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AGORA 42 Das philosophische Wirtschaftsmagazin Was ist Europa? Eine Wirtschasunion? Eine Festung? Verheißung oder Enttäuschung? Gehirn der Welt? Brutstätte für Vampire? Zum Fortschritt verdammt? Nichts für Feiglinge! AUSGABE 02/2014 Ausgabe 02/2014 | Deutschland 8,90 EUR Österreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF EUROPA

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Was ist Europa? Eine Wirtschaftsunion? Eine Festung? Verheißung oder Enttäuschung? Gehirn der Welt? Brutstätte für Vampire? Zum Fortschritt verdammt? Nichts für Feiglinge!

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

Was ist Europa? Eine Wirtscha!sunion? Eine Festung? Verheißung oder Enttäuschung? Gehirn der Welt? Brutstätte für Vampire? Zum Fortschritt verdammt? Nichts für Feiglinge!

AUSGABE 02/2014

Ausgabe 02/2014 | Deutschland 8,90 EURÖsterreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF

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T E R R A I N

THier werden Begri!e,

"eorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellscha#liches

Selbstverständnis grundlegend sind.

— 8DIE AUTOREN

— 9Johannes WeißRationalität

— 14Frank Augustin Ist Freiheit in Ordnung?

— 20Dieter SchnaasFortschritt ohne Ende?

— 25Wolf Dieter EnkelmannEuropa – ein produktiver Habenichts?

— 30Pia Eberhardt(K)ein Zutritt für Vampire

— 33EXTRABLATT

— 34Fredmund MalikEuropas Große Transformation21

— 38PORTRAITPlaton von Barbara Zehnpfennig

— 46KLEINANZEIGEN

— 3 EDITORIAL

— 4 INHALT

— 96AUS DER REDAKTION

— 98IMPRESSUM

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INHALT

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H O R I Z O N TI N T E R V I E W

HIAuf zu neuen Ufern! Wie lässt sich

eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete

Veränderungen herbeiführen?

— 80FRISCHLUFTFreiheit und Verantwort- lichkeit in der Manager-Ausbildung

— 88LAND IN SICHTKunst & Gesellscha!Würmer & GeldBank & Gemeinwohl

— 94GEDANKENSPIELEvon Kai Jannek

— 48Europa … verzweifelt gesuchtInterview mit Richard David Precht

— 64Karl-Martin HentschelDie Kommunen zuerst!

— 70Srecko Horvat»Good Bye, Lenin!« in der Ukraine

— 74WEITWINKELDan Perjovschi

agora 42 Inhalt

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Hier werden Begri!e, "eorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellscha#liches Selbstverständnis grundlegend sind.

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TT E R R A I N

Hier werden Begri!e, "eorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellscha#liches Selbstverständnis grundlegend sind.

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JohannesWeißJohannes Weiß ist emeritierter Professor für Soziologische !eorie und Philosophie der Sozialwissenscha"en an der Universität Kassel, gegenwärtig auch assoziierter Gastforscher des Max-Weber-Kollegs für so-zial- und kulturwissenscha"-liche Studien der Universität Erfurt.— Seite 9

Dieter Schnaas Dieter  Schnaas  ist  Chefreporter  der  Wirtscha!sWoche.— Seite 20

PiaEberhardtPia Eberhardt lebt in Köln und arbeitet bei der lobbykriti-schen Organisation Corporate Europe Observatory (CEO, www.corporateeurope.org). Dort beschä"igt sie sich vor allem mit der Frage, wie Kon-zerne und ihre Lobbygruppen die europäische Außenhan- delspolitik beein#ussen.— Seite 30

Frank AugustinFrank Augustin ist Chefredak-teur der agora42.— Seite 14

FredmundMalikFredmund Malik ist habi-litierter Professor em. für Unternehmensführung an der Universität St. Gallen, international ausgezeichneter Managementexperte sowie Gründer und Chairman von Malik St. Gallen. Im Februar 2014 ist sein neuestes Buch Wenn Grenzen keine sind: Ma-nagement und Bergsteigen im Campus Verlag erschienen.— Seite 34

Wolf DieterEnkelmannDr. Wolf Dieter Enkelmann ist Direktor für Forschung und Entwicklung am Institut für Wirtscha"sgestaltung (Mün-chen), das sich der wirtscha"s-philosophischen Forschung widmet (www.ifw01.de).— Seite 25

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DIE AUTOREN

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Worin liegt die weltgeschichtliche Bedeutung Europas? Wenn man auf diese Frage eine Antwort sucht, kommt man um den Historiker, Ökonomen und Soziologen Max Weber (1864–1920) nicht herum. Eine seiner zentralen Fragen lautet: Wie erklärt es sich, dass bestimmte Kulturerscheinungen, die unter sehr beson-deren Bedingungen in Europa aufgekommen waren, es nicht nur zu weltweiter Verbreitung, sondern auch zu (fast) allgemeiner Geltung gebracht haben? Flughäfen, Einkaufszentren oder Uni-versitäten, aber auch Verwaltungsapparate, demokratisches Ge-dankengut, mediale Au!lärung und e"ziente Arbeitsorganisa-tion sind längst zu globalen Gegebenheiten geworden. Dies bloß mit der Durchsetzung ökonomischer und politisch-militärischer Interessen zu erklären, reicht nicht aus.

Text: Johannes Weiß

Rationalität—

Europäische Herkun!, globale Geltung

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Die globale Verstaatlichung hat von Europa ihren Ausgang genommen. Sie manifestiert die Weltmacht einer europäischen Idee. Denn die Idee des „bios politikos“, des staatlichen Lebens, hatte ursprünglich weniger einen womöglich barbarischen Na-turzustand zum Gegner als die übermächtigen, sich von Göttern ableitenden Weltreiche der orientalischen Hochkulturen des Altertums. Die Griechen stellten dem Reich den Staat entgegen, das heißt dem „oikos“ die „polis“, und schufen so eine Alterna-tive, die seither mit zunehmender Intensität und wechselndem Glück Europa und die Weltgeschichte bestimmte.

Text: Wolf Dieter Enkelmann

Europa – ein produktiver

Habenichts?

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D ieser Staatsgedanke ist von einiger Befremdlichkeit. Selbst die Euro-päer mutete er über lange Zeiten

ihrer Geschichte widernatürlich, frivol und unrechtmäßig an. Europa unterschei-det er dennoch mehr und nachhaltiger von anderen Kulturen als vieles sonst. Als die Griechen, die Parvenüs im Umfeld der etablierten Kulturen Ägyptens, Mesopota-miens oder des Persischen Reiches, damit begannen, sich „politisch“ zu organisieren, ernteten sie rundum nur Kopfschütteln über diese Torheit. Trotz des umwerfenden Erfolgs, den sie damit zunächst hatten, ha-ben sie dann ihr Staatswesen auch tatsäch-lich nicht allzu lange aufrechterhalten kön-nen. Erst während der Renaissance begann ausgehend von den Städten ein Prozess, der später mit den inneren Machtkämp-fen Englands sowie der Französischen Revolution und dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eine hinreichende Eigendynamik gewann, um Europa im 20. Jahrhundert wieder zurück zu seinen eige-nen Ursprüngen zu führen – zurück in die „polis“, in den Staat.

