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S258 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 letztlich beantwortet. Dazu reicht das Datenmaterial noch nicht aus. Dieses Problem muss in Zukunft weiter bear- beiten werden, was von unserer Arbeits- gemeinschaft auch durchgeführt wird. Prof. Dr. Bühren, Murnau Der Patient muss mit entscheiden kön- nen. Er sollte mit diesen Therapiemög- lichkeiten konfrontiert werden, sie soll- ten ihm als alternative Behandlung vor- gestellt werden, und er sollte tatsächlich mit entscheiden. Bestehen noch Fragen oder Anmerkungen? Prof. Dr. Probst, Murnau Ich habe mich bereits vorher mit Herrn Prof. Dr. Blauth ein wenig über die Bio- mechanik verständigt und mir war noch nicht bekannt, dass das Gipsmieder wie- der zur Diskussion gestellt wird. Lorenz Böhler hat immer behauptet, bei keinem seiner Patienten sei ein Wirbel wieder zusammengesintert. Das entspricht je- doch nicht den Tatsachen, was sich bio- mechanisch auch sehr gut erklären lässt; denn durch seine Behandlung steht der gebrochene Wirbelkörper, gleich welcher Klassifikation, nicht mehr unter Muskelkraft und der biomechanische Bogen kann sich nicht wieder bilden. Ich würde aus meiner möglicherweise schon etwas antiquierten Sicht sagen, dass wir auf keinen Fall zu dieser Behandlungs- methode zurückkehren dürfen. Dann sollte lieber die Methode von Magnus zum Einsatz kommen; denn bei dieser wird die Eigenkomponente, das gesam- te Muskelsystem, in seiner Aktivität er- halten. Böhler hat inaktiviert, und das Aufstehen mit dem Gipsmieder ist lei- der eine fromme Selbsttäuschung; denn dadurch ist der gesamte Verspannungs- apparat außer Tätigkeit gesetzt worden. Gerade bei der hier auch angesproche- nen Kümmell-Verneuil-Krankheit war es der große Irrtum, dass angenommen wurde, der Defekt, bei dem es sich ja auch um einen funktionellen Defekt handelt, könne ohne Füllung aufgerich- tet werden und heilen. Ich möchte noch einen Schritt wei- tergehen, ich bin natürlich begeistert von allem, was hier heute vorgeführt worden ist. Diese operative Technik ist hochbegeisternd, sie ist nur natürlich noch nicht am Ende; denn sie unterläuft auch wieder unsere biomechanischen Bedingungen: Wenn ein Segment in die- ser Weise ruhig gestellt und nachher so- zusagen das Gerüst wieder benutzt wird, hat sich bis dahin noch nichts bilden können. Dieses Problem muss noch ge- löst werden, und es werden noch einige Generationen von Chirurgen daran zu arbeiten haben. Aber überlegen sie in ih- rer Studie bitte auch, was wohl besser sein wird: Gipsmieder und schnell ent- lassen oder lieber die funktionelle Be- handlung. Letztere ist zwar aufgrund des stationären Aufenthalts kostenintensi- ver, wird aber m. E. der Natur leichter zur Selbstheilung verhelfen. Trauma Berufskrankh 2000 · 2 [Suppl 2]: S258–S259 © Springer-Verlag 2000 Wirbelsäulenverletzungen Wolf Mutschler 1 · Volker Bühren 2 1 Chirurgische Universitätsklinik Innenstadt, München 2 Berufsgenossenschaftlliche Unfallklinik Murnau Aktuelle Entwicklungen in der Behandlung der Wirbelsäulenverletzungen (ohne HWS und RMV) Diskussion mit dem Auditorium Prof. Dr.W. Mutschler Chirurgische Universitätsklinik Innenstadt, Nussbaumstraße 20, 80336 München Prof. Dr. Bühren, Murnau Vielen Dank Herr Prof. Dr. Blauth. Sie haben die Problematik sehr gut heraus- gearbeitet.Vor allem haben sie die klas- sischen Fälle dargestellt, namentlich die Frakturen, die auf den ersten Blick knö- chern als gar nicht schwerwiegend er- kannt werden, aber beim zweiten Hinse- hen oder manchmal auch erst aus dem Verlauf heraus zeigen, dass doch die dorsale Verletzung im Vordergrund steht und dann zum Abkippen neigt. Dies sollte im Gedächtnis behalten werden. Es reicht nicht, den vorderen Anteil des Wirbelkörpers zu analysieren und da- nach die therapeutische Entscheidung zu treffen. Es ist auf der anderen Seite aber auch nicht ausreichend, zu sagen, dass es sich um einen Wirbelbruch mit Hinterkantenbeteiligung handelt, der operiert werden muss. So einfach ist es leider nicht. Wenn ich sie richtig inter- pretiere, schlägt das Pendel derzeit wie- der zum konservativen Vorgehen. Wir versuchen im zunehmenden Maß wie- der, A3-Brüche konservativ zu behan- deln. Ist das ein richtiger Eindruck? Prof. Dr. Blauth, Hannover Ich denke, die Frage darf nicht ganz als beantwortet bezeichnet werden. In die- ser Hinsicht ist Vorsicht am Platz. Die Tendenz,A3-Brüche, also die Brüche mit Hinterkantenfragment, wieder konser- vativ zu behandeln, ist m. E. nicht sehr groß, die Frage ist einfach noch nicht M. Blauth, Hannover: Operative versus funktionelle Behand- lung Manuskript nicht eingegangen

