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Aldous Huxley DIE PFORTEN DER WAHRNEHMUNG HIMMEL UND HÖLLE Erfahrungen mit Drogen Aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka

Aldous Huxley - Die Pforten Der Wahrnehmung

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Aldous Huxley

DIE PFORTENDER WAHRNEHMUNG

HIMMEL UND HÖLLE

Erfahrungen mit Drogen

Aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka

Page 2: Aldous Huxley - Die Pforten Der Wahrnehmung

Ungekürzte Taschenbuchausgabe10., durchgesehene Auflage September 198120. Auflage April 1998© 1954 und 1956 Laura HuxleyTitel der englischen Originalausgabe:»The Doors of Perception« und »Heaven and Hell«,Chatto & Windus, London 1954 und 1956© der deutschsprachigen Ausgabe:1970 Piper Verlag GmbH, MünchenUmschlag: Büro HamburgSimone Leitenberger, Susanne Schmitt, Andrea LührUmschlagabbildung: Masami Yokoyama/photonicaGesamtherstellung: Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany ISBN 3-492-20006-0

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ZU DIESEM BUCH

Die beiden epochemachenden Essays Aldous Huxleys berichten vonEntdeckungsreisen zu den »Antipoden unseres Bewusstsein«, in Regio-nen des Seins, die nur im Zustand der Entrückung zu erreichen sind.In den »Pforten der Wahrnehmung« schildert Huxley seine Experimen-te mit Meskalin, die zu einer außerordentlichen visuellen Wahrneh-mungsfähigkeit führten, zum Erlebnis des »Wunders der reinenExistenz«. Die moralische und geistige Quintessenz dieser Erfahrungwird auch in dem Essay »Himmel und Hölle« analysiert, in dem derAutor darlegt, dass sich das Paradies der »Neuen Welt des Geistes«durch Emotionen wie Furcht und Hass in sein Gegenteil verkehrenkann.

Aldous Leonard Huxley, am 26. Juli 1894 in Godalming/Surrey ge-boren, wurde in Eton erzogen, studierte nach einer schweren Augen-krankheit englische Literatur in Oxford und war ab 1919 zunächst alsJournalist und Theaterkritiker tätig. 1921 begann er mit der Veröffent-lichung seines Romans »Eine Gesellschaft auf dem Lande« seine literari-sche Laufbahn. Sein 1932 erschienener Roman »Schöne neue Welt«,eine ironisch-satirische Zukunftsvision, erlangte Weltruhm. Von 1938an lebte er in Kalifornien. Huxley starb am 22. November 1963 inHollywood.

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INHALT

Die Pforten der Wahrnehmung...............................................5

Himmel und Hölle...............................................................57

Anhang.................................................................................97

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DIE PFORTEN DER WAHRNEHMUNG

MEINE ERFAHRUNG MIT MESKALIN

Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, erschiene denMenschen alles, wie es ist: unendlich.

William Blake

Im Jahre 1886 veröffentlichte der deutsche Pharmakologe LudwigLewin die erste systematische Untersuchung über das Gewächs, dasspäter seinen Namen erhielt. Anhalonium Lewinii war der Wissenschaftnoch unbekannt. Primitiven Religionen und den Indianern Mexikosund des Südwestens von Nordamerika war dieser Kaktus seit undenkli-chen Zeiten ein guter Freund; tatsächlich mehr als ein Freund, denn,wie ein früher spanischer Besucher1 der Neuen Welt berichtete, »sie es-sen eine Wurzel, die sie Peyotl nennen, und sie verehren sie, als wäre sieeine Gottheit«.

Warum sie das taten, wurde klar, als so hervorragende Psychologenwie Jaensch, Havelock Ellis und Weir Mitchell ihre Versuche mit Mes-kalin, dem Wirkstoff des Peyotl, begannen. Sie gingen freilich nicht soweit, einen Abgott daraus zu machen; aber alle wiesen sie einhellig demMeskalin einen ganz besonderen Platz unter den Rauschmitteln zu. Ingeeigneten Dosierungen verabreicht, verändert es die Qualität des Be-wusstseins gründlicher und ist dabei weniger toxisch als jede andereSubstanz aus dem Fundus der Pharmakologen.

Die Meskalinforschung ist seit Lewin und Havelock Ellis von Zeitzu Zeit immer wieder aufgenommen worden. Es gelang Chemikernnicht nur, das Alkaloid zu isolieren; sie lernten auch, es synthetisch her-zustellen, so dass der Vorrat nicht mehr von der spärlichen und nurzeitweiligen Ernte eines Wüstenkaktus abhängt. Psychiater nahmen sel-ber Meskalin, weil sie hofften, dadurch zu einem besseren, aus ersterHand gewonnenen Verständnis der psychischen Prozesse bei ihren Pa-

1) Bernardino de Sahagun (1499-1596), der 1526 als Ordensgeistlicher nach Mexikokam (Anm. d. Übers.)

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tienten zu gelangen. Psychologen beobachteten, wenngleich leider anzu wenigen Versuchspersonen und unter zu stark eingeschränkten Be-dingungen, einige der auffallenderen Wirkungen dieses Präparats undbeschrieben sie. Neurologen und Physiologen entdeckten einiges, wasAufschluss über die Wirkung der Droge auf das Zentralnervensystemgab. Und mindestens ein Philosoph nahm Meskalin, um dadurch wo-möglich Licht in so uralte ungelöste Rätsel zu bringen, wie sie die Fra-gen darstellen, welche Bedeutung dem Geist in der Natur zukommeund welche Beziehung zwischen Gehirn und Bewusstsein bestehe.2

Und dabei blieb es, bis vor wenigen Jahren eine neue und vielleichthöchst bedeutsame Tatsache beobachtet wurde.3

In Wirklichkeit hatte sich diese Tatsache schon mehrere Jahrzehntelang nahezu aufgedrängt; aber wie es sich traf, hatte niemand sie be-merkt, bis einem jungen englischen Psychiater, der gegenwärtig in Ka-nada arbeitet, die große Ähnlichkeit in der chemischenZusammensetzung von Meskalin und Adrenalin auffiel. Im Verlaufweiterer Forschungen erwies es sich, dass Lysergsäure, ein äußerst star-ker, aus Mutterkorn gewonnener Erreger von Halluzinationen, einestrukturelle biochemische Verwandtschaft mit den beiden genanntenSubstanzen hat. Dann folgte die Entdeckung, dass Adrenochrom, einZerfallsprodukt des Adrenalins, viele der beim Meskalinrausch beob-

2) Den ersten Selbstversuch mit von ihm rein dargestellten Meskalin machte 1897 derdeutsche Pharmakologe Arthur Heffter (1859-1925). Vgl. A. Guttmann, »Medikamentö-se Persönlichkeitsspaltung« (Monatsschrift f. Psychiatrie und Neurologie, Bd. 56, 1924)und K. Beringer, Der Meskalinrausch, 1927. (Anm. d. Übers.)

3) Vgl. die folgenden Arbeiten:

»Schizophrenia: A New Approach«. By Humphry Osmond and John Smythies. Jour-nal of Mental Science. Vol. XCVIII. April 1952.

»On Being Mad«. By Humphry Osmond. Saskatchewan Psychiatric Services Journal.Vol. I No. 2. September 1952.

»The Mescalin Phenomena«. By John Smythies. The British Journal of the Philosophy ofScience. Vol. III. February 1953.

»Schizophrenia: A New Approach«. By Abram Hoffer, Humphry Osmond and JohnSmythies. The Journal of Mental Science. Vol. c. No. 418. January 1954.

Seitdem sind zahlreiche andere biochemische, pharmakologische, psychologische undneurophysiologische Arbeiten über Schizophrenie und die bei Meskalingenuss auftreten-den Erscheinungen veröffentlicht worden.

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achteten Symptome hervorrufen kann. Adrenochrom aber bildet sichim menschlichen Körper wahrscheinlich von selbst. Mit anderen Wor-ten, jeder von uns ist vielleicht fähig, in sich eine chemische Substanzzu erzeugen, von der, wie man nun weiß, winzige Mengen tiefgreifendeVeränderungen des Bewusstseins bewirken. Einige dieser Veränderun-gen gleichen den bei der Schizophrenie auftretenden – derjenigenKrankheit, die eine der charakteristischsten Heimsuchungen der Men-schen im 20. Jahrhundert darstellt. Hat die geistige Störung eine che-mische Ursache? Und ist die chemische Störung ihrerseits durchseelische Prozesse bedingt, die auf die Nebennieren einwirken? Eine sol-che Behauptung wäre voreilig. Wir können noch nicht mehr sagen, alsdass ein begründeter Verdacht besteht. Mittlerweile geht man den An-haltspunkten systematisch weiter nach, und die Detektive - Biochemi-ker, Psychiater und Psychologen – verfolgen die Spur.

Durch eine für mich äußerst günstige Verknüpfung von Umstän-den befand ich mich im Frühjahr 1953 auf dieser Spur. Einer der De-tektive war beruflich nach Kalifornien gekommen. Trotz der siebzigJahre lang betriebenen Meskalinforschung war das psychologische Ma-terial, das ihm zur Verfügung stand, noch immer in höchstem Maßeunzulänglich, und er unternahm den Versuch, es zu erweitern. Ich warzur Stelle und bereit, ja begierig, Versuchskaninchen zu sein. So kames, dass ich an einem schönen Maimorgen vier Zehntelgramm Meska-lin, in einem halben Glas Wasser aufgelöst, schluckte und mich dannhinsetzte, um die Wirkung abzuwarten.

Wir leben miteinander, wir beeinflussen uns gegenseitig und reagie-ren aufeinander; aber immer und unter allen Umständen sind wir ein-sam. Die Märtyrer schreiten Hand in Hand in die Arena; gekreuzigtwerden sie allein. In ihren Umarmungen versuchen Liebende verzwei-felt, ihre jeweilige Ekstase in einer gemeinsamen Transzendenz zu verei-nigen – jedoch vergebens. Die Natur verurteilt jeden Geist, der ineinem Körper lebt, dazu, Leid und Freud in Einsamkeit zu erduldenund zu genießen. Empfindungen, Gefühle, Einsichten, Einbildungen –sie alle sind etwas Privates und nur durch Symbole und aus zweiterHand mitteilbar. Wir können Berichte über Erfahrungen austauschenund sammeln, niemals aber die Erfahrungen selbst. Von der Familie bis

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zur Nation – jede Gruppe von Menschen stellt eine Inselwelt dar, wo-bei jede Insel ein Weltall für sich bildet.

Die meisten Inseln haben soviel Ähnlichkeit miteinander, dass Ver-ständnis oder sogar wechselseitige Einfühlung möglich wird. So kön-nen wir, indem wir uns unserer eigenen schmerzlichen Verluste undSchicksalsschläge erinnern, mit anderen Menschen in gleichen Umstän-den fühlen, können uns (natürlich immer in einem ein wenig pickwi-ckischen Sinn) an ihre Stelle versetzen. Aber in bestimmten Fällen istdiese Möglichkeit der Kommunikation zwischen einem Universumund dem anderen unvollständig oder gar nicht vorhanden. Der Geistist sein eigener Ort, und die von Geisteskranken und aussergewöhnlichBegabten bewohnten Orte sind so verschieden von denen, wo gewöhn-liche Menschen leben, dass wenig oder kein gemeinsamer Boden derErinnerung vorhanden ist, der als Grundlage für Verstehen oder Mitge-fühl dienen könnte. Wohl werden Worte geäußert, aber sie vermögennichts zu erhellen. Die Dinge und Ereignisse, auf die sich die Symbolebeziehen, gehören Erfahrungsbereichen an, die einander ausschließen.

Uns selbst zu sehen, wie andere uns sehen, ist eine sehr heilsameGabe. Kaum weniger wichtig ist die Fähigkeit, andere zu sehen, wie sieselbst sich sehen. Was aber, wenn die anderen einer ganz verschiedenenSpezies angehören und ein von Grund auf fremdes Weltall bewohnen?Zum Beispiel, wie können geistig Gesunde je erfahren, was für ein Ge-fühl es eigentlich ist, wahnsinnig zu sein? Oder wie können wir, wennwir nicht eben ein Visionär, ein Medium oder ein musikalisches Geniesind, je in die Welten gelangen, in denen Blake, Swedenborg, JohannSebastian Bach sich bewegten? Und wie kann ein Mensch, der an denäußersten Grenzen von Ektomorphismus und Zerebrotonie4 steht, sichan die Stelle des an den Grenzen von Endomorphismus und Viszeroto-nie Stehenen denken oder in mehr als bestimmten eng umschriebenenBereichen die Gefühle eines Menschen teilen, der an den Grenzen desMesomorphismus und der Somatotonie steht? Einem überzeugten Ver-

4) Gemäß der von William Sheldon in The Varieties of Human Physique und The Va-rieties of Temperament aufgestellten, die Typologien von Kretschmer, Jung u.a. an Genau-igkeit und Anpassungsfähigkeit übertreffenden Einteilung nach physischen(Nervensystem, Muskulatur, Verdauungsorgane) und psychischen Komponenten (gehirn-betonter, muskelbetonter, bauchbetonter Typus). (Anm. d. Übers.)

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fechter des Behaviorismus stellen sich derartige Fragen vermutlichnicht. Aber für diejenigen, die als Theorie übernehmen, was ihnen ausder Praxis als wahr bekannt ist – nämlich, dass es neben der äußerenauch eine innere Erfahrung gibt –, sind die aufgeworfenen Problemewirkliche Probleme, die sich um so mehr aufdrängen, als einige völligunlösbar, andere nur unter außergewöhnlichen Umständen und durchnicht jedermann zur Verfügung stehende Methoden lösbar sind. So istes so gut wie sicher, dass ich nie wissen werde, was für ein Gefühl es ist,Sir John Falstaff oder Joe Louis, der schwarze Weltmeister im Boxen,zu sein. Andererseits hielt ich es immer für möglich, dass ich zum Bei-spiel durch Hypnose, Autosuggestion, durch regelmäßige Meditationoder auch durch das Einnehmen eines geeigneten chemischen Präparatsmeinen Bewusstseinszustand so verändern könnte, dass ich in die Lageversetzt würde, in meinem Inneren selbst die Erfahrung zu machen,von der der Visionär, das Medium, ja sogar der Mystiker berichten.

Nach allem, was ich über die Erfahrungen mit Meskalin gelesenhatte, war ich im voraus überzeugt, dass diese Droge zumindest für einpaar Stunden Zugang zu jener inneren Welt gewähren würde, die vonWilliam Blake und A.E.5 beschrieben wurde. Aber was ich erwartet hat-te, trat nicht ein. Ich hatte erwartet, vor meinen geschlossenen Augenwürden Visionen von vielfarbigen geometrischen Formen auftauchen,von unerhört schönen, ein eigenes Leben besitzenden architektonischenGebilden, von Landschaften mit heroischen Gestalten, von symboli-schen Dramen, die ständig höchste Offenbarung verhießen. Wie sichjedoch erwies, hatte ich nicht mit den Idiosynkrasien meiner geistigenKonstitution, mit den Gegebenheiten meines Temperaments, meinerErziehung und meiner Gewohnheiten gerechnet.

Mein visuelles Gedächtnis, meine visuelle Phantasie sind und wa-ren, solange ich mich erinnern kann, immer wenig ausgeprägt. Worte,sogar die bedeutungsvollen Worte der Dichter, vermögen in meinemGeist keine Bilder hervorzurufen. Auch Schlafmittel erzeugen bei mirkeine Visionen, die mich auf der Schwelle des Einschlafens in Empfangnehmen. Erinnerungen bieten sich mir nicht als lebhaft wahrgenom-

5) Pseudonym des mystischen irischen Dichters G. W. Russel (1864-1935) (Anm. d.Übers.)

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mene Bilder oder Gegenstände dar. Mit einiger Willensanstrengungbin ich in der Lage, ein nicht eben lebhaftes Bild dessen in mir herauf-zurufen, was gestern nachmittag geschah, wie der Lungarno ausgesehenhatte, bevor die Brücken zerstört wurden, oder die Bayswater Road, alsdie einzigen Omnibusse, die dort verkehrten, grün und winzig warenund von bejahrten Gäulen gezogen wurden, wobei sie eine Geschwin-digkeit von fünf Stundenkilometern erreichten. Aber solche Bilder ha-ben wenig Substanz und absolut kein Eigenleben. Zwischen ihnen undden wirklich wahrgenommenen Gegenständen besteht dasselbe Ver-hältnis wie zwischen Homers Geistern und den Menschen von Fleischund Blut, die sie im Schattenreich besuchten. Nur wenn ich Fieberhabe, erwachen meine inneren Bilder zum Leben. Menschen, bei denendie Fähigkeit zu visueller Vergegenwärtigung stark entwickelt ist, müss-te meine innere Welt merkwürdig farblos, beschränkt und uninteres-sant erscheinen. Dies war die Welt – »ein armselig Ding, aber meineigen« –, von der ich erwartete, dass sie sich in etwas völlig Entgegenge-setztes verwandeln würde.

Die Veränderung, die tatsächlich in dieser Welt vorging, war in kei-nem Sinn revolutionär. Eine halbe Stunde nachdem ich das Meskalingenommen hatte, wurde ich mir eines langsamen Reigens goldenerLichter bewusst. Ein wenig später zeigten sich prächtige rote Flächen,und sie schwollen an und dehnten sich aus, wurden von hellen Energie-knoten gespeist, die sich ständig veränderten und dabei stets neue, vi-brierende Muster bildeten. Als ich meine Augen erneut schloss,enthüllte sich mir ein Komplex grauer Formen, in dem ständig bläu-lichblasse Kugeln auftauchten, sich mit ungeheurer Gewalt zusammen-ballten, um dann geräuschlos nach oben zu gleiten und zuverschwinden. Aber weder erschienen Gesichter noch menschliche odertierische Gestalten. Ich sah keine Landschaften, keine riesigen Weiten,kein zauberhaftes Wachsen und Sichverändern von Gebäuden, nichts,was im entferntesten einem Drama oder einer Parabel glich. Die »ande-re Welt, zu der das Meskalin mir Zutritt gewährte, war nicht die Weltder Visionen; sie existierte draussen, war das, was ich mit offenen Au-gen sehen konnte. Die große Veränderung vollzog sich im Bereich ob-

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jektiver Tatsachen. Was mit meinem subjektiven Weltall geschehenwar, war verhältnismäßig unbedeutend.

Ich schluckte meine Pille um elf Uhr. Eineinhalb Stunden spätersaß ich in meinem Arbeitszimmer und blickte angespannt auf eine klei-ne Glasvase. Die Vase enthielt nur drei Blumen – eine voll erblühteRose mit dem Namen »Schöne aus Portugal«, sie war muschelrosa, miteiner wärmeren, flammenderen Tönung am unteren Rand jedes Blü-tenblattes; eine große magentarote und cremeweisse Nelke und auf ge-kürztem Stängel die blassviolette, sehr heraldische Blüte einerSchwertlilie. Nur zufällig und vorläufig zusammengetan, verstieß daskleine Sträußchen gegen alle Regeln herkömmlichen guten Ge-schmacks. Beim Frühstück an diesem Morgen war mir die lebhafteDisharmonie seiner Farben aufgefallen. Aber auf sie kam es nicht län-ger an. Ich blickte jetzt nicht auf eine ungewöhnliche Zusammenstel-lung von Blumen. Ich sah, was Adam am Morgen seiner Erschaffunggesehen hatte – das Wunder, das sich von Augenblick zu Augenblickerneuernde Wunder bloßen Daseins.

»Ist es angenehm?« fragte jemand. (Während dieses Teils des Expe-riments wurde alles, was gesprochen wurde, von einem Diktiergerätaufgenommen, und es war mir daher möglich, meine Erinnerung spä-ter aufzufrischen.)

»Weder angenehm noch unangenehm«, antwortete ich. »Es ist.«

Istigkeit – war das nicht das Wort, das Meister Eckhart so gerne ge-brauchte? Das Sein der platonischen Philosophie – nur dass Plato denungeheuren, den grotesken Irrtum begangen zu haben schien, das Seinvom Werden zu trennen und es dem mathematischen Abstraktum derIdee gleichzusetzen. Der arme Kerl konnte nie gesehen haben, wie Blu-men aus ihrem eigenen inneren Licht heraus leuchteten und so großeBedeutung erlangten, dass sie unter dem Druck erbebten, der ihnenauferlegt war; er konnte nie wahrgenommen haben, dass das, was Roseund Schwertlilie und Nelke so eindringlich darstellten, nichts mehrund nichts weniger war, als was sie waren – eine Vergänglichkeit, diedoch ewiges Leben war, ein unaufhörliches Vergehen, das gleichzeitigreines Sein war, ein Bündel winziger, einzigartiger Besonderheiten, wo-

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rin durch ein unaussprechliches und doch selbstverständliches Parado-xon der göttliche Ursprung allen Daseins sichtbar wurde.

Ich blickte weiter auf die Blumen, und in ihrem lebendigen Lichtglaubte ich das qualitative Äquivalent des Atmens zu entdecken – abereines Atmens ohne das wiederholte Zurückkehren zu einem Ausgangs-punkt, ohne ein wiederkehrendes Verebben; nur ein Fluten von Schön-heit zu immer größerer Schönheit, von tiefer zu immer tiefererBedeutung. Wörter wie »Gnade« und »Verklärung« kamen mir in denSinn, und eben dafür standen diese Worte auch. Meine Augen wander-ten von der Rose zur Nelke und von diesem gefiederten Erglühen zuden glatten Schnörkeln des Gefühl verströmenden Amethysts der Iris.Die beseligende Schau, Sat Chit Ananda, Seins-Gewahr-seins-Seligkeit– zum erstenmal verstand ich, losgelöst von der Bedeutung der Wörterund nicht durch unzusammenhängende Andeutungen oder nur ent-fernt, sondern deutlich und vollständig, worauf sich diese bedeutungs-vollen Silben beziehen. Und dann erinnerte ich mich einer Stelle, dieich bei dem Zen-Philosophen Suzuki gelesen hatte. »Was ist der Dhar-ma-Leib des Buddha?« (Der Dharma-Leib des Buddha ist ein andererAusdruck für Geist, So-Sein, die große Leere, die Gottheit.) Die Fragewird in einem Zen-Kloster von einem ernsten Novizen gestellt. Undmit der prompten Irrelevanz eines der Marx Brothers antwortet derMeister: »Die Hecke am Ende des Gartens.« – »Und der Mensch, derdiese Wahrheit begreift« fragt der Novize zweifelnd weiter, »was, wennich fragen darf, ist der?« Groucho gibt ihm mit seinem Stab eins auf dieSchulter und antwortet: »Ein Löwe mit einem goldenen Fell«

Als ich diesen Text gelesen hatte, war er für mich nur ein ver-schwommen bedeutungsvolles Stückchen Ungereimtheit gewesen. Nunwar alles klar wie der Tag, es war so unmittelbar einleuchtend wie Eu-klid. Selbstverständlich war der Dharma-Leib des Buddha die Heckeam Ende des Gartens. Gleichzeitig aber, und nicht weniger selbstver-ständlich, war er diese Blumen, er war alles und jedes, worauf ich –oder vielmehr das selige, für einen Augenblick von meiner umklam-mernden Umarmung befreite Nicht-Ich – zufällig blickte. Die Bücherzum Beispiel, die die Wände meines Arbeitszimmers bedeckten. Wiedie Blumen erglühten auch sie, wenn ich zu ihnen hinsah, in leuchten-

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deren Farben, Farben von einer tieferen Bedeutsamkeit. Rote Büchergleich Rubinen, smaragdene Bücher, Bücher in weiße Jade gebunden,Bücher von Achat, von Aquamarin, von gelbem Topas, von Lapislazuli,alle Farben waren so intensiv, so zutiefst bedeutungsvoll, dass sie nahedaran zu sein schienen, die Regale zu verlassen, um sich meiner Auf-merksamkeit noch eindringlicher bemerkbar zu machen.

»Wie verhält es sich mit den räumlichen Dimensionen?« fragte derExperimentator, als ich auf die Bücher blickte.

Das war schwer zu beantworten. Gewiss, die Perspektive nahm sichrecht sonderbar aus, und die Wände des Zimmers schienen nicht mehrrechtwinklig aneinander zu stoßen. Aber das waren nicht die wirklichwichtigen Tatsachen. Tatsache war, dass räumliche Beziehungen kaumnoch eine Bedeutung hatten und dass mein Geist die Welt in Begriffenwahrnahm, die jenseits räumlicher Kategorien lagen. Für gewöhnlichbefasst sich das Auge mit Fragen wie: Wo? – Wie weit? – Position in Be-ziehung zu was? Bei dem Meskalinexperiment gehören die aufgeworfe-nen Fragen, auf die das Auge antwortet, einer anderen Kategorie an.Lage und Entfernung verlieren stark an Interesse, und der Geist machtseine Wahrnehmungen in Begriffen der Daseinsintensität, der Bedeu-tungstiefe, der Beziehungen innerhalb einer bestimmten Anordnung.Ich sah die Bücher, aber ich kümmerte mich keineswegs um ihren Platzim Raum. Was ich bemerkte, was sich meinem Geist einprägte, war dieTatsache, dass alle von lebendigem Licht erglühten und dass in einigendie Herrlichkeit offenkundiger war als in anderen. In diesem Zusam-menhang waren der Ort, an dem sie sich befanden, und die drei Di-mensionen nebensächlich. Selbstverständlich war die Kategorie Raumnicht abgeschafft. Als ich aufstand und umherging, konnte ich das ganznormal tun, ohne die Lage und Entfernung von Gegenständen falscheinzuschätzen. Der Raum war noch immer da; aber er hatte sein Über-gewicht verloren. Der Geist war an erster Stelle nicht mit Maßen undräumlichen Beziehungen der Gegenstände zueinander befasst, sondernmit Sein und Sinn.

Und zur gleichen Zeit wie diese Gleichgültigkeit gegen den Raumhatte mich eine noch größere Gleichgültigkeit gegen die Zeit erfasst.

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»Sie scheint reichlich vorhanden zu sein«, war alles, was ich antwor-tete, als der Experimentator mich aufforderte, ihm zu sagen, was für einGefühl ich bezüglich der Zeit hätte.

Reichlich viel – aber genau zu wissen, wie viel, war völlig belanglos.Ich hätte selbstverständlich auf meine Uhr sehen können, aber meineUhr war, das wusste ich, in einem anderen Universum. Tatsächlichhatte ich das Gefühl einer unbestimmten Dauer empfunden und emp-fand es noch immer, oder auch das einer unaufhörlichen Gegenwart,die aus einer einzigen, sich ständig verändernden Offenbarung bestand.

Von den Büchern lenkte der Experimentator meine Aufmerksam-keit auf die Möbel. Ein Schreibmaschinentischchen stand in der Mittedes Zimmers; dahinter, von meinem Blickwinkel aus gesehen, stand einKorbsessel und hinter diesem ein Schreibtisch. Die drei bildeten eindicht verwobenes Muster von Horizontalen, Vertikalen und Diagona-len - ein Muster, das um so interessanter war, als es nicht mit Hilfe derräumlichen Beziehungen der Gegenstände zueinander gebildet wurde.Tischchen, Sessel und Schreibtisch vereinigten sich zu einer Kompositi-on, die einem Bild von Braque oder Juan Gris glich, einem Stilleben,das erkennbar mit der gegenständlichen Welt verwandt war, aber keineTiefe besaß, keinen Versuch unternahm, mit fotografischen MittelnRealismus zu erzeugen. Ich blickte auf meine Möbel nicht wie ein An-hänger des Nützlichkeitsprinzips, der auf Sesseln sitzen, auf Schreibti-schen und Tischchen schreiben muss, und auch nicht wie der Fotografoder der Sammler wissenschaftlicher Daten, sondern wie der reine Äs-thet, der sich nur mit Formen und ihren Beziehungen innerhalb desGesichtsfelds oder innerhalb der Grenzen des Bildes befasst. Aber wäh-rend ich hinblickte, wich dieses rein ästhetische Sehen mit dem Augedes Kubisten einem anderen, das ich nur als die sakramentale Schau derWirklichkeit bezeichnen kann. Ich war wieder dort, wo ich gewesenwar, als ich auf die Blumen geblickt hatte, ich war wieder zurückge-kehrt in eine Welt, wo alles von innerem Licht leuchtete und von un-endlicher Bedeutsamkeit war. Die Bambusbeine des Sessels zumBeispiel – die Rundung ihrer Röhren grenzte ans Wunderbare, ihre po-lierte Oberfläche ans Übernatürliche! Ich verbrachte mehrere Minuten– oder waren es mehrere Jahrhunderte? – damit, diese Bambusbeine

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nicht nur anzusehen, sondern sie tatsächlich zu sein – oder vielmehr,ich selbst in ihnen zu sein; oder, um mich noch genauer auszudrücken(denn »ich« hatte eigentlich mit der Sache nichts zu tun, und in einemgewissen Sinn »sie« ebenfalls nicht), mein Nicht-Selbst in dem Nicht-Selbst zu sein, das der Sessel war.

Wenn ich über mein Erlebnis nachdenke, muss ich dem Philoso-phen C. D. Broad in Cambridge beipflichten, »dass wir gut daran tä-ten, viel ernsthafter, als wir das bisher zu tun geneigt waren, dieTheorie zu erwägen, die Bergson im Zusammenhang mit dem Ge-dächtnis und den Sinneswahrnehmungen aufstellte, dass nämlich dieFunktionen des Gehirns, des Nervensystems und der Sinnesorganehauptsächlich eliminierend arbeiten und keineswegs produktiv sind. Je-der Mensch ist in jedem Augenblick fähig, sich all dessen zu erinnern,was ihm je widerfahren ist, und alles wahrzunehmen, was irgendwo imUniversum geschieht. Es ist die Aufgabe des Gehirns und des Nerven-systems, uns davor zu schützen, von dieser Menge größtenteils unnüt-zen und belanglosen Wissens überwältigt und verwirrt zu werden, undsie erfüllen diese Aufgabe, indem sie den größten Teil der Informatio-nen, die wir in jedem Augenblick aufnehmen oder an die wir uns erin-nern würden, ausschließen und nur die sehr kleine und sorgfältiggetroffene Auswahl übrig lassen, die wahrscheinlich von praktischemNutzen ist.« Gemäß einer solchen Theorie verfügt potentiell jeder vonuns über das größtmögliche Bewusstsein. Aber da wir lebende Wesensind, ist es unsere Aufgabe, um jeden Preis am Leben zu bleiben. Umein biologisches Überleben zu ermöglichen, muss das größtmöglicheBewusstsein durch den Reduktionsfilter des Gehirns und des Nerven-systems hindurchfließen. Was am anderen Ende herauskommt,ist einspärliches Rinnsal von Bewusstsein, das es uns ermöglicht, auf ebendiesem unserem Planeten am Leben zu bleiben. Um die Inhalte des aufdiese Weise reduzierten Bewusstseins begrifflich zu fassen und auszu-drücken, hat der Mensch Symbolsysteme und unendliche Philosophienerfunden und immerwährend erweitert, welche wir Sprachen nennen.Jeder Mensch ist zugleich der Nutznießer und das Opfer der sprachli-chen Tradition, in die er hineingeboren wurde – der Nutznießer inso-fern, als die Sprache Zugang zu den gespeicherten Informationen über

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die Erfahrungen anderer Menschen gewährt; das Opfer insofern, als sieihn in dem Glauben, dieses reduzierte Bewusstsein sei das einzig mögli-che Bewusstsein, bestärkt und seinen Wirklichkeitssinn verwirrt, sodass er nur allzu bereit ist, seine Begriffssysteme für gegebene Tatbe-stände, seine Bezeichnungen für die Dinge selbst zu halten. Was in derSprache der Religion »von dieser Welt« genannt wird, ist das Univer-sum des reduzierten Bewusstseins, das sich in Sprache ausdrückt undsozusagen mit Hilfe von Sprache festgeschrieben wurde. Die verschie-denartigen anderen Welten, mit denen der Mensch hie und da einmalin Berührung gerät, stellen ebenso viele Elemente des totalen Bewusst-seins dar, das seinerseits im größtmöglichen Bewusstsein enthalten ist.Die meisten Menschen erfahren häufig nur das, was durch den Reduk-tionsfilter gelangt und von der in ihrem Land gebräuchlichen Spracheals wirklich und wahrhaftig anerkannt wird. Manche Menschen jedochscheinen mit einer Art von Umgehungsvorrichtung geboren worden zusein, welche den Reduktionsfilter ausschaltet. Andere vermögen zeit-weilig Umgehungsvorrichtungen entweder spontan oder als Ergebnisbewusst durchgeführter »geistiger Übungen«, mittels Hypnose oder ei-nes Rauschmittels zu erwerben. Durch diese ständig vorhandenen oderzeitweilig erworbenen Umgehungsleitungen fließt dann freilich nichtdie Wahrnehmung all dessen, »was irgendwo im Universum geschieht«(denn die Umgehungsleitung beseitigt den Reduktionsfilter nicht, erschließt die totale Bewusstwerdung immer noch aus), aber doch dieWahrnehmung von etwas mehr und vor allem von etwas, das verschie-den ist von dem Material, das sorgfältig nach seiner Nützlichkeit ausge-wählt wurde und das unser verengter, vereinzelter Geist für ein voll-ständiges oder zumindest ausreichendes Abbild der Wirklichkeit hält.

Das Gehirn ist mit einer Anzahl von Enzymsystemen versehen, diedazu dienen, seine Tätigkeiten zu koordinieren. Einige der Enzyme re-gulieren die Zufuhr von Glukose zu den Gehirnzellen. Meskalin unter-bindet die Erzeugung dieser Enzyme und verringert so die einemOrgan, welches fortwährend Zucker benötigt, zur Verfügung stehendeGlukoseenge. Was geschieht, wenn Meskalin die normale Zuckerrationdes Gehirns herabsetzt? Noch lässt sich keine allgemein gültige Antwortdarauf geben. Aber was mit der Mehrzahl der wenigen Menschen vor-

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ging, die unter Beobachtung Meskalin genommen haben, läßt sich fol-gendermaßen zusammenfassen:

1. Die Fähigkeit, sich zu erinnern und folgerichtig zu denken, ist,wenn überhaupt, nur wenig verringert. (Wenn ich mir anhöre, was ichunter der Einwirkung des Meskalins gesagt habe, kann ich nicht fin-den, dass ich irgendwie dümmer war als gewöhnlich.)

2. Visuelle Eindrücke sind erheblich verstärkt, und das Auge ge-winnt einiges von der Fähigkeit zu unbefangener Wahrnehmung zu-rück, die es während der Kindheit besaß, als das durch die SinneWahrgenommene nicht sogleich und automatisch einem Begriff unter-geordnet wurde. Das Interesse für Räumliches ist verringert und das In-teresse für die Zeit sinkt fast auf den Nullpunkt.

3. Obgleich der Verstand unbeeinträchtigt bleibt und das Wahr-nehmungsvermögen ungeheuer verbessert wird, erleidet der Wille einetiefgreifende Veränderung zum Schlechteren. Wer Meskalin nimmt,fühlt sich nicht veranlasst, irgend etwas zu tun, für ihn sind die meistenAnlässe, bei denen er zu gewöhnlichen Zeiten zu handeln und zu leidenbereit war, äußerst uninteressant. Er lässt sich durch sie nicht aus derRuhe bringen, und zwar aus dem guten Grund, dass er nämlich überBesseres nachzudenken hat.

4. Dieses Bessere kann (wie in meinem Fall) »dort draußen« oderaber »hier drinnen« erlebt werden, oder in beiden Welten, der innerenund der äußeren, gleichzeitig oder nacheinander. Dass es auch wirklichBesseres ist, scheint demjenigen, der Meskalin mit gesunder Leber undruhigem Gemüt einnimmt, selbstverständlich zu sein.

Diese Wirkungen des Meskalins sind von derselben Art wie diejeni-gen, die als Folge auf die Verabreichung eines Mittels zu erwarten sind,das die Leistungsfähigkeit des zerebralen Reduktionsfilters zu beein-trächtigen vermag. Wenn dem Gehirn der Zucker ausgeht, wird dasunterernährte Ich schwach, kann sich nicht mehr mit den notwendigenalltäglichen Verrichtungen abgeben und verliert jedes Interesse an denräumlichen und zeitlichen Beziehungen, die einem Organismus, demdaran liegt, in der Welt vorwärts zu kommen so viel bedeuten. Da das

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totale Bewusstsein nun nicht mehr durch den intakten Filter hindurchsickert, beginnt sich allerlei biologisch Unnützes zu ereignen. In man-chen Fällen kommt es zu außersinnlichen Wahrnehmungen. AndereMenschen entdecken eine Welt von visionärer Schönheit. Wieder an-deren enthüllt sich die Herrlichkeit, der unendliche Wert und die un-endliche Bedeutungsfülle der bloßen Existenz und des nicht in Begriffegefassten Ereignisses. Im letzten Stadium der Ichlosigkeit – und ob ir-gendein Mensch, der Meskalin nahm, das je erreicht hat, weiß ichnicht – kommt es zu der »dunklen Erkenntnis«, daß das All alles um-schließt und dass im Grunde jedes Teilchen das All ist. Weiter kannvermutlich ein endlicher Geist nicht auf diesem Weg gelangen, »alleswahrzunehmen, was irgendwo im Universum geschieht«.