Die PolisDie Polis war eine Revolution. Zuvor war Griechenland, Homer erzählt es, nicht an-ders organisiert als die dynastischen Palas-tökonomien der Hochkulturen des Vor-deren Orients. Mit dem Unterschied, dass es im archaischen Griechenland niemals gelang, die einzelnen Dynastien unter das Dach einer übergeordneten Monarchie zu einem Reich zu vereinen. Dennoch, auch diese Welt war in familiären Haushalten organisiert. Über allem thronte Zeus’ Clan der olympischen Götterfamilie. Jenseits und außerhalb des von diesen Göttern besiegelten universal inzestuösen Famili-enlebens gab es keinen Lebensraum. Die gesamte Natur des olympischen Weltreichs der archaischen Zeit war eingebunden in die familiäre Produktion und Reproduk-tion des Lebens, wie es das auch heute in vielen Kulturen noch immer gibt. Das wirklich Merkwürdige und für die alten Hochkulturen wie für viele Ethnien auch der heutigen Zeit völlig Unbegrei!i-che an der europäischen Polis ist ihre Art, mit dem Reichtum umzugehen, und der Wert, den sie der Armut zumaß. In Per-

sien war damals alles Eigentum unter den Großkönig subsumiert, so wie es auch im europäischen Mittelalter erst durch aus-drückliche Privilegierung von oben abge-leitet und ins Recht gesetzt war. Der jeweils Mächtigste ist in diesen Verhältnissen als Gesamteigentümer auch der Reichste. Und er allein ist der Inbegri" der Wirtscha#s-kunst. Der Reiche ist der Gute sowie ne-benbei auch der Schönste beziehungsweise der Wunderbare, der Göttliche und, na-türlich, der Wahre. Doch hängt sein Wert zugleich umgekehrt an seinem Besitz, weswegen die Griechen diese Verhältnis-se insgesamt sklavisch nannten. Eine Polis hingegen entsteht, indem sich die existie-renden Eigentümer in gewisser Weise ihres Eigentums enteignen. Sie müssen sich von dessen Macht über ihre Existenz entbin-den, um „polites“ $ Bürger $ werden zu können. Die Polis reduziert den Menschen formell auf sein Selbstvertrauen und auf einen individuellen Eigenwert. Um diesen ist es aber zunächst naturgemäß nicht allzu gut bestellt. In der Polis hat der Mensch im Prinzip nur eine Stimme. Mehr hat er nicht in die Waagschale zu werfen. Nicht nichts, aber eben doch nur ein Versprechen. Stadt-lu# macht frei, diese Freiheit macht zuerst aber auch arm. Durch ihre Politisierung unterstellten die Eigentümer ihre Herrscha# über ihren privaten Reichtum der Polis, um über de-ren Institutionen und Gemeinwesen den Rechtsstand und die Handhabung ihres Eigentums sowie ihre Kooperation unter-einander zu organisieren. Dadurch wurde die Polis aber weder ein Eigentümer über oder neben jenen, noch umgekehrt das Eigentum aller Eigentümer. Ihr gehörte nichts, und sie gehörte niemandem. Sie ge-hörte einzig sich selbst, soweit man das von einem Nichteigentümer vernün#igerweise überhaupt sagen kann. Sie war ein Habe-nichts. Als Bürger unterwarfen sich somit die Reichen der Armen; die Polis als sol-che hatte nur die Unterstützung, die ihr die Eigentümer zu deren Selbstverwirklichung gewährten. Sie hatte auch nicht die Macht, Steuern einzutreiben, es sei denn, die Bür-ger kamen untereinander überein, ihr – und dabei mittelbar wieder sich – diesen Tribut zu gewähren. Warum sich die Europäer auf dieses Vabanquespiel einließen, alles Eigentum einer Nichteigentümerinstanz

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Text: Pia Eberhardt

Während immer wieder beklagt wird, dass die Europäische Union (EU) demokratisch nicht ausreichend legitimiert sei (Stichwort: „Demokratiede!zit der EU“), verhandeln gerade hinter den Kulissen Delegierte der EU und der USA ein Freihandelsabkom- men, das die Rechte der Menschen in Europa zugunsten ausländi-scher Konzerne und Investoren dramatisch einschränken könnte. Sollte dieses Abkommen (TTIP = Transatlantic Trade and Invest-ment Partnership) verwirklicht werden, könnte man sich die Kritik am Demokratiede!zit sparen – sie wäre ungefähr so sinn-voll wie die Nörgelei an der Blaskapelle auf der Titanic, während diese bereits zu sinken begonnen hat.

(K)ein Zutritt für

Vampire—

Oder: Nebensache Demokratie

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Weltweit garantieren schon heute über 3.000 internationale Inves-titionsabkommen Konzernen

weitreichende Klagerechte. Sie ermögli-chen es ausländischen Investoren, gegen geplante und bereits gültige Gesetze im Gaststaat zu klagen, die ihre Eigentumsti-tel und geplante Gewinne aus ihren Inves-titionen bedrohen – zum Beispiel wegen Gesundheits- und Umweltschutzau!agen. So verklagt Vattenfall derzeit Deutsch-land, weil dem Energiekonzern durch den Atomausstieg Geld entgeht. In Aus-tralien und Uruguay geht Philip Morris gegen Warnhinweise auf Zigarettenpa-ckungen vor. Der kanadische Öl- und Gaskonzern Lone Pine verklagt über eine US-Niederlassung seine eigene Regie-rung, weil die Provinz Quebec aufgrund massiver Umweltrisiken ein Moratorium für die umstrittene Bohrtechnik Fracking erlassen hat. Bis Ende 2012 gab es über 500 solcher Klagen von Investoren gegen den Staat. Die Dunkelzi"er dür#e höher liegen, die Tendenz ist steigend. Die Klagen werden vor internationalen Schiedsgerichten ver-handelt, die meist aus drei Privatpersonen bestehen. Sie orientieren sich am Eigen-tumsschutz im Investitionsrecht – und nicht etwa an der Sozialp!ichtigkeit des Eigentums oder dem Schutz des Gemein-wohls. Die EU und die USA wollen solche Kla-gen nun auch über ihr geplantes Handels-abkommen ermöglichen. Die Gefahren für ö"entliche Haushalte und demokratische Politik liegen auf der Hand: Investor-Staat-Klagen können Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe nach sich ziehen. So möchte Vattenfall mit über vier Milliarden Euro für den deutschen Atomausstieg ent-schädigt werden. Gewinneinbußen einzel-ner Unternehmen, die durch politische Re-formen entstehen, werden auf diese Weise sozialisiert – selbst wenn die Regulierun-gen zum Schutz des Gemeinwohls notwen-dig sind.

Zudem gibt es weltweit zahlreiche Bei-spiele von geplanten Regulierungen, die allein aufgrund der Androhung einer teu-ren Klage verwässert wurden oder ganz in der Schublade verschwanden. Fünf Jahre nach Inkra#treten des Freihandelsabkom-mens zwischen Mexiko, Kanada und den USA (NAFTA) beschrieb ein kanadischer Regierungsbeamter dessen Auswirkun-gen wie folgt: „Bei beinahe jeder neuen umweltpolitischen Maßnahme gab es von Kanzleien aus New York und Washington Briefe an die kanadische Regierung. Da ging es um chemische Reinigung, Medika-mente, Pestizide, Patentrecht. Nahezu jede neue Initiative wurde ins Visier genom-men, und die meisten haben nie das Licht der Welt erblickt.“ Tatsächlich nutzen Un-ternehmen Investitionsrecht heute immer häu$ger als Wa"e in politischen Ausein-andersetzungen, um strengere Regulierun-gen zu verhindern.

