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PSYCHOLOGIE Thilo Fitzner · Werner Stark (Hrsg.) ADS: verstehen – akzeptieren – helfen Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit Hyperaktivität und ohne Hyperaktivität

ADS:verstehen– akzeptieren–helfen...diese Frage wird sehr emotional und sehr dogmatisch geführt. So gibt es auf der einen Seite Patienten beziehungsweise Eltern von be troffenen

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Das Erscheinungsbild der Aufmerksamkeitsdefizit-Störungist vielfältig und wird oft erst nach einem langen Leidens-

Absencen, über psychologische Tests zur Diagnose und über Medi-kamente, Verhaltens-, Ergo-, Reitherapie oder psychomotorischesTraining zur Behandlung von ADS.«

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Thilo Fitzner · Werner Stark (Hrsg.)

ADS: verstehen –akzeptieren – helfen

Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrommit Hyperaktivitätund ohne Hyperaktivität

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ISBN 978-3-407-22078-3

€17.95 D

www.beltz.de

1103031umfitzner.qxd:umfitzner.qxd 05.01.2011 11:55 Uhr Seite 1

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Beltz Taschenbuch 78

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über dieses Buch: Das Erscheinungsbild der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung ist vielfältig und wird oft erst nach einem langen Leidensweg der Betroffenen diagnostiziert. Bei Eltern, Lehrern und allen, die mit ADS-Kindern leben und arbeiten, be­steht ein großes Bedürfnis nach Information, nach klaren Aussagen zu Ursa­chen und therapeutischen Möglichkeiten - das zeigte das große Interesse der Teilnehmer an einer interdisziplinären Tagung zum Thema »ADS - verstehen, akzeptieren, helfen<<. Die Beiträge dieser Tagung sind in diesem Buch zusam­mengefasst. Heute besteht Einigkeit darüber, dass die Ursachen der Aufmerksamkeitsdefi­zitstörung im neurophysiologischen Bereich zu suchen sind. Diese neurophy­siologischen und neuropsychologischen Aspekte werden ebenso dargestellt wie die Zusammenhänge von ADS und anderen Störungen. Neue Ansätze in der Diagnostik und der Stand der Forschung in der medikamentösen Thera­pie ergänzen diesen theoretischen Teil. Ausführlich berichten Pädagogen und Psychologen über die Möglichkeiten, in Schule und häuslichem Alltag Hilfen für Kinder mit ADS bereitzustellen, und über therapeutische Möglichkeiten wie Motopädagogik, therapeutisches Reiten oder auch Trommeln. Auch das Erscheinungsbild von ADS bei Jugendlichen und Erwachsenen wird unter psychologisch-therapeutischen und medizinischen Aspekten ausführlich beschrieben. Ansätze in Therapie und Forschung aus den USA und Skandinavien vervoll­ständigen dieses aktuelle, umfassende und interdisziplinäre Buch, das sich an Lehrer, Therapeuten und betroffene Eltern und Erwachsene richtet.

Die Herausgeber: Dr. Thilo Fitzner, Pfarrer und Diplompädagoge, leitet den Bereich Pädagogik und Schulpolitik der Evangelischen Akademie Bad Boll; Dr. Werner Stark, Pfarrer und Diplombetriebswirt, ist Studienleiter im Be­reich Jugend und Arbeitswelt der Evangelischen Akademie Bad Boll.

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Thilo Fitzner · Werner Stark

ADS-verstehen, akzeptieren, helfen

Die Aufmerksamkeitsdefizit -Störung mit Hyperaktivität und ohne Hyperaktivität

BELlZ

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie derÜbersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durchFotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung

des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.beltz.de

Redaktionelle Mitarbeit: Peter Kensok, Stuttgart

© 2000 Beltz Verlag, Weinheim und BaselUmschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal

Umschlagillustration: © Bavaria Bildagentur, München

E-Book:

ISBN 978-3-407-22337-1

Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

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Beltz

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Inhalt

»Lieb haben<< Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Empfehlung der Ärztekammer Friedrich-Wilhelm Kolkmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Die Steinpalme Eine Hoffnungsgeschichte Impulse aus einer Elterninitiative Sabine Townson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

ADS und Schule Problemorientierte Betrachtung aus Elternsicht Michael Townson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Damit Schule nicht zum Alptraum wird Eine positive Schullaufbahn für ADS/HKS-Kinder Hans Biegert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Mehr Ruhe - mehr Abwechslung Hilfen für das ADS-Kind in der Schule Irene Braun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Kein Platz für »Jäger<< ADHS: Die neuen Untermenschen? Thom Hartmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

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Ein Test für ADS Wie lässt sich ADS bei Erwachsenen feststellen? Ergebnisse einer Pilotstudie Erika Tittmann . ......... ·. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

Das ist ja wieder typisch! ADS beim Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Extravaganzen, Stimmungslabilitäten, Somatisierungstendenzen Cordula Neuhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

So sind sie! Erscheinungsbild und Behandlung Erwachsener mit ADS ]ohanna Krause. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Chronisch, aber nicht allgegenwärtig Neue Erkenntnisse zur Aufmerksamkeitsdefizit-Störung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen: Erkennung und Behandlung. Thomas E. Brown................................ 132

ADS und was sonst noch? Anfallsleiden, Ticstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Lernstörungen - Komorbiditäten, Ursachen, Konsequenzen Gitta Reuner und Andreas Oberle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

ADS auf dem Monitor Kann man anhand des Elektroenzephalogramms (EEG) ein Aufmerksamkeitsdefizit -Syndrom diagnostizieren? Michael Huss und Ulrike Lehmkuhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

ADD kann man sichtbar machen Neurophysiologische und neuropsychologische Aspekte bei Attention Deficit Disorder (ADD) Wolfgang Droll.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

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Wenn ADS ••erwachsen« wird Langzeitverläufe von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS): Macht Ritalin süchtig? Michael Huss, Andrea Schmidt-Schulz, Knut Hoffmann, Regina Vogel, Ulrike Lehmkuhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

ADS international Was tut sich im Ausland? Peter Altherr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Aufbauarbeit: Kinder mit ADS Erfahrungen in Griechenland Anastasia Kalantzi-Azizi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Da ist Damp(f) dahinter Vom Umgang mit ADS in der dänischen Schulpsychologie Ingrid Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Nicht mit Dir und nicht ohne Dich! Die Bedeutung von ADS in der Paarbeziehung Cordula Neuhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