Wie bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die unter der Ein-wirkung des Meskalins ungeheuer verstärkte Wahrnehmung von Farbe!Für bestimmte Tiere ist es sehr wichtig, gewisse Färbungen unterschei-den zu können, doch über die Grenzen ihres auf Nützlichkeit abgestell-ten Spektrums hinaus sind die meisten völlig farbenblind. Bienen zumBeispiel verbringen die meiste Zeit damit, »die unberührten Jungfrauendes Frühlings zu deflorieren«, aber wie von Frisch gezeigt hat, könnensie nur sehr wenige Farben erkennen. Der hoch entwickelte Farbensinndes Menschen ist ein biologischer Luxus – unschätzbar wertvoll für ihnals intellektuelles und spirituelles Wesen, aber unnötig für sein biologi-sches Überleben. Nach den ihnen von Homer in den Mund gelegtenAdjektiven zu urteilen, übertrafen die Helden des Trojanischen Kriegesdie Bienen wohl kaum in der Fähigkeit, Farben zu unterscheiden. Indieser Hinsicht zumindest ist der Fortschritt der Menschheit gewaltig.

Meskalin verleiht allen Farben erhöhte Kraft und Tiefe und bringtdem Wahrnehmenden unzählige feine Schattierungen ins Bewusstsein,für die er zu gewöhnlichen Zeiten völlig blind ist. Es hat den Anschein,dass für das totale Bewusstsein die so genannten sekundären Merkmaleder Dinge primäre sind. Im Gegensatz zu Locke fühlt er offenbar, dassFarbe wichtiger und beachtenswerter ist als Zahl, Lage und Größe. Wiedie Menschen, die Meskalin nehmen, gewahren auch viele Mystikerübernatürlich lebhafte Farben, und zwar nicht nur mit dem innerenAuge, sondern auch in der gegenständlichen Welt. Ähnliches berichten

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medial veranlagte und sehr sensible Menschen. Es gibt gewisse Medien,für die die dem Meskalinbenutzer zuteil werdende Offenbarung überlange Zeiträume hin eine tägliche und stündliche Erfahrung ist.

Von dieser langen, aber unentbehrlichen Abschweifung ins Gebietder Theorie können wir nun zu den wunderbaren Tatsachen zurück-kehren – zu den Beinen von vier Bambussesseln in der Mitte einesZimmers. Gleich den Narzissen in dem Gedicht von Wordsworthbrachten sie einen Reichtum »aller Art« – das unschätzbare Geschenkeiner neuen, unmittelbaren Einsicht in die Natur der Dinge selbst, zu-sammen mit einem bescheideneren Schatz, einem größeren Verständ-nis, vor allem auf dem Gebiet der Kunst.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose (wie Gertrude Stein sagt).Aber diese Sesselbeine waren Sesselbeine, waren Sankt Michael und alleseine Engel. Vier oder fünf Stunden später, als sich die Auswirkungendes zerebralen Zuckermangels allmählich verloren, wurde ich auf einekleine Rundfahrt mitgenommen, die gegen Sonnenuntergang auch denBesuch dessen einschloss, was sich bescheiden »Der Größte Drug StoreDer Welt« nennt. Ganz hinten in diesem G.D.D.W., zwischen Spiel-waren, den Glückwunschkarten und den Comics stand überraschen-derweise eine Reihe von Kunstbüchern. Ich ergriff das erste, das mir indie Hand kam. Es war eines über van Gogh, und das Bild, bei dem sichder Band öffnete, war »Der Sessel« – dieses erstaunliche Porträt einesDinges an sich, das der wahnsinnige Maler mit einer Art von anbetungs-vollem Schrecken erblickt und auf seiner Leinwand wiederzugeben ver-sucht hatte. Das aber war eine Aufgabe, für die sich sogar die Kraft desGenies als völlig unzulänglich erwies. Der Sessel, den van Gogh gese-hen hatte, war zweifellos im wesentlichen derselbe Sessel, den ich gese-hen hatte. Zwar war er unvergleichlich wirklicher als der Sessel, deneinem die gewöhnliche Wahrnehmung vor Augen führt, dennoch bliebder Sessel auf seinem Bild nicht mehr als ein ungewöhnlich ausdrucks-volles Symbol des Tatsächlichen. Das Tatsächliche hatte das So-Seinoffen gelegt, hier handelte es sich nur um ein Sinnbild. Derartige Sinn-bilder sind Quellen wahrer Erkenntnis über die Natur der Dinge, unddiese wahre Erkenntnis kann dazu dienen, den Geist, der für sie offenist, auf eigene unmittelbare Einblicke vorzubereiten. Aber das ist auch

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alles. So ausdrucksvoll Symbole auch sein mögen, so sind sie doch niedie Dinge, für die sie stehen.

Es wäre in diesem Zusammenhang interessant, eine Untersuchungdarüber anzustellen, welche Kunstwerke den großen Kennern des So-Seins erreichbar waren. Welche Art von Gemälden bekam Meister Eck-hart zu Gesicht? Welche Skulpturen und Gemälde spielten eine Rolleim religiösen Erleben eines Hl. Johannes vom Kreuze, eines Hakuin, ei-nes Hui-neng, eines William Law? Zu beantworten vermag ich dieseFragen nicht, hege aber den starken Verdacht, dass die meisten der gro-ßen Kenner des So-Seins wahrscheinlich der Kunst sehr wenig Auf-merksamkeit schenkten – einige überhaupt nichts mit ihr zu tun habenwollten, andere sich mit dem begnügten, was ein kritisches Auge alszweitrangig oder sogar zehntrangig betrachten würde. (Für einen Men-schen, dessen verklärter und verklärender Geist das All in jedem Dies zuerblicken vermag, wird die Erstrangigkeit oder Zehntrangigkeit sogareines religiösen Gemäldes etwas höchst Gleichgültiges sein.) Kunst ist,so vermute ich, nur etwas für Anfänger oder aber für jene, die ent-schlossen sind, in ihrer Sackgasse zu verharren, und die sich entschie-den haben, sich mit dem Ersatz für das So-Sein zufrieden zu geben,lieber mit Sinnbildern vorlieb zu nehmen als mit dem, was sie versinn-bildlichen, die das erlesen zusammengestellte Kochrezept der wirkli-chen Speise vorziehen.

Ich stellte den Band van Gogh zurück und griff nach dem nächsten.Es war ein Buch über Botticelli. Ich blätterte darin. »Die Geburt derVenus« – es war nie eins meiner Lieblingsbilder gewesen. »Venus undMars«, dieses liebliche Werk, das so leidenschaftlich von dem armenRuskin angegriffen worden war, als die langwährende Tragödie seinesSexuallebens auf dem Höhepunkt war. Die wunderbar komponiertegestaltenreiche »Verleumdung des Apelles«. Und dann ein weniger gu-tes Bild: »Judith«. Aber meine Aufmerksamkeit wurde davon gefangengenommen, und ich blickte gefesselt nicht auf die blasse neurotischeHeldin oder ihre Begleiterin, nicht auf den dicht behaarten Kopf desOpfers oder die Frühlingslandschaft im Hintergrund, sondern auf diepurpurne Seide von Judiths gerafftem Obergewand, ihr langes, vomWind bewegtes Unterkleid. Dies war etwas das ich schon gesehen hatte

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– an diesem selben Vormittag gesehen hatte – zwischen den Blumenund den Möbeln, als ich zufällig die Augen gesenkt und mich dannentschieden hatte, leidenschaftlich auf meine gekreuzten Beine zu star-ren. Diese Falten in meiner Hose – welch ein Labyrinth unendlich be-deutsamer Vielfältigkeit! Und das Gewebe des grauen Flanells – wiereich, wie tief bedeutsam und geheimnisvoll üppig! Und hier warendiese Falten abermals, hier in Botticellis Gemälde.

Zivilisierte Menschen tragen Kleider. Darum kann es keine Porträt-malerei, keine mythologische, keine Historienmalerei ohne Wiedergabefaltenreicher Stoffe geben. Mag auch bloße Schneiderkunst für den Ur-sprung verantwortlich sein, sie kann nie die Erklärung sein für die viel-fältige Entwicklung des Faltenwurfs, der eines der Hauptthemen derbildenden Künste wurde. Es ist unverkennbar, dass Künstler den Fal-tenwurf immer um seiner selbst willen liebten – oder besser gesagt umihrer selbst willen. Wenn man Faltenwurf malt oder meißelt, malt odermeißelt man Formen, die ohne praktische Bedeutung sind – es handeltsich um jene Art sich zufällig ergebender Formen, in denen selbstKünstler, die der naturalistischen Tradition verhaftet sind, sich gernausleben. Im Durchschnitt werden bei der Darstellung einer Madonnaoder eines Apostels etwa zehn Prozent der Arbeit auf die Herausarbei-tung der menschlichen und figürlichen Elemente verwendet. Der Restbesteht in vielfarbigen Variationen über das unerschöpfliche Thema derFalten, die Wolle oder Leinwand werfen. Und diese für eine Madonnaoder einen Apostel unwesentlichen neun Zehntel sind nicht nur vonquantitativer, sondern auch von qualitativer Bedeutung. Sehr oft gebensie den Ton des gesamten Kunstwerks an, sie sind Indiz für die Tonart,in der das Thema verarbeitet wurde, sie drücken die Stimmung, dasTemperament, die Lebensauffassung des Künstlers aus. Stoische Abge-klärtheit enthüllt sich in den glatten Flächen, den breiten, ungehindertfließenden Falten der Gewänder Pieros della Francesca. Zwischen Rea-lität und Wunsch, zwischen Zynismus und Idealismus hin- und herge-rissen, stellt Bernini der keineswegs karikierenden Darstellung seinerGesichter die ausladenden, abstrahierenden Formen der Gewänder ge-genüber, die für die in Stein gehauene oder in Bronze gegossene Verge-genständlichung der ewigen Gemeinplätze des Rhetorischen stehen –

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den Heroismus, die Heiligkeit und das Sublime, Ideale, die von derMenschheit immerwährend und die meiste Zeit vergeblich angestrebtwerden. Und hierher gehören El Grecos Gewänder und Mäntel, die aufso beunruhigende Weise den physischen inneren Zustand des Men-schen darstellen, hierher das scharfe Zickzack der flammenähnlichenFalten, in welche Cosimo Tura seine Gestalten kleidet. Beim erstenbricht die herkömmliche Vergeistigung zusammen und macht einemnamenlosen körperlichen Sehnen Platz; beim zweiten windet undkrümmt sich ein gequältes Gewahrwerden der wesentlichen Fremdar-tigkeit und Feindseligkeit der Welt. Oder man betrachte Watteau: sei-ne Männer und Frauen spielen Laute, machen sich für Bälle undHarlekinaden zurecht, schiffen sich auf samtigen Rasenflächen und un-ter edelgeformten Bäumen zur Insel Kythera, der Traumwelt eines je-den Liebenden, ein; ihre ungeheure Schwermut und die bloßliegende,qualvoll schmerzhafte Empfindungsfähigkeit ihres Schöpfers finden ih-ren Ausdruck nicht in den abgebildeten Vorgängen, nicht in den por-trätierten Gesten und Gesichtern, sondern im Relief und im Gewebeihrer Taftkleider, ihrer seidenen Mäntel und Anzüge. Kein Zollbreitglatter Oberfläche ist hier zu sehen, kein Augenblick des Friedens oderder Zuversicht kommt auf, nur eine seidige Wildnis zahlloser winzigerFältchen und Rüschen, die sich unaufhörlich in Bewegung befinden –innere Unsicherheit, dargestellt mit der vollkommenen Sicherheit einerMeisterhand – Ton in Ton, eine diffuse Farbe löst die andere ab. ImLeben denkt der Mensch und Gott lenkt. In den bildenden Künstenwird der erste Schritt – sozusagen das Denken – vom Thema vorgege-ben; was lenkt, ist letztlich das Temperament des Künstlers, in ersterLinie aber (zumindest in der Porträt-, Historien- und Genremalerei)der gemeißelte oder gemalte Faltenwurf. Beides gemeinsam bewirkt,dass eine fête galante zu Tränen rührt, eine Kreuzigung sich in heitererGelassenheit vollzieht, eine Stigmatisierung fast unerträglich sinnlichwirkt, dass die Darstellung eines Ausbunds von weiblicher Hirnlosig-keit (ich denke dabei an Ingres’ unvergleichliche Madame Moitessier)strengste, unbestechliche Intellektualität ausstrahlt.

Aber das ist noch nicht alles. Faltenwurf, wie ich nun entdeckt hat-te, ist viel mehr als ein Kunstmittel, um abstrakte Formen in naturalis-

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tische Gemälde und Skulpturen hineinzunehmen. Die Fähigkeit, jeder-zeit das zu sehen, was wir übrigen nur unter dem Einfluss von Meskalinsehen, ist dem Künstler angeboren. Seine Wahrnehmung ist nicht aufdas biologisch oder soziologisch Nützliche beschränkt. Etwas von derdem totalen Bewusstsedin eigenen Erkenntnis sickert durch den Re-duktionsfilter von Gehirn und Ich in sein Bewusstsein. Es ist eine Er-kenntnis der allem Seienden innewohnenden Bedeutsamkeit. Für denKünstler wie für denjenigen, der Meskalin nimmt, sind Faltenwürfe le-bende Hieroglyphe, die auf eine besonders ausdrucksvolle Weise dasunergründliche Geheimnis des reinen Seins versinnbildlichen. Stärkersogar als der Sessel, wenn auch vielleicht weniger stark als die völligübernatürlichen Blumen, waren die Falten meiner grauen Flanellhosemit »Istigkeit« geladen. Wem oder was sie diese Vorrangstellung ver-dankten, weiß ich nicht zu sagen. War die Ursache vielleicht die, dassdie Formen faltiger Gewänder derartig seltsam und dramatisch sind,dass sie den Blick auf sich lenken und auf diese Weise unsere Aufmerk-samkeit auf den Tatbestand der reinen Existenz ausrichten? Wer kanndas wissen? Wichtig ist weniger die Ursache dieser Erfahrung als die Er-fahrung selbst. Während ich im »Größten Drug Store Der Welt« soüber Judiths Gewand grübelte, erkannte ich, dass Botticelli – und nichtnur er, sondern auch viele andere Künstler – den Faltenwurf von Ge-wändern mit ebenso verklärten und verklärenden Augen betrachtet hat-te wie ich an diesem Vormittag. Sie hatten die Istigkeit, die Allheit undUnendlichkeit gefalteten Tuchs gesehen und ihr möglichstes getan, siein Farben oder Stein wiederzugeben. Notwendigerweise ohne Erfolg.Denn die Herrlichkeit und das Wunder reiner Existenz gehören eineranderen Ordnung an, jenseits des Ausdrucksvermögens auch derhöchsten Kunst. Doch an Judiths Gewand konnte ich deutlich sehen,was ich, wäre ich ein genialer Maler gewesen, vielleicht aus meinergrauen Flanellhose gemacht hätte. Nicht viel, weiß der Himmel, vergli-chen mit der Wirklichkeit, aber genug, um eine Generation von Be-trachtern nach der anderen zu entzücken, genug, um ihnen zumindestein wenig von der wahren Bedeutung dessen verständlich zu machen,was wir in unserem pathetischen Schwachsinn »bloße Dinge« nennenund zugunsten des Fernsehens unbeachtet lassen.

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»So sollte man sehen!« sagte ich immer wieder, während ich aufmeine Hose blickte oder auf die wie mit Edelsteinen besetzten Bücherin den Regalen oder auf die Beine meines Sessels, der so unendlich vielmehr aussagte als der von van Gogh. »Das ist die Art und Weise, wieman sehen sollte und wie die Dinge in Wirklichkeit sind.« Und dochgab es da Vorbehalte. Denn sähe man immer so, würde man nie etwasanderes tun wollen. Nur einfach zu schauen, einfach das göttlicheNicht-Selbst einer Blume, eines Buchs, eines Sessels, eines Stücks Fla-nell zu sehen, das wäre schon genug. Aber wie stünde es in diesem Fallmit den Mitmenschen? Mit menschlichen Beziehungen? In den Auf-zeichnungen der Gespräche jenes Vormittags finde ich immer wiederdie Frage: »Wie ist es mit menschlichen Beziehungen?« Auf welcheWeise könnte man diese zeitlose Seligkeit des Sehens, des eigentlichenSehens, mit den täglichen Pflichten vereinbaren, wie könnte man tun,was man tun sollte, fühlen, wie man fühlen sollte? »Man sollte imstan-de sein«, sagte ich, »diese Hose als unendlich wichtig und Menschen alsnoch unendlich wichtiger zu sehen.« Man sollte – aber in der Praxisschien es unmöglich zu sein. Dieses Teilhaben an der offenkundigenHerrlichkeit der Dinge ließ sozusagen keinen Raum für die gewöhnli-chen, die notwendigen Angelegenheiten menschlichen Daseins, vor al-lem blieb kein Raum für Menschen. Denn Menschen besitzen einSelbst, und in einer Hinsicht zumindest war ich nun im Zustand desNicht-Selbst-Seins und gewahrte dabei, wie den Dingen meiner Umge-bung das Selbst fehlte, obwohl ich in der gleichen Lage war wie sie.Diesem neugeborenen Nicht-Selbst erschienen das Verhalten und dieErscheinung des Selbst, das in diesem Augenblick nicht mehr war – janicht einmal der Gedanke daran bestand oder die Erinnerung an ande-re Formen des Selbst, die früher in ihm zu Hause gewesen waren –,nicht etwa abstoßend (Widerwille war nicht die Kategorie, in deren Be-griffen ich dachte), sondern ungeheuer belanglos. Vom Experimentatordazu angehalten, zu berichten und zu analysieren, was ich tat (und wiesehr ich mich danach sehnte, mit der Ewigkeit einer Blume, der Un-endlichkeit von vier Sesselbeinen und dem Absoluten in den Falten ei-nes Paars Flanellhosenbeinen alleingelassen zu werden!), merkte ich,dass ich absichtlich die Augen der außer mir im Raum anwesendenPersonen vermied, dass ich mich willentlich zurückhielt, um mir ihrer

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Gegenwart nicht allzu bewusst zu werden. Es waren meine Frau undein Mann, den ich schätze und sehr gern habe. Aber beide gehörten ei-ner Welt an, aus der mich für den Augenblick das Meskalin befreit hat-te – der Welt des Selbst, der Zeit, der moralischen Urteile und derNützlichkeitserwägungen, der Welt (und es war diese Seite des mensch-lichen Lebens, die ich vor allem zu vergessen wünschte) der Selbstbe-hauptung, der Selbstsicherheit, der überbewerteten Wörter undvergötzten Begriffe.

In diesem Stadium des Versuchs wurde mir eine große farbige Re-produktion des wohlbekannten Selbstbildnisses von Cézanne gereicht –Kopf und Schultern eines Mannes unter einem großen Strohhut, einesMannes mit roten Backen, vollen roten Lippen, üppigem schwarzemBart und einem dunklen unfreundlichen Blick. Es ist ein prachtvollesGemälde, aber was ich nun sah, war kein Gemälde. Denn der Kopfnahm auf der Stelle eine dritte Dimension an, ein kleiner, koboldhafterMann wurde lebendig, der aus dem Blatt vor mir wie aus einem Fens-ter zu mir hersah. Ich begann zu lachen. Und als ich gefragt wurde,wiederholte ich nur immerzu: »Was für eine Anmaßung! Wofür hält ersich denn?« Die Frage war nicht an Cézanne im besonderen gerichtet,sondern an die Spezies Mensch in ihrer Gesamtheit. Wofür hielten siesich denn alle?

»Er erinnert mich an Arnold Bennett in den Dolomiten«, sagteich, denn mir fiel plötzlich eine zum Glück durch eine Momentauf-nahme verewigte Szene ein, wie A. B. vier oder fünf Jahre vor seinemTod auf einer winterlichen Straße bei Cortina d’Ampezzo einherzot-telte. Rings um ihn lag jungfräulicher Schnee. Im Hintergrund ragtenrote Felszinnen empor, deren Formationen die Gotik in den Schattenstellten. Und da ging der liebe, gute, unglückliche A. B. und spieltebewusst übertrieben die Rolle seiner Lieblingsgestalt aus seinen Roma-nen, nämlich sich selbst, den »Mordskerl« in Person. Dort ging er,trottete langsam im hellen Alpensonnenschein dahin, die Daumen inden Armlöchern seiner gelben Weste, die sich etwas weiter unten mitder Anmut eines klassizistischen Runderkers aus Brighton vorwölbte –den Kopf zurückgeworfen, als wollte er ein Stammeln, gleichsam wieaus einer Haubitze, auf den blauen Himmelsdom abfeuern. Was er tat-

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sächlich sagte, habe ich vergessen; aber was sein Gehabe und seine Hal-tung geradezu herausschrieen, war: »Ich bin ebenso gut wie diese ver-dammten Berge da!« Und in mancher Hinsicht war er natürlichunendlich besser; aber nicht – und das wusste er sehr genau – auf dieseWeise, die sich seine Romangestalt so gern vorstellte.

Erfolgreich (was immer das heißen mag) oder erfolglos spielen wiralle in einer übertriebenen Weise die Rolle unserer liebsten Figur aus derDichtung. Und die Tatsache, die nahezu vollkommen unwahrscheinli-che Tatsache, wirklich Cézanne zu sein, macht keinen Unterschied.Denn der vollendete Maler, mit seiner kleinen, die Gehirnschleuse unddie Ichschleuse umgehenden Verbindung zum totalen Bewusstsein, warauch, und nicht weniger authentisch, dieser bärtige Kobold mit denunfreundlichen Augen.

Zur Erholung wandte ich mich wieder den Falten meiner Hose zu.»Auf diese Weise sollte man sehen«, sagte ich abermals, und ich hättehinzufügen können: »Dies sind auch die Dinge, die man betrachtensollte.« Dinge, die sich nichts anmaßen, Dinge, die sich damit zufrie-den geben, bloß sie selbst zu sein, selbstgenügsam sind in ihrem So-Sein, nicht eine Rolle spielen wollen, nicht wahnwitzig versuchen, ihreneigenen Weg zu gehen, losgelöst vom Dharma-Leib, sich wie Luzifergegen die Gnade Gottes auflehnend.

»Die größtmögliche Annäherung an diesen Gedanken«, sagte ich,»würde ein Vermeer bewirken können.«

Ja, ein Vermeer. Denn dieser rätselhafte Künstler war dreifach be-gabt – mit der visionären Gabe, die den Dharma-Leib als die Heckeam Ende des Gartens wahrnimmt; mit der Gabe, so viel von dieser Vi-sion wiederzugeben, wie die Begrenztheit menschlicher Fähigkeitenihm erlaubte; und mit der klugen Einsicht, sich in seinen Gemäldenauf die leichter zu bewältigenden Aspekte der Wirklichkeit zu be-schränken, denn auch wenn Vermeer Menschen darstellte, so blieb erdoch immer ein Maler von Stilleben. Cézanne, der seinen weiblichenModellen sagte, sie sollten ihr möglichstes tun, um wie Äpfel auszuse-hen, versuchte, im selben Geist Porträts zu malen. Aber seine Borsdor-fer-Frauen sind Platos Ideen näher verwandt als dem Dharma-Leib in

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der Hecke. Sie sind die nicht in einem Sandkorn oder einer Blume,sondern in den Abstraktionen einer sehr viel höheren Geometrie gese-hene Ewigkeit und Unendlichkeit: Vermeer verlangte von seinen Mäd-chen nie, sie sollten wie Äpfel aussehen. Im Gegenteil, er bestanddarauf, dass sie bis zum äußersten Mädchen seien – aber immer mitdem Vorbehalt, dass sie es unterließen, sich mädchenhaft zu beneh-men. Sie durften sitzen oder ruhig dastehen, aber niemals kichern, nie-mals Verlegenheit zeigen, niemals fromm die Hände falten oder nachabwesenden Liebsten schmachten, niemals schwatzen, niemals neidischauf die Neugeborenen anderer Frauen blicken, niemals flirten, wederlieben noch hassen, noch arbeiten. Hätten sie etwas dergleichen getan,wären sie zweifellos sehr viel mehr sie selbst geworden, hätten aber auseben diesem Grund aufgehört, ihr göttliches wesentliches Nicht-Selbstzu offenbaren. Die Pforten der Wahrnehmung Vermeers waren, wieWilliam Blake es ausdrückt, nur teilweise durchlässig geworden. EinTeil der Türfüllung war fast völlig durchsichtig geworden, die übrigePforte war noch immer verschwommen. Der wesentliche Teil des ab-gespaltenen Selbst ließ sich sehr klar in den diesseits von Gut undBöse existierenden Dingen und Lebewesen wahrnehmen. In Men-schen war er nur sichtbar, wenn sie entspannt waren, ihr Gemüt unbe-wegt, ihr Körper regungslos war. Unter diesen Umständen konnteVermeer das So-Sein in all seiner himmlischen Schönheit sehen –konnte es sehen und einen Teil davon als subtiles, prächtiges Stillebenwiedergeben. Vermeer ist zweifellos der größte Maler menschlicherStilleben. Aber es gab zum Beispiel Vermeers französische Zeitgenos-sen, die Brüder Le Nain. Sie wollten offenbar Genremaler sein, was siejedoch tatsächlich hervorbrachten, war eine Reihe menschlicher Stille-ben, in denen die puristische Wahrnehmung der unendlichen Bedeut-samkeit aller Dinge nicht wie bei Vermeer durch eine subtileAnreicherung der Farbe und durch Gewebestrukturen wiedergegebenist, sondern durch eine erhöhte Klarheit, eine besessen angestrebteVerdeutlichung der Formen bei sehr karger, fast monochromer Farb-gebung. In unserer Zeit gab es Vuillard – der auf seinen Höhepunktenunvergesslich herrliche Bilder des Dharma-Leibes geschaffen hat, wieer sich in einem bürgerlichen Schlafzimmer offenbart; er hat das Abso-lute bei der Darstellung einer Börsenmaklerfamilie, die in einem Vor-

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stadtgarten den Tee einnimmt, in explosiver Weise sichtbar zu machengewußt.

Ce qui fait que l•ancien bandagiste renie Le comptoir dont le faste alléchait les passants, C•est son jardin d•Auteuil, où, veufs de tout encens, Les Zinnias ont Tair d•être en tôle vernie.

Für Laurent Tailhade war das Schauspiel bloß obszön. Aber hätteder Gummiwarenhändler, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, still genuggesessen, so hätte Vuillard in ihm nur den Dharma-Leib gesehen, hätteer in den Zinnien, dem Goldfischteich, dem maurischen Turm derVilla und den Lampions ein Eckchen des Gartens Eden vor dem Sün-denfall gemalt.

Indessen aber blieb meine Frage unbeantwortet. Wie war diese pu-rifizierte Wahrnehmung mit einer angemessenen Pflege menschlicherBeziehungen in Einklang zu bringen, mit den notwendigen täglichenVerrichtungen und Pflichten, ganz zu schweigen von liebender Barm-herzigkeit und tätigem Mitleid? Der uralte Meinungsstreit zwischenden Tätigen und den Beschaulichen erneuerte sich – erneuerte sich,was mich betraf, mit noch nie erlebter Eindringlichkeit. Denn bis zudiesem Vormittag hatte ich Kontemplation nur in ihren niederen, ge-wöhnlichen Formen gekannt – als diskursives Denken, als ein verzück-tes Sichversenken in Dichtung oder Malerei oder Musik, als eingeduldiges Warten auf Eingebungen, ohne die auch ein flüssig schrei-bender Schriftsteller nicht hoffen kann, etwas zu schaffen, als den gele-gentlichen Blick auf »etwas tiefer noch Verwobenes« in der Natur, vondem Wordsworth spricht, als methodisches Schweigen, das manchmalzum Erahnen von »dunkler Erkenntnis« führt. Jetzt aber war ich aufder Höhe der Kontemplation. Ich war auf ihrer Höhe, aber nochkannte ich sie nicht in ihrer Fülle. Denn in Bezug auf die Fülle schließtder Weg Marias den Weg Marthas ein und verleiht ihm sozusagen eineeigene, höhere Kraft. Meskalin eröffnet den Weg Marias, versperrt aberden Weg Marthas. Es gewährt Zugang zur Kontemplation – aber zueiner Kontemplation, die mit Tätigkeit, ja sogar mit dem Willen, et-was zu tun, wenn nicht bereits mit dem Gedanken daran unvereinbarist. Während der Offenbarungen, die ihm zuteil werden, hat der mit

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Meskalin Experimentierende immer wieder das Gefühl, dass zwar ei-nerseits alles im höchsten Grad so ist, wie es sein soll, dass aber ande-rerseits auch das Gegenteil der Fall ist. Das Problem, mit dem er zutun hat, ist im wesentlichen dasselbe, das sich dem Quietisten stellt,dem arhat und, auf einer anderen Ebene, dem Landschaftsmaler unddem Maler menschlicher Stilleben. Meskalin kann dieses Problem nielösen; es kann lediglich Menschen in Form einer Offenbarung damitkonfrontieren, denen sich dieses Problem vorher noch nie gestellt hat-te. Die ganze und endgültige Lösung lässt sich bloß von denjenigen fin-den, die bereit sind, sich die richtige »Weltanschauung« mit Hilfe einerentsprechenden Lebensweise und der richtigen Art beständiger undungezwungener Wachsamkeit zu eigen zu machen. Als Gegensatz zumQuietisten steht der aktiv Kontemplative, der Heilige, der Mensch, der,mit Eckharts Worten, bereit ist, aus dem siebenten Himmel herabzu-steigen, um seinem kranken Bruder einen Becher Wasser zu bringen.Im Gegensatz zum arhat, der sich von den Erscheinungen in ein völligtranszendentales Nirwana zurückzieht, steht der Bodhisattwa, für dendas So-Sein und die Welt der zufälligen Ereignisse eins sind und fürdessen grenzenloses Mitgefühl jedes einzelne dieser Ereignisse nicht nureine Gelegenheit für Wandlung und Einsicht, sondern auch zu tätigerBarmherzigkeit ist. Und in der Welt der Malerei steht im Gegensatz zuVermeer und den anderen Malern menschlicher Stilleben – den Meis-tern chinesischer und japanischer Landschaftsmalerei, Constable undTurner, Sisley und Seurat sowie auch Cézanne – die allumfassendeKunst Rembrandts. Das sind gewaltige Namen, das ist eine Auserlesen-heit, zu der kein Zugang möglich ist. Was mich betraf, konnte ich andiesem denkwürdigen Maimorgen nur dankbar sein für ein Erlebnis,das mir klarer als je zuvor vor Augen führte, welcher Art die Heraus-forderung war und wie die völlig befreiende Antwort darauf lautete.

Bevor wir uns von diesem Thema abwenden, möchte ich hinzufü-gen, dass es keine Form der Kontemplation, eingeschlossen die vonden Quietisten praktizierte, gibt, die keine ethischen Werte enthält.Die moralischen Kategorien sind in der Mehrzahl negativ und besa-gen, dass Unheil zu vermeiden sei. Das Vaterunser umfasst weniger alsfünfzig Worte, und sechs dieser Worte drücken die Bitte aus, Gott

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möge uns nicht in Versuchung führen. Der einseitig auf Kontemplati-on ausgerichtete Mensch lässt vieles ungetan, was er tun sollte, jedochum das auszugleichen, hält er sich auch zurück und tut viele Dingenicht, die ihm verboten sind. Die Summe des Bösen, so sagt Pascal,würde sich sehr verringern, wenn die Menschen nur lernen könnten,ruhig in ihren Zimmern zu sitzen. Der Kontemplative, dessen Wahr-nehmungsvermögen von allem Ballast befreit wurde, braucht nicht inseinem Zimmer zu bleiben. Er kann so völlig befriedigt davon, diegöttliche Weltordnung zu sehen und ein Teil von ihr zu sein, seinemTagewerk nachgehen, dass er nie auch nur in Versuchung kommenwird, sich darauf einzulassen, was Thomas Traherne »die schmutzigenSchliche der Welt« nannte. Wenn wir uns als die alleinigen Erben desWeltalls fühlen, wenn »das Meer in unseren Adern fließt... und dieSterne unsere Schmuckstücke sind«, wenn alle Dinge als unendlich undheilig wahrgenommen werden, welchen Beweggrund können wir dahaben, der Begehrlichkeit oder der Selbstüberhebung nachzugeben,nach Macht zu streben oder der Sucht nach Vergnügungen zu erlie-gen? Menschen, die sich eine kontemplative Lebensweise zu eigen ge-macht haben, werden wohl kaum zu Glücksspielern oder Kupplernoder Säufern; sie predigen in der Regel nicht Unduldsamkeit undKrieg. Für sie liegt kein Sinn darin, Diebstahl zu begehen, zu betrügenoder die Armen zu unterdrücken. Und diesen gewaltigen negativenTugenden können wir eine andere hinzufügen, die zwar schwer zu de-finieren, jedoch positiv und ebenfalls wichtig ist. Der arhat und derQuietist geben sich der Kontemplation vielleicht nicht im größtmögli-chen Maße hin; aber wenn sie sie überhaupt ausüben, sind sie in derLage, erleuchtende Berichte über einen anderen, einen transzendenta-len Bereich des Geistes zu geben. Und wenn sie zu den Höhen derKontemplation gelangen, werden sie zu Mittlern, durch die ein Teildieser wohltuenden Erleichterung in eine Welt voll von abgestumpftenWesen gelangen kann, die eines solchen Einflusses von jeher so drin-gend bedürfen.

Mittlerweile hatte ich mich auf Verlangen des Experimentators vordem Porträt Cézannes den Vorgängen zugewandt, die sich in meinemKopf ereigneten, wenn ich die Augen schloss. Diesmal war die Wen-

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dung nach innen verwunderlich unergiebig. Was ich sah, waren ledig-lich stark gefärbte, beständig wechselnde Gebilde, die aus Kunstharzoder emailliertem Blech zu bestehen schienen.

»Billig!« war meine Bemerkung dazu. »Gewöhnlich! Wie Dinge auseinem Zehn-Cent-Bazar.«

Und all dieses minderwertige Zeug existierte in einem geschlosse-nen, eingeengten Universum.

»Es ist so, als wäre man auf einem Schiff unter Deck«, sagte ich. »Ineinem schwimmenden Zehn-Cent-Bazar.«

Und bei weiterer Betrachtung wurde mir klar, dass dieses Zehn-Cent-Bazarschiff irgendwie mit menschlicher Anmaßung zusammen-hing. Dieses erstickende Innere eines Zehn-Cent-Bazarschiffs warmein eigenes persönliches Ich; dieser Krimskrams, bestehend aus be-weglichen Teilchen aus Blech und Kunstharz, war mein persönlicherBeitrag zum Weltall.

Ich empfand die Lektion als heilsam, aber es betrübte mich den-noch, dass sie in diesem Augenblick und in dieser Form erteilt werdenmusste. In der Regel entdeckt jemand, der Meskalin nimmt, eine innereWelt, die so offenkundig etwas Gegebenes, so einleuchtend unendlichund heilig ist wie die verwandelte äußere Welt, welche ich mit offenenAugen gesehen hatte. Von Anfang an unterschied sich mein eigenerFall davon. Meskalin hatte mich vorübergehend befähigt, mit geschlos-senen Augen allerlei zu sehen, aber es konnte mir, wenigstens bei dieserGelegenheit, keinen Einblick in die Dinge vermitteln, der auch nur imentferntesten den Blumen oder dem Sessel oder meiner Flanellhose»dort draußen« vergleichbar gewesen wäre. Was es mich innerlich hattevernehmen lassen, war nicht der Dharma-Leib in Ebenbildern, sondernmein eigener Geist; nicht archetypisches So-Sein, sondern eine Gruppevon Symbolen – mit anderen Worten: hausgemachter Ersatz für dasSo-Sein.

Die meisten visuell Veranlagten werden durch Meskalin zu Visio-nären. Einige von ihnen – und sie sind vielleicht zahlreicher, als allge-mein angenommen wird – bedürfen keiner Verwandlung; sie sind die

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ganze Zeit Visionäre. Die geistige Spezies, zu der William Blake gehör-te, ist sogar in den verstädterten, industrialisierten menschlichen Ge-sellschaften der heutigen Zeit ziemlich weit verbreitet. DieEinzigartigkeit dieses Dichtermalers besteht nicht darin, dass er (umaus seinem »Beschreibenden Katalog« zu zitieren) tatsächlich »diesewundervollen Urbilder, die in der Heiligen Schrift die Cherubim ge-nannt werden«, sah. Sie besteht nicht darin, dass »...diese in meinenVisionen gesehenen Urbilder zum Teil hundert Fuß hoch waren...und alle eine mythologische und verborgene Bedeutung enthielten«.Seine Einzigartigkeit besteht ausschließlich in seiner Fähigkeit, inWorten oder (mit etwas geringerem Erfolg) in Linien und Farben we-nigstens die Ahnung von einem nicht übermäßig ungewöhnlichen Er-lebnis zu vermitteln. Der künstlerisch unbegabte Visionär kann einenicht weniger gewaltige, schöne und bedeutungsvolle innere Wirklich-keit wahrnehmen als die von Blake geschaute Welt; aber es fehlt ihmganz und gar die Fähigkeit, in Wort- oder Bildsymbolen auszudrücken,was er gesehen hat.

