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Jenseits von Carl Schmitt: Wissenschaftsgeschichtliche Richtigstellungen zur politischen Theorie im Umkreis der "Frankfurter Schule" Author(s): Alfons Söllner Reviewed work(s): Source: Geschichte und Gesellschaft, 12. Jahrg., H. 4, Theorieprobleme (1986), pp. 502-529 Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40185420 . Accessed: 30/04/2012 18:01 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Geschichte und Gesellschaft. http://www.jstor.org

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Jenseits von Carl Schmitt: Wissenschaftsgeschichtliche Richtigstellungen zur politischenTheorie im Umkreis der "Frankfurter Schule"Author(s): Alfons SöllnerReviewed work(s):Source: Geschichte und Gesellschaft, 12. Jahrg., H. 4, Theorieprobleme (1986), pp. 502-529Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG)Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40185420 .Accessed: 30/04/2012 18:01

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DISKUSSIONSFORUM

Jenseits von Carl Schmitt

Wissenschaftsgeschichtliche Richtigstellungen zur politischen Theorie im Umkreis der „Frankfurter Schule"

von Alfons Söllner

„Du argumentierst wie Carl Schmitt!" Eine solche Behauptung kam lange Zeit - anders als inzwischen in Italien und Frankreich - im Wettstreit deut- scher Intellektueller links von der Mitte einer scharfen Attacke gleich. Wurde sie zurecht aufgestellt, bedeutete sie das politische „Aus" für den Attackierten. Heute liegen die Dinge wohl etwas anders; noch immer gilt jedoch: Wird eine solche Attacke als Unterstellung zurückgewiesen, kann sie in eine Disqualifizierung des Kritikers umschlagen. Als Ellen Kennedy, eine amerikanische Dozentin der Politikwissenschaft in England, ihre These vom Einfluß Carl Schmitts auf die „Frankfurter Schule" vor zwei Jahren in Ludwigsburg das erste Mal vortrug, waren ihr vielleicht noch nicht die heiklen Dimensionen der Schmitt-Problematik hierzulande voll be- wußt. Sie mag sich daher über die scharfe Abwehrreaktion, u. a. auch von Jürgen Habermas, gewundert haben, der heute im angelsächsischen Be- reich als einer der bekanntesten politischen Philosophen gilt und dort ange- regter diskutiert wird als zu Hause in Deutschland.1 Diese produktive Naivität kann die Verfasserin aber nicht mehr für sich gel- tend machen, wenn sie jetzt ihre Thesen in offensichtlich wenig modifizier- ter Form in „Geschichte und Gesellschaft" erneut zur Diskussion stellt. Trotz aller Differenzierungen, die ich im folgenden nicht zu verkennen hof- fe, laufen sie darauf hinaus, daß die autoritäre politische Philosophie des Carl Schmitt der Weimarer Republik, sei es offen oder verdeckt, im Ganzen aber bestimmt von „der" - man achte auf den an sich schon kaum vertretba- ren Sammelbegriff - „Frankfurter Schule" beerbt wurde. Nicht sein hin- länglich erforschter Einfluß auf die intellektuelle Vorbereitung des Natio- nalsozialismus,2 auch nicht die Aufklärung heischende, weil tabuisierte

1 Vgl. den Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 29./30. 12. 1984, S. 15. -Ich danke Prof. Herbert A. Strauss vom „Zentrum für Antisemitismusforschung" in Berlin, der mir inner- halb des Forschungsprojektes „Wissenstransfer durch Emigration" die Zeit einräumte, diese Anti-Kritik zu verfassen.

2 Aus der umfangreichen deutschen Literatur zu C. Schmitt vgl. zuletzt V. Neumann, Der Staat im Bürgerkrieg, Frankfurt 1980; zusammenfassend: E. Kennedy, C. Schmitt in West German Perspective, in: West European Politics 7. 1984, S. 120 ff.

Geschichte und Gesellschaft 12 (1986) S. 502-529 © Vandenhoeck & Ruprecht 1986 ISSN 0340-613 X

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Fortexistenz einer an Schmitt orientierten konservativen Staatslehre in der frühen Bundesrepublik3 ist der Fluchtpunkt ihrer Argumentation, sondern die angeblich weit größere Faszination der deutschen Linken durch einen Denker, der sich mit dem totalitären Regime zu arrangieren verstand, wäh- rend jene ins Exil mußten. Die argumentationspolitische Konstellation, die damit heraufbeschworen ist, reiht sich ein in eine unglückselige deutsche Tradition, die von Haber- mas in den 70er Jahren als der „Selbsthaß der Intelligenz" bezeichnet wor- den ist.4 Der Kontext, in dem die Bezeichnung damals Sinn machte, war die berüchtigte Debatte über die sog. „geistigen Ursachen des Terrorismus". Bislang eher liberal argumentierende Vertreter der Intelligenz hatten sich dazu hergegeben, eine durchaus gebotene öffentliche Diskussion über die Resultate der Studentenbewegung dadurch zu polarisieren, daß sie den Se- minarmarxismus, ja das Pathos der Theoriebildung als solches inkriminier- ten und zumindest implizit der geistigen Urheberschaft an den Aktionen der RAF bezichtigten.5 Keine derartige Aktualisierung findet sich, den ver- änderten Umständen entsprechend, in dem Kennedyschen Aufsatz. Den- noch ist die Verdächtigungsabsicht strukturell die gleiche: Wer die liberalen Institutionen der westlichen Demokratien, zentral sind Repräsentativver- fassung, Rechtsstaat und Gewaltenteilung, der Kritik unterzieht - anstatt sie positiv und aktiv zu sanktionieren -, arbeitet an den Voraussetzungen zu ihrer Zerstörung! Unglückselig ist diese Konstellation zunächst deswegen, weil sie von der ar-

gumentativen Auseinandersetzung ablenkt. Für das angeschnittene Thema bedeutet das die Gefahr, daß Verdachtsmomente hin- und her- und natür- lich nicht zufällig von rechts nach links verschoben werden, statt sich der vorrangigen sachlichen Aufgabe zu widmen: der philologisch genauen und historisch reflektierten Rekonstruktion ideengeschichtlicher Zusammen- hänge. Insofern praktiziert Ellen Kennedy genau das, was zu befürchten war, als das Thema des Links-Schmittianismus Anfang der 80er Jahre neu aufgebracht wurde: die Wiederaufmöbelung eines wissenschaftsgeschicht- lichen Ladenhüters, der Totalitarismustheorie.6 Noch unglückseliger aber muß es scheinen, wenn an die Rechts-Links-Gleichung angeknüpft wird von einer Autorin aus einem Milieu, auf das man zu blicken geneigt ist,