Die beschränkte DemokratieLetzten Endes geht es beim Investoren-schutz darum, die Demokratie in ihre Schranken zu verweisen. Zwei Mitarbeiter von Milbank, einer der führenden Kanz-leien im internationalen Investitionsrecht, haben das jüngst in einem Artikel für eine Fachzeitschri# deutlich ausgespro-chen: „Unerwünschte Maßnahmen von Regierungen gibt es nicht nur im Rahmen autokratischer Herrscha#. Der Populis-mus, den Demokratien mit sich bringen können, ist o# Katalysator für solche Ak-tionen.“ Kein Wunder, dass Länder wie Argentinien, Venezuela und Ecuador, die nach he#igen sozialen Kämpfen Privatisie-rungen zurückgenommen und Unterneh-men verstaatlicht haben, zu den Ländern gehören, die am häu$gsten vor Investiti-onsschiedsgerichte gezerrt werden. Globalisierungskritische Wissenscha#-lerInnen sehen internationale Investi-tionsabkommen daher als Instrument, transnationale Kapitalinteressen gegen Re-

agora 42 (K)ein Zutritt für Vampire – Oder: Nebensache Demokratie

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Portrait

Platon—

Ein europäischer

Denker

agora 42 Platon – Ein europäischer Denker

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Portrait

Platon—

Ein europäischer

Denker

Text: Barbara Zehnpfennig

Wie sieht eine gerechte Gesellscha! aus? Welches Verhalten ist richtig und welches falsch? Gibt es Erkenntnis und wie gelangt man zu ihr? Gibt es Wahrheit? Belüge ich mich selbst, ohne es zu merken? Dass wir uns solche Fragen überhaupt stellen, hat mit einem Mann zu tun, der vor fast 2500 Jahren in Griechen-land lebte und das Denken revolutionierte – ein Mann, ohne den wir uns gar nicht als Europäer begreifen könnten.

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Fotos: Janusch Tschech

Richard David Precht

Richard David Precht, geboren 1964 in Solingen, studierte Philosophie, Germa-nistik und Kunstgeschichte an der Uni-versität Köln und promovierte 1994 in Germanistik. 1997 war Precht Fellow bei der Chicago Tribune, 1999 erhielt er das Heinz-Kühn-Stipendium. In den folgen-den beiden Jahren war er Stipendiat am Europäischen Journalistenkolleg der FU Berlin. Er hat für viele große deutsche Magazine, Zeitungen und Sendeanstalten gearbeitet, unter anderem als Kolumnist des Magazins Literaturen (2002–2004) und von 2005 bis 2008 als freier Moderator der WDR-Sendung Tageszeichen. 2007

erschien sein bisher erfolgreichstes Sach-buch Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?, das bisher über 1,5 Millionen Mal verkauft und in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde. Sein autobiografisches Buch Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine deutsche Revolution wurde 2008 ver-filmt. Seit 2010 ist er Mitherausgeber des Magazins agora42. Als Honorarprofessor lehrt er seit 2011 Philosophie an der Leu-phana Universität Lüneburg und seit 2012 an der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin. Seit September 2012 moderiert er die Philosophiesendung Precht im ZDF.

Europa … verzweifelt

gesucht–

Interview mit

Richard David Precht

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Interview

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Von geografischen Definitionen abgesehen: Was bedeutet Ihnen Europa?

Ich habe kein starkes emotionales Verhältnis zu Europa. Ich halte es auch für zwecklos, Europa über einen besonderen Wesenszug de!nieren zu wollen. Ohne Zweifel wurde Europa durch die Au"lärung geprägt. Aber dieses Erbe ist für mich kein Grund, in Be-geisterung auszubrechen, denn es ist genauso wunderbar wie fürchterlich. Europa hat so viel Unheil über sich selbst und die Welt gebracht, dass ich jeder Form von romantischer Verklärung skeptisch gegenüberstehe. Für mich ist Europa, ein geeintes Europa, ein sehr nützliches Werkzeug, um gewaltige Zukun#sprobleme zu lösen. Das ist mein Verhältnis zu Europa.

Ein Werkzeug, das zuletzt eine lang anhaltende Periode des Friedens hervorgebracht hat. Ist das nicht ein Grund zur Freude?

In der Tat wird die Geschichte, dass Europa letztlich im Frieden zueinander gefunden hat, gerne erzählt. Das ist die Geschichte eines Europas, das nach vielen Kriegen, und zuletzt durch die Erfahrung zweier blutiger Weltkriege, zu der Erkenntnis gelangte, dass es besser ist, in Frieden miteinander zu leben. Von dieser Erzählung halte ich nicht viel. Ich finde sie kitschig. Ich würde die Geschichte anders erzählen: Das friedliche Europa ist entstanden, weil sich Kriege innerhalb Europas nicht mehr lohnen. Und das aus drei Gründen: Erstens, weil es in Europa nichts mehr zu holen gibt. Es gibt keine relevanten Gasvorkommen, keine Ölvorkommen, keine Uranvorkommen, keine materiellen Ressourcen, für die es sich lohnen würde, einen Krieg zu führen. Als „gutes Geschä#“ ist Krieg also sinnlos geworden. Zweitens haben die beiden Weltkriege gezeigt, dass Kriege heute einen gewal-tigen Blutzoll fordern, den keine Regierung auch nur ansatzweise mehr der Bevölkerung verkaufen kann. Der dritte Grund hat schließlich mit der Überalterung Europas zu tun. Kriege beziehungsweise kriegerische Auseinandersetzungen oder Rebellionen wie bei-spielsweise der Arabische Frühling ereignen sich nur in Ländern, in denen die Anzahl junger Menschen viel höher ist als die der älteren. Revolten ereignen sich, wenn es viele junge Menschen gibt, die nicht an die Fleischtöpfe kommen. Klassische Regime haben gerne die jungen Männer in den Krieg geschickt, bevor sie sich gegen das eigene Re-gime wenden konnten. In dem überalterten Europa, in dem wir heute leben, ist das völlig undenkbar. Zumal das Leben eines Kindes heute so unsagbar wertvoll ist wie noch nie zuvor. Bei all dem, was wir in unseren Nachwuchs investieren, wird man in Deutschland kaum noch jemanden !nden, der bereit wäre, seine Kinder in den Krieg zu schicken. Es eint uns also ein großes gemeinsames Interesse, Krieg zu vermeiden. Dafür brau-che ich keine romantische oder kitschige Verbrämung. Auch muss ich nicht dem Irrglau-ben anhängen, dass die europäischen Nationen aus der Geschichte gelernt haben. Solche Lernerfahrungen enden meistens mit der Generation, die sie gemacht hat – sonst würden sich nicht so viele Fehler in der Weltgeschichte wiederholen, wie zum Beispiel das Auf-flackern des Kalten Krieges in der Rhetorik der USA und der EU gegenüber Russland in der Krim-Krise. Ein verstörendes Signal dafür, wie wenig wir in den letzten 25 Jahren dazugelernt haben.

