch geschah – das Ornamentwie auch Verkleidungen und Farben verschwandenteilweise rascher und nachhaltiger als Loos selbstes erwartet hatte. Die nackte, kahle Fläche derfunktionalistischen, puristischen weißen Modernewurde zum Symbol einer neuen Zeit. Maschinenäs-thetik und Industriezeitalter wurden zu verbreitetenSchlagworten. 1924 sah Loos sich zu einer Klarstel-lung gezwungen, weil man seine Ideen von 1908»ad absurdum getrieben« habe: Die Dinge hattensich anders entwickelt als Loos es gewollt und an-gestrebt hatte – aber mittlerweile war es zu spät. In»Ornament und Erziehung«, 1924, legt Loos seinePosition im Zusammenhang mit seinem gebautenWerk und mit seinen Absichten dar:»Ornamentlosigkeit ist nicht reizlosigkeit, sondernwirkt als neuer reiz, belebt. Die mühle, die nichtklappert, weckt den müller.«49

»Vor sechsundzwanzig jahren habe ich behauptet,daß mit der entwicklung der menschheit das orna-ment am gebrauchsgegenstande verschwin de, eineentwicklung, die unaufhörlich und konsequent fort-schreitet und so natürlich ist wie der vokalschwundin den endsilben der umgangssprache. Ich habeaber damit niemals gemeint, was die puristen ad ab-surdum getrieben haben, daß das ornament syste-matisch und konsequent abzuschaffen sei.«50

Hinter der abstrakten und nüchternen Fassaden-gestaltung, für die Loos sich bei der Mehrzahl seinereigenen Bauten entschied, stand nicht derWunsch, etwas ganz Neues oder Provokantes zubauen. Das stünde auch nicht im Einklang mit seinenSchriften. Was ihn antrieb, war zum einen der me-diterrane Ursprung der zentraleuropäischen Kultur,das, was die Römer über die Alpen gebracht hat-ten, und zum anderen die Idee der Fassade alsMaske, die wie der korrekte englische Anzug die In-timität der Bewohner schützen soll, also die Idee ei-ner Schutzschicht zwischen der privaten und der öf-fentlichen Sphäre; dies wurde noch unterstütztdurch eine teilweise intensive Begrünung der Fas-saden mit Wildem Wein. »Wir haben soviel italienische luft über die alpenherübergeweht bekommen, daß wir wie unsere vä-ter in einem stile bauen sollten, der gegen dieaußenwelt abschließt. Das haus sei nach außenverschwiegen, im inneren offenbare es seinen gan-zen reichtum.«51

Blicke und Aufmerksamkeit bleiben auf das Inneredes Hauses oder der Wohnung gerichtet. DenAußenraum blendet Loos durch die geschickten Inszenierungen im Inneren aus. Das Fenster dientnur als Lichtquelle zur Inszenierung des Lichts imRaum; dazu ein Zitat von Le Corbusier: »Loos m’affirmait un jour: ›Un homme cultivé ne regardepas par la fenêtre. La fenêtre est en verre dépoli:n’est là que pour donner de la lumière, non pourlaisser passer le regard.‹« (»Loos versicherte mir ei-nes Tages: ›ein Kulturmensch sieht nicht mehr zumFenster hinaus; sein Fenster besteht aus Mattglas;es ist da, um Licht zu spenden, nicht um den Blickschweifen zu lassen.‹«)52

Darauf wird in den Kapiteln, die dem architektoni-schen Werk von Loos gewidmet sind, noch einmalzurückzukommen sein.

Das Handwerk

»Diese wettbewerbe sind nicht für künstler. Siesind nur für den fabrikanten und für den handwerker.Vom arbeitenden, schaffenden menschen allein er-warte ich eine gesundung der gewerblichen ver-hältnisse, eine hebung der kultur und des ge-schmacks.«53

Loos war fest von der Genesung des Handwerkesüberzeugt, wenn es denn erst von den »angewand-ten Künstlern« und den Architekten befreit sei, die

den Handwerkern mit ihren Zeichnungen die Vorga-ben zu ihren Arbeiten lieferten. Loos selbst gingden entgegengesetzten Weg, er fertigte keineZeichnungen an, sondern ging in die Werkstättender Handwerker oder traf sich mit ihnen auf derBaustelle, um alles zu besprechen und zu einerÜbereinkunft zu gelangen. Seiner Ansicht nach ver-fügen Handwerker über ein natürliches Wissen,was die Bearbeitung von Materialien angeht, einWissen, das sie über Jahrhunderte weitergegebe-ner Erfahrung verdanken. Dieses tradierte Wissensowie die gute Kenntnis von den Materialien undihrer Verwendung waren das, was Loos mit Blickauf Wirkung und Dauerhaftigkeit seiner eigenen Ar-beiten interessierte. Der »unverdorbene«, seinerselbst sichere Handwerker werde immer den ge-eigneten, zweckdienlichen und praktischen, Ge-brauchsgegenstand herzustellen wissen; damitsind die Arbeiten des unverdorbenen Handwerkersper Definition von Loos immer »modern«.Der Gegensatz, die Kontrastfigur zum »schaffen-den« Handwerker ist für Loos der »denkende« Ent-werfer, der vor seinem geistigen Auge eine Formentstehen lasse und sie anschließend zu Papierbringe; sein Produkt sei die schöne Zeichnung,nicht der qualitätvolle, langlebige und seinem Ge-brauch entsprechende Gegenstand.Schon vor Loos hatte es Bewegungen im Sinne einerRückkehr zum handwerklichen Schaffensprozessgegeben. William Morris (1834–1896) setzte dieIdeen der Arts-and-Crafts-Bewegung, die um 1860in England entstanden war, in die Praxis um. Erwandte sich wieder der Herstellung einfacher, funk-tionaler, handgearbeiteter Möbel von mittelalter-licher Anmutung zu, um die Erzeugnisse der ma-schinellen Produktion zurückzudrängen. Allerdingssah Morris sich als Künstler, und seiner Ansichtnach können Künstler zu Handwerkern und Hand-werker zu Künstlern werden. In der Folge entstan-den Arts-and-Crafts-Schulen, in denen kunsthand-werkliche Kenntnisse vermittelt wurden. Der Stilseiner Erzeugnisse, die Morris über eine eigene Fir-ma vertrieb und auch von anderen Künstlern ent-werfen ließ, wurde zunehmend dekorativer, so dassschließlich einige seiner Schüler dem Jugendstil alsVorbilder dienten und Bewegungen wie die der Wie-ner Werkstätte entstanden, die sich auf Morris unddas englische Kunsthandwerk beriefen. Loos gingdaher deutlich auf Distanz zu Morris. Über JohnRuskin, den Theoretiker der Arts-and-Crafts-Bewe-