3 Interessanterweise gibt es keine Untersuchung dazu. Zur allgemeineren Entwicklung vgl. J. Pereis, Die Restauration der Rechtslehre nach 1945, in: Kritische Justiz 17. 1984, S. 359 ff.

4 In: F. Duve u. a. (Hg.), Briefe zur Verteidigung der Republik, Reinbek 1977, S. 66. 5 Z. B. K. Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen, Hamburg 1976. 6 V. Neumann, Verfassungstheorien politischer Antipoden: O. Kirchheimer u. C. Schmitt,

in: Kritische Justiz 14. 1981 , S. 235 ff. Ich selber habe auf dieses erwartbare Mißverständ- nis eigens hingewiesen: Linke Schüler der konservativen Revolution? - Zur politischen Theorie von Neumann, Kirchheimer u. Marcuse am Ende der Weimarer Republik, in: Leviathan 11. 1983, S. 214, S. 222.

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wenn man der Unkultur des deutschen Selbsthasses zu entkommen ver- sucht. Ist es nicht die angelsächsische politische Kultur, in der seit langem die Philosophie eines authentischen Konservatismus, etwa in der Tradition Burkes, mit einem Denken koexistiert und in argumentativer Auseinander- setzung steht, das „radical" und „liberal" oft als Synonyme erscheinen läßt? Nicht mit solch willkommener liberaler Diskussionskultur wartet jedoch der Kennedysche Aufsatz auf, sondern mit einer Argumentationsstrategie, die so genau auf ein deutsches Trauma paßt, daß man sich fragt, woher sol- che Treffsicherheit bei einer Autorin kommt, die sonst, wie ich zu zeigen hoffe, nur mäßig vertraut scheint mit den Tiefen und Untiefen der Ge- schichte der politischen Theorie im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Fast möchte man vermuten, daß sie keine wohlmeinenden Ratgeber im deut- schen Wissenschaftsestablishment hatte, wenn sie auf einer These beharrt, in der sich - das muß sie mittlerweile bemerkt haben - nicht nur keiner der Betroffenen wiederzuerkennen vermag, sondern deren philologische Be-

weisführung so hochselektiv ist, daß sich die Frage stellt, ob die Aufgabe politischer Theoriegeschichte auf diese Weise nicht überhaupt verfehlt wird. Ich werde mich in der folgenden Kritik, die angesichts ihres Gegenstands zur Anti-Kritik werden muß, auf einige punktuelle Richtigstellungen be- schränken und dabei der Gliederung folgen, wie sie durch Ellen Kennedy vorgegeben ist - Versachlichung tut not, wo Polemik das Argument über-

trumpft. Zwischendurch und am Schluß mag es zu einigen konstruktiven Hinweisen kommen, was denn die Aufgabe politischer Theorie, unter den

heutigen Bedingungen durchaus keine via regia der Politik- und Sozialwis- senschaften mehr, sein könne und wie sie für den hier diskutierten histori- schen Ausschnitt verwirklicht werden könnte. Ich möchte jedoch gerne mit der Bemerkung beginnen, daß ich die zugrundeliegende Deutung des Den- kens von Schmitt originell und einleuchtend finde: Sein operatives Zentrum läßt sich in der Tat treffend als ein schrittweise sich entfaltender und kon- kretisierender Antiliberalismus charakterisieren. Hinzufügen möchte ich

lediglich, daß es nützlich gewesen wäre, seine fundamentalpolitischen Schriften, wie man sie in Analogie zu Heideggers Fundamentalontologie nennen könnte, deutlicher von seinen eher geistesgeschichtlichen und diese wiederum von seinen rechtstheoretischen Arbeiten zu unterscheiden, ohne

jedoch den inneren Zusammenhang aus dem Auge zu verlieren.7

1 . Benjamin - Ästhetiker des politischen Dezisionismus? Auch die Form, in der Ellen Kennedy an die politische Theorie Schmitts heranführt, ist zu- nächst durchaus vielversprechend. Sie verweist nicht nur auf das innere Wachstum dieses Denkens und seine unverwechselbare Bauart, sondern sie

7 Paradebeispiele wären, in der angegebenen Reihenfolge: Der Begriff des Politischen; Zur

geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus; Verfassungslehre.