Damit haben Sie ein Europa skizziert, das sich über die Vermeidung von Negativem definiert. Was hält Europa in positiver Hinsicht zusammen?

Die treibende Kra# der europäischen Einigung war das gemeinsame wirtscha#liche Interesse. Nicht umsonst hat die EU ihre Wurzeln in der Montanunion. Man hatte er-kannt, dass man nur noch als Verbund gegen die USA oder die damalige Sowjetunion eine Chance hat. Das gilt für die Bescha$ung von Rohsto$en wie auch für den Zugang zu Absatzmärkten.

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Richard David Precht

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Vogel: Rotschwanzbussard

Die Gründung der Montanunion erfolgte auch vor dem Hintergrund, dass die euro-päischen Staaten durch ihre Mitgliedscha! in der NATO bereits ihre militärische und außenpolitische Souveränität aufgegeben hatten und letztlich zu Vasallen von Amerika geworden waren. So wollte man sich zumindest wirtscha!lich noch eine gewisse Eigen-ständigkeit bewahren, was zu Beginn auch wunderbar funktionierte.

Oft wird gerade die Tatsache kritisiert, dass bei der EU wirtschaftliche Faktoren im Vordergrund stehen und nicht kulturelle. Hat Europa über-haupt eine kulturelle Identität?

Es gibt sicherlich so etwas wie eine christlich-abendländische Kultur, die in der Tradition des Christentums und der klassischen griechischen Philosophie steht; eine Kultur, welche so unterschiedliche Dinge wie die Demokratie und den Kapitalismus hervorbrachte, de-ren frühe Wurzeln beide im Athen des 6. Jahrhunderts v. Chr. liegen. Schließlich war es vor allem die Einführung des Münzgeldes und die neue Macht der Händler, die die alte aristokratische Herrscha!sform im alten Griechenland unterspülte und dabei zeitweise zur attischen Demokratie führte – und sei es auch nur als ein temporärer Unfall der Ge-schichte. Dieselben Turbulenzen von Markt und Moral, privaten Wirtscha!sinteressen (oikos) und Staatsinteressen (polis) motivierten auch die konservativen Philosophien von Platon und Aristoteles, die bis heute unserem geistigen Hausschatz in Europa die Begri"e lieferten. Man kann also sicherlich einiges #nden, was die Länder Europas eint. Aber selbst wenn es gelänge, einen gemeinsamen Vorratsschatz zu identi#zieren, den Europa der Welt voraushat, wäre ich skeptisch, ob uns das dabei hil!, Lösungen für die heuti-gen Probleme zu #nden. Ich glaube ohnehin, dass Geschichte völlig überschätzt wird. Sie spielt im Alltagsdenken der meisten Menschen keine Rolle. Sie spielt auch dann kaum eine Rolle, wenn über den aktuellen Zustand der EU diskutiert wird. Interessanterweise soll der französische Unternehmer Jean Monnet, der das Zusam-menwachsen der Wirtscha!sunion vorangetrieben hat, einmal gesagt haben: „Wenn ich noch einmal anfangen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen.“ Aber selbst, wenn dies Konsens werden würde, wie soll man sich so etwas praktisch vorstellen? Und wie lange würde das dauern? Wie viele Hundert französische $eaterstücke und Filme müsste man in Deutschland anschauen, wie viele Musikgruppen müssten auf Tournee nach Deutschland kommen, wie viele Schulklassen müssten das jeweils andere Land be-suchen? Und wir reden bis jetzt nur über Deutschland und Frankreich. Wir reden noch nicht von allen sechs Gründungsländern, geschweige denn von all den Ländern, die heute zur EU gehören. Über Kultur hätte man diese Einigung nicht hinbekommen und das wusste man damals auch.

»Das ist so ähnlich wie beim Monopoly. Sobald einer die profitablen Straßen besetzt hat, macht das Spiel keinen Spaß mehr. «

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Interview

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Und doch nähern sich die Lebensstile in Europa immer mehr an.

Ja, aber das hat nichts mit einem gemeinsamen kulturellen europäischen Erbe zu tun, sondern vielmehr mit der Globalisierung, die sich nicht um die europäischen Kulturen schert. Wenn heute die Italiener zu 95 Prozent dieselbe Musik wie die Deutschen, die Dänen, Niederländer oder die Slowenen hören, dann liegt das daran, dass die großen Musiklabels den globalen Markt beherrschen. Auch die Mode ist so einheitlich wie noch nie zuvor. Aber das ist kein Verdienst einer europäischen Kultur, sondern das Resultat der Konsumgüter-Globalisierung.

Auf der anderen Seite beobachten wir gerade, dass die wirtschaftlichen Entwicklungen in Europa eher dazu beitragen, Europa wieder zu spal-ten. Ist die verbindende Kraft der Wirtschaft aufgebraucht?

Die Wirtscha! verbindet, solange es gut läu!. Sobald die Entwicklung kippt, wird es kompliziert, weil sehr viele Interessen berücksichtigt werden müssen. Interessen, die sich teils komplett widersprechen. Beispielsweise wies Deutschland jahrelang die niedrigsten Lohnstückkosten in Europa auf. Entsprechend konnten die deutschen Unternehmen ihre Waren sehr günstig an die anderen europäischen Länder verkaufen. Auf Dauer ist das problematisch. Denn wenn die anderen Länder ständig mehr Güter aus Deutschland im-portieren, als sie nach Deutschland exportieren, steigt ihre Verschuldung immer weiter an. Von dieser Situation haben wir jahrelang pro"tiert. Jetzt stehen wir vor den Schäden, die wir in anderen Ländern angerichtet haben, und sagen, ihr müsst eure Mentalität än-dern oder was weiß ich. So ein Unsinn! Das ist so ähnlich wie beim Monopoly. Sobald einer die pro"tablen Straßen besetzt hat, macht das Spiel keinen Spaß mehr. Die Mitspieler verschulden sich immer weiter und irgendwann schmeißen sie ihre Sachen hin und sagen, mach deinen Mist doch allei-ne. Das Gleiche beobachten wir in der Fußballbundesliga, die der FC Bayern München gerade im Begri# ist abzuscha#en. Noch vor wenigen Jahren hatte Uli Hoeneß die Inves-toren kritisiert, die sich mit riesigen Summen in europäische Topvereine einkau!en und sich die besten Spieler angelten. Er schlug damals konsequenterweise vor, die Spielerge-hälter zu begrenzen. Jetzt, wo die Bayern in der Lage sind, bei den ganz hohen Gehalts-zahlungen mitzuhalten, ist er plötzlich dagegen. Es ist immer dasselbe: Du machst dir nur dann Gedanken über das ganze System, wenn du nicht davon pro"tierst. Sobald du zu den Pro"teuren gehörst, ist dir das System egal. Dann machst du so lange mit, bis du das Ding gegen die Wand fährst.

