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674 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Bautechnik 90 (2013), Heft 10 DOI: 10.1002 / bate.201300054 BERICHT Miron Mislin Albert Kahn, Industriearchitekt 1 Kurzbiographie ALBERT KAHN wurde am 21. März 1869 in Rhaunen, 35 km südwestlich von Mainz, als erstes Kind von ROSALIE und Rabbi JOSEPH KAHN geboren. Die Familie emigrierte nach Detroit/USA. Weil JOSEPH KAHN keine Stelle als Rabbi fand, musste er seine Familie als wan- dernder Obsthändler ernähren. ALBERT übernahm als äl- testes Kind mit erst elf bis zwölf Jahren verschiedene Jobs anstatt regelmäßig die Schule zu besuchen. A. KAHN hatte Zeichenunterricht beim ebenfalls aus Deutschland emigrierten Bildhauer JULIUS MELCHER, bei dem zwanzig Jahre früher auch DANKMAR ADLER, der spätere Ingenieur-Architekt aus Chicago, unterrichtet worden war. Möglicherweise erhielt KAHN 1884 durch die Vermittlung von MELCHER eine vierjährige Lehrlings- stelle als Bauzeichner im Baubüro von Mason & Rice in Detroit. 1890 im Alter von 21 Jahren gewann KAHN eine von der Zeitschrift „American Architect and Building News“ gestiftete Studienreise für einen einjährigen Auf- enthalt in Europa. Nach seiner Rückkehr wurde er 1891 bei Mason und Rice zum „Chiefdesigner“ ernannt. Nach einer Praxis von zwölf Jahren eröffnete KAHN 1896 mit den Teilhabern ALEXANDER B. TROWBRIDGE und GEORGE NETTLETON ein eigenes Büro. Die Teilhaber schieden nach wenigen Jahren aus, der neue Teilhaber ERNEST WILLBY blieb von 1902 bis 1918 KAHNs Partner. Alle Brüder von A. KAHN wurden von ihm bis zu ihrer Graduierung als Ingenieure finanziell unterstützt. JULIUS KAHN schloss sein Bauingenieurstudium an der Universi- tät von Michigan mit dem C. E.-Grad (Civil Engineer) ab und setzte sich bald als Pionieroffizier der amerikani- schen Armee für die Anwendung von Stahlbeton ein. Be- reits 1903 hat er ein Patent für Stahlbetonbewehrung er- worben. Dieses „Kahn-System“ wurde später bei verschie- denen Projekten des Planungsbüros A. KAHN angewen- det. Auch die beiden jüngeren Brüder MORITZ und LOUIS wurden Bauingenieure und haben im Büro KAHN als lei- tende Ingenieure gearbeitet haben [1]. Mit den Aufträgen von H. FORD wuchs das Büro zu einem der größten Ame- rikas. In den 1920er-Jahren hatte das Büro etwa 400 Mit- arbeiter, neben Architekten auch Bau-, Maschinenbau- und Elektroingenieure. Bis zu seinem Tod baute A. KAHN über 2 500 Fabrikanlagen. Allein zwischen 1929 und 1932 plante und baute sein Büro 521 Fabrikanlagen für die Sowjetunion. 2 Die frühen Fabrikanlagen Bereits bei den frühen Aufträgen für Industriebauten ge- lang es A. KAHN, wegweisende Lösungsansätze zu entwi- ckeln, die einen Wendepunkt der Industriearchitektur darstellen. An diese soll hier nochmals erinnert werden. Durch die Bekanntschaft mit HENRY JOY , Generaldirek- tor der Packard Motor Car Company, erhielt A. KAHN den ersten großen Auftrag für den Bau von neun Fabrik- gebäuden (1903–1905). Da dieser auch Vorsitzender des Kuratoriums der Universität von Michigan war, wurde KAHN gleichzeitig beauftragt, das Engineering Building der Universität von Michigan neu zu bauen. Die neun Fa- brikgebäude für die Packard Motor Car Company bilde- ten im Grundriss ein großes Quadrat, u. a. mit folgenden Gebäuden: eine mechanische Werkstatt, die Kraftzentra- le, Montagehalle, Lagerräume und Büros, alle noch sehr konventionell gebaut. Am 8. Dezember 2012 jährte sich der 70. Todestag von ALBERT KAHN, dessen innovative Industriebauten am Anfang des 20. Jahrhunderts in Amerika und weltweit Schule gemacht haben. Wie kein anderer hat er die Industriearchitektur revolutioniert, die sich wegen ihrer sachlichen und technischen Aufgaben- stellung im 19. Jahrhundert als Stiefkind der Architektur im Schatten des Eklektizismus nur schwer behaupten konnte. Er wies den Weg zu einer primär konstruktiv bestimmten Indus- triearchitektur. Keywords Industriearchitektur Albert Kahn, Architect of Ford Seventy years ago, on the 8th of December 2012, ALBERT KAHN died at the age of 73. He developed new types of manufactur- ing facilities, particularly automobile plants, which soon at- tracted the attention of avantgarde architects. He revolution- ized the design for factory buildings, which until then had been frowned upon by the École des Beaux-Arts trained architects and freed industrial architecture from the traditional stylistic rules of design. He showed the way to a primarily constructive architectural design. Keywords Industrial architecture