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geht von dem trüben Wurzelgeflecht aus, aus dem diese schillernde Pflanze zusammen mit anderen seit der Jahrhundertwende hervorschießt. Es ist das Deutschland eines grassierenden und freischwebenden Irrationalismus, der sich sozusagen noch nicht entschlossen hat, in welchen politischen Kanal sich der Strom seiner weltanschaulichen Erregtheit ergießen soll. In der Tat handelte es sich um ein mehrdeutiges intellektuelles Milieu, in dem die na- tionalistischen rechten und die kulturrevolutionären linken Bewegungen sich einen kurzen Augenblick berühren konnten. Um so mehr, gerade we- gen der Zweideutigkeit des Ausgangspunktes, muß es aber einer histori- schen Rekonstruktion darauf ankommen, die weiteren Entwicklungslinien genau zu unterscheiden. Ein Punkt, an dem das möglich wird, ist der Kriegseintritt Deutschlands: Der „Griff nach der Weltmacht" (F. Fischer) wurde gleichsam zum Staupunkt, an dem sich die politischen Alternativen zum ersten Mal deutlich scheiden mußten. So ist es ganz richtig, daß Walter Benjamin in der anti-bürgerlichen Ju- gendbewegung vor 1914 seine ersten Impulse empfängt, doch ist die Rede „Vom Leben der Studenten", mit der er sich als Vorsitzender der Freien Studentengemeinschaft Berlin einführte, eher das Gegenteil dessen, als was sie bei Ellen Kennedy erscheint: nicht Annäherung an den politischen Irra- tionalismus, sondern umgekehrt - der unpolitische Wissenschaftsidealis- mus, den Benjamin der studentischen Jugend als Ausweg aus der bürgerli- chen Doppelmoral glaubt zeigen zu müssen, beweist es - das Vorspiel zu seiner Abgrenzung. Nicht in die wenig später ausbrechende Kriegshysterie stimmt er ein, sondern er tut den folgenreichen Schritt, der gerade einem Idealisten der Freien Jugend unendlich schwer gefallen sein muß: Er trennte sich demonstrativ von seinem geliebten, aber „umgefallenen" Leh- rer und „Führer" Wynecken.8 Der einzige positive Beleg für Schmitts Einfluß auf Benjamin, sein ergebe- ner Brief von 1928, in dem die Parallelen zwischen dem Diktatur-Buch und dem Trauerspiel-Buch hervorgehoben werden, entpuppt sich als harmlos, und man fragt sich in der Tat, wozu es der Manipulationen Adornos als des späteren Herausgebers bedurfte. Ellen Kennedy zitiert ihn genüßlich, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, was außer einer akademischen Gepflogenheit dahinter stecken könnte. Als Tatsache bleibt nur, daß in ei- ner geistesgeschichtlichen Studie über das 17. Jahrhundert Analogien zwi- schen der politischen Ästhetik des Barocks und der absolutistischen Sou- veränitätstheorie konstatiert und annotiert werden, für eine Epoche, in der die bürgerliche Trennung von künstlerischer Subjektivität und fürstlicher Repräsentation noch nicht vollzogen war. Sehr viel aufschlußreicher wäre es gewesen, den Punkt aufzusuchen, auf den die Engführung von Politik und Ästhetik jeweils zielt, vor allem aber: wie diese im Laufe der 20er Jahre aktualisiert wird. Während Schmitt zu einer Ästhetisierung des politischen

8 Vgl. W. Fuld, W. Benjamin - Zwischen den Stühlen, Frankfurt 1981, S. 56 ff., bes. S. 65.

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Denkens kommt, unverkennbar im dezisionistischen Gestus seiner funda- mentalpolitischen Schriften,9 zielt Benjamin auf das Gegenteil: auf eine Po- litisierung der Kunst, die seinen gesamten literaturkritischen Arbeiten , al- len voran seiner Surrealismusrezeption, den Weg weist und höchste Ein- deutigkeit in der bekannten Parole von 1936 erreicht, daß auf die Ästheti- sierung der Politik im Faschismus mit der Entbindung des Widerstandspo- tentials der modernen Kunst zu antworten sei.10 Bleibt die „Kritik der Gewalt" von 1921, in der Tat einer der aufschluß- reichsten Texte für das geistesgeschichtliche Szenario von Weimar, der da- mals freilich unveröffentlicht blieb. Seiner Bedeutung kann man unmöglich gerecht werden, wenn man die eine Formulierung von den Parlamenten als einem „jammervollen Schauspiel" herausgreift und dabei versäumt, den Zusammenhang zu erläutern, der übrigens auf einen Gemeinplatz in der späteren (und zu späten) Selbstkritik der SPD hinauslief: daß sie den Au- genblick der „rechtsetzenden Gewalt" versäumt, die Stunde der Revolu- tion nicht im Sinn einer durchgreifenden Veränderung der Gesellschaft ausgenützt habe. Die argumentative Absicht dieses apokryphen Textes ist jedoch weniger auf Aktualisierung als auf die Ertastung jenes Gedankens gerichtet, der sich von den theologischen Jugendschriften über die litera- turkritischen Arbeiten bis in die späten geschichtsphilosophischen Thesen durchzieht. Es ist ein religionsgeschichtlicher und sprachphilosophischer Text zugleich, und er laboriert an der Frage, wie die Utopie der Versöh- nung, die Aufhebung von Entfremdung so tief angesetzt werden könne, daß der geschichtliche Fortschritt dem Fluch der Wiederkehr des Gleichen, der Verewigung von Natur- und Menschenbeherrschung entrinne. Gerade in diesem Kern erweist sich Benjamins Geschichtsphilosophie als das genaue Gegenteil von Schmitts dezisionistischer Anthropologie. Nicht nur geht Benjamin - das Insistieren auf einer Kritik der Gewalt ist nicht nur metaphorisch gemeint - von der Unterscheidung von legitimer und illegiti- mer Gewalt aus, sondern die Kategorie der Entscheidung wird explizit in Relation zur Kritik eingeführt. Das Recht erkenne, schreibt Benjamin, „in der nach Ort und Zeit fixierten Entscheidung' eine metaphysische Katego- rie" an, „durch die es Anspruch auf Kritik erhebt".11 „Illiberal" an diesem Konstrukt ist lediglich die Ablehnung der Selbsttäuschung des Rechtsposi- tivismus, als verdanke sich nicht auch das liberale Institutionensystem, ins- besondere der Rechtsstaat, den Imperativen rechtsetzender wie rechtser- haltender Gewalt. Gerade hier aber setzt das Geschäft der Kritik an, weil

9 Anregend dazu: P. Bürger, C. Schmitt oder die Fundierung der Politik auf Ästhetik, in: C. Bürger (Hg.), Zerstörung, Rettung des Mythos durch Licht, Frankfurt 1986, S. 170 ff.