Das macht wenig Hoffnung auf ein Ende der europäischen Krise …

Die Krise hat viele Facetten, das macht es schwer, eine Lösung zu "nden. Nehmen Sie die seltsame Rolle, welche die Deutschen darin einnehmen: Einerseits sind wir nach wie vor die Pro"teure der Krise. Dennoch wünschen wir uns andererseits, dass die Krise be-hoben wird – auch damit die Länder, in denen es wirtscha!lich nicht so gut läu! wie bei uns, wieder mehr deutsche Produkte kaufen. Aber gleichzeitig sind wir nicht bereit, unser Verhalten zu ändern oder eine Lösung zu akzeptieren, durch die wir ernstha! in die P$icht genommen werden. Zu dieser merkwürdigen Situation kommt noch unser gespaltenes Verhältnis zu Eu-ropa. Auf der einen Seite lernen wir bereits in der Schule das großartige europäische Erbe zu schätzen: die alten Griechen, die Au%lärung, die Gründung der Montanunion oder die Maastrichter Verträge. Uns wird erzählt, wie toll das alles ist und dass wir alle Europäer sind. Auf der anderen Seite fordert der bayerische Ministerpräsident, kaum steht eine Wahl an, eine PKW-Maut für „Ausländer“. Gemeint sind auch in diesem Fall wieder Europäer, nur sind das dann plötzlich ausländische Europäer. Diesem Muster fol-gen zahlreiche Politiker in Europa. Sie versuchen, nationale Interessen gegen die der EU durchzusetzen – und lassen sich feiern, wenn das gelingt. Erfolge werden nationalisiert, bei Misserfolgen die EU vorgeschoben. Da darf man sich nicht wundern, dass sich kein europäisches Bewusstsein entwickelt und schon gar keine Solidarität.

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Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen?

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Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen? HH O R I Z O N T

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Die deutsche Demokratie ist kopflastig. 64 Prozent der Staats-ausgaben werden durch den Bund getätigt, nur 20 Prozent durch die Länder und jämmerliche 16 Prozent durch die Kom-munen. Und diese Mittel sind auch noch weitestgehend durch Bundes- und Landesgesetze festgelegt. In unseren Nachbarstaa-ten Schweiz und Dänemark ist das umgekehrt – dort verfügen die Kommunen und Regionen über 65 beziehungsweise 58 Pro-zent aller staatlichen Mittel. Dagegen leben die Kommunen in Deutschland im Armenhaus. Dabei kommen Umfragen immer wieder zum gleichen Ergebnis: Kommunalpolitiker und kommu-nale Institutionen wie Sparkassen und Stadtwerke genießen er-heblich mehr Vertrauen bei den Menschen als Bundespolitiker, Großbanken und Konzerne.

Text: Karl-Martin Hentschel

Die Kommunen

zuerst!—

Dezentrale Demokratie und ein starkes Europa – ein Widerspruch?

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NTDie wahren Könige und Königinnen in Dänemark sitzen nicht in Ko-

penhagen, sondern in den Rathäusern. Die Bürgermeister und Ge-meinderäte gestalten das gesamte soziale Leben des Staates: Kitas, Altenpflege, Schulen, Arbeitsverwaltung, Gesundheitsversorgung, öffentlicher Verkehr – all das liegt in der Hand der Kommunen und Regionen, die obendrein über ihre Steuereinnahmen selbst entschei-den können. In Deutschland dagegen sind die Kommunen die un-geliebten Anhängsel des Zentralstaates preußischer Tradition. Viele Gemeinderäte sind frustriert – sie dürfen seit Jahren nur noch den Mangel verwalten und über Einsparungen entscheiden. Natürlich sollte man keine Idylle malen. Auch dezentrale Staa-ten sind kein Paradies. Auch in Skandinavien und der Schweiz gibt es Rechtsradikalismus, Drogenprobleme und andere Schwierigkeiten. Aber unter dem Strich ist die Zufriedenheit mit der Politik in unseren Nachbarländern, die dezentral organisiert sind, deutlich größer. Des-halb spricht vieles dafür: Wenn wir mehr Demokratie, mehr Bürgerbe-teiligung und mehr Akzeptanz von Politik erreichen wollen, müssen wir den Staatsaufbau vom Kopf auf die Füße stellen und die Kommu-nen ins Zentrum der Demokratie rücken. Kommunen müssen mehr Kompetenzen und mehr Geld bekommen; und sie brauchen eine ei-gene Steuerhoheit, wenn sie eine starke, eigenständige Rolle spielen sollen.

Probleme der DezentralisierungGegen eine Steuerhoheit der Kommunen wird häufig das Argument vorgebracht, sie könne zum Steuerdumpingwettbewerb führen. Für Skandinavien gilt das jedoch nicht! Im Gegenteil: In Schweden und

In Deutschland sind die Kommunen die ungeliebten Anhäng-sel des Zentralstaates preußischer Tradition.

agora 42Die Kommunen zuerst!

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Das deutlichste Vorzeichen für die ak-tuelle politische Krise in der Ukraine war die Zerstörung der Leninstatue auf dem ehemaligen Platz der Okto-berrevolution in Kiew am 8. Dezember 2013 – heute besser bekannt als der Maidanplatz. Diese erste Statue war nur der Auftakt zu weiteren Zerstö-rungen. So zerstörten Demonstranten seitdem rund 100 der insgesamt 1.500 Lenindenkmäler in der Ukraine, von Poltava bis Chernihiv, von Zhytomyr bis Khmelnytskyi.

Diese groß angelegte Zerstörung kom-munistischer und antifaschistischerer Denkmäler ist indes nichts Neues. Ich erinnere mich noch genau, wie bei der Auflösung von Jugoslawien in den 90ern eine der ersten Handlungen der Nationa-listen darin bestand, solche Monumente als Zeichen der Befreiung vom Kommu-nismus niederzureißen – im Glauben, dass die Demokratie nun endlich ange-kommen sei. Zwischen 1990 und 2000 wurden alleine in Kroatien mindestens 3.000 Denkmäler abgerissen, die zum Gedächtnis an Antifaschisten, an gefal-lene Partisanen und an unschuldige Op-fer des faschistischen Regimes errichtet worden waren.

»Good Bye, Lenin!« in der Ukraine

—Gibt es ein Europa ohne Lenin?

Auch als in Polen 1989 das kommu-nistische Regime durch ein demokrati-sches ersetzt wurde, machte man sich erbarmungslos an die Zerstörung kom-munistischer Denkmäler. Und im Jah-re 2007 diskutierte man sogar über ein neues Gesetz, welches die Entfernung aller Denkmäler aus der kommunisti-schen Ära legitimieren sollte. In Ungarn verbannte man die Denkmäler aus dem öffentlichen Raum in einen Gedenkpark, wo sie nun wie in einer Freak Show ver-sammelt sind. So darf es niemanden wundern, wenn sich in der Ukraine die Geschichte wiederholt …

Lenins VermächtnisBei der Auseinandersetzung, die wir ge-rade in der Ukraine beobachten, dreht es sich nicht nur um die Frage, ob man eher auf engere Beziehungen mit Russ-land oder der Europäischen Union set-zen soll. Es ist auch ein Kampf um Lenins Vermächtnis. Natürlich steht Lenin für einen Teil der ukrainischen Bevölkerung bloß noch für das postsozialistische Russland – und wird insofern mit dem Kommunismus nicht mehr in Verbindung gebracht. Dass man das aber auch ganz anders sehen kann, wird ausgerechnet