Albert Kahn, Industriearchitekt

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Page 1: Albert Kahn, Industriearchitekt

674 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Bautechnik 90 (2013), Heft 10

DOI: 10.1002 / bate.201300054

BERICHTMiron Mislin

Albert Kahn, Industriearchitekt

1 Kurzbiographie

ALBERT KAHN wurde am 21. März 1869 in Rhaunen,35 km südwestlich von Mainz, als erstes Kind von ROSALIE und Rabbi JOSEPH KAHN geboren. Die Familieemigrierte nach Detroit/USA. Weil JOSEPH KAHN keineStelle als Rabbi fand, musste er seine Familie als wan-dernder Obsthändler ernähren. ALBERT übernahm als äl-testes Kind mit erst elf bis zwölf Jahren verschiedene Jobsanstatt regelmäßig die Schule zu besuchen.

A. KAHN hatte Zeichenunterricht beim ebenfalls ausDeutschland emigrierten Bildhauer JULIUS MELCHER, beidem zwanzig Jahre früher auch DANKMAR ADLER, derspätere Ingenieur-Architekt aus Chicago, unterrichtetworden war. Möglicherweise erhielt KAHN 1884 durchdie Vermittlung von MELCHER eine vierjährige Lehrlings-stelle als Bauzeichner im Baubüro von Mason & Rice inDetroit. 1890 im Alter von 21 Jahren gewann KAHN einevon der Zeitschrift „American Architect and BuildingNews“ gestiftete Studienreise für einen einjährigen Auf-enthalt in Europa. Nach seiner Rückkehr wurde er 1891bei Mason und Rice zum „Chiefdesigner“ ernannt. Nacheiner Praxis von zwölf Jahren eröffnete KAHN 1896 mitden Teilhabern ALEXANDER B. TROWBRIDGE undGEORGE NETTLETON ein eigenes Büro. Die Teilhaberschieden nach wenigen Jahren aus, der neue TeilhaberERNEST WILLBY blieb von 1902 bis 1918 KAHNs Partner.

Alle Brüder von A. KAHN wurden von ihm bis zu ihrerGraduierung als Ingenieure finanziell unterstützt. JULIUS

KAHN schloss sein Bauingenieurstudium an der Universi-tät von Michigan mit dem C. E.-Grad (Civil Engineer) abund setzte sich bald als Pionieroffizier der amerikani-

schen Armee für die Anwendung von Stahlbeton ein. Be-reits 1903 hat er ein Patent für Stahlbetonbewehrung er-worben. Dieses „Kahn-System“ wurde später bei verschie-denen Projekten des Planungsbüros A. KAHN angewen-det. Auch die beiden jüngeren Brüder MORITZ und LOUIS

wurden Bauingenieure und haben im Büro KAHN als lei-tende Ingenieure gearbeitet haben [1]. Mit den Aufträgenvon H. FORD wuchs das Büro zu einem der größten Ame-rikas. In den 1920er-Jahren hatte das Büro etwa 400 Mit-arbeiter, neben Architekten auch Bau-, Maschinenbau-und Elektroingenieure. Bis zu seinem Tod baute A. KAHN

über 2 500 Fabrikanlagen. Allein zwischen 1929 und1932 plante und baute sein Büro 521 Fabrikanlagen fürdie Sowjetunion.