10 Vgl. bes. W. Benjamin, Der Surrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz (1929), in: ders., Ges. Schriften (Werkausgabe, Bd. 4), Frankfurt 1980, S. 307; ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: ebd. (Bd. 2), 1980, S. 736 ff.

11 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), in: ebd. (Bd. 4), S. 189.

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die Beziehung auf sittliche Zwecke alleine das Mittel, die Gewaltförmigkeit der Rechtsdurchsetzung noch nicht hinreichend rationalisiere und humaner Kontrolle unterwerfe. In diesem Zusammenhang übrigens fällt der Satz, den zu zitieren sich lohnt, weil er nicht nur Licht darauf wirft, wo eine solche weitergehende Kritik anzusiedeln sei, sondern weil er eine unerwartete Brücke schlägt zu der vielleicht anders gemeinten Sprachphilosophie von Habermas: „daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die ei- gentliche Sphäre der Verständigung, die Sprache."12 Diese Belege genügen, um das vollständige Mißverständnis deutlich zu ma- chen, das in einer Analogisierung des Benjaminschen mit dem Schmitt- schen Denkduktus liegt. Und sie unterstreichen für eine frühere Entwick-

lungsstufe im intellektuellen Drama von Weimar, was in der Differenz der Lebensschicksale beider Denker später so unmißverständlich und am Ende mit unüberbietbarer Tragik zum Ausdruck kam: Während der eine sich im vollendeten Gewaltstaat mehr oder weniger gemütlich einzurichten wußte, begab sich der andere auf die Flucht und beging in der Stunde der Verzweif-

lung Selbstmord. Benjamin war, als Jude, Sozialist und Avantgardist das

prädestinierte Opfer jener existentiellen Definition des Politischen, in die nicht nur die Unterscheidung von Freund und Feind, sondern, was oft über- lesen wird, noch grundlegender die Kategorie des Fremden eingegangen war. Unmißverständlich heißt es in Schmitts „Begriff des Politischen" an zentraler Stelle, der Feind sei „eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist".13 Und Schmitt hat dann 1933 bekanntlich nicht lange gezögert, den Konkretisierungsschritt in den offenen Rassismus mitzumachen - man lese dazu seine Denunziation von Hugo Preuss und die Hobbes-Schrift von 1938 nach!14 Damit aber ist eine sozialgeschichtliche Dimension angesprochen, die Ellen

Kennedy in ihrer Abhandlung durchgehend vernachlässigt - mit einer Fol-

ge, die, bedauerlicher als alle philologische Verzerrung, zu einer vollkom- menen Desensibilisierung dieser Art von politischer Geistesgeschichte führt, zu einer schon skandalös zu nennenden Ahnungslosigkeit, was über-

haupt im Verhältnis zwischen dem Vordenker der Gegenrevolution und dem Kreis der „Frankfurter Schule" zur Debatte ansteht. Es ist, sicherlich in der sublimierten Form wissenschaftlicher und philosophischer Gegner- schaft ausgetragen, das Verhältnis von Henker und Opfer, von „deutschem

12 Ebd., S. 192. 1 3 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort u. drei Corrola-

rien, Berlin 1963, S. 27. 14 C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933, S. 13; ders., Der Leviathan in der

Staatslehre des T. Hobbes (1938), ND 1982, S. 92 f., ders., Die deutsche Rechtswissen- schaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, in: Deutsche Juristen-Zeitung Okt. 1936, Sp. 11 93 ff.

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Herrenmenschen" und „jüdischem Untermenschen" - eine existentielle Konstellation, die auszuloten die eigentliche Aufgabe sensibler Geschichts- schreibung auf diesem Gebiet sein müßte. Ihre Tabuisierung, wenn sie denn stattgefunden haben sollte, hätte seitens der Opfer nichts mit Einverständ- nis, sehr viel aber mit dem Schweigen zu tun, mittels dessen die Davonge- kommenen ihre verzweifelte Solidarität mit den anonym Ermordeten glaubten dartun zu müssen. Dieser Gedanke, bekanntlich Gemeingut der Überlebenden des Holocaust, scheint mir der einzige, der an das Thema überhaupt heranreicht. Inwiefern dieses Schweigen in Sprechen umschlägt und damit zum stärksten Unterpfand wider das Vergessen wird, darf in ei- nem polemischen Kontext unexpliziert stehen bleiben.15

2. Kirchheimer - der Jungsozialist als Theoretiker der homogenen Demo- kratie? Der Zeitbezug, der bei Benjamin in der sublimen und keineswegs unmittelbar politischen Form des geschichtsphilosophischen Reflektierens vorliegt, ist bei Otto Kirchheimer viel direkter und konkreter greifbar. Schon in seinen Weimarer Schriften findet sich ein Denktypus, in dem theo- retische Analyse und politische Intervention schlechthin untrennbar sind. Wahrscheinlich war es diese Verbindung von Abstraktion und Konkretion, von gedanklicher Pointierung und überraschender Situierung, die vor allem Otto Kirchheimer seinem Doktorvater abgeschaut hat, außer den schlag- fertigen Metaphern, die aus eben dieser Verbindung resultieren. Nehmen wir aber ruhig einmal jene weiterreichende gedankliche Intimität an, die Ellen Kennedy in der Beziehung zwischen Schmitt und seinem „Schüler" unterstellt und die für ein traditionelles Lehrer-Schüler-Verhältnis in den 20er Jahren nicht unrealistisch ist. Die Interpretin ist klug genug, die ange- nommene Abhängigkeit zweifach einzuschränken: Einmal soll sie sich nicht auf die politischen Zielvorstellungen beziehen; zum andern wird in einer widerstrebenden Schlußsentenz eingeräumt, daß sich Kirchheimer seit dem Herbst 1932 von seinem Lehrer eindeutig distanziert hat. Was bleibt dann jedoch, fragt man sich ebenso realistischerweise, noch üb- rig an Terrain für die Beweisführung? Will man sich nicht in die falsche Al- ternative begeben, das Problem entweder zu psychologisieren oder in einen politischen Richtungsstreit aufzulösen, um womöglich bei der Alibifloskel zu landen, daß Jugendsünden - Kirchheimer zählte 1928 23 Jahre - noch am ehesten verzeihlich sind, wird man ganz simpel-philologisch nach dem argumentativen Leitmotiv dieses ebenso wortreichen wie vorwitzigen Jung-Sozialisten suchen. Wo also findet sich in seinen Arbeiten bis 1932 eine Stelle, die tatsächlich auf eine strukturelle Analogie zum liberalis-