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gung, äußert er sich: »Die aristokraten achteten ein-zig auf das material und die genaue vollkommenearbeit. Es war dies ein schwerer prozeß bei mir. Wa-rum? Weil man es für eine schmach hielt zu sagen,daß es das richtige ist. Übrigens hat dies alles Ruskinam gewissen. Ich bin sein geschworener feind!«54

Vor dem Hintergrund der Situation im Wien der Zeitum 1900 führte Loos seinen Kampf gegen die aka-demischen Künstler und nicht gegen die Industrie;später machte er sich über die Absicht des Werk-bundes lustig, auf dem Weg über die Künstler Ein-fluss auf die Industrie zu nehmen – seiner Ansichtnach der falsche Weg. Ein direkter Angriff auf dieIndustrie ist in seinen Schriften nicht zu finden. Das Kunsthandwerk verschwand rasch wieder, wieihm dies von Loos vorausgesagt worden war. Aberdas Handwerk konnte den Rang, der ihm in den Au-gen von Loos zukam, nicht wieder erlangen, denn in-zwischen war die Industrie so weit, dass sie bei ge-ringem Einsatz menschlicher Arbeitskraft prakti-sche, funktionale und preiswerte Massenartikelherstellen und anbieten konnte. Da es um den Absatzgroßer Stückzahlen ging, war die Industrie an derHerstellung hochwertiger und langlebiger Produkteweniger interessiert. So gesehen waren die Hoff-nungen, die Loos in das Handwerk und die Aufklä-rung der Konsumenten setzte, durchaus berechtigt.Dabei war Loos sich über den Aufstieg der Indus triesehr wohl im Klaren. In einem seiner letzten Artikel,verfasst 1929 aus Anlass des Todes seines Schrei-ners Josef Veillich, der ihm immer wieder Kopienvon Chippendale-Stühlen (laut Loos die bequems -ten und am besten geeigneten Esszimmerstühle)angefertigt hatte, schreibt er: »Da die sesseltischler ausstarben, ist der sessel,der holzsessel, auch gestorben. So sterben die din-ge. Würde der sessel gebraucht, gäbe es einenwürdigen nachwuchs. Die nachfolge des holzses-sels wird der Thonetsessel antreten, den ich schonvor einunddreißig jahren als den einzigen modernensessel bezeichnet habe. Jeanneret (Le Corbusier)hat das auch eingesehen und in seinen bauten pro-pagiert, allerdings leider ein falsches modell.«55

Schönheit

»Unter schönheit verstehen wir die höchste voll-kommenheit. Vollständig ausgeschlossen ist daher,daß etwas unpraktisches schön sein kann.Die erste grundbedingung für einen gegenstand,der auf das prädikat ›schön‹ anspruch erheben will,

ist, daß er gegen die zweckmäßigkeit nicht ver-stößt. Der praktische gegenstand allein ist nochnicht schön. Dazu gehört mehr. Die alten Cinque-cento-leute haben sich wohl am präzisesten ausge-drückt. Sie sagten: Ein gegenstand, der so vollkom-men ist, daß man ihm, ohne ihn zu benachteiligen,weder etwas wegnehmen noch zugeben darf, istschön. Das wäre die vollkommenste, abgeschlos-senste harmonie.«56

Die Schönheit eines Gebrauchsgegenstandes erge-be sich aus seiner Zweckmäßigkeit und daraus,dass alle seine Funktionen im Blick auf die vorgese-hene Nutzung entwickelt werden. Der Gebrauchs-gegenstand sei vollkommen, wenn alle seine Teileund Funktionen in einem Ganzen aufgehen, ent-sprechend dem antiken Prinzip »pars pro toto«. In»Glas und Ton« zitiert Loos ein Beispiel, das schonSemper in »Der Stil in den technischen und tektoni-schen Künsten« verwendet. Semper spricht davon,dass die Form des griechischen Wasserkruges aus-schließlich aus den praktischen Erfordernissen desWasserschöpfens, des Transports auf den Köpfender Frauen und der Aufbewahrung des Inhalts ent-standen sei. Loos zieht daraus den Schluss:»Der fuß, der rumpf, die henkel, die größe der mün-dung wurden nur von dem gebrauche diktiert? Jadann sind ja diese vasen am ende gar praktisch!Und wir haben sie immer für schön gehalten! Wie einem das nur passieren konnte! Denn so wurdestets gelehrt: Das praktische schließt die schönheitaus. […]Die Griechen verstanden auch etwas von schön-heit, und die arbeiteten nur praktisch, ohne auchnur im geringsten an die schönheit zu denken, ohneeinem ästhetischen bedürfnis nachkommen zuwollen. Und wenn dann ein gegenstand so prak-tisch war, daß er nicht mehr praktischer gemachtwerden konnte, dann nannten sie ihn schön. […]Gibt es heute noch leute, die so wie die Griechen ar-beiten? O ja. Es sind die Engländer als volk, die in-genieure als stand. […] Diese griechischen vasensind schön, so schön wie eine maschine, so schönwie ein bicycle.«57

