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ALEXANDER SOLSCHENIZYN Der Unbeugsame Alexander Solschenizyn, Russlands geschichtsmächtiger Schriftsteller porträtierte in seinen umfangreichen Romanen das Sowjet-Reich. Im Westen wurde ihm 1970 dafür den Nobelpreis verliehen, in der UDSSR geriet er zunehmend unter Druck. Nach dem Roman "Archipel Gulag" aber musste er 1974 ins Exil flüchten. Dreimal hat der SPIEGEL in den letzten beiden Jahrzehnten mit Nobelpreisträger sprechen können: 1987 an seinem amerikanischen Exilort Vermont - wo Herausgeber Rudolf Augstein mit ihm über die Russische Revolution diskutierte, 1994 nach seiner triumphalen Rückkehr in die Heimat und 2000, kurz nachdem Wladimir Putin russischer Premier geworden war. Obwohl Solschenizyn seit Jahren schon keine Journalisten mehr empfängt, machte er für den SPIEGEL 2007 noch einmal eine Ausnahme für ein viertes Gespräch. REUTERS Alexander Solschenizyn, 1995

Alexander Solschenizyn - Der Unbeugsame

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Page 1: Alexander Solschenizyn - Der Unbeugsame

ALEXANDER SOLSCHENIZYN

Der Unbeugsame

Alexander Solschenizyn, Russlands geschichtsmächtiger Schriftsteller porträtierte in seinen

umfangreichen Romanen das Sowjet-Reich. Im Westen wurde ihm 1970 dafür den Nobelpreis

verliehen, in der UDSSR geriet er zunehmend unter Druck. Nach dem Roman "Archipel Gulag" aber

musste er 1974 ins Exil flüchten.

Dreimal hat der SPIEGEL in den letzten beiden Jahrzehnten mit

Nobelpreisträger sprechen können: 1987 an seinem amerikanischen Exilort

Vermont - wo Herausgeber Rudolf Augstein mit ihm über die Russische

Revolution diskutierte, 1994 nach seiner triumphalen Rückkehr in die Heimat

und 2000, kurz nachdem Wladimir Putin russischer Premier geworden war.

Obwohl Solschenizyn seit Jahren schon keine Journalisten mehr empfängt,

machte er für den SPIEGEL 2007 noch einmal eine Ausnahme für ein viertes

Gespräch.

REUTERS

Alexander Solschenizyn, 1995

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SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, wir treffenSie mitten bei der Arbeit. Sie scheinen mitIhren 88 Jahren unverändert pflichtbe-wusst, obwohl Ihre Gesundheit es nichtmehr zulässt, dass Sie sich frei im Hausbewegen. Woher nehmen Sie diese Kraft? Solschenizyn: Es ist eine innere Triebfeder,schon seit meiner Geburt. Ich habe michimmer mit Vergnügen der Arbeit hingege-ben, der Arbeit und dem Kampf. SPIEGEL: Wir sehen hier allein vier Schreib-tische. In Ihrem neuesten Buch, das EndeSeptember in Deutschland erscheint, er-innern Sie daran, dass Sie sogar währendIhrer Spaziergänge im Wald geschriebenhätten*.

* Alexander Solschenizyn: „Meine amerikanischen Jah-re“. Aus dem Russischen von Andrea Wöhr und FedorPoljakov. LangenMüller Verlag, München; circa 450 Seiten;29,90 Euro.Das Gespräch führten die Redakteure Christian Neef undMatthias Schepp.

Solschenizyn: Als ich im Lager war, habe ichauch auf einer Steinmauer geschrieben. Ichhabe mit Bleistift ein Stückchen Papier be-kritzelt, mir dann den Inhalt eingeprägtund den Zettel anschließend vernichtet.SPIEGEL: Und diese Kraft hat Sie selbst inMomenten größter Verzweiflung nicht ver-lassen?Solschenizyn: Es kommt, wie es kommenmuss. Und am Ende kam manchmal sogaretwas Gutes dabei heraus. SPIEGEL: So werden Sie kaum im Februar1945 gedacht haben, als der Militärge-heimdienst den Hauptmann Solschenizynin Ostpreußen festnahm – weil der Feld-postbriefe mit abfälligen Bemerkungenüber Josef Stalin geschrieben hatte. Dasbrachte Ihnen acht Jahre Straflager.Solschenizyn: Das war südlich von Worm-ditt. Wir hatten uns gerade aus einem Kes-sel der Deutschen gelöst und marschier-ten auf Königsberg zu. Da verhafteten sie

mich. Aber der Optimismus hat mich nichtverlassen. Genauso wenig wie die Über-zeugungen, die mich vorantrieben.SPIEGEL: Welche Überzeugungen?Solschenizyn: Sie haben sich mit den Jahrennatürlich weiterentwickelt. Aber ich warimmer von dem überzeugt, was ich tat, undhabe nie gegen mein Gewissen gehandelt.SPIEGEL: Als Sie vor 13 Jahren aus dem Exilzurückkehrten, waren Sie von der Entwick-lung im neuen Russland enttäuscht. Sielehnten den Staatspreis ab, den Michail Gor-batschow Ihnen angeboten hatte, genausowie den Orden, mit dem Boris Jelzin Sieehren wollte. Jetzt aber haben Sie den rus-sischen Staatspreis akzeptiert, den VladimirPutin Ihnen antrug – ein ehemaliger Chefjenes Geheimdienstes, der den SchriftstellerSolschenizyn so brutal verfolgte unddrangsalierte. Wie passt das zusammen?Solschenizyn: Ein Preis für den „ArchipelGulag“ wurde mir 1990 in der Tat angebo-

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„Mit Blut geschrieben“Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn über die verhängnisvolle Geschichte

seines Landes, das Versagen der Reformer Gorbatschow und Jelzin, die Enttäuschung über die Politik des Westens und seine Haltung zu Glaube und Tod

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ten. Allerdings nicht von Gorbatschow,sondern vom Ministerrat der RussischenSozialistischen Föderativen Sowjetrepu-blik, damals ein Bestandteil der Sowjet-union. Ich habe abgelehnt. Ich konnte kei-ne persönliche Ehrenbekundung akzeptie-ren für ein Buch, das mit dem Blut vonMillionen Menschen geschrieben wordenwar. 1998, am Tiefpunkt des nationalenElends, erschien mein Buch „Russland imAbsturz“. Damals ordnete Jelzin persön-lich an, mich mit dem höchsten Staats-orden auszuzeichnen. Ich habe geantwor-tet, dass ich keine Auszeichnung von einerStaatsmacht annehmen könne, die Russ-land an den Rand des Ruins getrieben hat. Der mir jüngst verliehene Staatspreis aberwird nicht persönlich vom Präsidenten ver-geben, sondern von einer angesehenenExpertengruppe, der russische Forscherund Kulturschaffende von tadellosem Rufangehören, Menschen, die in ihren Berei-chen absoluten Respekt genießen. Der Prä-sident als erste Person im Staat händigtdiesen Preis am Nationalfeiertag aus. Alsich die Auszeichnung entgegennahm,äußerte ich die Hoffnung, dass die bitterenErfahrungen Russlands, deren Studiumund Wertung ich mein ganzes Leben ge-widmet habe, uns vor neuen unheilvollenAbstürzen schützen mögen.Ja, Wladimir Putin war ein Geheimdienst-offizier, da haben Sie recht, er war jedoch

kein KGB-Ermittler und kein Lager-vorsteher im Gulag. Die Nachrichten-dienste, die für Auslandsaktivitäten zu-ständig sind, werden in keinem Landniedergemacht, in manchen werden siesogar gefeiert. Niemand ist auf die Ideegekommen, George Bush senior dessenfrühere Tätigkeit an der CIA-Spitze vorzu-werfen.SPIEGEL: Ihr ganzes Leben lang haben Siedie Staatsmacht angesichts der MillionenOpfer des Gulag und des kommunistischenTerrors zur Reue aufgerufen. Ist dieser Rufwirklich erhört worden?Solschenizyn: Ich habe mich daran ge-wöhnt, dass öffentliche Reuebekundungenpolitischer Persönlichkeiten heute wohl dasAllerletzte sind, was man von ihnen er-warten darf.SPIEGEL: Da sind wir wieder bei Putin.Russlands heutiger Präsident bezeichnetden Zusammenbruch der Sowjetunion alsgrößte geopolitische Katastrophe des 20.Jahrhunderts. Er sagt, man solle mit derselbstquälerischen Vergangenheitsbetrach-tung Schluss machen; „von außen“ werdeversucht, Russland in ungerechtfertig-ter Weise „Schuldgefühle“ anzuhängen.Kommt das nicht jenen entgegen, die oh-nehin gern vergessen möchten, was zuSowjetzeiten im Land geschah?

* Gemälde von Pawel P. Sokolow-Skalja.

Solschenizyn: Mit dem Hinweis „vonaußen“ hat er nicht unrecht: Sie sehendoch, dass überall in der Welt die Sorgedarüber wächst, wie die USA ihre neueMonopolrolle als führende Weltmacht aus-zufüllen versuchen – auch auf KostenRusslands. Was die „selbstquälerischenVergangenheitsbetrachtungen“ angeht, sowerden die Begriffe „sowjetisch“ und„russisch“ leider bis heute gleichgesetzt.Schon in den siebziger Jahren habe ichdagegen argumentiert. Doch alle, der Wes-ten, die Länder des ehemaligen sozialisti-schen Lagers, die ehemaligen Sowjetrepu-bliken, gehen mit diesen Begriffen leicht-fertig um. Die alte Politikergeneration in den früherkommunistisch regierten Ländern empfin-det überhaupt keine Reue. Und der politi-sche Nachwuchs nimmt mit seinen An-schuldigungen und Ansprüchen immer diebequemste Zielscheibe ins Visier – das heu-tige Moskau. So, als ob sich diese Leuteheldenhaft ganz allein befreit hätten undnun ein neues Leben führen, währendMoskau kommunistisch geblieben sei.Ich hoffe, dass diese krankhafte Haltungbald der Vergangenheit angehört. Alle Völ-ker, die den Kommunismus leidvoll ertra-gen mussten, sollten ihn als die wahre Ur-sache für die bitteren Erfahrungen in ihrerGeschichte erkennen. SPIEGEL: Die Russen inbegriffen.

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Sturm des Winterpalastes in Petrograd (im Oktober 1917)*: „Dieser Staatsstreich hat Russland das Rückgrat gebrochen“

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Solschenizyn: Wenn wir alle un-sere Vergangenheit nüchtern se-hen könnten, würde auch inunserem Land die Nostalgie nach sowjetischen Verhältnissenlängst zu Ende sein. Und dieLänder Osteuropas wie die ehe-maligen Sowjetrepubliken wür-den ihre instinktive Haltungüberwinden, den historischenWeg Russlands als Quelle allenÜbels zu sehen. Es kann nichtangehen, dass persönliche Greu-eltaten von konkreten Führernoder politische Regimeverbre-chen zur Schuld des russischenVolkes und seines Staates er-klärt oder auf die angeblichkrankhafte Psyche des russi-schen Volkes zurückgeführtwerden, wie es im Westen oftgenug getan wird. Diese Regimekonnten sich nämlich nur durchden blutigen Terror in Russ-land halten. Es ist offensichtlich:Nur eine eigenständig erkannteSchuld kann Unterpfand füreine nationale Genesung sein.Ständige Vorwürfe von außer-halb sind eher kontraproduktiv.SPIEGEL: Schuld zu erkennensetzt voraus, genügend Infor-mationen über die eigene Ver-gangenheit zu besitzen. Histori-ker aber klagen darüber, Mos-kaus Archive seien nicht mehrso zugänglich wie noch in denneunziger Jahren.Solschenizyn: Das ist keine ein-fache Frage. Unbestritten ist,dass Russland in den letzten 20Jahren eine Archivrevolutionerlebt hat. Tausende Akten-depots und Archive wurden fürForscher zugänglich gemacht.Sie konnten HunderttausendeDokumente studieren, die für sie früherverschlossen waren. Hunderte Studienwerden veröffentlicht. Leute von Einflusswie der Militärhistoriker Dmitrij Wolko-gonow und das frühere Politbüro-MitgliedAlexander Jakowlew konnten sich Zugangauch zu Dokumenten verschaffen, von de-nen der Stempel „Vertraulich“ nicht ent-fernt worden war. Die Gesellschaft mussihnen für ihre wertvollen Veröffentlichun-gen dankbar sein. In den letzten Jahrenkommt niemand mehr an die vertraulichzu behandelnden Papiere heran. Der Pro-zess, sie Schritt für Schritt zugänglich zumachen, verläuft leider wesentlich langsa-mer, als man es sich wünscht.Trotzdem sind Unterlagen aus dem Staat-lichen Archiv der Russischen Föderation,dem wichtigsten und reichsten Archiv un-seres Landes, heute so zugänglich wie inden neunziger Jahren. Damals hat der FSBdiesem Archiv 100000 Gerichts- und Er-mittlungsakten übergeben, sie sind nach

wie vor für Privatpersonen wie für For-scher offen. In den Jahren 2004 und 2005veröffentlichte das Staatliche Archiv derRussischen Föderation eine siebenbändige„Geschichte des Stalinschen Gulag“. Ichhabe mit den Autoren zusammengearbei-tet und kann bezeugen, dass es denkbarvollständig und glaubwürdig ist. Es wirdheute von Forschern aus verschiedenenLändern verwendet.SPIEGEL: Schade nur, dass die Personal-akten der Nomenklatura aus dem Innen-ministerium und der Geheimpolizei weitergesperrt sind. Alexander Issajewitsch, esist jetzt 90 Jahre her, dass Russland zuerstvon der Februar-, dann von der Oktober-Revolution erschüttert wurde. Vor weni-gen Monaten haben Sie in einem großenArtikel Ihre These bekräftigt, wonach derKommunismus nicht aus dem alten Regimehervorgegangen sei, sondern erst die bür-gerliche Regierung unter Alexander Ke-renski 1917 den Kommunisten die Mög-

lichkeit zum Umsturz verschaffthabe. Lenin wäre demnach einezufällige Figur, die erst durchdie Unterstützung der Deut-schen nach Russland gelangteund die Macht an sich reißenkonnte. Haben wir Sie da richtigverstanden?Solschenizyn: Nein. Eine Mög-lichkeit zu nutzen, das vermö-gen nur herausragende Persön-lichkeiten. Lenin und Trotzkiwaren äußerst gerissene und ta-tendurstige Politiker. Sie nutz-ten die Ratlosigkeit der Keren-ski-Regierung aus. Ich will Sievor allem in einem Punkt korri-gieren: Die sogenannte Okto-ber-Revolution – das ist ein My-thos, den sich die Bolschewikinach ihrem Sieg zurechtgelegthaben und den sich der auf denFortschritt fixierte Westen völligzu eigen gemacht hat. Am 25. Oktober 1917 gab es inPetrograd einen gewaltsamenStaatsstreich. Er war eher füreinen Tag konzipiert, metho-disch aber brillant vorbereitet.Und zwar von Leo Trotzki,denn Lenin musste sich in jenenTagen noch wegen Hochverrats-beschuldigungen versteckt hal-ten. Was jetzt für die RussischeRevolution von 1917 ausgegebenwird, war die Februar-Revolu-tion. Ihre Ursachen lagen tat-sächlich in den Verhältnissen,die im damaligen Russlandherrschten, und ich habe nieetwas anderes behauptet. DieFebruar-Revolution hatte tiefeWurzeln, was ich auch in mei-nem epischen Werk „RotesRad“ zeige. In erster Linie wardas ein lang angestauter und ge-

genseitiger Hass der Bildungsschicht undder Machthaber. Er war es, der Kompro-misse völlig undenkbar machte. DieHauptverantwortung lastet natürlich aufdem Machtapparat. Wer soll eine größereVerantwortung für einen Schiffbruch tra-gen als der Kapitän? Die Voraussetzungenfür die Februar-Revolution ergaben sichaus dem damaligen russischen Regime. Daraus folgt allerdings überhaupt nicht,dass Lenin eine zufällige Figur oder dassdie finanzielle Beteiligung des deutschenKaisers Wilhelm unwesentlich war. AmOktober-Umsturz ist nichts, was mit derNatur Russlands zu erklären wäre – im Ge-genteil: Dieser Staatsstreich hat Russlanddas Rückgrat gebrochen. Der deutlichsteBeweis dafür ist der rote Terror – die Be-reitschaft der Revolutionsführer, Russlandim eigenen Blut zu ersäufen.SPIEGEL: Mit dem zweibändigen Werk„Zweihundert Jahre zusammen“ haben Sieversucht, auch die Tabuisierung der rus-

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Lagerhäftling Solschenizyn (um 1950): „Nie gegen mein Gewissen“

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sisch-jüdischen Geschichte aufzubrechen– Bücher, die im Westen eher Irritationauslösten. Unter anderem deswegen, weilSie die Juden als „Frontabteilung, ge-schaffen vom Weltkapital“ bezeichnen, diebei der Zerstörung der bürgerlichen Ord-nung vorangingen. Haben Sie Ihrem Quel-lenstudium tatsächlich entnehmen können,dass die Juden mehr als andere moralischeVerantwortung für das missratene Sowjet-experiment tragen?Solschenizyn: Ich möchte genau das ver-meiden, worauf Sie mit Ihrer Frage hin-auswollen: Ich will niemanden dazu auf-fordern, Schuldanteile abzuwiegen oderdie moralische Verantwortung des einenoder anderen Volkes zu vergleichen. Ichfordere Leute auf, sich über ihren Weg be-wusst zu werden. In meinem Buch können Sie eine Antwortauf Ihre Frage finden: „Ein jedes Volk hatdie moralische Verantwortung für seineVergangenheit zu übernehmen – auch für

die schmachvollen Seiten. Auf welche Wei-se kann es dies tun? Indem es den Versuchmacht, zu begreifen: Warum hat man soetwas zugelassen? Worin lag hier unserFehler? Könnte dies wieder geschehen?Dies ist der Geist, in dem sich das jüdischeVolk der Verantwortung für seine revolu-tionären Mordgesellen und deren dienst-willige Chargen, die sich so leicht anheuernließen, stellen muss, und dies nicht vor denAugen anderer Völker, sondern vor sichselbst und vor seinem Gewissen, vor Gott.So wie auch wir Russen die Verantwor-tung für die Pogrome tragen müssen, fürdie erbarmungslosen, brandschatzendenBauern, für die unzurechnungsfähigen Re-volutionssoldaten und für die Matrosen,die wie wilde Tiere wüteten.“SPIEGEL: Ihr wirkungsvollstes Buch, scheintuns, war der „Archipel Gulag“. Es zeigtevon innen heraus den menschenverachten-den Charakter der Sowjetdiktatur. Lässtsich heute mit dem Blick zurück sagen, wie

sehr dieses Werk zum weltweiten Schei-tern des Kommunismus beigetragen hat?Solschenizyn: Diese Frage sollten Sie nichtan mich richten – es ist nicht Sache desVerfassers, solche Urteile zu fällen.SPIEGEL: Die dunkle Erfahrung des 20.Jahrhunderts war etwas – und da zitierenwir sinngemäß Alexander Solschenizyn –,das Russland gewissermaßen stellvertre-tend für die Menschheit durchlaufen muss-te. Haben die Russen aus den zwei Revo-lutionen und ihren Folgen eine bestimmteLehre zu ziehen vermocht?Solschenizyn: Mein Eindruck ist, dass sielangsam damit beginnen. Es erscheinenviele Texte und Filme über die GeschichteRusslands im 20. Jahrhundert, von sehrunterschiedlicher Qualität natürlich. Aberdie Nachfrage steigt – das ist sichtbar. Ge-rade erst zeigte der staatliche Fernsehkanal„Russland“ eine furchterregende, brutaleund überhaupt nicht abgemilderte Wahr-heit über die Stalinschen Lager in einerFernsehserie nach Werken von WarlamSchalamow …SPIEGEL: … der selbst 18 Jahre im Gulagsaß. Solschenizyn: Ich war auch überrascht undbeeindruckt von der Leidenschaftlichkeit,vom Ausmaß und von der Länge der Dis-kussion, die nach meinem Beitrag über dieFebruar-Revolution in Russland aufkam.Mich freut es, dass die Meinungen so ver-schieden waren, dass es Leute gibt, die mitmir nicht einverstanden sind, denn daszeigt, dass man endlich wirklich die eigeneVergangenheit begreifen möchte. Sonstkann es auch keinen wohlüberlegten Wegin die Zukunft geben.SPIEGEL: All Ihren jüngeren Äußerungenzur aktuellen Entwicklung entnehmen wir,dass Sie Russland langsam wieder auf demrichtigen Weg sehen. Wie beurteilen Siedie Zeit, in der Putin in Russland regiert –im Vergleich zu seinen Vorgängern, denPräsidenten Gorbatschow und Jelzin?Solschenizyn: Am Führungsstil von Gor-batschow überraschen die politische Nai-vität, mangelnde Erfahrung und Verant-wortungslosigkeit gegenüber seinem Land.Das war keine Machtausübung, sondernein sinnloser Verzicht auf Macht. Durchdie Begeisterung des Westens fühlte er sich in dieser Verhaltensweise bestätigt.Allerdings muss man einräumen, dass esGorbatschow war und nicht Jelzin – wieallerorts behauptet wird –, der unserenBürgern zum ersten Mal die Meinungs-und Bewegungsfreiheit gab. Die Verantwortungslosigkeit Jelzins ge-genüber unserem Volk war um keinenDeut geringer, nur erstreckte sie sich aufandere Bereiche. Er war bestrebt, staat-liches Eigentum möglichst rasch in privateHand zu geben, und er hat RusslandsReichtümer zum hemmungslosen Raubfreigegeben, wobei es um Milliardenbeträ-ge ging. Um sich die Unterstützung derRegionalfürsten zu sichern, forderte er sie

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Präsident Jelzin (1999): „Zum hemmungslosen Raub freigegeben“

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Parteichef Gorbatschow (r., 1990): „Politische Naivität und Verantwortungslosigkeit“

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direkt zum Separatismus auf, ließ Be-schlüsse verabschieden, die den russischenStaat in Stücke zerreißen sollten. Damitwurde Russland seiner wohlverdientenhistorischen Rolle und seiner Stellung aufdem internationalen Parkett beraubt. Wasvom Westen mit lautstarkem Applaus quit-tiert wurde.SPIEGEL: Und Putin? Solschenizyn: Putin übernahm ein Land,das ausgeplündert und völlig aus demGleichgewicht gebracht worden war, miteiner großenteils entmutigten und ver-armten Bevölkerung. Er schickte sich an,das zu tun, was möglich war – und möglichwar eben ein langsamer, schrittweiser Wie-deraufbau. Diese Bemühungen wurdennicht gleich bemerkt und erst recht nichtgewürdigt. Können Sie überhaupt Beispie-le aus der Geschichte nennen, wo Bemü-hungen um die Wiederherstellung einerstarken Staatsführung von außen wohl-wollend registriert wurden?SPIEGEL: Dass ein stabiles Russland auchim Interesse des Westens liegt – diese Er-kenntnis hat sich inzwischen durchgesetzt.Uns wundert aber vor allem eines: Wennes um die richtige Staatsform in Russlandging, waren Sie immer Verfechter einerSelbstverwaltung des russischen Bürgers –dieses Modell haben Sie der westlichenDemokratie gegenübergestellt. Was wirnach sieben Jahren Putin-Herrschaft se-hen, ist genau das umgekehrte Ergebnis:Der Präsident besitzt die ausschließlicheMacht, alles richtet sich nach ihm. Solschenizyn: Jawohl, ich habe stets daraufbestanden und bestehe noch darauf, dass

Russland eine lokale Selbstverwaltungbraucht. Dabei will ich diese Lösung kei-nesfalls dem westlichen Demokratiemodellentgegensetzen. Im Gegenteil. Ich will mei-ne Mitbürger mit Beispielen von hocheffi-zienter Selbstverwaltung in der Schweizund in New England überzeugen, die ichmit meinen eigenen Augen gesehen habe.Doch Sie verwechseln in Ihrer Frage die lo-kale Selbstverwaltung, die nur auf der un-tersten Ebene denkbar ist – wo die Leutedie von ihnen gewählten Verwalter per-sönlich kennen –, mit jenen regionalenMachtstrukturen von einigen DutzendGouverneuren, die zur Jelzin-Zeit zusam-men mit der Moskauer Zentralmacht schondie kleinsten Keime lokaler Selbstverwal-tung ausrotteten.Ich bin auch heute zutiefst bedrückt dar-über, wie langsam und ungeschickt bei unsdie lokale Selbstverwaltung durchgesetztwird. Allerdings geht es auch hier voran.Zur Jelzin-Zeit wurden alle Möglichkeitender lokalen Selbstverwaltung schon durchGesetze blockiert. Jetzt ist die Staatsmachtbereit, mehr Entscheidungen an die Be-völkerung vor Ort zu delegieren. Leiderist es noch kein System.SPIEGEL: Das können wir schwer nachvoll-ziehen. Kritische Stimmen sind in diesemLand so gut wie nicht gefragt. Eine Oppo-sition gibt es kaum.Solschenizyn: Eine Opposition ist ohneZweifel erforderlich und wird von jedemherbeigewünscht, der eine gesunde Ent-wicklung Russlands anstrebt. Wie zu Jel-zins Zeiten bilden eigentlich nur die Kom-munisten eine richtige Opposition.