Aus den Zeugnissen der Religion und den erhalten gebliebenenDenkmälern der Dichtkunst und der bildenden Künste geht sehrdeutlich hervor, dass die Menschen fast immer und überall der inne-ren Sicht der Dinge mehr Bedeutung beimaßen als dem objektiv Exis-tierenden und gefühlt haben, dass das mit geschlossenen AugenGesehene eine größere spirituelle Bedeutung besaß als das, was sie mitoffenen Augen sahen. Der Grund? Vertrautsein erzeugt Verachtung,und die Aufgabe, sich am Leben zu erhalten, reicht in ihrer Dringlich-keit von der chronischen Langeweile bis zur akuten Qual. In der äuße-ren Welt erwachen wir jeden Morgen unseres Lebens, sie ist der Ort,wo wir uns, ob wir wollen oder nicht, unseren Lebensunterhalt ver-schaffen müssen. In der inneren Welt gibt es weder Arbeit noch Eintö-nigkeit. Wir halten uns nur in Träumen und Träumereien in ihr auf,und das Seltsame an ihr besteht darin, dass wir nie bei zwei aufeinan-der folgenden Gelegenheiten dieselbe Welt vorfinden. Kein Wunderalso, wenn die Menschen auf ihrer Suche nach dem Göttlichen ge-wöhnlich lieber nach innen blickten! Gewöhnlich, aber nicht immer.Die Taoisten und die Zen-Buddhisten blickten, in ihrer Kunst nicht

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weniger als in ihrer Religion, mit Hilfe ihrer Visionen in die große Leereund durch diese auf »die zehntausend Dinge« der objektiven Wirklich-keit. Christen hätten aufgrund ihres Glaubens an das fleischgewordeneWort von Anfang an fähig sein sollen, eine ähnliche Haltung gegen-über ihrer Umwelt einzunehmen. Aber da ihre Glaubenslehre den Sün-denfall enthielt, fiel ihnen diese Haltung sehr schwer. Noch vordreihundert Jahren war der Ausdruck einer gründlichen Weltverach-tung und sogar Weltverdammung sowohl rechtgläubig als auch ver-ständlich. »Wir sollten nichts in der Natur mit Verwunderungbetrachten, ausgenommen einzig die Fleischwerdung Christi.« Im 17.Jahrhundert schien dieser Satz Lallemants einen Sinn zu beinhalten.Heute klingt er nach Wahnsinn.

In China erreichte die Landschaftsmalerei den Rang einer hohenKunst vor etwa tausend, in Japan vor etwa sechshundert und in Europavor etwa dreihundert Jahren. Die Gleichsetzung des Dharma-Leibs mitder Hecke nahmen die Zen-Meister vor, indem sie den taoistischenNaturalismus mit dem buddhistischen Transzendentalismus in Ver-bindung brachten. Darum kam es nur im Fernen Osten zu der Ent-wicklung, dass Landschaftsmaler ihre Kunst bewusst als religiösbetrachteten. Im Westen beinhaltete die religiöse Malerei das Porträtie-ren heiliger Personen und das Illustrieren geheiligter Texte. Land-schaftsmaler betrachteten sich als weltliche Künstler. Heuteanerkennen wir in Seurat einen der größten Meister der so genanntenmystischen Landschaftsmalerei, und doch war dieser Maler, der wir-kungsvoller als jeder andere das eine im vielen wiederzugeben ver-mochte, ganz entrüstet, als er wegen der »Poesie« seiner Werke gelobtwurde. »Ich wende bloß die Methode an«, verwahrte er sich. Mit ande-ren Worten, er war bloß ein Pointillist und in seinen eigenen Augennicht mehr. Eine ähnliche Anekdote ist über John Constable bekannt.Eines Tages gegen Ende seines Lebens traf Blake seinen jüngerenKünstlerkollegen in Hampstead, und dieser zeigte ihm eine seiner Skiz-zen. Trotz seiner Verachtung für naturalistische Kunst erkannte deralte Visionär etwas Gutes, wenn er es zu Gesicht bekam – natürlichnur, wenn es nicht von Rubens war. »Das ist keine Zeichnung«, rief eraus, »das ist eine Inspiration!« – »Ich habe die Absicht gehabt, zu zeich-

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nen«, war Constables charakteristische Antwort. Beide hatten recht. Eswar Zeichnen, genaues und wahrheitsgetreues Zeichnen, und zugleichwar es Inspiration – eine Inspiration, die von mindestens ebenso ho-hem Rang war wie die Blakes. Die Föhren auf Hampstead Heath wa-ren tatsächlich als identisch mit dem Dharma-Leib gesehen worden.Die Skizze enthielt eine notwendigerweise unvollkommene , aber dochzutiefst beeindruckende Wiedergabe dessen, was ein von Ballast befrei-tes Wahrnehmungsvermögen den offenen Augen eines großen Malersenthüllt hatte.

Von einer in der Tradition eines Wordsworth und Whitman veran-kerten Kontemplation des Dharma-Leibs als Hecke und aus Visionen,wie Blake sie von den »wundervollen Urbildern« hatte, haben sich unse-re zeitgenössischen Dichter darauf zurückgezogen, sich mit dem per-sönlichen – im Gegensatz zum kollektiven – Unbewussten zu befassenund in höchst abstrakten Formulierungen nicht die gegebenen objek-tiven Tatsachen, sondern rein wissenschaftliche und theologische Be-griffe wiederzugeben. Und etwas Ähnliches hat sich in der Malereiabgespielt. Hier waren wir Zeugen eines allgemeinen Rückzugs aus derLandschaftsmalerei, der vorherrschenden Kunstform des 19. Jahrhun-derts. Er führte nicht in jenes von Gott gegebene Innere, mit dem sichdie meisten traditionellen Schulen der Vergangenheit befasst hatten,nicht in die Archetypen-Welt, in der die Menschen von jeher dieQuellen fanden, aus denen sie Mythen und Religionen entwickelten.Nein, es war ein Sichzurückziehen aus den äußeren Gegebenheiten indas persönliche Unbewusste, in eine seelische Welt, die noch trüberund hermetischer abgeschlossen ist als die Welt einer bewussten Persön-lichkeit. Wo hatte ich diese Machwerke aus Blech und grellfarbigemPlastik schon einmal gesehen? In jeder Bildergalerie, in der die neues-ten Schöpfungen der Kunst ausgestellt sind.

Und nun brachte jemand ein Grammophon und legte eine Platteauf. Ich hörte mit Genuss zu, erlebte aber nichts, das meinen vorheri-gen Apokalypsen von Blumen oder Flanell vergleichbar war. Würdeein musikalisch Begabter die Offenbarungen hören, die für mich aus-schließlich visuell gewesen waren? Es wäre interessant, dieses Experi-ment anzustellen. Indes trug die Musik, obgleich sie nicht verklärt war

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und ihre gewohnte Qualität und Intensität behielt, nicht wenig zumVerständnis des von mir Erlebten und der weitreichenden, durch die-ses Erlebnis aufgeworfenen Probleme bei.

Instrumentalmusik ließ mich seltsamerweise ziemlich kalt. MozartsKlavierkonzert in c-moll wurde nach dem ersten Satz unterbrochenund eine Platte mit einigen Madrigalen von Gesualdo aufgelegt.

»Diese Stimmen«, sagte ich anerkennend, »diese Stimmen bildeneine Art Brücke, die in die menschliche Welt zurückführt.«

Und eine Brücke blieben sie, sogar während sie diese höchst er-staunlich chromatischen Kompositionen des verrückten Fürsten san-gen. Durch die unterschiedlich langen Perioden des Madrigals setztesich die Musik fort, ohne auch nur zwei Takte lang in derselben Ton-art zu bleiben. Bei Gesualdo, dieser phantastischen Gestalt, die aus ei-nem Schauer- und Rührstück von Webster zu stammen schien, hatpsychischer Zerfall eine Neigung bestärkt, ja auf die Spitze getrieben,die die Eigenart modaler im Gegensatz zu rein tonaler Musik ist. Diedurch diesen Umstand entstandenen Werke klingen, als wären sieziemlich später Schönberg.

»Und doch«, fühlte ich den Drang zu sagen, während ich diesen selt-samen Erzeugnissen einer auf eine spätmittelalterliche Kunstform sichauswirkenden Gegenreformations-Psychose lauschte, »und doch hat esgar keine Bedeutung, dass sich bei ihm alles in Teile auflöst. Das Gan-ze ist desorganisiert. Aber jedes einzelne Bruchstück ist in Ordnung, istein Vertreter einer höheren Ordnung. Diese höhere, göttliche Ord-nung herrscht sogar im Zerfall. Die Geschlossenheit des Ganzen istauch noch in den Bruchstücken vorhanden. Vielleicht deutlicher vor-handen als in einem völlig zusammenhängenden Werk. Zumindest wirdman nicht durch eine rein menschliche, lediglich gemachte Ordnungzu einem falschen Sicherheitsgefühl verführt. Man muss sich auf die ei-gene unmittelbare Wahrnehmung der höchsten, endgültigen Ordnungverlassen. So kann also in gewissem Sinn Auflösung ihren Vorteil ha-ben. Aber selbstverständlich ist sie gefährlich, schrecklich gefährlich.Wie, wenn man nicht mehr zurückfände aus dem Chaos...?«

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Von Gesualdos Madrigalen sprangen wir über eine Kluft von dreiJahrhunderten zu Alban Berg und seiner »Lyrischen Suite«.

»Das«, so verkündete ich im voraus, »wird höllisch werden.«

Aber wie es sich herausstellte, war ich im Irrtum. Im Grunde ge-nommen klang diese Musik recht komisch. Aus dem persönlichen Un-bewussten herausgearbeitet, folgte eine Zwölfton-Seelenqual deranderen; aber was mir auffiel, war nur das grundlegende Missver-hältnis zwischen einem noch größeren psychischen Zerfall als bei Ge-sualdo und der gewaltigen Mittel an Talent und Technik, die zuseinem Ausdruck aufgewendet worden waren.

»Wie leid er sich tut!« bemerkte ich dazu mit einem von Spott getra-genen Mangel an Mitgefühl. Und dann: »Katzenmusik – gelahrte Kat-zenmusik!« Und schließlich, nach ein paar weiteren Minuten desSeelenschmerzes: »Wen kümmern schon seine Gefühle? Warum kann ersich nicht um etwas anderes kümmern?«

Als Kritik an einem zweifellos sehr bemerkenswerten Werk war die-ser Gedanke unfair und unzulänglich – aber, wie ich glaube, nicht un-begründet. Ich führe das hier an, wie wichtig es auch immer sein mag,weil ich nun einmal in einem Zustand reiner Kontemplation so auf die»Lyrische Suite« reagierte.

Als sie zu Ende war, schlug der Experimentator einen Gang durchden Garten vor. Ich willigte ein, und obgleich mein Körper sich fastvöllig von meinem Geist losgesagt zu haben schien – um genauer zusein, obgleich mein Bewusstsein von der verwandelten äußeren Weltnun nicht mehr im Einklang mit meinem Körpergefühl war –, stellteich fest, dass ich nach kurzem Zögern fähig war, aufzustehen, dieGlastür zu öffnen und in den Garten hinauszugehen. Es war natürlichein sehr seltsames Gefühl, nicht mehr zu diesen Armen und Beinen»dort draußen«, diesem völlig gegenständlichen Rumpf, diesem Halsund nicht einmal zu diesem Kopf zu gehören. Es war verwunderlich,aber man gewöhnte sich bald daran. Und jedenfalls schien der Körperdurchaus imstande zu sein, selber für sich zu sorgen. In Wirklichkeitsorgt er natürlich immer selber für sich. Das bewusste Ich kann nicht

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mehr tun, als Wünsche zu formulieren, welche dann durch Kräfte aus-geführt werden, die es nur wenig beherrscht und ganz und gar nichtversteht. Wenn es mehr tut – wenn es sich zum Beispiel zu sehr an-strengt, wenn es sich zu sehr sorgt, zu sehr die Zukunft fürchtet –, ver-ringert es die Wirksamkeit dieser Kräfte, und das kann sogar dazuführen, dass der in seiner Lebenskraft geschwächte Körper erkrankt.In meinem gegenwärtigen Zustand war mein Bewusstsein nicht auf einIch bezogen; es war sozusagen selbständig. So hatte sich auch der denKörper beherrschende physiologische Verstand verselbständigt. Fürden Augenblick war jener sich einmischende Neurotiker, der in wa-chen Stunden seine Show abzieht, glücklicherweise ausgeschaltet.

Durch die Glastür trat ich auf eine Art Pergola hinaus, die teilwei-se von Kletterrosen und teilweise von einer Lattenkonstruktion über-dacht ist und deren Latten und die Zwischenräume jeweils einen Zollbreit sind. Die Sonne schien und die Schatten der Stäbe bildeten einZebramuster auf dem Boden und auf Sitz und Lehne eines Liegestuhls,der hier auf der Pergola stand. Dieser Liegestuhl – werde ich ihn je ver-gessen? An den Stellen, wo die Schatten auf seine Leinenbespannungfielen, entstanden wechselweise Streifen von einem tiefen, aber glühen-den Indigoblau und helle leuchtende Streifen, so das es schwer fiel, zuglauben, sie könnten nicht aus blauem Feuer sein. Es kam mir vor, alsblickte ich eine unendlich lange Zeit darauf, ohne zu wissen, ja sogarohne wissen zu wollen, was sich da mir gegenüber befand. Zu jeder an-deren Zeit hätte ich einen abwechselnd von Licht und Schatten ge-streiften Liegestuhl gesehen. Heute aber hatte derWahrnehmungsinhalt den Begriffsinhalt in sich aufgenommen. Ichwar vom Betrachten derartig in Anspruch genommen, so sehr vomDonner gerührt von dem, was ich tatsächlich sah, dass nichts anderesmeinem Bewusstsein zugänglich war. Gartenmöbel, Lattenstäbe, Son-nenlicht , Schatten – das waren bloß Namen und Begriffe, lediglich Ver-balisierungen des Ereignisses für nützliche oder wissenschaftlicheZwecke. Das Ergebnis war diese Aufeinanderfolge azurblauer Schmelz-ofentüren, die durch Klüfte eines unergründlichen Enzianblaus vonei-nander getrennt waren. Es war unaussprechlich wundervoll, fast inerschreckendem Grad wundervoll. Und plötzlich hatte ich eine Ah-

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nung davon, was für ein Gefühl es sein muss, wahnsinnig zu sein. DieSchizophrenie hat ebenso ihre Himmel wie ihre Höllen und Fegefeuer.Ich erinnere mich dessen, was mir ein schon vor Jahren verstorbenerFreund von seiner wahnsinnigen Frau erzählte. Eines Tages, währenddes frühen Stadiums der Krankheit, als seine Frau noch luzide Inter-valle hatte, war er in die Heilanstalt gegangen, um mit ihr über dieKinder zu sprechen. Sie hörte ihm eine Zeitlang zu und schnitt ihmdann das Wort ab. Wie könne er es über sich bringen, seine Zeit mitden zwei abwesenden Kindern zu vergeuden, wenn alles, worauf eswirklich ankomme, hier und jetzt geschehe und in der unaussprechli-chen Schönheit der Muster bestehe, die seine braune Tweedjacke im-mer dann bilde, wenn er den Arm bewege? Leider jedoch sollte diesesParadies unverstellter Wahrnehmung, reiner, aber einseitiger Kontem-plation, nicht von Dauer sein. Die seligen Zwischenzeiten wurden immerseltener, immer kürzer, bis sie sich schließlich nicht mehr einstellten undnur Grauen übrig blieb.

Die meisten Menschen, die Meskalin nehmen, erleben bloß denhimmlischen Teil der Schizophrenie. Die Droge führt nur diejenigenin die Hölle und in das Fegefeuer, die kurz vorher einen Anfall vonGelbsucht hatten, an periodischen Depressionen oder chronischerAngst leiden. Wenn Meskalin, wie andere ähnlich starke Rauschmittel,notorisch toxisch wäre, gäbe schon sein bloßer Genuss Anlass zu Be-fürchtungen. Aber ein durchschnittlich gesunder Mensch weiß, dassMeskalin für ihn völlig unschädlich ist, dass seine Wirkungen sich nachacht bis zehn Stunden verlieren, keinen Katzenjammer hinterlassenund daher auch kein Bedürfnis nach einer Erneuerung der Dosis auf-tritt. Gestützt durch dieses Wissen, lässt er sich ohne Furcht auf dasExperiment ein – mit anderen Worten, er hat weder Anlass noch Nei-gung, eine beispiellos fremdartige und außerhalb des üblichen Bereichsliegende menschliche Erfahrung in etwas Entsetzliches, etwas tatsäch-lich Teuflisches zu verwandeln.

Einem Liegestuhl gegenüber, der aussah wie das Jüngste Gericht –oder, genauer gesagt, einem Jüngsten Gericht gegenüber, das ich nachlanger Zeit und mit beträchtlicher Schwierigkeit als einen Liegestuhl er-kannte –, merkte ich plötzlich, dass ich mich auf der Schwelle zur Pa-

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nik befand. Dies, so fühlte ich auf einmal, ging denn doch zu weit. Esging zu weit, obgleich es ein Eindringen in intensivere Schönheit, tiefe-re Bedeutung darstellte. Die Furcht, wenn ich sie nun nachträglichanalysiere, galt einem Überwältigtwerden, einem Zerfallen unter ei-nem Druck der Wirklichkeit, der so stark werden könnte, dass einGeist, der es gewohnt war, sich die meiste Zeit in einer Welt von Sym-bolen heimisch zu fühlen, ihn unmöglich ertragen könnte. Die Litera-tur, die religiöses Erleben schildert, ist überreich an Hinweisen auf dieSchmerzen und Schrecken, von denen diejenigen überwältigt werden,die sich plötzlich einer Offenbarung des mysterium tremendum gegen-übersehen. In der Sprache der Theologie ausgedrückt geht dieseFurcht auf die Unvereinbarkeit der menschlichen Ichsucht mit dergöttlichen Reinheit zurück, auf die von ihm selbst betonte Abgegrenzt-heit des Menschen von der Grenzenlosigkeit Gottes. Jakob Boehmeund William Law folgend lässt sich sagen, dass verderbte Seelen dasgöttliche Licht in seinem vollen Glanz nur als ein brennendes, alle Un-reinheit hinwegfegendes Feuer verstehen können. Etwas nahezu Iden-tisches findet sich im »Tibetanischen Totenbuch«, in dem beschriebenwird, wie die abgeschiedene Seele in höchster Qual vor dem »klarenLicht der großen Leere« und sogar vor den kleineren, weniger hellenLichtern zurückscheut und sich kopfüber in das tröstliche Dunkel desDaseins als Selbst zurückstürzt, das Leben als wiedergeborener Menschoder sogar als Tier, als unseliger Geist, als ein Bewohner der Höllewählt. Alles, alles, nur nicht diese brennende Helle ungemilderterWirklichkeit!

Die schizophrene Seele ist nicht nur unerlöst, sondern auch sehrschwer erkrankt. Die Krankheit des Schizophrenen besteht in demUnvermögen, sich vor der inneren und äußeren Wirklichkeit (so wiedas der geistig Gesunde im allgemeinen tut) in die selbst erschaffeneWelt der Vernunft zu flüchten – in die menschlich abgegrenzte Weltmit ihren nützlichen Begriffen, gemeinsamen Symbolen und allgemeinanerkannten Konventionen. Der Schizophrene gleicht einem Men-schen, der dauernd unter dem Einfluss von Meskalin steht und dahernicht imstande ist, das Erleben einer Wirklichkeit auszuschalten, mitder zu leben er nicht heilig genug ist, die er nicht wegerklären kann,

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denn sie ist die unumstößlichste aller Tatsachen, und die ihm, weil siees ihm nie erlaubt, die Welt allein mit menschlichen Augen anzusehen,einen solchen Schrecken einjagt, dass er ihre nie endende Fremdartig-keit, die brennende Intensität als Manifestation menschlicher oder so-gar kosmischer Böswilligkeit auslegt, welche die verzweifeltstenGegenmaßnahmen fordert, angefangen von mörderischer Gewalttätig-keit bis zur Katatonie oder zum psychischen Selbstmord. Und befän-de man sich erst einmal auf dieser abwärts führenden, auf dieserHöllenstraße, dann wäre man nicht mehr imstande, haltzumachen.Das war mir nun nur allzu klar.

»Wenn man sich erst einmal in der falschen Richtung bewegte«, sag-te ich als Antwort auf die Fragen des Experimentators, »wäre alles, wasgeschieht, ein Beweis für die Verschwörung gegen einen. Alles hätteseine eigene Gültigkeit. Man könnte keinen Atemzug tun, ohnegleichzeitig zu wissen, dass er ein Teil der Verschwörung ist.«

»Also glauben Sie zu wissen, wo der Wahnsinn beginnt?«

Meine Antwort war ein überzeugtes und tief empfundenes Ja.

»Und Sie hätten keine Kontrolle über ihn?«

»Nein. Ich hätte ihn nicht in der Kontrolle. Wenn man Furcht undHass als Voraussetzungen für ihn annimmt, kommt man um das bittereEnde nicht herum.«

»Wärst du imstande«, fragte meine Frau, »deine Aufmerksamkeitfest auf das zu richten, was das ›Tibetanische Toten-buch‹ das ›klareLicht‹ nennt?«

Ich äußerte meine Zweifel.

»Würde es das Übel bannen, dieses Licht, wenn du es im Auge be-halten könntest, oder wärst du dazu nicht imstande?«

Ich erwog die Frage eine Weile.

»Vielleicht«, antwortete ich endlich. »Vielleicht könnte ich das.Aber nur, wenn jemand dabei wäre, der mir von dem klaren Licht spre-chen würde. Man könnte es nicht allein. Das ist vermutlich der Sinn

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des tibetanischen Rituals – dass jemand die ganze Zeit bei einem istund einem sagt, worauf es ankommt.«

Nachdem ich mir dann später die Aufnahme dieses Teils des Expe-riments angehört hatte, holte ich mir das ›Tibetanische Totenbuch‹von Evans-Wentz aus dem Regal und öffnete es aufs Geratewohl.

»O Edelgeborener, lass deinen Geist nicht abgelenkt werden!« Daswar das Problem: sich nicht ablenken zu lassen. Unabgelenkt durch dieErinnerung an begangene Sünden, vorgestellte Genüsse, den bitterenNachgeschmack alten erlittenen Unrechts und alter Demütigungen,durch all die Furcht- und Hassgefühle und Begierden, die für gewöhn-lich das Licht verdunkeln. Was jene buddhistischen Mönche für dieSterbenden und die Toten tun, könnte das der moderne Psychiaternicht für die Geistesgestörten tun? Es muss nur eine Stimme da sein,die ihnen bei Tag und sogar während des Schlafs versichert, dass trotzall der Schrecken, all der Bestürzung und Verwirrung die letzte Wirk-lichkeit unerschütterlich bleibt und von derselben Substanz ist wie dasInnere Licht des Gemüts, sei es auch noch so grausam gemartert. MitHilfe von Apparaten wie Plattenspielern, automatisch gesteuertenSchaltmechanismen, Lautsprechern und Kopfhörern sollte es sehrleicht sein, auch die Insassen einer Anstalt, die wenig Personal hat, un-aufhörlich an diese grundlegende Tatsache zu gemahnen. Vielleichtwürde einigen dieser verlorenen Seelen auf diese Weise dazu verholfen,ein gewisses Maß an Herrschaft über jene Welt – eine zugleich schöneund entsetzliche, aber immer von der menschlichen verschiedene, völligunbegreifliche Welt – zu gewinnen, in welcher zu leben sie sich verur-teilt sehen.

Keineswegs zu früh wurde ich von der beunruhigenden Prachtund Herrlichkeit meines Liegestuhls abgelenkt. In grünen Parabeln vonder Hecke herabhängend, strahlte das Efeulaub ein jadeartig glasigesLeuchten aus. Einen Augenblick später explodierte ein Beet vollerblüh-ter Hyazinthenaloen innerhalb meines Gesichtsfeldes. Die Blumen wa-ren bis zu einem solchen Grad lebendig, dass sie ganz nahe daran zusein schienen, sich zu äußern, während sie in das Blau des Himmelsemporstrebten. Wie der Liegestuhl unter den Latten der Pergola be-

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teuerten auch sie zu viel. Ich blickte auf die Blätter und entdeckte einwellenförmiges kompliziertes Muster aus den zartesten grünen Lichternund Schatten, das pulsierte, als enthülle es ein Geheimnis, das nichtenträtselt werden konnte.

Rosen:Die Blüten sind leicht zu malen,

die Blätter schwierig.

Das haiku des Shiki drückt indirekt genau das aus, was ich empfand– die übermäßige, die allzu offenbare Herrlichkeit der Blüten, die imGegensatz zu dem subtileren Wunder des Blattwerks stand.

Wir gingen auf die Straße hinaus. Ein großes hellblaues Auto standam Randstein. Bei seinem Anblick wurde ich plötzlich von ungeheurerHeiterkeit überwältigt. Was für eine Selbstgefälligkeit, was für eine ab-surde Selbstzufriedenheit lächelte breit aus diesen gewölbten Flächen!Ich lachte, bis mir die Tränen über die Wangen liefen.

Wir gingen ins Haus zurück. Eine Mahlzeit stand bereit. Jemand,der noch nicht mit mir identisch war, stürzte sich mit einem Wolfs-hunger darauf. Aus beträchtlicher Entfernung und ohne großes Interes-se sah ich zu.

Als die Mahlzeit beendet war, stiegen wir in das Auto und fuhrenspazieren. Die Wirkung des Meskalins begann schon nachzulassen,aber die Blumen in den Gärten standen noch immer auf der Schwellezum Übernatürlichen. Die Pfeffer- und Johannisbrotbäume längs derSeitenstraßen gehörten offenkundig noch immer zu einem heiligenHain. Der Garten Eden wechselte mit Dodona ab, Yggdrasil mit dermystischen Rose. Und dann, ganz plötzlich, waren wir an einer Stra-ßenkreuzung und warteten, um den Sunset Boulevard zu überqueren.Vor uns rollten die Autos in einem stetigen Strom vorbei – Tausende,alle gleißend und glänzend wie der Traum eines Reklamefachmanns,und das nächste immer lächerlicher als das vorige. Abermals wurde ichvon Lachen geschüttelt.

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Das Rote Meer des Verkehrs teilte sich endlich, und wir fuhren hi-nüber in eine andere Oase von Bäumen, Rasenflächen und Rosen.Nach ein paar Minuten waren wir zu einem Aussichtspunkt in denBergen hinaufgelangt, und die Stadt lag ausgebreitet zu unseren Füßen.Ziemlich enttäuschend war es, dass sie ganz wie die Stadt aussah, dieich bei anderen Gelegenheiten gesehen hatte. Was mich betraf, war dieVerklärung proportional zur Entfernung. Je näher die Dinge waren,desto göttlicher waren sie verwandelt. Dieses riesige, matte Panoramaunterschied sich kaum von sich selbst.

Wir fuhren weiter, und solange wir in den Bergen blieben, wo eineFernsicht auf die andere folgte, blieb die Bedeutsamkeit auf ihrer All-tagsstufe, ein gutes Stück unter dem Übergang zur Verklärung. DerZauber begann erst wieder zu wirken, als wir uns hinab wandten ineine neue Vorstadt und zwischen zwei Häuserzeilen dahinfuhren. Hierkam es trotz der besonderen Scheußlichkeit der Architektur zu neuerli-chen Fällen transzendenten Andersseins, zu Andeutungen des Him-mels vom Vormittag. Ziegelschornsteine und imitierte grüneKupferdächer glühten im Sonnenschein wie Teile aus dem Neuen Je-rusalem. Und auf einmal sah ich, was Guardi gesehen und so oft (mitwelch unvergleichlicher Meisterschaft!) auf seinen Bildern wiedergege-ben hatte – eine Stuckmauer mit einem schräg auf sie fallenden Schat-ten, eine kahle, aber unvergesslich schöne Mauer, leer, aber durch unddurch von der ganzen Bedeutsamkeit, dem ganzen Geheimnis des Da-seins erfüllt. Die Offenbarung bereitete sich vor und war im Bruchteileiner Sekunde schon wieder vorbei. Das Auto war weitergefahren; dieZeit enthüllte eine neue Manifestation des ewigen So-Seins. »Innerhalbdes Identischen ist Verschiedenheit. Aber dass Verschiedenheit vonIdentität verschieden sein soll, ist keineswegs die Absicht aller jenerBuddhas. Ihre Absicht ist beides: Ganzheit und Unterschiedlichkeit.«Diese Böschung mit roten und weißen Geranien zum Beispiel – sie warvöllig verschieden von der Mauer hundert Schritte hinter uns. Aber derIstzustand von beiden war derselbe. Das Ewige in ihrer Vergänglichkeitwar dasselbe.

Eine Stunde später, als wir weitere fünfzehn Kilometer und den Be-such des »Größten Drugstore der Welt« glücklich hinter uns hatten,

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waren wir wieder daheim, und ich war in diesen beruhigenden, abertief unbefriedigenden Zustand zurückgekehrt, der als »recht bei Sin-nen sein« bekannt ist.

Dass die Menschheit als Ganzes je imstande sein wird, ohne künst-liche Paradiese auszukommen, ist sehr unwahrscheinlich. Die meistenMenschen führen ein schlimmstenfalls so beschwerliches, bestenfalls soeintöniges, armseliges und beschränktes Leben, dass der Drang, ihm zuentfliehen, die Sehnsucht – wenn auch nur für ein paar Augenblicke –,aus und über sich selbst hinauszugelangen, eine der vornehmlichen Be-gierden der Seele ist und immer gewesen ist. Kunst und Religion, Kar-nevale und Saturnalien, tanzen und Rednern zuhören – das alles hat,um H. G. Wells’ Ausdruck zu gebrauchen, als »Türen in der Mauer«gedient. Und für den privaten, für den alltäglichen Gebrauch hat esimmer chemische Rauschmittel gegeben. Alle die pflanzlichen Sedativa,Narkotika, alle die Euphorika, die auf Bäumen wachsen, die Halluzino-gene, die in Beeren reifen oder aus Wurzeln gepresst werden können –sie alle ohne Ausnahme sind seit undenklichen Zeiten den Menschenbekannt und systematisch von ihnen verwendet worden. Und diesennatürlichen Methoden, das Bewusstsein zu verändern, hat die moder-ne Wissenschaft ihre Quote von synthetischen Mitteln hinzugefügt –Chloral, zum Beispiel, und Benzedrin, die Bromverbindung und dieBarbiturate.

Die meisten dieser Bewusstseinsmodifikatoren können jetzt nur aufärztliche Verordnung hin genommen werden oder aber gesetzwidrigund mit beträchtlicher Gefahr. Für den uneingeschränkten Gebrauchhat der Westen nur Alkohol und Tabak erlaubt. Alle anderen chemi-schen Türen in der Mauer tragen das Schild »Rauschgift«, und wer sieunerlaubt benützt, wird als »Süchtiger« gebrandmarkt.

Wir geben heutzutage eine ganze Menge mehr für Trinken undRauchen aus als für Unterricht und Erziehung. Das ist natürlich nichtüberraschend. Der Drang zur Flucht aus seinem Selbst und seiner Um-welt ist in fast jedem Menschen fast jederzeit vorhanden. Der Drang, et-was für die Jugend zu tun, ist nur bei Eltern stark, und auch bei ihnennur während der wenigen Jahre, in denen ihre Kinder zur Schule ge-

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hen. Ebenso wenig überraschend ist die vorherrschende Einstellungzum Trinken und Rauchen. Ungeachtet des immer mehr anwachsen-den Heers hoffnungsloser Alkoholiker, ungeachtet der Hunderttau-sende, die alljährlich von betrunkenen Autofahrern zu Krüppelngemacht oder getötet werden, reißen Komiker noch immer Witze überden Alkohol und diejenigen, die ihm verfallen sind. Und ungeachtetdes Beweismaterials, das Zigaretten mit Lungenkrebs in Zusammen-hang bringt, betrachtet fast jeder Mensch das Tabakrauchen als kaumweniger normal und natürlich als das Essen. Vom Standpunkt des ra-tionalistischen Utilitariers aus gesehen, mag sich dies wunderlich aus-nehmen. Für den Historiker ist es genau das, was man erwarten würde.Eine feste Überzeugung von der materiellen Wirklichkeit der Höllehat die Christen des Mittelalters nie davon abgehalten, zu tun, was ih-nen ihr Ehrgeiz, ihre Lüsternheit oder ihre Begehrlichkeit einflüsterte.Lungenkrebs, Verkehrsunfälle und die Millionen elender und Elendverursachender Alkoholiker sind sogar noch realer, als es das Inferno zuDantes Zeiten war. Aber alle derartigen Tatsachen sind etwas Fernesund Ungreifbares, verglichen mit dem hier und jetzt empfundenenLechzen nach unmittelbarer Befreiung oder Beruhigung, nach einemguten Glas oder einer guten Zigarre.

Unser Zeitalter ist unter anderem das Zeitalter des Kraftwagensund raketenartig ansteigender Bevölkerungszahlen. Alkohol ist unver-einbar mit Sicherheit auf den Straßen, und seine Erzeugung ebenso wieder Tabakanbau bedeuten für viele Millionen Hektar des fruchtbarstenBodens soviel wie Unfruchtbarkeit. Die durch Alkohol und Tabakhervorgerufenen Probleme lassen sich, das versteht sich von selbst, nichtdurch Verbote lösen. Der allgemeine und immer vorhandene Drangzur Selbstüberschreitung lässt sich nicht durch das Zuschlagen der ge-genwärtig beliebtesten Türen in der Mauer beseitigen. Das einzig ver-nünftige Vorgehen wäre, andere, bessere Türen zu öffnen und zuhoffen, dass die Menschen dadurch zu bewegen sein werden, ihre al-ten, schlechten Gewohnheiten gegen neue und weniger schädliche zutauschen. Einige dieser anderen, besseren Türen werden sozialer undtechnischer Art sein, andere religiöser oder psychologischer, wiederandere diätetischer, erzieherischer, sportlicher Art. Aber das Bedürfnis

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nach häufigen chemischen Ferien, vom eigenen unerträglichen Selbstund von der abstoßenden Umgebung, wird zweifellos auch dann be-stehen bleiben. Was benötigt wird, ist eine neue Droge, die unserer lei-denden Spezies Erleichterung und Trost brächte, ohne auf die Dauermehr zu schaden, als auf kurze Zeit gut zu tun. Eine solche Drogemuss schon in kleinsten Dosierungen kräftig wirken und synthetischherstellbar sein. Wenn sie diese Eigenschaften nicht besitzt, wird ihreErzeugung ebenso wie die von Wein, Bier, Spirituosen und Rauchwarenden Anbau unentbehrlicher Nahrungsmittel und Faserstoffe behindern.Eine solche Droge muss weniger toxisch sein als Opium und Kokain,weniger geeignet, unerwünschte Folgen im sozialen Bereich hervorzu-rufen, als Alkohol oder die Barbiturate, weniger schädlich für Herz undLunge als die Teere und das Nikotin von Zigaretten. Und auf der po-sitiven Seite muss sie interessantere und an sich wertvollere Verände-rungen des Bewusstseins hervorrufen als bloße Beruhigung oderverträumte Verschwommenheit, Einbildung von Allmacht oder Befrei-ung von Hemmungen.

Für die meisten Menschen ist Meskalin fast völlig unschädlich. ImGegensatz zu Alkohol treibt es nicht zu der Art von hemmungsloserBetätigung, die zu Raufereien, Verbrechen, Gewalttaten und Verkehrs-unfällen führt. Ein Mensch, der unter dem Einfluss von Meskalinsteht, kümmert sich ruhig um seine eigenen Angelegenheiten. Über-dies ist die Angelegenheit, um die er sich am meisten kümmert, ein Er-lebnis der erleuchtendsten Art, das nicht (und das ist sicherlich wichtig)mit einem kompensatorischen Katzenjammer bezahlt zu werdenbraucht. Von den mit regelmäßigem Meskalingenuss verbundenen Fol-gen auf lange Sicht wissen wir sehr wenig. Indianer, die Peyotepriemekauen, scheinen durch diese Gewohnheit weder physisch noch mora-lisch zu verkommen. Die vorhandenen Beobachtungsergebnisse sindjedoch noch immer spärlich und skizzenhaft.6

6) In seiner in den Transactions of the American Philosophical Society (Dezember 1952)veröffentlichten Monographie »Menomini Peyotism« schreibt Professor J. S. Slotkin:»Der gewohnheitsmäßige Genuss von Peyote scheint keine sich steigernde Gewöhnungund keine süchtige Abhängigkeit hervorzurufen. Ich kenne viele, die seit vierzig bis fünf-zig Jahren Peyotisten sind. Die Menge von Peyote, die sie zu sich nehmen, hängt von derFeierlichkeit des Anlasses ab, im allgemeinen nehmen sie heute nicht mehr Peyote als vorJahren. Auch liegt manchmal eine Pause von einem Monat oder mehr zwischen den Ri-

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Meskalin ist zweifellos dem Kokain, dem Opium, dem Alkohol unddem Tabak überlegen, aber noch nicht das ideale Präparat. Neben dereine beglückende Verklärung erlebenden Mehrzahl der Meskalinan-hänger gibt es eine Minderzahl, die im Genuss von Meskalin nur dieHölle oder das Fegefeuer findet. Überdies hält für ein Rauschmittel,das wie Alkohol dem allgemeinen Genuss dienen soll, seine Wirkungeine unbequem lange Zeit an. Aber Chemie und Physiologie vermögenheutzutage so gut wie alles. Man kann sich darauf verlassen, dass, so-bald die Psychologen und Soziologen die idealen Eigenschaften einessolchen Präparats genau definieren, die Neurologen und Pharmakolo-gen entdecken werden, wie dieses Ideal verwirklicht werden kann, oderwie man ihm zumindest (denn vielleicht lässt sich diese Art von Idealschon der Natur der Sache wegen nie voll verwirklichen) näher kom-men kann, als es in der weintrinkenden Vergangenheit und der whisky-trinkenden, marihuanarauchenden und barbiturateschluckendenGegenwart möglich war.