Menschenbild, Ethos

Loos wollte die Menschen vor den revolutionärenIdeen der Modernen wie auch vor dem erstarrtenFormalismus der Bewahrer einer nicht wiederzube-lebenden Vergangenheit schützen.

Wie wir an seinen Bauten, Raumgestaltungen undRaumausstattungen noch sehen werden, lässt sichLoos auf den individuellen Charakter seiner Auftrag-geber ein. Nur so erklärt es sich, dass alle eine le-benslange Freundschaft zu ihm aufrecht hielten;seine Auftraggeber blieben ihm verbunden und wa-ren dankbar für das, was er speziell für sie geschaf-fen hatte. Seine Schriften und Vorträge richten sich an Indivi-duen, die er durch Belehrung und Anregung dazubringen wollte, sich vom Diktat der Mode und derKünstler zu befreien, sich ein eigenes Urteil überdie Qualität der Alltagsgegenstände zu bilden undeigenständige, bewusste Entscheidungen zu tref-fen. Das ist die Freiheit, zu der Loos den Menschenmit seinem Engagement verhelfen wollte, ob essich nun um Aristokraten, Bürger oder Arbeiter han-delte. Sie alle sollten über ihr Lebensumfeld unddessen Gestaltung selbst bestimmen können: »Ich will versuchen, euch mut zu euren eigenen ge-schmacklosigkeiten zu machen; wer fechten lernenwill, muß selbst das rapier in die hand nehmen.«58

Loos wollte als Lehrer für alle etwas tun, er setztesich für alle ein und war ständig auf der Suche nachAnfragen, die er öffentlich beantworten könnte. »Alle kinder haben gleich erzogen zu werden. Vorallem darf es keinen unterschied zwischen stadtund land geben.«59

Auch das war eine seiner zentralen Vorstellungen –die Beseitigung der sozialen und kulturellen Unter-schiede. Den jungen Loos hatte es sehr beein-druckt, wie gering das kulturelle Gefälle zwischender städtischen und der ländlichen Bevölkerung inAmerika war, verglichen mit der Situation in Öster-reich, wo die verschiedenen Bevölkerungsschich-ten seiner Ansicht nach noch immer in verschiede-nen Jahrhunderten lebten. Die Suche nach dem Ab-soluten war nicht seine Sache, denn alles Alltäglicheund Gegenwärtige sei einem natürlichen Prozessder Entwicklung und Veränderung unterworfen, je-doch fühlte er sich in seinem Handeln und in seinerArbeit immer der Suche nach Wahrheit verpflichtet.Loos glaubte an das Individuum und dessen innere

Einstellung; wie sein Freund Karl Kraus war er Ethi-ker. Wichtig waren ihm Respekt und Verantwor-tungsgefühl gegenüber dem Einzelnen wie gegen -über der Gemeinschaft, nicht aber gesellschaftlicheKonventionen, die, moralisch verschleiert, den Blickauf die Realitäten verstellten. Loos befasste sich also mit seiner Gegenwart undwar überzeugt, dass seine Vorstellungen sich in derZukunft durchsetzen würden, wobei seine Erkennt-nisse ihn gewisse Entwicklungen voraussehen lie-ßen. Allerdings wollte er keineswegs eine Utopiedes modernen Lebens verkünden. Im Gegensatz zuanderen Vertretern der Moderne hielt er auf Tradi-tion, da er in allen Dingen, von der Architektur bis zumGebrauchsgegenstand, einen evolutionären Pro-zess erkannte – die Wurzeln unserer Kultur lagenfür ihn in der Tradition.Loos hatte ein positives Menschenbild. Sein Lebenlang galt sein Streben der Erziehung der Menschenzu höherer Kultur, die es ihnen ermöglichen würde,sich aus ihrer Unmündigkeit zu befreien. Er kämpf-te gegen die Bevormundung durch Staat, Interes-senverbände und »akademische Künstler«. Seinegrößten Verdienste sah er nicht so sehr auf künstle-rischem Gebiet als vielmehr in dem, was ihm fürdie Menschen und zum Wohl der Volkswirtschaftzu tun möglich war. Kurz vor seinem Tod fasste Loos im Vorwort zurErstausgabe (1931) von »Trotzdem« seine Tätigkeitzusammen: »Aus dreißigjährigem kampfe bin ich als sieger her-vorgegangen: ich habe die menschheit vom über-flüssigen ornament befreit. Ornament war einmaldas epitheton für ›schön‹. Heute ist es dank meinerlebensarbeit ein epitheton für ›minderwertig‹. Freilich,das echo, das zurücktönt, glaubt die stimme selbstzu sein. […] Ich weiß, die menschheit wird mireinst danken, wenn die ersparte zeit denen zugutekommt, die bisher von den gütern der welt ausge-schlossen waren.«60