Text: Srecko Horvat

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»Good Bye, Lenin!« in der Ukraine

—Gibt es ein Europa ohne Lenin?

von der Abteilung für Presse und Infor-mation im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föde-ration bestätigt. So forderte diese Abtei-lung in einer öffentlichen Erklärung, die Zerstörung der Denkmäler zu stoppen, denn: „Russland ist angesichts der in der Ukraine laufenden Denkmal-Abriss-Kampagne empört.“ Diese Empörung erstaunt, schließlich hat das postsozialis-tische Russland nicht mehr das Gerings-te mit dem Kommunismus – und schon gar nicht mehr mit jenem Leninscher Prä-gung – zu tun. Warum also ist Lenin solch eine Schlüsselfigur? Um zu verdeutlichen, was die Statu-en von Lenin so symbolträchtig macht, möchte ich gerne zwei Filme anführen, in denen eine Statue von Lenin eine wich-tige Rolle spielt. Der erste Film ist das Meisterwerk Ulysses’ Gaze (Der Blick des Odysseus) vom griechischen Regisseur Theo Angelopoulos aus dem Jahr 1995. In einer Szene des Films ist eine Statue Lenins mit einem zerbrochenen Kopf auf einem Kahn zu sehen, der die Donau hi-nuntertreibt. Am Ufer stehen Bauern und bekreuzigen sich angesichts dieser Inkar-nation einer ehemaligen Gottheit. Diese Szene spielt zu einer Zeit, als der Eiser-ne Vorhang gerade erst gefallen und so

für viele Menschen aus dem Balkan das Ende des Kommunismus gekommen war. So erschließt sich die Bedeutung dieses Bildes: Der enthauptete Lenin steht für den Fall des Kommunismus. Gleichzeitig ist jedoch auf ein weiteres Detail dieses Bildes hinzuweisen: Auch wenn die Statue zertrümmert ist, so hat Lenin doch noch seinen Finger gebiete-risch erhoben und es scheint, als weise er in eine unbekannte Zukunft. Der zweite Film ist natürlich die deut-sche Tragikomödie Good Bye, Lenin! (2003) des Regisseurs Wolfgang Becker. Der Film spielt in Ostberlin im Jahre 1989. Um seine gerade aus einem langen Koma erwachte Mutter Christiane vor ei-nem fatalen Schock zu bewahren, muss ein junger Mann ihr die Tatsache vorent-halten, dass es die DDR, wie sie diese kannte und liebte, nicht mehr gibt. Eines Tages jedoch, als der Sohn schläft, ver-lässt die Mutter die Wohnung und wan-dert in einer surreal anmutenden Szene durch das neue Berlin. Dabei nimmt sie verwundert zur Kenntnis, dass ihre Nach-barn die alten DDR-Möbel zum Sperr-

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Bilder: Dan Perjovschi

Der KünstlerSeine Linien sind gestochen scharf, seine Zeich-nungen gehen unter die Haut. Der Künstler Dan Perjovschi lebt und arbeitet in Bukarest sowie in Sibiu, wo er 1961 geboren wurde. Ausgezeichnet wird er für sein großes gesellschaftliches Enga-gement in Rumänien und die Sprengkraft seiner Kunst in ganz Europa: 2013 gewann er zusammen mit Lia Perjovschi den European Cultural Foun-dation Princess Margriet Award. Die größten Museen der Welt stellen seine Werke aus: What Happened To Us? (Was ist mit uns passiert?) im Museum of Modern Art New York, The Room

Drawing (Die Raumzeichnung) im Tate Modern London, Naked Drawings (Nackte Zeichnungen) im Ludwig Museum Köln, New Europe (Neues Europa) in der Generali Foundation in Wien und der 9th Istanbul Biennial 2005. Im Kunstmagazin art veröffentlicht er regelmäßig seine eigene Zeichenserie. Dan Perjovschi, Erzähler der Glo-balisierung, könnte seinen Filzstift gegen das Skalpell tauschen. Seine aufklärerischen Zeich-nungen sezieren unsere Gesellschaft – präzise, intellektuell, gelenk, ironisch und hell.

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WEITWINKEL

Hier wird das Fernrohr gegen das Kaleidoskop getauscht und gezeigt, dass die Wirklichkeit viele Facetten hat.

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K U R Z E I L L U S T R AT I O N D E S A RT I K E L S

PROBLEM :

Manager entscheiden zu selten nach moralischen Kriterien und handeln in ökologischer und sozialer Hinsicht nicht nachhaltig genug.

ARGUMENT :

Manager haben unangemesse-ne Menschenbilder und falsche Modelle der Wirtschaft. Dies ver-ringert systematisch die Chancen für ökologisches, soziales und moralisches Unternehmertum.

LOSUNG :

In der Ausbildung der Manager müssen wir die Bedeutung der Frei-heit der Manager und damit ihre Verantwortung klar herausstellen.

Dies gelingt, indem man die ganz gewöhnlichen Laster sowie die ganz alltäglichen Tugenden der Menschen in die Modelle und Menschenbilder einpflegt.

So können Manager erkennen, dass sie mit den ethischen Res-sourcen ihrer Mitarbeiter und Kun-den verantwortungsvoll rechnen sowie frei wirtschaften können.

Dies führt zu einer Korrektur der Modelle der Wirtschaft und Men-schenbilder. Verbesserte Menschen-bilder und Modelle der Wirtschaft führen zu ökologischem, sozialem und moralischem Handeln.

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FRISCHLUFT

Sie befassen sich im Rahmen Ihrer Forschungstätigkeit mit Themen an der Schnittstelle von Ökonomie und Gesellschaft/Politik und loten neue Denkräume aus.

Stellen Sie Ihre Arbeit bei uns vor: [email protected]

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Die Tatsache, dass man sich immer mehr an Zahlen ausrichtet, hat auch mit der durch Zahlen suggerierten Neutralität und Objektivität zu tun – mithin dem vermeintlichen Ideal der Wissenschaft. Begriffe wie Freiheit und Verantwortung werden häufig subjektiv aufgeladen. Wird durch die Betonung dieser Begriffe letztlich der Neutralitätsanspruch aufgegeben?

Dass Wissenschaft wertfrei zu sein habe, ist selbst Ausdruck einer Wert-vorstellung. Dadurch, dass die Wissen-schaft bestimmte Phänomene beob-achtet und andere nicht, bestimmte Messgrößen verwendet und andere nicht, bestimmte Fragen für sinnvoll erklärt und andere nicht, ist sie implizit an Wertvorstellungen – davon, was gute Wissenschaft ausmacht – orien-tiert. Diese Werte sind zu explizieren und, wo nötig, zu kritisieren. Statt die hinter der ökonomischen Forschung stehenden Werte zu verstecken, sollten wir sie aufdecken, und ge-gebenenfalls verändern. Wir brauchen eine demo-kratische, keine technokratische Öko-nomik.

Eine neue Lehre muss her! Diese Schlussfolgerung könnte man aus Ihrer Argumentation ziehen. Über-schätzen Sie nicht die Rolle der Leh-re? Was bringt es, wenn sich die Lehre ändert, nicht aber das Wirt-schaftssystem, dessen Logik sich die späteren Absolventen unterzuordnen haben?