2 Die frühen Fabrikanlagen

Bereits bei den frühen Aufträgen für Industriebauten ge-lang es A. KAHN, wegweisende Lösungsansätze zu entwi-ckeln, die einen Wendepunkt der Industriearchitekturdarstellen. An diese soll hier nochmals erinnert werden.Durch die Bekanntschaft mit HENRY JOY, Generaldirek-tor der Packard Motor Car Company, erhielt A. KAHN

den ersten großen Auftrag für den Bau von neun Fabrik-gebäuden (1903–1905). Da dieser auch Vorsitzender desKuratoriums der Universität von Michigan war, wurdeKAHN gleichzeitig beauftragt, das Engineering Buildingder Universität von Michigan neu zu bauen. Die neun Fa-brikgebäude für die Packard Motor Car Company bilde-ten im Grundriss ein großes Quadrat, u. a. mit folgendenGebäuden: eine mechanische Werkstatt, die Kraftzentra-le, Montagehalle, Lagerräume und Büros, alle noch sehrkonventionell gebaut.

Am 8. Dezember 2012 jährte sich der 70. Todestag von ALBERT

KAHN, dessen innovative Industriebauten am Anfang des 20.Jahrhunderts in Amerika und weltweit Schule gemacht haben.Wie kein anderer hat er die Industriearchitektur revolutioniert,die sich wegen ihrer sachlichen und technischen Aufgaben-stellung im 19. Jahrhundert als Stiefkind der Architektur imSchatten des Eklektizismus nur schwer behaupten konnte. Erwies den Weg zu einer primär konstruktiv bestimmten Indus-triearchitektur.

Keywords Industriearchitektur

Albert Kahn, Architect of FordSeventy years ago, on the 8th of December 2012, ALBERT KAHN

died at the age of 73. He developed new types of manufactur-ing facilities, particularly automobile plants, which soon at-tracted the attention of avantgarde architects. He revolution-ized the design for factory buildings, which until then had beenfrowned upon by the École des Beaux-Arts trained architectsand freed industrial architecture from the traditional stylisticrules of design. He showed the way to a primarily constructivearchitectural design.

Keywords Industrial architecture

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Erst die neue Fabrik Nr. 10 (1905) wurde unter der Bera-tung von J. KAHN aus Stahlbeton geplant. Der Bauwar ursprünglich zweigeschossig für 322 × 60 Fuß (98 ×18,30 m) sowie mit Stützen im Abstand von 32 Fuß(9,82 m) geplant, wurde später aufgestockt und bis zueiner Länge von 457 Fuß (139,38 m) erweitert. Das Stahl-betonskelett aus Stützen und Decken wurde nach dem„Kahn-System“ bewehrt (Bild 1) [2]. Die Verwendung desStahlbetonskeletts ermöglichte KAHN eine Konstruktionmit großen Fensterflächen von der Decke bis zum Fußbo-den. Unterhalb der Fensterbrüstungen wurden die Mauer-streifen mit Ziegeln vermauert (Bild 2) [3].

Häufig wird argumentiert, dass etwa zur gleichen Zeit(1903–1905) bereits der Bauingenieur E. RANSOME dieviergeschossige Fabrik von United Shoe Machinery Co.

in Beverly/Massachusetts ebenfalls in Stahlbeton gebauthat [4]. Die Fabrik wurde jedoch in der zu der Zeit übli-chen Gestaltung mit kleinen Fensteröffnungen errichtet,ohne dabei die spezifischen Materialeigenschaften desStahlbetons zu nutzen, z. B. große Räume zu schaffen. Zudieser Zeit hat A. KAHN (1903–1904) die Fabrik des„American Arithmometer Company“ in Detroit entwor-fen, die aus einer Konstruktion mit Stahlbetondeckenund Stützen zur Vorderseite hin bestand. Die innerenReihen von Stützen waren die damals noch üblichengusseisernen Hohlsäulen. Die Stahlbetonbalken sindnoch nicht nach dem „Kahn-System“ armiert. Die tragen-de Konstruktion der 19 Sheds (Bild 3) der mechanischenWerkstatt setzte sich aus [-Stahlprofilen zusammen. DasPrinzip der großen Fensteröffnungen in Verbindung mitFassadenstützen gleicht dem der späteren Fabrik für