Besser ins Krankenhaus Die stationäre Behandlung des hyperkinetischen Syndroms Volker Heiduk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

Pillen für den Zappelphilipp? Medikation - Ritalin und andere Medikamente Götz-Erik Trott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

Auch Pferde können helfen Therapeutisches Reiten für Kinder mit ADS Petra Wenzel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

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Getrommel & Gedröhne Eine praktische Anleitung Uwe Zappala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Bewegung hilft Psychomotorik als therapeutischer und pädagogischer Behandlungsansatz bei Kindern mit ADS Suzette Everling . .... ~ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

ADS: ADD: ADD-H: ADHS: ADHD: HKS:

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Aufmerksamkeitsdefizit -Störung Attention Deficit Disorder Attention Deficit Disorder With Hyperactivity Aufmerksamkeitsdefizit - Hyperaktivitäts-Störung Attention Deficit Hyperactivity Disorder Hyperkinetisches Syndrom

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»Lieb haben« Vorwort der Herausgeber

Am wichtigsten ist es, unsere ADS-Kinder und »Hyppies« lieb zu haben. Alles andere findet sich dann. Sie haben besondere Gaben, die andere nicht haben. Freilich nerven sie damit manchmal. Aber wenn wir sicher sind, dass auch ADS einen Sinn hat, dann wächst der Mut und das Durchhaltevermögen. Auf einmal findet sich eine nette Nachbarin, die einen kennt, der einen kennt, der einen kennt ... den einfühlsamen Apotheker, die geduldige Lehrerin, den infor­mierten Kinderarzt und - nicht zuletzt - die Elterninitiative in der näheren Umgebung. Gemeinsam sind wir stark. Zusammen mit unseren Kindern (und nicht gegen sie) machen wir uns auf den Weg, ADS erst einmal zu verstehen und dann damit sinnvoll und gelassen umzugehen (nicht, es zu bekämpfen).

So haben wir es auch mit diesem Buch gemacht. Sabine und Michael Townson von der Elterninitiative Ebersbach haben uns be­raten, an wen wir uns wenden könnten, um ADS besser zu verste­hen. Cordula Neuhaus hat uns erzählt, welche Erkenntnisse sich auf den vielen weltweiten Kongressen herausgestellt haben, die sie besucht hat. So waren wir gut gerüstet, zu einer Fachtagung einzu­laden, auf der sich Eltern, Ärzte, Psychologen, Lehrer, Bildungsbe­rater und Therapeuten austauschen konnten. Die Ergebnisse liegen Ihnen hier vor. Wir danken allen Referentinnen und Referenten für ihr Engagement und ihre Bereitschaft, ihre Forschungsergebnisse für dieses Buch zur Verfügung zu stellen.

Was wollen Sie zuerst lesen? • Sabine Townson möchte Ihnen mit einer freundlichen orientali­

schen Geschichte Mut machen, niemals aufzugeben und immer

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daran zu glauben, dass Ihr ADS-Kind Hilfe finden wird und eine gute Zukunft hat.

• Michael Townson wirft einen Blick in die Schule und freut sich, dass es doch schon einige beachtenswerte Fortschritte beim Umgang mit ADS-Kindern in der Schule gibt.

• Hans Biegert möchte in der Schule hilfreiche Rahmen für Ruhe schaffen. Als Leiter einer Privatschule muss er erfolgreich arbei­ten und weiß, wovon er redet.

• Irene Braun wendet sich speziell an Lehrerinnen und Lehrer und unterstützt sie bei der Gestaltung des Schulalltages, wenn ADS-Kinder in der Klasse sind.

• Tom Hartmann entwickelt die Hypothese, dass in Jägerkulturen möglicherweise ein Verhalten, wie bei ADS, dringend nötig war zum Überleben. Er warnt uns vor den Neodarwinisten, die in unserer Gesellschaft alles ausmerzen wollen, was nicht in das Bild des so genannten Normalen passt.

• Michael Huss und Mitarbeiter erläutern kritisch, dass man sehr vorsichtig sein muss, wenn angeboten wird, ADS mithilfe eines EEGs nachzuweisen. Außderdem präsentieren sie eine interes­sante übersieht über die Entwicklung des ADS von der Kindheit bis zum Erwachsensein und klären die Frage, ob Ritalin süchtig macht.

• Gitta Reuner und Andreas Oberleverweisen auf »Komorbiditä­ten« von ADS, d.h. auf Krankheiten oder Symptome, die zu­sammen mit ADS auftreten können und die man sorgfaltig ab­klären muss.

• Erika Tittmann betritt mit ihrer Forschung ein Stück Neuland: Wie lässt sich ADS bei Erwachsenen mit Skalen zuverlässig er­fassen?

• Cordula Neuhaus beschreibt in Ihrem ersten Artikel die typisch­allzutypischen Verhaltensweisen von ADSlern. Wenn man die­sen Artikel gelesen hat, ist man in der Lage, zu ahnen oder zu er­kennen, ob ein Jugendlicher möglicherweise ADS hat (die Dia­gnose durch Fachleute ist natürlich dennoch unumgänglich!). In ihrem zweiten Beitrag verfolgt sie ADS in das Beziehungsge­füge eines Ehepaares hinein. Denn auch Erwachsene haben ADS! Wie es z.B. bei einer gemeinsamen Autofahrt zugeht, ist

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lustig zu lesen und bitterernst gemeint. Szenen einer Ehe. Aber sie gibt auch hilfreiche Ratschläge für das Verhalten in einer ADS-Partnerschaft.

• Johanna Krause berichtet von interessanten Beispielen aus der ADS-Lebenswelt von Erwachsenen.

• Thomas Brown fasst neue Erkenntnisse zur Aufmerksamkeits­defizit-Störung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu­sammen und leitet aus der Verbindung zu Störungen der Ver­haltenskontrolle differenzialdiagnostische Kriterien ab.

• Wolfgang Droll stellt die Untersuchungsmethode durch die Po­sitronen-Emissions-Kamera (PET) vor und beobachtet, dass ADS-Kinder die geborenen Entdecker sind.