Wenn Sie davon sprechen, dass es kaumnoch Opposition gibt, meinen Sie sicher-lich jene demokratischen Parteien, die esin den neunziger Jahren gab. Doch manmuss das unvoreingenommen sehen: ImLaufe der neunziger Jahre ging es derBevölkerung ständig schlechter, ein ein-schneidender Rückgang des Lebensstan-dards erfasste drei Viertel aller Familien inRussland – alles unter den „Fahnen derDemokratie“. Was wundert es, wenn dieLeute dann von diesen Fahnen wegliefen?Die Führer dieser Parteien können sichbis heute nicht einmal über Ministerpostenin einem imaginären Schattenkabinetteinigen. Es ist bedauerlich, dass es in Russ-land nach wie vor keine konstruktive,überschaubare und zahlenmäßig starkeOpposition gibt. Offensichtlich braucht esmehr Zeit, bis sie sich formt. So wie manZeit braucht, bis andere demokratische In-stitutionen reifen.SPIEGEL: Bei unserem letzten Gespräch vorsieben Jahren haben Sie kritisiert, in derDuma säßen nur zur Hälfte direkt gewähl-te Abgeordnete, und die würden von denVertretern der politischen Parteien domi-niert. Nach Putins Wahlrechtsreform gibtes überhaupt keine Direktmandate mehr.Das ist doch ein Rückschritt!Solschenizyn: Ja, ich halte das für einenFehler. Ich bin ein überzeugter und kon-sequenter Kritiker des Parteien-Parlamen-tarismus und Anhänger eines Systems, beidem wahre Volksvertreter unabhängig vonihrer Parteizugehörigkeit gewählt werden.Die nämlich wissen dann um ihre persön-liche Verantwortung in den Regionen undKreisen, und sie können auch abberufenwerden, wenn sie schlecht gearbeitet ha-ben. Ich sehe und respektiere Wirtschafts-verbände, Vereinigungen von Kooperati-ven, territoriale Bündnisse, Bildungs- undBerufsorganisationen, doch ich verstehenicht die Natur von politischen Parteien.Eine Bindung, die auf politischen Über-zeugungen beruht, muss nicht notwendi-gerweise stabil sein, und häufig ist sie auchnicht ohne Eigennutz. Leo Trotzki sagte noch in der Zeit des Ok-tober-Umsturzes sehr treffend: „Eine Par-tei, die die Machtergreifung nicht als ihrZiel sieht, ist nichts wert.“ Das bedeutetdoch, dass man Vorteile für sich will, aufKosten der restlichen Bevölkerung. Beieiner unbewaffneten Machtergreifung istdas nicht anders. Wenn man über anonymeParteiprogramme und Parteibezeichnun-gen abstimmt, ersetzt man damit die ein-zige glaubwürdige Auswahl eines Volks-vertreters: eines Kandidaten mit einemkonkreten Namen durch einen Wähler, derauch einen Namen besitzt. Darin bestehtder ganze Sinn einer wahren Volksver-tretung.SPIEGEL: Russland ist in den letzten Jahrendurch Öl und Gas reich geworden, ein Mit-telstand formiert sich. Trotzdem sind diesozialen Kontraste zwischen Arm und Reich

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Sibirische Dorfbewohnerin: „Die zugrundegehende Nation retten“

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in Russland riesengroß. Was könnte getanwerden, um die Situation zu verbessern? Solschenizyn: Ich halte die Kluft zwischenArm und Reich in Russland für eine ge-fahrvolle Entwicklung, die der Staat bald-möglichst unter Kontrolle bringen muss.Obwohl viele märchenhafte Vermögendurch rücksichtslosen Raub in der Jelzin-Zeit zustande kamen, wäre es wohl nichtdie vernünftigste Lösung, die großen Un-ternehmen wieder zu zerschlagen – zumalderen jetzige Eigentümer sich wirklichMühe geben, effizient zu wirtschaften. Derrichtige Weg wäre, bessere Überlebens-möglichkeiten für kleine und mittelständi-sche Unternehmen zu schaffen. Das würdeauch bedeuten, dass jeder Bürger, der zu-gleich mittelständischer Unternehmer ist,vor Willkür und Korruption geschützt wer-den muss. Die Erträge aus der Ausbeutungder dem Volk gehörenden Bodenschätzemüssen der Wirtschaft zugeführt und inBildungs- und Gesundheitswesen umge-leitet werden. Auch da müssen wir ler-nen, Plünderung und Vergeudung auszu-schließen. SPIEGEL: Braucht Russland eine nationaleIdee? Wie könnte diese aussehen?Solschenizyn: Mit dem Ausdruck nationaleIdee ist kein klarer wissenschaftlicher Inhaltverbunden. Man könnte zustimmen, dassdies die Vorstellung von einer Lebenswei-se in unserem Land ist, von der die Mehr-heit der Bevölkerung schwärmt. Sie kanndurchaus nützlich sein. Doch so etwas soll-ten sich nicht die Regierenden ausdenken,und schon gar nicht sollten sie versuchen,diese Idee gewalttätig in die Köpfe zu pflan-

zen. Es gab solche Vorstellungen mal nachdem 18. Jahrhundert in Frankreich, mal inGroßbritannien, dann in den USA, inDeutschland, in Polen. Als die Diskussionüber eine nationale Idee in aller Eile imnachkommunistischen Russland entfachtwurde, habe ich versucht, eine Abkühlungherbeizuführen – mit dem Einwand, dasswir uns nach allen kraftraubenden Verlus-ten für eine längere Zeit mit einer einfa-chen Aufgabe begnügen müssten: die zu-grundegehende Nation zu retten.SPIEGEL: Bei alldem fühlt sich Russland oftvon außen allein gelassen. Wir beobachtenderzeit eine ziemliche Ernüchterung imVerhältnis zwischen Russland und demWesten, auch zwischen Russland undEuropa. Woran liegt das? Wo versteht derWesten das heutige Russland nicht?Solschenizyn: Am interessantesten sind fürmich die psychologischen Gründe: In Russ-land wie im Westen decken sich die ge-hegten Hoffnungen nicht mit der Realität.Als ich 1994 zurück nach Russland kam, er-lebte ich eine Vergötterung der westlichenWelt und der Staatsordnung ganz unter-schiedlicher Länder. Sie beruhte nicht aufwirklicher Kenntnis oder bewusster Aus-wahl, sondern vielmehr auf einer natür-lichen Ablehnung des bolschewistischenRegimes und seiner antiwestlichen Propa-ganda. Diese Stimmung änderte sich nachdem brutalen Nato-Bombardement Ser-biens. Es wurde ein dicker schwarzer Strichgezogen, der nicht mehr auszuradieren ist,und ich glaube, er geht durch alle Schich-ten der russischen Gesellschaft. Dazu ka-men die Versuche der Nato, Teile der zer-

fallenen UdSSR in ihre Sphäre zu ziehen,vor allem – was besonders schmerzlich war– die Ukraine, ein mit uns eng verwandtesLand, mit dem wir durch Millionen fami-liärer Beziehungen verbunden sind. Diesekönnten durch eine militärische Bündnis-grenze im Nu zerschnitten werden.Bis dahin galt der Westen bei uns vorwie-gend als Ritter der Demokratie. Nun muss-ten wir enttäuscht feststellen, dass die west-liche Politik sich in erster Linie von Prag-matismus leiten lässt, noch dazu häufig voneinem eigennützigen und zynischen. VieleRussen erlebten das als einen Zusammen-bruch ihrer Ideale. Der Westen freute sichüber das Ende des lästigen Kalten Kriegesund beobachtete über die Jahre der Gor-batschow- und Jelzin-Herrschaft hinwegeine Anarchie im Inneren Russlands unddie Aufgabe aller Positionen nach außenhin. Er gewöhnte sich schnell an den Ge-danken, dass Russland nun fast ein Landder Dritten Welt sei und dass es für immerso bleiben werde. Als Russland wieder zuerstarken begann, reagierte der Westen pa-nisch – vielleicht unter Einfluss nicht ganzüberwundener Ängste. SPIEGEL: Ihm fiel wieder die alte Groß-macht Sowjetunion ein …Solschenizyn: Unnützerweise. Aber schonfrüher hatte sich der Westen der Illusionhingegeben – oder so getan, als würde erdas tatsächlich glauben –, dass Russlandbereits eine junge Demokratie sei, obwohldavon noch keine Spur zu sehen war. Es ist doch klar, dass Russland noch keineDemokratie ist, es beginnt erst, eine demo-kratische Ordnung aufzubauen. Es ist nur

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Prozession in Moskau (im Mai): „Gedenkgebete für die Opfer kommunistischer Hinrichtungen“

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allzu leicht, unserem Land einen langenKatalog von Irrtümern, Versäumnissen undNormverstößen zu präsentieren. Aber injenem Kampf, der nach dem 11. September2001 begann und der noch immer läuft, hatRussland dem Westen seine Unterstützungangeboten – deutlich und unmissverständ-lich. Diese Unterstützung wurde abgewie-sen – aus einer bestimmten psychologi-schen Grundeinstellung heraus oder auskrankhafter Kurzsichtigkeit. In Afghani-stan haben die USA unsere Hilfe akzep-tiert, doch an Russland immer wieder neueForderungen gestellt. Die Unzufriedenhei-ten Europas mit Russland wiederum sindunzweifelhaft mit den westlichen Ängstenum die Energieversorgung verbunden, undfür die gibt es eigentlich keinen Grund. Aber kann sich der Westen angesichts derneuen Gefahren die zurückweisende Hal-tung gegenüber Russland überhaupt leis-ten? In meinem letzten Interview vor derRückkehr nach Russland, das ich im April1994 für die Zeitschrift „Forbes“ gab, habeich gesagt: „Wenn man weit in die Zukunftblickt, so kann man im 21. Jahrhundertauch eine Zeit entdecken, in der die USAzusammen mit Europa Russland noch sehrals Bündnispartner brauchen werden.“SPIEGEL: Sie haben Goethe, Schiller, Heineim Original gelesen und immer gehofft,Deutschland werde eine Art Brücke zwi-schen Russland und dem Rest der Weltsein. Glauben Sie, dass die Deutschen die-se Rolle heute noch spielen können?Solschenizyn: Das glaube ich. Deutschlandund Russland fühlen sich gegenseitig zu-einander hingezogen, worin ich schon eineArt Vorherbestimmung sehe – sonst hättedieses Verhältnis nicht zwei wahnsinnigeWeltkriege überstanden.SPIEGEL: Welche deutschen Dichter oderPhilosophen haben Sie eigentlich amstärksten beeinflusst?

Solschenizyn: Meine Kinder- und Jugend-jahre waren geprägt von Schiller undGoethe. Später hat mich Schelling begeis-tert. Die großartige deutsche Musik ist fürmich von unschätzbarem Wert. Ich kannmir mein Leben ohne Bach, Beethovenund Schubert nicht vorstellen.SPIEGEL: Umgekehrt ist im Westen wenigüber Russlands heutige Schriftsteller be-kannt. Wie sehen Sie die Situation der rus-sischen Literatur?Solschenizyn: Zeiten rasanter und grund-legender Umwandlungen sind nie beson-ders gut für die Literatur. Nicht nur große,sondern auch einigermaßen bedeutendeliterarische Werke wurden fast überall nurzu Zeiten von Stabilität geschaffen – egal,ob diese positiv oder negativ zu sehenwar. Die moderne russische Literatur bil-det da keine Ausnahme. Es ist kein Zufall,dass sich das aufgeklärte Leserinteresseim heutigen Russland zunehmend auf Tat-sachenliteratur konzentriert: Memoiren,Biografien, Dokumentarprosa. Ich glaubeallerdings, dass der Hang zur Gerechtig-keit und der ethische Ansatz als Funda-ment der russischen Literatur nicht ver-lorengehen und dass sie helfen, unserenGeist zu erleuchten und unser Verständniszu vertiefen.SPIEGEL: Durch Ihr ganzes Werk zieht sichder Einfluss des orthodoxen Glaubens aufdas Russentum. Wie ist es heute mit dermoralischen Kompetenz der RussischenOrthodoxen Kirche bestellt? Uns scheint,sie wird wieder zur Staatskirche, die sievor Jahrhunderten schon war – eine Kir-che, die den jeweiligen Herrscher im Kremlals Statthalter legitimiert.Solschenizyn: Nein, im Gegenteil. Manmuss sich wundern, wie die Kirche in denwenigen Jahren, die vergangen sind, seitsie total dem kommunistischen Staat un-terworfen war, erneut eine recht unab-

hängige Position aufbauen konnte. Mandarf nicht vergessen, welche furchtbarenVerluste an Menschen die Russische Or-thodoxe Kirche fast das ganze 20. Jahr-hundert hindurch zu tragen hatte. Jetztkommt sie auf die Beine. Und der jungepostsowjetische Staat lernt es, die Kircheals eigenständige und unabhängige Ein-richtung zu respektieren. Die soziale Dok-trin geht in der Russischen OrthodoxenKirche viel weiter als das Regierungspro-gramm. In der jüngsten Zeit fordert Me-tropolit Kyrill, der die Haltung der Kircheam deutlichsten zum Ausdruck bringt,dazu auf, das Steuersystem zu ändern –was nun überhaupt nicht in dieselbe Rich-tung geht, wie es die Regierung sich denkt.Und dieses tut er öffentlich, in den lan-desweiten Fernsehsendern.Mit der Legitimation des Kreml-Herrschersmeinen Sie wohl, dass für Jelzin ein Trau-ergottesdienst in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale abgehalten wurde –und keine zivile Abschiedsfeier?SPIEGEL: Auch das.Solschenizyn: Möglicherweise war das dieeinzige Möglichkeit, den noch nicht ab-gekühlten Volkszorn im Zaum zu haltenund zu vermeiden, dass er sich bei derTrauerzeremonie Bahn bricht. Ich seheallerdings keinen Grund, darin nun einweiterhin gültiges Trauerzeremoniell fürrussische Präsidenten zu sehen. Was aber die Vergangenheit betrifft, sowerden von der Russischen OrthodoxenKirche rund um die Uhr Gedenkgebete fürdie Opfer kommunistischer Hinrichtungenabgehalten – in Butowo bei Moskau, aufden Solowezki-Inseln und in vielen ande-ren Orten, wo es Massengräber gibt.SPIEGEL: Bei Ihrem Gespräch mit SPIE-GEL-Gründer Rudolf Augstein haben Sie1987 darauf verwiesen, wie schwierig essei, öffentlich über die eigene Haltung zurReligion zu sprechen. Was bedeutet Glau-be für Sie?Solschenizyn: Für mich gehört der Glaubezu den Grundlagen und Grundfesten desLebens eines Menschen.SPIEGEL: Haben Sie Angst vor dem Tod?Solschenizyn: Nein, ich habe seit langemkeine Angst mehr vor dem Tod. Als ichjung war, musste ich oft daran denken, dassmein Vater mit 27 Jahren viel zu früh starb.Ich hatte Angst, aus dem Leben zu schei-den, bevor ich meine literarischen Pläneverwirklicht haben könnte. Doch bereitszwischen meinem 30. und 40. Lebensjahrrang ich mich zu einer sehr ruhigen Hal-tung gegenüber dem Tode durch. Für michist es ein natürlicher Meilenstein, der aberbei weitem nicht das Ende der Existenz ei-ner Persönlichkeit markiert.SPIEGEL: Wir wünschen Ihnen jedenfallsnoch weitere schaffensreiche Jahre. Solschenizyn: Nein, nein, das muss nichtsein. Es reicht. SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, wir dan-ken Ihnen für dieses Gespräch.

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Solschenizyn in seinem Arbeitszimmer in Troize-Lykowo: „Keine Angst mehr vor dem Tod“

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Dass ein russischer Autor in wenigenWochen 95000 russische Käufer fürein neues Buch findet, kommt nicht

mehr häufig vor. Doch Alexander Sol-schenizyns „200 Jahre zusammen“ überdas Verhältnis zwischen Juden und Rus-sen reizt seine Landsleute wie kaumein anderes Werk nach dem Unter-gang der Sowjetunion. Nun ist derzweite Band erschienen.

Das 552-Seiten-Opus befasst sichmit der Zeit von 1917 bis zum Endedes Sowjetregimes. Mit einer Füllevon Quellen und Zitaten vor allemjüdischer Autoren zeichnet der 84-jährige Nobelpreisträger Solscheni-zyn ein detailliertes Bild der Erfah-rungen, Empfindungen und Lebens-umstände von zeitweilig etwa fünfMillionen Juden im Weltreich unterHammer und Sichel.

Das „einzigartige Volk“ der Ju-den, eine sich vorwiegend durchfamiliäre Herkunft definierende Gemein-schaft innerhalb Russlands, hat den Schrift-steller mit zunehmendem Lebensalter immer mehr beeindruckt. Solschenizynschildert, wie die Mehrzahl der Juden imRussischen Reich die bürgerliche Revolu-tion und den Sturz des Zaren im Februar

Gleichfalls dominierend war,wie Solschenizyn belegt, in den Jahren der von Lenin initi-ierten Neuen ÖkonomischenPolitik die Stellung jüdischerHändler im russischen Wirt-schaftsleben. Die „jüdischeKlein- und Mittelbourgeoisie“habe nun „die Positionen desrussischen Klein- und Mittel-bürgertums“ besetzt, stellte das später auf Stalins Geheißhingerichtete PolitbüromitgliedNikolai Bucharin 1927 fest.

Pauschale Urteile über dieHaltung „der Juden“ den Bol-schewiki gegenüber vermeidetSolschenizyn. Er weist daraufhin, dass während des Bürger-kriegs zwischen Roten undWeißen 200 000 bürgerliche Juden aus Russland geflohenseien und Tausende gemäßig-ter jüdischer Sozialisten sich

von der Bolschewiki-Diktatur abgewandthätten.

Dem krassen Dissens allerdings zwi-schen Sozialdemokraten und Kommunis-ten innerhalb des jüdischen Milieus misstSolschenizyn wenig Bedeutung bei. Dernationalkonservative Gulag-Überlebendefragt nicht, wie es Stalin gelingen konnte,den vorwiegend von jüdischen Genossenformierten Parteiflügel um Trotzki lahm zulegen.

Auch erhellt Solschenizyns Verquickungjüdischer Familiennamen zu einer An-sammlung großer, mittlerer und kleinerLichter der sowjetischen Hierarchie nichtdie komplizierten Mechanismen, mit de-nen Stalin sein System errichtete – ein Sys-tem, das perfide genug war, um von Anti-semiten für jüdisch und von Zionisten fürantisemitisch gehalten zu werden.

Wie wenig ein ethnischer Ansatz zur Er-klärung der sowjetischen Anfangsjahretaugt, zeigt ein Beispiel: Trotzki hattedurch die brutale Politik des „roten Ter-rors“ und seine „Militarisierung der Ar-beit“ bald selbst bei vielen Anhängern derBolschewiki verspielt.

Als Vollstrecker des Terrors stießen erund andere Juden, wie Solschenizyn do-kumentiert, auf antisemitische Reaktionen.Ironie des Schicksals war es dann, dassTrotzki, von Stalin ins Exil gedrängt, 1940in Mexiko erschlagen wurde – Organisatordes Mordes war der GeheimdienstgeneralNahum Eitingon, Jude wie Trotzki selbst.

Der zweite Band von „200 Jahre zu-sammen“ zeichnet nach, wie unter Stalinein Prozess der Entfremdung vieler Judenvon der Sowjetmacht begann, wie derDiktator die Geschäfte jüdischer wie auch nichtjüdischer privater Händler um 1930 schließen und den Anteil jüdi-scher Mitarbeiter in Partei und Geheim-dienst NKWD reduzieren ließ und wie die blutigen Säuberungen vor allem ab

1917 begrüßte – nicht zuletzt deshalb, weilsie dadurch die Freiheit gewann, zu woh-nen und zu arbeiten, wie es ihr gefiel.

Und er weist nach, dass – anders als inantisemitischen Zirkeln verbreitet – die rus-sischen Juden 1917/18 mehrheitlich zionis-tische und gemäßigt linke Parteien den Bol-schewiki vorzogen.

Nach dem Oktober-Umsturz 1917 sei esSpitzenfunktionären jüdischer Herkunft inder Bolschewiki-Führung, insbesondereLew Bronstein, bekannter als Leo Trotzki,gelungen, zunehmend junge Juden für dasneue Regime zu gewinnen. Jüdische Zu-wanderer vor allem aus der Ukraine rück-ten in Moskau und Petrograd an die Stelleder bürgerlichen russischen Intelligenz undBeamtenschaft, deren Angehörige sich denroten Revolutionären verweigerten.

Lebten 1920 nur rund 28000 Juden inder russischen Hauptstadt, so wuchs ihre

Zahl bis 1939 auf 250000 an. Die Zuwan-derer besetzten leitende Positionen in Staatund Wissenschaft. Überdurchschnittlichhoch war in den zwanziger Jahren mitmehr als 50 Prozent der Anteil jüdischerGenossen in Leitungsfunktionen derberüchtigten Geheimpolizei Tscheka.

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R U S S L A N D

EinzigartigesVolk

Mit seinem Werk über die Rolle der Juden im Sowjetreich

provoziert Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn

erneut kontroverse Debatten.

Kriegskommissar und Armeechef Trotzki (1918): Junge Juden für das neue Regime

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Präsident Putin, Dichter SolschenizynHistorische Schuld stets bei anderen gesucht

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1937 auffällig viele jüdische Kommunistentrafen.

Eine Wende brachte nicht einmal dieGründung eines Jüdischen Antifaschisti-schen Komitees Ende 1941, das Hilfe ausAmerika gegen den Überfall Hitler-Deutschlands mobilisierte. Der Geheim-dienst zerschlug das Gremium 1948 undermordete führende Mitglieder. Stalin hat-te diese Juden nur als Kitt benutzt, um dieKriegskoalition mit den USA zusammen-zuhalten.

Den Tiefpunkt im Verhältnis zwischenJuden und Sowjetherrschaft markierteschließlich die so genannte Ärzte-Ver-schwörung im Januar 1953. Sie gipfelte indem Vorwurf, von Zionisten gelenkte Me-diziner hätten Stalin ermorden wollen.

Erst nach dem Tod des Diktators imMärz 1953, während des so genannten Tau-wetters unter dem neuen Parteichef Niki-ta Chruschtschow, erwachte langsam wie-der jüdisches Leben in Russland, zunächstvorsichtig mit Literaturabenden und He-bräisch-Kursen. In Folge des Sechs-Tage-Kriegs 1967 im Nahen Osten allerdingszeigten immer mehr jüdische SowjetbürgerSympathie für den jüdischen Staat undgerieten in Loyalitätskonflikte mit der So-wjetmacht. Die Zahl der Ausreisewilligenstieg rapide. Mehr und mehr junge Judenengagierten sich in Dissidentengruppen.

Zwar formuliert es Solschenizyn sonicht, aber sein Material zeigt doch eines:In der Endphase der Sowjetära waren vie-le russischsprachige Juden der mobile Vor-trupp des sich ankündigenden Umbruchs,ähnlich wie vor 1917. Im erstarrten altenSystem sahen sie keine Perspektive mehr.

Der Publizist Dmitrij Bykow kommt ineiner Besprechung des Solschenizyn-Bu-ches sogar zu der Behauptung, Juden hät-ten gewissermaßen an Stelle der Russenrussische Geschichte gemacht. Sie hättenzuerst den sowjetischen Unterdrückungs-staat errichtet und später die Dissidenten-bewegung hervorgebracht, die ihn mitzerstörte. Revolution, Konterrevolution,Atombombe, Wasserstoffbombe, der Fort-schritt in der Literatur – alles von Juden initiiert. Das russische Volk dagegen seipassiv und suche stets nur bei anderen historische Schuld.

Aber der vom Dichter erhobene Vor-wurf, die Juden trügen eine besondere„moralische Verantwortung“ für das miss-ratene Sowjetexperiment, wird von derrussischen Leserschaft dennoch nur be-dingt geteilt.

„Den ehrlichen, aufrichtigen Wunsch,ein objektives Buch zu schreiben“, könneer bei Solschenizyn durchaus erkennen,erklärt Alexander Ossowzow, bis vor kur-zem Vize-Präsident des Russischen Jüdi-schen Kongresses. Aber wenn ein Nicht-jude die Prozentanteile jüdischer Bol-schewiki zähle, so Ossowzow kategorisch,sei das dennoch Antisemitismus.

Uwe Klussmann

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SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, als Sie1974 aus Russland verjagt wurden, traf sol-che Entscheidung zwar formal die Partei-spitze, in Wahrheit jedoch das KGB. EinOffizier ebendieser Geheimpolizei an derSpitze des neuen Russland – haben Sie miteiner solchen Entwicklung gerechnet, alsSie 1994 in Ihr Land zurückkehrten?Solschenizyn: Ich hielt das überhaupt nichtfür ausgeschlossen. Unter Gorbatschowund in der ganzen Jelzin-Zeit haben wirweder Reformen noch Demokratie erfah-ren. Der Westen lebte mit einer durchnichts begründeten Legende, unter BorisJelzin sei in Russland die Demokratie eingekehrt, seien marktwirtschaftliche Re-formen verwirklicht worden. Als Jelzin

Marktwirtschaft – die einfach nicht denk-bar ist. Als aber Jelzin das Land übernahm,wollte er möglichst schnell irgendetwas un-ternehmen, egal, was – wie er selbst sag-te. Hastig hat er seine Mannschaft zusam-mengewürfelt. Wendige junge Männerwurden ihm aufgedrängt, die keine Ah-nung von der Sache hatten. Sie warenplötzlich für das Schicksal Russlands ver-antwortlich. Einen Reformplan hat es niegegeben.SPIEGEL: Mit der Privatisierung der Staats-wirtschaft sollte jedermann per Gutscheinseinen Anteil am Volksvermögen erhalten. Solschenizyn: Das war der reinste Betrug.Das staatliche Eigentum gelangte in priva-te Hände – von ein paar Halunken undHochstaplern. Ganze Industrie-Gigantenwurden verschleudert für manchmal nurein halbes oder ein Prozent ihres tatsäch-lichen Wertes. Binnen zwei Jahren sankdie Produktion um 50 Prozent, in for-schungsintensiven Bereichen sogar um 70Prozent. Unsere Reformen waren eine Ka-tastrophe, wir haben 15 Jahre verloren. Esist eine Tragödie. Am Ende der Steinzeitbegriffen die Menschen: Die Erde kann unsernähren. Dort sind wir heute wieder an-gekommen. Über die Hälfte unserer Be-völkerung wurde ins Elend gestürzt undlebt nicht vom Lohn oder Gehalt, sondernvon ihren kleinen Privatgrundstücken. SPIEGEL: Vom Ertrag ihrer Schrebergärten,die ihnen Gorbatschow zugeteilt hatte.Solschenizyn: Raubgierige Finanzmagnatenmachten derweilen ihre Riesenvermögenmit Spekulationen. Außerdem haben siesich Massenmedien angeeignet. Von zwei

zurücktrat, ernannte US-Präsident BillClinton ihn auch noch zum Vater der rus-sischen Demokratie. Das ließ sich nur alsbissiger Hohn empfinden. SPIEGEL: Gorbatschow hat doch mit Glas-nost, der Meinungsfreiheit und Transpa-renz im öffentlichen Leben, den Wandelerst ausgelöst. Solschenizyn: Das war aber auch sein ein-ziges Verdienst an Russland. Mit halbenSchritten und halbherzigen Maßnahmenhat er experimentiert, ein äußerst unent-schlossener Politiker. Das Wirtschaftssys-tem, das zu Sowjetzeiten eher schlecht alsrecht funktioniert hatte, zerschlug er, ohnezu wissen, was er an dessen Stelle setzensollte. Er sprach von einer sozialistischen

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„Fünfzehn verlorene Jahre“Der russische Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn

über Gorbatschow, die Ära Jelzin und die Erwartungen an Putin

Solschenizyn beim SPIEGEL-Gespräch: „Unsere Reformen waren eine Katastrophe“ Alexander Solschenizynist die Stimme Russlands, ein Repräsen-tant des Volkes ohne förmliches Mandat,aber mit exemplarischem Lebenslauf: Seit1941 Rotarmist, äußert er sich 1945 in ei-nem Feldpostbrief abfällig über Stalin,wird für acht Jahre inhaftiert und dannverbannt. 1956 rehabilitiert, schreibt erseine Lager-Erzählung „Ein Tag im Lebendes Iwan Denissowitsch“, deren Manu-skript Parteichef Chruschtschow sieht undveröffentlichen lässt. Solschenizyns Rufnach Aufhebung der Zensur und Freiga-be seiner Romane „Der erste Kreis derHölle“ und „Krebsstation“ führt zumAusschluss aus dem sowjetischen Schrift-stellerverband; den Nobelpreis für Lite-

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Fernsehkanälen, die landesweit empfan-gen werden können, gehört jetzt einer dem Staat, den anderen, größeren kon-trolliert ein Finanzoligarch. Als ich nachRussland zurückkam, durfte ich zu Anfangim Fernsehen zu den Leuten sprechen. Als ich die Wahrheit über Tschetscheniensagte, wurde ein Verbot verhängt, das bis heute gilt.