15 Vgl. z. B. G. Steiner, Sprache u. Schweigen, Frankfurt 1973; Th. W. Adorno, Versuch, das Endspiel zu verstehen (1961), in: ders., Ges. Werke, Bd. 11, Frankfurt 1974, S. 281 ff.; P. Weiss, Laokoon oder über die Grenzen der Sprache (1965), in: ders., Rapporte, Frankfurt 19812, S. 170ff.

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mus-kritischen Kern von Schmitts Weimarer Schriften schließen läßt? Es müßte eine These sein, in der das Verhältnis von Liberalismus und Demo- kratie nicht nur als ein historisches Spannungsverhältnis aufscheint, son- dern eine These, in der Demokratie mit volkhafter Homogenität positiv identifiziert wird, um von hier aus, von einer substantialistischen Ontologie her, einen unauflöslichen und apriorischen Gegensatz zu liberalen Ideen und Institutionen zu konstruieren. Wie Ellen Kennedy plausibel herausstellt, freilich theorielogisch nicht hin- reichend auslotet, regiert bei Schmitt in der Tat die ewig wiederholte For- mel, daß Demokratie nur als „Identität zwischen Regierenden und Regier- ten" zu definieren sei.16 Dies ist das strategische Zentrum eines fundamen- talistischen, ontologischen Denkens, mit dem die liberalen, freiheitlichen Elemente der liberalen Tradition aus den Angeln gehoben werden und das an anderer Stelle als Definition der Souveränität durch den Ausnahmezu- stand oder als Definition des Politischen durch die Ausgrenzung des innen-

politischen Feindes auftaucht.17 Jede substanzialistische Theorie, hier der Dezisionismus, kennt diese dunkle Stelle, an der der logische Regreß -

wenn man so will: das Denken - zum Stillstand kommt. Doch laufen Kirch- heimers Gedanken wirklich genau - und auf solche Genauigkeit kommt es

jetzt wirklich an! - parallel? Nehmen wir die beiden Texte, die am meisten schmittianisch klingen: seine Bonner Dissertation von 1928 und „Weimar -

und was dann?" von 1930, wahrhaftig bereits ein kleines Meisterstück poli- tologischer Analyse. Es handelt sich um die Texte, in denen sich die fast schon berüchtigten Me-

taphern von der „Formaldemokratie" und vom „Rechtsmechanismus",18 von der „Verfassung ohne Entscheidung" und vom „dilatorischen Formel-

kompromiß"19 finden. Sehen wir jedoch hin, was Kirchheimer genau schreibt. In der Doktorarbeit wird der Abschnitt, der die historische Ent-

wicklung des Verhältnisses von Demokratie und Liberalismus behandelt, mit folgenden Sätzen eingeleitet: „Die Geschichte des 19. Jahrhunderts, der Schauplatz des Kampfes und endgültigen Sieges der Demokratie, hat aber unter dem Eindruck jenes erbitterten Kampfes vergessen, danach zu

fragen, was der mögliche und stets veränderliche Inhalt der neuen Volks- herrschaft sei, ein Versäumnis, das durch die absolute Gleichsetzung, die man bald darauf zwischen Volk und Demokratie einerseits, Liberalismus und Bourgeoisie andererseits vornahm, genugsam verständlich erscheint.

16 Z. B. C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin

19262, S. 21. 17 Z. B. C. Schmitt, Politische Theologie (1922), Berlin 19793, S. 1 1 ; ders., Begriff des Politi-

schen, S. 26 f. 18 O. Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus u. Bolschewismus (1928), in: ders., Von

der Weimarer Republik zum Faschismus, Frankfurt 1976, S. 36 f. 19 O. Kirchheimer, Weimar- u. was dann? (1930), in: ders., Politik u. Verfassung, Frankfurt,

1964, S. 32, S. 52 ff.

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Denn hiermit war der Gegensatz vom rein Politischen ins Soziale abgewan- delt, und von nun an verbergen sich hinter dem Terminus „Demokratie" bestimmte Vorstellungen sozialer Homogenität."20 Worauf es hier u. a. ankommt, ist das Wörtchen „verbergen". Weit gefehlt, daß Kirchheimer die Schmittsche Gleichsetzung von Demokratie und Ho-