Vorangestellt hat Loos diesem Fazit seines Lebens-werkes das Nietzsche-Zitat:»Das Entscheidende geschieht trotzdem.«

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1 Adolf Loos: Von der Sparsamkeit. In:Wohnungskultur, Heft 2/3, 1924. Auch in:Adolf Loos: Die Potemkinsche Stadt. GeorgPrachner: Wien 1983, S. 204 ff.2 Robert Scheu: Adolf Loos. In: PragerTagblatt, 25. 8. 1933. Auch in: Kontrover-sen. Adolf Loos im Spiegel der Zeitgenos-sen. Hg. v. Adolf Opel. Georg Prachner:Wien 1985, S. 188 ff. 3 Adolf Loos: Der neue Stil und die Bron-ze-Industrie. In: N.F.P., Wien, 29. 5. 1898.Auch in: Sämtliche Schriften. Ins Leeregesprochen. Herold: Wien-München1962, S. 26 ff.4 Vor 1918, dem Jahr, in dem der ErsteWeltkrieg wie auch die österreichisch-un-garische Monarchie endeten, war dieAristokratie in Österreich die führendeSchicht. Deshalb spricht Loos, dessenSchriften ja im Wesentlichen vor dieserZeit entstanden, von der Vorbildfunktionder Aristokratie für die Bevölkerung. 5 Adolf Loos, Von der Sparsamkeit.6 Adolf Loos: Vorwort zur Erstausgabevon »Ins Leere gesprochen«. Editions Georges Crès & Cie.: Zürich 1921. Auchin: Adolf Loos: Sämtliche Schriften. InsLeere gesprochen. Georg Prach ner: Wien1981, S. 19 ff.7 Adolf Loos: Architektur. In: SämtlicheSchriften. Ins Leere gesprochen, 1962,S. 302 ff.8 Adolf Loos: Interieurs der Rotunde. In:N.F.P., Wien, 12.6.1898. Auch in: SämtlicheSchriften. Ins Leere gesprochen, 1962,S. 40 ff.9 Adolf Loos: Antworten auf Fragen ausdem Publikum, 1909. In: Trotzdem. Auch in:Sämtliche Schriften. Trotzdem, 1962,S. 355 ff.10 Adolf Loos: Architektur.11 Adolf Loos: Wohnungswanderungen.1907.12 Adolf Loos: Ornament und Verbrechen.1908. Auch in: Sämtliche Schriften. Trotz-dem, 1962, S. 276 ff.13 Adolf Loos: Antworten auf Fragen ausdem Publikum.14 Adolf Loos: Architektur, 1909. Trotz-dem. Brenner-Verlag: Innsbruck 1931.Auch in: Sämtliche Schriften. Ins Leeregesprochen, 1962, S. 302 ff. 15 Friedrich Nietzsche: Menschliches, allzuMenschliches, II. 1879, Vorrede.16 Adolf Loos: Meine Bauschule. In: DerArchitekt, 29, 10, Wien, Oktober 1913.Auch in: Sämtliche Schriften. Trotzdem,1962, S. 322 ff.17 Adolf Loos, ebenda.18 Adolf Loos: Die Überflüssigen. 1908.Trotzdem. Auch in: Sämtliche Schriften.Trotzdem, 1962, S. 267 ff.19 Adolf Loos: Kulturentartung. 1908.Auch in: Sämtliche Schriften. Trotzdem,1962, S. 271 ff.20 Adolf Loos: Heimatkunst. 1914. Auchin: Sämtliche Schriften. Trotzdem, 1962,S. 331 ff. Das Holzzementdach ist ein flaches Dach, bestehend aus Lagen vonÖl- oder Packpapier, die mit Teer und