SPIEGEL: Sprechen Sie mit dem SPIEGEL,weil Sie in Russland kein Forum mehrfinden?Solschenizyn: Jedenfalls gibt es keine Zei-tung mehr für ganz Russland. RegionaleZeitungen befinden sich in der Hand derGouverneure und bedienen deren Interes-sen. Die Gorbatschowsche Glasnost hatsich nun restlos verflüchtigt. SPIEGEL: Sie haben nach Ihrer Rückkehraus Amerika in vielen Regionen Russlandsmit tausenden von Menschen gesprochen.Was denkt das Volk?Solschenizyn: Unsere Bevölkerung kannauch heute nicht glauben, dass das, wasJelzin getan hat, zufällige Fehler oder Miss-

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ratur (1970) darf er nicht selbst entgegen-nehmen. Als die Geheimpolizei das Ma-nuskript „Archipel Gulag“ findet, wirder 1974 verhaftet und nach Westdeutsch-land ausgewiesen; Heinrich Böll nimmtihn auf. Solschenizyn siedelt in die USAüber, wo er den Zyklus „Das rote Rad“fortsetzt und wegen seiner Distanz zurwestlichen Demokratie auf Kritik stößt.Von Gorbatschow wieder eingebürgert,kehrt er erst 1994 – in einem Triumphzug– nach Russland zurück, redet vor derDuma, mit Präsident Jelzin und zeitwei-lig in einem eigenen Fernsehmagazin. Derchristliche Fundamentalist Solschenizyn,81, rügt Russlands Verwestlichung und rätzu einer Ethik der Bescheidenheit.Solschenizyn, Böll in der Eifel 1974

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Reiche in Moskau*, Wohnhaus in Workuta: „Finanzmagnaten mit Riesenvermögen, die Hälfte der Bevölkerung im Elend“

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griffe waren. Die Menschen sind fest davonüberzeugt, dass all das einem einzigen Zieldiente: Russland zu zerstören, ihm wenigs-tens möglichst großen Schaden zuzufügen.Der Mythos, wir hätten jetzt eine Demo-kratie, rührt in erster Linie daher, dass die-se Lüge unermüdlich wiederholt wordenist. Zumal im Westen hat man sehr gerndaran geglaubt. Wir haben höchstens de-mokratische Kulissen. SPIEGEL: Aber es finden doch Wahlen mitganz unterschiedlichen Parteien statt, unddas Parlament, die Duma, hält sich an dieGeschäftsordnung. Solschenizyn: Unsere Staatsduma ist keineVersammlung von Volksvertretern. Unterden Kommunisten hatten wir nur eine Par-tei und fanden das nicht gut. Jetzt dürfenein paar Männer, die sich in einer Küchezusammengetan und eine Partei gegrün-det haben, mit ihrer Liste an den Duma-Wahlen teilnehmen. Die Hälfte der Abge-ordneten kommt über solche Parteilisten indie Duma und dominiert dort die andereHälfte, nämlich jene Leute, die wirklich di-rekt gewählt worden sind. SPIEGEL: Das Parlament beschließt wenigs-tens Gesetze nach ausführlicher, kontro-verser Debatte.Solschenizyn: Die zwei Duma-Besetzungen,die wir bereits erlebt haben, erinnerten anSchmierentheater. Die wirklich nötigenGesetze wollten sie nicht verabschieden.Sie spielten gern unversöhnliche Opposi-

* Bei der Eröffnung einer Boutique.

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tion. Sobald aber Jelzin auf seinem Stand-punkt beharrte, gaben sie die Parole aus:„Die Duma muss gerettet werden“ – undgaben nach. Weder das Volk noch das Landstanden für die Duma im Vordergrund,sondern nur ihr eigenes Überleben. SPIEGEL: Welche wichtigen Gesetze bliebenauf der Strecke?Solschenizyn: Das wichtigste – über dieSelbstverwaltung der Gemeinden undKreise. Dort muss die Demokratie begin-nen. Aber damit wäre die Existenz der ei-fersüchtigen Duma in Frage gestellt. SPIEGEL: Dafür werden die Gouverneuredirekt gewählt.Solschenizyn: Auch das ist ein Betrug. Fürdie Gültigkeit einer Gouverneurswahlreicht eine Wahlbeteiligung von 25 Pro-zent. Wer also 13 Prozent auf sich verei-nigen kann – die Stimmen eines Achtelsder Wahlberechtigten –, gilt als vom gan-zen Volk gewählt. Dasselbe Wahlrecht aber existiert nicht für Landbezirke undGemeinden. Dort werden Beamte ein-gesetzt. SPIEGEL: Wie die Ministerpräsidenten, dieimmerhin das Parlament bestätigen muss.Solschenizyn: Jelzin hat mehrere Premiersals mögliche Nachfolger ausprobiert – un-ter nur einem Gesichtspunkt: Wer würdeseinen Clan am besten schützen. Am Endesetzte er dann auf Putin.SPIEGEL: Kann der nun das Land voran-bringen?Solschenizyn: Ich unterscheide zwischenPutin-Projekt und Putin-Persönlichkeit.Das Putin-Projekt stammt von Jelzin undseiner nächsten Umgebung, der korrum-pierten Bürokratie-Spitze, den Finanz-magnaten. Die eint alle eine große Angst:dass man ihnen wieder wegnimmt, was sieschnell zusammengeraubt haben, dass manihre Verbrechen untersucht und dass mansie verurteilt. SPIEGEL: Warum haben die sich für Putinentschieden?Solschenizyn: Sie gehen davon aus, dass erdie Unantastbarkeit ihrer Beute garantiert.Und Putins erste Amtshandlung als Inter-imspräsident war auch ein Erlass, dass Jel-zin und seine Familie sich niemals vor Ge-richt verantworten müssten. Unglaublich!In vielen Ländern werden sogar amtieren-de Präsidenten wegen Verbrechen vor Ge-richt gestellt. Bei uns ist der Ex-Präsidentunantastbar. So weit das verhängnisvollePutin-Projekt. Eine Horrorvision. SPIEGEL: Und die Person Putin?Solschenizyn: Die ist für uns in vielem nochein Rätsel. Wir wissen nicht, wie er sichverhält, wenn er Präsident geworden ist. Ersteht dann am Kreuzweg, den Willen sei-ner Sponsoren zu erfüllen und damit dasLand unweigerlich in den Ruin zu treibenund sich selbst mit; oder die Clan-Loyalitätzu brechen und eine eigene Politik zu ver-folgen. SPIEGEL: Welche politischen Schritte müsstePutin als erste unternehmen?

muss Gerechtigkeit walten. Das vor allemanderen erwartet das Volk.SPIEGEL: Und auch eine Stärkung derStaatsmacht, wie Putin angekündigt hat?Solschenizyn: Die scheint jetzt unvermeid-lich. Die kreativen Kräfte des Volkes, un-ter den Kommunisten unterdrückt undauch heute noch, können in diesem Landealles in Bewegung setzen. Millionen Russenstehen vor einer Mauer administrativerund bürokratischer Willkür, gegen die sienichts auszurichten vermögen. Sie könnensich nicht beschweren, kein Gericht ver-teidigt ihre Rechte. Alle Wege für die Ret-tung Russlands sind verbaut. Das Land zer-fällt langsam in einzelne Regionen. SPIEGEL: Setzen Sie noch auf die Selbst-verwaltung von unten?Solschenizyn: Sie bedingt eine starke Zen-tralmacht, die nicht zulässt, dass der Staatauseinander fällt. Und eine parallel dazuvon unten wachsende, nicht minder starkeSäule der Selbstverwaltung – von der Ge-meinde aufwärts. Diese beiden Macht-strukturen müssen einander kontrollieren:Die Zentrale hat auf strenge Befolgung derGesetze zu achten, die Selbstverwaltungs-gremien kontrollieren Offenheit und Bür-gernähe aller staatlichen Entscheidungenauf jeder Stufe – im Dorf, in der Kreis-stadt, im Gouvernement. Anders kann un-ser Land mit seinen riesigen Entfernun-gen, zahlreichen Völkern und Glaubens-bekenntnissen nicht überleben. SPIEGEL: In der Wirtschaft würde Selbst-verwaltung eine genossenschaftliche Struk-tur bedeuten …Solschenizyn: … die noch um die Jahrhun-dertwende in Russland als ein starkerMarktteilnehmer auftrat. Vielleicht hatman im hanseatischen Hamburg noch nichtvergessen, wie damals sibirische Butter inallen Läden zu haben war. SPIEGEL: Sind das dann nicht zwei Tenden-zen, von oben und von unten, die sich wi-dersprechen, in den Zielsetzungen sogarwechselseitig ausschließen und zum Kon-flikt führen müssen?Solschenizyn: Sie müssen sich ergänzen,wie in der kurzen Zeitspanne der Mos-kauer Rus des 14. Jahrhunderts. Die Ver-treter konnten dem Zaren ihren Willennicht aufzwingen, er musste aber gegenihre Meinung triftige Argumente anführen.Anders ging es nicht.SPIEGEL: Die internationale Macht des Ka-pitalismus ist inzwischen so groß, dass esnicht mehr möglich sein wird, in den Re-gionen Russlands eine selbstorganisierteWirtschaft zu entwickeln.Solschenizyn: Nicht weniger heftig als dieinternationale Kapitalmacht wird sich un-sere herrschende Bürokratie dagegen auf-lehnen. Eine Demokratie setzt voraus, dassder Mensch als Bürger und als Wirt-schaftssubjekt unabhängig ist, dass er inder Lage ist, über Vereinigungen mitGleichgesinnten Einfluss zu nehmen aufsein tägliches wie auf sein historisches

Solschenizyn: Das hängt davon ab, wie fest er an den Auftrag der Jelzin-Familiegebunden ist. Ich hoffe, dass er als Mannvon unbestrittener Dynamik sich mit derRolle einer Marionette nicht zufrieden gibt. Er wird kaum als Vollstrecker einesfremden Willens missbraucht werdenwollen. Seine ersten Schritte, wenn er am26. März gewählt wird, können offenbaren,wie er sein Erbe beurteilt, ob er erkennt,

dass alle Bereiche unseres Lebens am Bo-den liegen. SPIEGEL: Alles auf einmal wird ein PräsidentPutin nicht angehen können …Solschenizyn: Es wäre ein wichtiges Signalfür die Gesellschaft, wenn Verbrecher undkorrupte Amtspersonen die gerechte Stra-fe ereilen würde. Statt zu versichern, dassder Ex-Präsident für immer straffrei bleibt,

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Staatschef Gorbatschow vor dem Kreml (1989)„Äußerst unentschlossen“

Staatschef Jelzin, Tochter Tatjana (1999)„Irrsinnige Politik“

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Staatschef Putin (r.) in Wolgograd„In vielem noch ein Rätsel“

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Recht der Ukraine an, ihre eigene Spracheund Kultur zu entwickeln. Aber wir sinddurch Millionen von persönlichen Schick-salen miteinander verbunden. 63 Prozent der Einwohner nennen heuteRussisch ihre Muttersprache. Mein Gefühlim Blick auf die Trennung zwischenRussland und der Ukraine ist von dergleichen Art wie der Schmerz über dieSpaltung des deutschen Volkes, die sehrlange währte.SPIEGEL: Demnach sind Ukrainer und Rus-sen ein Volk?Solschenizyn: Hier sollte das Prinzip derVerwandtschaft von Kulturen und Natio-nen gelten. Russland ist aber so groß, dasswir nicht an eine Expansion oder Ausdeh-nung von Grenzen denken müssen, son-dern an die Erschließung unseres Raumes.Riesige Gebiete, etwa Sibirien, sind unbe-völkert geblieben.SPIEGEL: Aus dem ressourcenreichen Nor-den flüchten die Leute …Solschenizyn: … weil die heutige Wirt-schaftslage ihnen dort keine menschen-würdigen Lebensverhältnisse mehr erlaubt.

SPIEGEL: Was soll mit Tschetschenien ge-schehen?Solschenizyn: Meine Meinung zu Tsche-tschenien habe ich Jelzin Anfang 1992 aus-führlich vorgetragen. Ich habe ihm damalsgesagt: Lassen Sie die Tschetschenen un-abhängig werden. Wenn sie es wollen, sol-len sie es versuchen. Sie kommen von al-lein zurück.SPIEGEL: Stattdessen kam 1994 der ersteFeldzug …Solschenizyn: … in dem nicht nur die Geg-ner, sondern auch die eigenen Kräfte nichtgeschont wurden. Der schändliche Kriegendete mit einer schändlichen Kapitulation.Danach hätten die Tschetschenen ihrenStaat aufbauen können. Stattdessen abersammelten sich dort in einem Netz vonAusbildungslagern fremde muslimischeKämpfer mit ausländischen Waffen, besserals jene der russischen Armee. Tsche-tschenien wuchs zum Weltproblem. Zu-sammenstöße zwischen radikalen Islamis-

Schicksal. Lässt man die Machtausübungvon unten nicht zu, bleiben wir ständig inder Hand der Bürokratie und weniger Oligarchen. Die zurückliegenden 15 Jahrezeigen das deutlich.SPIEGEL: Mehr örtliche Selbstverwaltungbedeutet auch mehr Befugnisse der Gou-vernements. Wächst da nicht für Russlanddie Gefahr eines Auseinanderfallens?Solschenizyn: Diese Gefahr ist gegeben, undzwar durch Jelzin, der einen Artikel in sei-ner eigenen Verfassung ignorierte, nachdem für die Beziehungen zwischen der Zen-trale und den Regionen gleiche Regeln gel-ten. Mit einzelnen Gouvernements wurdenVerträge geschlossen, nach denen sie zumTeil Recht auf eine eigene Armee und eige-ne Oberbefehlshaber erhielten. Unvergessenist Jelzins Wort: „Nehmt euch so viel Sou-veränität, wie ihr schlucken könnt.“ Aufdiese Weise haben Tatarien und Baschkiriendas Recht auf internationale Beziehungenerhalten, Steuervergünstigungen, eigeneVerfassungen. Es wird alles dafür getan, dieFernost-Region abzustoßen – an China oderJapan. Die Selbstverwaltung würde dagegenRussland nicht auseinander reißen.Die nationale Staatseinheit als Ideemuss durch die Machtausübung vonunten gerettet werden.SPIEGEL: Was ist denn die nationaleMission Russlands?Solschenizyn: Ganz einfach – das rus-sische Volk zu retten. Wir dürfennicht zulassen, dass die Russen alsNation aussterben. Unser Abstiegwährte mehr als 70 Jahre unter denKommunisten und auch die 10 Jahredanach. Der Aufstieg ist immerschwieriger, er wird mindestens 100Jahre in Anspruch nehmen. Die de-mografischen Tendenzen in unseremLand sind Furcht erregend. Die Na-tion verliert jedes Jahr beinahe eineMillion Menschen, so stark überwiegtdie Sterblichkeitsquote die Gebur-tenzahl. Solche Verluste erlebt eine Nationsonst nur im Krieg.SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, wo sinddie geografischen Grenzen Russlands?Solschenizyn: Mittelasien habe ich schon1990 für eine Region gehalten, die sich un-abhängig von Russland entwickeln sollte.Auch dem transkaukasischen Raum mussdiese Möglichkeit gegeben werden. Ich hal-te es für einen Fehler des imperialen Russ-land, dass man den Hilferufen von Geor-giern und Armeniern, sie gegen die Türkenzu schützen, durch Einverleibung dieserVölker in den russischen Staat entsprochenhatte. Auch die baltischen Völker müssenihren eigenen Weg gehen dürfen. Die Tren-nung von Weißrussland dagegen empfandich als einen schmerzhaften Schlag.SPIEGEL: Jetzt will es wieder einen Zusam-menschluss mit Russland. Die Gewissens-frage aber ist die selbständige Ukraine.Solschenizyn: Auch diese Abtrennung tutmir weh. Ich erkenne voll und ganz das

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Eheleute Solschenizyn: „Zu viele Freiheiten“

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ten und Kräften der so genannten erstenWelt verfolgen wir nun über Jahrzehnte …SPIEGEL: … der Konflikt im Nahen Osten,die Anschläge gegen Einrichtungen derUSA, die amerikanischen Vergeltungs-schläge in Afghanistan, im Sudan.Solschenizyn: Das ist eine Bedrohung fürdas 21. Jahrhundert. Infolge der irrsinnigenPolitik der Jelzin-Administration entfaltetesich dieser Konflikt vor unserer Tür. Für dasProblem ist bis heute keine Lösung in Sicht.Das unabhängige Tschetschenien wäre jetztohne Russland nicht mehr existenzfähig.Man wird dort Geld hineinpumpen müs-sen, Regimenter stationieren und ständigenPartisanen-Angriffen ausgesetzt sein.SPIEGEL: Sie haben einmal geschrieben, imGulag hätten sich die tschetschenischenGefangenen als die entschlos-sensten und unversöhnlichsten er-wiesen.Solschenizyn: Sie sind hervorra-gende Krieger, ein stolzes, un-beugsames Volk, mit dem schondas harte Sowjetregime schwereProbleme hatte, die es durch De-portation des ganzen Volkes zulösen suchte.SPIEGEL: Alexander Issajewitsch,mit dem Ende des Kommunismussind dessen Probleme nicht be-wältigt. Man dachte zum Beispielauch, dass im Lande nun einegroße, von ihren Fesseln befreitegeistige Produktivität ausbricht.Ist unser Eindruck falsch, dass dies nichtstattgefunden hat?Solschenizyn: Er ist nicht falsch. Es kam zueiner Explosion der Kriminalität. Die Restevon Moral wurden weiter entwertet odervernichtet. Viele Nachwuchsschriftstellerwarfen geistige Werte über Bord, fühltensich weder für das Land noch für ihre Wer-ke verantwortlich. Doch der Weg zur Demokratie brauchtZeit und Geduld – das gilt für Intellektuellewie Politiker. Ein Auto kann von einemhohen Berg auch nicht mit einem Sprungherunterkommen, sondern muss lange Ser-

Deutsch gelesen – was immer mir in dieHände kam. Es war ein Genuss für mich.Der Krieg gegen das faschistische Deutsch-land hat bei mir keine negativen Gefühlegegenüber dem deutschen Volk ausgelöst.Frau Solschenizyna (tritt hinzu): Er hat jaauch einen absolut deutschen Charakter.SPIEGEL: Was ist ein deutscher Charakter?Natalja Solschenizyna: Was er macht, machter gründlich, überlegt und führt es zu Ende.Das Einzige, was bei ihm nicht so deutschist: Er gewährt seiner Ehefrau wahrschein-lich zu viele Rechte und Freiheiten.Solschenizyn (lacht): Das können wir jakorrigieren.SPIEGEL: Sie sehen Deutschland als ein Bin-deglied zwischen dem Westen Europas unddem östlichen Teil des Kontinents?Solschenizyn: Hunderte, wenn nicht tau-sende Deutsche zeichneten sich im Zaren-reich als äußerst effektive und treue Dienerdes russischen Staates aus. Sie haben auchRusslands Kultur begeistert und ehrlichaufgenommen. Ich hoffe sehr, dassDeutschland dieser Rolle wieder gerechtwerden kann, uns mit dem Rest der west-lichen Welt zu verbinden. Es verletzt michschon, wenn manche Stimmen in der deut-schen Presse jetzt sehr Russland-feindlichklingen, speziell im Zusammenhang mitTschetschenien.SPIEGEL: Verletzt Sie die deutsche Politik?Solschenizyn: Warum hatte Deutschland esso eilig, Kroatien anzuerkennen? Woherkommt diese überhastete Unterstützungfür die Nato-Aktionen im Kosovo sogargegen die eigene Verfassung, die eine Be-teiligung an militärischen Aktionen ohne

Uno-Mandat verbietet? UnterUmgehung der Uno hätte mansich sowieso nicht einschaltendürfen. Oder man hätte sagenmüssen: Von nun an gilt eine an-dere Weltordnung. SPIEGEL: Alexander Issajewitsch,arbeiten Sie jetzt, zu Beginn Ihresneunten Lebensjahrzehnts, nochan einem neuen Werk?Solschenizyn: In den fünf Jahren,die ich jetzt wieder in Russlandbin, habe ich mehr als zehn No-vellen verfasst, in denen ich überden Bürgerkrieg, die zwanzigerund dreißiger Jahre und auchüber die Gegenwart schreibe. Ich

halte es nun für meine Pflicht, Ordnung inmeinen Dokumenten und Unterlagen zuschaffen, die ich in den Jahrzehnten mei-ner Beschäftigung mit Russlands Ge-schichte gesammelt habe. SPIEGEL: Sie verspüren also keinen Drang,sich zur Ruhe zu setzen?Solschenizyn: Es muss an meinem Naturellliegen. Ich kann alle Aufregungen, Freudwie Leid, recht rasch überwinden und oftschon wenige Stunden danach wieder kon-zentriert arbeiten.SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, wir dan-ken Ihnen für dieses Gespräch.

pentinen fahren. Man wollte ein demokra-tisches Russland über Nacht, ohne eine Pe-riode des Übergangs, des Lernens und derGewöhnung. Auch in Amerika hieß es: De-mokratie noch heute, und der besonneneSolschenizyn sei ein Feind der Demokra-tie. Jetzt zahlen wir dafür, unseren großenSprung versucht zu haben.SPIEGEL: Verfolgen Sie die Entwicklungenin der russischen Literatur der Gegenwart?Solschenizyn: Ich habe eine Stiftung ins Le-ben gerufen, die Schriftsteller auszeichnet,welche sich dem allgemeinen moralischenVerfall und der kriminellen Explosion nichtbeugen. Zum Teil sind es bescheidene Leu-te, die auch schon in der Sowjetzeit unter-drückt oder unverdientermaßen in denSchatten geschoben wurden. Wir versu-

chen mit dem von uns ausgelobten Preis,die Modeströmungen zu meiden. SPIEGEL: Vor einem Vierteljahrhundertwurden Sie nach Deutschland verbanntund wohnten bei Ihrem Freund HeinrichBöll. Haben Sie seit damals eine engereBeziehung zur deutschen Kultur?Solschenizyn: Die ist viel älter, schon alsSchulkind war ich von der deutschen Lite-ratur und der deutschen Sprache begeis-tert, ich habe zwei Sommer lang Goethe,Schiller, Heine, deutsche Volksmärchen auf

* Fritjof Meyer, Jörg. R. Mettke, Martin Doerry in Moskau.

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Russische Raketen in Tschetschenien: „Eine Bedrohung für das 21. Jahrhundert“

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Solschenizyn, SPIEGEL-Redakteure*: „Goethe auf Deutsch gelesen“

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Marschall Schukow bei der Siegesparade in Moskau (1945): System nicht begriffen?

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Schriftsteller SolschenizynGeschichtsschreibung, fiktional

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Z e i t g e s c h i c h t e

„Feuerwehrmanns“ RettungRudolf Augstein über das neue Buch „Heldenleben“ von Alexander Solschenizyn

em Alexander Solschenizyn wirdman auch jetzt noch nicht vorwer-D fen können, daß er den Literatur-

Nobelpreis 1970 für gar nichts bekom-men hat. Niemand wie er versteht es, et-wa den Bürgerkrieg im Süden des So-wjetstaates 1920/1921 so zu beschreiben,als sei er selbst dabeigewesen wie derreitende Dichter Isaak Babel. Natürlichist er nicht auf seiten der Sowjetmacht,sondern gegen sie. Neu herausgekom-men ist von ihm ein Buch unter demObertitel „Heldenleben“ mit zwei neu-en Erzählungen*.Hier zeigt sich seine Meisterschaft,

die der Klappentext ihm zudiktiert, abernicht seine „Meisterschaft fiktionalerGeschichtsschreibung“.Lesenswert sind beide Geschichten.

Merkwürdig nur, daß „Ein Heldenle-ben“ sich nicht auf den antikommunisti-schen Philanthropen Ektow bezieht,sondern einzig auf den erfolgreichstenLandsoldaten des letzten großen Krie-

* Alexander Solschenizyn: „Heldenleben. ZweiErzählungen“. Piper Verlag, München; 160 Sei-ten; 36 Mark.

ges, den Bauernjungen Georgij („Jor-ka“) Schukow, späteren Kriegsheldenund Verteidigungsminister der Sowjet-union. Als gelernter „Kürschnermei-ster“ ließ er sich in seinem Dorf mit At-laskrawatte fotografieren.