• Peter Altherr nimmt deutliche Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen wahr. Außerdem fragt er kritisch, ob es offiziell überhaupt so etwas wie ADS »geben darf« - denn eine Anerken­nung als Krankheit bringt Therapiekosten mit sich ...

• Anastasia Kalantzi-Azizi bietet eine Einblick in die europaweite Forschungs- und Therapiebewegung für ADS am Beispiel Grie­chenlands.

• Ingrid Kraft erzählt aus Dänemark, wo man schon seit langem das Phänomen DAMP beobachtet und mit großem Energieein­satz in der Schule Hilfestellung bietet. Interessante Diagnostik­modelle helfen dabei! Wir haben es hier mit ADS aus einem et­was anderen Blickwinkel zu tun.

• Volker Heiduk plädiert dafür, noch mehr Aufmerksamkeit den älteren Jugendlichen und Erwachsenen zu widmen. Außerdem müssten die Möglichkeiten zur stationären Untersuchung noch weiter ausgebaut werden.

• Götz-Erik Trott begründet in einem ausführlichen Forschungs­überblick, warum die Einnahme von Ritalin und anderen Medi­kamenten weder süchtig macht, noch Kinder chemisch ruhig stellt.

• Petra Wenzel schwärmt von dem großen starken Tier, mit dem man schmusen kann, das man aber erst durch berechenbares ei­genes Verhalten beherrschen kann - dann darf man stolz sein: das Pferd in der Therapie.

• Uwe Zappala führt vor, wie man sich mit Trommeln austoben

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kann und gleichzeitig einen eigenen und einen (sozialverträgli­chen) gemeinsamen Rhythmus findet.

• Suzette Everling berichtet von Bewegungs- und Konzentrations­übungen, welche alle Sinne in Einklang bringen.

Nun wünschen wir Ihnen beim Lesen tiefe Erkenntnisse und auch Freude - denn die intensive Auseinandersetzung mit ADS schafft Verständnis für dieses Phänomen und bringt Hoffnung, mit einem zwar schwierigen, aber nicht sinnlosen Aspekt des Lebens umzuge­hen.

Thilo Fitzner und Werner Stark Bad Boll, Februar 2000

Empfehlung der Ärztekammer

In seinem weltberühmten »Struwwelpeter« hat der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann schon 1847 die charakteristischen Symptome hyperaktiver Kinder eindrücklich beschrieben. Er hat auch die fa­miliären Turbulenzen, die ein hyperaktiver »Zappelphilipp« her­vorrufen kann, anschaulich dargestellt. Das ADS (Aufmerksam­keitsdefizit-Syndrom mit Hyperaktivität und ohne Hyperaktivität) ist also im Grunde schon sehr lange allgemein bekannt.

Dennoch sind Ärztinnen und Ärzte häufig ratlos oder unsicher, wenn sie von besorgten Eltern mit der Bitte aufgesucht werden, ih­ren hyperaktiven Kindern zu helfen. Die kindliche Hyperaktivität führt zu schweren Kommunikationsstörungen in der Familie. Die Familienmitglieder sind oft der Verzweifelung nahe. Die angebote­nen oder empfohlenen Therapien sind aber unter Umständen we­nig hilfreich, weil die neurobiologischen Hintergründe den konsul­tierten Ärztinnen beziehungsweise Ärzten zu wenig bekannt sind.

Inzwischen gibt es aber eine solide empirische Forschungsbasis, von der aus die Therapie angegangen werden kann. Insbesondere aus den USA liegen gut fundierte Forschungsergebnisse vor, die

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dem verantwortungsbewussten ärztlichen Handeln Orientierung geben können.

Auch in Deutschland gibt es eine grundlegende Auseinanderset­zung darüber, ob man Hyperaktivität eher medikamentös oder psy­chotherapeutisch behandeln sollte. Die öffentliche Diskussion über diese Frage wird sehr emotional und sehr dogmatisch geführt. So gibt es auf der einen Seite Patienten beziehungsweise Eltern von be­troffenen Kindern, die, von der medikamentösen Therapie frust­riert, die psychotherapeutische Praxis aufsuchen. Andererseits wechseln in wohl noch höherem Maße Patienten, genervt von der psychologisch ausgerichteten Therapie, zu einer Kombination von psychologischer und medikamentöser Therapie über.

Dieses Buch soll den Ärztinnen und Ärzten empirische Ergeb­nisse zur Verfügung stellen, die es ihnen ermöglichen, sich selbst ein Urteil über die Forschungslage zu bilden und ihre Therapien daran auszurichten. Insbesondere wird der Frage des Einsatzes von Ritalin und verwandten Mitteln breiter Raum gewidmet.

Allen Kolleginnen und Kollegen sei dieses Buch empfohlen, um in einer weit verbreiteten Bedrängnis notwendige Hilfestellung leis­ten zu können.

Friedrich-Wilhelm Kolkmann Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg

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Die Steinpalme -Eine Hoffnungsgeschichte. Impulse aus einer Elterninitiative Sabine Townson

Der Titel dieses Buches lautet: ADS -verstehen- akzeptieren- hel­fen! Ja, wenn das doch nur so einfach wäre. Viele Eltern wissen oft jahrelang nicht, was mit ihrem Sprössling los ist. Es werden Odys­seen gestartet, die letztendlich im Nichts enden. An den Seelen der Betroffenen hängt ein großer, schwerer Stein. Inakzeptanz und Un­wissen sind auch heute noch leider sehr häufig an der Tagesord­nung. Gegenseitige Schuldzuweisungen sind dann die Folge.

Ich möchte auf das Verständnis und die Akzeptanz in Form ei­ner Nacherzählung der afrikanischen Legende »Die Steinpalme« eingehen. Diese Legende drückt aus, dass auch Dinge, die nicht da zu sein scheinen, sensibler wahrgenommen werden können und dadurch geholfen werden kann. Die Reise führt uns in die Sahara und zum alten Geschichtenerzähler Ramon.