einer Holzschalung verklebt und mit Sandund Kies bedeckt wurden. 21 Adolf Loos: Der neue Stil und die Bron-ze-Industrie. 22 Adolf Loos: Eine Zuschrift. 1910. Trotz-dem. Auch in: Sämtliche Schriften. Trotz-dem, 1962, S. 300 ff.23 Walter Gropius: Adolf Loos zum60. Geburtstag. In: Frankfurter Zeitung,10. 12. 1930. Auch in: Kontroversen,1985, S. 162–163.24 Adolf Loos: Ornament und Erziehung.1924. Trotzdem. Auch in: Sämt licheSchriften. Trotzdem, 1962, S. 391 ff.25 Le Corbusier: Adolf Loos zum 60. Ge-burtstag. In: Frankfurter Zeitung, 10.12.1930. Auch in: Kontroversen, 1985, S. 163.26 Sigfried Giedion: Adolf Loos zum60. Geburtstag. In: Frankfurter Zeitung,10. 12.1930. Auch in: Kontroversen, 1985(Anm. 2), S. 163–164.27 Adolf Loos: Ornament und Verbrechen.1908. Auch in: Sämtliche Schriften. Trotz-dem, 1962, S. 284.28 Adolf Loos: Hands off. 1917. Trotzdem.Auch in: Sämtliche Schriften. Trotzdem,1962, S. 342 ff.29 Adolf Loos: Kunstgewerbliche Rund-schau. 1. Die Wage, 1898. Auch in: Sämt-liche Schriften. Ins Leere gesprochen,1962, S. 165 ff.30 Adolf Loos: Baumaterialien. In: N.F.P.,Wien, 28.8.1898. Auch in: SämtlicheSchrif ten. Ins Leere gesprochen, 1962,S. 99 ff.31 Adolf Loos: Prinzip der Bekleidung. In:N.F.P., Wien, 4. 9. 1898. Auch in: Sämtli-che Schriften. Ins Leere gesprochen,1962, S. 105 ff.32 Adolf Loos, Die Baumaterialien. In:N.F.P., Wien, 28.8.1898. Auch in: SämtlicheSchriften. Ins Leere gesprochen, 1962,S. 99 ff.33 Adolf Loos: Wohnungswanderungen,1907. Auch in: Die Potemkinsche Stadt.Georg-Prachner-Verlag: Wien 1983,S. 107 ff.34 Adolf Loos: Ornament und Verbrechen.1908. Auch in: Sämtliche Schriften. Trotz-dem, S. 276 ff.35 ebenda.36 ebenda.37 Adolf Loos: Die Kleidung. Das Andere.1903. Auch in: Sämtliche Schriften. DasAndere, 1962, S. 237 f. (dort gekürzt).38 Ludwig Hevesi in: Altkunst–Neukunst.Wien 1908.39 Adolf Loos: Ornament und Ver bre chen.1908. Trotzdem. Auch in: SämtlicheSchriften. Trotzdem, 1962, S. 276ff.40 Adolf Loos: Heimatkunst. 1914. Trotz-dem. Auch in: Sämtliche Schriften. Trotz-dem, 1962, S. 331 ff.41 Adolf Loos: Die Damenmode. 1902.Ins Leere gesprochen. Auch in: SämtlicheSchriften. Ins Leere gesprochen, 1962,S. 157 ff. 42 Friedrich Kurrent: Adolf Loos 1870-1933. Raumplan-Wohnungsbau. Berlin(Akademie der Künste) 1983, S. 92 ff.

43 Gottfried Semper: Der Stil in den tech-nischen und tektonischen Künsten. ErsterBand: Textile Kunst, Frankfurt 1860.Nachdruck Georg-Olms-Verlag: Hildes-heim 2008, S. XIV–XV.44 ebenda, S. 217.45 ebenda, S. 227.46 Adolf Loos: Das Prinzip der Beklei-dung. In: N.F.P., Wien, 4. 9. 1898. Auch in:Sämtliche Schriften. Ins Leere gespro-chen, 1962, S. 105 ff.47 ebenda, Zitat S. 106.48 Adolf Loos: Die Architektur. 1909.Trotzdem. Auch in: Sämtliche Schriften.Trotzdem, 1962, S. 302 ff.49 Adolf Loos: Ornament und Erziehung.1924. Trotzdem. Auch in: Sämt licheSchrif ten. Trotzdem, 1962, S. 391 ff.50 ebenda.51 Adolf Loos: Heimatkunst. 1914. Trotz-dem. Auch in: Sämtliche Schriften. Trotz-dem, 1962, S. 331 ff.52 Le Corbusier: Urbanisme (deutscheÜbersetzung nach Le Corbusier: Städte-bau. Übersetzt und herausgegeben vonHans Hildebrandt. Deutsche Verlags-An-stalt: Stuttgart 1929, 2. Aufl. 1979, S. 151,152)53 Adolf Loos: Das Andere. Unsere Kon-kurrenzen. 1903. Auch in: SämtlicheSchriften. Trotzdem, 1962, S. 242f.54 Adolf Loos: Von der Sparsamkeit. In:Wohnungskultur, Heft 2/3, 1924. Auch in:Die Potemkinsche Stadt, S. 204 ff.55 Adolf Loos: Josef Veillich. 1929. Auchin: Sämtliche Schriften, 1962, S. 436 ff.56 Adolf Loos: Das Sitzmöbel. In: N.F.P.,Wien, 19.6.1898. Auch in: SämtlicheSchriften, 1962, S. 48 ff.57 Adolf Loos: Glas und Ton. In: N.F.P.,Wien, 26.6.1898. Ins Leere gesprochen.Auch in: Sämtliche Schriften, 1962,S. 55 ff.58 Adolf Loos: Das Andere. 1903. AuchIn: Sämtliche Schriften, 1962, S. 215 ff.59 Adolf Loos: Ornament und Erziehung.1924. Trotzdem. Auch in: Sämt licheSchriften.60 Adolf Loos: Vorwort zur Erstausgabevon »Trotzdem«, 1931.