Nun hatte er wie so viele andere amBürgerkrieg auf seiten der Roten Ar-mee teilgenommen, ein erstklassigerReiter und Kommunist, ein Komman-deur, wie er im Buche hätte stehen kön-nen. Hier wird Solschenizyn ziemlichkarg. Er weiß nur zu berichten, daß Jor-ka „verrohte“.Verroht – ja, das waren sie wohl alle,

die in der Blutmühle Stalins dann dochnoch ihr Leben lassen mußten. Jedervon ihnen hätte nach westbürgerlichenMaßstäben verdient, gehenkt zu wer-den, auch Jorka Schukow.Die Sowjetmacht brauchte ehrgeizige

Militärs. Was hätte der Reiterkomman-deur Schukow, dessen Vorbild der arro-gante Armeekommandeur Michail Tu-chatschewski war, anderes werden wol-len? Jedenfalls wäre er als „Kürschner-meister“ so hoch nicht gestiegen.Wenn man an dem „Heldenleben“

des Alexander Solschenizyn etwas be-anstanden kann, dann eben das, wasder Klappentext fiktionale Geschichts-schreibung nennt. Wie immer weiß manbei Solschenizyn nicht, ob er mit „wir“seinen Helden, sich selbst und seinen

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Helden oder die gesamte Sowjetmachtmeint.Sein größtes Manko war immer, daß

er als Satiriker großartig, als Epikernicht ganz so toll, aber als Geschichts-schreiber nur mäßig war. Entwederwar der große General Schukow naiv(dafür gibt es Hinweise), oder seinLobredner Solschenizyn ist es. Ernennt uns ja keine Quellen.Sollte der erst sehr spät zum Mar-

schall ernannte Schukow das System,in dem er groß wurde, so gar nicht be-griffen haben? Dank vom GenossenStalin? Das war doch wohl zuviel ver-langt. Dank vom Genossen Chru-schtschow, dem er zweimal die Machterhalten hatte? Ganz gewiß auch zuvielerwartet. Sollte er nicht gewußt haben,daß es im Sowjetsystem für einen ho-hen Militär nur einen wirklichen Ver-dacht geben konnte: den, ein „Bona-parte“ zu werden, ein „Säbel“? Wußteer nicht, daß recht viele Leute in ihmeinen „Säbel“ sahen, der das gesamteSystem niedermachen sollte?Soviel Naivität traute ihm denn doch

nur Solschenizyn zu:

Schukow vertiefte sich sogar in denGedanken: Vielleicht wäre es richtig?Die ganze Macht lag bei ihm; seinemilitärische Findigkeit hatte er nichteingebüßt; und „jene“ allesamt zustürzen war, operativ gesehen, nichtschwierig.

Gemeint ist hier, nach Stalins Tod,vielmehr „der freche Hauptschwätzer“,der „inzwischen selbst mit Pauken undTrompeten fortgejagt worden“ war: Ni-kita Sergejewitsch Chruschtschow. Un-versehens geraten wir auf die Datschades Memoirenschreibers Schukow.Es war schon so, Marschall Schukow

hatte im Auftrag Chruschtschows den„Marschall“ Berija aus dem Politbüroheraus mit eigener Armeskraft verhaf-tet und nach draußen geschafft. Eineäußerst gewagte Operation. Er wurdeChruschtschows Verteidigungsminister,scheint aber nicht begriffen zu haben(oder hat Solschenizyn nicht begrif-fen?), daß er nun auch in den AugenChruschtschows ein potentieller „Bo-napartist“ geworden war, ein „Säbel“,dessen man sich unbedingt entledigenmußte. Schließlich, war Nikita nichtein genauso überzeugter Kommunistwie Jorka? Mußten sie nicht beide wis-sen, daß es nichts Schlimmeres gab alseinen „Säbel“, der das gesamte kom-munistische Regime beiseite fegen wür-de?Es hilft nichts, hier muß man Sol-

schenizyn weiter befragen. Wo ist seinZeuge dafür, daß Schukow dem Gene-ralissimus Stalin, dessen Stellvertreterer war, hat verbieten lassen, ihn mittenin der Nacht anzurufen? Schließlichkönne der andere bis zwei Uhr mittags

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Reiterstandbild Schukows in Moskau*: Kein „Bonaparte“

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schlafen, er hingegen habe morgens zuarbeiten.Wo ist sein Zeuge dafür: Es sind recht

romanhafte Stellen a la „Ein Kampf umRom“ in dieser Heldenerzählung. Molo-tow, der zivile Stellvertreter des Regie-rungschefs, soll Schukow mit Erschie-ßung gedroht haben. Schon unglaub-würdig. Das soll während der Schlachtum Moskau geschehen sein, und Schu-kow habe Molotow eine „freche Ant-wort“ zukommen lassen.Schukow und Molotow waren die ein-

zigen Überlebenden, die Stalin ins Ge-sicht hinein widersprochen haben. Man-che wunderten sich, warum der Genera-lissimus den Jorka Schukow, der nochnicht einmal Marschall ge-worden war, zu seinemStellvertreter ernannt ha-be. Er war seine „Feuer-wehr“ an allen Fronten.Am 24. Juni 1945 führte erauf weißem Roß die Sie-gesparade auf dem RotenPlatz an. Ein klares Zei-chen von Bonapartismus,denn Stalin selbst, 1,62Meter groß, machte zuPferde keine gute Figur.Kann man höher aufstei-

gen? Die Sowjetarmeemußte erneuert werden.Was immer Schukow sichausgerechnet haben mag,er kannte die frommeDenkart Stalins immernoch nicht. Wie konnteStalin einen potentiellen„Bonaparte“ auch noch indie zum Absäbeln geeigne-te Stellung hieven?Stalin brauchte den Sieg

und war sich mit Schukowdarin einig, daß menschli-che Verluste keine Rollespielen dürften. Den Siegeraber konnte der Generalis-simus nicht gebrauchen.Schon Ende 1945 hatte erSchukow im Kreml vorgeworfen, erschreibe alle Siege sich zu, eine Eigen-schaft, zu der hohe Militärs neigen.Schukow antwortete etwas einfältig: Al-le habe er sich niemals zugeschrieben.Hier wird Solschenizyn ein wenig

ignorant. Er tut so, als hätte Stalin sei-nen Obergeneral gerettet und ge-stützt.In Wahrheit lehnte Stalin sich mehr

als je bekannt aus dem Fenster, um ihnfertigzumachen. 1946 berief er die füh-renden Generäle zur Sitzung des Ober-sten Militärrates zusammen. Bereitsverhaftete Generäle warfen SchukowGrobheit, Eigensinn, Egoismus undähnliche „moralische Fehler“ vor – dahätte man denn den Generalissimusgleich miterschießen müssen. Schukowwolle alles für sich und anderen ihren

Ruhm nicht lassen. Der von Schukow,natürlich mit Stalins Wissen, abgesetzteGeneral Golikow forderte den geliebtenFührer auf, den außer Rand und Bandgeratenen Marschall wieder ins Geschirrzu nehmen.Hier, und nur hier, war für den gro-

ßen und geliebten Führer die Gelegen-heit, Schukow zwar abzubürsten, aberzu retten. Er tat nichts dergleichen. Erhielt eine knappe Rede, aus der hervor-ging, daß Schukow ein Verräter sei, ein„getarnter Feind“, der verhaftet undverurteilt werden müsse.Stalins Kumpane Berija und Kagano-

witsch gossen „Öl ins Feuer“, wie sichMarschall Iwan Konew erinnerte.

Iwan Konew kommt bei Solschenizynnicht wirklich vor.Aber Konstantin Simonow, einer der

Populären der sowjetischen Literatur,hat Konews Äußerungen festgehalten:„Schukow saß erschüttert und blaß da.“Es gab bis zu dem Zeitpunkt keine öf-fentliche Anklage Stalins, die nicht ei-nes bedeutet hätte: Genickschuß. Ko-new und Schukow waren von Stalin,weil sie einander nicht mochten, alsKonkurrenten ausersehen worden, umBerlin zu erobern. Konew, nicht geradeSchukows Freund, trat aber für den Ka-

** Ich war damals als Artillerist vor Ort, aber nichtdrinnen, sondern draußen. Unsere Batterie hatzehn halbtoten Menschen das Leben gerettet.

* Mit Präsident Jelzin (M.) bei der Enthüllung am8. Mai 1995 zum 50. Jahrestag des Siegs überdie Deutschen.

meraden ein. Bei allen Fehlern Schu-kows, die er einräumte, will er gesagthaben:

Er ist der Regierung ergeben, ist sei-nem Land ergeben. Ein Mann, der sei-nem Land nicht ergeben ist, wäre nichtunter Feuer im Krieg herumgekrochen,hätte nicht sein Leben riskiert, um IhreAnweisungen zu erfüllen, das sagte ichan Stalin gewandt. Und am Ende wie-derholte ich noch mal, daß ich zutiefstan Schukows Ehrlichkeit glaube.

Wir kennen keinen Fall, wo Stalinsich derart festgelegt hatte und wo er je-de Rücksicht fallenließ. Es hatte sichnicht nur der Marschall Konew, sondern

auch die Marschälle Rybal-ko, Rokossowski und Was-silewski hatten sich mit un-terschiedlichem Tempera-ment für Schukow einge-setzt. Wieder kommt Ko-new bei Solschenizyn nichtvor, obwohl Stalin ihn di-rekt ansprach: „Aber wis-sen Sie, daß Schukow ver-sucht hat, sich Ihren Siegbei Korssun-Schewtschen-kowski (Kessel von Tscher-kassy**) zuzuschreiben?“Konew: „Weiß ich nicht,habe ich nicht gehört. DieGeschichte wird alles an sei-nen Platz stellen.“Es gab einen direkten

Schreiwechsel zwischendem Marschall der Panzer-truppen Pawel Ribalkound dem Mitglied des Polit-büros und Marschall Law-renti Berija. Ribalko: „Eswird Zeit, nicht mehr Aus-sagen Glauben zu schen-ken, die in den Gefängnis-sen gewaltsam erpreßtwurden.“ Berija nannteSchukow einen „Feigling“.Das war zuviel. Ribalko ex-plodierte.

Der in diesem Fall wirklich naive Sol-schenizyn schreibt ganz im Ernst, die Ge-neräle hätten Stalin überzeugt, und derhabe Schukow vor Berijas Repressalienbeschützt. Als Geschichtenschreiber, alsErzähler bleibt Solschenizyn, was er war.Geschichte aber sollte er nicht schreiben:„Stalin griff rettend ein.“Eine Biographie über Stalin aus der Fe-

der Solschenizyns sollte man nicht mit al-lergrößter Neugier erwarten, wenn sieaus solchen Prämissen heraus geschrie-ben würde. Er ist ein Satiriker, er ist einsubkutan ironischer Erzähler. Ein Histo-riker muß er ja nicht sein.Kann ein Nicht-Kommunist, ein Anti-

Kommunist über den ErzkommunistenMarschall Schukow schreiben? Man soll-te denken, ja. Diesmal aber ist die Rech-nung nicht aufgegangen. �

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Heimkehrer Solschenizyn: In einem gewandelten Land

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„IHM MUSS MAN ZUHÖREN“Rußlands Leidensweg im 20. Jahrhundert wurde zu seiner persönlichen Passion. Alexander Solschenizyn, dessen„Archipel Gulag“ die Schrecken der kommunistischen Diktatur enthüllte, will nach der Rückkehr ausdem Exil sein Volk vor neuen Irrtümern bewahren. Kann der unerbittliche Prophet Rußland den Weg weisen?

iemand trat ihm zur Seite, ganz al-lein forderte er die geballte So-Nwjetmacht samt Parteiapparat, Ge-

fängnissen und Raketen heraus – nurmit seinem geschriebenen Wort. Erwurde verfolgt und verjagt, aber er sieg-te.

Nach 20 Jahren Exil kehrte Alexan-der Issajewitsch Solschenizyn, 75, imMai heim. Er kam in ein gewandeltesLand: Über dem Kreml weht nicht mehrdie rote Fahne, in der alten Zarenburgherrscht ein reuiger Ex-Kommunist, ob-wohl Hammer und Sichel als Wand-schmuck fortdauern. Das Denkmal desGeheimpolizeigründers Felix Dserschin-ski ist geschleift, Leningrad heißt längstwieder St. Petersburg.

Aber in den meisten Verwaltungenund Betrieben sitzen weiterhin Funktio-näre aus der Sowjetzeit. Im Parlament,der Duma, sind die Demokraten in derMinderheit. Auf den Straßen tummelnsich Händler, die Ramsch und Warenaus dem Ausland feilbieten. Mafiosikontrollieren den Kommerz, erpressen,rauben und morden. Die Profiteure hor-ten ihre Dollar-Millionen dort, wo derHeimkehrer Solschenizyn gerade her-kommt – im Westen.

Das ist noch nicht das befreite Ruß-land, für das er sein Leben einsetzte.Solschenizyn hat nun seinen zweitenKampf begonnen – nicht mehr gegen dieTyrannei, sondern gegen die moralischeVerderbnis in seiner Heimat.

105 Bände an Spitzelberichten undVernehmungsprotokollen hatte die Ge-heimpolizei KGB über den Delinquen-ten und Dissidenten archiviert. Als Rot-armist machte er den ganzen Krieg mit,als Häftling stand er acht Jahre Lagerdurch und überlebte eine Krebserkran-kung.

Für sein in der Heimat verbotenesWerk, Bücher wie „Krebsstation“ und„Der erste Kreis der Hölle“, die nur alsUntergrundschriften in Rußland kur-sierten, bekam er 1970 den Nobelpreis,den er nicht selbst in Stockholm in Emp-fang nehmen durfte. Unter Breschnewaus seiner Heimat vertrieben, korrigier-te er mit dem dreibändigen „Archipel

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42/1970 1-2/1974 8/1974SPIEGEL-Titel über den Nobelpreisträger mit Erstveröffentlichung seiner Werke: „Immer der Macht die Wahrheit gesagt“

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Gulag“ das Kommunismus-Bild des We-stens. In Amerika, wo er Abgeschieden-heit fand, arbeitete er am „Roten Rad“,seinem Riesenwerk über Rußlandsschrecklichen Irrweg in die Diktatur derBolschewiken.

In Moskau hat ihm die Regierung ei-ne Datscha zur Verfügung gestellt, um-geben von Wald; dort wohnte einmalder Marschall Tuchatschewski, den Sta-lin 1937 erschießen ließ.

Während seiner Rückkehr über Wla-diwostok, Rußlands Posten im FernenOsten, machte Solschenizyn auf einerzwei Monate langen Bahnreise über8500 Kilometer nach Moskau allerorts

Station und verkündete dem geschlage-nen Vaterland seine Heilsbotschaften.Ein so großer Literat auf so großer poli-tischer Missionsfahrt – das hat es nochnicht gegeben.

In sein letztes Gefecht zieht er wiederganz allein: Von keiner Partei getragen,ohne die Gunst der Mächtigen tritt eran, den Russen mit ihrer epidemischenLust an der Anarchie eine andere Rich-tung zu weisen.

Nur Gaunern und Schiebern hättendie Reformen Freiheit gebracht, Ruß-land aber sei in die Verelendung ge-stürzt, und die Menschen hätten das Ar-beiten verlernt, lautete sein erster Revi-sionsbericht über die vorgefundenenZustände. Gorbatschow? Der habe nureine „leichte Modifizierung des kommu-nistischen Systems“ angestrebt. Glas-nost? Das habe nicht die Freiheit desWortes bedeutet, sondern „die Freiheitder Schamlosigkeit und des Lasters“.Jelzin? Noch gebe es keine Demokratiein Rußland.

Der gestrenge Meister beklagte dieFlut überflüssiger, geistloser Informati-on: „Jenseits einer gewissen Grenzemuß man sich vor Informationen schüt-zen.“ Der Eiserne Vorhang zwischenOst und West habe die Russen leidernicht vor der „Jauche der Massen- undPopkultur“ aus dem Westen bewahrt.

Der große Antikommunist – ein Kün-der westlicher Werte ist er nicht. Im-merhin, den Deutschen gewinnt er Posi-tives ab: Er hat seine Landsleute zur Bu-ße aufgerufen, und zwar nach dem Vor-bild der früheren Feinde, die 30 Jahrelang die NS-Greuel bereut hätten: „Manhat sie verurteilt, sie haben sich selbstgestellt, die Stirn auf den Boden ge-schlagen und um Vergebung gebeten.“

Er selbst hat die eigene Vergangen-heit bewältigt und dabei Gerechtigkeitwalten lassen. Überzeugter Sowjet-mensch bis zu seinem 27. Lebensjahr,befindet Solschenizyn heute, daß jeneProbleme fortbestehen, die der Kom-

munismus ein für allemal zu lösen ver-sprochen hatte: „die unverschämte Aus-nutzung gesellschaftlicher Vorteile unddie ungezügelte Macht des Geldes“.Den National-Sozialisten WladimirSchirinowski nannte der Russisch-Na-tionale Solschenizyn „die wohl übelsteKarikatur des russischen Patriotismus“.

Eine Erneuerung ihres Landes an denWurzeln kündigte der einsame Predigerseinen Zuhörern aus den Kleinstädtenund Kolchosen an: „Die Provinz“ werdeRußland retten, „ohne das Dorf gehenwir unter“. Er protokollierte die „Auf-spaltung der Russen gewissermaßen inzwei Nationen: in ein riesiges ländlich-provinzielles Massiv und in die zahlen-mäßig geringe Bevölkerung der Metro-polen, die stark von der westlichen Kul-tur beeinflußt ist und ganz andersdenkt“.

Solschenizyn hat ein umfassendesProgramm. Er fordert ein neues Be-wußtsein seiner Landsleute, das ebenso-gut für den Westen tauge – Entsagung,nicht das materielle Befinden, Moral,nicht die Wirtschaft veränderten dieWelt. Dennoch präsentiert er auch öko-nomische Rezepte.

Rußland taumelt in den Niedergang:Die riesige, weithin noch kollektivierteLandwirtschaft, die nur ein Drittel ver-gleichbarer westlicher Erträge auf den

Markt bringt, vermag das Volk noch im-mer nicht zu ernähren.

Die Inflation drückt die Massenein-kommen oftmals auf das Existenzmini-mum – auch wenn die Geldentwertungvon 21 Prozent im Januar auf 4 Prozentmonatlich im Sommer sank; derzeitsteigt sie wieder an. Denn die Regierungfinanziert die Beschäftigung in den un-rentablen Mammutkonzernen unbeirrtdurch willkürliches Gelddrucken, umdie Massenarbeitslosigkeit zu verhüllen.

Das Land lebt von den Rohstoffen,über die Rußland so reichlich verfügt.Bei Zentralbank und Geschäftsbankenhaben sich seit vorigem Jahr 22 Milliar-

den Dollar aus Exportüberschüssen an-gesammelt, schätzungsweise ebensovielhaben Firmen auf Auslandskonten depo-niert.

Während die Großbetriebe weiterminderwertige Konsumwaren herstel-len, die auch im Inland nicht mehr ver-käuflich sind, erbringt die neue Privat-wirtschaft – von Steuer und Statistikkaum erfaßt – bereits ein Drittel des Sozi-alprodukts. Gewinner ist erst einmal dieneue Bourgeoisie.

Dies mag die Stunde sein, in der Ruß-land weniger einen Literaten und Pro-pheten braucht als Unternehmer undHandelsleute, denen es nicht um erhabe-ne Worte, sondern um die alltäglicheKleinarbeit der Verhandlungen, Kom-promisse und der tausend kleinen Schrit-te geht. Oder braucht es erst recht einenWegweiser, weil der Verlust aller Wertedas Volk erneut auf gefährliche Irrwegedrängt, wie sie etwa der Verführer Schiri-nowski vorgaukelt?

Hört das Land auf die Stimme des Al-ten aus den Wäldern? Laut Umfrage wis-sen fast alle Bewohner der Hauptstadt,was Solschenizyn im Sinn hat. In 26,5 Mil-lionen Exemplaren haben 1990 zwei Re-daktionen sein Manifest für eine Wieder-auferstehung Rußlands verbreitet.

In der allgemeinen Ratlosigkeit undEntmutigung wächst der Ruf nach geisti-

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Solschenizyn, Augstein in Moskau: „Die Berührung mit meiner Muttererde spendet mir neue Kräfte“

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ger Führung. Manche dienen Solscheni-zyn schon für die Präsidentschaftswah-len 1996 ihren Beistand an. LiteratJewtuschenko sieht im Dichterkollegeneine Ein-Mann-Partei.

„Ihm muß man zuhören – und dassehr aufmerksam“, warb die Iswestijavor wenigen Tagen für Solschenizyn:„Uns, der Mehrheit, gegenüber hat ernämlich den ungeheuren Vorzug, daß erder Macht immer die Wahrheit gesagthat und dafür von ihr gehaßt wurde.“

„Wie ein Sekretär des Volkes“SPIEGEL-Gespräch mit Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn über Rußlands Weg aus der Krise

SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, im In-dian Summer vor sieben Jahren habenwir mit Ihnen in Vermont einen schönenTag verbracht, in einem märchenhaftenHaus mitten im Wald, wo Sie Ihren lite-rarischen Arbeiten nachgegangen sind.Was hat Sie zurückgetrieben nach Mos-kau, wo Raub und Trug, Mord und Tot-schlag herrschen?Solschenizyn: Ich wollte immer nachRußland zurück, sobald nur alle Hinder-nisse für meine Rückkehr aus dem We-ge geräumt sein würden. Die heutigeschwere, wirklich sehr schwere Krise in

Das Gespräch führten die Redakteure Rudolf Aug-stein, Jörg R. Mettke und Fritjof Meyer.

Das Massenblatt hält sein Auftretenvor der Duma für ebenso bedeutsam wieseine Nobelpreisrede, die er nach seinerAusweisung 1974 nachgeholt hatte:„Beinahe jeder Abgeordnete, aus wel-chem politischen Lager auch immer, fin-det in der integren und zugleich wider-sprüchlichen Persönlichkeit Solscheni-zyns etwas, was ihn zu einem ideellenVerbündeten macht.“

In ihrer monatlichen Liste der hun-dert führenden Politiker Rußlands orte-

Rußland hat meine Heimkehr sehr be-schleunigt und erforderlich gemacht.SPIEGEL: Bei unserem Treffen 1987 warGorbatschow zwei Jahre im Amt. Wärees nicht klüger gewesen, damals schonzurückzukehren und auf den Weg Ruß-lands Einfluß zu nehmen? Jetzt ist dieRichtung womöglich schon entschieden.Sie könnten zu spät gekommen sein.Solschenizyn: Zunächst einmal ist erstvor drei Jahren die formelle Vorausset-zung für meine Rückkehr geschaffenworden, indem die Anklage, ich hätteVaterlandsverrat begangen, aufgehobenwurde. Sodann hat Gorbatschow, als eran der Macht war, die Veröffentlichungmeiner Werke auf jede mögliche Art

te die Nesawissimaja gaseta den Einzel-kämpfer bei seiner Ankunft im Mai aufPlatz 88, immerhin noch gleich vor Gor-batschow. Nach seinem Eintreffen inRußland erreichte er im Juli Platz 12, imSeptember stand er direkt vor Alexij II.,dem Patriarchen von Rußland.

Doch den von allen Scheiterhaufendes Jahrhunderts gesengten Mann küm-mert es wenig, ob er dem Volk gefällt.Wie eh und je sagt er einfach, was erdenkt.

und Weise hinausgezögert. Alle Schrift-steller, die nicht publiziert werden durf-ten, waren schon erlaubt, ich blieb alsletzter immer noch verboten.SPIEGEL: Sie hatten uns gesagt, erstmüßten Ihre Bücher zurückkehren,dann würden auch Sie kommen.Solschenizyn: So hatte ich das gesagt.Leider ist es aber so nicht geschehen.Das meiste, was ich geschrieben habe,hat man in Rußland noch nicht gelesen.Bei meiner langen Reise durch Rußlandmußte ich wiederholen, was ich vor 10,15, 20 Jahren veröffentlicht habe.SPIEGEL: Als Lenin 1917 aus der Emi-gration zurückkam, hat er sich Rußlandunterworfen. Maxim Gorki beeilte sich,

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Solschenizyn, Augstein in Moskau: „Die Berührung mit meiner Muttererde spendet mir neue Kräfte“

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ger Führung. Manche dienen Solscheni-zyn schon für die Präsidentschaftswah-len 1996 ihren Beistand an. LiteratJewtuschenko sieht im Dichterkollegeneine Ein-Mann-Partei.

„Ihm muß man zuhören – und dassehr aufmerksam“, warb die Iswestijavor wenigen Tagen für Solschenizyn:„Uns, der Mehrheit, gegenüber hat ernämlich den ungeheuren Vorzug, daß erder Macht immer die Wahrheit gesagthat und dafür von ihr gehaßt wurde.“

„Wie ein Sekretär des Volkes“SPIEGEL-Gespräch mit Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn über Rußlands Weg aus der Krise

SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, im In-dian Summer vor sieben Jahren habenwir mit Ihnen in Vermont einen schönenTag verbracht, in einem märchenhaftenHaus mitten im Wald, wo Sie Ihren lite-rarischen Arbeiten nachgegangen sind.Was hat Sie zurückgetrieben nach Mos-kau, wo Raub und Trug, Mord und Tot-schlag herrschen?Solschenizyn: Ich wollte immer nachRußland zurück, sobald nur alle Hinder-nisse für meine Rückkehr aus dem We-ge geräumt sein würden. Die heutigeschwere, wirklich sehr schwere Krise in

Das Gespräch führten die Redakteure Rudolf Aug-stein, Jörg R. Mettke und Fritjof Meyer.

Das Massenblatt hält sein Auftretenvor der Duma für ebenso bedeutsam wieseine Nobelpreisrede, die er nach seinerAusweisung 1974 nachgeholt hatte:„Beinahe jeder Abgeordnete, aus wel-chem politischen Lager auch immer, fin-det in der integren und zugleich wider-sprüchlichen Persönlichkeit Solscheni-zyns etwas, was ihn zu einem ideellenVerbündeten macht.“

In ihrer monatlichen Liste der hun-dert führenden Politiker Rußlands orte-

Rußland hat meine Heimkehr sehr be-schleunigt und erforderlich gemacht.SPIEGEL: Bei unserem Treffen 1987 warGorbatschow zwei Jahre im Amt. Wärees nicht klüger gewesen, damals schonzurückzukehren und auf den Weg Ruß-lands Einfluß zu nehmen? Jetzt ist dieRichtung womöglich schon entschieden.Sie könnten zu spät gekommen sein.Solschenizyn: Zunächst einmal ist erstvor drei Jahren die formelle Vorausset-zung für meine Rückkehr geschaffenworden, indem die Anklage, ich hätteVaterlandsverrat begangen, aufgehobenwurde. Sodann hat Gorbatschow, als eran der Macht war, die Veröffentlichungmeiner Werke auf jede mögliche Art

te die Nesawissimaja gaseta den Einzel-kämpfer bei seiner Ankunft im Mai aufPlatz 88, immerhin noch gleich vor Gor-batschow. Nach seinem Eintreffen inRußland erreichte er im Juli Platz 12, imSeptember stand er direkt vor Alexij II.,dem Patriarchen von Rußland.