Die Steinpalme

Es ist Spätnachmittag in einer fruchtbaren Oase und vom Meer her ist ein Wind aufgekommen, der sanft übers Haar streicht und die Hitze des vergangenen Tages vergessen lässt. Ramon, der alte, weise Geschichtenerzähler kämpft noch mit der verbliebenen Träg­heit des Mittagschläfchens, als er bereits von seinen Nachbarn um­ringt wird. Alle bitten ihn, ihnen doch eine seiner wunderschönen Geschichten zu erzählen. Der Greis ist ein wenig geschmeichelt, zö­

gert einen Augenblick zum Schein, lächelt, dann wendet er sich zum Gehen und ruft über die Schulter: »Also gut, wir treffen uns an der Steinpalme, wenn die Feuer angezündet werden. Nein, ich verrate

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euch nicht, wo ihr sie findet. Ich bin sicher, dass ihr sie nicht verfeh­len werdet!«

Ehe noch die Nacht plötzlich hereinfällt, haben sie den Baum ge­funden. Neben den vielen alten Palmen, die in ihrer schlanken Schön­heit winkenden Prinzessinnen gleichen, steht diese etwas abseits, doch so, dass ihre starken dunkelgrünen Blattfächer die neben ihr stehenden Bäume leicht berühren. Es ist ein eigenartig geformter Baum. Gedrungen, mit einem mächtigen Stamm und starken Fä­chern, die in ihren Bewegungen etwas schwerfällig wirken, hat er nichts von der Heiterkeit, die alle anderen Palmen so graziös macht. Das Merkwürdigste an der Palme aber ist, dass sie sich mit ihren Blattfächern zur Mitte neigt. »Ja, seht nur genau hin. Achtet auf das nächste Wehen des Windes, dann könnt ihr es sehen.« Und da sehen sie es, als der Windstoß erneut in die Fächer der Bäume fährt und sie auseinander weht.

Im Herzen der mächtigen Palme, dort, wo sonst die neuen, hell­grünen Triebe aus der Mitte des Stammes nach oben drängen, liegt ein großer, rötlicher Stein, ein Stein, wie sie ungezählt am Strand

herumliegen. Ramon lässt keine Zeit zum Fragen und heißt alle sich hinset­

zen. Ein Feuer wird in ihrer Mitte entzündet, und als die Flammen hell auflodern und Menschen wie Bäume in ein warmes Licht tau­chen, beginnt seine Erzählung.

»Ihr wollt wissen, wie der Stein dort oben hinaufgekommen ist'? Es geschah vor vielen, vielen Jahren, als die mächtige Palme

noch ein winziger Bäumling war. Damals gab es hier noch keinen Brunnen und auch keine Häuser. Nur wenige Palmen standen am Strand. Und ihnen und dem kleinen Palmenschössling genügte das, was sie aus dem Sandboden als Nahrung und vom Himmel an Feuchtigkeit bekamen.

Die kleine Palme liebte das Meer und die Musik der Wellen. Sie

liebte den lauen Wind an den Spätnachmittagen und die plötzlich hereinbrechende, oft kalte Nacht, die ihre Dunkelheit über alles leg­te, wie ein schwarzes Tuch. Und sie liebte den Mond und die unzähli­gen Sterne, wenn die Nacht klar war. Die kleine Palme wusste, dass hinter ihr die Wüste begann. Sie wusste jedoch nicht, was wasser­los und leer bedeutete. Bis zu dem Tag, als dieser Mann kam. Er

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war tagelang durch die Wüste geirrt und war vor Hitze und Durst fast um den Verstand gekommen. Seine Hände waren wund und brannten vom vielen Graben nach Wasser, doch vergeblich. Alles in und an ihm war ein grenzenloser Schmerz. So stand er nun vor dem endlosen, salzigen Meer. Der Mann warf seinen ausgedorrten Kör­per in die Wellen und auf seinen aufgerissenen Lippen brannte der Durst, den das Salzwasser nicht stillen konnte. Da packte ihn ein rasender Zorn und er schrie: »Ich will nicht sterben. Ich will leben. Oh, ich habe einen solchen Durst!« Sein Zorn gab ihm ungeahnte Kräfte und er griff nach einem Stein, hob ihn in die Höhe, doch seine Arme zitterten, und es schien, als wollte ihn endgültig alle Kraft verlassen.

Da sah er neben sich den kleinen Palmenschössling stehen, der zwischen Geröll und Sand, in hellem Grün und voller Hoffnung auf die kommenden Tage wartete, um groß und stark zu werden. >War­um lebst du?< schrie der Mann.

>Warum hast du alles, was du zum Dasein brauchst, während ich hier verdurste? Warum bist du jung und zufrieden. Ich habe nichts. Wenn ich hier sterbe, sollst auch du nicht leben!< Mit letzter Kraft presste er den Stein mitten in das Kronenherz des jungen Baumes. Es knirschte und brach und dann kam eine entsetzliche Stille. Auch der Mann brach neben der kleinen Palme zusammen. Später fanden ihn Kameltreiber und retteten ihn.

Um den kleinen zerschmetterten Baum hatte sich niemand ge­kümmert. Sein Tod schien unausweichlich, denn er war unter der Last des Steines fast begraben. Die hellgrünen Blattfächer waren abgebrochen und verdorrten schnell in der gleißenden Sonne. Sein zartes Palmenherz war gequetscht und der schwere Stein lastete auf dem zierlichen Stamm, dass er bei jedem leisen Windhauch ab­zubrechen drohte. Der verdurstende Mann konnte die kleine Palme nicht töten, aber er hatte sie schwer verletzt.

Der kleine Baum spürte zu Anfang ungeheure Schmerzen, die sich zu Wolken zusammenballten und ihn überfielen. Doch fast gleichzeitig spürte er eine kleine Welle der Kraft, die immer größer und stärker wurde und die schließlich den Schmerz verdrängte. Ganz allmählich wurde die Kraft mächtiger als der Schmerz. Der Baum versuchte, den Stein abzuschütteln. Er bat den Wind, ihm zu

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helfen. So sehr sich der kleine Baum und der Wind auch mühten, es half nichts. Der Stein blieb in der Krone, dem Herzen der kleinen Pal­me, und rührte sich nicht.