Das Wirtschaftssystem ändert sich ja stets – und zwar nicht nur von oben, das heißt durch die Politik. Das Wirtschafts-system ändert sich eben auch von un-ten, das heißt durch die sich wandelnde Konsumentennachfrage und das verän-derte Verhalten der Bürger sowie, ganz wichtig, aus der Mitte, aus den Unter-nehmen heraus und durch die Mitarbei-ter selbst. Darum fordere ich, dass wir uns in der Lehre nicht an einer fiktiona- lisierten Welt orientieren, in der Mana-ger durch quasi-naturgesetzliche Sach-notwendigkeiten gezwungen sind, das Gemeinwohl den Profiten zu opfern, sondern an der Welt, in der wir alle le-ben. Und in dieser realen Welt existie-ren oft eben auch Win-Win-Szenarien zwischen Ethik und finanziellem Erfolg. Diese Szenarien müssen wir analysieren, um sie zu skalieren. So kann gute Öko-nomik zu einer besseren Ökonomie füh-ren. Denn: Realismus schafft Relevanz. Nicht derjenige sieht an der Wirklichkeit vorbei, der die Gestaltungsfreiheit der Wirtschaftenden betont, sondern derje-nige, welcher sie verhöhnt. Nicht der größte Pessimist ist der wahre Realist, sondern derjenige, der neben allem Schlechten auch die Aspekte der Wirk-lichkeit erkennt – und nutzt –, die opti-mistisch stimmen.

Prof. Dr. Claus DierksmeierProf. Dr. Claus Dierksmeier ist Direktor des Welt-ethos Instituts an der Universität Tübingen und Academic Director des Humanistic Management Centers. Seine akademische Arbeit konzentriert sich auf Fragen der Politik-, Religions- und Wirt-schaftsphilosophie unter besonderer Berücksich-tigung von Theorien der Freiheit und der Verant-wortung im Zeitalter der Globalität.

N A C H G E F R A G T

— Im Kern Ihres Artikels „The Freedom-Responsibility Nexus in Management, Philosophy and Business Ethics“ steht die Aussage, dass in der Wirtschaft zu viele schlechte Entscheidungen ge-troffen werden. Wie unterscheiden Sie eine gute von einer schlechten Entscheidung?

Eine gute Entscheidung in der Wirt-schaft ist eine, die auch in der Gesell-schaft mehr Probleme löst, denn neue schafft.

Sie argumentieren, dass die Reduzie-rung des Menschen auf den so ge-nannten Homo oeconomicus in der ökonomischen Lehre dazu geführt hat, dass sich alle Entscheidungen an quantitativen Kriterien ausrichten. Ein Beispiel: Wie hoch ist der mögli-che Gewinn einer Investitionsent-scheidung? Gibt es ein qualitatives Kriterium, das wichtiger ist als der messbare Gewinn?

Qualitatives Denken schließt quantitati-ves Denken ein, nicht aus. Wenn eine Firma sich, über den Return on Invest-ment (RoI) hinaus, qualitative Ziele setzt, dann sollten sich diese Ziele genauso wie der RoI quantifizieren lassen. Aber: Abwägen kommt vor Abwiegen. Wir müssen erst sagen, was wir wollen, und dann, wie viel davon.

F R E I H E I T U N D V E R A N T W O RT L I C H K E I T

I N D E R M A N A G E R -A U S B I L D U N G

—The Freedom–Responsibility

Nexus in Management Philosophy and Business Ethics

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DER VERLUST DES FREIEN WILLENS

In der durch den Utilitarismus getragenen Entwicklung hin zu einer rechenbaren Wissen-schaft ist auch die Idee des freien Willens verloren gegangen. Philosophen beschreiben den freien Willen üblicherweise als die Möglichkeit, unsere Entscheidungen nicht nach den Bedürfnissen ausrichten zu müssen. So können auch religiöse oder gesellschaftliche Werte unsere Entscheidungen beeinflussen. Im Gegensatz dazu kennt der Utilitarismus als einzige Handlungsmaxime die Maximierung des Nutzens. Um den so handelnden Menschen zu beschreiben, hat sich in der Ökonomie über die letzten Jahre der Begriff des Homo oeco-nomicus herausgebildet. Natürlich gab es an diesem reduzierten Menschenbild schon früh Kritik, aber letztlich setzte sich die Idee des Soziologen Max Weber (1864–1920) durch, wonach die Ökonomie sich dar-auf beschränken solle, zu erklären, wie die Wirtschaft funktioniert. Die normativen Beurtei-lungen und Vorgaben solle sie der Politik überlassen (Werturteilsfreiheit).

DIE ARGUMENTATION

IM ÜBERBLICK

Der Aufsatz gliedert sich wie folgt:

Im ersten Schritt wird die gültige ökonomische Theorie dekonstruiert, um herauszufinden, wann und warum die Idee der Freiheit des Individuums aus der ökonomischen Theorie verschwunden ist.

Im zweiten Schritt werden die Konsequenzen, die sich aus dieser Tatsache auf die ökonomische Lehre ergeben, analysiert.

Im dritten Schritt wird das Fundament für eine neue ökonomische Theorie gelegt, welche die Tatsache berücksichtigt, dass auch der in ökonomischen Kon-texten agierende Mensch über gewisse Freiheiten verfügt und ihm somit auch Verantwortung für sein Handeln zukommt. Dies hat ferner zur Folge, dass es zu einem grundlegenden Wandel in der Manage-mentausbildung kommen muss: So muss es zukünftig darum gehen, Studenten von der Betriebsblindheit ihres eigenen Fachs zu befreien; ihnen also zu zei-gen, in welchem Maß ihr Bild von der Wirtschaft von den Modellen der Ökonomik selbst geformt wird, welche Aspekte der Wirklichkeit in diesem Bild ver-borgen bleiben und wie sie dennoch nutzbar sind.

UTILITARISMUS (von lat. utilitas: Nutzen) Theorie, derzufolge der Wert einer Hand-lung ausschließlich nach ihren Folgen bewertet wird. Bewertungsmaßstab ist der größtmögliche Nutzen für die größtmögli-che Anzahl von Menschen. Eine klassische Formulierung findet der Utilitarismus bei Jeremy Bentham (1748–1832), für den das Erleben von pleasure (Glück/Lust/Befriedi-gung) und pain (Schmerz/Unangenehmes) die Beweggründe allen menschlichen Han-delns sind. Weil das Interesse der Gemein-schaft die Summe der individuellen Interes-sen ist, muss folglich bei jeder Entscheidung abgewägt werden, wie das größte Glück für die größte Anzahl an Personen erreicht werden kann.

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VON DER QUALITATIVEN ZUR QUANTITATIVEN ÖKONOMIE

Noch bis vor circa 150 Jahren bestimmten qualitative Ziele den ökonomischen Diskurs. Dabei ging es um das subjektive Wohlbefinden des Einzelnen und den Wohlstand der Gesellschaft sowie das Zusammen-spiel von beiden.Die Wendung hin zu Zahlen und Funktionen in der Ökonomie erfuhr durch den Utilitarismus, der mit Verlauf des 19. Jahrhunderts immer populärer wurde, große Unterstützung. Inspiriert von den Argumenten der Utilitaristen träumte der englische Ökonom und Philosoph William Stanley Jevons (1835–1882) davon, die Ökonomie nur noch als Funktion von Schmerz und Freude behandeln zu können. Das fiel bei den Ökonomen auf fruchtbaren Boden, die bei dem Ver-such, so wissenschaftlich zu werden wie die Kollegen aus den Naturwissenschaften, immer mehr Bänder zu den Sozial- und Politikwissenschaften kappten und sich stattdessen an mathematischen und physikali-schen Modellen orientierten.