Die Kärntner Bar, 1908. Foto von Philippe Ruault, 2004

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In ihrem Werkverzeichnis nennen Rukschcio undSchachel in der Kategorie der Läden und Lokale 32ausgeführte Arbeiten. Das ist im Vergleich mit derGruppe der von Loos realisierten Wohnungen undHäuser eine deutlich geringere, aber dennoch be-achtliche Zahl, zumal wenn man bedenkt, dass eini-ge der bedeutendsten Arbeiten von Loos in ebendiese Kategorie der Läden und Lokale fallen: Hierkonnte er beweisen, wie meisterhaft er es verstand,Stimmungen und Sinneseindrücke mittels raffinier-ter psychologischer Effekte zu erzeugen. In diesemZusammenhang fällt auf, dass Loos in seinen Schrif-ten so gut wie nie auf Themen zu sprechen kommt,die speziell mit Läden und Lokalen zu tun haben, imGegensatz zum Thema Wohnen, das er ausführlichabhandelt. Dessen ungeachtet waren es gerade Ar-beiten aus der hier betrachteten Kategorie, mit der sei-ne Karriere ihren Anfang nahm: der SchneidersalonEbenstein von 1897, der, soviel wir heute wissen,überhaupt die erste Arbeit war, die der damals sie-benundzwanzigjährige Loos nach Rückkehr von sei-ner Amerikareise in Wien ausführte. Es folgten derHerrenmodesalon Goldman & Salatsch, 1898, undwiederum ein Jahr später das Café Museum, dasihm übrigens die ersten Rezensionen in den Tages-zeitungen eintrug, parallel zur Veröffentlichung sei-ner eigenen Essays in der Neuen Freien Presse.Während die Wohnungen, die Loos ausstattete,nur dem Kreis der Bekannten seiner Auftraggeberzugänglich waren, bot ihm das hier betrachtete Ar-beitsgebiet die Chance, öffentlich, allen WienerBürgern zugängliche Orte zu kreieren und auf dieseWeise das Interesse der Öffentlichkeit für seine Tä-tigkeit zu wecken. Die erste »Wohnungswande-rung«, dazu gedacht, einem interessierten Publi-kum die Wohnungen vorzuführen, an denen Loostätig geworden war, fand dagegen erst 1907 statt.Auf dem Feld der Lokale und Ladengeschäfte warendie Aufträge allerdings auf wenige Geschäftszweige

beschränkt, über die ich hier anhand von Beispielenkurz sprechen möchte.

Cafés: Café Museum, 1899

Das Café Museum befindet sich zwischen der da-mals soeben von Josef Maria Olbrich fertiggestellten»Secession«, der Oper, der Technischen Univer-sität, dem Theater an der Wien, der Akademie der bil-denden Künste, dem Künstlerhaus und dem Saaldes Musikvereins, also im Zentrum des künstleri-schen und kulturellen Spannungsfeldes jener Zeit. Loos ließ die Sockelzone des historistischen Wie-ner Eckgebäudes mit der schweren Quaderung imStil der italienischen Renaissance einfach glattweiß verputzen und baute große hochrechteckige,ungeteilte, transparente Glasscheiben mit Mahago-nirahmen in die bestehenden Öffnungen ein. Erübernahm damit den Rhythmus und die Proportionender Öffnungen der oberen Hausfassade und erhieltso die statische Funktion des Sockelgeschosses,aus Respekt vor dem Bestand und im Sinne einerökonomischen Lösung. An diesem Beispiel wirddeutlich, welche Überlegungen Loos anstellte, umeinerseits die vorhandene Struktur in ihrer Traditionund ihrer Logik zu respektieren und andererseits,auf der formalen Ebene, die bestehende Dekora-tion in Form der schweren Putzquader, eine Na-tursteinfassadenimitation italienischer Renaissan-cepaläste, zu demaskieren. Mit dieser gezielten De-maskierung des modischen Zeitgeschmacks provo-zierte Loos die etablierte Wiener Architektur. Die horizontale Trennlinie zwischen Sockelge-schoss und dem oberen Baukörper bildete er mitbeweglichen Markisen aus Segeltuch aus, die so-wohl den Innenraum als auch die Sitzplätze imFreien an der zum Karlsplatz hin orientierten Fassa-de beschatten können. Darunter ist mehrfach derSchriftzug »Café Museum« angebracht, der dasGebäude umzieht und aus großen vergoldeten Ein-

Läden und LokaleCafé Museum, Außenansicht, 1899(ALA 2494)

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zelbuchstaben in der von Loos bevorzugten Anti-qua-Schrift besteht.Die Wiener Kaffeehauskultur ist legendär: Die Ca-fés waren am Beginn des 20. Jahrhunderts öffent -liche Orte, an denen man sich traf, um sich zuunterhalten, Zeitungen zu lesen, an Stammtischenund anderen wiederkehrenden Begegnungen teil-zunehmen, zu spielen und kleine Speisen zu sich zunehmen.Loos berücksichtigte diese Vielfalt von Aktivitäten ineinem Café bei der Aufteilung der Innenräume; erschuf klar voneinander abgegrenzte separate Zo-nen, auf die bei der Rekonstruktion des Jahres 2003unglücklicherweise keine Rücksicht mehr genom-men wurde. Sein großer Innenraum bestand auszwei Flügeln, die ihrerseits in Zonen unterteilt wa-ren, die den Zugang zu wiederum anderen Räumengewährten. Wer das Café Museum von der Stra-ßenecke her betrat, sah vor sich zwei auseinander-strebende Raumarme von etwa gleicher Länge mit einer flach gewölbten Decke. Die Wände waren biszur Höhe der Bestuhlung mit Mahagoni verkleidet,darüber bis zum Ansatz der Decke mit einer vertikalbreit gestreiften, hellgrünen englischen Velourstape-te bespannt. Die Decke war elfenbeinfarbig gestri-chen und von Streifen aus poliertem Messing unter-teilt, hinter denen sich die Verkabelung der Beleuch-tung verbarg und von denen die Beleuchtung inForm von Glühbirnen an Kabeln abgehängt war.Der rechte Raumarm war möbliert mit runden undrechteckigen Marmortischen und leichten, rot ge-beizten Bugholzstühlen im Thonet-Stil. Dieser Be-reich war der Zeitungslektüre und dem Gesprächbei einem Kaffee oder einem kleinen Imbiss vorbe-halten. Den linken Flügel beherrschten drei Billard -tische, umgeben von kleineren runden Tischchen.Dieser Raumarm war dem Spiel gewidmet. Dahinter,abgetrennt durch einen Paravent, befand sich einRaum für das Karten- oder Brettspiel, der mit Spiel-tischchen und bequem gepolsterten Sesseln aus-gestattet war. Die Wände schmückte eine dunkle, ro-te englische Tapete, die die Helligkeit dämpfte. Die-ser Raum für die Spieler, die hier oft viele Stundenverbrachten und wohl überwiegend Stammgästewaren, wirkte somit wesentlich intimer.Vom rechten Raumarm führte eine Tür in das soge-nannte Gibson-Zimmer, das mit bequemen kleinenKorbsesseln unterschiedlicher Bauart von Prag-Rud-niker ausgestattet war. In diesem Raum trafen sichGruppen und Stammtischgesellschaften. Die Wän-