Bild 1 „Kahn-System“, Zeichnung nach RICHEY, Handbook 1905The Kahn-System of reinforced concrete used by “The Trussed concrete Steel Company”

Bild 2 Packard Fabrik, Fassade und Schnitt, Detail, 1905The Packard Motor Company, Building No. 10

Bild 3 Amerikanisches Arithmometer, 1904American Arithmometer, Factory 1904, Cross section

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Packard von 1905. Auch hier wurden die Brüstungsfelderunterhalb der Fenster mit Ziegeln vermauert [5]. Diefrühe Anwendung des Stahlbetons wurde mit der größe-ren Feuersicherheit und einer relativ schnellen Bauzeitbegründet. Beim Building Nr. 10 von Packard wurde aberdie Stahlbetonkonstruktion außerdem für eine größereFlexibilität des Raumes und damit für die Organisationdes Produktionsprozesses genutzt.

Das nächste Projekt war die Automobilfabrik von GeoN. Pierce in Buffalo/N. Y. von 1906, für das eine Pla-nungsgemeinschaft zwischen A. KAHN und der Ingenieur-gesellschaft Lockwood, Greene und Co. in Boston ge-gründet wurde. Wahrscheinlich waren ALBERT und JULI-US KAHN mit ihrer Firma für die Baukonstruktion unddas Layout verantwortlich [6]. Das Layout zeigt acht Ge-

bäude, die auf zwei Achsen hintereinander angeordnetwaren (Bild 4). Entlang der Eisenbahnlinie von Buffalonach New York erstreckten sich die Garage (55 × 139 Fuß[16,77 × 42,40 m]), die Gelbgießerei (377 × 55 Fuß [116 ×16,77 m]) und die Kraftzentrale (55 × 186 Fuß [16,77 ×56,80 m]). Fast T-förmig zu den genannten Gebäudenschließen sich die mechanischen Werkstätten (401 × 205Fuß [122 × 63 m]) und die Montagehalle (401 × 61 Fuß[122 × 18,60 m]) an, durch eine Zufahrtstraße getrenntsetzt sich der Fabrikkomplex fast E-förmig durch dasBody Building mit zwei Flügeln (401 × 60 Fuß [122 ×18 m]) fort.

Westlich wird der Fabrikkomplex von dem Verwaltungs-gebäude flankiert. Die gesamte Anlage ist bis auf das zwei-geschossige Verwaltungsgebäude eingeschossig. Das Dach

Bild 4 Layout der Automobilfabrik Geo N. Pierce, 1906, BauzeichnungGeo N. Pierce Plant. Plan and reinforcing bar detail

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der Werkstätten und der Montagehalle konnte also füreine natürliche Belichtung genutzt werden. Die mechani-schen Werkstätten waren in der Längsrichtung mit Shedsüberdacht. Die Fensteröffnungen erhielten Stahlrahmen.Die Shedbetonplatten wurden durch Stahlbalkenträgergetragen, die auf Stahlbetonstützen ruhten. Die einge-schossige Montagehalle überragte in der Höhe die mecha-nische Werkstatt und wurde mit Sheds über die gesamteLänge überdacht. Die tragende Konstruktion bestand ausStahlbeton. Die Fassaden aller Fabrikgebäude erhieltengleich große Fensteröffnungen, Stahlbetonstützen ähnlichdem System von der Packard Fabrik Nr. 10 [7].