Die kleine Palme sagte zu sich: >Ich gebe auf. Ich kann nicht mehr. Es ist so schwer. Es hat keinen Sinn mich aufzulehnen, also werde ich vertrocknen und eingehen. Es ist mein Schicksal, so früh zu sterben.< Aber da war eine andere Stimme, die leise flüsterte: >Gib' dich nicht auf. Nichts ist zu schwer. Du musst es nur versu­chen. Du musst.< >Was soll ich denn tunf'< fragte die kleine Palme entmutigt. >Der Wind kann mir nicht helfen und ich alleine bin zu schwach. Ich kann den Stein nicht abwerfen.< >Du musst ihn nicht abwerfen<, mahnte die Stimme eindringlich, >du musst die Last des Steines annehmen, dann wirst du erleben, wie deine Kräfte wachsen!<

Der junge Baum hörte in seiner Not auf die Stimme und ver­schwendete keine Kraft mehr an das Bemühen, den Stein abzu­schütteln, sondern er bettete ihn in die Mitte seiner Krone. Mit lan­gen, kräftiger werdenden Wurzeln klammerte er sich in den Boden, denn mit seiner schweren Last brauchte er doppelten Halt. Es kam der Tag, an dem sich die Wurzeln so tief in den Boden gesenkt hat­ten, dass sie auf eine Wasserader stießen. Befreit schoss eine Quelle nach oben und wurde später in einen Brunnen gefasst.

Nun hatte der Baum festen Halt im Grund und dauerhafte Nah­rung. Er begann nach oben zu wachsen und er legte breite, kräftige Fächerzweige um den Stein, und es schien fast so, als wolle er ihn beschützen. Sein Stamm wurde dicker und kräftiger, und mochten auch alle anderen Palmen am Strand höher und lieblicher sein, der Palmenbaum, den die Leute bald die >Steinpalme< nannten, war un­bestritten der Mächtigste von ihnen. Seine Last hatte ihn heraus­gefordert gegen Kleinmut und Verzagtheit zu kämpfen, und er hatte

diesen Kampf gewonnen. Nur, weil er seine Last angenommen hat, ist er so stark gewor­

den, dass er sie beim Wachsen hoch hinaustragen konnte. Die Last liegt noch heute auf seinem Herzen, aber sie ist an eine

Stelle gerückt, die sie tragbar macht. Sie ist ein Teil von ihm, der mehr aus ihm machte als nur eine schlanke, geschmeidige Palme, deren Blattfächer sich anmutig im Wind wiegen.

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Ramon schweigt. Seine Zuhörer, die in dem verlöschenden Feuer nur noch undeutlich zu erkennen sind, bleiben noch eine Zeit lang schweigend sitzen und lassen die Geschichte in sich nachklingen.

Ich wünsche den Lesern dieser Dokumentation die Kraft zu verste­hen - zu akzeptieren und zu helfen. Ich danke den Referenten der Tagung für ihre Beiträge und der Evangelischen Akademie Bad Boll, insbesondere Dr. Thilo Fitzner und Marianne Gaissert, die sich für all unsere Fragen und Anregungen offen gezeigt haben. Großer Dank gilt auch meinem Organisationsteam mit Diana Schwarz und Marianne Kunkel, meinem Ehemann, der mich mit Rat und Tat immer unterstützt hat, urid meinen drei Kindern, die in der Zeit der Vorbereitung der Tagung sehr viel Geduld aufgebracht haben.

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ADS und Schule - Problemorientierte Betrachtung aus Elternsicht Michael Townson

1. Einführung

Brief einer Grundschullehrerin an die Eltern eines Erstklässlers mit diagnostiziertem ADS, den Cordula Neuhaus wohl als »Hyppie der gehobenen Luxusklasse« bezeichnen würde:

Sehr geehrte Frau Müller, sehr geehrter Herr Müller,

bevor ich einen Ausschluss ihres Sohnes Philipp von der Schule be­antrage, möchte ich Sie über sein Verhalten in Kenntnis setzen. Ich möchte Ihnen dazu nur die 5. Stunde vom vergangenen Freitag

schildern: Philipp begann bereits zu Beginn des Unterrichts zu rülpsen. Auf

meine Ermahnungen reagierte er nicht. Er härte erst auf, als ich er­wähnte, dass er bis Unterrichtsschluss ungestört weiterrülpsen könne, begann aber zu wimmern, zu brummen und andere unartiku­lierte Laute von sich zu geben. Als wiederum Ermahnungen und an­schließende Nichtbeachtung keinen Erfolg zeigten, bat ich ihn, das Klassenzimmer zu verlassen. Da packte er in aller Gemütsruhe ein und schlenderte hinaus.

Um meiner Aufsichtspflicht nachzukommen, ließ ich die Türe of­fen. Philipp setzte sich auf den Boden und trampelte. Da ich nicht reagierte, begann er ))Echo« zu spielen, d.h., er wiederholte alles, was im Klassenzimmer gesprochen wurde. Als ich darauf die Schü­ler still beschäftigte, traktierte er die Wand des Lehrerzimmers und die Metallverkleidung neben dem Klassenzimmer mit Fußtrit­ten. Ich packte seine Plastikkiste mit den mitgebrachten Schüs-

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sein, trug sie zu ihm hinaus und forderte ihn auf, das Schulhaus zu verlassen und draußen auf seine Eitern zu warten. Da legte er sich wieder auf den Boden und begann - auf dem Rücken liegend - auf seinen Platz zu robben. Ich machte ihn auf die Folgen seines Verhal­tens aufmerksam. Da sprang er auf, rannte aus dem Klassenzim­mer und trat so heftig gegen seine Plastikkiste, dass einige Schüs­seln herausfielen. Da diese Unterrichtsstunde fast beendet war, bestand ich darauf, dass er das Schulhaus, mit allem was ihm ge­hörte, verließ.

Ich habe mich mit Herrn Lehmann und Herrn Maier von der Son­derschule für Erziehungshilfe ausführlich unterhalten und teile Ih­nen mit:

1. Wenn sich Philipp noch etwas zuschulden kommen lässt, wer­den Sie angerufen und haben ihn sofort abzuholen.

2. Bei der nächsten Ungehörigkeit werden die Lehrer, die Ihren Sohn unterrichten, zusammengerufen, um zu beraten, ob Philipp nur einen oder gar zwei Tage von der Schule ausgeschlossen werden soll.

3. Für sein unmögliches Benehmen hat er am Donnerstag, den 23. Juni von 14 Uhr bis 15.35 Uhr nachzusitzen. (Anmerkung: Dieser Brief befand sich erst an diesem Donnerstag im Briefkasten der Ei­tern. M.T.)