de schmückten Illustrationen des amerikanischenZeichners Charles Dana Gibson, der ein Frauenbildkreiert hatte, das von Altenberg und Loos begeistertpropagiert wurde – ein mondän-emanzipiertes, zierli-ches, sportlich-graziöses Wesen, das in den Jahrenzwischen 1890 und 1910 als das »Gibson-Girl« inder Tat eine Moderichtung verkörperte.1

An den Stirnseiten der beiden Flügel befanden sichgroße Spiegel – rechts ein dreigeteilter Wandspiegel,links zum Teil verspiegelte, leichte hölzerne Raum-teiler. Diese Spiegel ließen den Hauptraum nochgrößer erscheinen als er war und gestatteten esüberdies dem »Caissier«, der in dem zentralen, run-den Kassenpult gegenüber dem Eingang saß, dasganze Lokal zu überblicken. Es ist der zentrale Kon-trollpunkt des Besitzers, den Loos später stetsauch in seinen Wohnungen ausbildete, der Punkt,an den er den Besucher führte und an welchemdieser sich orientieren musste angesichts mehrererMöglichkeiten weiterzugehen. Dadurch sorgte Loosdafür, dass der Hausherr seine Gäste und ständigenBesucher in eben diesem kurzen Augenblick derUnsicherheit und Orientierungssuche im Auge hatte.Er konnte dann entscheiden, wie und wann erselbst in diese Szene eingreifen wollte. Die Ein-gangssituation des Cafés Museum kann auch als regelrechte Theaterinszenierung angesehen wer-den, die Loos rund um den eintretenden Gast auf-baut. Tatsächlich ist die kleine freie Fläche des Ein-gangs von jedem Punkt des Hauptraums aus zuüberblicken. In dieser Zone verzichtete Loos aufMöbel, so dass eine Art kleiner Bühnenraum ent-stand, besonders geeignet für Gäste, die immerwieder kamen, die Situation inzwischen schonkannten und die Gelegenheit nutzen konnten, ausihrem Eintreten in das Café einen Auftritt zu ma-chen. Gäste, die am Fenster saßen, konnten sich demBlick von außen entziehen und die Öffentlichkeitausblenden. Die Fenster waren transparent, aberim Inneren auf zwei Ebenen mit dünnen, auf denFensterrahmen montierten Stoffvorhängen ausgelber Seide versehen. Die untere Ebene erlaubte es,den Raum vor den Blicken von der Straße abzu-schirmen, der obere Vorhang schützte vor dem di-rekten Sonnenlicht. Diese Art Innenvorhänge kamaus England, wo man sie als short blinds bezeich-nete. Die Fensterrahmen hatte Loos bündig mitder Fassade montiert, so dass man von außenauch dank der 80 Zentimeter tiefen Fensterleibungen

kaum ins Innere sehen konnte. Auf Sitzflächen inden Fensternischen hat Loos hier verzichtet. DieSitzmöbel des Hauptraums waren bequem, abernicht gepolstert. Für Loos war das Café ein öffent-licher Ort, den die Gäste als öffentliche Personenaufsuchten, um ihre Rolle in der Gesellschaft auchformal zur Schau zu stellen. Erst in den Hinterzim-mern wurden die Möbel ungezwungener und dieRaumstimmung intimer. In Loos’ Kommentaren zu seiner Tätigkeit werdenzwei Grundprinzipien deutlich. Zum einen hatteLoos nicht den Ehrgeiz, etwas radikal Neues zu er-schaffen. Vielmehr wollte er an die Tradition derWiener Kaffeehäuser der Biedermeierzeit anknüp-fen, wie er in den Vorträgen ausführte, die er in denJahren 1912 und 1913 an der Schwarzwaldschulehielt.2 Schon die Disposition mit den beiden Raum-flügeln und dem Eingang an der Ecke des Gebäu-des ist ein typisches Kennzeichen der Wiener Bie-dermeier-Cafés3. Zum anderen richtete sein Projektsich gegen die damals aktuelle Modeströmung derSecession.In diesem Sinne sah Loos viele Jahre später in der an-haltenden Beliebtheit des Cafés Museum gegenüberder Vergänglichkeit des Secessionsstils ein wichtigesKriterium für seine Arbeitsweise: »Es war vor zwölf jahren: das Café Museum inWien. Die architekten nannten es ›Café Nihilismus‹.Aber das Café Museum besteht heute noch, wäh-rend alle die modernen tischlerarbeiten der tausendanderen schon längst in die rumpelkammer gewor-fen wurden. Oder sie haben sich dieser arbeiten zuschämen. Und daß das Café Museum mehr einflußauf unsere heutige tischlerarbeit gehabt hat als allevorherigen arbeiten zusammen, das kann ihnen einblick in den jahrgang 1899 der Münchner ›Dekora -tiven Kunst‹ zeigen, in welcher zeitschrift dieserinnenraum – ich glaube, er gelangte durch ein ver-sehen der redaktion hinein–- reproduziert wurde.Aber diese beiden photographischen reproduktio-nen waren es nicht, die damals den einfluß aus-machten – sie blieben vollständig unbeachtet. Nur diekraft des beispieles hat einfluß gehabt. Jene kraft, mitder auch die alten meister gewirkt haben, schnellerund rascher bis in die entferntesten erdenwinkel,obgleich oder vielmehr weil es noch keine post, te-legraphen oder zeitungen gab.«4