Der Drang, die Grenzen ichbewusster Selbstheit zu überschreiten,ist, wie ich sagte, ein Hauptverlangen der Seele. Wenn es aus irgendei-nem Grund Menschen nicht gelingt, durch Andacht, gute Werke undgeistliche Übungen über sich selbst hinauszugelangen, sind sie bereitund geneigt, auf die chemischen Surrogate für Religion zu verfallen –Alkohol und Morphium und »Schnee« im heutigen Westen, Alkoholund Opium im Osten, Haschisch in der mohammedanischen Welt, Al-

tualen, und während dieses Zeitraums enthalten sie sich des Peyote, ohne eine Sucht da-nach zu verspüren Ich persönlich habe nicht einmal nach einer Reihe von Ritualen, diean vier aufeinander folgenden Wochenenden stattfanden, die Dosis vergrößert und auchkein fortdauerndes Bedürfnis nach Peyote empfunden.« Offenbar nicht ohne gute Grün-de wurde »Peyote niemals gesetzlich zum Narkotikum erklärt oder sein Genuss von deramerikanischen Bundesregierung verboten.« Dennoch »versuchten während der langenGeschichte des Kontakts zwischen Indianern und Weißen die weißen Beamten gewöhn-lich, den Genuss von Peyote zu unterdrücken, weil sie sich einbildeten, dass er ihr eigenesSittlichkeitsgefühl verletzte. Aber diese Versuche schlugen stets fehl.« In einer Fußnotefügt Dr. Slotkin hinzu: »Es ist erstaunlich, was für phantastische Geschichten über dieWirkungen des Peyote und die Art des Rituals von den weißen und den katholisch-indiani-schen Beamten der Menomini-Reservation verbreitet werden. Keiner von ihnen hat die ge-ringste unmittelbare Erfahrung mit der Pflanze oder mit dieser Religion gehabt, und dochbilden sich einige von ihnen ein, Autoritäten auf diesem Gebiet zu sein, und schreiben amt-liche Berichte darüber.«

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kohol und Marihuana in Mittelamerika, Alkohol und Coca in den An-den, Alkohol und die Barbiturate in den mehr mit der Zeit gehendenGebieten Südamerikas. In Poisons Sacrés, Ivresses Divines hat Philippe deFelice ausführlich und reich belegt über den seit undenklichen Zeitenbestehenden Zusammenhang zwischen Religion und den Genuss vonRauschmitteln geschrieben. Hier, teils zusammengefasst, teils wörtlichzitiert, seine Schlussfolgerungen: Die Verwendung toxischer Substan-zen für religiöse Zwecke ist »außerordentlich weit verbreitet... Die indiesem Buch behandelten Bräuche lassen sich in allen Teilen der Weltbeobachten, bei den Primitiven ebenso wie bei hochzivilisierten Völ-kern. Wir befassen uns hier also nicht mit außerordentlichen Tatsa-chen, die man berechtigterweise unbeachtet lassen könnte, sondern miteinem allgemeinen und im weitesten Sinn des Wortes menschlichenPhänomen, der Art von Phänomen, die niemand unbeachtet lassenkann, der zu entdecken versucht, was Religion ist und welches die tiefempfundenen Bedürfnisse sind, die sie befriedigen muss.«

Das Ideal wäre, dass jeder Mensch mit Hilfe von reiner oder ange-wandter Religion zur Selbsttranszendenz gelangen könnte. Es ist sehrunwahrscheinlich, dass dieses Ziel in der Praxis je zu verwirklichen seinwird. Es gibt getreue Angehörige einer jeden Kirche und wird sie im-mer geben, denen Frömmigkeit leider nicht genügt. G. K. Chesterton,der ebenso lyrisch über das Trinken wie über das Beten zu schreibenwusste, kann als ihr beredsamer Sprecher dienen.

Die heutigen Kirchen, mit Ausnahme einiger protestantischer Sek-ten, dulden den Alkohol; aber auch die tolerantesten haben keinenVersuch unternommen, dieses Rauschmittel in das Christentum zuintegrieren oder seinen Genuss zu einem Sakrament zu machen. Derfromme Trinker ist gezwungen, seine Religion und seinen Religionser-satz getrennt zu praktizieren. Und vielleicht ist das unvermeidlich. DasTrinken von Alkohol kann nicht zu einem Sakrament gemacht wer-den, außer in Religionen, die keinen Wert auf äußere Formen legen.Die Verehrung des Dionysos oder des keltischen Biergottes war einelärmende und zügellose Angelegenheit. Die Riten des Christentumssind nicht einmal mit religiös motivierter Betrunkenheit vereinbar. Das

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fügt den Spirituosenfabrikanten keinen Schaden zu, ist jedoch demChristentum äußerst abträglich.

Zahllose Menschen sehnen sich nach Selbsttranszendenz und wä-ren froh, mit Hilfe der Kirche zu ihr zu gelangen. Aber – »die hungrigenSchafe blicken auf und erhalten kein Futter«. Sie nehmen teil an Ritua-len, sie lauschen Predigten, sie sprechen Gebete nach; doch ihr Durstbleibt ungestillt. Enttäuscht wenden sie sich der Flasche zu. Wenigstensfür einige Zeit und auf eine gewisse Weise hilft sie. Es wird noch immerin die Kirche gegangen; aber sie bedeutet jetzt nicht mehr als die musi-kalischen Banken in Samuel Butlers Erewhon7. Gott wird vielleichtnoch immer anerkannt, aber er ist nur noch auf der sprachlichen Ebe-ne Gott, nur in einem streng pickwickischen Sinn. Der wirkliche Ge-genstand der Anbetung ist die Flasche, und das einzige religiöseErlebnis ist dieser Zustand ungehemmter und rauflustiger Euphorie,der auf die Einverleibung des dritten Cocktails oder Schnapses folgt.

Es zeigt sich also, dass Christentum und Alkohol nicht miteinanderin Einklang gebracht werden können. Christentum und Meskalinscheinen sich viel besser miteinander zu vertragen. Das beweisen vieleIndianerstämme, von Texas bis hinauf in den Norden von Wisconsin.Unter diesen Stämmen finden sich Gruppen, die der Native AmericanChurch angeschlossen sind, einer Sekte, deren Hauptritus eine Artfrühchristlicher Agape oder Liebesmahl ist, wobei Peyotescheiben andie Stelle des im Sakrament üblichen Brotes und des Weines treten.Diese Angehörigen der »Amerikanischen Eingeborenenkirche« haltenden Kaktus für Gottes besonderes Geschenk an die Indianer und set-zen seine Wirkungen dem Wirken des göttlichen Geistes gleich.

Professor J. S. Slotkin – einer der wenigen Weißen, die je den Riteneiner Peyotistengemeinde beiwohnten – sagt von den Teilnehmern aneinem solchen Gottesdienst, dass sie »gewiss nicht benommen oder be-trunken sind ... Sie geraten nie aus dem Rhythmus oder sprechen ver-worren, wie ein Benommener oder Betrunkener das täte ... Sieverhalten sich alle ruhig und gesittet und sind rücksichtsvoll zueinan-der. Ich war nie an einer Andachtsstätte der Weißen, wo so viel religiö-

7)Samuel Butler, Erewhon, Zürich, 1961 (Anm. d. Übers.)

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ses Gefühl Tugendhaftigkeit, das den durchschnittlichen sonntäglichenKirchgänger während anderthalb Stunden der Langeweile aufrechthält;auch nicht jene erhabenen, durch Gedanken an den Schöpfer, den Er-löser, den Richter und Tröster inspirierten Gefühle, von denen diegläubig Frommen beseelt werden. Für die Native Americans ist religiösesErleben etwas viel Unmittelbareres und Erleuchtenderes, mehr etwasSpontanes und weniger das hausgemachte Erzeugnis des oberflächli-chen, sich seiner selbst bewussten Geistes. Manchmal haben sie (denvon Prof. Slotkin gesammelten Berichten nach) Visionen, und diesekönnen Visionen von Christus selbst sein; manchmal werden sie sich derGegenwart Gottes und ihrer eigenen persönlichen Fehler bewusst, dieberichtigt werden müssen, wenn sie Gottes Willen tun sollen. Die prak-tischen Folgen, die ein solches chemisches Öffnen von Türen in die»andere Welt« hat, scheinen ausschließlich gut zu sein. Prof. Slotkin be-richtet, dass gewohnheitsmäßige Peyotisten im großen ganzen arbeitsa-mer, mäßiger (manche von ihnen enthalten sich des Alkohols völlig)und friedfertiger sind als Nichtpeyotisten. Ein Baum, der so wohltuen-de Früchte trägt, kann nicht so ohne weiteres als von Übel verurteiltwerden.

Indem die Indianer der Native American Church den Genuss desPeyote zu einem Sakrament machten, taten sie etwas, das zugleich psy-chologisch wohlbegründet und historisch gerechtfertigt ist. In den ers-ten Jahrhunderten des Christentums wurden viele heidnische Ritenund Feste sozusagen getauft und den Zwecken der Kirche dienstbar ge-macht. Diese Lustbarkeiten waren nicht besonders erbaulich, aber siestillten einen bestimmten seelischen Hunger, und statt sie zu unterdrü-cken, waren die frühen Missionare verständig genug, sie als das zu neh-men, was sie waren: ein für die Seele wohltuender Ausdruckfundamentaler Triebe, und sie in die neue Religion zu integrieren. Wasdie Native Americans getan haben, ist im wesentlichen ähnlich. Sie be-dienten sich eines heidnischen Brauchs (ein Brauch übrigens, der vielerhebender und erleuchtender war als die aus dem europäischen Hei-dentum übernommenen ziemlich rohen Gelage und Mummenschän-ze) und gaben ihm eine christliche Bedeutung.

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Obgleich erst in jüngster Zeit in den nördlichen Teil der VereinigtenStaaten eingeführt, sind der Genuss von Peyote und die darauf gegrün-dete Religion zu wichtigen Symbolen für das Recht der Rothäute aufspirituale Unabhängigkeit geworden. Manche Indianer reagierten aufdie Vorherrschaft der Weißen damit, dass sie sich amerikanisierten,andere, indem sie sich in traditionelles Brauchtum der Indianer zu-rückzogen. Einige aber haben versucht, sich das Beste aus beiden, jaaus allen Welten zu nehmen und es zu vereinen – das Beste aus derÜberlieferung der Indianer, das Beste aus dem Christentum und dasBeste aus jenen Welten transzendentalen Erlebens, wo die Seele sich alsfrei von Bedingungen und als von gleichem Wesen wie das Göttlicheerkennt. Daher die Native American Church. In ihr wurden zwei mäch-tige Verlangen der Seele – der Drang nach Unabhängigkeit undSelbstbestimmung und der Drang nach Selbstüberschreitung – mit ei-nem dritten verschmolzen und in dessen Licht neu gesehen – mit demDrang nach Anbetung, nach Rechtfertigung der Wege Gottes vor denMenschen, nach Erklärung des Weltalls mittels einer zusammenhän-genden Theorie.

Sieh den armen Indianer, dessen unbelehrter GeistIhn wohl vorn bekleidet, aber hinten nackend lässt zumeist.

Tatsächlich jedoch sind wir es, die reichen und hochgebildetenWeißen, die hinten nackt geblieben sind. Wir bedecken unsere vordereBlöße mit irgendeiner Philosophie – einer christlichen oder marxisti-schen oder freudianisch-physikalistischen –, aber achtern bleiben wirunbedeckt und ganz den Launen der Witterung ausgesetzt. Der armeIndianer hingegen hatte genug Verstand, sich dort zu schützen, indemer das Feigenblatt der Theologie durch den Lendenschurz transzenden-talen Erlebens ergänzte. Ich bin nicht so töricht, das, was unter demEinfluss von Meskalin oder irgendeines anderen bereits existierendenoder in Zukunft herstellbaren Präparats geschieht, der Verwirklichungdes Ziels und Endzwecks menschlichen Lebens gleichzusetzen: der Er-leuchtung und der Vision der Glückseligkeit. Ich sage nicht mehr, alsdass das Meskalinerlebnis etwas ist, das katholische Theologen »eine

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unverdiente Gnade« nennen: es ist für das Seelenheil nicht erforderlich,aber potentiell hilfreich, und wenn es einem zugänglich gemacht wird,sollte man es dankbar annehmen. Aus dem Geleise gewöhnlicherWahrnehmung geworfen zu werden, während einiger zeitloser Stundendie äußere und die innere Welt nicht so zu sehen zu bekommen, wiesie einem vom Trieb zum Überleben besessenen Tier oder einem vonWorten und Begriffen besessenen Menschen erscheinen, sondern wiesie, unmittelbar und unbedingt, vom totalen Geist aufgefasst werdenkönnen – das ist ein Erlebnis von unschätzbarem Wert für den Men-schen und besonders für den Intellektuellen. Denn der Intellektuelleist der Definition nach der Mensch, für den, wie Goethe schrieb, dasWort »eigentlich fruchtbringend« ist. Er ist der Mensch, der fühlt,dass, »was wir durchs Auge auffassen, an und für sich fremd und kei-neswegs so tiefwirkend vor uns steht«. Und doch blieb Goethe, ob-gleich selber ein Intellektueller und einer der größten Meister derSprache, nicht immer bei dieser seiner eigenen Einschätzung des Wor-tes. »Wir sprechen«, sagte er um die Mitte seines Lebens, »überhauptviel zu viel. Wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen. Ich mei-nerseits möchte mir das Reden ganz abgewöhnen und mich wie die or-ganische Natur in lauter Zeichnungen ausdrücken. Jener Feigenbaum,diese kleine Schlange, der Kokon, der dort vor dem Fenster liegt undseine Zukunft ruhig erwartet, alles das sind inhaltsschwere Zeichen; ja,wer nur ihre Bedeutung recht zu entziffern vermöchte, der würde allesGeschriebene und alles Gesprochene bald zu entbehren imstande sein!Je mehr ich darüber nachdenke, es ist etwas so Unnützes, so Müßiges,ich möchte fast sagen Geckenhaftes im Reden, dass man vor dem stil-len Ernste der Natur und ihrem Schweigen erschrickt, sobald man sichihr vor einer einsamen Felsenwand oder in der Einöde eines alten Ber-ges gesammelt entgegenstellt!« Wir können nie ohne Sprache und dieanderen Symbolsysteme auskommen, denn gerade mit ihrer Hilfe, undnur mit ihrer Hilfe, haben wir uns über die Tiere auf die Stufemenschlicher Wesen erhoben. Aber wir können leicht ebenso die Op-fer wie die Nutznießer dieser Systeme werden. Wir müssen lernen,Worte wirksam zu gebrauchen; dabei aber müssen wir unsere Fähigkeitbewahren und womöglich verstärken, die Welt unmittelbar und nichtdurch das nur halb durchsichtige Medium von Begriffen anzuschauen,

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das jede gegebene Tatsache zu einer nur allzu vertrauten Ähnlichkeitmit irgendeinem klassifizierenden Etikett oder einer erklärenden Abs-traktion verzerrt.

Unsere ganze Bildung, sei sie geistes- oder naturwissenschaftlich,allgemein oder spezialisiert, basiert vorwiegend auf Sprache und ver-fehlt daher den Zweck, den sie erreichen soll. Statt Kinder in voll ent-wickelte Erwachsene zu verwandeln, erzeugt sie Studierende derNaturwissenschaften, die sich nicht bewusst sind, dass die Natur dieGrundlage aller Erfahrung ist, sie lässt Studenten der humanistischenFächer auf die Welt los, die nichts von Humanität, vom Menschseinwissen, weder von ihrem eigenen noch vom Menschsein irgendeineranderen Person.

Gestaltpsychologen wie Samuel Renshaw haben Methoden ausge-arbeitet, um die Skala menschlicher Wahrnehmung zu erweitern undihre Schärfe zu steigern. Aber wenden unsere Erzieher sie an? Die Ant-wort ist: nein.

Lehrer auf jedem Gebiet psycho-physischer Geschicklichkeit, vomSehen bis zum Tennisspielen, vom Seiltanzen bis zum Beten, habendurch Versuch und Irrtum und neuen Versuch die Bedingungen fürein optimales Funktionieren innerhalb ihres besonderen Gebiets ent-deckt. Aber hat irgendeine der großen Stiftungen ein Projekt für dieKoordinierung dieser empirisch gefundenen Ergebnisse finanziert, umzu einer allgemeinen Theorie und Praxis zu gelangen und die Möglich-keiten schöpferischen Tuns zu erweitern? Abermals ist, soviel ich weiß,die Antwort ein Nein.

Alle möglichen Kultanhänger und sonderbaren Käuze lehren allemöglichen Verfahren zur Erlangung von Gesundheit, Zufriedenheitund Seelenfrieden; und bei vielen ihrer Schüler sind viele dieser Me-thoden beweisbar wirksam. Aber sehen wir etwa, dass angesehene Psy-chologen, Philosophen und Geistliche mutig in jene sonderbaren undmanchmal übel riechenden Brunnen hinabsteigen, auf deren Grunddie arme Wahrheit so oft verbannt wurde? Abermals nein.

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Und nun betrachte man die Geschichte der Meskalinforschung!Vor siebzig Jahren beschrieben Männer von hervorragender Fähigkeitdie transzendenten Erlebnisse, die denjenigen zuteil werden, die beiguter Gesundheit, unter den geeigneten Bedingungen und mit derrichtigen inneren Haltung diese Droge nehmen. Wie viele Philoso-phen, wie viele Theologen, wie viele berufsmäßige Erzieher haben denWissensdrang besessen, diese Tür in der Mauer zu öffnen? Die Ant-wort, was diese praktischen Belange angeht, lautet: kein einziger.

In einer Welt, in der Erziehung und Unterricht vorwiegend durchSprache erfolgen, finden es hochgebildete Menschen fast ganz unmög-lich, irgend etwas anderem als Worten und Begriffen ernste Aufmerk-samkeit zu widmen. Es ist stets Geld vorhanden, es werden stetsDoktorarbeiten vergeben, um der wissenschaftlichen Dummheit freienLauf zu lassen und das zu erforschen, was für Gelehrte das allerwich-tigste Problem ist: Wer beeinflusste wen in der Weise, dass er irgendet-was zu irgendeinem Zeitpunkt gesagt hat? Sogar in unserem Zeitalterder Technik genießen die auf Sprache basierenden humanistischen Fä-cher hohe Anerkennung. Die Gefühle des Menschen, die sich nicht soleicht in Worten ausdrücken lassen, die Fähigkeit, die Gegebenheitenunserer Existenz unmittelbar wahrzunehmen, bleiben fast völlig unbe-achtet. Ein Katalog, eine Bibliographie, eine endgültige Ausgabe deripsissima verba eines drittrangigen Verseschmieds, ein kolossaler Index,der dazu dient, alle Indexe überflüssig zu machen – jedes echt alexan-drinische Projekt findet gewisse Zustimmung und geldliche Unterstüt-zung. Wenn es sich aber darum handelt, zu erforschen, wie du und ichund unsere Kinder und Enkel vielleicht ein schärferes Wahrnehmungs-vermögen bekommen, sich der inneren und äußeren Wirklichkeit stär-ker bewusst, dem göttlichen Geist gegenüber aufgeschlossener werdenkönnten, weniger bereit, uns durch psychische Missbräuche physischkrank zu machen, dafür aber fähiger, unser autonomes Nervensystemzu beherrschen – wenn es um irgendeine Form von nichtverbaler Aus-bildung geht, eine grundlegendere (und wahrscheinlich praktisch ir-gendwie nützlichere) als Freiübungen, dann tut kein wirklichangesehener Mensch an einer angesehenen Universität oder Kircheauch nur das geringste dafür. Den Verbalisten sind die Nichtverbalisten

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verdächtig; Rationalisten fürchten die gegebene, nicht-rationale Tatsa-che; Intellektuelle haben das Gefühl, dass, »was wir durchs Auge auf-fassen (oder auf irgendeine andere Weise), an und für sich fremd undkeineswegs so tiefwirkend vor uns steht«. Überdies passt diese Idee ei-ner Ausbildung in nichtverbalen humanistischen Disziplinen in keinesder eingerichteten und etikettierten Fächer. Es handelt sich da nichtum Religion, Nervenheilkunde, Gymnastik, Ethik oder Sozialkunde,nicht einmal um experimentelle Psychologie. Daher ist der Gegenstandfür akademische und kirchliche Zwecke einfach nicht vorhanden unddarf ruhig völlig unbeachtet bleiben oder mit einem gönnerhaften Lä-cheln denen überlassen werden, die von den Pharisäern einer verbalis-tischen Rechtgläubigkeit Verschrobene, Quacksalber, Scharlatane,Leute mit fixen Ideen und unbefugte Laien genannt werden.

»Ich habe immer gefunden«, so schrieb Blake fast erbittert, »dassEngel die Eitelkeit besitzen, von sich selbst als den einzigen Weisen zusprechen. Das tun sie mit der zuversichtlichen Unverschämtheit, diesystematischem, vernunftgemäßem Denken entspringt.«

Ohne systematisches vernunftgemäßes Denken könnten wir alsSpezies oder Individuen unmöglich auskommen. Aber wenn wir geis-tig gesund bleiben wollen, können wir auch unmöglich ohne unmittel-bare Wahrnehmung – je unsystematischer, desto besser – der innerenund der äußeren Welt, in die wir geboren wurden, auskommen. Diesegegebene Wirklichkeit ist ein Unendliches, das sich allem Verständnisentzieht und sich doch auf unmittelbare Weise gewissermaßen in seinerGesamtheit erfassen lässt. Sie ist etwas Transzendentes, das nicht dermenschlichen Ordnung angehört. Und doch kann sie uns gegenwärtigsein als eine empfundene Immanenz, ein erlebtes Teilhaben. Erleuchtetzu sein heißt, der gesamten Wirklichkeit als eines immanenten Anders-seins gewahr zu sein – ihrer gewahr zu sein und doch in dem Zustandzu verbleiben, wo man sich als Lebewesen am Leben erhalten muss, alsMensch denkt und fühlt und, sofern es erforderlich ist, mit Vernunftsystematisch handelt. Unser Ziel ist es, zu entdecken, dass wir schonimmer dort waren, wo wir sein sollen. Leider machen wir uns diese Auf-gabe äußerst schwer. Auf dem Weg dorthin jedoch werden uns unver-diente Gnaden in Gestalt partieller und flüchtiger Wahrnehmungen

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zuteil. In einem Bildungs- und Erziehungssystem, das realitätsnäherund den Worten weniger verhaftet ist als das unsere, hätte jeder Engel(im Blake’schen Sinn dieses Wortes) eine Sonntagserlaubnis, ja er wür-de sogar gedrängt und wenn nötig gezwungen werden, durch eine che-mische Tür in der Mauer hin und wieder einen Ausflug in die Welttranszendentalen Erlebens zu unternehmen. Wenn sie ihn mit Entset-zen erfüllen würde, wäre das bedauerlich, aber wahrscheinlich dochauch heilsam; und brächte sie ihm eine kurze, aber ewig anhaltendeErleuchtung – nun, desto besser. In jedem der beiden Fälle würde derEngel vielleicht ein wenig von seiner zuversichtlichen Unverschämtheitverlieren, welche systematisch angewandter Vernunft und dem Be-wusstsein entspringt, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben.

Gegen Ende seines Lebens überließ sich Thomas von Aquin einerkünstlich herbeigeführten Kontemplation. Danach weigerte er sich, anseinem unvollendeten Buch weiterzuarbeiten. Verglichen mit dieser Er-fahrung war alles, was er gelesen oder worüber er disputiert, alles, waser geschrieben hatte – Aristoteles und die Sentenzen, die Quaestiones,die Propositionen und die majestätischen Summae – nicht mehr wertals Spreu oder Stroh. Für die meisten Intellektuellen wäre eine solcheVerweigerung des Sitzens und Arbeitens nicht ratsam, ja sogar mora-lisch nicht vertretbar. Der Doctor Angelicus aber hatte mehr systema-tisches vernunftgemäßes Denken vollbracht als ein Dutzendgewöhnlicher Engel und war schon reif für den Tod. Er hatte sich fürdiese letzten Monate seines Lebens das Recht verdient, sich vom ledig-lich symbolischen Stroh ab- und dem Brot unmittelbarer und substan-tieller Tatsachen zuzuwenden. Für Engel von niederem Rang und mitgrößeren Aussichten auf Langlebigkeit muss es eine Rückkehr zumStroh geben. Aber wer durch die Tür in der Mauer zurückkommt,wird nie wieder ganz derselbe Mensch sein, der durch sie hinausging.Er wird weiser sein, aber weniger selbstsicher, glücklicher, aber weni-ger selbstzufrieden, demütiger im Eingeständnis seiner Unwissenheitund doch besser ausgerüstet, die Beziehung zwischen Worten und Din-gen, zwischen systematischem vernunftgemäßem Denken und demunergründlichen Geheimnis zu verstehen, das er mit eben jener Ver-nunft ewig vergeblich zu begreifen versucht.

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HIMMEL UND HÖLLE

Vorwort

Dieses kleine Buch ist eine Fortsetzung der »Pforten derWahrnehmung«. Für jemanden, bei dem das »Licht der Vision«niemals spontan aufleuchtet, ist die Erfahrung mit Meskalin doppelterhellend. Sie beleuchtet bislang unbekannte Regionen seineseigenen Denkens und Fühlens und zugleich indirekt das Denkenanderer, denen es eher gegeben ist, Visionen zu erblicken, als ihmselbst. Wenn er seine eigene Erfahrung in Betracht zieht, gelangt er zueinem neuen und besseren Verständnis der Art und Weise, in derdiese anderen Geister etwas wahrnehmen, in der sie fühlen unddenken, zu einem besseren Verständnis der kosmologischenVorstellungen, die jenen als selbstverständlich erscheinen, und derKunstwerke, mittels deren sie sich kraft eines inneren Impulsesausdrücken. Im folgenden habe ich versucht, die Ergebnisse diesesneuen Verständnisses festzuhalten.

Aldous Huxley

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In der Geschichte der Naturwissenschaften ging der Naturalien-sammler dem Zoologen voraus und folgte auf die Vertreter der Natur-religion und der Magie. Er hatte aufgehört, Tiere im Geist derVerfasser von Bestiarien zu studieren, für die die Ameise der verkör-perte Fleiß, der Panther, überraschenderweise, ein Emblem Christi,die Wildkatze ein skandalöses Beispiel hemmungsloser Laszivität war.Aber er war lediglich ansatzweise Physiologe, Ökologe oder Verhal-tensforscher. Es war sein oberstes Bestreben, eine Bestandsaufnahmezu machen und viele Tierarten zu fangen, zu töten, auszustopfen undzu beschreiben.

Wie auf der Erde vor hundert Jahren, so gibt es in unserer Psychenoch immer das dunkelste Afrika, das noch nicht kartographierte Bor-neo und das Amazonasbecken. Hinsichtlich der Fauna dieser Gebietesind wir noch keine Zoologen, wir sind lediglich Naturforscher undNaturaliensammler. Das ist eine bedauerliche Tatsache, aber wir müs-sen sie hinnehmen, wir müssen das Bestmögliche aus ihr machen. Sowenig qualifiziert die Arbeit des Sammlers auch sein mag, sie muss ge-tan werden, bevor wir zu den höheren wissenschaftlichen Aufgaben desKlassifizierens, Analysierens, Experimentierens und Theoretisierensfortschreiten können.

Gleich der Giraffe und dem Schnabeltier sind die Wesen, die dieentlegenen Zonen der Psyche bewohnen, äußerst unvorstellbar. Den-noch gibt es sie, sie sind wahrnehmbare Realitäten, und als solche kön-nen sie von niemandem unbeachtet gelassen werden, der ehrlichversucht, die Welt, in der wir leben, zu verstehen.

Es ist schwierig, es ist fast unmöglich, von psychischen Vorgängenanders als in Gleichnissen zu sprechen, welche der vertrauteren Weltmaterieller Gegenstände entnommen sind. Wenn ich von geographi-schen und zoologischen Metaphern Gebrauch gemacht habe, dannnicht mutwillig, aus bloßem Hang zu einer pittoresken Ausdruckswei-se, sondern weil solche Metaphern sehr zwingend das grundlegendeAnderssein entlegener psychischer Kontinente, die völlige Selbstherr-lichkeit und Selbstgenügsamkeit ihrer Bewohner beschreiben. EinMensch besteht aus dem, was ich die Alte Welt persönlichen Bewusst-

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seins nennen möchte, und, jenseits eines trennenden Ozeans, aus einerReihe von Neuen Welten – den nicht gar so fernen Virginias und Ca-rolinas des persönlichen Unbewussten und der vegetativen Seele; demFernen Westen des kollektiven Unbewussten mit seiner Flora von Sym-bolen, seinen Stämmen eingeborener Archetypen; jenseits eines zwei-ten, gewaltigeren Weltmeers, des Alltagsbewusstseins, sind dieGegensätze angesiedelt, liegt die Welt visionären Erlebens.

Geht man nach Neu-Süd-Wales, sieht man Beuteltiere in der Land-schaft umherhüpfen. Und geht man zu den Antipoden der bewusstenPsyche, stößt man auf allerlei Arten von mindestens ebenso wunderli-chen Geschöpfen wie Kängurus zum Beispiel. Man erfindet jene Ge-schöpfe ebenso wenig, wie man diese Beuteltiere erfindet. Sie leben ihreigenes Leben in völliger Unabhängigkeit. Der Mensch kann sie nichtbeherrschen. Er kann nicht mehr tun, als sich in das psychische Äqui-valent Australiens zu begeben und sich dort umzusehen.

Manche Menschen entdecken nie bewusst ihre Antipoden. Ande-ren gelingt eine gelegentliche Landung. Noch anderen (aber das sindwenige) fällt es nicht schwer, dort ein- und auszugehen. Für den Natur-forscher der Seele, den Sammler psychologischer Muster, besteht dieerste Notwendigkeit darin, eine sichere, leichte und verlässliche Me-thode zu finden, sich und andere aus der Alten in die Neue Welt zuversetzen, sich vom Kontinent mit den vertrauten Kühen und Pferdenauf den Kontinent mit den Kängurus und den Schnabeltieren zu bege-ben.

Es gibt zwei Methoden dafür. Keine von ihnen ist vollkommen,aber beide sind hinreichend verlässlich, leicht und gefahrlos, um ihreAnwendung seitens derjenigen zu rechtfertigen, die wissen, was sie tun.Bei der ersten gelangt die Seele mittels einer chemischen Substanz an ihrfernes Reiseziel – durch Meskalin oder durch Lysergsäure. Bei der zwei-ten ist das Beförderungsmittel psychologischer Art, und die Überfahrtzu den Antipoden der Psyche vollzieht sich mittels Hypnose. Die zweiVehikel tragen das Bewusstsein in dasselbe Gebiet; aber das chemischebringt seine Fahrgäste tiefer ins Innere der terra incognita.8

8) Siehe Anhang I.

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Wie und warum ruft Hypnose die bei ihr beobachteten Wirkungenhervor? Wir wissen es nicht. Für unsere gegenwärtigen Zwecke brau-chen wir es auch nicht zu wissen. Wir wollen in diesem Zusammen-hang nur festhalten, dass einige Hypnotisierte im Trancezustand ineine Region der psychischen Antipoden versetzt werden, wo sie dieÄquivalente von Beuteltieren vorfinden – seltsame psychische Ge-schöpfe, die entsprechend dem Gesetz ihres eigenen Wesens ein selb-ständiges Dasein führen.

Über die physiologischen Wirkungen des Meskalins wissen wir we-nig. Wahrscheinlich (darüber besteht keine Sicherheit) greift es in dasdie Gehirntätigkeit regelnde Enzymsystem ein. Dabei setzt es die Wirk-samkeit des Gehirns herab, das uns dabei hilft, unseren Geist auf dieProbleme des Lebens auf der Oberfläche unseres Planeten zu konzen-trieren. Diese Verringerung der so genannten biologischen Leistungs-fähigkeit des Gehirns scheint den Eintritt gewisser Kategorien vonseelischen Vorgängen in unser Bewusstsein zu gestatten, welche norma-lerweise ausgeschlossen bleiben, weil sie keinen Wert für unser Überle-ben besitzen. Zu einem ähnlichen Eindringen biologisch wertlosen,aber ästhetisch und manchmal auch spirituell wertvollen Materialskann es als Folge von Krankheit oder Ermüdung kommen; es lässt sichauch durch Fasten oder zeitweiliges Eingeschlossensein in dunklenRäumen und völlige Stille herbeiführen.9

Ein unter der Wirkung von Meskalin oder Lysergsäure stehenderMensch hat keine Visionen mehr, wenn ihm eine große Dosis Nikotin-säure verabreicht wird. So lässt sich auch die Wirksamkeit des Fastensals eines Mittels, das visionäres Erleben herbeiführt, erklären. Indemdas Fasten die Menge verfügbaren Zuckers verringert, setzt es die biolo-gische Leistungsfähigkeit des Gehirns herab und ermöglicht so dasEindringen von Material, das keinen Wert für unser Überleben besitzt,ins Bewusstsein. Überdies entfernt es, indem es einen Vitaminmangelverursacht, die bekanntlich die visionäre Erlebnisfähigkeit hemmendeNikotinsäure aus dem Blut. Ein anderer Hemmschuh für das visionäreErleben ist die alltägliche Wahrnehmungsfähigkeit. Experimentalpsy-chologen haben herausgefunden, dass ein Mensch, wenn man ihn in

9) Siehe Anhang II.

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eine reizarme Umgebung versetzt, wo es kein Licht, keine Geräuscheund keine Gerüche gibt, oder wenn man ihn in ein lauwarmes Badsetzt, wo er nur mit einem einzigen, kaum wahrnehmbaren Ding inBerührung kommen kann, sehr bald beginnt, »allerlei zu sehen«, »aller-lei zu hören« und ungewohnte körperliche Sensationen zu haben.

Milarepa in seiner Höhle im Himalaja und die Säulenheiligen derThebaï’s bedienten sich eines sehr ähnlichen Verfahrens und erzieltenim wesentlichen die gleichen Ergebnisse. Unzählige Bilder der Versu-chung des heiligen Antonius bezeugen die Wirksamkeit einer kargenDiät und einer eingeschränkten Umwelt. Es ist offenkundig, dass Aske-se aus zwei Beweggründen geübt wird. Menschen peinigen ihren Kör-per nicht nur in der Hoffnung, auf diese Weise vergangene Sünden zusühnen und künftiger Bestrafung zu entgehen, sondern auch, weil siesich danach sehnen, die Antipoden der Psyche aufzusuchen und dorteinigen visionären Besonderheiten zu begegnen. Aus Erfahrung undaus Berichten anderer Asketen wissen sie, dass Fasten und eine redu-zierte Wahrnehmung der Umwelt eine Entrückung in eine Welt be-wirken werden, nach der sie sich sehnen. Ihre Selbstbestrafung istvielleicht die Pforte zum Paradies. (Sie mag auch – und dies soll späternoch erörtert werden – ein Tor zu den Regionen der Hölle sein.)

Aus dem Blickpunkt eines Bewohners der Alten Welt betrachtet,sind Beuteltiere äußerst verwunderliche Wesen. Aber Wunderlichkeitist nicht dasselbe wie Zufälligkeit. Das Auftreten von Kängurus undSchnabeltieren mag sehr unwahrscheinlich sein, aber diese Unwahr-scheinlichkeit wiederholt sich und gehorcht erkennbaren Gesetzen.Dasselbe gilt für die Geschöpfe, die in den entlegeneren Gebieten un-serer Psyche wohnen. Die unter dem Einfluss von Meskalin oder tieferHypnose sich einstellenden Erlebnisse sind sicherlich seltsam, aber dasSeltsame an ihnen unterliegt einer bestimmten Gesetzmäßigkeit – istabhängig von einer bestimmten Schablone.

Was ist diesen Zügen gemeinsam, die diese Schablone unseren vi-sionären Erlebnissen aufprägt? An erster und wichtigster Stelle steht dadas Erlebnis des Lichts. Alles, was von denjenigen gesehen wird, die dieAntipoden der Psyche aufsuchen, ist aufs hellste erleuchtet und scheint

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von innen her zu erstrahlen. Alle Farben sind weitaus kräftiger, alswenn man sie im Normalzustand sieht, und gleichzeitig ist die Fähig-keit, Tonhöhen zu unterscheiden, merklich gesteigert.

In dieser Hinsicht besteht ein auffallender Unterschied zwischensolchen visionären Erlebnissen und gewöhnlichen Träumen. Die meis-ten Träume sind farblos, nur teilweise farbig oder schwach in den Far-ben. Andererseits sind die unter dem Einfluss von Meskalin oderHypnose sich einstellenden Visionen immer von intensiver, man könn-te sagen, übernatürlich leuchtender Färbung. Wie Professor CalvinHall, der Aufzeichnungen über viele tausend Träume gesammelt hat,uns wissen lässt, sind etwa zwei Drittel aller Träume schwarzweiß.»Nur ein Traum von dreien ist farbig oder hat ein wenig Farbe.« Einigewenige Menschen träumen ganz in Farben; andere sehen niemals Far-ben in ihren Träumen; die Mehrzahl träumt manchmal in Farben, öf-ter aber in Schwarzweiß.

»Wir sind zu der Schlussfolgerung gekommen«, schreibt ProfessorHall, »dass Farbe in Träumen nichts über die Persönlichkeit des Träu-menden aussagt.« Ich unterstütze diese Schlussfolgerung. Farben inTräumen und Visionen sagen uns ebenso wenig über die Persönlichkeitdessen, der sie sieht, wie Farben in der Welt des wachen Menschen.Ein Garten im Juli wird als leuchtend bunt wahrgenommen. DieseWahrnehmung sagt uns etwas über Sonnenschein, Blumen undSchmetterlinge, aber wenig oder nichts über uns selbst. Ebenso sagtuns die Tatsache, dass wir leuchtende Farben in unseren Visionen undin einigen unserer Träume sehen, etwas über die Fauna bei den Anti-poden der Psyche, aber ganz und gar nichts über die Persönlichkeit,die in dem, was ich die Alte Welt der Psyche genannt habe, zuhause ist.