Die Motoren wurden in der Montagehalle zusammenge-setzt und in der Prüfstation getestet. Bereits hier wurdendie Grundlagen des Konstruktionskonzeptes entlang demMaterialfluss gelegt, das wenig später bei den Ford-Fabri-ken zum ausgereiften Konzept der Fließbandproduktionführte. Bis auf die Halle der Continental Motor Companyin Detroit von 1911, die eine eingeschossige Flachbauhal-le mit einer tragenden Stahlskelettkonstruktion undSheds für die Überdachung und Belichtung aufwies, wur-den alle Fabrikbauten von A. KAHN (Burroughs AddingMachine C. [1907], Chalmers Motor Car Co. [1907], Mer-genthaler Linotype Co. [1907] und der Brownlipe ChapinCo. in Syracuse [1907-1909]) mehrgeschossig in Stahlbe-tonbauweise mit vorgefertigten Metallrahmenfenstern ge-baut [8].

Erhalten ist eine Bauzeichnung für den Neubau der Bur-roughs Adding Machine Co., die im Maßstab 1/16 Zoll :1 Fuß am 12. Oktober 1916 erstellt wurde (Bild 5) [8]. Im

Querschnitt des fünfstöckigen Baus wird die Stahlbeton-konstruktion sehr deutlich: Decken und die Stützen mitpilzförmigen Kapitellen lassen eine konstruktive Ähnlich-keit mit den Ford-Bauten der gleichen Zeit erkennen. DieGeschosshöhen variieren: EG 16 Fuß (4,88 m), 1. bis 3.OG 13 Fuß 7 Zoll (4,13 m) und im 4. OG 13 Fuß 11/2Zoll (4,09 m). Die Fensterbreiten betrugen umgerechnetca. 5, 82 m. Der Grundriss der 2. bis 4. OG zeigt eine Ge-bäudelänge auf der Grundlage von 25 Feldern à 20 Fuß(6 m) auf ca. 152,50 m und einer Breite von 18,30 m. Esgab keine Trennwände, dadurch ergab sich ein offenerRaum, der für jede Produktionsänderung flexibel war.Treppenhaus, Fahrstuhl und Toiletten wurden aus diesemGrund in einem Turm außerhalb der Geschossflächen zu-sammengefasst. Ein breiter mittiger Korridor verband die-ses Fabrikgebäude mit dem dahinter befindlichen Bau.Zum seitlichen Nachbargebäude wurden Fußgängerbrü-cken im 2. und 3. OG errichtet.

3 Highland Park 1909–1918

1908 bekommt ALBERT KAHN den ersten Auftrag vonHENRY FORD für den Bau einer neuen Automobilfabrikin Highland Park bei Detroit/Michigan. FORD kannte dieAutomobilfabriken von KAHN für Packard und Pierce. H.FORD wollte das neue Modell „T“ produzieren, das ineiner neuen Fabrik hergestellt werden sollte, in der dieSerienproduktion und die dazu gehörigen mechanisiertenVerfahren für die Fertigungstechnik neue Maßstäbe fürdie Produktion setzen würden. Die langjährige Beziehungzwischen dem Architekten ALBERT KAHN und dem Un-

Bild 5 Borrough Adding Factory, 1916Borrough Adding Factory 1916, cross section and elevation

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ternehmer HENRY FORD, die von 1908 bis zum Tod vonKAHN im Dezember 1942 dauerte, erinnert ein wenig andie Beziehung zwischen EMIL RATHENAU, dem General-direktor der AEG, und dem Architekten PETER BEHRENS

in den Jahren 1907 bis ca. 1918.