Hochachtungsvoll Doris Schutz

P.S.: Die Kopien meines Briefes liegen im Rektorat unserer Schule und in der Sonderschule für Erziehungshilfe vor. Außerdem soll ich Philipp noch daran erinnern, dass ihn Frau Schmidt wegen seines Verhaltens in Religion am Freitag eine Stunde dabehalten wird.

2. Schulproblemfälle

Dieser Brief stammt aus einem der zahlreichen Schulproblemfälle, bei denen wir zugunsten der Kinder unserer Mitglieder interveniert haben. Er ist also echt, und ich habe nur die Namen und unbedeu-

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tende Einzelheiten verändert, um die handelnden Personen zu schützen. Die Situations- und Verhaltensbeschreibung, Ton und Stil der Lehrerin sind unverändert.

Die Situation der Lehrerin geht klar daraus hervor - sie ist hilf­los und reagiert auch so, indem sie die Eltern durch Ton, Stil und Inhalt des Briefes für das Verhalten ihres Kindes in der Schule ver­antwortlich macht und ihnen zu verstehen gibt, dass sie von ihnen auch eine Lösung erwartet und sie ansonsten mit Strafmaßnahmen zu rechnen haben.

Die Schule reagiert auf derartiges Schülerverhalten in der Regel so, wie es im Wesentlichen im Schulgesetz von Baden-Württemberg vorgegeben ist: Durch so genannte »pädagogische Maßnahmen« (Nachsitzen, Strafarbeiten und so weiter) und durch die genau ge­regelten »Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen«, die vom zeit­weiligen Unterrichtsausschluss bis hin zum Verweis von der Schule gehen. Das Problem bei Kindern mit ADS ist, dass die vorgenann­ten Maßnahmen für sie oft keine »abschreckende Wirkung« haben, denn es ist geradezu ein »klassisches« Merkmal von ADS, dass die Kinder im Hier und Jetzt handeln, ohne an die Folgen zu denken. Im Gegenteil, aus den Gründen, auf die in den Beiträgen dieser Do­kumentation noch näher eingegangen wird, sind die vorgenannten Maßnahmen oftmals eher dazu geeignet, die unerwünschten Ver­haltensweisen, denen sie entgegenwirken sollen, noch zu verstär­ken. Ich zitiere Dr. Bruno Schor vom Münchner Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung, der es einmal sehr treffend formuliert hat:

»Die personale Fehleinschätzung des Hyperaktiven durch Mitschü­ler und Lehrer verfestigt sich für ihn zur ausweglosen Situation ... Die Wechselwirkung von unzureichender Einschätzung sozialer Gegebenheiten und ungewolltem Fehlverhalten des Hyperaktiven einerseits sowie die hieraus resultierende Ablehnung durch das so­ziale Umfeld andererseits führen in der Regel zu einer Eskalation hyperkinetischen Verhaltens.« (Zeitschrift für Heilpädagogik, Okt. 1992.) Das hat übrigens auch das Oberschulamt Stuttgart erkannt, das in einem Runderlass an die Schulen in seinem Bezirk geschrie­ben hat: »Eine Entfernung schwieriger hyperkinetischer Kinder

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von der Schule ist meist keine Lösung, sondern eine Verschiebung des Problems.« (Runderlass vom 02.05.1996, Aktenzeichen 6752.2-09/69.)

Zurück zum Brief der Lehrerin: Wer ein solches Kind hat, kann sich denken, was im Kopf der Eltern herumgeht, wenn sie einen derarti­gen Brief in ihrem Briefkasten vorfinden - und je nach der Vorge­schichte, dem Naturell und dem Kenntnisstand der Beteiligten, kann man sich verschiedene Möglichkeiten vorstellen, wie es dann weitergeht. Dies sind die Variablen, die entscheiden, ob das, was dann geschieht, dem viel zitierten »Wohl des Kindes« dient, oder ob damit hinsichtlich der weiteren Persönlichkeitsentwicklung und Schullaufbahn des Kindes womöglich irreparabler Schaden ange­richtet wird. Dabei darf man nicht aus den Augen verlieren, dass das Kind auf die meisten dieser Variablen keinen Einfluss hat und die Eltern nur auf einen Teil, wobei ADS jeweils seinen eigenen Ge­setzmäßigkeiten folgt.

In diesem Fall wandten sich die Eltern an mich, als sie den Brief der Lehrerin erhalten hatten, weil sie sich keinen Rat mehr wussten. Wie gehen wir in solchen Fällen vor? Wir informieren uns zuerst einmal ausführlich über die Situation des Kindes und über die Vor­geschichte, was beim Erstkontakt mit den Eltern regelmäßig zu mehrstündigen Gesprächen führt. Die Sachlage ist, in Stichworten ausgedrückt, in diesem Stadium typischerweise oft so:

~ Das Verhältnis zwischen Elternhaus und Schule ist bereits schwer gestört.

~ Die Diagnose »ADS« wird von der Schule abgelehnt, da man die Eltern für die Verhaltensprobleme des Kindes in der Schule verantwortlich macht.

~ Vorgelegte ärztliche Atteste und kinderpsychologische Befunde werden zurückgewiesen und die Kompetenz der ausstellenden Fachleute in Abrede gestellt.

~ Da sich die Eltern bereits von den besagten Fachleuten haben beraten lassen und sich auch durch weitere Maßnahmen, wie die Mitgliedschaft in unserer Elterninitiative und durch die von ADS-kundigen Fachleuten und uns empfohlene Fachliteratur,

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sachkundig gemacht haben, wissen sie, dass eine Kooperation zwischen Ihnen und der Schule zur Bewältigung der Probleme unerlässlich ist. Diese Kooperation, die ja die Anerkennung der Diagnose voraussetzt, wird ihnen aber aus den vorgenannten Gründen verweigert.

<> Von den Eltern wird ultimativ verlangt, dass sie sich um einen Schulwechsel bemühen, oder es wird Ihnen sogar mit der Ab­schiebung des Kindes in die Sonderschule gedroht.