Die meisten Träume drehen sich um die geheimen Wünsche undinstinktiven Triebe des Träumenden und die Konflikte, die entstehen,wenn diesen Wünschen und Trieben durch ein missbilligendes Gewis-sen oder die Furcht vor der öffentlichen Meinung die Erfüllung versagtwird. Die Geschichte dieser Triebe und Konflikte wird in dramati-schen Symbolen erzählt, und in den meisten Träumen sind die Symbo-le farblos. Warum ist das so? Ich nehme an, weil Symbole, um wirksam

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zu sein, keiner Färbung bedürfen. Die Buchstaben, mit denen wirüber Rosen schreiben, brauchen nicht rot zu sein, und wir können ei-nen Regenbogen mit Schriftzügen in schwarzer Tinte auf weißem Pa-pier beschreiben. Lehrbücher sind mit Strichätzungen und Autotypienbebildert; und diese schwarz-weißen Abbildungen und schematischenZeichnungen erfüllen durchaus ihren Zweck.

Was gut genug ist für das wache Bewusstsein, ist offenbar gut genugfür das persönliche Unbewusste, welches in der Lage ist, seinen Bedeu-tungsgehalt durch ungefärbte Symbole auszudrücken. Farbe stellt sichals eine Art Prüfstein der Wirklichkeit heraus. Was gegeben ist, ist far-big; was unser Intellekt und unsere Phantasie an Symbolen zusammen-fügen, ist ungefärbt. So wird die Außenwelt als farbig wahrgenommen,Träume dagegen, welche nicht gegeben sind, sondern vom persönli-chen Unbewussten hervorgebracht werden, sind gewöhnlich schwarz-weiß. (Es ist bemerkenswert, dass erfahrungsgemäß bei den meistenMenschen die Träume von Landschaften am lebhaftesten gefärbt sind,in denen nichts Dramatisches vorkommt, keine symbolischen Anspie-lungen auf Konflikte gemacht werden, sondern dem Bewusstsein ledig-lich Tatsachen vor Augen geführt werden.)

Die Bilder der archetypischen Welt stellen Symbole dar, aber dawir sie nicht als Individuen erschaffen, sondern sie »dort draußen« imkollektiven Unbewussten finden, weisen sie zumindest einige der cha-rakteristischen Eigenschaften gegebener Wirklichkeit auf und sind far-big. Die nichtsymbolischen Bewohner der psychischen Antipodenhaben sich selbst geschaffen und sind wie die gegebenen Tatsachen derAußenwelt farbig. Ja, sie sind viel lebhafter gefärbt als äußere Gegeben-heiten. Das lässt sich zumindest teilweise damit erklären, dass unsereWahrnehmungen der Außenwelt gewöhnlich von verbalen Begriffenumnebelt sind, in denen wir unser Denken vollziehen. Wir versuchenimmerfort, Materielles zu finden, um es in Zeichen für erfundene,verständlichere Abstraktionen zu verwandeln. Dabei aber beraubenwir dieses Gegenständliche zum großen Teil seines ursprünglichenCharakters.

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Bei den Antipoden der Psyche haben wir uns fast ganz der Spracheentledigt und befinden uns außerhalb begrifflichen Denkens. Daherbesitzt unsere Wahrnehmung visionärer Objekte die ganze Frische, dieganze nackte Intensität von Erlebnissen, die niemals in Worte geklei-det, niemals durch leblose Abstraktionen überdeckt worden sind. IhreFärbung (die ihr den Stempel der Gegebenheit aufdrückt) erstrahlt ineiner Lebhaftigkeit, die uns als übernatürlich erscheint, weil sie tatsäch-lich völlig natürlich ist – völlig natürlich in dem Sinn, dass sie wederdurch die Sprache intellektualisiert ist noch durch irgendwelche wis-senschaftliche, philosophische oder utilitaristische Begriffe, durch diewir im allgemeinen die bestehende Welt in unserem eigenen, trübseligmenschlichen Ebenbild wiedererschaffen.

In seinem Buch The Candle of Vision hat der irische Dichter A. E.(George Russell) seine visionären Erlebnisse mit bemerkenswerterSchärfe analysiert. »Wenn ich meditiere«, schreibt er, »spüre ich in denGedanken und Bildern, die auf mich eindringen, Spiegelungen vonPersönlichem; aber es gibt auch Fenster in der Seele, die es ermögli-chen, Bilder zu erblicken, die nicht vom menschlichen, sondern vomgöttlichen Geist geschaffen wurden.«

Unsere sprachlichen Gewohnheiten führen uns in die Irre. ZumBeispiel sind wir geneigt zu sagen: »Ich bilde mir ein«, wenn wir sagensollten: »Der Vorhang wurde gehoben, auf dass ich sähe.« Ob spontanoder herbeigeführt, Visionen sind nie unser persönliches Eigentum.Erinnerungen des gewöhnlichen Selbst haben in ihnen keinen Platz.Das Gesehene ist völlig unvertraut. Es besteht keine Ähnlichkeit undauch kein Zusammenhang mit irgendwelchen, wie Sir William Her-schel es ausdrückt, »jüngst gesehenen oder auch nur gedachten Objek-ten«. Wenn Gesichter auftauchen, sind es nie die Gesichter vonFreunden oder Bekannten. Wir befinden uns außerhalb der Alten Weltund erforschen die Antipoden.

Den meisten von uns erscheint die alltägliche Welt mit ihren Erfah-rungen meist als recht matt und trüb. Aber für einige Menschen dringtoft und für viele gelegentlich die Helligkeit visionären Erlebens sozusa-gen ins gewöhnliche Sehen ein, und die Alltagswelt wird für sie ver-

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klärt. Obgleich sie noch immer erkennbar ist, nimmt die Alte Welt dadas Wesen der Antipoden der Psyche an. Hier folge eine durchaus cha-rakteristische Beschreibung dieser Verklärung der alltäglichen Welt.

»Ich saß am Meeresufer und hörte nur halb einem Freund zu, dermir heftig etwas zu beweisen suchte, was mich bloß langweilte. Ohnemir dessen bewusst zu sein, blickte ich auf eine dünne Schicht müßigaufgegriffenen Sands auf meiner Hand, als ich plötzlich die erleseneSchönheit jedes einzelnen Körnchens sah; ich sah, dass jedes Teilchensich vom anderen unterschied und nach einem vollkommenen geome-trischen Muster gebildet war, mit scharfen Ecken, von denen jede ei-nen leuchtenden Lichtstrahl zurückwarf, während jedes einzelnewinzige Kristall wie ein Regenbogen leuchtete ... Die Strahlen kreuzteneinander und bildeten erlesene Muster von solcher Schönheit, dass siemir den Atem raubte ... Dann wurde plötzlich mein Bewusstsein voninnen her erleuchtet, und ich sah auf eine lebhafte Weise, wie das ganzeWeltall aus Teilchen von Materie bestand, welche, wie matt und leblossie auch zu sein schienen, von dieser intensiven und vitalen Schönheiterfüllt waren. Ein paar Sekunden lang erschien die ganze Welt als eineinziges Flammen von Herrlichkeit. Als das erlosch, hinterließ es etwasin mir, das ich nie vergessen habe, das mich beständig an die Schönheitgemahnt, die in jedem kleinsten Stäubchen von Materie um uns hereingeschlossen ist.«

Ähnlich schreibt George Russell davon, die Welt von »einem uner-träglichen Lichtglanz« erleuchtet gesehen zu haben; plötzlich »Land-schaften, so lieblich wie ein verlorenes Paradies« erblickt, eine Weltwahrgenommen zu haben, wo »die Farben leuchtender und reiner wa-ren und doch eine sanftere Harmonie bildeten«. Und weiter: »Die Lüf-te funkelten und waren klar wie ein Diamant und doch reich an Farbenwie ein Opal, als sie durch das Tal glitzerten, und ich wusste, das Gol-dene Zeitalter war rings um mich, und wir waren blind dafür gewesen,war es doch nie aus der Welt entschwunden.«

Viele ähnliche Beschreibungen finden sich bei den Dichtern und inder Literatur religiöser Mystik. Man denkt da zum Beispiel an Word-sworth’ Ode on the Imitations of Immortality in Early Childhood; an be-

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stimmte Gedichte von George Herbert und Henry Vaughan, an Tra-hernes Centuries of Meditations, an die Stelle in seiner Autobiographie,wo Pater Surin die wunderbare Verwandlung eines ummauerten Klos-tergartens in ein Stückchen Himmel schildert.

Übernatürliches Licht und übernatürliche Farben sind allen visio-nären Erlebnissen gemein. Und Hand in Hand mit Licht und Farbegeht in jedem Fall das Erkennen eines größeren Bedeutungsgehalts.Die aus sich selbst heraus leuchtenden Objekte, die wir bei den Anti-poden der Psyche erblicken, besitzen eine Bedeutung, und diese Bedeu-tung ist auf eine bestimmte Weise ebenso intensiv wie ihre Farbe.Bedeutungsgehalt ist hier identisch mit Sein, denn bei den Antipodender Psyche stehen Objekte für nichts anderes als für sich selbst. Die Bil-der, die in den näher gelegenen Bereichen des kollektiven Unbewuss-ten erscheinen, sind bedeutungsvoll in Bezug auf die Grundtatsachenmenschlicher Erfahrung; hier aber, an den Grenzen der visionärenWelt, stehen wir Tatsachen gegenüber, die ebenso wie die Gegebenhei-ten der Natur vom einzelnen Menschen wie von der Menschheit alsGanzem unabhängig sind und nach eigenem Recht existieren. Undihre Bedeutung besteht genau darin, dass sie ganz und gar sie selbstund somit Manifestationen des wesentlichen Gegebenseins, des nicht-menschlichen Andersseins des Universums sind.

Licht, Farbe und Bedeutsamkeit existieren nicht für sich allein. Sieverändern Objekte oder werden von diesen manifestiert. Gibt es Kate-gorien von Objekten, die den meisten visionären Erlebnissen gemeinsind? Ja, es gibt sie. Unter dem Einfluss von Meskalin und in der Hyp-nose ebenso wie in spontanen Visionen tauchen bestimmte Kategorienvon Wahrnehmungen immer wieder auf.

Das typische Erlebnis beim Genuss von Meskalin oder Lysergsäurebeginnt mit Wahrnehmungen farbiger, sich bewegender, gleichsam le-bendiger geometrischer Figuren. Mit der Zeit wird reine Geometriekonkret, und der Visionär gewahrt keine Muster mehr, sondern ge-musterte Dinge, wie etwa Teppiche, Schnitzereien, Mosaiken. An de-ren Stelle treten dann inmitten von Landschaften ungeheure undkomplizierte, unaufhörlich sich verändernde Gebäude; ihre Üppigkeit

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färbt sich immer intensiver, ihre Großartigkeit nimmt ständig zu. He-roische Gestalten der Art, die Blake »die Seraphim« nannte, könnenallein oder in ganzen Scharen auftauchen. Fabelwesen bewegen sichüber die Szene. Alles ist neuartig und erstaunlich. Fast nie sieht derjeni-ge, der die Vision empfängt, irgend etwas, das ihn an seine Vergangen-heit gemahnt. Er erinnert sich nicht an Szenen, Personen oder Dinge,und er erfindet sie auch nicht, er betrachtet eine neue Schöpfung.

Das Rohmaterial für diese Schöpfung wird von der visuellen Erfah-rung des gewöhnlichen Lebens geliefert, aber das Verwandeln diesesMaterials in Formen wird von einem anderen durchgeführt, der ganzgewiss nicht das Selbst ist, das ursprünglich diese Erlebnisse hatte oderdas sich später ihrer erinnerte und über sie nachdachte. Es ist (wie Dr.J. R. Smythies in einer im American Journal of Psychiatry erschienenenAbhandlung schrieb) »das Werk eines hochdifferenzierten Teils derPsyche, es besteht keine ersichtliche gefühlte oder gewollte Verbindungmit den Zielen, Zwecken oder Gemütsbewegungen der betreffendenPerson.«

Hier folge, teils zitiert, teils zusammengefasst, Weir Mitchells Be-richt über die visionäre Welt, in die er durch Peyote versetzt wurde, dieKakteenart, die die natürliche Quelle des Meskalins ist.

Bei seinem Eintritt in diese Welt sah er einen Schwarm von »Stern-punkten« und etwas, das aussah wie »Bruchstücke von buntem Glas«.Dann kamen »zarte, schwebende, dünne Scheiben von Farbe«. Diesewurden verdrängt von einem »jäh auftauchenden Schwall zahlloser wei-ßer Lichtpunkte«, die durch sein Gesichtsfeld sausten. Das nächste wa-ren Zickzacklinien sehr heller Farben, die sich irgendwie inschwellende Wolken von noch leuchtenderen Tönungen verwandelten.Nun tauchten Gebäude auf und dann Landschaften, unter anderemauch ein reich verzierter gotischer Turm mit verwitterten Statuen inden Türwölbungen und auf Steinkonsolen. »Während ich hinsah, be-deckten oder behängten sich jeder vorspringende Winkel und jederSims, ja sogar die Flächen der Steine, wo sie aneinanderstießen, allmäh-lich mit Büscheln, die wie riesige Edelsteine aussahen, aber ungeschlif-fen waren und eher wie eine Fülle durchsichtiger Früchte wirkten ...

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Alle schienen sie ein inneres Licht zu besitzen.« Der gotische Turmwich einem Berg, einem Felsgipfel von unvorstellbarer Höhe, einerriesigen, aus Stein gehauenen und über den Abgrund ragenden Vogel-klaue, wo sich ohne Ende farbige Behänge entfalteten und immermehr Edelsteine sich bildeten. Zuletzt formten sich grüne und violetteWellen, die sich an einem Ufer »mit Myriaden von Lichtern in densel-ben Farbtönen brachen«.

Jede Erfahrung mit Meskalin, jede in der Hypnose entstehende Visi-on ist einzigartig, aber alle gehören unverkennbar derselben Kategoriean. Die Landschaften, die architektonischen Gebilde, die zu Traubenzusammengedrängten Edelsteine, die leuchtenden, verschlungenenMuster – sie sind in ihrer Atmosphäre übernatürlicher Bedeutsamkeitder Stoff, aus dem die Antipoden der Psyche gemacht sind. Warum dasso ist, das wissen wir nicht. Es ist eine nackte Erfahrungstatsache, diewir, ob es uns passt oder nicht, hinnehmen müssen – genauso wie wirdie Tatsache hinnehmen müssen, dass es Kängurus gibt.

Von diesen Tatsachen visionären Erlebens wollen wir uns nun denin allen kulturellen Traditionen bewahrten Berichten über Jenseitswel-ten zuwenden, über Welten, die von den Göttern bewohnt werden,von den Geistern der Toten, von Menschen in ihrem unschuldigenUrzustand.

Wenn wir solche Berichte lesen, fällt uns sogleich die große Ähn-lichkeit zwischen herbeigeführten und spontanen visionären Erlebnis-sen und den Himmeln und Märchenländern der Folklore und derReligion auf. Übernatürliches Licht, übernatürlich starke Farben, über-natürliche Bedeutsamkeit – sie sind charakteristisch für alle Jenseits-welten und Goldenen Zeitalter. Und fast immer leuchtet dieses Lichtmit seiner übernatürlichen Bedeutung oder strahlt aus Landschaftenvon einer Schönheit, die alles übertrifft, dass Worte sie nicht auszudrü-cken vermögen.

So finden wir in der griechisch-römischen Überlieferung den liebli-chen Garten der Hesperiden, die Elysäischen Felder und die schöneInsel Leuke, auf die Achilles entführt wurde. Memnon gelangte aufeine andere leuchtende Insel irgendwo im Osten. Odysseus und Pe-

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nelope reisten in der entgegengesetzten Richtung und erfreuten sich ih-rer Unsterblichkeit bei Circe in Italien. Noch weiter westlich lagen diezuerst von Hesiod erwähnten Inseln der Seligen, an die so fest ge-glaubt wurde, dass noch im 1. Jahrhundert n. Chr. Sertorius beab-sichtigte, von Spanien ein Geschwader zu ihrer Entdeckungauszusenden.

Zauberhaft schöne Inseln tauchen im Volksglauben der Kelten wie-der auf und auf der Rückseite der Erde bei den Japanern. Und zwi-schen Avalun im äußersten Westen und Horaisan im Fernen Ostenliegt das Land Uttarakuru, das Jenseits der Hindu. »Dieses Land«, solesen wir im Ramayana, »wird bewässert von Seen mit goldenen Lotus-blumen. Es gibt da Flüsse zu Tausenden, die mit Blättern von der Far-be des Saphirs und des Lapislazuli bedeckt sind, und auf den Seen, diewie die Morgensonne strahlen, schwimmen goldene Beete roter Lotus-blumen. Das Land ringsumher ist mit Juwelen und Edelsteinen be-deckt und mit Beeten von blauem Lotus mit goldenen Blütenblättern.Statt Sand bilden Perlen, Edelsteine und Gold die Ufer der Flüsse,über die sich Bäume von feurig glänzendem Gold neigen. Diese Bäu-me tragen immerwährend Blüten und Früchte, verströmen einen sü-ßen Duft und beherbergen unzählige Vögel.«

Uttarakuru, so sehen wir, ähnelt den Landschaften, die das Meska-linerlebnis hervorbrachte, darin, dass es reich an Edelsteinen ist. Unddiese Eigenschaft ist so gut wie allen Jenseitswelten religiöser Überliefe-rung gemein. Jedes Paradies ist überreich an Edelsteinen oder zumin-dest an Gegenständen, die Edelsteinen gleichen, und, wie WeirMitchell es ausdrückt, »durchsichtigen Früchten« ähneln. Hier zumBeispiel Ezechiels Schilderung des Gartens Eden: »Du bist im Lustgar-ten Gottes und mit allerlei Edelsteinen geschmückt, mit Sarder, Topas,Demant, Türkis, Onyx, Jaspis, Saphir, Amethyst, Smaragd und Gold ...Du bist wie ein Cherub, der sich weit ausbreitet und decket... auf denheiligen Berg Gottes gesetzt, dass du unter den feurigen Steinen wan-delst.« Die buddhistischen Paradiese sind mit ähnlichen »feurigen Stei-nen« geziert. So ist das westliche Paradies der Sekte des Reinen Landesvon Mauern aus Silber, Gold und Beryll umgeben und hat Seen mit

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edelsteinbesetzten Ufern und einer Fülle leuchtender Lotusblumen, indenen die Bodhisattwas thronen.

Bei der Beschreibung ihrer Jenseitswelten sprechen die Kelten undGermanen sehr wenig von Edelsteinen, wissen aber sehr viel von eineranderen und für sie ebenso wundervollen Substanz – nämlich Glas –zu berichten. Die Waliser hatten ein seliges Land, genannt Ynisvitrin,die Glasinsel; und einer der Namen des germanischen Totenreichs warGlasberg. Dabei kommt einem auch das Meer von Glas in der Offen-barung Johannis in den Sinn.

Die meisten Paradiese sind mit Gebäuden geziert, und wie dieBäume, die Gewässer, die Berge und Wiesen leuchten diese Gebäudevon Edelsteinen. Wir sind alle vertraut mit dem Neuen Jerusalem.»Und der Bau ihrer Mauer war von Jaspis und die Stadt von lautermGolde gleich dem feinen Glase. Und die Gründe der Mauer um dieStadt waren geschmückt mit allerlei Edelsteinen.«

Ähnliche Beschreibungen finden sich in der eschatologischen Lite-ratur des Hinduismus, des Buddhismus und des Islam. Der Himmel iststets ein Ort, der überreich ist an Edelsteinen. Warum wohl? Diejeni-gen, die an jede menschliche Tätigkeit nur in Begriffen eines sozialenund wirtschaftlichen Beziehungssystems herangehen, werden etwa ant-worten: Edelsteine sind auf Erden sehr selten. Nur wenige Menschenbesitzen sie. Um sich dafür zu entschädigen, haben die Wortführer dervon Armut bedrückten Mehrheit ihre Himmel mit Edelsteinen ange-füllt. Diese Hypothese einer Vertröstung auf den Himmel enthältzweifellos etwas Wahres, aber sie erklärt nicht, wie es dazu kam, dassEdelsteine überhaupt als kostbar angesehen wurden.

Die Menschen haben ungeheuer viel Zeit, Energie und Geld aufdas Auffinden, Ausgraben und Schleifen farbiger Kiesel verwendet.Warum? Der Utilitarier hat keine Erklärung für ein derartig ausgefalle-nes Verhalten. Sobald wir aber die Tatsachen visionärer Erfahrung inBetracht ziehen, wird alles klar. In Visionen gewahren die Menscheneine Überfülle dessen, was Ezechiel »feurige Steine« nannte, was WeirMitchell als »durchsichtige Früchte« beschrieb. Diese Dinge leuchtenvon selbst, zeigen übernatürlichen Farbenglanz und besitzen eine

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übernatürliche Bedeutsamkeit. Die materiellen Objekte, die diesen vi-sionären Lichtquellen am meisten ähneln, sind die Edelsteine. Einensolchen Stein zu erwerben, heißt etwas erwerben, dessen Kostbarkeitdurch die Tatsache gewährleistet ist, dass es in der Jenseitswelt existiert.

Nur so lässt sich die sonst unerklärliche Leidenschaft der Men-schen für Edelsteine nachvollziehen, und daher schrieben sie heilendeund magische Kräfte den Edelsteinen zu. Die kausale Kette beginnt,davon bin ich überzeugt, im psychischen Jenseits visionären Erlebens,senkt sich zur Erde und steigt dann wiederum auf in das theologischeJenseits des Himmels. In diesem Zusammenhang gewinnen die Wortedes Sokrates im Phaidon eine neue Bedeutung. Es gibt, so sagt er unsda, eine ideale Welt über und jenseits der stofflichen. »In jener anderenWelt sind die Farben viel reiner und leuchtender als hier unten ... So-gar die Berge, sogar die Steine haben einen üppigeren Glanz, eineschönere Durchsichtigkeit und sattere Farbenkraft. Die Edelsteinedieser niederen Welt, unsere hoch geschätzten Karneole, Jaspisse undSmaragde und wie sie alle heißen, sind bloß winzige Bruchstücke jenerSteine dort oben. In jener anderen Welt gibt es keinen Stein, der nichtkostbar wäre und an Schönheit jeden unserer Edelsteine überträfe.«

Mit anderen Worten, Edelsteine sind edel und kostbar, weil sie eineschwache Ähnlichkeit mit den leuchtenden Wundern haben, die dasinnere Auge des Visionärs erblickt. »Der Anblick jener Welt«, sagtPlato, »ist eine Vision seliger Beschauer«; denn Dinge zu sehen, »wie siean sich sind«, ist ungemischte und unaussprechliche Seligkeit.

Für Menschen, die nichts von Edelsteinen oder Glas wissen, ist derHimmel nicht mit Mineralien, sondern mit Blumen ausgeschmückt.Übernatürlich leuchtende Blumen blühen in den meisten der von pri-mitiven Eschatologen beschriebenen Jenseitswelten, und sogar in denedelsteinbesetzten und gläsernen Paradiesen der fortgeschritteneren Re-ligionen haben sie ihren Platz. Man erinnert sich da der Lotosblütehinduistischer und buddhistischer Überlieferung, der Rosen und Li-lien des Westens.

»Gott pflanzte zuerst einen Garten.« Das drückt eine tiefe psycho-logische Wahrheit aus. Der Gartenbau hat seinen Ursprung – oder je-

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denfalls einen seiner Ursprünge – in der Jenseitswelt der Antipodender Psyche. Wenn Andächtige Blumen am Altar darbringen, geben sieden Göttern Dinge zurück, von denen sie wissen oder (wenn sie nichtzu Visionen fähig sind) dunkel fühlen, dass sie im Himmel bodenstän-dig sind.

Und diese Rückkehr zum Ursprung ist nicht nur symbolisch, sie istauch eine Sache unmittelbarer Erfahrung. Denn der Verkehr zwischenunserer Alten Welt und den Antipoden, zwischen dem Diesseits unddem Jenseits, wickelt sich auf einer Straße mit Gegenverkehr ab. Edel-steine zum Beispiel kommen aus dem visionären Himmel der Seele,aber sie führen die Seele auch zurück in diesen Himmel. Bei ihrer Be-trachtung fühlen sich die Menschen (wie wir sagen) entrückt – hingezo-gen zu jener Jenseitswelt der platonischen Dialoge, dem magischenOrt, wo jeder Kiesel ein Edelstein ist. Und dieselben Wirkungen kön-nen durch Kunsterzeugnisse aus Glas oder Metall hervorgerufen wer-den, durch im Dunkel brennende Kerzen, durch hellbeleuchteteBildnisse und Ornamente, durch Blumen, Muscheln und Federn,durch Landschaften, die so gesehen werden, wie Shelley von den Euga-neischen Bergen aus Venedig im verklärenden Licht der aufgehendenoder untergehenden Sonne erblickte.

Ja, wir können sogar eine Verallgemeinerung wagen und sagen, wasimmer in der Natur oder in einem Kunstwerk einer dieser höchst be-deutsamen, von innen glühenden Erscheinungen gleicht, auf die manbei den Antipoden der Psyche stößt, sei dazu angetan, das visionäreErlebnis, sei es auch nur zum Teil und in abgeschwächter Form, her-beizuführen. Hier könnte ein Hypnotiseur uns daran erinnern, dassein Patient, der dazu bewogen werden kann, angespannt auf einenglänzenden Gegenstand zu blicken, leicht in Trance verfällt; und dasser, wenn er in Trance verfällt oder auch nur ins Träumen gerät, sehrwohl in seinem Inneren Visionen und außen eine verklärte Welt sehenkann.

Aber wie genau und warum führt der Anblick eines glänzenden Ge-genstandes eine Trance oder einen träumerischen Zustand herbei?Entstehen diese Phänomene, wie im 19. Jahrhundert behauptet wurde,

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einfach durch eine allgemeine nervliche Erschöpfung, die durch Über-anstrengung der Augen hervorgerufen wird, oder sollen wir das Phäno-men in rein psychologischen Begriffen erklären – als eine bis zumMonoideismus getriebene Konzentration, die zur Dissoziation führt?

Aber es gibt noch ein dritte Möglichkeit: Glänzende Gegenständekönnen unserem Unterbewusstsein in Erinnerung bringen, wessen essich bei den Antipoden der Psyche erfreute, und diese dunklen Andeu-tungen eines Lebens im Jenseits sind so fesselnd, dass wir dem Diesseitsweniger Aufmerksamkeit zollen und somit fähig werden, bewusst etwaszu erleben, was unbewusst stets in uns vorhanden ist.

Wir sehen also, dass es in der Natur gewisse Vorgänge, gewisse Ka-tegorien von Gegenständen, gewisse Stoffe gibt, die den Geist des Be-schauers in Richtung auf seine Antipoden hin zu entrücken vermögen,ihn aus dem Diesseits des Alltags entfernen und auf das Jenseits der Vi-sion hinführen können.

Und ebenso finden wir auf dem Gebiet der Kunst bestimmte Wer-ke, die regelrecht eine Einheit bilden und denen dieselbe entrückendeKraft innewohnt. Diese Werke, die eine Visionen auslösende Kraft be-sitzen, können aus Materialien wie etwa Glas, Metall, Edelsteinen oderFarbstoffen, die wie Edelsteine wirken, bestehen. In anderen Fällen be-ruht ihre Kraft darauf, dass sie auf eine besonders ausdrucksvolle Weiseeine entrückende Szene oder einen verklärenden Gegenstand wiederge-ben.

Die besten Kunstwerke dieser Art werden von Menschen geschaf-fen, die selber das visionäre Erlebnis gehabt haben, aber es ist auch je-dem halbwegs begabten Künstler schon durch bloßes Befolgen einesbewährten Rezepts möglich, Werke zu schaffen, von denen zumindesteine entrückende Kraft ausgeht.

Natürlich üben der Goldschmied und der Juwelier unter den Küns-ten, die Visionen begünstigen, diejenigen aus, die nahezu vollständigvon den dabei verwendeten Materialien abhängig sind. GeschliffeneMetalle und Edelsteine wirken an und für sich schon so, dass sogar einSchmuckstück der Gründerzeit, ja sogar ein Stück im Jugendstil etwas

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Machtvolles darstellt. Und wenn zu diesem natürlichen Zauber glei-ßenden Metalls und wie von innen heraus leuchtenden Steins noch derZauber edler Formen und kunstvoll zusammengestellter Farben hinzu-kommt, haben wir einen echten Talisman vor uns.

Die religiöse Kunst hat immer und überall von diesen zu Visionenanregenden Materialien Gebrauch gemacht. Der goldene Schrein, dieStatue aus Gold und Elfenbein, das juwelenbesetzte Symbol oder Bild-nis, die glitzernde Ausstattung des Altars – alles dies finden wir im heu-tigen Europa wie im alten Ägypten, in Indien und China ebenso wiebei den Griechen, den Inkas und den Azteken.

Den Erzeugnissen der Goldschmiedekunst ist eigen, dass sie in gro-ßer Zahl existieren. Sie haben ihren Platz im Innersten eines jedenMysteriums, in jedem Allerheiligsten. Dieser geheiligte Schmuck istimmer mit dem Licht von Lampen und Kerzen in Verbindung ge-bracht worden. Für Ezechiel war ein Juwel ein feuriger Stein. Umge-kehrt ist eine Flamme ein lebendiger Edelstein, sie ist mit der ganzenentrückenden Macht ausgestattet, die dem Edelstein und, in geringe-rem Maß, poliertem Metall innewohnt. Diese entrückende Macht derFlamme nimmt im Verhältnis zu Tiefe und Ausmaß der sie umgeben-den Dunkelheit zu. Die eindrucksvollen Tempel, die man in großerAnzahl findet, sind Höhlen, in denen Zwielicht herrscht und wo eini-ge Kerzen den entrückenden jenseitigen Schätzen auf dem Altar Lebenverleihen.

Glas ist kaum weniger geeignet, Visionen herbeizuführen, als dienatürlichen Edelsteine. In mancher Hinsicht erzeugt es sogar größereWirkungen, und zwar weil es häufiger verwendet wurde. Glas hat es er-möglicht, dass ein ganzes Gebäude – die Sainte-Chapelle zum Bei-spiel, die Kathedralen von Chartres und Sens – zu etwas Magischemund Entrückendem wurde. Glas ist es zu verdanken, dass Paolo Uc-cello ein kreisrundes Juwel von vier Metern Durchmesser entwerfenkonnte – sein großes Auferstehungsfenster, vielleicht das außergewöhn-lichste Kunstwerk, das zu Visionen anregt.

Für die Menschen des Mittelalters war das visionäre Erlebnis offen-bar von höchstem Wert, ja tatsächlich so wertvoll, dass sie bereit waren,

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dafür mit schwer verdientem Geld zu bezahlen. Im 12. Jahrhundertwurden in den Kirchen Sammelbüchsen für das Einsetzen und die Er-haltung bunter Glasfenster aufgestellt. Suger, der Abt von St. Denis,teilt uns mit, dass sie stets voll waren.

Man kann aber von Künstlern, denen Selbstachtung eigen ist,nicht erwarten, dass sie das fortführen, was ihre Väter schon unüber-trefflich gut beherrscht haben. Im 14. Jahrhundert löst die Grisaille dielebhaften Farben der Glasfenster ab, sie führte keine Visionen mehrherbei. Als im späten 15. Jahrhundert Farbenreichtum wieder ge-wünscht wurde, unternahmen die Glasmaler den Versuch, Renais-sancegemälde in ihrer Transparenz nachzuahmen, wozu sie auch dierichtigen Voraussetzungen mitbrachten. Die Ergebnisse waren oft inte-ressant, aber sie hatten keine mitreißende Kraft.

Dann kam die Reformation. Die Protestanten missbilligten visio-näre Erlebnisse und schrieben dem gedruckten Wort magische Kräftezu. In einer Kirche mit durchsichtigen Fenstern konnten die Andäch-tigen ihre Bibeln und Gebetbücher lesen und wurden nicht in Versu-chung geführt, sich der Predigt zu entziehen und in die Welt desJenseits zu flüchten. Die Anhänger der Gegenreformation unter denKatholiken befanden sich in einem Zwiespalt. Sie hielten zwar das vi-sionäre Erlebnis für etwas Gutes, aber sie glaubten auch an den un-übertrefflichen Wert des gedruckten Wortes. In den neuen Kirchenwurde nur selten buntes Glas verwendet, und in vielen der alten wurdees ganz oder teilweise durch farbloses Glas ersetzt. Das ungedämpfteLicht erlaubte es den Gläubigen, dem Gottesdienst in ihren Gebetbü-chern zu folgen und gleichzeitig die Werke der neuen Generation vonBildhauern und Architekten des Barock zu betrachten, die ebenfalls zuVisionen anregten. Die Werke, die nun eine Entrückung ermöglich-ten, waren aus Metall und poliertem Stein. Wohin der Andächtigeden Blick wandte, er sah das Schimmern von Bronze, das üppige Glän-zen farbigen Marmors, das überirdische Weiß von Statuen.

In den seltenen Fällen, in denen die Gegenreformation Glas ver-wendete, geschah es als Ersatz für Diamanten, nicht für Rubine oder

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Saphire. Facettierte Prismen tauchten in der religiösen Kunst des 17.Jahrhunderts auf, und in katholischen Kirchen baumeln sie bis zumheutigen Tag von unzähligen Kronleuchtern. (Diese bezaubernden undein bisschen lächerlichen Zierstücke gehören übrigens zu den sehr we-nigen Gegenständen, die eine Erleuchtung gewähren können.) In Mo-scheen findet man keine Bildnisse oder Reliquienschreine, währendjedoch ihre Strenge im Nahen Osten manchmal durch das Geglitzervon Rokokokristall gemildert wird, das die Aufmerksamkeit auf sichzieht.

Nach dem Glas, sei es nun gefärbt oder geschliffen, wenden wir unsdem Marmor und anderen Gesteinen zu, die auf Hochglanz gebrachtund in großen Mengen verwendet werden können. Die fesselnde Wir-kung, die von solchen Gesteinen ausgeht, lässt sich vielleicht dadurcherklären, dass so viel Zeit und Mühe auf ihre Gewinnung verwendetwurden. In Baalbek zum Beispiel und, etwa dreihundert Kilometerweiter landeinwärts, in Palmyra finden wir unter den Ruinen Säulenaus rosenfarbenem Granit, die aus Assuan stammen. Diese großen Mo-nolithen wurden in oberägyptischen Steinbrüchen gewonnen, auf Bar-ken den Nil abwärts transportiert, im Schlepptau über das Mittelmeernach Byblos oder Tripolis geflößt und von da mit Ochsen, Maultierenund mit Hilfe von Menschenkraft bergauf nach Homs geschleppt, undvon Homs südwärts nach Baalbek oder ostwärts durch die Wüste nachPalmyra. Was für eine Gigantenarbeit! Und wenn man es unter demNützlichkeitsprinzip betrachtet, was für ein erstaunlich sinnloses Un-ternehmen! Tatsächlich aber hatte es natürlich einen Sinn – einen Sinn,der jenseits bloßer Nützlichkeit lag. Wenn sie bis zu einem Punkt po-liert waren, wo sie in visionärem Glanz erglühten, kündeten die rosa-farbenen Pfeiler von ihrer offenbaren Verwandtschaft mit der AnderenWelt. Um den Preis ungeheurer Anstrengungen hatten Menschen die-se Säulen aus den Steinbrüchen am Wendekreis des Krebses herbeige-schafft; und nun trugen diese Steine, gewissermaßen als Entschädigung,ihre Träger den halben Weg zu den Visionen, die die Antipoden derPsyche gewähren.

Auch bei der Keramik stellt sich wieder die Frage nach dem Nutzenund nach den Motiven, die außerhalb praktischer Nutzanwendung lie-

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gen. Wenige Dinge sind nützlicher, sind unentbehrlicher als Töpfe,Teller und Krüge. Dennoch legt kaum jemand so wenig Wert aufNützlichkeit wie die Sammler von Porzellan und glasiertem Steingut.Zu behaupten, dass diese Menschen nach Schönheit dürsten, ist keineausreichende Erklärung. Der Umstand, dass in einer gewöhnlichen,wenig anziehenden Umgebung schöne Keramik so oft zur Schau ge-stellt wird, ist Beweis genug dafür, dass das, worauf ihre Eigentümeraus sind, nicht Schönheit in allen ihren Manifestationen ist, sondernnur eine besondere Art von Schönheit – Wölbungen mit Spiegelglanz,sanft schimmernde Lasuren, glatte und gleißende Oberflächen. Mit ei-nem Wort, eine Schönheit, welche den Beschauer entrückt, weil sieihn, verschwommen oder klar, an die übernatürlichen Lichter undFarben der Jenseitswelt gemahnt. Die Töpferkunst gehörte immermehr zu den weltlichen Künsten, sie wurde jedoch von ihren unzähligenAnbetern mit einer Ehrfurcht behandelt, die an Götzendienst erin-nert. Von Zeit zu Zeit jedoch wurde diese weltliche Kunst in denDienst der Religion gestellt. Glasierte Kacheln haben ihren Weg in dieMoscheen gefunden und hier und da auch in christliche Kirchen. AusChina kommen schimmernde Keramiken mit Bildnissen von Götternund Heiligen. In Italien schuf Luca della Robbia ein Himmelszelt vonblauer Glasur für seine glänzend weißen Madonnen und Christuskin-der. Gebrannter Ton ist billiger als Marmor und wirkt, entsprechendbehandelt, fast ebenso entrückend.