Doch den von allen Scheiterhaufendes Jahrhunderts gesengten Mann küm-mert es wenig, ob er dem Volk gefällt.Wie eh und je sagt er einfach, was erdenkt.

und Weise hinausgezögert. Alle Schrift-steller, die nicht publiziert werden durf-ten, waren schon erlaubt, ich blieb alsletzter immer noch verboten.SPIEGEL: Sie hatten uns gesagt, erstmüßten Ihre Bücher zurückkehren,dann würden auch Sie kommen.Solschenizyn: So hatte ich das gesagt.Leider ist es aber so nicht geschehen.Das meiste, was ich geschrieben habe,hat man in Rußland noch nicht gelesen.Bei meiner langen Reise durch Rußlandmußte ich wiederholen, was ich vor 10,15, 20 Jahren veröffentlicht habe.SPIEGEL: Als Lenin 1917 aus der Emi-gration zurückkam, hat er sich Rußlandunterworfen. Maxim Gorki beeilte sich,

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als er 1928 heimkehrte, sich den Herr-schenden anzupassen. Sie haben nach 20Jahren Exil erst einmal monatelang dasLand bereist, die Zustände inspiziert,mit den Menschen gesprochen. Was istIhre Bilanz?Solschenizyn: In den letzten Jahren hat-te ich von Vermont aus die Lage in Ruß-land sehr sorgfältig verfolgt. Ich hatteeine genügend klare Vorstellung vonder armseligen und komplizierten Lagedes heutigen Rußland. Meine Rückkehrund meine Reise konnten dieses Wissennur noch durch Details, einzelne Detailsder örtlichen Bedingungen, bereichern.Ich bin fast 90 Tage gereist und habe je-den Tag vier oder fünf intensive Gesprä-che geführt.Frau Natalja Solschenizyna: Das stehtnur ein sehr gesunder Mensch durch.Die Reisen waren sehr anstrengend, eraber wurde immer gesünder. Man mußauf Holz klopfen: Es war, als ob man ei-ne Batterie auflädt.Solschenizyn: Die Berührung mit mei-ner Muttererde spendet mir neue geisti-ge Kraft. Mein Gesamteindruck erwiessich als richtig. Indessen, die wertvoll-sten Ergänzungen habe ich durch per-sönliche Gespräche mit sehr vielenMenschen erhalten; genau das, was ichvon Vermont aus über irgendwelcheMedien nie hätte erfahren können: die-ses lebendige Gefühl des noch nicht ver-nichteten geistigen Potentials meinesVolkes. Mich hat die Erkenntnis tief be-wegt, daß nach 75 Jahren gezielter Ver-nichtung noch soviel geblieben ist an ta-tendurstigen, frischen und einsatzberei-ten Menschen, die nach Wegen suchen,aber in dem heutigen Durcheinanderhäufig keine Möglichkeit dafür finden.SPIEGEL: Mit wem haben Sie gespro-chen? Vor einem ausgewählten Publi-kum?Solschenizyn: In jeder Gebietsstadt undnicht nur dort habe ich vor Menschen-massen geredet, tausend, anderthalb-tausend oder mehr Leuten. Darüberhinaus unterhielt ich mich mit Gruppenvon 20 Leuten, oder auch nur zwei, drei,und dann von Angesicht zu Angesichtauf der Straße oder irgendwo in einemstillen Winkel. Auch bei Großveranstal-tungen habe ich nie einen vorbereitetenVortrag gehalten. Ich habe als erstes al-le aufgefordert, selbst zu reden.Ich habe mir alles in meinem Tagebuchnotiert, als ein Sekretär des Volkes so-zusagen, und danach habe ich zu ihrenAusführungen Stellung genommen. Sohabe ich mich bemüht, mit allen sozia-len Schichten in Kontakt zu kommen,von ganz unten bis zu den Oberen derGebietsführung. Ich habe sehr viele Sei-ten des Lebens erfaßt, wenn natürlichauch nicht alle, habe eine große Vielfaltan Meinungen aufgenommen. Zu eini-gen Themen aber, die mir besondersbrennend schienen, habe ich mich be-

müht, mehrfach Veranstaltun-gen durchzuführen.SPIEGEL: Für solch eineSchriftstellerreise läßt sichkaum ein Vergleich finden,und auch kein Politiker hatsich je ein Vierteljahr derartunters Volk gemischt. AmEnde haben Sie ein vernich-tendes Urteil gefällt: Sie fan-den die Herrschaft des Dollarvor, ausgeübt von den übel-

sten Elementen. Fanden Sie die Demo-kratie?Solschenizyn: Ich sage voller Verant-wortung: In Rußland herrscht keine De-mokratie. Und ich kann das auch bewei-sen.SPIEGEL: Zum erstenmal seit 1917konnten die Russen doch frei und direktihre Volksvertretung wählen, zum er-stenmal den Herrn im Kreml.Solschenizyn: Diese Wahlen stützensich nicht auf das Rechtsbewußtsein desVolkes, denn das Rechtsbewußtsein istin der langen Periode der Bolschewikenunterdrückt worden. Das muß erst wie-der aufgeklärt und belebt werden. Ausder Zeit der Bolschewiken ist die frühe-re Haltung zu Wahlen geblieben.SPIEGEL: Immerhin haben die Russenkeine Hemmungen mehr, an ihrer Ob-rigkeit freimütig Kritik zu üben.Solschenizyn: Ich hatte Gelegenheit, inungezwungener Atmosphäre mit Arbei-tern zu sprechen, doch einer der klüg-sten von ihnen gesteht mir mit einembitteren Lächeln: Jetzt rede ich mit Ih-

nen ganz offen. Wennes aber morgen bei unszu einer Abstimmungkommt und die Be-triebsleitung sagt, siehätte da eine Re-solution vorzuschla-gen, dann werden wiralle aus irgendeinemGrund unsere Stimme

dafür abgeben. Das ist diese schreckli-che Macht der Gewohnheit.Dieses ganze Chaos, das in den letztenJahren in unser Leben gebracht wordenist, hat die Menschen apathisch gemacht– ob man wählt oder nicht wählt, es än-dert sich nichts. Oft geben über 50 Pro-

zent der Wahlberechtigten ihreStimme gar nicht ab. Jetzt istfestgelegt, daß schon mit 30Prozent Beteiligung die Wah-len gültig sind. Manche Kandi-daten sind mit 10 Prozent derStimmen gewählt worden.SPIEGEL: Sie selbst mißtrauenallen Kandidaten, welche Par-tei sie auch immer aufgestellthat?

Solschenizyn: Das sind doch alles keineechten Parteien, die wirklich eine Basisim Volksleben und im gesamten Territo-rium hätten. Das ist in der Regel eine

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AlexanderSolschenizyn

1962

Nobelpreis für Literatur.Der Autor kann den Preis erst 1974persönlich in Empfang nehmen.

In Straf- undSonderlagern wegenVerunglimpfung Stalins

1945bis1953

1966 Publikationsverbot in der Sowjetunion

1968

1970

1973bis1975

1976bis1994

1957bis1962

Lehrer inRjasan

1953bis1956

„Ewige Verbannung“in Kasachstan

geboren in Kislowodsk imNordkaukasus

11. Dezember 1918

Dienst in der Roten Armee,Artilleriehauptmann

1941bis1945

Soldat Solschenizyn

Die drei Bände des Romans„Der Archipel Gulag“ werden inParis veröffentlicht.

Ausbürgerung ausder Sowjetunion.Aufnahme zunächstbei Heinrich Böll inder Bundesrepublik,dann in der Schweiz.

Februar 1974

Exil in den USA, im Bundesstaat Ver-mont. Hier entsteht der zehnbändigeRomanzyklus „Das Rote Rad“.

Solschenizyn, Böll

Rückkehr nach Rußland. Von Wladi-wostok reist Solschenizyn 55 Tage langmit dem Zug durch das Land.Am 22. Juli kommt er in Moskau an.

27.Mai1994

September/Oktober 1994

27-Tage-Reise in den Süden Rußlands

Mit Billigung Chruschtschows er-scheint die Erzählung „Ein Tag im Le-ben des Iwan Denissowitsch“ in derLiteraturzeitschrift Nowy mir. DieseDarstellung der sowjetischen Zwangs-arbeitslager wird zum größten litera-rischen Erfolg in der Sowjetunion seitdem Kriege. Solschenizyn macht dasSchreiben zum Beruf.

Die Romane „Krebsstation“ und „Dererste Kreis der Hölle“ werden im Westenpubliziert und verschaffen SolschenizynWeltruhm.

Wladi-wostok

Moskau

Nowosibirsk

PermRostow Rjasan

1. Reise2. Reise

Ulan-Ude

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Gruppe von Parteiführern in Moskau,die entscheidet, was mit dieser Parteigeschieht. Sie finden irgendwo Geld,drucken irgendwelches Zeug und stel-len Parteilisten auf. Da werden Leuteaufgeboten, die überhaupt niemandkennt. Für diese Parteien ist das Volknicht das Ziel und auch nicht eine Ver-pflichtung, sondern einfach Material fürdie Wahlkampagne, es wird als Materi-al benutzt, sonst interessiert es sienicht.SPIEGEL: Wie wünschen Sie es sichdenn?Solschenizyn: Überall wo ich war, habeich den Menschen gesagt: Der Schlüsselfür uns, für die Rettung Rußlands, sinddie Gemeindewahlen. Über die Leutein Moskau kann sich niemand ein Ur-teil bilden, doch die Leute hier vor Ort,die kennt ihr doch. Wählt die Ehrli-

chen, die Selbstlosen, die Weisen undjene, die gegenüber der Obrigkeit Mutzeigen. Die müssen gewählt werden.SPIEGEL: Hat das Ihren Zuhörern gefal-len?Solschenizyn: Es gab sogleich Wider-spruch. Gerade vor Ort ist es besondersgefährlich, abzustimmen. Denn da liegtalles offen auf der Hand. Es ist ja nichtnur wichtig, wie einer abstimmt. Vorder Wahl muß ja die Wahlkampagnedurchgeführt werden. Tritt einer heutegegen einen bestimmten Kandidatenauf, verliert er morgen seinen Arbeits-platz.SPIEGEL: Die alten Parteifunktionäresind noch überall präsent.Solschenizyn: Jelzin hat denn auch beiden Gouverneuren eine Wahl verboten.Die meisten hat er einfach eingesetzt.Bei den nächsten Kommunalwahlen,das erfuhr ich auf meiner Reise, ist dieWahl von Bürgermeistern und Verwal-tungschefs von Gebieten untersagt.

SPIEGEL: Weil nicht Demokraten dieMehrheit erringen, wie die Wahlen zumZentralparlament, der Duma, gezeigthaben.Solschenizyn: Sehr schnell läßt sich dieheutige Administration gar nicht aus-wechseln, die Parteinomenklaturaherrscht nach wie vor an vielen Stellen.Anfangs schien mir das einfach, es müs-sen alle gewählt werden. Viele dach-ten so. Nach gründlichem Überlegenkommt man zu dem Schluß, ein Landwie Rußland, so riesig und geographischso mannigfaltig, mit den unterschied-lichsten Religionen und Nationalitäten,mit einem so komplizierten Verkehrs-netz, braucht in der Tat eine starke Zen-tralmacht.Die kann aber nicht ohne vertikale Wei-sungsbefugnis – von oben nach unten –bestehen. Daher glaube ich, die wahre

Lösung für Rußland liegt ge-genwärtig in einer vernünfti-gen Verbindung der mehr oderweniger etablierten Zentral-macht, die von einer starkenPräsidentenmacht ausgeht, mitder lokalen Selbstverwaltung.Das Wichtigste, was heute inRußland fehlt, ist eine aktive,echte Gemeinde, die an derWurzel beginnt, ganz unten,die langsam nach oben wächst.Diese beiden Mächte müssensich wechselseitig kontrollie-ren, so daß wirklich das VolkHerr über das eigene Schicksalsein kann. Anders läßt sichDemokratie nicht aufbauen.SPIEGEL: Das erinnert an dieReformen des Zaren Alexan-der II., der eine lokale Selbst-verwaltung einführte, die„Semstwo“.Solschenizyn: Sie haben denPunkt getroffen. „Semstwo“

ist ein alter russischer Begriff, der jahr-hundertelang die Mitwirkung unseresVolkes verkörperte, besonders in jener„Zeit der Wirren“ zu Anfang des 17.Jahrhunderts, als es keinen Zaren gabund die Bojaren auseinandergelaufenwaren. Ausländer drangen nach Mos-kau vor und hatten halb Rußland schonin der Hand.SPIEGEL: Die Zeit der Wirren währte 15Jahre und scheint nun wiederzukehren.Solschenizyn: Damals entstand die Sem-stwo-Bewegung, eine Initiative von un-ten. Von einer Siedlung zur anderen,von einer Stadt zur anderen wurden je-weils Vertreter entsandt. Der ganzeNorden Rußlands, das „Pomorje“,schloß sich zusammen, stellte eineLandwehr auf, verjagte die Polen ausMoskau und errichtete eine neue Staats-ordnung. Unter dem Zaren Michail Fjo-dorowitsch, dem ersten Romanow, wur-den regelmäßig Semstwo-Sitzungen ein-berufen: eine Vertretung des ganzen

„Das sind keine echten Parteien.Das Volk dient als Material“

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Jelzin bei der Osterprozession

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Volkes, die der neue Zar nicht ignorie-ren konnte.SPIEGEL: Bis Peter der Große kam, derRußland gewaltsam nach Westen öffne-te – der Ursprung allen Ungemachs?Solschenizyn: In meinem Buch „Dierussische Frage Ende des 20. Jahrhun-derts“, das nächsten Monat in Deutsch-land beim Piper-Verlag erscheint, unter-suche ich, wie in der folgenden Peters-burger Zeit und dann besonders unterden Bolschewiken diese Initiative syste-matisch unterdrückt wurde und zerfiel.Das Volk sollte nicht Herr seinesSchicksals sein.SPIEGEL: Sie werden auf Ihren Reisendie tiefe Enttäuschung der Provinz überdie Regierenden in Moskau bemerkt ha-ben. Wie soll heute eine starke Zentral-macht das Vertrauen der Bevölkerunggewinnen?Solschenizyn: Das ist eine der schwierig-sten moralischen Fragen. Im Unter-schied zu Deutschland, wo der Nazis-mus 12 Jahre herrschte, war bei uns derKommunismus 75 Jahre an der Macht.Bei uns gab es keinen echten, von Her-zen kommenden Impuls der ehemaligenMachthaber, Reue zu zeigen, die eige-nen Sünden zu bekennen.SPIEGEL: Bei uns war es damit auchnicht weit her.Solschenizyn: Die russischen Gewaltha-ber von damals, und das ist eine starkeSchicht, tragen jetzt demokratische Far-ben. Über Nacht wurden sie Demokra-ten. Dieselben Menschen, die immerden Kapitalismus ver-dammt, die gesagt hat-ten, er sei dem Unter-gang geweiht, identifi-zierten sich von heuteauf morgen mit denkommerziellen Struk-turen, dem Banksy-stem. Ich werde nichtmüde, dazu aufzuru-fen, daß die Reue ir-gendwann beginnenmuß, zumindest beieinzelnen Leuten. Al-lerdings setze ich mei-ne Hoffnung auf jeneKräfte im Volk, denenich begegnet bin unddie mit großem Miß-trauen auf das schauen,was da in Moskau ge-schieht. Es geht dar-um, wie man ihnen dieMöglichkeit zu freiemHandeln verschafft –ohne Angst. Ohne eineBestrafung für jedesfreie Tun. Das ist einerder entscheidendenSchritte, damit Ruß-land wieder aufersteht.SPIEGEL: Erwarten Sieeine Beichte, um dar-

aufhin eine Läuterung zu erreichen unddie höhere Moral?Solschenizyn: Anders als in Deutsch-land gab es bei uns kein einziges Ge-richtsverfahren. Damit wären zwar dieSünden nicht getilgt, aber wenn ein Tä-ter sagt, er bereue, dann läßt sich andersmit ihm reden. Wenn er so tut, als habeer niemals etwas Schlechtes getan . . .SPIEGEL: . . . dann ist die Vergangen-heit noch nicht bewältigt, mit allen bö-sen Folgen für die Gegenwart.Solschenizyn: Schauen Sie mal die Pra-wda an. Ein Dreivierteljahrhundert langhat sie uns mit dem Hammer auf denSchädel gehauen. Jede Zeile war gegendas Volk gerichtet. Niemals, in keinereinzigen Ausgabe der Prawda, konntenSie einen Beitrag finden über das Lei-den des Volkes. Und über Nacht schlu-gen sie einen Salto, verteidigen nur dieVolksinteressen, denken allein daran,haben nie an etwas anderes gedacht.SPIEGEL: Das haben sie vorher auch im-mer behauptet.Solschenizyn: Wenn sie doch einmalschreiben würden: Ja, wir haben euchbetrogen, wir haben ohne Unterlaß et-was Falsches getan, aber nun schwörenwir, daß wir euren Willen vertreten wol-len.SPIEGEL: Sie sprechen wie ein Priester,oder so, wie der Patriarch sprechen soll-te. Besitzt Rußlands Kirche heute mora-lische Kompetenz?Solschenizyn: Die Russisch-orthodoxeKirche hat ihre bitterste und vernich-

tendste Niederlage in den Jahren desKommunismus erfahren. Anfangs wur-de in der allerschlimmsten Weise auf sieeingeschlagen, von der späten Stalin-Zeit an aber wurden die Krallen desKGB in sie hineingeschlagen. Die Kir-che versucht nun mühsam, wieder aufdie Beine zu kommen und aufrecht da-zustehen. Damit hat die heutige billigeMode von Presse und Fernsehen nichtszu tun, immer wieder Priester einzube-ziehen, sogar während des Gottesdien-stes zu filmen.SPIEGEL: Reuelose Politiker sind nunplötzlich Christen. Jelzin und die ande-ren Konvertiten gingen aber vermutlichnicht mit geweihter Kerze in die Kirche,wenn nicht Reporter dabei wären.Solschenizyn: Machthaber und Mediensind sich einig. Ich meine, so etwas darfman nicht im Fernsehen vorführen.SPIEGEL: Aber die einfachen Menschen– drängen die nun in die Gottesdienste,auf der Suche nach einem neuen Glau-ben?Solschenizyn: Sie möchten die Bezie-hung zur Kirche wiederaufbauen, nochganz schüchtern. Es ist noch keine allge-meine Bewegung, ihre Zahl ist schwach.Und die Kirche selbst ist schwach, auchmateriell: Sie bekommt Gotteshäuserzurück, hat aber nicht das Geld, sie wie-der aufzubauen, Ikonen zu beschaffenoder auch nur das Dach zu reparieren.Auch dies ist ein langer Weg. Derweilbetätigen sich Missionare westlicher Re-ligionen und Sekten mit großem Geld

übers Fernsehen, alswären wir ein Heiden-land.SPIEGEL: Selbst unterden Kommunisten hingimmerhin etwa einDrittel des russischenVolkes dem orthodo-xen Glauben an – ob-wohl viele Priester in-offizielle Mitarbeiterder Staatssicherheits-behörden waren.Solschenizyn: Semina-re und Akademienmüssen erst wieder ein-gerichtet werden, umGeistliche von hohemNiveau auszubilden,die auch mit intellektu-ellem Publikum umge-hen können. Dazubraucht man Jahrzehn-te.SPIEGEL: Wer setzt dieMaßstäbe, wenn dieKirche als moralischeAnstalt ausfällt?Solschenizyn: Verlie-ren die Menschen denSinn dafür, was mandarf und was man nichtdarf, läßt sich kein

„So etwas darf man nicht im Fernsehen zeigen:Machthaber und Medien sind sich einig“

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Staat aufbauen, die menschliche Gesell-schaft fällt auseinander.SPIEGEL: Und wer definiert, was derMensch darf?Solschenizyn: Die Maßstäbe sind unsvon Geburt an eingegeben, die Religionübt die Kontrolle aus. Mein Gewissenmuß mir sagen: Hier gehe ich zu weit.Hat von unseren Neureichen etwa einerwenigstens einmal zugegeben, daß er et-was wirklich Scheußliches tut, daß ersich durch Bestechung Lizenzen besorgtund unseren Volksreichtum verschleu-dert, das Geld im Westen dann ver-steckt, oder auch im Osten? Er raubtunseren Nationalreichtum aus.Das ist gegen die Moral, eineSchande. Es ist Diebstahl.SPIEGEL: Und wer soll diesenLeuten die Maßstäbe setzen?Solschenizyn: Als Schriftstel-ler kann ich nur fordern undmahnen. Der Staat müßte sei-ne Folgerungen ziehen und dieEinkünfte umverteilen.SPIEGEL: Da sind Sie aber denIdeen von Karl Marx recht na-he.Frau Natalja Solschenizyna:Der Sozialismus ist widerna-türlich. Für die Menschheit istder Kapitalismus naturgege-ben.SPIEGEL: Was ist denn nun diemenschliche Natur – Egoismusoder Solidarität?Solschenizyn: Der Sinn fürGerechtigkeit ist angeboren,das weiß man meistens selbst.Sonst wäre Reue gar nichtmöglich. Das Streben, etwas zu produ-zieren und dabei auch Gewinne zu erzie-len, steckt in der menschlichen Natur.Ihr läuft es aber zuwider, ausschließlichnach Gewinnen, nach Bereicherung zutrachten, egal auf welche Weise sie zu-stande kommen. Es muß eine morali-sche Grenze vorhanden sein. Ob wir unsdaran halten, dafür trägt jeder von unspersönliche Verantwortung vor Gott.SPIEGEL: Und der Staat soll das danndurch Gesetze steuern?Solschenizyn: Der Staat darf nichtgleichgültig zusehen, und dafür ist Ruß-land ein sehr treffendes Beispiel. Hierkümmert sich der Staat überhaupt nichtdarum, auf welche Weise einer Profitmacht. Uns wird heute die Luft abge-würgt, nicht nur durch hemmungslosesGewinnstreben, sondern durch direkte,schrankenlose Kriminalität, die man-cherorts schon die Strukturen einerSchattenmacht schafft. Trotzdem stehtder Staat dem gleichgültig gegenüber.SPIEGEL: Puschkin hat einmal gesagt,was in London zur rechten Zeit kom-men mag, ist für Moskau zu früh. Dashieße eine Einbahnstraße in der Ent-wicklung von Westen nach Osten, einenaturgesetzliche Verspätung Rußlands.