DER MARKT UND DER MANAGER

Basierend auf der Annahme, dass die Konsumenten immer das kaufen, wovon sie sich den größten Nutzen versprechen, wird der Markt ständig darüber in Kenntnis gesetzt, was gebraucht wird. Somit reduziert sich die Aufgabe von Unternehmen auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse; und da Unternehmen sich im ständigen Wettbewerb untereinander befinden, ist die Aufgabe des Managers ganz klar um-rissen: Er muss die Bedürfnisse der Kunden maximal befriedigen und dabei die Kosten minimieren.

HOMO OECONOMICUS In Abwandlung von Homo sapiens (von lateinisch homo = Mensch und sapiens = weise) bezeichnet Homo oeconomicus („Wirtschaftsmensch“) in der Wirtschaftsthe-orie das Modell eines ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denken-den und handelnden Menschen. Der Homo oeconomicus handelt rational, ist auf die Maximierung des eigenen Nutzens bedacht und vollständig über das Marktgeschehen informiert.

Unterhaltsamer als unsere Erklärung des Homo oeconomicus ist jene des bekannten Ökonomen Torstein Veblen, der ihn als eine Kreatur bezeichnet, „that of a lightning calculator of pleasures and pains, who oscillates like a homogeneous globule of desire of happiness under the impulse of stimuli that shift him about the area, but leave him intact. He has neither antecedent nor consequent. He is an isolated, definitive human datum, in stable equilibrium except for the buffets of the impinging forces that displace him in one direction or another. Self-poised in elemental space, he spins symmetrically about his own spiritual axis until the parallelogram of forces bears down upon him, whereupon he follows the line of the resultant. When the force of the impact is spent, he comes to rest, a self-contained globule of desire as before.“ (Veblen, T.: 1898, Why is Economics not an Evolutionary Science?, Quarterly Journal of Economics 12, p. 389)

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abgedichtet. Risiko-Komplexe in Wind-schneisen wurden mit Erdbebentapete ausgestattet, um sie gegen den Sturm zu schützen. Hochkalorische Lebensmit-tel wurden verteilt. Aber die Menschen reagierten mit Scheu. „Scheu“ – Nach-denklich wiederholte Mito den Begriff. „Das ist es, warum Europa so zurück-gefallen ist. Die Menschen sind tech-nikscheu. Technophob!“ Er lag damit vollkommen richtig. Vier Stunden pro Tag verbringt der Durchschnittseuro-päer damit, Entscheidungen zu treffen. Dabei kann man die meisten Entschei-dungen doch an Computer outsour-cen. Zum einen kommen die zu bes-seren Lösungen, zum anderen haben die Menschen mehr Zeit, um produktiv zu sein. Auch in der Politik würde man mit automatisierten Entscheidungen viel Gutes bewirken können. Gerade in der EU mit ihrer hochintegrierten Fort-schritts- und Wohlfahrtspolitik. „Bevor es dazu kommt, muss aber noch etwas anderes geschehen.“ Mito hatte meine Gedanken verfolgt. „Weißt du, warum die Chinesische Union so viel besser funktioniert als die Europäische Uni-on?“ Er beantwortete die Frage selbst: „Wir haben unseren Sand gemischt.“ Was er damit wohl gemeint hat? Ich melde mich die Tage wieder, wenn ich es herausgefunden habe. Versprochen!

Kai Jannek, Director Foresight Consulting bei Z_punkt

10.01.2051

Liebes Tagebuch,

die Kollegen in der Manufaktur haben meine neuen Charakterzüge offensicht-lich noch nicht bemerkt, obwohl ich die Genanpassung ja bereits vor einigen Tagen habe durchführen lassen. Auf je-den Fall bat Yong mich heute um einen Gefallen, bei dem es eher auf Sensi-bilität ankam. Ob ich einmal mit Mito, seinem humanoiden Roboter, sprechen könne. Der sei gerade etwas verstört aus Europa zurückgekehrt. Dort war er mit der Hilfsorganisation „Robotiers sans frontières“ im Nothilfeeinsatz und muss Schreckliches erlebt haben. Ich traf Mito im Meditationsraum der Manufaktur. Da lag der Roboter, alle Viere von sich gestreckt, auf einer dynamischen Yoga-Matte. Diese hatte die Struktur einer Blumenwiese ange-nommen und verströmte einen frischen Duft. Über Mito kreisten holografische Schmetterlinge. „Ich muss meine Ge-danken ein bisschen sortieren“, be-grüßte er mich halb entschuldigend. Ich setzte mich neben ihn. Nach einer Weile fing er an, von seinem Europa-Trip zu erzählen. „Das Schlimmste war nicht der Katastropheneinsatz, sondern die Zeit danach“, fing er an. „Ich habe dem Tod ins Auge geblickt. Die Men-schen sind alt in Europa. Und sie sehen auch so aus. Alt. Gebrechlich. Ohne Antrieb. Nicht wie in China. Hier gibt es junge Menschen, Zuwanderer. Es gibt auch alte Menschen, eingesesse-ne Chinesen vor allem, aber die sehen nicht so alt aus. Hier sehe ich Vitalität, in Europa …“ Er stockte, machte eine Pause. „Am ersten Tag war es okay, da

waren wir mit dem Einsatz beschäftigt. Aber am zweiten Tag … Ich habe nur geheult und konnte gar nicht mehr auf-hören.“ Ich blickte ihn an und sah, wie sich in seinen Augen wieder das Wasser sammelte. Ein Roboter, der wegen des Elends in der Welt heult. Muss man da Empathie aufbringen? Ich spürte kei-ne richtige Anteilnahme. Das konnte aber auch an meinem neuen Genpro-fil gelegen haben. Ich fragte ihn nach der Katastrophe, das interessierte mich mehr. Der Nordwesten Europas war erst von einer Starkregen-Front und dann von einer Jahrhundert-Sturmflut erfasst worden. Zahlreiche Küstenge-biete wurden überspült, aber auch im Hinterland traten viele Flüsse über die Ufer und richteten immense Schäden an. Besonders schwer hatte es England erwischt, das ohnehin schon ärmste Land Europas. England ist ja praktisch nie wieder auf die Füße gekommen, seit es die Europäische Union verlassen hat und seitdem sich Schottland und Wales von Großbritannien losgesagt haben. Auch die übrigen 43 EU-Staaten sind arm, aber im Vergleich zu England Oasen des Glücks. Deshalb führte der Hilfseinsatz Mito, ein Dutzend weiterer Humanoide sowie einige tausend Mi-crobots ins stark überschwemmte öst-liche London. Der Roboter berichtete, wie sie großflächig Superabsorber im Olympiastadion verstreuten und so ein gigantisches Wasserrückhaltebecken schufen. Infrastrukturen und Anwohner zu schützen, hatte höchste Priorität. Flussnahe Gebäude wurden rundum

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GEDANKENSPIELE

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