Plato behauptete, wie auch während einer späteren Blütezeit religiö-ser Kunst der heilige Thomas von Aquin, dass reine, leuchtende Far-ben zum wahren Wesen künstlerischer Schönheit gehören. Ein Matissewäre also schon an sich einem Goya oder Rembrandt überlegen. Manbraucht nur die Abstraktionen der Philosophen in konkrete Begriffe zuübertragen, um zu sehen, dass diese Gleichsetzung von Schönheit imallgemeinen mit leuchtenden, reinen Farben unsinnig ist. Aber die ehr-würdige Doktrin entbehrt, wenngleich in dieser Form unhaltbar,nicht ganz der Wahrheit.

Leuchtende, reine Farben sind charakteristisch für die Jenseitswelt.Daher vermögen es in leuchtend reinen Farben gemalte Kunstwerke,unter geeigneten Umständen den Geist des Beschauers in Richtung auf

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seine Antipoden zu führen. Leuchtende, reine Farben gehören zwarnicht zum generellen Wesen der Schönheit, aber zu einer besonderenArt von Schönheit, nämlich der Schönheit der Vision. Gotische Kir-chen, griechische Tempel, die Statuen des 13. nachchristlichen unddes 5. vorchristlichen Jahrhunderts – sie alle waren in leuchtend bun-ten Farben bemalt.

Für die Griechen und die Menschen des Mittelalters hatte dieseMalerei des Ringelspiels und des Wachsfigurenkabinetts offenbar etwasEntrückendes. Für uns hat sie etwas Beklagenswertes. Uns ist unserPraxiteles unkoloriert, unser Marmor und Sandstein au naturel lieber.Warum ist der moderne Geschmack in dieser Hinsicht so verschiedenvon dem unserer Vorfahren? Weil wir, so vermute ich, zu vertraut ge-worden sind mit leuchtenden, reinen Farbtönen, um von ihnen nochbesonders ergriffen zu werden. Wir bewundern sie selbstverständlich,wenn wir sie in einer großartigen oder subtilen Komposition erblicken.An und für sich jedoch vermögen sie uns nicht zu entrücken.

Sentimentale Liebhaber der Vergangenheit klagen über die graueEintönigkeit unseres Zeitalters und vergleichen sie zu ihrem Nachteilmit dem bunten Glanz vergangener Zeiten. Tatsächlich aber findetsich selbstverständlich eine viel größere Fülle von Farben in der moder-nen als in der antiken Welt. Lapislazuli und lyrischer Purpur warenkostbare Seltenheiten, die üppigen Samt- und Brokatstoffe fürstlicherKleiderkammern, die gewebten oder bemalten Wandbehänge mittel-alterlicher und frühneuzeitlicher Häuser waren einer privilegiertenMinderheit vorbehalten.

Sogar die Großen dieser Erde besaßen sehr wenige solcher Schätze,die dazu angetan sind, Visionen hervorzubringen. Noch im 17. Jahr-hundert hatten Monarchen so wenig Einrichtungsgegenstände, dass siemit Wagenladungen von Geschirr und Bettzeug, Teppichen undWandbehängen von einer ihrer Pfalzen zur anderen reisen mussten.Die große Masse des Volkes war lediglich im Besitz von hausgespon-nenen Geweben und ein paar pflanzlichen Farbstoffen. Und zur In-nendekoration standen bestenfalls farbige Erden, schlimmstenfalls

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(und meistens) »der Estrich von Lehm und die Wände von Dung« zurVerfügung.

Bei den Antipoden jeder Psyche lag die andere, die Jenseitsweltmit ihrem übernatürlichen Licht und ihrer übernatürlichen Farbe,den schönsten Edelsteinen und dem Gold ihrer Visionen. Vor jedemAugenpaar aber lag nur die düstere Verwahrlosung des häuslichen Ko-bens, der Staub und Schlamm der Dorfstraße, das schmutzige Weiß,das Lehmgelb und Gänsedreckgrün zerlumpter Kleidung. Daher eineleidenschaftliche, fast verzweifelte Sehnsucht nach starken, reinen Far-ben und daher die überwältigende Wirkung, die derartige Farbenhervorriefen, wann immer sie in Kirchen oder an Fürstenhöfen zurSchau gestellt wurden. Heutzutage erzeugt die chemische IndustrieMalfarben, Lacke und Färbemittel in unendlicher Auswahl und riesi-gen Mengen. In unserer modernen Welt gibt es kräftige Farbstoffe ge-nug, um die Herstellung von Milliarden von Flaggen und Comic stripszu gewährleisten, von Millionen von Verkehrszeichen und Schlusslich-tern, von Hunderttausenden von Feuerspritzen und Coca-Cola-Be-hältern und Quadratkilometern von Teppichen, Tapeten undabstrakten Bildern.

Vertrautheit erzeugt Gleichgültigkeit. Wir haben zu viele reine,starke Farben bei Woolworth gesehen, um sie an sich als entrückend zuempfinden. Und hier können wir anmerken, dass die moderne Technikdurch ihre erstaunliche Fähigkeit, uns zu viel des Besten zu geben, dazuneigt, die herkömmlichen Materialien zu entwerten, die früher dazudienten, Visionen herbeizuführen. Die Festbeleuchtung einer Stadtzum Beispiel war einst ein seltenes Ereignis, das man sich für Siege undNationalfeiertage, für Kanonisationen und Krönungen vorbehielt. Nunereignet sie sich allnächtlich und preist die Vorzüge von Schnäpsen, Zi-garetten und Zahnpasta an.

In London waren vor fünfzig Jahren Leuchtreklamen an Hausdä-chern etwas Neues und so selten, dass sie aus der nebeligen Dunkelheithervorleuchteten »wie im Gold des Diadems die edelsten Juwelen«.Jenseits der Themse, auf dem alten Schrotturm, waren goldene undrubinrote Buchstaben von magischer Schönheit angebracht, ein Feen-

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märchen. Heutzutage sind die Feen dahin, Neon ist allgegenwärtig,und daher hat es keine Wirkung auf uns außer vielleicht der, Sehnsuchtnach der Urnacht in uns zu wecken.

Nur in der Scheinwerferbeleuchtung von Gebäuden erhaschen wirwiederum die überirdische Bedeutsamkeit, die im Zeitalter des Ölsund des Wachses, ja sogar noch zur Zeit des Leuchtgases und des Koh-lendrahts von nahezu jeder Insel des Lichts innerhalb der grenzenlosenFinsternis auszustrahlen schien. Im Scheinwerferlicht sind Notre-Damede Paris und das Forum Romanum visionäre Erscheinungen und ha-ben die Macht, den Geist des Beschauers zum Jenseits hin zu entrü-cken.10

Die moderne Technik hat für Glas und poliertes Metall dieselbeentwertende Auswirkung gehabt wie auf Illuminationslämpchen undstarke, reine Farben. Für Johannes von Patmos und seine Zeitgenossenwaren Mauern von Glas nur im Neuen Jerusalem denkbar. Heutzutagesind sie ein Bestandteil jedes zeitgemäßen Bürogebäudes und Ferien-hauses. Und diese Übersättigung mit Glas geht mit einer Übersätti-gung durch Chrom und Nickel, rostfreien Stahl und Aluminium undeine große Zahl alter und neuer Legierungen einher. Metallisch glän-zende Oberflächen erwarten uns im Badezimmer, blinken aus demKüchenausguss, sausen, an Autos und Eisenbahnen funkelnd, durchsLand.

Jene üppigen konvexen Spiegelungen, die Rembrandt so fesselten,dass er es nie müde würde, sie zu malen, sind heute ein gewohnter An-blick im Haus, auf der Straße, in der Fabrik. Das Vergnügen, das selte-ner Genuss bereitet, ist schal geworden. Was einst das feineInstrument visionären Entzückens war, ist jetzt zu einem Stück schäbi-gen Linoleums geworden.

Bisher habe ich nur von Materialien, die Visionen hervorrufen, undvon ihrer psychologischen Entwertung durch die moderne Technik ge-sprochen. Wir wollen nun die rein künstlerischen Mittel betrachten,

10) Siehe Anhang III.

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mit Hilfe derer die zu Visionen Anlass gebenden Werke geschaffenwurden.

Licht und Farbe haben die Neigung, einen übernatürlichen Cha-rakter anzunehmen, wenn völlige Dunkelheit herrscht. Fra AngelicosKreuzigung im Louvre hat einen schwarzen Hintergrund. DenselbenHintergrund haben auch die Fresken der Passion, die Andrea delCastagno für die Nonnen von S. Apollonia in Florenz gemalt hat. Da-her die visionäre Intensität, die seltsam entrückende Macht dieser au-ßerordentlichen Kunstwerke. In einem ganz anderen künstlerischenund psychologischen Zusammenhang wurde dasselbe Mittel oft vonGoya in seinen Radierungen angewendet. Diese fliegenden Menschen,dieses Pferd auf einem gespannten Seil, die riesige und grausige Verkör-perung der Angst – sie alle heben sich wie von Scheinwerfern ange-leuchtet gegen einen Hintergrund undurchdringlicher Nacht ab.

Mit der Entwicklung des Helldunkels im 16. und 17. Jahrhundertkam die Nacht aus dem Hintergrund hervor und ließ sich mitten imBild nieder, so dass die Szene zu einer Art manichäischen Ringens zwi-schen Licht und Finsternis wurde. Damals, als sie gemalt wurden, müs-sen diese Werke wirklich die Kraft besessen haben, eine Entrückungzuwege zu bringen. Uns, die wir viel zu viel dergleichen gesehen ha-ben, kommen die meisten bloß theatralisch vor. Aber einige wenigehaben ihren Zauber behalten. Zum Beispiel Caravaggios Grablegungund ein Dutzend magischer Gemälde von Georges de la Tour11; undalle die visionären Rembrandts, auf denen die Lichter dieselbe Leucht-kraft und Bedeutsamkeit haben, die das Licht der psychischen Antipo-den besitzt, auf denen die Schatten voller Verheißung sind und nurdarauf warten, dass der Moment komme, wo sie sich verwirklichenund sich unserem Bewusstsein glühend vergegenwärtigen können.

Meist sind die vordergründig sichtbaren Vorwürfe zu RembrandtsBildern dem wirklichen Leben oder der Bibel entnommen – ein Kna-be, der seine Aufgaben lernt, oder Bathseba im Bade, eine Frau, diedurch einen Teich watet, oder Christus vor seinen Richtern. Gelegent-lich jedoch werden diese Botschaften aus der Jenseitswelt durch ein

11) Siehe Anhang IV.

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Sujet übermittelt, das nicht dem wirklichen Leben oder der Geschich-te, sondern dem Bereich archetypischer Symbole entnommen ist. ImLouvre hängt eine Méditation du Philosophe, deren symbolischer Ge-genstand nicht mehr und nicht weniger ist als der menschliche Geistund seine Fülle von Dunkelheit, seine Augenblicke intellektueller undvisionärer Erleuchtung, seine geheimnisvollen Treppen, die sich ab-wärts und aufwärts ins Unbekannte winden. Der meditierende Philo-soph sitzt wie auf einer Insel innerer Erleuchtung da, und am anderenEnde der symbolischen Kammer, auf einer anderen, rosigeren Inselkauert ein altes Weib vor einem Herd. Der Feuerschein fällt auf ihrGesicht und verklärt es, und wir sehen, konkret dargestellt, das unmög-liche Paradoxon und diese höchste Wahrheit – dass Wahrnehmungdasselbe ist (oder wenigstens sein kann, sein sollte) wie Offenbarung,dass die Wirklichkeit aus jeder Erscheinung hervorleuchtet, dass dasEine völlig und grenzenlos in allem einzelnen gegenwärtig ist.

Zugleich mit den übernatürlichen Lichtern und Farben, den Juwe-len und den fortwährend wechselnden Mustern entdecken die Besucherder Antipoden der Psyche eine Welt mit erhaben schönen Landschaf-ten, lebenserfüllten Bauten und heroischen Gestalten.

Die entrückende Macht vieler Kunstwerke lässt sich der Tatsachezuschreiben, dass ihre Schöpfer Szenen, Personen und Gegenstände ge-malt haben, welche den Beschauer an das gemahnen, was er in der Tie-fe seine Geistes bewusst oder unbewusst von der jenseitigen Welt weiß.

Beginnen wir mit den menschlichen oder vielmehr übermenschli-chen Einwohnern jener fernen Region. Blake nannte sie die Cherubim.Und im wesentlichen sind sie das zweifellos auch: die psychischen Ur-bilder jener Wesen, die in der Theologie einer jeden Religion als Ver-mittler zwischen den Menschen und dem Klaren Licht dienen. Dieseübermenschlichen Persönlichkeiten mit ihrer visionären Erfahrung»tun« nie »etwas«. (Ebenso wenig »tun« die Seligen im Himmel »etwas«.) Es genügt ihnen, lediglich »zu sein«.

Unter vielerlei Namen und in einer endlosen Mannigfaltigkeit vonKostümen sind diese heroischen Gestalten des visionären Erlebens inder religiösen Kunst einer jeden Kultur erschienen. Manchmal sind sie

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einfach dargestellt, manchmal vollbringen sie historische oder mythi-sche Handlungen. Aber Tätigkeit ist für die Bewohner der Antipodender Psyche etwas nicht ganz so Natürliches. Tätig zu sein ist das Gesetzunseres Seins. Das Gesetz des ihren besteht darin, tatenlos zu sein.Wenn wir diese abgeklärt heiteren Fremdlinge zwingen, eine Rolle ineinem unserer allzu menschlichen Dramen zu spielen, werden wir dervisionären Wahrheit untreu. Darum sind die (wenn auch nicht not-wendigerweise schönsten) Darstellungen der »Cherubim« mit dergrößten entrückenden Kraft diejenigen, die sie untätig in ihrer natür-lichen Umgebung zeigen.

Und das erklärt den überwältigenden, den über das Ästhetische hi-nausgehenden Eindruck, den die großen statischen Meisterwerke reli-giöser Kunst auf den Betrachter machen. Die Skulpturen ägyptischerGötter und Götterkönige, die Madonnen und Pantokratoren byzanti-nischer Mosaiken, die Bodhisattvas und Lohans Chinas, die sitzendenBuddhas von Khmer, die Stelen und Statuen von Copan, die sitzendenIdole des tropischen Afrika – sie alle haben ein Merkmal gemein: einetiefe Ruhe. Und gerade die verleiht ihnen ihre allumfassende Eigen-schaft, ihre Macht, den Betrachter aus der Alten Welt seiner Alltagser-fahrung zu entrücken, in Richtung auf die weit entfernten visionärenAntipoden der Menschenseele hin.

An sich hat statische Kunst natürlich nichts Besonderes an sich. Obstatisch oder dynamisch – ein schlechtes Kunstwerk ist immer einschlechtes Kunstwerk. Ich will nur andeuten, dass unter sonst völliggleichen Bedingungen eine heroische Gestalt in Ruhe eine größere ent-rückende Macht hat als eine, die bei einer Tätigkeit gezeigt wird.

Die Cherubim leben im Paradies und im Neuen Jerusalem – mitanderen Worten, inmitten wunderbarer Gebäude, welche inmittenüppiger lichter Gärten mit weiten Ausblicken auf Ebenen und Berge,auf Flüsse und das Meer liegen. Dies ist eine Sache unmittelbarer Er-fahrung, eine psychologische Tatsache, welche im Volksglauben und inder religiösen Literatur eines jeden Zeitalters und Landes festgehaltenworden ist, in der Malerei jedoch nicht.

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Wenn wir uns die verschiedenen Kulturen ansehen, stellen wir fest,dass Landschaftsmalerei nicht existiert, nur in Ansätzen vorhanden odereine sehr junge Erscheinung ist. In Europa gibt es eine vollerblühteKunst der Landschaftsmalerei erst seit vier oder fünf Jahrhunderten, inChina nicht länger als ein Jahrtausend, in Indien gab es sie – praktischgesehen – nie.

Das ist eine merkwürdige Tatsache, die eine Erklärung verlangt.Warum haben Landschaften in die visionäre Literatur einer Epocheund einer Kultur Eingang gefunden, nicht aber in deren Malerei? Sogestellt, liefert die Frage selbst die beste Antwort. Die Menschen be-gnügen sich vielleicht damit, dieser Seite ihres visionären Erlebens inWorten Ausdruck zu geben, und fühlen keine Notwendigkeit, sie inBilder umzusetzen.

Dass dies bei einzelnen Menschen häufig vorkommt, steht fest.Blake zum Beispiel sah visionäre Landschaften, »über alles hinaus deut-lich, was die sterbliche und vergängliche Natur hervorbringen kann«und »unendlich vollkommener und stärker bis ins kleinste organisiert,als es von einem sterblichen Auge je erblickt wurde«. Hier die Beschrei-bung einer solchen visionären Landschaft, die Blake auf einer von Mrs.Aders’ Abendgesellschaften gab: »Unlängst kam ich auf einem Abend-spaziergang zu einer Wiese, und am anderen Ende sah ich eine Schaf-herde. Als ich näher kam, wurde der Erdboden bunt von Blumen, unddie eingezäunte Hütte und ihre wolligen Bewohner waren von einerköstlichen pastoralen Schönheit. Doch als ich abermals hinblickte, er-wies sie sich nicht als lebende Herde, sondern als schöne Skulptur.«

In Malfarben wiedergegeben, sähe diese Vision vermutlich aus wieeine unwahrscheinlich schöne Mischung aus einer der frischesten Öl-skizzen von Constable und einem Tierbild im magisch-realistischen Stilvon Zurbaráns Lamm mit Heiligenschein, das sich jetzt im Museum vonSan Diego befindet. Aber Blake schuf nie irgend etwas, das auch nurim entferntesten einem solchen Gemälde ähnelte. Er begnügte sich da-mit, von seinen Landschaftsvisionen zu reden und zu schreiben undsich in seiner Malerei auf »die Cherubim« zu konzentrieren.

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Was bei einem einzelnen Künstler zutrifft, kann auf eine ganzeSchule zutreffen. Es gibt eine Menge Dinge, die Menschen erleben, dieauszudrücken sie jedoch kein Bedürfnis haben. Oder sie versuchenzwar, auszudrücken, was sie erlebt haben, bedienen sich dabei aber im-mer nur einer einzigen Kunstform. In anderen Fällen wieder drückensie sich auf eine Weise aus, die keine unmittelbar erkennbare Ver-wandtschaft mit dem ursprünglichen Erlebnis zeigt. In diesem Zusam-menhang hat Dr. A. K. Coomaraswamy einiges Interessante über diemystische Kunst des Fernen Ostens zu sagen – die Kunst, in der sich»Begriffsinhalt und Begriffsumfang nicht trennen lassen« und »keinUnterschied zwischen dem, was ein Ding ›ist‹, und dem, was es ›bedeu-tet‹, empfunden wird«.

Das hervorragende Beispiel solcher mystischer Kunst ist die vomZen inspirierte Landschaftsmalerei, die in China während der Sung-Zeit entstand und vier Jahrhunderte später in Japan eine Wiederge-burt erlebte. Indien und der Mittlere Osten haben keine mystischeLandschaftsmalerei. Aber sie haben deren Äuqivalente – »Vaisnava-Ma-lerei, -Dichtkunst und -Musik, deren Thema die geschlechtliche Liebeist, in Indien; und die dem Lob des Rausches gewidmete Dichtung undMusik der Sufi in Persien«.12

Das Bett ist, wie das italienische Sprichwort kurz und treffend sagt,die Oper der Armen. Entsprechend ist Geschlechtsgenuss das Sung derHindu, der Wein der Impressionismus der Perser.

Der Grund ist natürlich der, dass das Erlebnis geschlechtlicher Ver-einigung und das Erlebnis des Rausches teilhaben an jenem wesentli-chen Anderssein, das für alle Visionen einschließlich solcher vonLandschaften charakteristisch ist.

Wenn irgendwann Menschen Befriedigung an einer bestimmten Artvon Tätigkeit gefunden haben, kann man annehmen, dass es in Zei-ten, in denen diese befriedigende Tätigkeit nicht nachweisbar ist, etwasihr Gleichwertiges gegeben haben muss. Im Mittelalter zum Beispiel be-

12) A. K. Coomaraswamy, The Transformation of Nature in Art, Cambridge (Mass.),1935, S. 40.

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schäftigten sich die Menschen auf eine besessene, eine fast manische Wei-se mit Wörtern und Symbolen. Jede Erscheinung in der Natur wurdesogleich als die konkrete Veranschaulichung irgendeiner Vorstellungerkannt, die in den allgemein als heilig anerkannten Büchern oder Le-genden formuliert worden war.

Und doch haben in anderen Geschichtsepochen die Menscheneine tiefe Befriedigung darin gefunden, zu erkennen, wie autonom undandersartig die Natur ist, und nicht zuletzt auch die des Menschen.Das Erlebnis dieses Andersseins wurde in der Sprache der Kunst, derReligion oder der Wissenschaft ausgedrückt. Was entsprach im Mittel-alter Constable und der Ökologie, dem Beobachten von Vögeln undEleusis, der Mikroskopie und den Dionysosriten und dem japanischenHaiku? Es lag vermutlich irgendwo zwischen orgiastischen Saturnalienund mystischen Erlebnissen. Fastnachten, Maifeiern, Karnevale – siegestatteten ein unmittelbares Ausleben und Erfahren der animalischenAndersartigkeit, die der persönlichen und sozialen Identität zugrundeliegt. Künstlich herbeigeführte Kontemplation offenbarte eine wieder-um neue Andersartigkeit des göttlichen Nicht-Selbst. Und irgendwozwischen den beiden Extremen lagen die Erlebnisse der Visionäre unddie Künste, mit denen sich Visionen bewirken lassen und die man dazubenutzte, um jener Erlebnisse wieder habhaft zu werden, sie erneut he-raufzubeschwören – die Künste des Juweliers, des Glasmalers, des Go-belinwebers, des Malers, Dichters und Musikers.

Trotz einer Naturgeschichte, die lediglich aus einer Reihe langwei-liger moralistischer Symbole bestand, und einer Theologie, die, stattWörter als Zeichen für Dinge zu betrachten,

Dinge und Ereignisse wie Zeichen für biblische oder aristotelischeWorte behandelte, blieben unsere Vorfahren bei relativ gesundemVerstand. Und das erreichten sie dadurch, dass sie zeitweilig aus demerstickenden Gefängnis ihrer großsprecherisch rationalistischen Philo-sophie, ihrer anthropomorphen, autoritären und nichtexperimentellenWissenschaft, ihrer allzu festgelegten Religion in Welten ausbrachen,wo man sich nicht in Worten ausdrückte und die sich von der mensch-lichen unterschieden – in Welten, wo ihre Instinkte zu Hause waren,

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wo die Fauna der psychischen Antipoden lebte, Welten, die vom im-manenten Geist bewohnt wurden, der sich jenseits und zugleich dies-seits alles übrigen aufhielt.

Nach dieser weitausholenden, aber notwendigen Abschweifungwollen wir zu dem besonderen Fall, von dem wir ausgingen, zurück-kehren. Landschaften sind, wie wir gesehen haben, ein stets vorhande-nes Merkmal visionären Erlebens. Beschreibungen visionärerLandschaften kommen in den alten Literaturen, in der Volksüberliefe-rung und der Religion vor, Gemälde von Landschaften aber tauchenerst in vergleichsweise neuerer Zeit auf. Meinen erläuternden Ausfüh-rungen über psychische Äquivalente möchte ich ein paar kurze Bemer-kungen über das Wesen der Landschaftsmalerei als einer Visionenherbeiführenden Kunst hinzufügen.

Beginnen wir mit einer Frage. Welche Landschaften – oder allge-meiner, welche Darstellungen natürlicher Gegenstände – bewirken amehesten eine Entrückung, sind am ehesten imstande, Visionen herbei-zuführen? Im Licht meiner eigenen Erfahrung und dessen, was ich an-dere über ihre Reaktionen auf Kunstwerke habe sagen hören, will icheine Antwort wagen. Unter sonst gleichen Bedingungen (denn nichtsvermag Mangel an Talent auszugleichen) sind die zur Entrückung ambesten geeigneten Landschaftsdarstellungen erstens diejenigen, die na-türliche Objekte in sehr weiter Ferne darstellen, und zweitens solche,die sie in großer Nähe darstellen. »Entfernung leiht Verzauberung demBlick«; dasselbe bewirkt jedoch auch Nähe. Ein Sung-Gemälde fernerBerge, Wolken und Wildbäche bewirkt Entrückung, aber dieselbeWirkung erzielen Nahansichten von tropischem Laub in den Dschun-geln des Zöllners Rousseau. Wenn ich auf die Sung-Landschaft blicke,werde ich (oder eines meiner Nicht-Ich) an die Felszacken, an diegrenzenlos weiten Ebenen, die leuchtenden Himmel und Meere derAntipoden der Psyche gemahnt. Und dieses Entschwinden in Nebelund Wolken, dieses plötzliche Auftauchen einer seltsamen, intensiv be-stimmten Form, eines verwitterten Felsblocks zum Beispiel, eines ural-ten, von jahrelangem Ringen mit dem Wind verkrümmtenNadelbaums – all dies kann Entrückung bewirken, denn alles das ge-

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mahnt mich, bewusst oder unbewusst, an die grundlegende Distanzund Unerklärlichkeit der Jenseitswelt.

Ebenso ist es mit einer Nahansicht, einer »Großaufnahme«. Ich bli-cke auf diese Blätter mit ihrer Struktur von Adern, ihren Streifen undFlecken, ich spähe in die Tiefen verwobenen Grüns, und etwas in mirwird an jene lebendigen Muster gemahnt, die so charakteristisch sindfür die visionäre Welt, an jenes unaufhörliche Hervortreten und dieVervielfältigung geometrischer Figuren, welche zu Formen werden, anDinge, die sich immerfort in andere Dinge verwandeln.

Einer der Aspekte der Jenseitswelt liegt in diesen gemalten Groß-aufnahmen eines Dschungels, und daher entrückt mich das Bild, esbewirkt, dass ich es mit Augen sehe, die ein Kunstwerk in etwas ande-res, etwas jenseits aller Kunst Existierendes verwandeln.

Ich erinnere mich sehr lebhaft eines Gesprächs mit dem Kunstkriti-ker Roger Fry, wenngleich es vor vielen Jahren stattfand. Wir sprachenüber Monets Seerosen. Sie hätten kein Recht darauf, beharrte Roger,so schockierend unorganisiert zu sein, so völlig eines ordentlichenkompositorischen Gerüsts zu entbehren. Sie seien, künstlerisch gespro-chen, ganz unrichtig. Und doch, musste er zugeben, und doch ... Unddoch wirkten sie, wie ich heute sagen würde, entrückend. Ein Künstlervon erstaunlichem Können hatte eine Großaufnahme natürlicher Ge-genstände gemalt, gesehen in ihrem eigenen Zusammenhang und ohneBeziehung auf ausschließlich menschliche Vorstellungen davon, wie dieDinge sind oder sein sollten. Der Mensch, so sagen wir gern, ist dasMaß aller Dinge. Für Monet waren hier Seerosen das Maß von Seero-sen – und so malte er sie.

Denselben neuen und ungewohnten Blickwinkel muss ein Künstlersich zu eigen machen, der versucht, die Ferne wiederzugeben. Wie win-zig sind auf dem chinesischen Gemälde die Reisenden auf ihrem Wegdurch das Tal! Wie gebrechlich die Bambushütte auf dem Abhang überihnen! Und die ganze übrige ungeheure Landschaft ist Leere undSchweigen. Diese Offenbarung der Wildnis, die ihr Leben gemäß denGesetzen ihres eigenen Seins lebt, entrückt den Geist und nähert ihnseinen Antipoden an, denn die urweltliche Natur hat eine seltsame

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Ähnlichkeit mit jener inneren Welt, in der unsere persönlichen Wün-sche oder sogar die ewigen Anliegen der gesamten Menschheit unbe-rücksichtigt bleiben.

Nur der Mittelgrund und was man den entfernteren Vordergrundnennen könnte, sind ausschließlich menschlich. Sobald wir in großeNähe oder große Ferne blicken, verschwindet der Mensch ganz undgar oder verliert seinen Vorrang. Der Astronom dagegen blickt in nochgrößere Fernen als der Sung-Maler und sieht sogar noch weniger vommenschlichen Leben. Am anderen Ende der Skala befassen sich derPhysiker, der Chemiker , der Physiologe mit der Nahaufnahme – derGroßaufnahme der Zelle, des Moleküls, des Atoms. Und von dem,was auf fünf Schritte Entfernung, ja sogar auf Armeslänge wie einMenschenwesen aussah und sich auch so vernehmen ließ, bleibtnichts mehr übrig.

Etwas Ähnliches widerfährt dem kurzsichtigen Künstler und demglücklich Liebenden. In der vermählenden Umarmung zerschmilzt diePersönlichkeit, das Einzelwesen (dies ist das immer wiederkehrendeThema der Gedichte und Romane von D. H. Lawrence) hört auf, esselbst zu sein und wird Teil des riesigen unpersönlichen Weltalls.

Und so ist es auch mit dem Maler, der sich dazu entschlossen hat,seine Augen auf die unmittelbare Nähe zu richten. In seinem Werkverliert die Menschheit ihre Wichtigkeit, ja sie hat keinen Platz mehrdarin. Wir werden aufgefordert, statt »des Menschen, des stolzen Men-schen, der seine tollen Possen vor dem hohen Himmel treibt«, die Lili-en zu sehen, über die unirdische Schönheit »bloßer Dinge« zumeditieren, wenn sie aus ihrem von Nützlichkeit bedingten Zusam-menhang gelöst und so, wie sie sind, an und für sich wiedergegebenwerden. Dagegen (oder jedoch ausschließlich in einem früheren Stadi-um künstlerischer Entwicklung) wird die uns unmittelbar umgebendenichtmenschliche Welt in Mustern wiedergegeben. Diese Muster sindAbstraktionen von Blättern und Blüten – von der Rose, der Lotusblu-me, dem Akanthus, der Palme, dem Papyrus – und sind mit ihren

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Wiederholungen und Variationen zu etwas der lebendigen Geometrieder Jenseitswelt sehr Ähnlichem verarbeitet.

Ein freierer und realistischerer Umgang mit der Natur der nächs-ten Nähe erfolgt zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt – aberviel früher als jener Umgang mit den weiten Ausblicken, dessen Ergeb-nissen ausschließlich wir den Namen Landschaftsmalerei geben. Romzum Beispiel hatte seine »Großaufnahmen« von Landschaften; dasFresko eines Gartens, welches einst ein Zimmer in Livias Villa schmück-te, ist ein prachtvolles Beispiel dieser Kunstform.

Aus theologischen Gründen musste sich der Islam größtenteils mitArabesken bescheiden – üppig wuchernden und (wie in Visionen) be-ständig sich wandelnden Mustern, die auf genauen Beobachtungenvon Gegenständen aus der Natur beruhten. Aber sogar im Islam wardie unverfälschte Aufnahme von Landschaften nicht unbekannt.Nichts vermag an Schönheit und an visionärer Kraft die Mosaiken inden Gärten und Gebäuden der großen Omayyad-Moschee von Damas-kus zu übertreffen.

Ungeachtet der im mittelalterlichen Europa vorherrschenden Ma-nie jede Erscheinung in einen Begriff, jede unmittelbare Erfahrung inein Symbol zu verwandeln, das in einem Buch Verwendung findenkonnte, waren realistisch aus der Nähe erfasste Bilder von Laubwerkund Blumen ziemlich häufig. Wir finden sie in die Kapitelle gotischerPfeiler gemeißelt. Wir finden sie in gemalten Jagdszenen-Gemälden,die das immer gegenwärtige mittelalterliche Leben darstellen, wie zumBeispiel den Wald, wie ihn der Jäger oder der verirrte Wanderer in sei-ner detailliert dargestellten verwirrenden Verschlungenheit des Laub-werks sieht.

Die Fresken im Papstpalast zu Avignon sind fast die einzigen Über-reste dessen, was auch zur Zeit Chaucers eine weit verbreitete weltli-che Kunstform war. Ein Jahrhundert später erreicht diese Kunst derDarstellung des aus nächster Nähe gesehenen Waldes in ihrer innerenGeschlossenheit ihre höchste Vollendung mit so herrlichen und magi-schen Werken wie Pisanellos Sankt Hubertus und Paolo Uccellos Jagdin einem Wald, die sich jetzt im Ashmolean Museum in Oxford befin-

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den. Den Wandmalereien von Waldansichten eng verwandt waren dieWandbehänge, mit denen die reichen Leute Nordeuropas ihre Häuserschmückten. Die besten von ihnen sind Visionen hervorrufende Werkehöchster Ordnung. Auf ihre Weise sind sie so himmlisch, gemahnen sieso machtvoll daran, was bei den Antipoden der Psyche vorgeht, wie diegroßen Meisterwerke der Landschaftsmalerei großer Weiten – dieSung-Berge in ihrer ungeheuren Einsamkeit, die nicht endenwollen-den lieblichen Ming-Flüsse, die blaue Voralpenwelt tizianischer Fer-nen, das England Constables, das Italien eines Turner und einesCorot, die Provence eines Cézanne und van Gogh, die Ile de FranceSisleys und Vuillards.

Vuillard war übrigens ein unübertroffener Meister darin, sowohl vi-sionäre Nähen wie auch visionäre Fernen darzustellen. Seine Innenan-sichten von Bürgerhäusern sind Meisterwerke dieser Kunst, undverglichen mit ihnen erscheinen die Werke so bewusster und sozusagenberufsmäßiger Visionäre wie Blake und Odilon Redon als äußerstschwach.

In Vuillards Interieurs ist jede Einzelheit, und sei sie noch so trivial,ja noch so hässlich – das Tapetenmuster aus den Neunzigerjahren, dieNippes im Jugendstil, der Brüsseler Teppich – als ein lebendiges Juwelgesehen und wiedergegeben. Und alle diese Juwelen sind harmonischzu einem Ganzen verbunden, das sich dann erneut zu einem Juwel voneiner noch größeren visionären Intensität zusammenfügt. Und wenndie der oberen Mittelklasse angehörenden Bewohner von VuillardsNeuem Jerusalem einen Spaziergang machen, befinden sie sich nicht,wie sie angenommen hatten, im Departement Seine-et-Oise, sondernim Garten Eden, in einer Jenseitswelt, die zwar mit dieser unsererWelt im wesentlichen identisch, aber verklärt und daher entrückt ist.13

Ich habe bisher von dem beglückenden visionären Erlebnis und sei-ner Auslegung nur unter dem Gesichtspunkt der Theologie und demder Übertragung in die Kunst gesprochen. Aber visionäres Erleben istnicht immer beglückend. Es kann manchmal schrecklich sein. Es gibtauch eine Hölle, nicht nur einen Himmel.

13) Siehe Anhang V.

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Wie der Himmel, so hat auch die visionäre Hölle ihr übernatürli-ches Licht und ihre übernatürliche Bedeutsamkeit. Aber die Bedeut-samkeit ist an und für sich entsetzlich, und das Licht ist »das rauchigeLicht« des Tibetanischen Totenbuchs, die »sichtbare Finsternis« Miltons.In dem Journal d'une schizophrène14, dem autobiographischen Berichteines jungen Mädchens über seine Erfahrungen während einer geistigenErkrankung, wird die Welt der Schizophrenen le pays d'éclairement ge-nannt – »das Land des Erhelltseins«. Es ist ein Name, welchen einMystiker gebraucht haben könnte, um seinen Himmel zu bezeichnen.

Für die arme Renée aber, die Schizophrene, ist es ein höllisches Er-helltsein – die heftige Grellheit der Elektrizität ohne einen Schatten,omnipräsent und unbarmherzig. Alles, was für den gesunden Visionäreine Quelle der Seligkeit ist, bereitet der armen Renée nur Angst undvermittelt ihr ein alptraumartiges Gefühl von Unwirklichkeit. DerSommersonnenschein ist bösartig, das Schimmern polierter Oberflä-chen gemahnt nicht an Edelsteine, sondern an Maschinen und email-liertes Blech; die Intensität des Daseins eines jeden Gegenstandes, deraus nächster Nähe und außerhalb seines gewohnten Bezugsrahmensgesehen und belebt wird, löst eine ständige Empfindung der Bedro-hung aus.

Und dazu kommt noch das Grauen vor der Unendlichkeit! Fürden gesunden Visionär ist die Wahrnehmung des Unendlichen inner-halb eines endlichen einmaligen Zustandes eine Offenbarung von gött-licher Immanenz. Für eine Renée war sie eine Offenbarung dessen, wassie »das System« nennt: des riesigen kosmischen Mechanismus, der nurdazu da ist, Schuld und Strafe, Einsamkeit und Unwirklichkeit aus ihrherauszuwinden.

Geistige Gesundheit ist etwas Relatives, und es gibt eine ganze An-zahl Visionäre, die die Welt sehen, wie Renée sie sah, und es dennochauf diese oder jene Weise zuwege bringen, außerhalb der Irrenanstalt zuleben. Für sie, wie für den positiven Visionär, ist das Weltall verwan-delt – aber zum Schlechteren. Was darin enthalten ist, angefangen vonden Sternen am Himmel bis zum Staub unter den Füßen, ist unaus-

14) Journal d'une schizophrène, von M. A. Sèchehaye, Paris, 1950.

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sprechlich bedrohend oder abstoßend. Jedes Ereignis ist mit einer has-senswerten Bedeutsamkeit geladen, jeder Gegenstand offenbart dasVorhandensein eines unendlichen, allmächtigen, ewig vorhandenenGrauens.