Gibt es Dinge, die in London oder inWashington modisch geworden sind, fürRußland aber niemals taugen?Solschenizyn: Es gibt in der Welt kultu-relle, an die jeweilige Tradition gebun-dene geistige Schöpfungen, die jeweilsihren eigenen, spezifischen Charakterhaben. Man darf daraus keinen Kanondes Fortschritts bilden. Von der Tech-nologie ließ sich immer sagen: Die USAsind vorneweg, die Sowjetunion hinktein der Rüstungstechnik ein bißchen hin-terher, war dennoch in diesem Sektorstark entwickelt, aber das stand in kei-nerlei Verhältnis zu den Realitäten in

unserem Lande. Man darf nicht das gan-ze komplizierte, traditionsgebundeneGefüge des geistigen Lebens, der Kul-tur, der wirtschaftlichen oder politi-schen Entwicklung gleichsetzen.SPIEGEL: Was der Westen für sich alsVorteil ansieht, kann Rußland durchauszum Nachteil gereichen?Solschenizyn: Es gibt einfach einenAustausch von Ideen, auch von For-men, ihre Übernahme ist aber nichtzwingend. Was ich über den Aufbau ei-ner russischen Selbstverwaltung gesagthabe, kann nicht für den Westen gelten,der stets eine vertikale Machtstrukturbevorzugte.SPIEGEL: Preußen begann nach Napole-on seinen Wiederaufstieg auch mit einerReform der Kommunalverfassung.Solschenizyn: Die schlichte Übernahmeoder Nachahmung wäre ein aussichtslo-ses Unterfangen.SPIEGEL: Gilt das auch für die Markt-wirtschaft?Solschenizyn: Marktwirtschaft heißt,daß sich Angebot und Nachfrage gegen-seitig regeln. Bei uns kann davon keineRede sein. Unsere Preise werden ganzwillkürlich festgesetzt. Gerade eben ha-ben wir den schwarzen Dienstag mit

„Hemmungsloses Gewinnstrebenwürgt uns die Luft ab“

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Spielkasino in Moskau

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Kleiderhandel an der Transsibirischen Eisenbahn

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dem Rubelsturz erlebt.Da fing alles an, willkür-lich alle Preise zu erhö-hen. Die Moskauer Ad-ministration mußte sicheinmischen, damit diePreise wieder runterge-hen. Das ist doch keineMarktwirtschaft.SPIEGEL: Zu Ihrem Plan,die Gesellschaft von denWurzeln her zu rekon-struieren, gehört auchdie Förderung der loka-len Märkte, des Kleinst-unternehmertums, vonHandwerk und Gewer-be, um die Grundversor-gung des Volkes sicher-zustellen. Aber bis zumletzten Dorf gibt es be-reits wieder Straßen-märkte . . .Solschenizyn: Da han-delt es sich oft um einenNebenerwerb, nicht umden Verkauf der Produzenten. Um ei-nen Versuch, aus einer schweren La-ge einen Ausweg zu finden. Aufmeiner Reise habe ich die Züge Pe-king–Moskau gesehen. Wenn sie auf ei-nem Bahnhof anhalten, werden alleFenster im Zug so bunt wie die Fahnenaller Staaten: Unsere Bürger schleppenausländisches Zeug heran, irgendwelcheKlamotten, halten sie aus den Fenstern,und die Sachen gehen reißend weg.In ganz Sibirien herrscht inzwischen die-se Art Markt oder Basar. Und eine Frausteht vor mir mit Tränen in den Augenund sagt: Ich bin Lehrerin, ich schämemich, daß ich so was tun muß, aber ich

komme mit meinem Lehrergehalt nichtdurch. Das ist es nicht, wovon ich ge-meint habe, daß es zu fördern sei.SPIEGEL: Der Kommerz, den Sie be-schreiben, ist häßlich, aber er beweist,daß die Russen auch tüchtige Händlersein können. Und der jahrzehntelangverbotene private Handel organisiertdie Versorgung.Solschenizyn: Kapitalismus ist nun ein-mal ohne Produktion nicht möglich. Beiuns aber ist die Produktion zusammen-gebrochen, ein unvorstellbarer Zusam-menbruch. Die Produktion sinkt um 20Prozent im Jahr. All die Neureichen vonheute haben nie etwas geschaffen, nichts

produziert, mit Devisen-kursen gespielt, Beste-chungsgelder gegebenund Naturressourcen, al-so Volkseigentum, ver-scherbelt. Das hat mitKapitalismus nichts zutun.SPIEGEL: Warum kön-nen Privateigentum undMarktwirtschaft in Ruß-land nicht dieselben Er-folge haben wie im We-sten? Selbst unter Chru-schtschow lieferten dievier Prozent des Bodens,die privat bebaut werdendurften, etwa ein Drittelaller Lebensmittel und60 Prozent aller Kartof-feln. Die Staatswirtschafterfüllte ihre Pläne oft-mals nur mit Hilfe desschwarzen Marktes.Solschenizyn: FreieMarktwirtschaft hatten

wir schon einige Jahrzehnte vor der Re-volution. Das hat wunderbar funktio-niert. Nun sagt man uns, wir sollten dasvom Westen übernehmen. Wir müssennichts übernehmen, wir hatten das.Aber wenn die Produktion abgewürgtwird, dann kann man keine Werte schaf-fen. Wir haben am falschen Ende ange-fangen: Bei uns wurden die Preise frei-gegeben – in einer monopolistisch ge-stalteten Umwelt, ohne Konkurrenz.Der Ratschlag vom InternationalenWährungsfonds war absolut unangemes-sen: Den Monopolbetrieben wurde ge-sagt, sie könnten die Preise so steigern,wie sie wollen, und das taten sie, um dasFünffache, das Zwanzigfache, Tausend-fache.SPIEGEL: Die hohen Preise müßten ei-gentlich die Warenproduktion anregen.Natürlich fängt es erst mal mit demHandel an. Das Resultat ist schon zu se-hen: Alle Läden sind voll, alle Gütersind zu haben, niemand muß mehrSchlange stehen. Das hat es drei Gene-rationen lang nicht gegeben.Solschenizyn: Das ist Selbstbetrug! Wel-che Waren liegen da? Vorwiegend aus-ländisches Zeug, dritte Wahl, zehnteWahl. Das wird zunächst mal billig ver-kauft, damit unsere Produktion total er-drosselt wird. Und unsere Führungspielt voll mit. Beginnen sollte mannicht mit dem Handel, sondern mit derProduktion. Wenn nichts produziertwird, gibt es nichts zum Verkaufen. Eskönnte dahin kommen, daß man über-haupt kein Geld mehr hat, etwas zu kau-fen. Um keine Massenarbeitslosigkeitaufkommen zu lassen, herrschen jetztschon Kurzarbeit und Zwangsurlaub.SPIEGEL: Was jetzt zusammenbricht, istvor allem die überflüssige Rüstungspro-duktion. Es geht darum, mehr Konsum-

„All die Neureichen haben nie etwas geschaf-fen, sondern Volkseigentum verschleudert“

„Zugfenster bunt wie Fahnen – man schleppt auslän-disches Zeug heran, die Klamotten gehen reißend weg“

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güter im Lande selbst zu produzieren.Was tun?Solschenizyn: Ich bin kein Wirtschafts-fachmann und werde keine grundsätzli-chen Lösungen vorschlagen. Was michbesonders besorgt macht, ist das geplan-te Gesetz über Grund und Boden, dasdurch ein Wunder erst einmal gestopptworden ist. Beabsichtigt war der freieKauf und Verkauf durch Versteigerungvon Grundstücken, wobei nicht einmaldie landwirtschaftliche Nutzung diesesBodens kontrolliert werden sollte. Daswürde Rußland vernichten.SPIEGEL: Wie das?Solschenizyn: Boden ist keine gewöhnli-che Ware. Niemand, der bäuerliche Ar-beit leisten kann, hat heute das Geld,um Boden zu kaufen. Bei einer Verstei-gerung werden dieselben Leute dasLand kaufen, die mit Produktion nochnichts zu tun hatten, aber auf ihre Gau-nerart zu Geld gekommen sind. Diewerden Lohnbetriebe einrichten, wirwerden zu einer Art Leibeigenschaft zu-rückkehren oder zur Tagelöhnerwirt-schaft.SPIEGEL: Was empfehlen Sie?Solschenizyn: Im Gesetz über Grundund Boden muß als erstes die Bauern-schaft rehabilitiert werden.Die Bolschewiken haben denBauern das Land weggenom-men, durch Lenins Bodenge-setz wurde es Nationaleigen-tum, gehörte also niemandem.Und dann wurde es mit StalinsKollektivierung noch einmalweggenommen. In vielen Fäl-len sind Menschen da, die dasLand erben wollen, das nach-weislich ihrem Vater, Großva-ter oder Urgroßvater wegge-nommen worden ist und die andieses Land eine bäuerlicheBindung haben. Sie müssendas Land zurückbekommen.SPIEGEL: Rückgabe vor Ent-schädigung?Solschenizyn: Rückgabe, un-entgeltlich. Dann gibt es dieFälle, wo sich Leute für die Tä-tigkeit als Bauer eignen – nichtjeder ist imstande, den Bodenzu bearbeiten. Solchen Men-schen muß die Möglichkeit gegebenwerden, an Grund und Boden zu kom-men. Dafür müssen als erstes Agrarban-ken geschaffen werden, die den Bodenverkaufen oder in Erbpacht übergeben.Mit langfristigen Krediten, zu geringemZinssatz. Die bereits vorhandenenAgrarkomitees müssen die Aufgabe er-halten, die effektive und ökologisch ver-tretbare Nutzung des Bodens zu kon-trollieren, notfalls für eine Rückgabenach drei Jahren sorgen.SPIEGEL: Der Reformer Stolypin über-gab vor dem Ersten Weltkrieg Bauernein paar Hektar Land, damit sie sich ih-

ren Hof einrichteten. Ist das womöglichheute ein Ausweg für das Millionenheerder Arbeitslosen aus den Städten, derArbeiter aus den unproduktiven Rü-stungskombinaten?Solschenizyn: Nicht nur für diese, auchfür Flüchtlinge aus den Republiken, diesich von Rußland getrennt haben. Dochdie Landwirtschaft ist eine hohe Kunst.Wenn sie einige Generationen lang ver-nichtet worden ist, läßt sie sich soschnell nicht wiedergewinnen.SPIEGEL: Das russische Proletariat hatnoch sehr starke Bindungen zum Land.Die Frage, wie die Ernte steht und wiedie Kartoffeln wachsen, ist hier ein stän-diges Gesprächsthema.Solschenizyn: Einen Städter mal raschaufs Land schicken, das geht nicht, derrichtet in einem Jahr alles zugrunde.Den Boden muß man lieben, die Arbeitmuß man können.SPIEGEL: Sollen die Kolchosen ver-schwinden?Solschenizyn: Das wäre noch eine Re-volution und genauso falsch. Auch inder Wirtschaft sollen die Menschen wieim sozialen Leben so handeln können,wie sie es möchten. Persönliche Initiati-ve muß man fördern. Manche gehen

nach vorn, manche schauen sich ersteinmal um und kommen dann in Gang.Es können auch – und das geschiehtschon – aus den dahindämmernden Kol-chosen aktive Personengruppen mit ih-rem Anteil an Land ausgegliedert wer-den, die es dann selbständig bearbeiten.Ich kenne schon solche Fälle, eine Artvon Genossenschaft, und sie arbeitenaußerordentlich erfolgreich.SPIEGEL: Sollen die neuen Eigentümerdas volle Eigentumsrecht erhalten, dasLand auch vererben dürfen?Solschenizyn: Ja, aber es kommt daraufan einzusehen, daß der Boden keine

„Den Boden muß man lieben, dieArbeit muß man können“

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Bäuerinnen bei der Kartoffelernte

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Moskauer Warenbörse

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Ware ist, die jeder, dermöchte, kaufen oderverkaufen kann. Nocheinmal: Es muß eineKontrolle geben, damitunsere landwirtschaftli-che Produktion nichtzugrunde geht.SPIEGEL: Es ist jaein immerwährenderSkandal, daß diesesgroße Land sich nichtselbst ernähren kann.Solschenizyn: Das isteine furchtbare Schan-de. Wir können unsereWaren nirgendwo hin-bringen, weil die Ei-senbahntarife jetzt völ-lig irrsinnig sind. Esfehlen Straßen, Treib-stoffe, Technik, Infra-strukturen. Ich habemich unterwegs mitvielen Bauern unter-halten, meist Väter mitzwei, drei Söhnen. Diewenigsten wollen wei-termachen. Viele haben schon aufgege-ben und sind in den Handel überge-wechselt. Der Sinn für den Boden, fürlandwirtschaftliche Arbeit ist verloren-gegangen. Sonst wären die Lebensver-hältnisse in der Stadt nicht so attraktivgeworden.SPIEGEL: Sie teilen die Russen in eineMehrheit in der Provinz, das sind dieGuten, und die Minderheit in den Me-tropolen, die vom westlichen Geist ver-dorben sind?Solschenizyn: So etwas habe ich nie ge-äußert. Ich habe von meinen positivenEindrücken in der Provinz gesprochen.Mein Aufenthalt in Moskau hat nochgar nicht richtig begonnen. Ich bin hiererst sechs Wochen und versuche, meinerunendlichen Briefberge Herr zu wer-den. Und ich habe das, was ich mir un-terwegs aufgezeichnet habe, in Ordnunggebracht. In Moskau habe ich noch kei-ne öffentliche Rede gehalten, bin kaummit jemandem zusammengetroffen. Daskommt erst alles noch, nach meiner Re-de in der Staatsduma.SPIEGEL: Aber mit dem westlichen Ein-fluß werden Sie sich nicht abfinden?Solschenizyn: Der Pluralismus muß in-tegral sein, sich über das ganze Land er-strecken, aber nicht so, wie manche imWesten sich das vorstellen – es gäbe ge-wisse Rahmen, und innerhalb dieserkönnte es jede Menge Pluralismus ge-ben. Vom amerikanischen PräsidentenGeorge Bush stammt ein Wort aus demSeptember 1992 vor der Uno: UnserZiel ist die Herstellung der freienMarktwirtschaft in der Welt. Das ist eintotalitärer Satz.SPIEGEL: Das war ein Hilfsangebot anOsteuropa.

Solschenizyn: Es gibt verschiedene Wel-ten in der Welt, eigene Vorstellungen,Traditionen, Kulturen. Rußland ist einKontinent, Indien ein anderer, Chinaund Japan, Afrika, Lateinamerika! Siealle müssen respektiert werden. Ich binfür den Pluralismus, für die Achtungsämtlicher Kulturen auf Erden, habeauch nichts gegen einen westlichen Ein-fluß, einen positiven, der möglich ist,aber ohne Diktat: Übernehmt das so,wie es bei uns ist. Wir müssen das alleinschaffen.SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, Siemöchten aus dem Westen die gutenIdeen haben, die Popmusik aber nicht,auch nicht die Porno-graphie, die „Jauche“,und nicht den Kapitalis-mus.Solschenizyn: Popmu-sik und Rockmusik,Porno, das ist mir alleszuwider. Jedoch derKapitalismus? Durchmenschliches Gewissennicht gebändigt, vonGottes Atem unbe-rührt, sind Kapitalis-mus und Sozialismusgleichermaßen wider-lich. Jede Gesell-schaftsstruktur mußder Selbstbeschrän-kung und dem Gewis-sen der Menschenunterliegen, einemEhrgefühl, dem An-stand. Die moralischenSchranken stehen überjeder Gesellschafts-form. Es ist nicht wahr,

daß die Wirtschaft allesentscheidet. Entschei-dend ist die Moral, unddie kann nicht auf hem-mungslose Bereiche-rung gerichtet sein,sondern nur auf Selbst-beschränkung und Ver-zicht.SPIEGEL: Ist das nur IhrRezept für den russi-schen Sonderweg, odergilt das auch für andereRegionen der Erde?Solschenizyn: Sichselbst zu beschränken,das ist ein Rezept fürdie ganze Menschheit.In Rußland darf mandas heute nicht laut sa-gen, die Menschenmüssen ohnehin auf al-les verzichten. Aber fürden prosperierendenWesten ist es nochnicht zu spät, dieseChance des Überle-bens zu ergreifen.

SPIEGEL: Ihre Theorie wird auch bei unssehr hoch geschätzt, in der Praxis weni-ger.Solschenizyn: Das ist sehr, sehr bedau-erlich. Von den Deutschen haben wirimmer viel übernommen, in unseremStaat und in unserer Volkswirtschaft ha-ben sie eine ganz wichtige Rolle ge-spielt. Die Kolonisten, die im 18. Jahr-hundert zu uns gekommen sind, habenein gutes Leben geführt . . .SPIEGEL: . . . bis Stalin sie deportierenließ.Solschenizyn: Mein Onkel, der die deut-schen Siedler am Kuban kennengelernthat, wußte viel Gutes von ihnen zu er-

„Der Sinn für Landwirtschaft ging verloren, sonstwäre das Leben in der Stadt nicht so attraktiv“

„Freie Marktwirtschaft hat vor derRevolution wunderbar funktioniert“

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zählen. Die Deutschen haben unsereSeele begriffen, unsere Kultur akzep-tiert. Der deutsche und der russischeCharakter sind eng verwandt.SPIEGEL: In diesem Jahrhundert habendie Völker freilich zweimal gegeneinan-der Krieg geführt.Solschenizyn: Beide Kriege haben nichtnur die Deutschen verloren, sondern ingewisser Hinsicht die Russen. Im Erstenhat die Revolution unseren Sieg verhin-dert, im Zweiten Weltkrieg haben wie-derum wir verloren, nicht auf demSchlachtfeld, aber in unserer Gesell-schaft. Wir zählten 31 Millionen Opfer.

Stalins Herrschaft wurde bestätigt, dasflache Land entvölkert. Wir müssen dieganzen drei Jahrhunderte unserer Be-ziehungen aufarbeiten. Die Lehre kannnur sein, daß Deutsche und Russen ein-ander brauchen, weil sie sich ergänzen.SPIEGEL: Der Vorteil dabei ist: BeideLänder wollen nicht mehr Polen untersich aufteilen.Solschenizyn: Als Polen noch Rußlandgehörte, hat das nicht Deutschland ge-schadet, sondern Rußland. Jetzt kannPolen bei unserer geistigen Annähe-rung nicht mehr stören, auch wenn wirgeographisch keine Nachbarn sind.SPIEGEL: Die wollen wir auch gar nichtsein. Wohin treibt Rußland, AlexanderIssajewitsch?Solschenizyn: Wir befinden uns tat-sächlich in einer überaus armseligenLage, die wir durchzustehen haben.Rußland muß die Tatsache anerken-nen, daß wir das 20. Jahrhundert verlo-ren haben. Die erste, ganz schlichteSchlußfolgerung daraus lautet: Wirmüssen unsere innere Situation retten –geistig, ethnisch, wirtschaftlich, kultu-rell, in jeder Hinsicht, denn die Russensterben aus. Die Sterberate liegt überder Geburtenrate.

SPIEGEL: Den Deutschen ergeht esdarin kaum besser.Solschenizyn: Unsere Lage kann garnicht schwerer, nicht gefährlicher sein.Es gibt keine Garantie, daß wir sämt-liche Schwierigkeiten überwinden,aber es kann gelingen, wenn wir esjetzt fertigbringen, uns auf die innerenProbleme zu konzentrieren und die In-itiative des Volkes durch die Selbst-verwaltung zu entfalten, die Selbstbe-stimmung, die Kontrolle der Regie-rung.SPIEGEL: Wo liegen die Risiken einesScheiterns?

Solschenizyn: Rußland läßtsich noch retten, wir verfügenüber hinreichende nationaleund geistige Potenzen. Wenn esaber so bleibt wie heute, beidem administrativen und wirt-schaftlichen Niedergang, wenndas Verbrechertum in derVolkswirtschaft weiter wächst,dann wird sich unsere Lagenoch gefährlich zuspitzen – undebenso, wenn wir uns weiterhinals Großmacht aufspielen unduns mehr für internationaleProbleme interessieren als fürunsere internen Bürden.SPIEGEL: Kein Drang mehrnach einer führenden Rolle inder Welt? Kein Interesse mehran Haiti, Kuba, Vietnam?Solschenizyn: Ich kämpfeschon seit 20 Jahren gegen sol-che Ambitionen.SPIEGEL: Das altehrwürdigeAkademie-Mitglied Dmitrij

Lichatschow sagt, Rußland solle alleGroßmachtansprüche bedingungslos be-graben, bis auf den einen: Großmachtder Kultur zu sein und zu bleiben. Wennes das nicht tut, drohe der russischenNation der Tod.Solschenizyn: Ich stimme voll und ganzzu. Nur betont er die Kultur als etwasGesondertes. Die öffentliche Selbstver-waltung, die Mitbestimmung des Volkessind indes nicht weniger wichtige Bedin-gungen.SPIEGEL: Auf dem Balkan hat Rußlandaber doch Interessen?Solschenizyn: Ich bin gegen den Pansla-wismus. Der größte Fehler Rußlandsbesteht darin, daß es sich auf dem Bal-kan eingemischt hat, in der Vergangen-heit wie heute. Ich verstehe auch nicht,warum Deutschland sich für den Balkaninteressieren sollte.SPIEGEL: Das verstehen wir auch nicht.Solschenizyn: Man kennt aus der Ver-gangenheit die Interessenlinie Berlin–Bagdad. Warum hat Deutschland soüberstürzt Kroatien und Slowenien alsselbständige Staaten anerkannt? Aufder Landkarte hätte sich schon erken-nen lassen, daß ethnisch in Jugoslawienalles falsch geregelt ist – wie in Ruß-

„Deutsche und Russen braucheneinander, weil sie sich ergänzen“

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Abzug der Russen aus Potsdam im Mai

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land. Nicht nur Deutsch-land, andere europäischeStaaten akzeptierten eben-so eilig die Grenzen, die Ti-to gezogen hatte.SPIEGEL: Bosnien ist eineErfindung Titos.Solschenizyn: So ist es. Die-se hastige Anerkennung hatdem Krieg in Jugoslawieneinen weiteren Anstoß ge-geben.SPIEGEL: Alexander Issaje-witsch, Sie gehören nicht zujenen, welche die Sowjet-union wiederherstellenmöchten . . .Solschenizyn: Ich habe denZerfall der UdSSR voraus-gesagt!SPIEGEL: . . . Sie wünschensich nur einen Bund der sla-wischen Staaten Rußland,Ukraine, Belorußland undteilweise Kasachstan. Wasverbindet diese Staaten?Solschenizyn: Unter denBolschewiki und im altenRußland bestand ein ge-meinsamer Wirtschafts-raum, außerdem verbindendie drei slawischen Republi-ken Millionen persönlicherBeziehungen, Familienban-de, verwandte Kulturenund Lebensweisen. Die Ab-trennung der Ukraine, vonBelorußland und Kasach-stan weckt in uns genausoein Gefühl wie bei Ihnenwahrscheinlich damals dieTrennung von Ostdeutsch-land.SPIEGEL: Die DDR-Bürger wurden nienach ihrem Einverständnis gefragt.Solschenizyn: Sie hatten 17 Millionenverloren und wir jetzt 25 Millionen, unddas innerhalb von 24 Stunden. Die Leu-te, die dort seit Generationen gelebt ha-ben, die zu dem Ort und zu dem Landgehören, kriegen plötzlich zu hören, ihrseid Ausländer. Das ist entsetzlich. Jetztstehen wir vor dem ungeheuren Pro-blem der Aufnahme von Flüchtlingen inRußland . . .SPIEGEL: . . . viele aber aus ehemals er-oberten Territorien, in die sie verpflanztworden waren, anders als in Deutsch-land.Solschenizyn: Rußland hat seinerzeit ei-nen Fehler begangen, indem es Trans-kaukasien und Mittelasien in seineGrenzen einbezogen hat.SPIEGEL: So kann man es auch nennen.Solschenizyn: Der Lauf der Geschichtezeigt uns deutlich, wir müssen jetzt dar-auf verzichten, und zwar unbedingt.Denn Mittelasien drängt natürlich aufdie große moslemische Welt hin. Diewird im 21. Jahrhundert eine gewaltige

Kraft, mit der die ganze Menschheit zurechnen haben wird. Unsere Sache istes überhaupt nicht, uns dort einzumi-schen und irgend etwas auseinanderzu-reißen. Wir müssen unsere Landsleuteda wegholen. Ebenso aus Transkauka-sien.SPIEGEL: Warum nicht aus den slawi-schen Republiken, die sich wie dieUkraine per Volksabstimmung für un-abhängig erklärt haben?Solschenizyn: Da müssen wir mit allerKraft versuchen, sie davon zu überzeu-gen, das Staatsbündnis zu erhalten. Inden slawischen Republiken existiertauch eine starke Bewegung für die An-näherung an Rußland.SPIEGEL: Und Kasachstan?Solschenizyn: Das ist nicht Mittelasien,sondern Nordkasachstan ist Südsibi-rien. Zum Zeitpunkt der Auflösungder Sowjetunion waren 37 Prozent derEinwohner Kasachen, also die Minder-heit. Jetzt verschiebt ihr Präsident Na-sabarjew diese Relation ein bißchen.Er läßt die Kolchosen von Südsibirienkostenlose Einfamilienhäuser für Kasa-

chen bauen, die er aus derMongolei, aus China, ausdem Iran holt. Und nun be-hauptet er, es gebe 40 Pro-zent Kasachen. Selbst wennman ihm das glauben soll,dann stellen alle anderen,die Russen, Ukrainer, Po-len, Deutschen und so wei-ter, immer noch 60 Prozent.In Kasachstan leben alleinsieben Millionen Russen.Deren Kultur wird unter-drückt – Fernsehsendun-gen, Grundschulunterricht,alles nur auf kasachisch.Die Hochschulen machenzur Aufnahme eine Prüfungim Kasachischen zur Bedin-gung. So werden Nichtkasa-chen ferngehalten. Fachleu-ten, die keine Kasachensind, wird der Stuhl vor dieTür gesetzt.SPIEGEL: Weil es früher ge-nau umgekehrt war. Da galtnur, was russisch war. Wol-len denn diese Länder ausfreiem Willen wieder in ei-ne slawische Union?Solschenizyn: Im letztenJahr zeigte sich die eindeu-tige Bereitschaft der beidenRepubliken Ukraine undBelorußland zur Annähe-rung und Vereinigung. Un-versöhnlich bleiben die Se-paratisten aus dem Westender Ukraine. Das liegt amEinfluß Österreichs undDeutschlands in den Jahr-hunderten der Trennung.Für sie ist Rußland etwas

Fremdartiges. Doch die Mehrheit derukrainischen Bevölkerung verstehtnicht mal die Frage: Bist du Ukraineroder Russe? Ehen zwischen Ukrainernund Russen galten nie als Mischehen.SPIEGEL: Zu welchem Land der Dich-ter Nikolai Gogol gehört . . .Solschenizyn: . . . darüber wird jetztgestritten.SPIEGEL: Bei uns wird gestritten, wemWallenstein gehört. Die Tschechen sa-gen, er gehört ihnen. Kopernikus ha-ben wir den Polen wohl schon ge-schenkt.Solschenizyn: Mein Großvater warUkrainer, und meinen Vater habe ichnicht gekannt. Die ukrainische Linie,der Großvater, der war also der einzi-ge Mann in unserer Familie. Ich habeVerständnis für alles, aber ich verstehenicht, warum die Ukraine nun mitGroßmachtambitionen anfängt. Warumsoll sie sich die russische Krim einver-leiben dürfen, Neurußland beispiels-weise, das Gebiet Odessa und Chersonam Schwarzen Meer, das niemals zurUkraine gehörte. Warum die Gebiete

„Den Krieg haben die Russen verloren:Stalins Herrschaft wurde bestätigt“

Page 32: Alexander Solschenizyn - Der Unbeugsame

Solschenizyn am vergangenen Freitag in der Duma

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um den Don und Donezk? Die warenauch nie Ukraine.Der Cellist und Dirigent Mstislaw Ro-stropowitsch tritt ein, umarmt Solscheni-zyn und zieht sich zurück.SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, mitehrlichen, mutigen und selbstlosen Ver-tretern des Volkes möchten Sie Rußlandwieder aufbauen. Sie wünschen sichLeute, die nicht an ihren Vorteil den-ken, nicht an Privilegien oder Prinzi-pien. Sind Sie so einer?Solschenizyn: Ich habe in kei-ner Weise vor, Abgeordneterzu werden, irgendeine offi-zielle Funktion zu überneh-men, ich will weder gewähltnoch eingesetzt oder berufenwerden. In meinem Alter undals Schriftsteller muß ichdurch Überzeugung, durchdas Wort meinen Einfluß aus-üben.SPIEGEL: Welche Möglich-keiten bieten sich Ihnen da?Solschenizyn: Auf meinerReise habe ich über 30mal vorvollen Häusern gesprochen.Ich habe mehr als 10mal imFernsehen gesprochen. Danndie Rede in der Staatsduma.Ich schließe nicht aus, daß ichmit Politikern zusammen-komme, manche haben schonden Wunsch geäußert. Unddann kann ich auch wiedervor Publikum auftreten, undich kann noch schreiben.SPIEGEL: Ist es Zufall, daßSie sich dem Parlament frü-her zuwenden als dem Präsi-denten?Solschenizyn: Jelzin hatmehrmals geäußert, daß erdie Absicht hat, mit mir zusprechen, aber ich habe bis-her keine offizielle Einla-dung. Ich dränge mich ihmnicht selbst auf.SPIEGEL: Als berufener Spre-cher Rußlands könnten Sieselbst Präsident Rußlandssein.Solschenizyn: Das habe ich nicht vor.SPIEGEL: Und wenn Sie dazu gerufenwerden?Solschenizyn: Auch dann nicht.SPIEGEL: Können Sie sich Ihrem Volkverweigern?Solschenizyn: Wenn ich mich als Kandi-dat gar nicht aufstellen lasse?SPIEGEL: Sie haben vor mehr als vierJahren in einem Brief noch aus Amerikanach Moskau geschrieben, daß Sie sichkeinerlei Gruppen, keiner Parteiung an-schließen würden, weil es die Aufgabeeines Schriftstellers sei, sein Volk zu ei-nen. Wie soll das gehen im heutigenRußland, das in immer kleinere Grup-pierungen zersplittert?