Aktuelle Entwicklungen in der Behandlung der Wirbelsäulenverletzungen (ohne HWS und RMV)

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S258 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

letztlich beantwortet. Dazu reicht dasDatenmaterial noch nicht aus. DiesesProblem muss in Zukunft weiter bear-beiten werden, was von unserer Arbeits-gemeinschaft auch durchgeführt wird.

Prof. Dr. Bühren, Murnau

Der Patient muss mit entscheiden kön-nen. Er sollte mit diesen Therapiemög-lichkeiten konfrontiert werden, sie soll-ten ihm als alternative Behandlung vor-gestellt werden, und er sollte tatsächlichmit entscheiden. Bestehen noch Fragenoder Anmerkungen?

Prof. Dr. Probst, Murnau

Ich habe mich bereits vorher mit HerrnProf. Dr. Blauth ein wenig über die Bio-mechanik verständigt und mir war nochnicht bekannt, dass das Gipsmieder wie-der zur Diskussion gestellt wird. LorenzBöhler hat immer behauptet, bei keinemseiner Patienten sei ein Wirbel wiederzusammengesintert. Das entspricht je-doch nicht den Tatsachen, was sich bio-mechanisch auch sehr gut erklären lässt;denn durch seine Behandlung steht der gebrochene Wirbelkörper, gleichwelcher Klassifikation, nicht mehr unterMuskelkraft und der biomechanischeBogen kann sich nicht wieder bilden. Ichwürde aus meiner möglicherweise schonetwas antiquierten Sicht sagen, dass wirauf keinen Fall zu dieser Behandlungs-methode zurückkehren dürfen. Dannsollte lieber die Methode von Magnuszum Einsatz kommen; denn bei dieserwird die Eigenkomponente, das gesam-

te Muskelsystem, in seiner Aktivität er-halten. Böhler hat inaktiviert, und dasAufstehen mit dem Gipsmieder ist lei-der eine fromme Selbsttäuschung; denndadurch ist der gesamte Verspannungs-apparat außer Tätigkeit gesetzt worden.Gerade bei der hier auch angesproche-nen Kümmell-Verneuil-Krankheit wares der große Irrtum, dass angenommenwurde, der Defekt, bei dem es sich jaauch um einen funktionellen Defekthandelt, könne ohne Füllung aufgerich-tet werden und heilen.

Ich möchte noch einen Schritt wei-tergehen, ich bin natürlich begeistertvon allem, was hier heute vorgeführtworden ist. Diese operative Technik isthochbegeisternd, sie ist nur natürlichnoch nicht am Ende; denn sie unterläuftauch wieder unsere biomechanischenBedingungen: Wenn ein Segment in die-ser Weise ruhig gestellt und nachher so-zusagen das Gerüst wieder benutzt wird,hat sich bis dahin noch nichts bildenkönnen. Dieses Problem muss noch ge-löst werden, und es werden noch einigeGenerationen von Chirurgen daran zuarbeiten haben.Aber überlegen sie in ih-rer Studie bitte auch, was wohl bessersein wird: Gipsmieder und schnell ent-lassen oder lieber die funktionelle Be-handlung.Letztere ist zwar aufgrund desstationären Aufenthalts kostenintensi-ver, wird aber m. E. der Natur leichterzur Selbstheilung verhelfen.

Trauma Berufskrankh2000 · 2 [Suppl 2]: S258–S259 © Springer-Verlag 2000 Wirbelsäulenverletzungen

Wolf Mutschler1 · Volker Bühren2

1Chirurgische Universitätsklinik Innenstadt, München2Berufsgenossenschaftlliche Unfallklinik Murnau

Aktuelle Entwicklungen in der Behandlung der Wirbelsäulenverletzungen(ohne HWS und RMV)Diskussion mit dem Auditorium

Prof. Dr.W. MutschlerChirurgische Universitätsklinik Innenstadt,Nussbaumstraße 20, 80336 München

Prof. Dr. Bühren, Murnau

Vielen Dank Herr Prof. Dr. Blauth. Siehaben die Problematik sehr gut heraus-gearbeitet.Vor allem haben sie die klas-sischen Fälle dargestellt, namentlich dieFrakturen, die auf den ersten Blick knö-chern als gar nicht schwerwiegend er-kannt werden, aber beim zweiten Hinse-hen oder manchmal auch erst aus demVerlauf heraus zeigen, dass doch diedorsale Verletzung im Vordergrund stehtund dann zum Abkippen neigt. Diessollte im Gedächtnis behalten werden.Es reicht nicht, den vorderen Anteil desWirbelkörpers zu analysieren und da-nach die therapeutische Entscheidungzu treffen. Es ist auf der anderen Seiteaber auch nicht ausreichend, zu sagen,dass es sich um einen Wirbelbruch mitHinterkantenbeteiligung handelt, deroperiert werden muss. So einfach ist esleider nicht. Wenn ich sie richtig inter-pretiere, schlägt das Pendel derzeit wie-der zum konservativen Vorgehen. Wirversuchen im zunehmenden Maß wie-der, A3-Brüche konservativ zu behan-deln. Ist das ein richtiger Eindruck?