mogenität für sich selber akzeptiert, geht es ihm vielmehr umgekehrt dar- um, daß die Berufung auf demokratische Ziele für wechselnde soziale In- teressengruppen zum Legitimationsmuster wird, ihre jeweiligen Ansprüche als allgemeine auszugeben - eine ideologische Taktik, die für Bürgertum und Proletariat gleichermaßen gilt. Soweit er Funktionsvoraussetzungen der Formaldemokratie annimmt, ist es nicht die Schmittsche „Substanz" des Volkes, ist es überhaupt kein ontologisches, sondern ein historisch-so- ziologisches Denkschema, von dem her argumentiert wird. Eine Formulie- rung wie: „Indessen gehört zu den konstitutiven Merkmalen der Wertde- mokratie keine apriori bestimmte, sondern lediglich eine über die rein poli- tische Gleichberechtigung hinauszielende Werteinheit,"21 kann man sogar als Ontologie-Kritik auffassen, positiv zielt sie auf die sozialstaatliche Transformation der Formaldemokratie. Deren „Existenzvoraussetzun- gen" wiederum werden für die verfassungsrechtliche Gegenwart von Wei- mar, die Kirchheimer durch das Spannungsverhältnis zwischen liberal- und sozialstaatlichen Tendenzen charakterisiert sah, so aufgelistet: „ein annä- herndes Gleichgewicht der sich bekämpfenden Klassen und die daraus re- sultierende stillschweigende Abmachung, solange diese Gleichgewichts- lage andauere, durch die Wahlen und ihr zufälliges Mehrheitsergebnis ent- scheiden zu lassen, wer die Regierung übernehmen solle."22 Nicht erst seit 1932, als es in dem entwicklungsträchtigen Analysemodell von der „zweistufigen Legalität" offensichtlich wurde, sondern schon für die Phase der direkten Anleitung durch den Doktorvater gilt also, daß ideo- logiekritische, kombiniert mit klassensoziologischen Erkenntnisinteressen dominieren. Das bedeutet, daß das marxistische Denkmodell die von Schmitt übernommenen Metaphern und Theoreme von vorneherein über- lagert und transformiert, daß der Marxismus vor dem Schmittianismus ran- giert, so wenig dies methodologisch auch reflektiert ist. Man kann densel- ben Tatbestand auch negativ und damit hypothetisch ausdrücken: Hätte Kirchheimer tatsächlich primär als Schmittianer und erst sekundär als Mar- xist argumentiert, hätte er sich vor allem auf die fundamentalpolitischen Schriften Schmitts stützen müssen; er hätte die Ontologie von Freund und Feind, die Dezision des Ausnahmezustandes ins Zentrum stellen müssen - und eine Volkskategorie, die ihre „Substanz", die rassistische Ausgren- zung, bald an den Tag legen sollte.

20 Kirchheimer, Zur Staatslehre, S. 33. 21 Ebd., S. 34. 22 Ebd., S. 35.

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Nichts dergleichen aber findet sich bei Otto Kirchheimer, wie man auch in „Weimar - und was dann?" nachlesen kann. Wenn hier die Krise der Wei- marer Verfassung in aller Schärfe als Krise des Liberalismus dargetan wird - zugegeben mit Hilfe Schmittianischer Metaphern, wobei aber gerade der Kompromißbegriff als zu unscharf, weil zu unsoziologisch abgelehnt wird -,23 ist es ganz unzweideutig, womit die 1930 bereits unübersehbaren Funktionsdefizite der liberalen Garantien und Institutionen der Weimarer Demokratie begründet und damit erklärt werden: nicht aus einem apriori- schen Widerspruch zwischen substanzhafter Demokratie und dem Verbund von Grundrechten, Parlamentarismus und Rechtsstaat, sondern schlicht und dennoch realitätsgerecht aus der Tatsache, daß der historische Kom-

promiß, aus dem die Verfassung von 1919 hervorgegangen war und der al- lein ihre Funktionstüchtigkeit in der politischen und sozialen Wirklichkeit

garantierte, dabei war, aufgekündigt zu werden - und zwar nicht von der SPD und den Freien Gewerkschaften, sondern vom Bürgertum und den nie entmachteten Vertretern der alten Funktionseliten in der Bürokratie, der Justiz und im Reichspräsidentenamt. Die Schrift „Weimar - und was dann?" ist zu bekannt, als daß ein detaillierter philologischer Beleg dieser

Behauptung notwendig wäre. Sie reiht sich, wie alle anderen Schriften Kirchheimers, eindeutig, wenngleich am linken Rand in die Argumentatio- nen der Neumann, Fraenkel, Heller u. a. ein, also in einen Verband von Geistern, die sich, wie eine soeben erschienene Arbeit wieder nachweist,24 zu einem charakteristischen Weimarer Phänomen, zur Galerie sozialisti- scher Verfassungstheorien, zusammenschließen. Wie sich diese Tradition über die Emigration hinweg in die Bundesrepublik hinein: bis hin zu Abendroth, Ridder, Seifert - und eben Habermas, fortsetzt und verändert, das zu untersuchen, wäre eine reizvolle Aufgabe künftiger Wissenschafts-

geschichte. Man mag der Auffassung sein, daß die Schärfe und die auffahrende Geste, mit der Verfassungsnorm und Verfassungsrealität bei Kirchheimer kon- frontiert werden, überflüssig waren, doch sollte man darüber die Schärfe der realen Krisenlage seit 1930 und überhaupt die kulturelle Hektik nicht

vergessen, die Weimars Ende intellektuell so faszinierend macht.25 Mit Si- cherheit war es nicht zuletzt diese gedankliche Zuspitzung und damit indi- rekt auch das Verdienst Schmitts, worin man heute die hervorgehobene wissenschaftsgeschichtliche Stellung des jungen Sozialisten zu sehen hat. Was an „Weimar - und was dann?" so interessant ist, ist doch gerade der

23 Kirchheimer, Weimar, S. 154. Auch Anmerkungen sollte man lesen! 24 W. Luthardt, Sozialdemokratische Verfassungstheorien in der Weimarer Republik, Opla-

den 1986. 25 Davon leben gerade gute angelsächsische Darstellungen der Weimarer Kultur wie: P. Gay,

Weimar Culture: The Outsider as Insider, New York 1968, oder Walter Laqueur, Weimar. A Cultural History, New York 1976.