Diese negativ verwandelte Welt hat von Zeit zu Zeit Eingang in dieLiteratur und die Künste gefunden. Sie zuckt und droht in van Goghsspäten Landschaften, sie ist Szene und Thema aller Erzählungen Kaf-kas, sie war Géricaults geistige Heimat15, sie wurde von Goya währendder Jahre seiner Taubheit und Einsamkeit bewohnt, sie wurde flüchtigvon Browning erblickt, als er Childe Roland schrieb, sie hat, als Kon-trast zu den Erscheinungen Gottes, ihren Platz in Charles Williams’Romanen.

Das negative visionäre Erlebnis ist oft von körperlichen Empfin-dungen einer außergewöhnlichen und charakteristischen Art begleitet.Seligkeit spendende Visionen sind im allgemeinen mit einem Gefühlder Trennung vom Körper verbunden, einem Gefühl der Entindividua-lisierung. (Es ist zweifellos dieses Gefühl der Entfernung von ihremSelbst, das es den Peyote-Kult treibenden Indianern ermöglicht, dieDroge nicht bloß als Abkürzungsweg in die visionäre Welt zu benut-zen, sondern auch, um ein liebevolles Zusammenhalten in der teilneh-menden Gruppe zu wecken.) Wenn das visionäre Erlebnis schrecklichund die Welt zum Schlechteren hin verändert ist, wird die Individuali-sierung verstärkt, und der negative Visionär sieht sich mit einem Kör-per verbunden, der immer undurchdringlicher zu werden scheint, sichimmer praller füllt, bis er sich schließlich darauf reduziert fühlt, das ge-quälte Bewusstsein eines verdichteten Klumpens Materie zu sein, nichtgrößer als ein Stein, den man in den Händen halten kann.

Es ist bemerkenswert, dass viele der in den verschiedenen Berichtenüber die Hölle beschriebenen Strafen aus Druck und Zusammenge-presstwerden bestehen. Dantes Sünder werden im Schlamm begra-ben, in Baumstämme eingesperrt, in Eisblöcken festgefroren, vonSteinen zermalmt. Das Inferno ist psychologisch wahr. Viele seinerQualen werden von Schizophrenen erlebt und auch von denjenigen,

15) Siehe Anhang VII.

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die Meskalin oder Lysergsäure unter ungünstigen Bedingungen ge-nommen haben.16

Welcher Art sind diese ungünstigen Bedingungen? Wieso und wa-rum wird der Himmel in die Hölle verwandelt? In gewissen Fällen hatdas negative visionäre Erlebnis vorwiegend physische Ursachen. Meska-lin sammelt sich, nachdem es eingenommen wurde, in der Leber an. Istdie Leber krank, fühlt sich die mit ihr verbundene Psyche in der Hölle.Was jedoch für unsere gegenwärtigen Zwecke noch wichtiger ist – dasnegative visionäre Erleben kann auf psychischem Wege herbeigeführtwerden. Furcht und Zorn versperren den Weg zur himmlischen Jen-seitswelt und stürzen denjenigen, der Meskalin nimmt, in die Hölle.

Und was auf den Menschen zutrifft, der Meskalin nimmt, trifftauch auf Personen zu, die spontan oder in der Hypnose Visionen ha-ben. Auf diesem psychischen Nährboden wurde die theologischeDoktrin vom rettenden Glauben gezüchtet, eine Lehre, die man in al-len großen religiösen Überlieferungen der Welt antrifft. Eschatologenhaben immer Probleme damit gehabt, ihre Vernunft und ihr Sittlich-keitsgefühl mit den nackten Tatsachen psychologischer Erfahrung zuvereinbaren. Als Rationalisten und Moralisten fühlen sie, dass gutesBetragen belohnt werden sollte und die Tugendhaften es verdienen, inden Himmel zu kommen. Als Psychologen aber wissen sie, dass Tu-gendhaftigkeit nicht die einzige oder ausreichende Vorbedingung fürseliges visionäres Erleben ist. Sie wissen, Werke allein sind machtlosund nur der Glaube oder liebendes Vertrauen gewährleisten, dass dasvisionäre Erlebnis Glückseligkeit vermittelt.

Negative Gefühle – Furcht, die die Abwesenheit von Vertrauensignalisiert, Hass, Zorn oder Bosheit, die die Liebe ausschließen – sinddie Gewähr dafür, dass das visionäre Erlebnis, unter welcher Bedin-gung oder zu welchem Zeitpunkt auch immer es sich ereignet, entsetz-lich sein wird. Der Pharisäer ist ein tugendhafter Mensch, aber seineTugendhaftigkeit ist von der Art, die sich mit einem negativen Gefühlverträgt. Seine visionären Erlebnisse werden daher wahrscheinlich eherhöllisch als himmlisch sein.

16) Siehe Anhang VIII.

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Die Seele ist so beschaffen, dass dem Sünder, der bereut und sichdem Glauben an eine höhere Macht überlässt, mit größerer Wahr-scheinlichkeit ein beseligendes visionäres Erlebnis zuteil wird als derselbstzufriedenen Stütze der Gesellschaft mit ihrer rechtschaffenenEntrüstung, ihrer Angst um Besitztümer und ihren Prätentionen, ih-ren eingefleischten Gewohnheiten zu tadeln, zu verachten und zu ver-urteilen. Daher die ungeheure Bedeutung, die in allen religiösenÜberlieferungen dem Zustand der Seele im Augenblick des Todes bei-gelegt wird.

Visionäres Erleben ist nicht dasselbe wie mystisches Erleben. Mys-tisches Erleben liegt jenseits des Bereichs der Gegensätze. Visionäres Er-leben spielt sich noch immer innerhalb dieses Bereichs ab. DerHimmel bedingt die Hölle, und »in den Himmel zu kommen« istebenso wenig Befreiung wie der Abstieg ins Grauenhafte. Der Himmelist bloß ein Aussichtspunkt, von dem aus man einen klareren Blick aufden göttlichen Urgrund hat als von der Ebene einer gewöhnlichen indi-vidualisierten Existenz.

Falls das Bewusstsein den körperlichen Tod überlebt, überlebt esihn vermutlich in jedem geistigen Erfahrungsbereich – dem des mys-tischen Erlebens, dem der himmlisch oder höllisch erfahrenen Visi-on und auf der Ebene alltäglicher individueller Existenz.

Im Leben hat sogar das himmlisch visionäre Erlebnis die Neigung,sein Vorzeichen zu ändern, wenn es zu lange währt. Viele Schizophrenehaben ihre Zeiten himmlischer Glückseligkeit, aber da sie (im Gegen-satz zu demjenigen, der Meskalin nimmt) nicht wissen, wann und ob esihnen überhaupt erlaubt sein wird, zu der beruhigenden Banalität desAlltagserlebens zurückzukehren, erscheint ihnen sogar der Himmelentsetzlich. Für diejenigen aber, die aus irgendeinem Grund Entsetzenverspüren, verwandelt sich der Himmel in die Hölle, Seligkeit in Grau-en, das Klare Licht in die verhasste Grelle des »Landes des Erhelltseins«.

Etwas Vergleichbares vollzieht sich vielleicht im Zustand des Todes.Nachdem sie einen flüchtigen Blick auf die unerträgliche Herrlichkeitder letzten Wirklichkeit getan haben und dann zwischen Himmel undHölle hin- und hergetrieben wurden, wird es für viele Seelen möglich,

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sich in jene ruhevollere Region des Geistes zurückzuziehen, wo sie ihreeigenen Wünsche, Erinnerungen und Einbildungen sowie die andererMenschen dazu benützen können, sich eine Welt zu schaffen, die der-jenigen, in der sie auf Erden lebten, sehr ähnlich ist.

Von den Menschen, die sterben, ist bloß eine unendlich kleine Min-derheit einer unverzüglichen Vereinigung mit dem göttlichen Urgrundfähig, einige wenige sind imstande, die visionäre Seligkeit des Himmelszu ertragen, einige wenige finden sich in den visionären Schrecken derHölle wieder und vermögen es nicht, ihnen zu entkommen, und diegroße Mehrheit endet schließlich in einer Welt, wie sie von Swedenborgund spiritistischen Medien beschrieben wird. Es ist gewiss möglich, wenndie nötigen Bedingungen erfüllt sind, aus dieser Welt in Welten visio-närer Seligkeit oder endgültiger Erleuchtung überzugehen.

Nach meiner Vermutung haben sowohl moderner Spiritismus alsauch uralte Tradition recht. Es gibt einen postumen Zustand, wie ihnSir Oliver Lodge in seinem Buch Raymond beschrieben hat. Es gibtaber auch einen Himmel seligen visionären Erlebens. Es gibt auch eineHölle eines derartig grauenhaften visionären Erlebens, wie sie schonhier von Schizophrenen und von einigen Menschen durchlitten wird,die Meskalin nehmen. Und es gibt auch, jenseits aller Zeit, ein Erlebender Vereinigung mit dem göttlichen Urgrund.

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ANHANG

I

Zwei andere, weniger wirksame Hilfen, die das Erleben von Visio-nen ermöglichen, verdienen erwähnt zu werden – Kohlendioxid unddas Stroboskop. Eine (völlig ungiftige) Mischung von sieben TeilenSauerstoff und drei Teilen Kohlensäure ruft bei einem Menschen, dersie einatmet, bestimmte körperliche und seelische Veränderungen her-vor, die ausführlich von Meduna beschrieben worden sind. Die wich-tigste Veränderung ist in unserem Zusammenhang eine deutlicheSteigerung der Fähigkeit, mit geschlossenen Augen »allerlei zu sehen«.In manchen Fällen werden nur wirbelnde Farbmuster gesehen. Bei ande-ren Gelegenheiten kann es zu lebhaften Erinnerungen an frühere Er-lebnisse kommen. (Daher der Wert von CO2 als Heilmittel.) Inanderen Fällen wieder entrückt Kohlensäure einen Menschen in eineandere Welt, zu den Antipoden seines Alltagsbewusstseins, und er wirdsehr kurze Erlebnisse haben, denen jeder Zusammenhang mit seinereigenen persönlichen Geschichte oder mit den Problemen der Mensch-heit im allgemeinen fehlt.

Angesichts dieser Tatsachen wird die Logik, die in den Atemübun-gen des Joga liegt, leicht verständlich. Systematisch betrieben, führendiese Atemübungen nach einiger Zeit zu immer längeren Unterbre-chungen des Atmens. Das wiederum führt zu einer höheren Konzen-tration von Kohlensäure in der Lunge und im Blut, wodurch dieLeistungsfähigkeit des Gehirns in seiner Funktion als Filter oder als Re-duktionsschleuse erhöht wird, und ermöglicht den Eintritt visionärerund mystischer Erlebnisse ins Bewusstsein. Lange fortgesetztes und un-unterbrochenes Schreien oder Singen kann zu ähnlichen, aber wenigerausgeprägten Erlebnissen führen. Wenn Sänger nicht sehr geschultsind, neigen sie dazu, mehr auszuatmen, als sie einatmen. Dadurchwird die Konzentration von Kohlendioxid in der Mundhöhle und imBlut erhöht, und da die Leistungsfähigkeit der zerebralen Reduktions-schleuse herabgesetzt ist, entsteht die Fähigkeit, visionäre Erlebnisse zu-zulassen. Darauf beruhen auch die ununterbrochenen »sinnentleertenWiederholungen« der Magie und der Religion, der Singsang des curan-

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dero, des Medizinmannes, des Schamanen, das endlose Singen vonPsalmen und Intonieren von Sutren christlicher und buddhistischerMönche, das stundenlange Schreien und Heulen der Wiedererwecker– aber ungeachtet all der Verschiedenheiten theologischen Glaubensund ästhetischer Konvention bleibt die psycho-chemisch-physiologi-sche Wirkungsweise dieselbe. Die Konzentration von CO2 in der Lungeund im Blut zu erhöhen und so die Wirksamkeit des zerebralen Reduk-tionsfilters zu verringern, bis es biologisch Wertloses aus dem totalenBewusstsein zulässt – das war, obgleich es den Schreiern, Sängern undMurmlern nicht bekannt war, allezeit der wahre Sinn und Zweck magi-scher Zauberformeln, der Mantras, Litaneien, Psalmen und Sutren.»Das Herz«, sagt Pascal, »hat seine Beweggründe.« Noch zwingenderund noch schwerer zu entwirren aber sind die Beweggründe der Lunge,des Blutes und der Enzyme, der Neuronen und Synapsen. Der Weg insÜberbewusste führt durch das Unbewusste, und der Weg oder zumin-dest einer der Wege zum Unbewussten führt durch die chemischenVorgänge in den einzelnen Zellen.

Mit der stroboskopischen Lampe steigen wir aus der Chemie in dennoch elementareren Bereich der Physik hinab. Ihr rhythmisch aufblin-kendes Licht scheint durch die Sehnerven unmittelbar auf die elektri-schen Erscheinungen der Gehirntätigkeit einzuwirken. (Aus diesemGrund bringt die Verwendung des Stroboskops immer eine leichte Ge-fahr mit sich. Manche Menschen leiden an der Fallsucht, ohne sich des-sen aufgrund deutlich ausgeprägter und unverkennbarer Symptomebewusst zu sein. Wenn sie sich einem Stroboskop aussetzen, können sol-che Menschen einen akuten epileptischen Anfall bekommen. Die Ge-fahr ist nicht sehr groß, aber man muss immer mit ihr rechnen. Beieinem Fall unter achtzig kann es zu Komplikationen kommen.)

Mit geschlossenen Augen vor einem Stroboskop zu sitzen, ist einsehr seltsames und fesselndes Erlebnis. Sobald die Lampe eingeschaltetist, werden Muster in den leuchtendsten Farben sichtbar. Diese Mustersind nicht statisch, sondern wechseln unaufhörlich. Welche Farbe vor-herrschend ist, hängt davon ab, in welchen Zeitabständen die Lampeaufleuchtet. Wenn die Lampe zehn- bis vierzehn- oder fünfzehnmal inder Sekunde aufblinkt, sind die Muster vorwiegend orangefarben und

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rot. Grün und Blau erscheinen, wenn die Geschwindigkeit so erhöhtwird, dass die Lampe mehr als fünfzehnmal pro Sekunde aufblinkt.Über achtzehn- oder neunzehnmal hinaus werden die Muster weißoder grau. Der genaue Grund dafür, dass wir solche Muster im Stro-boskop sehen, ist nicht bekannt. Die nächstliegende Erklärung wäredas Ineinanderspielen von zwei oder mehr Rhythmen – dem der Lam-pe und den verschiedenen Rhythmen der elektrischen Gehirntätigkeit.Solche Interferenzen werden vielleicht durch das Sehzentrum und dieSehnerven so verwandelt, dass sie als farbige Muster ins Bewusstseintreten. Viel schwerer zu erklären ist die von mehreren Versuchsleiternunabhängig voneinander beobachtete Tatsache, dass das Stroboskopdie durch Meskalin oder Lysergsäure hervorgerufenen Visionen ge-wöhnlich bereichert und verstärkt. Als Beispiel nun nachfolgend einFall, der mir von einem befreundeten Arzt mitgeteilt wurde. Er hatteLysergsäure genommen und sah mit geschlossenen Augen nur farbige,sich bewegende Muster. Dann setzte er sich vor ein Stroboskop. DieLampe wurde eingeschaltet, und sogleich verwandelten sich die abs-trakten Formen aus der Geometrie in etwas, das mein Freund als »japa-nische Landschaften« von überragender Schönheit beschrieb. Aberwie in aller Welt kann die Interferenz zweier Rhythmen eine Anord-nung elektrischer Impulse hervorrufen, welche als lebendige, sich selbsterzeugende, von übernatürlicher Helligkeit und Farbe durchflutete so-wie von übernatürlicher Bedeutsamkeit erfüllte japanische Landschaftdeutbar ist und keine Ähnlichkeit mit irgend etwas aufweist, was derBetreffende je gesehen hat?

Dieses Geheimnis ist nur ein Ausschnitt aus einem größeren, um-fassenderen Geheimnis – dem Geheimnis des Wesens der Beziehun-gen, die zwischen visionären Erfahrungen und Vorgängen auf derEbene der Zellchemie und der Elektrizität wirksam sind. Indem Penfieldgewisse Partien des Gehirns mit einer sehr dünnen Elektrode berührte,war er imstande, eine lange Kette von Erinnerungen, die sich auf einErlebnis in der Vergangenheit bezogen, wieder hervorzurufen DieseErinnerungen waren nicht nur in jeder wahrgenommenen Einzelheitgenau, sie gingen auch mit all den Gefühlen einher, die von den ur-sprünglichen Ereignissen ausgelöst worden waren Der Patient, der un-

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ter Lokalanästhesie stand, fühlte sich gleichzeitig an zwei Orten und inzwei Zeiten – im Operationssaal, hier und jetzt, und zuhause in seinerKindheit, Hunderte von Kilometern und Tausende von Tagen ent-fernt. Gibt es, so fragt man sich da, eine Gehirnpartie, aus der diesondierende Elektrode Blakes Cherubim oder Weir Mitchells sich ver-wandelnden, mit lebendigen Edelsteinen besetzten gotischen Turmoder die unaussprechlich lieblichen japanischen Landschaften meinesFreundes hervorzulocken vermag? Und wenn, wie ich selbst glaube, vi-sionäre Erlebnisse von irgendwo aus dem Unendlichen des totalen Be-wusstseins kommen, wie ist dann das neurologische Muster beschaffen,das vom Gehirn ad hoc für die Übermittlung und den Empfang bereit-gestellt wird? Und was geschieht mit diesem Ad-hoc-Muster, wenn dieVision vorbei ist? Warum behaupten alle Visionäre, dass sie ihre ver-klärenden Erlebnisse auch nicht annähernd in der ursprünglichenoder in einer auch nur ähnlichen Form und Stärke wieder herbeirufenkonnten? So viele Fragen – und so wenig Antworten bisher.

II

In der westlichen Welt gibt es wesentlich weniger Visionäre undMystiker als früher. Dafür gibt es hauptsächlich zwei Gründe – einenphilosophischen und einen chemischen. In der Vorstellung vom Uni-versum, die zur Zeit in Mode ist, gibt es keinen Platz für anerkanntetranszendentale Erlebnisse. Folglich werden diejenigen, die glauben,eindeutige transzendentale Erfahrungen gemacht zu haben, mit Miss-trauen angesehen, als wären sie entweder Verrückte oder Schwindler.Mystiker oder Visionär zu sein, ist heutzutage nichts Rühmliches mehr.

Aber nicht nur unser geistiges Klima ist dem Visionär und demMystiker ungünstig, auch unsere chemische Umwelt unterscheidet sichgründlich von der, in der unsere Vorfahren lebten.

Das Gehirn gehorcht chemischen Gesetzen, und die Erfahrung hatgezeigt, dass es für die (biologisch gesprochen) überflüssigen Phänome-ne des totalen Bewusstseins auf die Weise durchlässig gemacht werden

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kann, dass man die (biologisch gesprochen) normalen chemischen Vor-gänge im Körper beeinflusst.

Unsere Vorfahren aßen nahezu die Hälfte des Jahres kein Obst,kein grünes Gemüse und (da sie nicht in der Lage waren, eine größereAnzahl von Ochsen, Kühen, Schweinen, Hühnern und Gänsen überdie Wintermonate durchzufüttern) nur sehr wenig Butter oder fri-sches Fleisch und sehr wenig Eier. Wenn es dann Frühling wurde, lit-ten die meisten an leichtem oder schwerem Skorbut, weil in ihrerNahrung das Vitamin C, und an der Pellagra, weil in ihr der Vitamin-B-Komplex fehlte. Die verheerenden körperlichen Symptome dieserKrankheiten gehen einher mit nicht weniger verheerenden seelischen.17

Das Nervensystem ist verletzlicher als die anderen Gewebe des Kör-pers. Folglich führt Vitaminmangel oft dazu, dass zunächst der Geis-teszustand beeinträchtigt wird, bevor in merklicher Form Haut,Knochen, Schleimhäute, Muskeln und Eingeweide betroffen werden.Die erste Folge einer unzulänglichen Ernährung ist eine Herabsetzungder Leistungsfähigkeit des Gehirns als einer Grundvoraussetzung fürbiologisches Überleben. Der unterernährte Mensch ist für Sorgen, Nie-dergeschlagenheit, Hypochondrie und Angstgefühle früher anfällig. Erneigt zu Visionen, denn wenn die Wirksamkeit der zerebralen Redukti-onsschleuse herabgesetzt wird, fließt viel (biologisch gesprochen) un-nützes Material aus der Welt des totalen Bewusstseins ins individuelleBewusstsein.

Viele Erlebnisse früherer Visionäre waren Schrecken erregend. Umdie Sprache der christlichen Theologie zu gebrauchen – der Teufel of-fenbarte sich in ihren Visionen und Ekstasen beträchtlich häufiger alsGott. In einem Zeitalter, in dem Vitaminmangel herrschte und derGlaube an den Satan weit verbreitet war, ist das nicht überraschend.Das seelische Leiden, das sich schon bei leichten Fällen von Pellagraund Skorbut einstellt, wurde durch die Furcht vor der Verdammnisund die Überzeugung, dass die Mächte des Bösen allgegenwärtig seien,verstärkt. Die mit diesen Leiden einhergehenden dunkleren Stimmun-

17) Siehe The Biology of Human Starvation von A. Keys (University of Minnesota Press1950), ferner die Arbeitsberichte Dr. George Watsons und seiner Kollegen in Südkalifor-men über die Rolle des Vitaminmangels bei Geisteskrankheiten.

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gen waren leicht dazu angetan, den Visionen ebenfalls einen dunklenAnstrich zu verleihen, wenn die Wirksamkeit der Gehirnschleuse durchUnterernährung beeinträchtigt war. Aber obwohl sie sich vorwiegendmit der ewigen Verdammnis befassten, und trotz ihrer Mangelkrank-heiten sahen spirituell gesinnte Asketen oft den Himmel und waren so-gar in der Lage, sich gelegentlich jenes göttlichen unparteiischen Einenbewusst zu werden, in dem die polaren Gegensätze miteinander ausge-söhnt sind. Für einen flüchtigen Ausblick auf die Seligkeit, für einenVorgeschmack vom Wissen um die Einheit schien kein Preis zu hochzu sein. Die Abtötung des Leibes kann eine Unzahl unerwünschterpsychischer Symptome hervorrufen, aber sie kann auch eine Pforte ineine transzendentale Welt des Seins, der Erkenntnis und der Seligkeitöffnen. Aus diesem Grund haben sich in der Vergangenheit ungeachtetder offenkundigen Nachteile fast alle Menschen, die ein spirituelles Le-ben anstrebten, regelrechten Übungen unterzogen, um ihren Körperabzutöten.

Was die Versorgung des Körpers mit Vitaminen angeht, so war imMittelalter jeder Winter ein langes unfreiwilliges Fasten, und auf diesesfolgten während der eigentlichen Fastenzeit vierzig Tage freiwilligerEnthaltung. Die Karwoche fand die Gläubigen im Hinblick auf denchemischen Zustand ihres Körpers wunderbar vorbereitet auf die ge-waltigen Ausbrüche von Schmerz und Freude, die diese Jahreszeit for-dert, auf die ihr gemäße Gewissensqual und die Selbstaufgabeerfordernde Identifizierung mit dem auferstandenen Christus. Zu die-ser Jahreszeit, in der höchste religiöse Ekstase und die minimalste Vita-minversorgung zusammenkamen, waren Ekstasen und Visionen fastetwas Alltägliches. Und das war ja auch zu erwarten.

Für kontemplative Menschen, die in Klöstern lebten, gab es alljähr-lich mehrere Fastenzeiten. Und auch in den Zwischenzeiten war ihrSpeisezettel äußerst karg. Daher jene qualvollen Zustände der Nieder-geschlagenheit, die von so vielen spirituellen Schriftstellern beschriebenwerden, daher ihre schrecklichen Versuchungen, der Verzweiflung zuerliegen und Selbstmord zu begehen. Daher aber auch jene »unver-dienten Gnaden« in der Form himmlischer Visionen und Ansprachen,prophetischer Einsichten, telepathischer »Kontaktaufnahme mit den

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Geistern«. Und daher schließlich ihre »innere Kontemplation«, ihre»dunkle Erkenntnis« des Einen in allem.

Das Fasten war nicht der einzige Weg, den Leib abzutöten, den frü-her die Menschen beschritten, um eine erhöhte Spiritualisierung zu er-langen. Die meisten von ihnen verwandten regelmäßig die Geißel ausgeknoteten Lederriemen oder sogar Eisendrähten. Diese Geißelungenwaren das Äquivalent ziemlich schwerwiegender chirurgischer Eingriffeohne Anästhesie, und ihre Wirkungen auf die chemischen Vorgänge imKörper des Büßers waren beträchtlich. Große Mengen von Histaminund Adrenalin wurden freigesetzt, noch während die Geißel geschwun-gen wurde. Und sobald die entstandenen Wunden zu eitern begannen(wie das bei Wunden vor dem Zeitalter der Seife nahezu die Regelwar), fanden verschiedene durch die Zersetzung von Eiweiß entstande-ne giftige Stoffe ihren Weg in die Blutbahn. Histamin aber ruft einenSchock hervor, und der Schock beeinflusst die Psyche nicht wenigerstark als den Leib. Überdies können große Mengen von AdrenalinHalluzinationen hervorrufen, und von einigen seiner Zerfallsprodukteweiß man, dass sie Symptome verursachen, welche denen der Schizo-phrenie ähneln. Die Toxine, die sich in den Wunden gebildet haben,stören die das Gehirn regelnden Enzymsysteme und verringern seineLeistungsfähigkeit als Vehikel, mit dem man eine Welt bewältigenkann, in der nur die biologisch Tüchtigsten überleben. Das mag erklä-ren, warum der Curé d’Ars zu sagen pflegte, dass in den Tagen, als esihm freistand, sich erbarmungslos zu geißeln, Gott ihm nichts verwei-gerte. Mit anderen Worten, wenn Reue, Selbstekel und HöllenfurchtAdrenalin freisetzen, wenn selbstzugefügte chirurgische Eingriffe Adre-nalin und Histamin freisetzen und verunreinigte Wunden zerfallenesEiweiß ins Blut gelangen lassen, wird die Wirksamkeit der zerebralenReduktionsschleuse verringert, und unvertraute Aspekte des totalenBewusstseins (einschließlich der Psi-Phänomene, Visionen und, wennder betreffende Mensch philosophisch und ethisch darauf vorbereitetist, mystischer Erlebnisse) fließen ins Bewusstsein des Asketen.

Die vorösterliche Fastenzeit folgte, wie wir gesehen haben, auf langeZeitspannen unfreiwilligen Fastens. Ähnlich wurden die Wirkungender Selbstgeißelung in früheren Zeiten dadurch ergänzt, dass große

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Mengen von zersetztem Eiweiß unwillkürlich absorbiert wurden. EineZahnheilkunde gab es nicht, die Chirurgen waren Henker, und manhatte auch keine sicheren Desinfektionsmittel. Die meisten Menschenmüssen daher ihr Leben lang mit Eiterherden behaftet gewesen sein,und Eiterherde können zweifellos die Wirksamkeit der zerebralen Re-duktionsschleuse verringern.

Und welche Schlussfolgerung lässt sich nun daraus ziehen? Ver-fechter einer Alles-oder-Nichts-Philosophie werden antworten, dass,da Veränderungen der chemischen Vorgänge im Körper günstige Vo-raussetzungen für ein visionäres und mystisches Erleben schaffen, visio-näre und mystische Erlebnisse nicht das sein können, was siedenjenigen, die sie gehabt haben, ganz selbstverständlich sind. Aberdas ist natürlich ein Trugschluss.

Zu einem ähnlichen Schluss werden diejenigen kommen, die sicheine spirituelle Philosophie anmaßen. Sie werden darauf beharren, dassGott ein Geist ist und im Geist verehrt werden muss. Daher kann einchemisch bedingtes inneres Erlebnis kein Erlebnis des Göttlichen sein.Aber auf die eine oder andere Weise sind alle unsere inneren Erlebnis-se chemisch bedingt, und wenn wir uns einbilden, dass einige von ihnenrein »spirituell«, rein »intellektuell«, rein »ästhetisch« seien, dann nurdeshalb, weil wir uns nie bemüht haben, die chemischen Vorgänge inunserem Körper zu erforschen, die sich bei einer spirituellen Erfahrungabspielen ... Ferner ist die Tatsache geschichtlich belegt, dass die meis-ten Menschen, die sich mit Kontemplation befasst haben, systematischdarauf hinarbeiteten, die chemischen Vorgänge in ihrem Körper zuverändern, mit der Absicht, die einer spirituellen Einsicht günstigeninneren Bedingungen zu schaffen. Wenn sie nicht hungerten, bisVitaminmangel oder eine Verringerung des Blutzuckers eintrat, odersich bis zur Vergiftung durch Histamin, Adrenalin und zersetztes Ei-weiß geißelten, forcierten sie doch die Schlaflosigkeit und beteten wäh-rend langer Zeitspannen in unbequemen Stellungen, um die psycho-physischen Symptome, die durch Überanstrengung entstehen, hervor-zurufen. Dazwischen sangen sie endlos Psalmen und vermehrten so dieKohlensäuremenge in der Lunge und im Blutkreislauf, oder machten,wenn sie Orientalen waren, zu demselben Zweck Atemübungen. Heu-

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te wissen wir, wie man die Leistungsfähigkeit der zerebralen Redukti-onsschleuse durch unmittelbare chemische Einwirkung verringernkann ohne Gefahr, dem psycho-physischen Organismus ernsten Scha-den zuzufügen. Wenn ein angehender Mystiker bei dem gegenwärtigenStand unserer Erkenntnis auf langes Fasten und heftige Selbstgeißelungzurückgriffe, wäre das ebenso sinnlos, wie wenn ein angehender Koches Charles Lambs Chinesen nachtäte, der das Haus niederbrannte, umein Schwein zu braten. Der angehende Mystiker sollte sich, da er dochweiß (oder die Möglichkeit hat, es zu wissen), welche die chemischenVorbedingungen für transzendentale Erfahrungen sind, um technischeHilfe an die Spezialisten wenden – und die Spezialisten (sofern sie esanstreben, echte Wissenschaftler und integrierte menschliche Wesen zusein) sollten aus ihren fachgebundenen Schubladen hervorkommenund sich an den Künstler, die Sybille, den Visionär, den Mystiker wen-den – an alle diejenigen, mit einem Wort, die Erfahrungen mit einerüberirdischen Welt gemacht haben und, jeder auf seine Weise, wissen,was man mit einer solchen Erfahrung anfangen kann.

III

Auswirkungen von Visionen und die Vorkehrungen, die getroffenwerden müssen, um sie zu erzeugen, haben bei Volksbelustigungen einenoch größere Rolle gespielt als in den schönen Künsten. Feuerwerke,Festzüge und Darbietungen auf der Bühne bedienen sich im wesentli-chen des visionären Elements. Leider sind es auch vergängliche Künste,deren frühe Meisterwerke uns nur aus Überlieferungen bekannt sind.Nichts ist geblieben von all den römischen Triumphzügen, den mittelal-terlichen Turnieren, den Maskenspielen (höfischen Singspielen mitTänzen und Bühneneffekten) des nachelisabethanischen Zeitalters, derlangen Reihe von pompösen Krönungen, Königshochzeiten und feier-lichen Enthauptungen, Heiligsprechungen und Papstbegräbnissen.

Interessant ist, wie eng die volksnahen visionären Künste vom jeweili-gen Stand der Technik abhängen. Feuerwerke zum Beispiel waren einstnicht mehr als gewöhnliche Freudenfeuer (und bis zum heutigen Tag, somöchte ich hinzufügen, bleibt ein aufwendiges Freudenfeuer in einer

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dunklen Nacht eins der magischsten und entrückendsten Schauspiele.Bei seinem Anblick kann man den mexikanischen Bauern verstehen,der sich daran macht, einen Morgen Waldland niederzubrennen, damiter seinen Mais anpflanzen kann, aber entzückt ist, wenn durch einenglücklichen Zufall ein paar Quadratkilometer in hellen, apokalypti-schen Flammen auf gehen). Die eigentliche Pyrotechnik hat ihren Ur-sprung (zumindest in Europa) in dem früher geübten Brauch, beiBelagerungen und Seeschlachten Feuer zu legen. Was zunächst ein Mit-tel der Kriegsführung gewesen war, wurde später dann auch für Volksbe-lustigungen nutzbar gemacht. Das kaiserliche Rom veranstaltete seineFeuerwerke, die selbst noch in der Zeit seines Niedergangs mit äußers-tem Raffinement in Szene gesetzt wurden. Claudian beschreibt dasvon Manlius Theodorus im Jahre 399 n. Chr. veranstaltete Spektakel:

Mobile ponderibus descendat pegma reductis inque chori speciem spargentes ardua flammas scaena rotet varios, et fingat Mulciber orbis per tabulas impune vagos pictaeque citato ludant igne trabes, et non permissa morari fida per innocuas errent incendia turres.18

Nach dem Untergang Roms wurde die Pyrotechnik wieder aus-schließlich als militärische Kunst eingesetzt. Ihr größter Triumph warum 650 n. Chr. die Erfindung des berühmten Griechischen Feuersdurch Kallinikos – der Geheimwaffe, die es dem niedergehenden by-zantinischen Kaiserreich ermöglichte, sich noch eine so lange Zeit ge-gen seine Feinde zu behaupten. Im Zeitalter der Renaissance wurdenFeuerwerke erneut zur Volksbelustigung eingesetzt. Jeder Fortschritt,den Wissenschaft und Chemie erzielten, trug dazu bei, sie prächtigerzu gestalten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Pyrotechnik

18) Entfernt die Gegengewichte und senkt den fahrbaren Kran und lasst auf die er-höhte Bühne Männer herab, die im Chor radschlagend Flammen verstreuen! Lasst denVulkan Kugeln von Feuer schmieden, die spielerisch über die Bretter rollen! Lasst dieFlammen scheinbar um die falschen Tragbalken der Szenerie spielen und einen harmlosenBrand, dem zu erlöschen nicht erlaubt sei, zwischen den unberührten Türmen entfa-chen.

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einen derartigen Höhepunkt erreicht, dass sie es vermochte, riesigenZuschauermengen zu Visionen zu verhelfen, die antipodisch Geisternentgegengesetzt waren, die im bewussten Zustand respektable Metho-disten, Puseyten, Utilitarier, Anhänger von Mill oder Marx, von New-man oder Bradlaugh oder Samuel Smiles waren. Auf der Piazza delPopolo, in Ranelagh und im Kristallpalast wurde an jedem vierten undvierzehnten Juli mit Hilfe der scharlachroten Flammen durch die Ver-wendung von Kupferblau, Bariumgrün und Sodiumgelb das Unbe-wusste eines ganzen Volkes auf jene andere Welt hingelenkt, die aufder psychischen Landkarte Australien entspricht.

Festzüge sind ein Bereich der visionären Kunst und wurden seit un-denklichen Zeiten als politisches Werkzeug eingesetzt. Die prachtvol-len phantastischen Gewänder, die von Königen und Päpsten und ihremHofstaat, ihrem militärischen und geistlichen Gefolge getragen wurden,verfolgten einen ganz einfachen praktischen Zweck, sie dienten dazu,den unteren Klassen einen tiefen Eindruck von der übermenschlichenGröße ihrer Herren zu hinterlassen. Durch den Einsatz schöner Klei-der und feierlicher Zeremonien wird eine De-facto-Beherrschung ineine Herrschaft nicht nur de jure, sondern auch noch de jure divino ver-wandelt. Die Kronen und Tiaren, die mannigfaltigen Geschmeide, diesamtenen und seidenen Stoffe, die bunten Uniformen und Gewän-der, die Kreuze und Medaillen, die Schwertgriffe und Krummstäbe,die wehenden Federbüsche auf Dreispitzen und ihre kirchlichen Pen-dants, jene riesigen Federfächer, die jede päpstliche Zeremonie ausse-hen lassen wie eine Szene aus Aida – all das dient als Requisit für dieVeranstaltung von Visionen und wurde zu dem Zweck erfunden, allzumenschlichen Damen und Herren das Aussehen von Heroen, Halb-göttinnen und Seraphim zu verleihen, und außerdem bereitet es allenBeteiligten, den Akteuren ebenso wie den Zuschauern, ein immensesunschuldiges Vergnügen.

Im Lauf der letzten zweihundert Jahre wurden auf dem Gebiet derkünstlichen Beleuchtung ungeheure technische Fortschritte erzielt, unddadurch wurde es möglich, festliche Aufzüge und Bühnenveranstaltun-gen, die diesen nahe verwandt sind, noch effektiver zu gestalten. Einenbemerkenswerten Fortschritt bedeutete im 18. Jahrhundert die Ver-

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wendung gegossener Walratkerzen anstelle der älteren Talgfunzeln undder gezogenen Wachslichter. Das nächste war die Erfindung von Ar-gands röhrenförmigem Docht mit Luftzufuhr an der inneren wie ander äußeren Oberfläche der Flamme. Glaszylinder folgten bald, und eswurde zum ersten Mal in der Geschichte möglich, Öl zu verbrennen,das ein helles und völlig rauchloses Licht gab. Kohlengas wurde als Be-leuchtungsmittel zum ersten Mal im frühen 19. Jahrhundert verwen-det, und im Jahre 1825 entdeckte Thomas Drummond einebrauchbare Methode, Kalk mittels einer Sauerstoff-Wasserstoff- oderSauerstoff-Kohlengasflamme bis zur Weißglut zu erhitzen. Während-dessen hatte man begonnen, mit Hilfe von parabolischen SpiegelnLicht zu einem dünnen Strahl zu konzentrieren. (Der erste englische miteinem solchen Reflektor ausgestattete Leuchtturm wurde 1790gebaut.)