Da in diesem Stadium bei allen Seiten oft nur noch Emotionen handlungsleitend sind, die bei ADS aber nicht weiterhelfen, bemü­hen wir uns darum, dass die Diskussionen zuerst einmal wieder auf eine sachliche Ebene gebracht werden. Dazu schreiben wir der Schule einen freundlichen Brief, mit dem wir versuchen, ihr sach­lich zu erklären, dass ADS weder eine »Modediagnose« noch eine faule Ausrede der Eltern für ihr erzieherisches Versagen ist. Mit der Empfehlung seriöser Fachliteratur bieten wir ihr an, sich selbst da­von zu überzeugen, dass

<> das Bloßstellen des betroffenen Schülers vor der Klasse keine ge­eignete pädagogische Maßnahme ist;

<> betroffene Schüler in erster Linie keine Strafe, sondern ihre Hil­fe brauchen;

<> es durchaus brauchbare Techniken gibt, die der Lehrkraft den Umgang mit dem Schüler erleichtern und dem Schüler ermögli­chen, sein Verhalten besser zu steuern;

<> auf die Eltern ausgeübter Druck höchstens dazu führt, dass diese den Druck an ihr Kind bewusst oder unbewusst weiterge­ben, was sich wiederum negativ auf das Verhalten des Schülers auswirkt;

<> der Arzt, der dem Kind Ritalin verschreibt, kein »Drogenhänd­ler« ist, sondern dies aus gutem Grund tut, auch wenn man in den populären Medien zuweilen etwas anderes hört oder liest, und dass

<> die Eltern im Interesse ihres Kindes auf die Mitwirkung der Schule angewiesen sind, die ihnen deshalb nicht verweigert wer­den darf.

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Obwohl wir uns aus gutem Grunde bemühen, hier sehr »feinfüh­lig« vorzugehen, kommt es durchaus vor, dass es den Eltern auch noch verübelt wird, wenn sie sich an uns gewandt haben. Haben unsere Bemühungen um eine Versachlichung keinen Erfolg, dann machen wir den Eltern jedenfalls klar, dass sie nichts Verbotenes tun, wenn sie sich für ihr Kind einsetzen, und empfehlen ihnen, die ihnen gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen, die Schule doch noch zu einer kooperativen und sachlichen Haltung zu be­wegen.

Es muss betont werden, dass Auseinandersetzungen zwischen dem Elternhaus und der Schule nicht gerade dazu dienlich sind, aus dem Kind mit ADS einmal ein unproblematisches Mitglied der Gesellschaft zu machen. Nach Elternhaus und Kindergarten ist die Schule der erste Ort, an dem das Kind den Umgang mit fremder Autorität lernen muss. Es muss lernen, fremde Autorität in der ihr gebührenden Weise zu akzeptieren und zu respektieren. Erlebt es, dass seine Eltern diese Autorität in der Auseinandersetzung um ihr Kind in Frage stellen müssen, dann könnte sich dies später durch­aus rächen, nämlich wenn das Kind daraus den Schluss zieht, dass Autorität grundsätzlich in Frage gestellt werden kann. Darauf könnte es spätestens zurückkommen, wenn es die Autorität der ei­genen Eltern im Lichte der pubertären Loslösung sieht und als Ju­gendlicher und junger Erwachsener selbstständig mit den weiteren unvermeidbaren Autoritäten des Lebens umgehen muss, wie zum Beispiel mit Ausbildern, Arbeitgebern, Behörden und Staat.

Für engagierte, verständnisvolle Eltern ist der Einsatz für ihr ADS-Kind eine Gratwanderung. Sie müssen viele Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, in seinem Interesse wegräumen. Das kann so zur Gewohnheit werden, dass sie bei allen Schwierigkeiten sofort zur Stelle sind und das Kind dabei unbewusst daran hindern zu lernen, Schwierigkeiten zu vermeiden und eigene Problemlö­sungsstrategien zu entwickeln. Die Eltern haben es verdient, dass sie die Schule bei ihrer Gratwanderung unterstützt. Viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer tun dies bereits in lobenswerter Weise. Deshalb möchte ich zum Schluss meines Beitrags mit dem Titel »ADS und Schule - Problemorientierte Betrachtung aus Eltern­sicht« darauf hinweisen, dass er genau das war, nämlich eine prob-

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lernorientierte Betrachtung und keine pauschale Abstempelung der Schule zum »Buhmann«.

Ich möchte mich an dieser Stelle im Namen der betroffenen El­tern bei den vielen Lehrerinnen, Lehrern und Schulleitern bedan­ken, auf die diese von mir vorgenommene Problemcharakterisie­rung nicht zutrifft. Unser Ziel ist es, dass sich die Zahl derer, denen wir zu danken haben, weiter erhöht.

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Damit Schule nicht zum Alptraum wird -Eine positive Schullaufbahn für ADS/HKS-Kinder Hans Biegert

1. Einführung

8.00 Unterrichtsbeginn, Ruhe kehrt ein. 8.03 Timo stürzt in die Klasse (ohne anzuklopfen). >>Hatte

meine Brote vergessen.« Auf dem Weg zu seinem Platz boxt er Sven und zieht Sabrina das Heft weg.

8.06 Setzt sich mit Radau in die Bank, knallt die Tasche laut auf den Boden, wirft seinen Oberkörper auf die Bank.

8.09 platzt rein, während Rainer gerade eine Matheaufgabe an der Tafel rechnet: »Kann mein Mathebuch nicht finden, gibst du mir deins, Frank?«

8.12 tritt mit dem Fuß mehrmals heftig gegen die Rückenlehne des Stuhls seines Vordermanns Paul, lacht laut.

8.15 Der Lehrer geht durch die Reihen, will die Hausaufgaben sehen. Timo: »Hatten wir Aufgaben auf? Hab mein Heft vergessen.« Und so weiter.

Timo ist im vierten Schuljahr, steht täglich die halbe Zeit vor der Tür, die Eltern waren mehrfach von der Klassenlehrerin einbestellt, da sein Verhalten »für Mitschüler und Lehrer nicht mehr tragbar ist«. »Allenfalls Empfehlung Hauptschule«, sagt die Klassenlehrerin. Die Eltern wenden sich auf Anraten an den Schulpsychologischen Dienst. Timo wird getestet: »IQ = 123, auf jeden Fall gymnasialreif, mindestens Realschule, sonst ist der Junge unterfordert.«

Was hier als Momentaufnahme von 15 Minuten Unterricht skizziert ist, spielt sich in der gesamten Republik in allen Klassen vier- und fünffach, sechs Stunden am Tag, fünf Tage in der Woche,

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38 Unterrichtswochen im Schuljahr ab, setzt sich in gleichem Maße alltäglich in häuslichem Schulaufgabenstress fort.