Solschenizyn: Ich lebe mit dem Gefühl,daß mein Volk eine Einheit ist. Sonsthätte ich diese Reise nicht unternom-men. Bei unseren Begegnungen habensich Leute auch gegenseitig behackt, dahabe ich zum Schluß ein paar Worte ge-sagt, und man ging nachdenklich ausein-ander und stritt sich nicht mehr. Ichglaube, für eine solche Aufgabe geeig-net zu sein.Diese kleinen Gruppen sind keine Par-teien, das ist alles aufgeblasen. In mei-

nen Appellen vor Ort habe ich emp-fohlen, Parteilisten besser gleich zuzerreißen und in den Mülleimer zuwerfen.SPIEGEL: Auf Ihrem Tisch liegt einBrief, an Sie adressiert: An denSchriftsteller Solschenizyn, Moskau,Kreml.Solschenizyn: Das kommt an.SPIEGEL: Vielleicht hat der Postboteeine Vorahnung. Wie würden Sie dennreagieren, wenn eine gütige Fee Siebeim Schlafittchen faßt und in denKreml versetzt?Solschenizyn: Ich gestatte nicht, meineKandidatur in solchem Kontext zu dis-kutieren. Die Feen sollen das Volk ku-

rieren. In der kommunistischen Zeit hatsich viel Schmutz in unseren Seelen an-gesammelt, wir brauchen viele Engelund Feen, um das wieder sauberzukrie-gen.SPIEGEL: Es ist verständlich, daß je-mand, der so wie Sie dem Kommunismusdie Maske vom Gesicht gerissen hat, sichnach dessen Ende derart engagiert. AberSie haben auch Ihren Feind verloren.Was geschieht, wenn das Volk nicht aufIhren Ruf zur Versöhnung hört?

Solschenizyn: Ich habe auchohne Feinde genug Sorgenmit dem Chaos, das nun inRußland herrscht. Früher ha-be ich gesagt, die größte Ge-fahr wird dann auf uns zu-kommen, wenn wir aus demKommunismus hinausmar-schieren. Nun sind wir auf ei-ne Weise rausgekommen, diewirklich restlos verquer ist,auf die quälendste unddümmste Art. Dadurch istdas Volk, das die Lage wirk-lich nicht begreifen kann, hinund her geworfen, oft apa-thisch. Wie viele Selbstmordees gibt! Manche sind taten-durstig, andere wissen nichtaus noch ein. Und dann gibtes welche, die sich wohlfühlenwie Fische im trüben Wasser.Was ist, wenn man nicht aufmeine Appelle hört? Ich ma-che dann noch ein paar Ap-pelle, und irgendwann sterbeich einfach.SPIEGEL: Wir wünschen Ih-nen lange Gesundheit. Wer-den Sie sich wieder der litera-rischen Arbeit zuwenden?Solschenizyn: Ich gebe sienicht auf. Jetzt widme ichmich der kleinen Form, alsoErzählungen. Ein MoskauerVerlag will 24 Bände von mirherausbringen, aber ich habebereits Arbeiten für 27 bis 28Bände. Es geht nicht darum,noch einen Band mehr zuschreiben, sondern die Men-

schen zu bewegen, das zu lesen, was ichgeschrieben habe. Wir sind zwar hier,haben aber noch nicht alles im Griff,auch nicht mit dem Verlag, erst rechtnicht mit den unglaublichen Schwierig-keiten, ein Haus zu bauen.SPIEGEL: Haben Sie manchmal Sehn-sucht nach der produktiven Einsamkeitvon Vermont?Solschenizyn: Ich habe dort alles erfüllt,was ich mir vorgenommen hatte. Wederich noch meine Frau bereuen auch nureine Minute, daß wir Vermont verlassenhaben. Wir haben das sichere Gefühl,am richtigen Ort zu sein.SPIEGEL: Alexander Issajewitsch, wirdanken Ihnen für dieses Gespräch. �

„In Rußland herrscht keine Demokratie.Und ich kann das auch beweisen“

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Heimkehrer Solschenizyn in Wladiwostok: „Man wird mir das Wort verbieten, das nehme ich in Kauf“

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FURCHT VOR DEM FUNDIAuftrieb für Moskaus Vaterlandsfreunde: Die Wahl prorussischer Präsidenten in der Ukraine und in Belorußlandläßt sie auf Großrußlands Renaissance hoffen. Einer ist im Anmarsch auf die Hauptstadt, der die Träumein durchschlagende Worte faßt: Alexander Solschenizyn. Der Moralist lehrt die Regierenden das Fürchten.

anchmal meldet das Staatsfern-sehen, knapp vor der Wetterkar-M te, die allmähliche Annäherung

des graubärtigen Propheten aus demUS-Exil, von dem nicht sicher ist, was ernoch gilt im eigenen Lande. Fest stehtnur: Er findet mehr Achtung, als vielenAmtsträgern im neuen Rußland lieb ist.

Denn dieser Mann, der – anders alsdie auch heute Herrschenden – denKommunismus als Opfer erlebt hat, ver-breitet die tröstende Botschaft vonkünftiger Größe Rußlands, unter Ein-schluß aller Völkerschaften, die einmalzum Reich gehörten, und mit harterHand zentral regiert ohne solche Faxenwie Förderation oder Autonomie.

Vorige Woche, am 45. Tag seinerlangsamen Heimkehr, wurde er für Se-kunden sichtbar: in Tobolsk, Sammel-stelle für Sträflinge und Verbannte seitZarenzeiten rund 2400 Kilometer östlichder russischen Hauptstadt. Im schlich-

ten Kittelhemd, die Kladde für allesbeim Volk Aufgesammelte stets griffbe-reit, eilt der einst verbannte Nobelpreis-träger von Friedhof zu Fabrik, von Kol-chos zu Kulturhaus, von Wundmal zuWundmal seiner schwierigen Heimat.

Für die Verwalter der MoskowiterMacht hätte Solschenizyn keine schlim-mere Folter ersinnen können als diesenKreuzweg mit später Spurensuche imArchipel Gulag. Wo der strenge Reisen-de gerade Station macht, mit wem er ge-sprochen, was er kritisiert hat, lassensich Minister und Parteiführer in Lage-berichten ausführlich vortragen.

„Irgend etwas Neues von AlexanderIssajewitsch?“ ist zu Jelzins ständigerFrühstücksfrage geworden. Ein Beraterim Präsidialamt spottet bereits: „Mankönnte denken, der Mann ziehe mit ei-nem Riesenheer heran.“

Die Unbehaglichkeit im Kreml stei-gerte noch der Sieg der Moskau-Freun-

de Leonid Kutschma und Alexander Lu-kaschenko bei Präsidentschaftswahlenim Glacis Rußlands (siehe Seite 112).

Die Aussicht auf ein Wiedererstehendes Imperiums beflügelt alte und neuePanslawisten zwischen Bug und Bering-straße: „Es muß eine Union geben“,lautet sogar das Credo Michail Gorba-tschows, auch wenn die Rückkehr zurUdSSR unrealistisch wäre. Nach denWahlen in Belorußland und der Ukrainefrohlockte der letzte Chef der Sowjet-union: „Wir gehören zusammen.“

Kaum ein Politiker oder Intellektuel-ler in Moskau, der nicht heimlich hofft,die Union der einstmals angegliedertenNationen mit Rußland lasse sich restau-rieren. Nur Chauvinisten erheben denimperialen Traum offen zum Pro-gramm. Doch selbst Boris Jelzins Si-cherheitsrat verfaßte voriges Jahr eine„Außenpolitik-Konzeption“, welche dieabtrünnigen Kolonien – nun „nahes

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Solschenizyn (M.) in Chabarowsk: „Kein heiliger Platz bleibt leer“

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Machthaber JelzinBericht zum Frühstück

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Ausland“ genannt – einschloß, und eineMilitärdoktrin, die ebendort eine Statio-nierung russischer Truppen einkalku-liert.

Jelzin selbst verlangte von der Weltge-meinschaft besondere Vollmachten, aufdem ganzen Gebiet der ehemaligenUdSSR als Friedensgarant tätig zu wer-den. Den USA galt ohnehin die russischeEx-Supermacht als angemessener Part-ner, gegen die neuen, abgefallenen Re-publiken gab es Vorbehalte.

Solschenizyn ließ früh erkennen, daßer sie wieder eingesammelt sehen möchteund ihm die Slawen-Union nicht genügt,die Jelzin, der Ukrainer Krawtschuk undder Belorusse Schuschkewitsch im De-zember 1991 im Belowescher Wäldchenbei Brest anstelle der mächtigen Sowjet-union verabredet hatten. Den MinskerGründungsvater stürzte im Januar eineIntrige Lukaschenkos, Krawtschuk fielvorletzten Sonntag – ein Menetekel fürJelzin, den Dritten im Bunde.

Auch im großen Rußland wächst dieSowjetnostalgie – und die Lust auf Re-vanche. Bei seinen Vernehmungen alsOpfer des Putschversuchs vom August1991 sei ihm, so berichtete Gorbatschow,versichert worden: „Es kommt die Zeit,wo wir uns auch mit dem BelowescherWäldchen beschäftigen werden.“

So erlebt Rußlands Staatsoberhauptden Sommer vor allem als Bedrohung vonden Rändern seines Reiches: im Westendie Abrechnung mit den Unionsflüch-tern, die leicht auf den russischen Wählerübergreifen könnte. Von Osten her diemarternd langsame Anreise des Morali-sten Solschenizyn, der den Herrschendenaus der Ferne beinahe jeden Tag neueVerlustrechnungen aufmacht:� Ehemaligen wie Gorbatschow, weil

der nach „Art eines Schachspielers le-diglich versucht“ habe, eine „flexiblereNomenklatura in vorteilhafte Positio-nen zu bringen“;

� später Gescheiterten wie Jelzins Re-formpremier Gaidar, weil dessenPreisfreigabe Anfang 1992 allein„Gaunern und Schiebern die Freiheitgebracht“ habe; schließlich

� den Wäldchen-Verschwörern widerdas Großreich: Sie hätten im Sou-veränitätsrausch „falsche, LeninscheGrenzen anerkannt“, „nur mit dem hä-mischen Ziel gezogen, das russischeVolk zu verringern“; 25 MillionenLandsleute seien damit „vor die Türgesetzt worden wie Hunde“.Der letzte Vorwurf wiegt besonders

schwer, weil der Adressat im Kreml denBeistand des rückkehrenden Mahnersbereits blind eingeplant hatte und beimAutoritätsverfall im Lande nun auchbitter nötig hätte.

Jelzins Stab hatte Solschenizyns Wie-deraufbauprogramm für Rußland 1990 inMassenauflage verbreiten lassen. DerPräsident selbst beriet mit dem Moskauer

Bürgermeister Luschkow die Landver-gabe an den Emigranten Solschenizyn,ein Grundstück mitten in der Bonzen-siedlung Troize-Lykowo, auf dem einstdie Datscha des unter Stalin erschosse-nen Marschalls Tuchatschewski stand.Jelzin glaubte: „Alexander Issajewitschwird auf unserer Seite stehen, das ist ei-ne mächtige Waffe.“

Was den Schulterschluß mit dem anti-kommunistischen Patrioten angeht, derohne Rücksicht auf re-gierende und opponie-rende Seilschaften „dievolle Wahrheit“, frei-lich seine altväterliche,„über Rußland“ sagenwill, sieht sich der ehe-malige KP-Spitzen-funktionär Jelzin nunenttäuscht. Noch garnicht weit vom Pazifikins Landesinnere vor-gedrungen, diagnosti-zierte Solschenizyn be-reits „Scheindemokra-tie“ und eine „raffi-nierte Kreuzung vonNomenklatura-Büro-

kraten und raffgierigen Geschäftema-chern: Sie haben sich vereint, und das istschrecklich.“

Schon ging die Regierungsschutztrup-pe in den Medien auf Distanz: Das zen-trale Fernsehen verhängte über denDichter „eine regelrechte Blockade“,wie Ehefrau Natalja Dmitrijewna nichtohne Grund klagte.

Solschenizyn hatte das vorausgese-hen: „Ich sage nur, was ich für Rußlandfür nützlich und notwendig halte. Mir istvöllig gleichgültig, wem von den Regie-renden das gefällt oder nicht“, erklärteer im Oktober. „Ich gehe davon aus,daß ich eine unerwünschte Person seinwerde und man mir das Wort verbietenwird. Das nehme ich in Kauf.“

Die Nesawissimaja gaseta mäkelte,der Dichter verstehe „schon lange we-der etwas von Rußland noch vom We-sten“. Ähnlich ließ sich auch Wendede-mokrat Oleg Kalugin vernehmen, derEx-KGB-General: „Die Zeit Solscheni-zyns ist vorbei.“

Die Grabreden auf den mit seinen 75Jahren höchst streitbaren und seinenKritikern intellektuell weit überlegenenRussen-Fundi scheinen voreilig. Vor al-

lem sind sie am Volkvorbei gehalten.

Neun von zehn Mos-kauern sind laut Um-frage über Person undWirken Solschenizynserstaunlich gut infor-miert. Das russischeSprichwort, wonach„kein heiliger Platz leerbleibt“, weist dem Rei-senden das seit dem To-de Andrej Sacharows1989 verwaiste Podesteiner moralischen Füh-rungsfigur im nach-kommunistischen Wer-tewandel als Ziel zu.

Manche drängen weiter, sehen wie Li-terat Jewtuschenko im Rückkehrer eineEin-Mann-Partei, dienen ihm für dienächste Präsidentenkür ihre Stimme an– trotz aller Solschenizyn-Erklärungen,kein hohes Staatsamt anzustreben.

Daß seine Polemik auch die russischeRechte trifft, ist aus der Umgebung desRadikalinskis Schirinowski zu hören:Kein Hitler-Vergleich im Westen habeden so hart getroffen wie die Kurzcha-rakteristik Solschenizyns: „Karikatur ei-nes russischen Patrioten“.

Innerhalb nur eines Monats schaffteSolschenizyn den Sprung in der Promi-nentenliste einer Moskauer Zeitung vonPlatz 87 auf Platz 30. Nur einem Wund-arzt der russischen Seele gelang eine

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Neugewählter EU-Kommissionspräsident Santer (r.)*: „Schwacher Politiker“

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noch bessere Plazierung, dem Patriar-chen der russisch-orthodoxen Kirche,Alexij II.

Entsprechend emsiger wird das Lie-beswerben um den unabhängigen Dich-ter, als sei er der Nekrassowsche Guts-herr, der – wenn er denn kommt – „unssagt, was Recht und Unrecht ist“.

Das russische Parlament, im erstenAnlauf noch gegen eine Anhörung Sol-schenizyns, schickte ihm dann doch ei-ne artige Einladung. Der einflußreicheVorsitzende des außenpolitischen Du-ma-Ausschusses, Wladimir Lukin, rei-ste ihm bis nach Nowosibirsk entgegen;vom Blutbad im Oktober berichteteihm die einstige Vizechefin des Putsch-Parlaments schon in Wladiwostok undbeobachtete „Verzweiflung in Solsche-nizyns Augen“. Vorher hatte der voneinem „vollkommen unausweichlichenund gesetzmäßigen Schritt“ zur „Befrei-ung vom Kommunismus“ gesprochen.

Auch Männer des Präsidenten lassensich von dem großen Alten faszinieren.Jelzins persönlicher Vertreter in Nowo-sibirsk, Anatolij Manochin, schwärmte:„Solch lebendige Augen, solch ein In-teresse an sibirischen Angelegenheitenwürde man gern in den Moskauer Kor-ridoren der Macht treffen.“

Für die Korridor-Kamarilla ein Graus– einer, der nicht trinkt, sich nicht ra-siert und auch noch so gefährliche Sa-chen sagt: „Der bürokratische Apparatist korrumpiert, das wäre nicht möglich,wenn nicht einige Minister beteiligt wä-ren. Davon müssen wir uns befreien.“

Oder: „Die Wahl nach Parteilisten isteine trügerische Sache“, da „kauft derWähler die Katze im Sack, er weißnicht, für wen er stimmt“. Und „daß dieMacht sich vor Wahlen nicht drückenkann, selbst wenn sie es gern möchte“.

Und wie sie das möchte. Schon vorden ukrainischen und belorussischenWendesignalen war Jelzins Mann fürsGrobe, FöderationsratsvorsitzenderWladimir Schumeiko, mit der Idee vor-geprescht, den Wahltermin 1996 ausfal-len zu lassen und die Vollmachten vonPräsident und Parlament zu verlängern.

Von Premier Tschernomyrdin bisPräsidialamtschef Filatow fanden dasalle Nutznießer einer verfassungswidri-gen Verlängerung ihrer Pfründen eineinteressante Sache. Solschenizyn, derUnbestechliche, könnte da stören.Schumeiko stellte den kompromißlosenMachtkritiker sogleich ins politischeAbseits: Er rechne nicht „mit einemFaktor Solschenizyn; der Mensch war20 Jahre weit weg von der Heimat undkann kaum beurteilen, was hier pas-siert“.

Aber er kommt. In ein paar Wochenwird er in der Hauptstadt sein. Er wirdim Parlament reden, eine Bilanz seineslangen Marsches nach Hause ziehen.Vollstreckt das Volk sein Urteil? �

E u r o p ä i s c h e U n i o n

Paßt insRasterDer Luxemburger Santer, derPräsident der EU-Kommissionwerden soll, gilt als pflege-leicht. Er ist still und stört nicht.

iesmal wollte sich Helmut Kohl dieShow nicht stehlen lassen. DenD Sondergipfel in Brüssel, auf dem

am vorigen Freitag der Nachfolger vonJacques Delors präsentiert wurde, hät-ten sich einige seiner Kollegen gern er-spart; ein telefonischer Rundruf hätte es

schließlich auch getan. Aber der deut-sche Kanzler wollte „diese wichtige Ent-scheidung“ in Brüssel selbst bekanntma-chen.

Nach dem Debakel von Korfu, dasdie Briten mit ihrem Veto gegen denbelgischen Premier Jean-Luc Dehaenebesiegelt hatten, brauchte Kohl zumAuftakt der halbjährigen deutschen Prä-sidentschaft eine positive Botschaft. DerKanzler wollte Entschlußkraft vorfüh-ren – und brachte doch nur eine halb-herzige Lösung zustande.

Als er am Freitag abend im BrüsselerRatsgebäude seinen Kandidaten, Lu-xemburgs Ministerpräsidenten JacquesSanter, 57, vorstellte, war ihm allenfallsErleichterung anzumerken, daß keinerder anderen Staats- und Regierungs-chefs in letzter Minute Einspruch gegen

seine zweite Wahl erhoben hatte. Nachdem politischen Schwergewicht JacquesDelors, der „die europäische Entwick-lung geprägt“ habe, so Kohl, trete San-ter „kein leichtes Amt an“. Aber mansolle ihm „eine faire Chance“ geben.

Die Wahl war auf den Luxemburgergefallen, weil Kohls erster Ersatzkandi-dat nach Dehaene, der spanische Regie-rungschef Felipe Gonzalez, in Madridunabkömmlich war. Den NiederländerRuud Lubbers hatte Kohl bei seinerhektischen Suche nach einem konsens-fähigen Kandidaten gar nicht erst ge-fragt. Der Ire Peter Sutherland, der Dä-ne Poul Schlüter oder der Italiener Giu-liano Amato waren nicht mehrheitsfä-hig. Und das belgische Kabinett warnicht bereit, einen anderen als Dehaeneanzubieten.

So blieb schließlich Kohls „FreundJacques“ übrig, dem selbst am heimi-schen Kabinettstisch in Luxemburg ein-schläfernde Wirkung nachgesagt wird.

Ein „Leichtgewicht“ an der Spitze derEU-Kommission, befand die Internatio-nal Herald Tribune .

Alarm hat Kohls Entscheidung auchim Europäischen Parlament ausgelöst.Der Vertrag von Maastricht sieht vor,daß sich der künftige Präsident und dieneuen Kommissare erst dem Votum derStraßburger Volksvertretung stellenmüssen, ehe sie im Januar ihr Amt an-treten. Die Ernennung eines so „schwa-chen Politikers aus einem sehr kleinenLand“, fürchtet der britische Labour-Abgeordnete Glyn Ford, könne sich alsDesaster für Europa erweisen.

Formal paßt Santer in das Raster, dasdie Staats- und Regierungschefs für die

* Mit Jacques Delors und Helmut Kohl bei derVorstellung am vergangenen Freitag in Brüssel.

Page 36: Alexander Solschenizyn - Der Unbeugsame

Regimegegner Solschenizyn*: „Ich sitze der Regierung im Nacken“

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160 DER SPIEGEL 26/1994

stigen Zuspruch in den Meditationszir-keln der Ramakrischna-Jünger von Hol-lywood und lebte dann fünf Jahre langauf seiner Ranch am Rand der Mojave-Wüste im Angesicht der Unendlichkeit.

Geläutert vom fröhlichen Zynismusseiner Jugend, blickte er nun auf die irr-sinnige Menschheit und erzählte vomFortschrittswahn der Technologen unddem Frevel hemmungslosen wissen-schaftlichen Forschens. Aber getrost:Hinter dem Schleier der Maja, der Illu-sion von Raum und Zeit, offenbarte sichihm der göttliche Urgrund allen Seins.

Über sein mystisches Tasten nachdem Göttlichen hat Huxley 1954 einenBericht mit dem Titel „Die Pforten derWahrnehmung“ vorgelegt, in dem ersein Experiment mit der psychedeli-schen Droge Meskalin beschrieb. DieEloge auf die bewußtseinserweiterndeWirkung des im übrigen „völlig un-schädlichen“ Stoffes, von den Blumen-kindern der späten sechziger Jahre zumEvangelium erhoben, trug ihm noch ein-mal wilde Proteste ein. Für ThomasMann etwa, der einst die Kunst des Kol-legen als „eine feinste Blüte westeuro-päischen Geistes“ bewundert hatte,zeugte sie einzig und allein von „gewis-senlosem ästhetischem Selbstgenuß“.

Dennoch, unbeirrt, in der Aura desWeisen, schritt Huxley seiner irdischenVollendung entgegen. „Was für ein gu-ter Mensch! Ein Mensch, der im Friedenmit sich selber lebt“, schwärmte derenglische Kritiker Cyril Connolly nacheinem Interview mit dem Guru der Lite-ratur.

Seine Maria starb, an ihre Stelle tratLaura, die italienische Violonistin undPsychotherapeutin. Nun war sie es, dieden ewig Rastlosen begleitete auf seinenReisen nach Lateinamerika und Indien,zu den Kongressen in Brüssel, Rom undStockholm, in die überfüllten Universi-täts-Auditorien, wo er mit fein modu-lierter Stimme seine Ideen vortrug –über Shakespeare, das bedrohlicheWachstum der Erdbevölkerung und dieHeilswege Buddhas.

1961 zerstörte ein Buschfeuer dasHaus der Huxleys in den Hügeln vonHollywood und raffte alle Habe hinweg,darunter Manuskripte, Tagebücher,Briefe und die 6000 Bände der Biblio-thek. „Für mich“, sagte Huxley, „war esein Zeichen, daß der grimmige Schnittermich ins Auge faßte.“

Zweieinhalb Jahre danach, versehenmit einer Dosis von 100 MikrogrammLSD, die Laura ihm seinem letztenWunsch gemäß injiziert hatte, ging er imAlter von 69 Jahren ein ins Nirwana. Eswar der 22. November 1963, derselbeTag, an dem John F. Kennedy denSchüssen von Dallas zum Opfer fiel, undso kam es, daß die Welt die Nachrichtvom Tod des Schriftstellers AldousHuxley kaum zur Kenntnis nahm. �

L i t e r a t u r

Laus inden PelzDie Geheimdokumente der „AkteSolschenizyn“, die jetztveröffentlicht werden, führen einhilfloses Politbüro vor.

er Fall ist wohl einmalig, in derGeschichte der Literatur wie in derDGeschichte staatlicher Herrschaft:

Das oberste Entscheidungsorgan einerwaffenstarrenden Weltmacht war vieleJahre lang auf die Gedanken und Manu-skripte eines Schriftstellers fixiert wieder Exorzist auf den Teufel. Aber dieser

Alexander Solschenizyn schaffte dieHerren des Sowjetreichs. Sie wurden sowenig mit ihm fertig, daß ihr Scheiterneine gewisse Größe hat: die Größe un-freiwilliger Komik.

Das bezeugt die Opferakte des Nobel-preisträgers, die genau 20 Jahre nachseiner Ausweisung ans Licht kommt. ImZeichen der triumphalen Wiederkehrvon Rußlands bärtigem Propheten hatBoris Jelzin die „Akte Solschenizyn“

** „Akte Solschenizyn 1965 – 1977. GeheimeDokumente des Politbüros der KPdSU und desKGB“. Erscheint im September in der Edition qVerlags-GmbH, Berlin und Moskau; circa480 Seiten; 58 Mark.

* In Moskau 1971 bei der Beerdigung seinesFreundes Alexander Twardowskij.

freigegeben; zeitgleich wird sie imHerbst auf russisch und deutsch er-scheinen**.

Auf einigen hundert Seiten sindSpitzelberichte und Auszüge aus Sit-zungsprotokollen des Politbüros ver-sammelt. Geheimdienstdossiers findensich neben Weisungen an ausländischeSowjetbotschaften und Zusammenfas-sungen von Solschenizyn-Werken wie„Der erste Kreis der Hölle“ und„Archipel Gulag“: insgesamt 170 Do-kumente aus dem Geheimarchiv dessowjetischen Politbüros.

Spektakuläre Offenbarungen gibt esnicht. Ihren Reiz verdankt die ge-druckte Hinterlassenschaft eines ver-sunkenen Regimes vielmehr einer Ei-genschaft, die erst im geschichtlichenRückblick angemessen zu würdigen ist:ihrem hochprozentigen realsatirischenGehalt.