Bis 1909 wurden die Ford Automobile in der Fabrik ander Piquette Avenue in Detroit produziert, die noch1904 in Ziegelbauweise mit schmalen Fensteröffnungenkonventionell in der Tradition des 19. Jahrhunderts ge-baut worden war. Bei der Planung der neuen Fabrik ori-entierte sich A. KAHN im Layout und in den Proportio-nen der Geschosse und der Fensteröffnungen an demModell der Packard Fabrik Nr. 10. Das Gebäude derneuen Fabrik mit den Montagewerkstätten des erstenBauabschnittes befand sich zwischen Woodward Ave-nue, im Norden an der Eisenbahnlinie des Detroit Ter-minals Company und im Süden an der Manchester Ave-nue auf einem Gelände von 820 × 901 Fuß 6 Zoll (250 ×275 m). Das nach Südwesten ausgerichtete Gebäude derMontagewerkstätten des ersten Bauabschnittes an derWoodward Avenue wurde 1909 als viergeschossigesStahlbauskelett mit einer Länge von 865 Fuß (264 m)und einer Tiefe von 75 Fuß (23 m) errichtet [9]. Die tra-gende Konstruktion setzte sich aus einem kombiniertenStahlskelett mit Betondecken zusammen. Der Abstandder Stützen betrug 20 Fuß (6 m). Zwischenwände warennicht vorgesehen. Die großen Öffnungen wurden mitvorgefertigten Stahlrahmen und Glasfenstern ausgefüllt.Von der Decke fast bis zum Fußboden erstreckte sichdas Glas, sodass bei dieser Fabrik der Prototyp einer „Tageslichtfabrik“ (daylight factory) verwirklicht werdenkonnte. Davon profitierten vor allem die Arbeiter, aberdie Transportbänder und die Arbeitsbänke konntenauch bis an die Fenster heranrücken. Über 70 % desBaus waren verglast.

Da auf Trennwände verzichtet wurde, erreichte die Fa-brik ein hohes Maß an Flexibilität, die den Veränderun-gen der Produktion entgegen kam. Am 1. Januar 1910wurde der erste Bau des Highland Park-Fabrikkomplexesfertiggestellt. Durch die offenen Räume konnte der Ein-bau von Fließbändern und von anderen Transportbän-dern sehr schnell eingerichtet werden. Bei einer näherenBetrachtung der Baupläne sieht die tatsächliche Baukon-struktion anders als bisher in der Literatur dargestellt aus:Der Bau war keine reine Stahlbetonkonstruktion. Es han-delt sich vielmehr um eine kombinierte Konstruktioneines Stahlbauskeletts, aus einem Gerüst von Stahlstüt-zen zu den Außen- und Innenseiten, das mit Stahlträgernals Unterzüge verbunden wurde. Die Stützen wurden ausGründen der Feuersicherheit mit Beton ummantelt. Nurdie Geschossdecken bestanden aus Stahlbetonplatten,die aber auf Stahldeckenträgern als Untergurte befestigtwaren. Diese Deckenkonstruktion könnte als „Stahlträ-gerverbunddecke“ bezeichnet werden.

Diese Decken waren hoch belastbar und konnten weitge-spannt konstruiert werden, so wie es für eine Automobil-fabrik notwendig war. Das statische Prinzip war klar ab-

lesbar: Die Betonplatte war für den Druck und die Stahl-träger als Untergurte für den Zug zuständig. Die Innen-stützen als Druckglieder wurden aus zwei U-Stahlprofilenrechteckförmig gebildet, durch Flacheisen miteinanderverbunden und vernietet. Die Stützenköpfe erhielten un-terhalb der Decken, dort wo die Profilstahlträger der obe-ren mit den unteren Geschossträgern durch Winkeleisenund Niete miteinander verbunden und mit Beton um-mantelt wurden, jeweils einen verdickten Säulenkopf,ähnlich wie pilzförmige Stützenköpfe bei der Stahlbeton-bauweise.

Auffallend sind die großen Unterzüge von Doppel I-Trä-gern, wie z. B. von ca. 24 × 80 Zoll (ca. 610 × 300 mm)und die kleinen Unterzüge von ca. 12 Zoll × 55′′′ (ca. 300× 125 mm), die wie Betonrippen wirken sollten. Die I-Trä-ger des Daches waren mit ca. 18 Zoll × 55′′′ (ca. 450 ×190 mm) kleiner dimensioniert. Da die Geschosshöhendifferierten: EG, 14 Fuß (4, 27 m), 1. und 2. OG 12 Fuß(3,66 m) und 3. OG 13 Fuß 2 Zoll (3,96 m) wurden auchdie Stützen unterschiedlich dimensioniert: EG [-Profilvon 9 Zoll × 15′′′ (ca. 230 × 80 mm), 1. OG 9 Zoll × 13′′′(ca. 230 × 70 mm), 2. OG und 3. OG 9 Zoll × 17′′′ (ca.230 × 75 mm). Die Außenstützen zwischen den Fenster-öffnungen waren keine Stahlbeton-stützen, sondern Stüt-zen aus Stahlprofilen (Doppel I-Träger), die mit Betonummantelt wurden. Sie sind einheitlich mit 12 Zoll × 51′′′(ca. 380 × 130 mm) im Bauplan angegeben [10].