? Was ist da am Werk? ? Was hat das für Folgen? ? Was sind die Ursachen? ? Wie kann man dem abhelfen - insbesondere in der Schule?

2. Kernsymptome

Ein »Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom« beziehungsweise eine »Hy­perkinetische Störung«, so sagen Mediziner, ist bei sechs bis zehn Prozent einer Jahrgangsstufe für derartiges Fehlverhalten die Ursa­che. Drei Kernsymptome werden genannt:

<> Aufmerksamkeitsdefizit ( = unkonzentriert, ab lenkbar, kurze Aufmerksamkeitsdauer, scheint nicht zuzuhören, übersieht De­tails, vergisst Dinge, bricht Aufträge ab, keine Ausdauer, . . . ).

<> Impulsivität (handelt unüberlegt, platzt rein, kann nicht abwar­ten, schnell frustriert, unterbricht andere, unorganisiert, unor­dentlich, stimmungswechselhaft, nicht gründlich, reagiert über­mäßig, fühlt sich schnell provoziert, . .. ).

<> Hyperaktivität (zappelt ständig, motorisch exzessiv, rastlos, kann sich nur schwer ruhig verhalten, . . . ); dabei kann die Hy­peraktivität bei einem Drittel der Betroffenen kaum oder gar nicht ausgeprägt sein.

Fazit: Wir haben es mit einem hohen Maß an Ablenkbarkeit, kurzer Aufmerksamkeitsdauer, mangelnder Befähigung zur Selbststrukturierung und -Orientierung und der ständigen Suche nach neuen Reizen zu tun. Damit sind schulische Misserfolge vorprogrammiert.

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3. Folgen

Elternhaus - Gleichaltrige - Schule: Zuhause (bei 60 Prozent im Vergleich zu sechs Prozent bei Nicht­ADSlern) erleben die Kinder einen permanenten Schulaufgaben­stress, und es gibt ständig Probleme bei der Erledigung von Aufträ­gen. Die Eltern erfahren in der Regel Vorwürfe, bestenfalls Mitleid, aber kaum Verständnis von Lehrern, Verwandten und Bekannten. Mehr als ein Drittel der Mütter fühlt sich »vom Erziehungsstress ausgebrannt«.

Unter Gleichaltrigen erfahren die Kinder nur selten Akzeptanz, in der Beliebtheitsskala siedeln sie ganz unten. Wer möchte neben einem solchen sitzen oder mit ihm in einer Mannschaft spielen oder auf Klassenfahrt mit ihm das Zimmer teilen? In der Schule werden sie von Lehrern ermahnt, oft bloßgestellt, haben kaum Er­folgserlebnisse, sind als Störer und Chaoten stigmatisiert und wer­den nicht selten nach links hinten (durch Studien belegt!) allein in die letzte Bank verbannt.

Umfragen bestätigen eine kaum vorhandene Erfolgserwartung für diese Schüler bei Lehrern, und viele empfinden bei derartigem Schülerverhalten ablehnende und aggressive Gefühle. Neun von zehn ADSler bleiben in ihrer schulischen Entwicklung hinter ihren intellektuellen Möglichkeiten, ein Drittellandet schon früh, oft be­reits während der Grundschulzeit in einer Sonderschule.

Fazit: Jahrelange, von ständiger Ausgrenzung geprägte Sozialer­fahrung und trotz immer wiederkehrender Bemühungen aus­bleibende schulische Erfolge führen zu einer erheblichen Be­einträchtigung des Selbstbildes, dann zu einem mangelnden Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, darauf zu Motivationslo­sigkeit und Misserfolgserwartung und am Ende in eine opposi­tionelle Verweigerungshaltung oder in depressiven Rückzug.

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4. Ursachen

Eine neurobiologische Stoffwechselstörung vornehmlich im Fron­talhirn scheint maßgeblich verantwortlich für ADS. Das Frontal­hirn, so weiß man aus Erfahrungen mit Frontalhirnverletzten, ist zuständig für die Planung von Handlungen, für die Steuerung der Hemmung von Prozessen, für den Umgang mit und den Einsatz von Gefühlen und Emotionen, für die Lenkung der Aufmerksam­keitsintensität, für das Ausfiltern von Wichtigem unter Unwichtige­rem und für das Management von Entscheidungen (Antonio Da­masio, amerikanischer Neurobiologe).

Dopamin, ein biochemischer Stoff (Neurotransmitter), der bei der elektrochemischen Weiterleitung von Nervenimpulsen gerade im Frontalhirn eine entscheidende Rolle spielt, scheint in dieser Hirnregion bei ADS-Personen nicht hinreichend verfügbar zu sein. Insbesondere das neuronale Hemmen von Prozessen wird so er­schwert. Dieses neurobiochemische Funktionsdefizit ist vererblich. Langzeitstudien mit Familien, deren Kinder, Enkel und so weiter betroffen sind, ferner Zwillings- und Adoptionsstudien ergaben ei­ne hohe statistische Konkordanz (85 bis 95 Prozent) von ADS bei eineiigen Zwillingen selbst dann, wenn sie unmittelbar nach der Geburt voneinander getrennt wurden.

Aktuelle Forschungen suchen danach, ob die Dopaminproble­matik durch einen Gendeffekt bedingt ist, etwa am Genabschnitt DRD 4 auf dem Chromosom 11, denn dieser Abschnitt ist mitver­antwortlich für eine genetische Kodierung im neuronalen Funkti­onskreislauf des Dopamins.

Aus einer genetischen Disposition aber folgt keineswegs die Un­abwendbarkeit einer ADS-Verhaltensausprägung. Erst die Kombi­nation aus genetischer Disposition und Sozialisation (Elternhaus, Schule, Gleichaltrige) führt am Ende zum manifesten Verhaltens­bzw. Persönlichkeitsstatus.

Sozialisation in diesem Sinne beinhaltet Erfahrungen, Lernen und das Wahrnehmen von Mustern im Umfeld.

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