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ebenso hellsichtige wie unheimliche prognostische Blick auf jenen Ero- sionsprozeß, der die Weimarer Demokratie dann tatsächlich hinweggerafft hat. Diese in der Geschichte der Politikwissenschaft seltene Koinzidenz von Analyse und tatsächlichem Verlauf in die Behauptung umzukehren, als habe Kirchheimer damit zur Zerstörung des Weimarer Liberalismus beige- tragen, entbehrt nicht nur jeden Augenmaßes für den Wirkungszusam- menhang von Theorie und Praxis, sondern stellt zudem eine perverse Ver- kennung der Rettungsabsichten dar, die Kirchheimer mit den sozialdemo- kratischen Denkern der Epoche verbindet. Natürlich waren diese nicht unmittelbar auf den Liberalismus als solchen bezogen, also auf eine Tradi- tion, die sich in Deutschland längst vor Weimar selber aufgegeben hatte, doch steht außer Zweifel, daß in der sozialen Demokratie die Errungen- schaften des Liberalismus aufgenommen, im Hegeischen Sinne „aufgeho- ben" sein sollten. „Einer vorhandenen Sozialordnung nach außen Ausdruck zu verschaffen, sie sinnfällig repräsentieren, kann eine Demokratie. Indem man die For- men der Demokratie mit ihrem Inhalt verwechselte, unterließ man, dieser Verfassung ein politisches Programm zu geben."26 Solche skeptischen Formulierungen sind kein plakatives Bekenntnis, wie es Ellen Kennedy, in

Rückprojektion einer erst in der Bundesrepublik bekanntgewordenen Gleichsetzung von Demokratietheorie und streitbarer Demokratie, offen- sichtlich erwartet, aber sie inszenieren auch kein antiliberales Programm, sondern sie münden in den Nachweis, daß die Demokratie sich einen sozia- listischen Unterbau zu verschaffen habe, wenn der Klassenkampf in einem traditionell antiliberalen Land wie Deutschland wenigstens das Niveau par- lamentarischer Kompromißbildung halten sollte. Noch mehr aber - und darauf kommt es in diesem Zusammenhang an - ste- hen sie für eine Stufe der Verwissenschaftlichung von Politik, die, zwischen dem klassischen Marxismus und moderner politischer Soziologie gelegen, den Abstand zu Schmitt erst richtig ermessen läßt. Nicht dieser, sondern die Generation der sozialwissenschaftlichen Emigranten war es, die konstruk- tiv zur Überwindung jener so verhängnisvollen Spaltung von Positivismus und Metaphysik, von Legalismus und Substantialismus beitrug, die die Ver- zögerung der Moderne in Deutschland, die „verspätete Nation" (H. Pless- ner), mitverschuldet hatte. An diesem Prozeß, dessen Dynamisierung erst durch die Emigration möglich wurde, hatte Kirchheimer und, wie wir wis- sen, die „Frankfurter Schule" insgesamt keinen unbedeutenden Anteil.27 Damit bin ich auf einer Ebene angelangt, die die hier zu kritisierende Ab-

handlung gar nicht zu kennen scheint. Es ist die der Entwicklung der mo-

26 Kirchheimer, Weimar, S. 54. 27 Ausführlicher dazu: H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation u. politische Erfahrung, Frank-

furt 1978; W. Bonß, Die Entdeckung des Tatsachenblicks, Frankfurt 1982, bes. S. 154 ff.; sowie mein: Geschichte u. Herrschaft, Frankfurt 1979.

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dernen Sozial- und Politikwissenschaft, die alleine die Kriterien an die Hand geben kann, um eine Kontroverse wie die hier ausgetragene einiger- maßen differenziert zu entscheiden. Die damit gemeinte Transformation der Fragestellung kann in einem polemischen Kontext nur skizziert werden: Es war bekanntlich Hermann Heller, der 1934 in seiner „Staatslehre" den Schlußpunkt des Weimarer Staatsrechts dadurch markierte, daß er es auf das Programm einer „Wirklichkeitswissenschaft" verpflichtete.28 Aufge- nommen wurde damit der von Max Weber gelegte Faden, der jedoch - da- für ist ihre postume Publikation außerhalb Deutschlands das sinnfällige Symbol - nur mehr mit der Wissenschaftsentwicklung in der Emigration verknüpft werden konnte. Schon an dieser noch zeitgenössischen Konstellation läßt sich zeigen, daß es auch für eine Beurteilung politischer Theorien, insofern sie nicht mehr auf „Wahrheit", sondern auf soziale und politische „Wirklichkeit" gerichtet waren (und sind), nicht genügt, auf geistes- und ideengeschichtliche Zu-

sammenhänge zu reflektieren. Eine solche Beschränkung muß sich rächen, und sie rächt sich hier, indem die zugegebenermaßen schwierige Frage des

analytischen Wirklichkeitsbezugs unter den Tisch fällt und stattdessen

ideologische und weltanschauliche Positionen hin- und hergeschoben wer- den. Um so mehr wird man heute, da die Stellung politischer Theorien zwi- schen Philosophie, politischer Ideologie und Wirklichkeitswissenschaft vollends prekär geworden ist, nicht mehr umhin kommen, eben diesen

Wirklichkeitsbezug zu verstärken, also Theorien danach zu vergleichen, welches Erklärungspotential sie transportieren und warum das so ist. Was als Verengung der Fragestellung erscheint, ist in Wahrheit ihre Aus-

weitung. Gerade eine historische Untersuchung politischer Theorien schafft die Möglichkeiten dazu. Dabei sollte man das überkomplex gewor- dene Feld durchaus, wie Ellen Kennedy es tut, in überschaubare Aus- schnitte zerlegen, doch sollte man sie als Abfolge von Lernprozessen rekon- struieren - oder eben als deren Verweigerung. Ein Vergleich von Schmitt mit Autoren aus dem Umkreis der „Frankfurter Schule" wäre dafür ein be- sonders aufschlußreiches Beispiel, freilich nur dann, wenn man sich eine weitere Perspektive zutraut, etwa die, die man schematisch als den Gegen- satz zwischen innerer und äußerer Emigration kennzeichnen könnte. Was den Fall Carl Schmitt - und parallel dazu den der Gesinnungsfreunde Hei-

degger und Jünger - so aufreizend erscheinen läßt, ist doch die Tatsache, daß sie, wie immer ihr Verhalten unter dem Nationalsozialismus im einzel- nen war, nach 1945 kein Wort der Selbstkritik glaubten verlieren zu müs- sen, während umgekehrt die Kirchheimer, Neumann, Marcuse, wie immer sie zu ihren Lehrern in Weimar gestanden hatten, ihre Anfangsgründe ei- nem vehementen Lernprozeß unterwarfen, unter den Bedingungen der

28 H. Heller, Staatslehre, Leiden 1934, bes. S. 3ff.; vgl. dazu Ch. Müller u. I. Staff (Hg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, Frankfurt 1985.