Die Fensteröffnungen der Vorderseite erhielten kräftigeFensterbänke aus vorgefertigtem Beton. Die Brüstungs-höhen in der Innenseite des Raumes betrugen im 1. bis3. OG ca. 61 cm und im EG ca. 85 cm. Die Höhe des Ge-bäudes bis zur Dachbalustrade betrug nach der Bauzeich-nung 15,55 m [11]. Das flache Dach erhielt im Quer-schnitt in der Höhe über der zweiten mittleren Stütze einGefälle von ca. 2 Fuß (ca. 61 cm) und in der Längsrich-tung ein Gefälle von ca. 61 cm. Ein Blick auf den Lage-plan mit den unterschiedlichen Gebäuden und Funktio-nen vom 20. Februar 1914 zeigt, dass hinter dem langenGebäude mit den Montagewerkstätten von 1909 bis 1910und den Nachbargebäuden ein freier Korridor von 57Fuß Breite (17,38 m) für den 5-t-Laufkran gebaut wurde.Der Laufkran lief in der Höhe des Dachgesimses. Dieserviergeschossige Krankorridor wurde durch ein Pfosten-fachwerk mit einem polygonalen Obergurt abgedeckt [12].

Hinter dem langen Gebäude mit den Montagewerkstät-ten befand sich eine flache Maschinenwerkstatt, die mitSheds abgedeckt war (840 × 140 Fuß, 256 × 43 m). Auchdie Flachbauhalle war durch einen Laufkrankorridorbaulich unterteilt. Ein Vergleich mit der etwas späterenLuftbildaufnahme von 1915–18 zeigt, dass es zwischender viergeschossigen Montagefabrik und der flachen Ma-schinenhalle zwar einen Krankorridor gab, aber der Hö-henunterschied musste durch lange Stahlstützen ausgegli-chen werden.

Entlang der Woodward Avenue ersteckte sich die langeVorderfassade des ersten Bauabschnittes. Die architekto-

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nisch betonten Gebäudeecken und die Gebäudemitte mitden Türmen wurden aber aus Stahlbeton gebaut, dessenAußenhaut gegenüber den sichtbaren hellen Betonstrei-fen der Obergeschosse dunkel behandelt und durch Ge-simse um Fenster- und Türöffnungen zurückhaltend de-koriert wurde. Zu den Seitenstraßen, wie z. B. zur Man-chester Avenue, wurden die späteren Erweiterungen vielsachlicher ohne jede dekorativen Ergänzungen gebaut.

Nach der Bauzeichnung vom April 1914 wurden in High-land Park quer zur neuen Straße John R. und entlang derManchester Avenue zwei Montagefabriken mit einem ge-meinsam überdachten Laufkrankorridor geplant. Die Ge-samtlänge betrug 842 Fuß (257 m). Diesmal waren dieGebäude sechsgeschossig und mit einem Stahlbetonske-lett errichtet. Der Querschnitt zeigt, dass sich das Stahlbe-tonskelett aus zwei Reihen von runden Säulen mit pilz-förmigen Säulenköpfen und Stahlbetondecken zusam-mensetzte (Bild 6). Die Stützen der Außenwände warenrechteckig. Bemerkenswert sind jedoch die beiden Rei-hen mit den runden Hohlstützen, die mit Kanälen fürHeißluft versehen waren. Die Aggregate für die Heizungwaren auf dem Dach angebracht. Im Längsschnitt durchden Laufkrankoridor sieht man, dass die hervortreten-den, offenen Podeste nicht übereinander, sondern an ver-schiedenen Stellen angebracht wurden. Eiserne Gitter,die bei Bedarf abnehmbar waren, sperrten quasi als Bal-kongeländer die offenen Geschosse und Podeste ab. DieGeschosshöhen waren von unten nach oben gezählt: EG14 Fuß 4 Zoll (4,37 m), 1. bis 4. OG 12 Fuß (3,66 m), 5.