Der Einfluss dieser Erfindungen auf Aufzüge und Ausstattungsstü-cke war sehr tiefgreifend. In früheren Zeiten konnten weltliche und re-ligiöse Zeremonien nur bei Tag veranstaltet werden (wobei bewölkteTage sich mit sonnigen die Waage hielten) oder nach Sonnenunter-gang beim Licht rauchender Lampen, Fackeln oder bei schwachemKerzengeflacker. Argand und Drummond, Gas, Kalklicht und, vierzigJahre später, elektrisches Licht, ermöglichten es, dem grenzenlosenChaos der Nacht reiche Inselwelten zu entreißen, deren metallenesGlitzern, deren Juwelenschimmer, deren tiefes Glühen von Samt undBrokat einen derartigen Höhepunkt erreichte, dass ihr innerstes We-sen zutage trat. In jüngster Zeit war die Krönung Elisabeth II. ein Bei-spiel für eine derartige historische Prachtentfaltung, die durch dieEntwicklung der Beleuchtungstechnik im 20. Jahrhundert zu einemEreignis von magischer Bedeutung wurde. Der Film, der von diesemEreignis gedreht wurde, bewahrt ein Ritual von erhebender Pracht vordem Vergessenwerden, das bis jetzt immer das Schicksal derartiger fei-erlicher Ereignisse war, und hat es in seinem natürlichen Glanz für un-zählige zeitgenössische und zukünftige Zuschauer im Scheinwerferlichtfestgehalten.

Im Theater werden zwei unterschiedliche und separate Künste aus-geübt – die menschliche Kunst, die das Drama und die visionäre, die

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das Schauspiel beinhaltet. Elemente beider Künste können in ein unddieselbe Abendveranstaltung Eingang finden – indem das Drama (wiees so oft bei aufwendigen Shakespeare-Aufführungen geschieht) unter-brochen wird und man dem Publikum erlaubt, sich an einem »leben-den Bild« zu erfreuen, in welchem sich die Schauspieler entwederüberhaupt nicht bewegen oder nur ganz undramatische, zeremoniöse,prozessionshafte Bewegungen machen oder einen formgebundenenTanz aufführen. Uns geht es hier nicht um das Drama, sondern umdas theatralische Zeremoniell, das einfach ein »Schauspiel« ist und kei-ne politischen oder religiösen Obertöne hat.

In den weniger bedeutenden visionären Künsten des Kostümzeich-nens und Entwerfens von Bühnenschmuck waren unsere Vorfahren un-übertreffliche Meister. Und obwohl sie ganz auf ihre Muskelkraftangewiesen waren, standen sie uns auch im Bau und in der Betätigungder Bühnenmaschinerie und der Vorrichtungen für »Spezialeffekte« innichts nach. Bei den so genannten Maskenspielen aus der Elisabethani-schen Zeit und der Zeit der frühen Stuarts waren vom Schnürbodenherabschwebende Götter und aus den Versenkungen heraufdringendeDämonen etwas ganz Alltägliches, desgleichen Apotheosen sowie dieerstaunlichsten Verwandlungen. Auf derartige Spektakel wurden unge-heure Summen verschwendet. Die Gerichtshöfe zum Beispiel veranstal-teten ein derartiges Schauspiel für Karl I., das mehr als zwanzigtausendPfund kostete – zu einer Zeit, als die Kaufkraft des Pfundes sechs- odersiebenmal so hoch war wie heute.

»Die Seele des Maskenspiels ist nichts als Zimmermannshand-werk«, sagte Ben Jonson sarkastisch. Seine Verachtung entsprang ei-nem persönlichen Groll. Inigo Jones erhielt ebenso viel Geld für dasEntwerfen der Bühnenbilder wie Ben für das Schreiben des Texts. Derempörte poeta laureatus hatte offenbar nicht begriffen, dass das Mas-kenspiel eine visionäre Kunst war und visionäres Erleben sich vollkom-men außerhalb der Worte abspielt (jedenfalls aller Worte, die nicht zuden besten von Shakespeare zu zählen sind) und durch die unmittelbareAusrichtung der Wahrnehmung auf die Dinge erzeugt werden muss,die den Beschauer daran gemahnen, was bei den unerforschten Antipo-den seines persönlichen Bewusstseins vorgeht. Die Seele des Masken-

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spiels konnte schon von ihrer Natur aus nie ein Libretto von Jonsonsein, sie musste Zimmermannshandwerk sein. Doch selbst im Zimmer-mannshandwerk konnte nicht die ganze Seele des Maskenspiels liegen.Wenn unser visionäres Erleben sich von innen heraus vollzieht, hat esimmer einen übernatürlichen Glanz. Aber die ersten Bühnenbildnerbesaßen kein helleres Beleuchtungsmittel als Kerzen. Aus der Nähe be-trachtet, kann eine Kerze ein magisches Licht und die verschiedenar-tigsten Schattenwirkungen hervorbringen. Die visionären GemäldeRembrandts und Georges de la Tours zeigen Dinge und Menschen beiKerzenlicht. Leider aber unterliegt das Licht dem Gesetz der umge-kehrten quadratischen Proportion. Wenn Kerzen in sicherer Entfer-nung von einem Schauspieler aufgestellt werden, der ein Kostümträgt, das leicht Feuer fangen kann, erweisen sie sich als absolut unzu-länglich. Bei drei Metern Entfernung zum Beispiel brauchte man hun-dert der besten Wachskerzen, um die Licht-Wirkung einer dreißigZentimeter entfernten Kerze zu erhalten. Bei einer derartig schlechtenBeleuchtung konnte nur ein Bruchteil der visionären Möglichkeiten,die das Maskenspiel in sich barg, verwirklicht werden. Tatsächlich wur-de von diesen Möglichkeiten erst dann richtig Gebrauch gemacht, alsdas Maskenspiel schon längst nicht mehr in seiner ursprünglichen Formexistierte. Erst im 19. Jahrhundert, als die fortschreitende Technik dasTheater mit Kalklicht und Hohlspiegeln ausgestattet hatte, kam dasMaskenspiel oder vielmehr, was aus ihm geworden war, voll zur Gel-tung. Die Regierungszeit Königin Viktorias war die große Zeit der sogenannten Weihnachtspantomime und des phantastischen Märchen-stücks. Ali-Baba, Der Pfauenkönig, Der goldene Zweig, Die Insel der Ju-welen – schon die Titel sind zauberhaft. Die Seele diesesBühnenzaubers lag im Zimmermannswerk und in der Kostümbildne-rei, der ihm innewohnende Geist, seine scintilla animae, lebte durchGas und Kalklicht und, nach den Achtzigerjahren, durch elektrischeBeleuchtung. Zum ersten Mal in der Geschichte des Theaters verklärteweißglühendes Licht die gemalten Prospekte, die Kostüme, das Glasund Talmi, den Schmuck so, dass sie in der Lage waren, die Zuschauerin Richtung auf jene andere Welt hin zu bewegen, die in den Tiefen ei-ner jeden Psyche liegt, so sehr sich diese auch den Anforderungen dessozialen Lebens angepasst haben mag – selbst denen des sozialen Le-

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bens mitten im viktorianischen England. Heute sind wir in der glückli-chen Lage, eine Energiemenge, die einer halben Million Pferdestärkenentspricht, auf die allnächtliche Beleuchtung einer Großstadt zu ver-schwenden. Und doch hat trotz dieser Entwertung des künstlichenLichts das Bühnenschauspiel seinen alten zwingenden Zauber behal-ten. Im Ballett, in Revuen und Operetten ist die Seele des Masken-spiels noch immer lebendig. Lampen von tausend Watt undparabolische Reflektoren strahlen übernatürliches Licht aus, und die-ses Licht verleiht allem, was es berührt, eine übernatürliche Farbe undeine übernatürliche Bedeutsamkeit. Selbst das nichts sagendste Stückerscheint noch als reizvoll. Auch hier haben wir einen Fall, wo dieNeue Welt dazu aufgerufen wurde, das Gleichgewicht in der Alten wie-der herzustellen, wo visionäre Kunst eingesetzt wurde, um die Mängeleines allzu menschlichen Dramas auszugleichen.

Athanasius Kirchers Erfindung – wenn es wirklich seine war – wur-de von Anfang an laterna magica getauft. Der Name wurde überall alsfür eine Maschine, zu deren Funktionieren Licht erforderlich war unddie schließlich ein farbiges Bild aus dem Dunkel hervorbrachte, völligangemessen empfunden und übernommen. Um die ursprüngliche La-terna magica noch magischer zu machen, erfanden Kirchers Nachfolgereine Anzahl Methoden, um dem projizierten Bild Leben und Bewe-gung zu verleihen. Es gab »chromatropische« Laterna-magica-Bilder,bei denen man zwei gemalte Glasscheiben in entgegengesetzten Rich-tungen rotieren ließ und so eine rohe, aber immerhin wirkungsvolleNachahmung jener unaufhörlich wechselnden dreidimensionalen Mus-ter erzeugte, die so gut wie jeder sieht, der eine Vision gehabt hat, sei sienun spontan aufgetreten oder durch Drogen, durch Fasten oder dasStroboskop erzeugt worden. Dann gab es so genannte sich wandelndeBilder, die den Betrachter an die Verwandlungen erinnerten, die sichunaufhörlich bei den Antipoden seines Alltagsbewusstseins abspielten.Um ein Bild unmerklich in ein anderes übergehen zu lassen, wurdenzwei Zauberlaternen verwendet, die zwei Bilder gleichzeitig auf denBildschirm warfen. Jede Laterne war mit einer Blende ausgestattet, dieso beschaffen war, dass das Licht der einen immer mehr abgeschwächtwerden konnte, während das Licht der anderen (anfangs völlig abge-

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dunkelt) immer heller wurde. Auf diese Weise wurde das von der ers-ten Laterne projizierte Bild unmerklich durch dasjenige ersetzt, das diezweite projizierte – zum staunenden Entzücken aller Zuschauer. Einanderer Apparat war die bewegliche Laterna magica, die ihre Bilder aufeinen transparenten Schirm warf, hinter dessen Rückseite die Zuschauersaßen. Wurde die Laterne nahe an den Schirm herangerollt, war dasprojizierte Bild sehr klein; je weiter sie entfernt wurde, desto größerwurde es. Eine automatische Brennpunkteinstellung sorgte dafür, dassdie wechselnden Bilder in jeder Entfernung scharf und nicht ver-schwommen waren. Das Wort »Phantasmagoric« wurde 1802 von denErfindern dieser neuen Art des Guckkastens geprägt.

All diese Verbesserungen in der Technik der Laterna magica fielenin die Zeit der Dichter und Maler der jüngeren romantischen Schuleund mögen einen gewissen Einfluss auf die Auswahl ihrer Stoffe undauf die Art, in der sie sie behandelten, gehabt haben. Königin Mab undDer Aufstand des Islam von Shelley zum Beispiel sind voller sich ver-wandelnder Landschaften und Phantasmagorien. Wenn Keats Szenenund Personen, Innenansichten und Möbel und Lichtwirkungen be-schreibt, haben diese Beschreibungen das intensiv Strahlende farbigerBilder auf einem weißen Tuch in einem verdunkelten Raum. John Mar-tins Gemälde des Satans und vom Fest Belsazars, von der Hölle, vonBabylon und von der Sintflut sind offenbar von der Laterna magicaund von stark mit Kalklicht ausgeleuchteten »lebenden Bildern« ange-regt.

Heute entspricht jenen Laterna-Magica-Vorführungen der Farb-film. In den kostspieligen Monumental-Ausstattungsfilmen lebt dieSeele des Maskenspiels munter fort – teils mit allen ihren Auswüchsen,teilweise aber auch mit Geschmack und einem echten Gefühl, die dazuangetan sind, visionäre Phantasien zu erzeugen. Überdies hat sich dankder Fortschritte in der Technik der farbige Dokumentarfilm als einebemerkenswerte neue Form visionärer Kunst für die breiten Massen er-wiesen, wenn er geschickt gemacht ist. Die ins Ungeheure vergrößertenKakteenblüten, in die sich der Zuschauer am Ende von Disneys DieWüste lebt sinken fühlt, kommen geradewegs aus einer anderen Welt.Und was für entrückende Visionen enthalten die besten Naturfilme:

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Laub im Wind, die Struktur von Fels und Sand, die Schatten und Sma-ragdlichter im Gras oder im Schilf, Vögel und Insekten und Vierfüßler,die im Unterholz oder im Astwerk von Bäumen ihrer Beschäftigungnachgehen. Hier haben wir diese zauberhaften Nahaufnahmen vonder Landschaft, von denen die Verfertiger der Mille-feuilles-Gobelins,die mittelalterlichen Maler von Gärten und Jagdszenen so gefesselt wa-ren. Hier haben wir die vergrößerten und herausgehobenen Einzelhei-ten der lebendigen Natur, die die Künstler des Fernen Ostens zueinigen ihrer schönsten Malereien anregten.

Und dann gibt es noch etwas, was man als verzerrten Dokumentar-film bezeichnen könnte – eine seltsame neue Form visionärer Kunst,für die Francis Thompsons Film N. Y., N. Y. ein sehr gutes Beispielist. In diesem sehr seltsamen und schönen Film sehen wir die Stadt NewYork, wie sie erscheint, wenn sie durch vervielfältigende Prismen foto-grafiert oder in Rückseiten von Löffeln, polierten Radkappen, sphäri-schen und parabolischen Spiegeln reflektiert wird. Wir erkennen dazwar noch Häuser, Menschen, Schaufenster, Taxis, erkennen sie aberals Elemente einer dieser lebendigen geometrischen Konfigurationen,die so charakteristisch für visionäre Erlebnisse sind. Es sieht so aus, alskündige diese neue kinematographische Kunst (Gott sei Dank!) dieEntthronung und das baldige Ableben der gegenstandslosen Malereian. Von den Anhängern der abstrakten Kunst wurde stets behauptet,die Farbphotographie habe das altmodische Porträt und das altmodi-sche Landschaftsbild zu unnützen Absurditäten herabgewürdigt. Dasist selbstverständlich völlig unwahr. Die Farbphotographie hält lediglichin einer leicht zu vervielfältigen Form die Rohmaterialien fest, mit denenPorträtisten und Landschaftsmaler arbeiten, und bewahrt sie. Farbfilmin der Form, wie Thompson ihn verwendet hat, leistet viel mehr, erbewahrt nicht nur die Rohmaterialien der abstrakten Kunst auf, erstellt tatsächlich das fertige Erzeugnis her. Als ich N. Y., N. Y. sah, ge-wahrte ich mit Erstaunen, dass so gut wie jeder von den Altmeisternder Malerei erfundene Kunstgriff, der seit vierzig oder mehr Jahrenvon den Akademikern und Manieristen dieser Schule bis zum Über-druss wiederholt wird, sich in den Bilderfolgen von Thompson leben-dig, farbenglühend vorfindet und von tiefer Bedeutung ist.

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Dass wir imstande sind, einen starken Lichtstrahl zu projizieren, hatuns nicht nur dazu befähigt, neue Formen visionärer Kunst zu schaf-fen. Eine der ältesten Künste, die Bildhauerei, wurde dadurch mit ei-ner neuen visionären Eigenschaft ausgestattet, die sie vorher nichtbesaß. Ich habe in einem früheren Abschnitt von den magischen Wir-kungen gesprochen, die durch Scheinwerferbeleuchtung alter Bau-denkmäler und natürlicher Gegenstände erzeugt werden. ÄhnlicheWirkungen zeigen sich, wenn wir die Scheinwerfer auf behauenenStein richten. Füseli empfing die Anregung zu einigen seiner bestenund phantastischsten malerischen Ideen, als er die Statuen auf demMonte Cavallo beim Licht der untergehenden Sonne betrachtete oder,besser noch, wenn sie um Mitternacht von Blitzen beleuchtet waren.Heute verfügen wir über künstliche Sonnenuntergänge und syntheti-sche Blitze. Wir können unsere Statuen unter jedem beliebigen Winkelanleuchten, wir können uns jeder gewünschten Lichtstärke bedienen.Werke der Plastik haben dadurch neue Bedeutungen und unvermute-te Schönheiten enthüllt. Man besuche den Louvre an einem Abend,an dem die griechischen und ägyptischen Altertümer von Scheinwer-fern angeleuchtet sind. Man wird da neuen Göttern, Nymphen undPharaonen begegnen, man wird, während der eine Scheinwerfer erlischtund ein anderer an einer anderen Stelle des Raumes aufleuchtet, eineganze Familie bisher unbekannter Niken von Samothrake kennen ler-nen.

Die Vergangenheit ist nicht etwas Feststehendes und Unabänderli-ches. Ihre Realität wird von jeder der einander folgenden Generatio-nen wiederentdeckt, ihre Werte überprüft, ihre Bedeutungen imZusammenhang mit gegenwärtigen Geschmacksrichtungen und vor-herrschenden Ideen neu definiert. Aus denselben Dokumenten, Denk-mälern und Kunstwerken stellt sich jede Epoche ihr eigenesMittelalter, ihr privates China, ihr patentiertes und urheberrechtlichgeschütztes Hellas zusammen. Heute können wir dank der jüngstenFortschritte in der Beleuchtungstechnik einen Schritt weitergehen alsunsere Vorgänger. Wir haben die uns von der Vergangenheit hinter-lassenen großen Werke der Plastik nicht nur neu gedeutet, es ist uns tat-sächlich gelungen, die äußere Erscheinung dieser Werke zu verändern.

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Griechische Statuen, wie wir sie von einem Licht, »das nie auf Landund Meer geschienen«, beleuchtet und dann in einer Reihe von Detai-laufnahmen aus nächster Nähe unter den absonderlichsten Winkelnphotographiert sehen, haben fast keine Ähnlichkeit mehr mit den grie-chischen Statuen, wie sie von Kunstkritikern und dem großen Publi-kum in den dämmrigen Galerien und auf den dezenten Kupferstichender Vergangenheit wahrgenommen wurden.

Es ist das Bestreben des klassischen Künstlers, in welcher Zeit erauch leben mag, Ordnung in das Chaos des Erlebens zu bringen, einverständliches und vernünftiges Bild von der Wirklichkeit zu zeigen,auf dem alle Teile deutlich sichtbar und aufeinander bezogen sind, sodass der Betrachter genau weiß (oder, treffender gesagt, sich einbildet,genau zu wissen), woran er ist. Uns spricht dieses Ideal vernünftigerOrdnungsliebe nicht an. Daher bedienen wir uns, wenn wir uns Wer-ken klassischer Kunst gegenübersehen, aller uns zur Verfügung stehen-den Mittel, um ihnen das Aussehen von etwas zu geben, was sie nichtsind und als was sie nie gedacht waren. Aus einem Werk, dessen ganzerSinn seine einheitliche Konzeption ist, wählen wir eine Einzelheit, stel-len unsere Scheinwerfer auf sie ein und zwingen sie so, aus ihrem Zu-sammenhang herausgenommen, dem Bewusstsein des Betrachters auf.Wo uns Kontur allzu kontinuierlich, allzu offenbar verständlich zu seinscheint, zerbrechen wir sie durch abwechselnde undurchdringlicheSchatten und Flecken von greller Helligkeit. Wenn wir die Skulptur ei-ner einzelnen Gestalt oder Gruppe photographieren, gebrauchen wirdie Kamera, um einen Teil hervorzuheben, den wir dann in rätselhaf-ter Unabhängigkeit vom Ganzen zur Schau stellen. Durch solche Mit-tel können wir dem strengsten Klassiker alles Klassische nehmen. DerBehandlung mit Licht unterzogen und von einem erfahrenen Photo-graphen aufgenommen, wird ein Phidias zu einem Stück gotischemExpressionismus, ein Praxiteles zu einem fesselnden, aus den schlam-migsten Tiefen des Unbewussten heraufgebaggerten surrealistischenGebilde. Das mag schlechte Kunstgeschichte sein, aber es ist sicherlichein guter Spaß.

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IV

Erst Hofmaler beim Herzog seines Geburtslandes und später beimKönig von Frankreich, wurde Georges de la Tour zu seinen Lebzeitenals der große Künstler betrachtet, der er so offenkundig war. Mit derThronbesteigung Ludwigs XIV. und dem Aufkommen und der be-wussten Pflege einer neuen Kunst von Versailles – aristokratisch in ih-ren Vorwürfen und luzid klassisch in ihrem Stil – wurde der Ruf dieseseinst so berühmten Malers so völlig verdunkelt, dass binnen zweier Ge-nerationen sogar sein Name vergessen war und seine erhalten gebliebe-nen Gemälde den Le Nains, Honthorst, Zurbarán, Murillo und sogarVelasquez zugeschrieben wurden. Die Wiederentdeckung de la Toursbegann 1915 und war 1934, als der Louvre eine bemerkenswerte Aus-stellung der »Maler der Realität« veranstaltete, im wesentlichen been-det. Nachdem er fast dreihundert Jahre lang nicht beachtet wordenwar, war einer der größten Maler Frankreichs wiedergekehrt, um seineRechte zu beanspruchen.

Georges de la Tour war einer jener extrovertierten Visionäre, derenKunst getreulich gewisse Aspekte der Außenwelt spiegelt, jedoch in ei-nem Zustand der Verklärung, so dass jede geringste Einzelheit an sichbedeutsam und eine Manifestation des Absoluten wird. Die meistenseiner Kompositionen zeigen die Gestalten, die im Licht einer einzigenKerze zu sehen sind. Eine einzige Kerze kann, wie Caravaggio und dieSpanier gezeigt hatten, die ungeheuersten theatralischen Effekte her-vorrufen. Aber de la Tour interessierten theatralische Effekte nicht.Es ist nichts Dramatisches in seinen Bildern, nichts Tragisches oder Pa-thetisches oder Groteskes, es gibt keine Darstellung von Handlungen,keinen Appell an die Art von Gemütsbewegungen, wie sie auf der Büh-ne erst erregt, dann wieder abgeschwächt werden. Seine Personen sindim wesentlichen statisch. Sie tun nie etwas, sie sind einfach da, auf diesel-be Weise, wie ein Pharao aus Granit da ist oder ein Bodhisattva vonKhmer oder einer der plattfüßigen Engel Piero della Francescas. Unddie einzige Kerze wird in jedem Fall dazu verwendet, dieses intensiveoder in sich ruhende, unpersönliche Dasein hervorzuheben. Indem siegewöhnliche Dinge in ungewöhnlichem Licht erscheinen lässt, offen-bart ihre Flamme das lebendige Geheimnis und unerklärliche Wunder

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bloßer Existenz. Es ist so wenig Religiosität in diesen Gemälden, dasses sehr oft unmöglich ist, zu entscheiden, ob wir eine Illustration zur Bi-bel oder eine Studie von Modellen bei Kerzenlicht vor uns haben. Istdie Geburt Christi in Rennes die Geburt Christi oder bloß eine Ge-burt? Enthält das Bild eines unter den Augen eines jungen Mädchensschlafenden alten Mannes nicht mehr? Ist es nicht etwa der heilige Pe-trus im Gefängnis, der vom erlösenden Engel heimgesucht wird? Eslässt sich nicht sagen. Aber hat de la Tours Kunst auch gar keine Reli-giosität, bleibt sie doch tief religiös in dem Sinn, dass sie mit beispiello-ser Intensität die göttliche Allgegenwart enthüllt.

Es muss hinzugefügt werden, dass dieser große Maler der Imma-nenz Gottes ein stolzer, harter, unerträglich überheblicher und geizigerMensch gewesen zu sein scheint. Woraus wieder einmal hervorgeht,dass das Werk eines Künstlers nie in jedem Aspekt seinem Charakterentspricht.

V

Aus nächster Nähe malte Vuillard meist Interieurs, manchmal aberauch Gärten. In einigen Kompositionen gelang es ihm, den Zauberder Nähe mit dem der Ferne zu verbinden, indem er ein Zimmer wie-dergab, in dem die Darstellung eines Ausblicks auf Bäume, Berge undden Himmel hängt oder steht, die entweder von ihm selbst oder vonanderen Küstlern stammte. Es ist eine Aufforderung, sich mit einemBlick das Beste aus beiden Welten zu holen, der teleskopischen und dermikroskopischen.

Im übrigen fallen mir nur sehr wenige aus der Ferne gemalte Land-schaften europäischer Künstler ein. Im Metropolitan-Museum hängtein sehr seltsames Dickicht von van Gogh. Und in der Tate GalleryConstables wundervolle Mulde im Park von Helmingham. Es gibt einschlechtes Bild, die Ophelia von Millais, das trotz allem magisch wirktdurch die Verwobenheit seines sommerlichen Grüns, die beinahe ausder Perspektive einer Wasserratte gesehen ist. Und ich erinnere mich aneinen Delacroix, den ich vor langer Zeit in irgendeiner Ausstellung von

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Leihgaben gesehen habe und auf dem aus nächster Nähe geseheneBaumringe, Blätter und Blüten zu sehen waren. Es muss natürlichauch noch andere derartige Bilder geben, aber ich habe sie vergessenoder nie gesehen. Jedenfalls gibt es bei uns im Westen nichts, was denchinesischen oder japanischen Naturdarstellungen aus der Nähe ver-gleichbar wäre: einem Zweiglein Pflaumenblüten, einem Bambussten-gel von fünfundvierzig Zentimetern Länge mit seinen Blättern,Meisen oder Finken in einer Entfernung auf Armeslänge im Gebüsch,allerlei Arten von Blumen und Blättern, von Vögeln und Fischen undkleinen Säugetieren. Jedes kleine Leben ist als der Mittelpunkt seineseigenen Weltalls dargestellt, als der Zweck, für den in seiner eigenenSicht diese Welt und alles, was darin ist, geschaffen wurde. Jedes dieserGeschöpfe verkündet seine eigene, besondere und individuelle Unab-hängigkeitserklärung gegenüber dem menschlichen Imperialismus, je-des verlacht mit einem Anflug von Ironie unsere alberne Anmaßung,ausschließlich menschliche Regeln für das kosmische Spiel festzulegen,jedes wiederholt stumm die göttliche Tautologie: Ich bin, der ich bin.

Die Darstellung der Natur aus mittlerer Entfernung ist uns ver-traut – so vertraut, dass wir so weit getäuscht werden können, bis wirglauben, wir wüssten wirklich, was es alles bedeutet. Aus nächster Näheoder aus großer Ferne oder unter einem ungewöhnlichen Winkel gese-hen, erscheint es alles als beunruhigend fremdartig und über alles Be-greifen wundervoll. Die großen Ausblicke in die Landschaft derChinesen oder Japaner sind eine Veranschaulichung des Themas, dassSamsara und Nirwana eins sind, dass das Absolute sich in jeder Er-scheinung manifestiert. Diese großen metaphysischen und doch prag-matischen Wahrheiten wurden von den vom Zen inspiriertenKünstlern des Fernen Ostens noch auf eine andere Weise dargestellt.Alle von ihnen aus nächster Nähe erforschten Objekte wurden in ei-nem Zustand der Unverbundenheit vor einem leeren Hintergrundjungfräulichen Papiers wiedergegeben. So losgelöst, nehmen diese vo-rübergehenden Erscheinungen eine Art absoluter Ding-an-sich-Ding-lichkeit an. Westliche Künstler haben dieses Mittel angewendet, wennsie Heiligengestalten, Porträts und manchmal Naturgegenstände ausder Entfernung malten. Rembrandts Mühle und van Goghs Zypressen

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sind Beispiele von Fernsicht, Landschaften, in denen ein Detail heraus-gestellt und zu etwas Absolutem gemacht wurde. Die Zaubergewaltvieler Radierungen, Zeichnungen und Gemälde Goyas lässt sich damiterklären, dass seine Entwürfe fast immer die Form von einigen wenigengegen einen leeren Hintergrund gesehenen Silhouetten oder sogar einereinzigen so gesehenen Silhouette annahmen. Die so umrissenen Ge-stalten besitzen erhöhte innere Bedeutsamkeit, die Visionen eigen istund durch Absonderung und Unverbundenheit eine übernatürlicheIntensität erreicht.

In der Natur führt wie in einem Kunstwerk die Hervorhebung ei-nes einzelnen Objekts dazu, ihm etwas Absolutes zu verleihen, es mitdieser über das Symbolische hinausgehenden Bedeutung auszustatten,die identisch mit da-sein ist.

Doch dieses eine Feld und, ihm ganz nah, Ein Baum, von vielen einer, die ich sah: Von etwas sprechen sie, das nicht mehr da.

Das Etwas, das Wordsworth nicht mehr sehen konnte, war der»visionäre Schimmer«. Dieses Aufglänzen, so erinnere ich mich, unddiese ihm innewohnende Bedeutsamkeit waren die Eigenschaften einerallein stehenden Eiche, die man zwischen Reading und Oxford vomZug aus der Kuppe eines kleinen Hügels inmitten einer weiten FlächeAckerlands wie eine Silhouette gegen den blassen nördlichen Himmelaufragen sah.

Wie seltsam magisch Isolierung kombiniert mit Nähe wirkt, lässtsich an einem außerordentlichen Gemälde eines japanischen Künstlersdes 17. Jahrhunderts studieren, der ebenfalls ein berühmter Fechterund Zen-Anhänger war. Es stellt einen Würgervogel dar, der auf demäußersten Ende eines kahlen Zweigs sitzt, »ganz zwecklos wartend,aber im Zustand höchster Spannung«. Darunter, darüber und ringsumist nichts. Der Vogel kommt aus dem Nichts, aus jener ewigen Namen-losigkeit und Formlosigkeit, die doch gerade die eigentliche Substanzdes mannigfaltigen konkreten und vergänglichen Weltalls ist. Dieser

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Würger auf seinem kahlen Zweig ist ein Vetter ersten Grades der win-terlichen Drossel in Hardys wohl bekanntem Gedicht. Aber währenddie viktorianische Drossel drauf aus ist, uns irgendeine Art von Lekti-on zu erteilen, ist es der fernöstliche Würgervogel zufrieden, einfachnur zu existieren, intensiv und absolut da zu sein.

VI

Viele Schizophrene verbringen die meiste Zeit weder auf Erdennoch im Himmel noch in der Hölle, sondern in einer grauen, schatten-haften Welt von Phantomen und Unwirklichkeiten. Was auf diesePsychopathen zutrifft, trifft in geringerem Maß auch auf bestimmteNeurotiker zu, die an einer milderen Form von Geisteskrankheit lei-den. In jüngster Zeit hat man eine Möglichkeit gefunden, diesen Zu-stand einer geisterhaften Existenz durch Verabreichung kleiner Mengeneines der Derivate des Adrenalins herbeizuführen. Den Lebenden wer-den so die Pforten des Himmels, der Hölle und der Vorhölle nichtdurch »wuchtig Schlüssel aus Metallen zween« geöffnet, sondern da-durch, dass man dem Blut eine Gruppe chemischer Verbindungen zu-führt und ihm andere entzieht. Die von einigen Schizophrenen undNeurotikern bewohnte Schattenwelt hat große Ähnlichkeit mit derWelt der Toten, die in einigen der frühen religiösen Überlieferungenbeschrieben wird. Wie die Schemen im Scheol der Juden und in Ho-mers Hades haben diese Geistesgestörten die Fühlung mit der Materie,der Sprache und ihren Mitmenschen verloren. Sie finden keinen Haltim Leben und sind zu Tatenlosigkeit und zu einer großen Stille ver-dammt, die nur von sinnlosem Geschnatter und Kauderwelsch vonGeistern unterbrochen wird. Die Geschichte eschatologischer Ideen hataber einen echten Fortschritt zu verzeichnen – einen Fortschritt, dersich, theologisch ausgedrückt, als der Übergang vom Hades zum Him-mel beschreiben lässt, chemisch ausgedrückt, als der Ersatz von Adre-nolutin durch Meskalin und Lysergsäure und, psychologischausgedrückt, als Entfernung von Katatonie und Gefühlen der Unwirk-lichkeit und Hinwendung zu einem erhöhten Wirklichkeitsgefühl in Vi-sionen und schließlich im mystischen Erleben.

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VII

Géricault war ein Visionär des Negativen, denn obgleich seineKunst von nahezu besessener Naturtreue war, war sie einer Natur ge-treu, die in seiner Wahrnehmung und Wiedergabe magisch zumSchlechteren hingewendet worden war. »Ich beginne eine Frau zu ma-len«, sagte er einmal, »aber es wird immer eine Löwin daraus.« Häufi-ger wurde allerdings etwas daraus, das beträchtlich weniger liebenswertwar als eine Löwin – ein Leichnam, zum Beispiel, oder ein Dämon.Sein Meisterwerk, das erstaunliche Floß der Medusa, wurde nicht nachdem Leben gemalt, sondern nach Verwesung und Zerfall – nach Lei-chenteilen, die ihm Medizinstudenten lieferten, nach dem ausgemer-gelten und gelbsüchtigen Gesicht eines leberleidenden Freundes. Sogardie Wellen, auf denen das Floß schwimmt, sogar der sich darüberwöl-bende Himmel sind leichenfarben. Es ist, als wäre das ganze Weltallzum Seziersaal geworden.

Und dann seine dämonischen Gemälde! Das Derby findet unver-kennbar in der Hölle statt, vor einem von sichtbarer Dunkelheit gera-dezu flammenden Hintergrund. Das vom Blitz erschreckte Pferd in derLondoner Nationalgalerie ist die in einem einzigen erstarrten Augen-blick offenbarte Seltsamkeit, das drohende, ja sogar höllische Anderssein,das vertraute Dinge in sich bergen. Im Metropolitan-Museum hängt dasPorträt eines Kindes, und was für eines Kindes! In seinem fahl leuchten-den Jäckchen wirkt der kleine Liebling als das, was Baudelaire gern »eineSatansknospe« nannte, un satan en herbe. Und die Studie eines nacktenMannes, ebenfalls im Metropolitan-Museum, ist nichts anderes als dieherangewachsene »Satansknospe«.

Aus den Berichten, die seine Freunde über ihn hinterlassen haben,wird deutlich ersichtlich, dass Géricault seine Umwelt gewohnheitsmä-ßig als eine Aufeinanderfolge visionärer Apokalypsen sah. Das sich auf-bäumende Pferd seines frühen Officier de Chasseurs wurde von ihmeines Morgens auf der Straße nach Saint-Cloud in einem staubigenGlast von Sommersonnenschein gesehen, wie es zwischen den Deich-seln eines Omnibusses sich aufbäumte und ausschlug. Die Menschenauf seinem Floß der Medusa wurden, einer nach dem anderen, in allen

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Einzelheiten auf der unberührten Leinwand vollendet. Es gab keineSkizze der ganzen Komposition, keinen allmählichen Aufbau einerHarmonie von Farbtönen und Schattierungen für das ganze Bild. Jedeeinzelne Offenbarung – eines verwesenden Körpers, eines Kranken inden grässlichen letzten Stadien der Leberentzündung – wurde ganz sowiedergegeben, wie sie gesehen und künstlerisch wahrgenommen wor-den war. Durch ein Wunder an Genialität gelang es, jede dieser aufei-nander folgenden Apokalypsen prophetisch in eine harmonischeKomposition einzufügen, die, als die erste der grauenhaften Visionenauf die Leinwand übertragen wurde, nur in der Vorstellungswelt desMalers existierte.

VIII

Im Sartor Resartus hat uns Carlyle etwas hinterlassen, was sein psy-chosomatischer Biograph, Dr. James Halliday (in Mr. Carlyle, my Pa-tient), »eine erstaunliche Schilderung eines großenteils depressiven,aber teilweise schizophrenen psychotischen Geisteszustandes« nennt.

»Die Menschen um mich«, schreibt Carlyle, »waren, auch wenn siemit mir sprachen, lediglich Gestalten. Ich hatte so gut wie vergessen,dass sie lebendig, dass sie nicht nur Automaten waren. Freundschaftwar nur eine unglaubhafte Legende. Inmitten ihrer bevölkerten Stra-ßen und Versammlungen ging ich einsam umher und (abgesehen da-von, dass es mein eigenes Herz und nicht das eines anderen war, dasich immerzu verzehrte) auch wild wie der Tiger im Dschungel ... Fürmich war das Universum völlig ohne Leben, Zweck und Willen, janicht einmal Feindseligkeit existierte. Es war eine einzige riesige, totegroße Dampfmaschine, die sich in ihrer leblosen Gleichgültigkeit vor-wärtsbewegte, um mich Glied für Glied zu zermalmen ... Ohne Hoff-nung, empfand ich auch keine bestimmte Furcht, sei es vor Menschenoder dem Teufel. Und doch lebte ich seltsamerweise in einer beständi-gen, unbestimmten quälenden Furcht, zitternd, reizbar und vollerAngst vor ich weiß nicht was. Es war mir, als würden alle Dinge obenim Himmel und unten auf der Erde mich verwunden, als wären Him-mel und Erde nur der grenzenlose Rachen eines Ungeheuers, in dem

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ich bebend wartete, verschlungen zu werden.« Renée und der Helden-verehrer beschreiben offenbar dieselben Erlebnisse. Unendlichkeitwird von beiden wahrgenommen, aber in der Form »des Systems«, der»unermesslich großen Dampfmaschine«. Für beide ist auch alles be-deutsam, aber negativ bedeutsam, so dass jedes Ereignis völlig sinnlos,jedes Objekt von intensiver Unwirklichkeit, jedes Wesen, das sichMensch nennt, eine Puppe mit einem Uhrwerk ist, die groteske Bewe-gungen des Arbeitens und Spielens macht und Liebe, Hass, Denken,Beredsamkeit, Heldenmut, Frömmigkeit oder, was immer man will,ausdrückt – Roboter sind vor allem einmal vielseitig.

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