Prof. Dr. Blauth, Hannover

Ich denke, die Frage darf nicht ganz alsbeantwortet bezeichnet werden. In die-ser Hinsicht ist Vorsicht am Platz. DieTendenz,A3-Brüche, also die Brüche mitHinterkantenfragment, wieder konser-vativ zu behandeln, ist m. E. nicht sehrgroß, die Frage ist einfach noch nicht

M. Blauth, Hannover:Operative versus funktionelle Behand-lung

Manuskript nicht eingegangen

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 S259

Prof. Dr. Blauth, Hannover

Wenn ich darauf antworten darf. Ichstimme ihnen in dieser Hinsicht voll-kommen zu, aber wie sie auch wissen, istmein Chef Österreicher und bei uns wares früher durchaus üblich, dass die Pati-enten in dieser Form gegipst wurden.Diese Behandlung ist sicherlich in den80-er Jahren noch gängig gewesen. Mei-nes Erachtens muss dieser Art von Be-handlung in unseren Gedanken nochRechnung getragen werden, weil sienoch verbreitet ist, was wahrscheinlichkeiner zugeben würde. Auf der anderenSeite sind solche Gipse doch noch zu se-hen. Vielleicht wird diese Behandlungvon ihnen nicht mehr durchgeführt, abersie ist durchaus noch in Anwendung.

Prof. Dr. Mutschler, München

Ich würde hierzu gerne 2 Punkte anfü-gen:

1. Es gibt schöne Untersuchungen dazu,dass allein aufgrund einer anderen Einstel-lung des Röntgenzentralstrahls eine Aufrich-tung eines Wirbelkörpers um 50° erreichtwerden kann. Dies wurde auch von uns aneinigen Wirbeln nachgewiesen, allein durchdie Röntgentechnik kann virtuell eine Auf-richtung eines Wirbelkörpers erzeugt wer-den. Dieser Punkt ist m. E. wichtig.

2. Wenn eine operativ stabilisierte Wirbel-säule vorliegt und der Fixateur interne mitDehnungsmessstreifen bestückt wird unddie Krafteinleitung gemessen wird, kann klargezeigt werden, dass für operierte Wirbel-säulen der Effekt durch das Anlegen einesGipsmieders oder eines Korsetts oder wasauch immer bezüglich der Beweglichkeitund der Krafteinleitung auf diesen Fixateurgleich null ist.

Die Studie aus Berlin mit 10 Patientenzeigte, dass der Gipsmieder und dasKorsett überhaupt keine Stabilisie-rungsfunktion haben.

Prof. Dr. Blauth, Hannover

Die Methode ist dennoch nach wie vorim Gedächtnis und wird noch disku-tiert, und ich möchte nicht als Vertreterdieser Ideen dastehen.

Prof. Dr. Mutschler, München

Dies wurde auch nicht angenommen.

Prof. Dr. Weckbach, Würzburg

Im Prinzip stimme ich dem zu, aber esexistiert dennoch eine Verletzung, beideren Behandlung das Gipskorsett dochnoch angebracht ist oder als Alternativezur Operation angebracht sein kann: die

Schantz-Verletzung. Diese ist ruhig ge-stellt, sie ist eine druckstabile Verlet-zung,also die 2-Säulen-transversäre Ver-letzung, und heilt im Gipsmieder aus.Das ist sicher eine gute Indikation trotzaller biomechanischer Überlegungen.

Prof. Dr. Mutschler, München

Dies trifft für Kindern zu, wie auch an-gesprochen. Es ist auch von Wichtigkeit,immer wieder die kindlichen Verletzun-gen zu diskutieren, die sehr selten sind,uns aber immer wieder Probleme berei-ten, weil nicht so recht bekannt ist, wasgetan werden kann und welche Schädenin Zukunft auftreten werden.

Prof. Dr. Blauth, Hannover

Bei Kindern trifft dies auch für B- undC-Verletzungen zu, zudem wird dieGipsbehandlung bei A-Verletzungendiskutiert, und zwar in der Form, dassdie Reklination durch das Mieder einenWachstumsreiz darstellen soll, der dazuführen soll, dass der kyphosierte Wir-belkörper schneller wieder hochwächst.Das ist alles völlig unbewiesen und wirdin Zukunft zu klären sein. Deshalb wur-de unsere Studie mit Kindern begonnen.