OG 11 Fuß 10 Zoll (3,60 m). Abgedeckt wurde der Lauf-krankorridor durch doppelte Polonceau-Dachbinder. AlsDachpfetten wurden [-Stahlprofile vorgesehen, darüberwurde der Glasrahmen befestigt. Mit diesem Baukomplexgelangen A. KAHN folgende Verbesserungen bei der Pla-nung seiner Fabriken:

1. Stahlbeton oder Stahlbauskelettkonstruktion ohneZwischenwände,

2. Glasfenster von der Decke bis zur niedrigen Fenster-brüstung sowie

3. Galerien zu beiden Seiten des Laufkrans für die Entla-dung und den Transport von Materialien und Halbfa-brikaten.

4 Zusammenfassung

Packard Fabrik Nr. 10 war die erste Fabrik, die in Stahl-betonbauweise in Detroit/Michigan gebaut wurde, undeine der ersten in Amerika. Bei den Highland Park-Fabri-ken kam noch eine kombinierte Konstruktion aus Stahlund Beton zur Ausführung. Durch den Verzicht aufTrennwände konnte eine große Flexibilität erreicht wer-den. Die Erfahrungen der ersten Fabrikbauten lehrten A.KAHN und H. FORD, dass sich Flachbauhallen für dieFließbandproduktion von Automobilen mit einer effizien-teren Fertigungstechnik am besten eignen. Diese Erfah-rungen konnten bei den Fabrikbauten River Rouge er-probt werden, die in Stahlbauweise errichtet wurden [13].

Bild 6 Highland Park, Querschnitt, 1914Ford Motor Company: Highland Park, Michigan, The building annexed to the original factory, cross section

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Literatur

[1] HILDEBRANDT, G.: Designing for the Industry. The Archi-tecture of Albert Kahn. Cambridge/Mass.: MIT-Press, 1974.

[2] FERRY, H. W.: The Buildings of Detroit. Detroit, 1968,p. 181.

[3] Collection Albert Kahn. Bentley Library, Ann Arbor/Michi-gan.

[4] American Machinist 1907, 35, Nr. 15.[5] KAHN, A.: Factory of the American Arithmometer Compa-

ny. Detroit/Michigan, The American Architect and BuildingNews 68, (1905), No. 1527, Tafel 1.

[6] BUCCI, F.: Albert Kahn. Architect of Ford. New York:Princeton Architectural Press 2002, p. 3031.

[7] HILDEBRANDT, G.: New Factory for the Geo N. Pierce Com-pany, Buffalo. New York, 1906, SAH, 29 (1970), No. 1, pp.51–55.

[8] Collection Albert Kahn. Bentley Library, Ann Arbor/Michi-gan, Job No. 300 k, Sheet 7.

[9] HUXTABLE, A. L.: Factory for Ford Motor Company 1900–1914. Progressive Architecture, 38 (1957), No. 11, pp. 181 f.

[10] Collection Albert Kahn. Bentley Library, Ann Arbor/Michi-gan, Job No. 300 k, Sheet 3 M.

[11] Collection Albert Kahn. Bentley Library, Ann Arbor/Michi-gan, FHP 00010

[12] ARNOLD, H. L., FAUROTE, F. L.: Fords Methods and theFord Shops. New York: The Engineering Magazine Compa-ny 1919, pp. 23–26.

[13] MISLIN, M.: Industriebauten von Albert Kahn. Zum 70. To-destag. Stahlbau, 81 (2012), H. 12, S. 976–981.

Ich bedanke mich bei der Bentley Hostorical Library, AnnArbor, Michigan und bei The Albert Kahn Family of Companiesfür die großzügige Hilfe und Bereitstellung des Bildmaterials.

AutorProf. Dr.-Ing. habil. Miron MislinBüro für Baugeschichte & IndustriebauDüsseldorfer Straße 110719 Berlin