Einer der bekanntesten Wiener Architekturkritikerund Unterstützer der Secession jener Zeit, LudwigHevesi, schrieb über das Café Museum: »Als aufrichtiger Nichtsecessionist gibt sich Adolf

Loos in seinem Café Museum. Nicht als Feind derWiener Secession, aber als etwas anderes, dennmodern sind schließlich beide. [...] Von nun an istLoos geborgen, denn er hat seine Sache gut ge-macht. Etwas nihilistisch zwar, sehr nihilistisch,aber appetitlich, logisch, praktisch. Was auch einVerdienst ist. [...]Wie weit Loos Künstler ist, ja ob er es überhauptist, muß erst die Zukunft erweisen. In diesem Erst-lingswerk geht er allem, was Kunst heißt, in wei-tem Bogen aus dem Wege. Er will den reinen Gebrauchsgegenstand machen. [...] Wie gesagt, in einigen Jahren wollen wir mal sehen, was von sei-nem System übriggeblieben ist.«5

Bei dieser Arbeit verzichtete Loos auf große Effekte;er zog es vor, offen und übersichtlich zu bleiben.Kühl oder rein funktionalistisch erschien er nur imVergleich zu den Dekorationen des Zeitgeschmacks,für ihn selbst war dies nie eine Gestaltungsabsicht;oder mit den Worten des Architekten Robert Örley,seines Zeitgenossen: »Wer das Café Museum inWien besuchen will, das Architekt Adolf Loos inmustergültiger Weise eingerichtet hat, kann sichselbst davon überzeugen, daß hier von Kahlheit undNüchternheit nicht die Rede sein kann.«6

Bars: Kärntner Bar (American Bar), 1908

Ursprünglich war die nach dem Vorbild der amerika-nischen Stehbar konzipierte Kärntner Bar aus-schließlich für männliche Gäste gedacht. Da das Lo-kal sich aber sehr bald großer Beliebtheit erfreute,gab man nach einiger Zeit dem Drängen der Frauennach und gewährte ihnen ebenfalls Zutritt. Mit derKärntner Bar führte Loos einen verbreiteten Typdes amerikanischen Lokals in Wien ein. Mit seinemEntwurf und mit den Materialien, die er einsetzte, ver-stand er es, dem mit einer Fläche von nur 6,15 ×4,45 Metern sehr begrenzten Raum eine bezau-bernde elegante, distinguierte und intime Atmo-sphäre zu geben. Der gerade Bartresen nimmt etwa die Hälfte desRaums ein. Auf der gegenüberliegenden Seite be-finden sich zwei Sitznischen mit drei kleinen acht-eckigen Bartischchen, deren satinierte Glasplattenvon unten beleuchtet werden. Die Sitzflächen solltenursprünglich mit grünem Autoleder bezogen wer-den; da sich dieses Material nicht auftreiben ließ,wählte Loos englisches Gobelinleinen mit einemfloralen Dekor.7 Die Wände sind bis über Kopfhöhemit glänzend lackierten Mahagonipaneelen verkleidet,darüber liegen große Spiegelflächen. Wand und

Café Museum, 1899. Billardsaal mit Raumteilerzum Brettspielraum (ALA 2495)

Café Museum, 1899. Eingangssituation mit Billardsaal und Lesesaal (ALA 2495)

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Ralf Bock

Adolf LoosLeben und Werke 1870-1933

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 304 Seiten, 24,0 x 28,0 cm140 farbige Abbildungen, 174 s/w AbbildungenISBN: 978-3-421-03747-3

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Erscheinungstermin: September 2009

Der große Prachtband zu Adolf Loos „Kein Architekt lebt heute, der nicht ein Stück Loos in sich trüge.“ Sigfried Giedion zum 60.Geburtstag von Adolf Loos, 1930. Seine selbstbewussten Ideen zur Architektur und zum Wohnen, eingegangen in wegweisendeGebäude und Innenräume, provozierten die Zeitgenossen. Was Adolf Loos in der ersten Hälftedes 20. Jahrhunderts niederschrieb, baute und gestaltete wirkte nachhaltig auf die Entwicklungder Moderne. Die Schilderung seines Lebens und Werks von Ralf Bock, die historischenAufnahmen aus dem Archiv der Albertina und vor allem Philippe Ruaults meisterlicheFarbfotografien nahezu unverändert erhaltener Häuser und Raumausstattungen verdeutlichen:Adolf Loos war eine der Leitfiguren der Architektur des 20. Jahrhunderts, seine kritischenGedanken sind noch heute aktuell. - Einzige lieferbare Monografie mit umfangreicher Werkdokumentation - Opulent ausgestatteter Bildband - Neu fotografiert von Philippe Ruault