„Die provokatorische Verleihung desNobelpreises an Solschenizyn“ löst1970 im Geheimdienst und in den

höchsten Parteiinstanzen hektische Ak-tivität aus.

Eine Einrichtung, deren Name schonwie eine satirische Erfindung klingt,die „Hauptverwaltung für die Wahrungvon Staatsgeheimnissen in der Pressebeim Ministerrat der UdSSR“, über-schwemmt das sowjetische Zentralko-mitee mit Hiobsbotschaften: positiveKommentare zur Preisverleihung nichtnur beim Klassenfeind, sondern auchin den Gazetten internationaler Bru-derparteien. Vordem treue Vasallen,wie die österreichische KP, bewertenden unerhörten Vorgang „in objektivi-stischem Geist“.

Versteht sich, daß die emsige„Hauptverwaltung“ pflichtgemäß „alle

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Solschenizyn-Gegner Kossygin, Breschnew (1979): „Komplizierte Frage“

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162 DER SPIEGEL 26/1994

vorstehend genannten Zeitungen beider Kontrolle eingezogen“ hat – allesvergeblich, wie wir inzwischen wissen.

An grotesken Pointen herrscht keinMangel. Der KGB-Vorsitzende undnachmalige Parteichef Andropow un-terrichtet im Februar 1972 das Zentral-komitee über ein offensichtlich abge-hörtes, dreistündiges Gespräch desMoskau-Besuchers Heinrich Böll mitSolschenizyn in der Wohnung von des-sen damaliger Lebensgefährtin undheutiger Ehefrau. Entrüstet, ganz ver-folgende Unschuld, referiert der ober-ste Spitzel des Imperiums die von ei-ner zuverlässigen Sowjetwanze überlie-

ferte Klage Solschenizyns, er werde„ständig wie ein Schwerverbrecher ver-folgt“.

Realsatirische Höhepunkte bieten vorallem die Mitschriften der Politbürosit-zungen. Am 30. März 1972 zelebriertder Vorsitzende Leonid Breschnew zu-nächst, über mehrere Protokollseitenhinweg, die bolschewistische Liturgie:„Wir wissen sehr gut, daß unser Volkder Partei ergeben, fleißig und ehrlichist. Es ist von den Ideen Lenins undder Partei durchdrungen . . . Das inter-nationale Ansehen unseres Landeswird von Jahr zu Jahr größer“ und soweiter.

Freilich, die „dunklen Machenschaf-ten“ eines „Häufleins Abtrünniger“zeugten von nachlassender „Wachsam-keit“ im „bolschewistischen Kampf“.

Keiner der Folgeredner versäumt es,bevor er seine eigenen Nullsätze zu Pro-tokoll gibt, rituell die Nullsätze des wei-sen Führers zu rühmen, er hat „treffendfestgestellt“ und „völlig richtig zumAusdruck gebracht“.

Trübsinnig räsoniert der Genosse So-lomenzew über die „schwerwiegendeUrsache, die zu den heutigen Erschei-nungen führte“: Der schwarze Mann istder Breschnew-Vorgänger und Entstali-nisierer Nikita Chruschtschow. Ver-hängnisvoll, da sind sich die vereintenStrategen sicher, war sein Ukas von1962, die Gulag-Erzählung „Ein Tag imLeben des Iwan Denissowitsch“ zu pu-blizieren.

Was tun? Die Zeiten, in denen„Volksfeinde“ ohne Federlesens und inMillionen aus dem Weg geräumt wur-den, stehen allen Anwesenden deutlichvor Augen. Aber so effizient diese Me-thode war, sie streute ein wenig zu breit.Den Massenterror wünscht sich denndoch keiner zurück.

Die Greisenblüte des Bolschewismussteckt in einer aussichtslosen Zwick-

mühle: „Wie uns Genosse Andropowinformierte“, klagt Breschnew hilflos,„gibt es bei uns kein Gesetz, das politi-sches Geschwätz unter Strafe stellt.“

Zwei Wochen später, das KGB hatinzwischen durch „operative Maßnah-men“ die geplante Übergabe des No-belpreises an Solschenizyn verhindert,teilt der Generalsekretär seinem Polit-büro besorgt mit, Solschenizyn sei„sehr erbost“. Vor dessen Rache warntauch ein Aktenvermerk des KGB, derein abgehörtes Gespräch zwischen Sol-schenizyn und dem elfjährigen Sohnseiner Lebensgefährtin wiedergibt:„Die Regierung ist allmächtig, vor ihrkuscht die ganze Welt, doch ich sitzeihr im Nacken . . . Wenn du in ihreHände (im KGB) fällst, dann mußt dudich dort würdig verhalten. Geh nichtvor ihnen in die Knie, bitte sie nicht umNachsicht. Sage ihnen geradeheraus,daß sie sowieso verlieren und den kür-zeren ziehen werden.“

Soviel Entschlossenheit bringt dieHerrschenden in Zugzwang, zumal nunauch der „Archipel Gulag“ weltweit er-scheint. Auf der Politbürositzung vom7. Januar 1974 schimpft Bresch-new, „dieses rowdyhafte Element Sol-schenizyn“ sei „immer noch auf freiemFuß“. Dabei habe es sich „am Allerhei-ligsten, an Lenin“ vergangen.

Verhaften? Einsperren? Verbannen?Ausweisen? Wie wird der Westen rea-gieren, dem man sich gerade als Ent-spannungspartner andient? Andropow,der entschlossenste unter den Zaude-rern, plädiert für die AusbürgerungSolschenizyns, „auch wenn zur Zeit dieKSZE tagt“.

Schwer grübelt die betagte Runde,ob sich überhaupt ein kapitalistischesLand bereit finden werde, den Läste-

rer des „Allerheiligsten“ aufzunehmen.Da probiert Breschnew einen inge-niösen Vorschlag aus: „Wenn wir ihnnun in ein sozialistisches Land auswei-sen?“

Die betretene Reaktion seiner Kolle-gen verzeichnet das Protokoll zwarnicht, aber sie läßt sich leicht ausmalen.„Leonid Iljitsch“, gibt Andropow vor-sichtig zu bedenken, „es wird sich wohlkaum ein sozialistisches Land finden,das ihn aufnimmt. Wer läßt sich schongern eine Laus in den eigenen Pelz set-zen.“

Podgorny hilft der trägen Phantasieseiner Kollegen mit internationalen Lö-sungsbeispielen auf: „In China werdenMenschen offen hingerichtet; in Chileläßt das faschistische Regime Menschenerschießen und foltern. Wir aber habenes mit einem erbitterten Feind zu tunund unternehmen absolut nichts.“

Kossygin regt an, nach der allfälligenAburteilung solle Solschenizyn seineStrafe im sibirischen Werchojansk ver-büßen, „dorthin fährt keiner der aus-ländischen Korrespondenten, weil esallzu kalt ist“.

Mit dem Scharfsinn eines Partei- undStaatsführers faßt Breschnew schließ-lich die hochnotpeinliche Diskussionzusammen: „Das Vorgehen gegen Sol-schenizyn ist keine einfache, sonderneine komplizierte Frage.“

Seine gehorsamst akklamierteSchlußfolgerung aber, man müsse Sol-schenizyn in der Sowjetunion den Pro-zeß machen, hat nur wenige WochenBestand. Nach einer landesweit organi-sierten, von den Akten umfangreichdokumentierten Schmähkampagne wirdder unbesiegbare Schriftsteller am13. Februar 1974 in die Bundesrepublikabgeschoben. �

„Dieses rowdyhafteElement ist

immer noch frei“

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Schriftsteller Solschenizyn bei seiner Ankunft in Wladiwostok: Späte Ernte für langes Leiden

A U S L A N D

142 DER SPIEGEL 23/1994

R u ß l a n d

Nah beim Herrn, fern dem VolkSPIEGEL-Reporter Walter Mayr über die Heimkehr von Alexander Solschenizyn

er Sommer ist nah auf der Popow-Insel im Norden Rußlands. InD Sackleinen gehüllt beladen Staats-

feinde den Rumpf der „Gleb Boki“. Un-vermutet erscheinen Vorboten der Gu-lag-Visite eines hohen Herrn. „Hinset-zen“, ruft geistesgegenwärtig ein Aufse-her den Sträflingen zu: „Wer sich rührt,dem gnade Gott.“ Dann wirft er ihneneine Plane über die Köpfe.

„Potemkinscher Putz“ ist aufgetragenworden, so beschrieb der Chronist Alex-ander Solschenizyn, selbst ein Gulag-Häftling, den Besuch von Maxim Gorkiin Stalins Konzentrationslager 1929.Wurzellose Tannen stecken im Bodender kahlen Insel. Einigen Häftlingensind Zeitungen in die Hände gedrücktworden. Sie halten sie seitenverkehrt,eine verzweifelte Botschaft an den grei-sen Gast.

Gorki, der „Falke und Sturmvogel“unter Rußlands Dichtern, ist die Hoff-nung der Todeskandidaten im Gulag.Aber er ist nicht gekommen, um zu se-

hen und zu hören. Als „unermüdlicheund wachsame Beschützer der Revoluti-on“ preist er die Geschundenen nachdem Lagerbesuch. „Jämmerlich“, befin-det Solschenizyn Jahrzehnte später.

Wieder wird es Sommer in Rußland.Wieder reist ein lange verschollenerDichter über Land, um ein Urteil zusprechen über die Verfassung der russi-schen Seele und des zu ihrem Schutz be-stimmten Gemeinwesens. Er kommt,anders als Gorki, nicht vom Mittelmeerzurück in die Heimat. Er kreuzt vonAlaska aus die Beringsee. Am OstrandSibiriens bricht er auf zum langenMarsch nach Moskau.

„Ex oriente lux“, es ist der National-held persönlich, der Chefankläger widerGulag und Gesinnungsterror – Alexan-der Issajewitsch Solschenizyn. Mißgün-stige Moskauer schleudern ihm entge-gen, außer der Sonne sei bisher wenigGutes vom Osten aus nach Rußland ge-kommen. Doch der Dichter ist unbeirr-bar.

Er hat alles schon einmal erfahren, al-les gesagt, alles geschrieben. So hörtman ihn reden am Japanischen Meer, sosteht es geschrieben in den örtlichenBlättern. Dennoch behauptet er, „zu-hören und sehen“ zu wollen, dennochist er zurückgekehrt in sein „bis zur Un-kenntlichkeit entstelltes Land“, ausdem ihn 20 Jahre zuvor Leonid Bre-schnew in Handschellen verjagt hat-te.

„Ah, unser Held – Solschenizyn“,murmeln die Menschen, ein wenig ver-legen, ein wenig spöttisch, als der Hoch-dekorierte im Hafen von Wladiwostokaltertümelnd wissen läßt, er „verneige“sich vor seinen Landsleuten. Nur ein be-scheidenes Häuflein von ihnen ver-nimmt diese Botschaft. Der durch Gu-lag-Leiden und Nobelpreis Unanfecht-bare, wegen lebensfremder Botschaftenaus seiner amerikanischen Einsiedeleiaber Ungeliebte trifft im sowjetisch ge-stimmten Wladiwostok den Kammertonnicht.

Page 39: Alexander Solschenizyn - Der Unbeugsame

Bei der Begrüßung mit Salz und Brot

Mit Bauernjungen auf der Popow-Insel

Auf dem Markt mit Ehefrau Natalja

Heimkehrer SolschenizynLanger Marsch nach Moskau

143DER SPIEGEL 23/1994

Am Flughafen haben die Immer-noch-Mächtigen den einstigen System-feind mit makelloser Protokollstreckeempfangen: Neben KGB-Leuten, dienicht mehr so heißen, aber weiter soaussehen, stehen Abordnungen aus denSektionen Politik, Literatur und Meta-physik Spalier, letztere angeführt vomschwarzbärtigen Bischof Weniamin.

Jelena, ein russisches Trachtenmädel,entbietet dem Heimkehrer, den es nachalten Bräuchen dürstet, Brot und Salz.Unter der Perücke, die altrussischeHaarfülle vortäuscht, trägt sie die blon-den Strähnen kurz. Der Dichter, dessenSchönheits- wie Bildungsideal älter istals das Jahrhundert, muß das nicht wis-sen. Sackartige Popelinjacke übermHolzfällerhemd, das scheue Gesichtvom Bart zersiedelt, den Blick prophe-tisch in die Ferne gerichtet, zieht Sol-schenizyn los, um die verlorene Heimatzurückzuerobern, Stadt um Stadt. Ernimmt für den Weg nach Moskau denZug und somit einen Anlauf, der denNapoleons von Elba um das Zwölffachean Länge übertrifft und die Landnahmedes Ajatollah Chomeini an Presseprä-senz.

Hat Alexander Issajewitsch heimlichauf jubelnde Landsleute und überfüllteBahnsteige gehofft? Es ist wenig wahr-scheinlich. Noch immer wirkt der Ein-siedler, der sich in den USA hinter Sta-cheldraht verschanzt hielt, eher wie ei-ner, der gern im Schuppen wilden Honigschleudert und nachts noch in der Bibelblättert. Der die Kräuter kennt und mitden Tieren spricht. Nah beim Herrn undfern dem Volk.

Das gilt in mehrerlei Hinsicht. Zwarvermeldet die Lokalpresse beinahe er-leichtert, die „Reise des Weltberühm-ten“ sei rein privat, „offizielle Organe“blieben unberührt. Auch betont der Ex-eget russischer Wesensart selbst, er wol-le die Lage der einfachen Leute kennen-lernen. Doch dazu muß er den hinhal-tenden Widerstand der ostsibirischenOrganisationsmaschine brechen. Siefunktioniert weiter getreu der sowjeti-schen Maxime: „Wir wollten es bessermachen, doch es kam wie üblich.“

Wie bei Staatsbesuchen üblich, mußFolklore im Angebot sein: sauber gestri-chene Holzhäuser, redliches Landvolk,Picknick im Freien. Der Dichter soll dasvon ihm viel besungene einfache Lebensehen. Rund um den Kriegshafen vonWladiwostok mit seinen Atomanlagenund dem kupferroten Brackwasser istdas nicht leicht. Die zwei Bootsstundenentfernte Popow-Insel hat sich zu Vor-

führzwecken bewährt. Tausende vonKilometern östlich jener anderen Po-pow-Insel, auf der sich Gorkis Kniefallvor dem Gulag-Stalinismus zutrug, gehtSolschenizyn an Land. Unterwegs hater die Insel Russki passiert, Stützpunktder russischen Flotte, Straflager bis vorkurzem und berüchtigte Drillanstalt fürMarinefunker. Dort sind in jüngsterZeit Matrosen verhungert. Ein Ama-teurvideo über die Zustände auf Russkiwurde dem russischen Fernsehen zuge-spielt.

Daß Solschenizyn davon erfährt, istkaum zu erwarten. Er hat sich währendder Fahrt mit dem leitenden Meeresbio-logen der Insel Popow eingeschlossen.„Alexander Issajewitsch hat ein halbesHeft vollgeschrieben“, verbreitet seineFrau Natalja später mit andächtigemTremolo. Gemeinsam mit zwei Söhnen,die gelenkig Interview-Wünsche entge-gennehmen, um sie wenig später abzu-schlagen, fungiert Natalja als Presse-sprecherin des Meisters.

Die Insel Popow mit ihren Fischernund Forschern, samt Familien an die2000 Menschen, ist seit Tagen imAlarmzustand. Der Inselpolizist in Trai-ningshosen hat Gesellschaft aus denReihen von Staatssicherheit und Innen-ministerium bekommen. Die Breit-schultrigen tragen weiter Anzüge undKrawatten wie in den klassischen B-Movies aus dem Reich des Bösen. Diealten Drahtzieher schleusen das KGB-Opfer Solschenizyn ins neue Rußland.

Das Programm sieht vor: Picknick imWald unter lindgrünem Laubdach, Ge-spräche mit Wissenschaftlern, Besuchdes Fischverarbeitungskombinats, da-zwischen mehrfach freies Schlendern.Für die Tafel ist frühzeitig mit Dynamitgefischt worden, da die See gewöhnlichnichts mehr hergibt. 90 Prozent der Un-terwasserfauna und -flora seien in denletzten fünf Jahren abgestorben, bilan-ziert ein Meeresbiologe.

Der Maschinist Wiktor, der fernabvom Festmahl auf die Mole blickt, be-ziffert seinen Monatslohn bei der Fisch-fangkooperative mit 100 000 Rubel. So-viel kosten zehn Kilo fettes Schweine-fleisch oder fünf Fährtickets zum Fest-land. Seit Januar hat er keine Kopekemehr gesehen. Das geht vielen in derGegend so.

Ob Alexander Issajewitsch vom Di-rektor der Kooperative, vom Chef derVerwaltung oder vom Gelehrten Ilji-tschow von den Sorgen des Inselvolkserfahren hat? Für bohrende Fragenbleibt wenig Zeit, der Fahrplan drängt.Immerhin, zwei blonden Dorfbuben,die des Weges kommen, streichelt derPatriarch noch das Haar und sprichtwürdig: „Die Zukunft gehört euch, mei-ne Söhne.“

Daß da einer vor aufgepflanztenFernsehkameras am eigenen Denkmal

Staatsschützer schleusendas KGB-Opfer

ins neue Rußland

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Solschenizyn-Familie in Wladiwostok: „Die Zukunft gehört euch, meine Söhne“

144 DER SPIEGEL 23/1994

meißelt, sich beim Streicheln, Reden,Weissagen selbst zusieht, ist nicht be-weisbar. Daß Staatsbesucher nichts vomrichtigen Leben erfahren, schon eher.

Aber vielleicht hat er ja insgeheimdoch anderes vor, der alte Alexander Is-sajewitsch. Mit 75 endlich Subjekt sein,nach all dem Dulden – Krieg, Gulag,Verbannung, Ausweisung – eine späteErnte einfahren für langes Leiden? Legteiner Kränze nieder, besteigt Salonwa-gen der Regierung und läuft tapfer ander Leine der Protokollbeamten, wenner nicht an staatsmännischer Pose Gefal-len fände?

Die ostsibirische Organisationsma-schine jedenfalls läuft tadellos. Vorbe-reitet für den Dichter sind unter ande-rem: Besuch des Bauernmarkts inklusi-ve Möglichkeit zum gezielten Gespräch

mit Standbesitzern, Besuch des renom-mierten Gymnasiums Nr. 1, Fahrt zumKosakendorf mit Mittagessen beim Vor-zeigebauern.

Und der große alte Mann akzeptiertklaglos die Maskerade. Lobt Gurkenund Tomaten im Gewächshaus des Ko-sakenbauern. Lächelt den Schulkindernzu, die am Sonntagsstaat als auserwählteGesprächspartner zu erkennen sind unddann prompt vortreten, um den aufop-ferungsvollen Einsatz ihrer Lehrer zupreisen.

„Geändert hat sich wenig“, sagt einervon ihnen, als der Zugereiste gegangenist. „Die Lehrer sind dieselben geblie-ben. Solschenizyn wird erst nächstesJahr auf den Lehrplan gesetzt. SeineBücher gibt es in der Bibliothek nochnicht.“

Alexander Issajewitsch erduldet eineViertelstunde Gefangenschaft im stek-kengebliebenen Lift eines Krankenhau-

ses, erträgt in seinem Quartier den Aus-fall warmen Wassers und den Einfall ei-nes Schwarms Hotel-Huren.

Weiter im Programm, Alexander Is-sajewitsch! Alles ist vorbereitet. Der Si-cherheitschef war früh genug hier undhat das Nötige veranlaßt. Er ist einFreund des örtlichen Gouverneurs, undder Gouverneur ist ein Freund des ge-scheiterten Putschisten Alexander Ruz-koi, aber das möchte er derzeit nichtmehr zugeben. Deshalb sagt er, sie seiengeschiedene Leute.

Deshalb auch wird der Gouverneursehr böse, wenn er kommentieren soll,worüber andere in Wladiwostok höch-stens flüstern: Ruzkoi habe vor demPutsch den hiesigen Flottenkomman-deur besucht, um zu erfahren, was derzu tun gedenke, im Falle eines Falles.

Gut abgeschirmt sei Ruzkoi zum Pick-nick gelotst worden. Unter lindgrünemLaub auf der Popow-Insel.

Warum erzählt niemand dem altenAlexander Issajewitsch, wem er da lä-chelnd die Hände schüttelt, mit seinemBesuch und seinem Namen den Steigbü-gel hält?

Der Gouverneur Jewgenij Nasdraten-ko, so heißt es im geheimen Bericht derMoskauer Kontrollkommission vom 25.November 1993 an den „sehr geehrtenBoris Nikolajewitsch“ Jelzin, tue nichtsgegen die Korruption und die tiefe Kriseder Wirtschaft. Als Mitglied im Direkto-renrat des Industriekartells „fakt“ sei ervielmehr der Steuerhinterziehung mit-verdächtig. In der Region verschwindeknapp die Hälfte des Sozialproduktsdurch „negative Momente“ – geklaut.

Die reiche Provinz mit ihren Gold-und Titanvorkommen, mit Holz, Fischund dem chinesischen Markt vor der

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Horn beim SPIEGEL-Interview: „Manche sagen wieder Genosse“

Grenzöffner Horn (r.)*: „Zuerst nach Bonn“

A U S L A N D

145DER SPIEGEL 23/1994

Tür muß von Moskau alimentiert wer-den. Die Milch- und Fleischproduktionist auf das Niveau der fünfziger Jahre zu-rückgefallen. Er rege an, schreibt derKommissionschef, „Jewgenij Nasdraten-ko vom Amt des Administrationschefs zuentbinden“. So weit ist es nicht gekom-men. Der Gouverneur hat mächtigeFreunde in Moskau. Um die Pflege dieserBeziehungen bemüht er sich nach Kräf-ten. Nun darf er sich Hoffnungen auf einMinisteramt machen.

Und so sonnt er sich, fett lächelnd undgestützt auf knapp 100 Prozent der Stim-men des Regional-Sowjet, neben dem Ri-goristen Solschenizyn, der gerade an derTechnischen Hochschule laut verkündethat, er halte nichts von Parteien und Pro-grammen – entscheidend seien die Tu-genden des einzelnen Mannes: Ehrlich-keit, Mut, Geist.

Die von altrussischem Sittenkodex um-wölkte Morallehre des Greises wirkt mit-ten im Gründerzeitfieber der herunterge-kommenen Stadt im Fernen Osten welt-fremd. Mag er gegen die „Verseuchungder russischen Sprache“, gegen Porno-graphie und die Gottlosigkeit seiner Zeitwettern – die Leute lauschen ihm unbe-eindruckt. Sie sind der Predigten satt.

Der Dichter, der seinem Ältesten denaltertümlichen Namen Jermolai gab undihn mit Ermunterungen wie „recht getan“oder „du Recke“ anspornt, Alexander Is-sajewitsch Solschenizyn reist im Salonwa-gen 18 der russischen Regierung, bezahltvon der BBC, vergebens gegen die Zeitan, als wandelnder Gen-Pool eines ver-schollenen Rußland, durch Exil von so-wjetischer Mutation verschont.

Als Mann aber, der die Wahrheit ge-sagt hat, als das noch Mut und meist dieFreiheit kostete, hat er im Gedächtnisvieler Bestand. An jenem heißen Tag, alsder Dichter samt Entourage zum Fest-mahl auf der Popow-Insel verschwindet,macht vorn an der Mole eine Barkassefest. Am Steuer steht Wladimir Prichrod-ko, ein schmaler Mann mit feinen Zügenund traurigem Lächeln.

Er ist einer, der dem vorwärtshasten-den Alexander Issajewitsch hätte berich-ten können vom armseligen Leben immodernen Rußland. Wladimir ist nichtimmer mit kleinen Kähnen zwischenWladiwostok und der Popow-Insel ge-kreuzt. Er war Kapitän auf hoher See undlief schon zu Sowjet-Zeiten Japans Küstean. Das war damals lukrativ und wäre esheute noch viel mehr. Eine kleine Un-achtsamkeit hat ihn aus der Bahn gewor-fen.

Auf der Rückfahrt von einer Japan-Tour 1977 fanden Kommissare währendeiner Routinekontrolle auf dem Contai-ner-Schiff „Alexander Fadejew“ bei Wla-dimir Prichrodko ein Buch, das es offi-ziell auf sowjetischem Boden nicht gab:„Archipel Gulag“ von Alexander Sol-schenizyn. �

U n g a r n

„Die rechten Parteienhaben versagt“Wahlsieger Gyula Horn über die Rückkehr der Sozialisten an die Macht

SPIEGEL: Herr Horn,Ihr schwerer Autoun-fall macht Ihnen ganzsichtbar noch zu schaf-fen.Horn: Es geht mirschon besser, obwohlmir dieser Apparat,der sieben Kilo wiegt,doch gewisse Schwie-rigkeiten bereitet, vorallem beim Schlafen.Aber lassen Sie unszum politischen The-ma kommen.SPIEGEL: Was der un-garische Gulaschkom-munismus in jahrzehn-telanger Herrschaftnicht erreichte, schaff-te in nur vier Jahrendie erste frei gewähltekonservative Regie-rung: Die Ex-Kommu-nisten sind heute mitihrem Wahlsieg popu-lärer als je zuvor.Horn: Was ist daranverwerflich, daß 54Prozent der Ungarnuns Sozialisten ihre Stimme gaben? Dieüberwiegende Mehrzahl der Wählersind ja Lohnempfänger und Arbeit-nehmer; im großen und ganzen spie-gelt das Wahlergebnis die Realitätder ungarischen Gesellschaftsstrukturwider.SPIEGEL: Spricht da nicht der alte Le-nin-Jünger Horn, der zwar im Septem-ber 1989 den Stacheldraht an der Gren-

ze zu Österreich durchtrennte und soTausenden von geflohenen DDR-Bür-gern die Ausreise ermöglichte, abergleichzeitig an sozialistischen Ideen fest-hielt?Horn: Mit solch einer Frage schließenSie aus, daß der Mensch durch Erfah-rung lernt. Mein Umdenkungsprozeßhat nicht erst gestern oder vorgesternbegonnen. Ich gehörte zu denjenigen,

die bereits Mitte dersiebziger Jahre Kon-takte zu den sozial-demokratischen Par-teien Westeuropassuchten und fanden,in erster Linie zurSPD. Wir sind alsoim Laufe der Jahredurch die Schule der

* Im Juni 1989 mit demösterreichischen Außen-minister Alois Mock beimDurchtrennen des Sta-cheldrahts an der öster-

reichisch-ungarischenGrenze.

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