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Emigration auch unterwerfen konnten - mit Resultaten, die, gerade weil sie in eine intensive Auseinandersetzung mit dem Liberalismus, speziell mit dem amerikanischen eintraten, einen ganz neuen Typus politik- und so- zialwissenschaftlicher Theoriebildung und Forschung schufen, der selber bereits wieder Tradition geworden ist. Ihre Reflexion ist es, die heute nicht verstellt werden darf.

3. Tabuisierung Carl Schmitts durch den Horkheimer- Kreis? Was Ellen Kennedy zur formativen Periode der Frankfurter Schule, die ja nicht zufäl- lig mit der ersten Phase des sozialwissenschaftlichen Exils zusammenfällt, zu sagen hat, ist so sehr bloße Überleitung, daß es sich fast erübrigt, dazu Stellung zu nehmen. Selbst ein Leser, der die „Zeitschrift für Sozialfor- schung" noch nie in der Hand hatte, wird sich dem Eindruck zu entziehen wissen, als reduziere sich der an ihr ablesbare Entwicklungsschub, explosiv wie er ist, darauf, die heimliche Präsenz Schmitts an einem Institut der Co- lumbia University zu überdecken. Verschwörungstheorien haben, wie ein interessantes Theorem gerade aus diesem Institut lautet, Aussicht auf Er- folg nur, wenn sie wenigstens in einem Punkt eine Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Man mag es bedauern, daß die hohe innere Geschlossenheit des Zirkels zu einer Art selbstverschuldeter Isolation in Amerika wurde, doch kann man denselben Tatbestand auch als Bedingung dafür sehen, daß die Aufmerk- samkeit und die unbezweifelbare Produktivität der Gruppe auf die Ent- wicklung in Deutschland orientiert blieben. Übrigens: So lückenlos und undurchdringlich war diese Geschlossenheit gar nicht, sonst wären Neu- mann und Kirchheimer in den inneren Zirkel gar nicht vorgedrungen, wä- ren die umfangreichen Untersuchungen zum Funktionswandel des Rechts seit dem Liberalismus, zur Umstrukturierung von Rechtstheorie und Rechtspraxis in den 30er Jahren, schließlich zur Struktur und Funktion des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates nicht geschrieben worden, weil niemand ihre Verfasser finanziert hätte.29 Unter diesem ziemlich kruden materiellen Gesichtspunkt, der aber für die Situation des Exils als ausschlaggebend anzusehen ist, wird man die Arbei- ten Neumanns und Kirchheimers eben doch in den Umkreis der „Frankfur- ter Schule" zu stellen haben. Dann aber trifft einfach nicht zu, daß es nach Marcuses Liberalismus-Aufsatz von 1934 keine kritische Auseinanderset- zung mit Schmitt mehr gegeben hat. Man lese dazu nur einmal nach, was an wahrhaft entlarvenden, keineswegs tabuisierenden Äußerungen in Neu- manns Funktionswandel-Aufsatz von 1936 steht,30 ganz zu schweigen von

29 Das starke Interesse an Deutschland - und damit auch die Finanzierungsquellen - zeigte sich erst mit dem Kriegseintritt Amerikas.

30 F. Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft (zuerst in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1936), in: ders., Demokratischer u. autoritärer Staat, Frankfurt 1967, S. 67 ff.

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seinem „Behemoth", der in den rechts- und staatstheoretischen Passagen geradezu manisch auf den „intelligentesten und verlässigsten aller national- sozialistischen Verfassungsrechtler"31 fixiert bleibt: Eine so scharfsinnige Kritik an Schmitts Vermittlungsrolle auf dem Weg vom Weimarer Positi- vismus zur Staatslehre des Nationalsozialismus,32 aber auch an seiner un- verblümten ideologischen Rechtfertigung des imperialistischen Aggres- sionskrieges33 ist später so bündig nicht mehr vorgetragen worden. Und daß Kirchheimer nach der Abrechnung mit seinem Lehrer zwischen 1932 und 1935 eine systematische Kritik an Schmitt nicht mehr vorlegt, hängt schlicht damit zusammen, daß er sich Wichtigeres vornahm, daß er sich mehr für die Rechtspraxis und die institutionellen Veränderungen interessierte, die die Nazis auf den Weg brachten; dabei entdeckte er, was heute in der National- sozialismusforschung unumstrittener Konsens ist: daß das scheinbar rück- wärtsgewandte Denken der Weimarer Antidemokraten, in dem Maße, in dem es im terroristischen Regime tatsächlich inkorporiert wurde, eine überraschend moderne Seite zeigte. Kirchheimer nannte sie die total ge- wordene „technische Rationalität".34 Dennoch bleibt richtig, daß der engere Zirkel der Horkheimer-Gruppe seine Aufmerksamkeit nicht auf Institutionen- und Politikanalyse gerichtet hielt, sondern die sozialpsychischen und geistesgeschichtlichen Vorausset- zungen dafür auszuloten versuchte, daß die Weltwirtschaftskrise in Deutschland in ein spezielles Resultat, in die nationalsozialistische Diktatur umschlagen konnte. Nehmen wir also einmal die Hypothese von der Konti- nuität zwischen Liberalismus und Faschismus beim Wort, die in der Tat Marcuses und Horkheimers ideengeschichtlichen, aber auch Horkheimers und Erich Fromms sozialpsychologischen Untersuchungen zugrundeliegt und auf die sich der Schmittianismus-Verdacht stützt. Zweierlei wird von Ellen Kennedy einfach nicht zur Kenntnis genommen, kann nicht zur Kenntnis genommen werden, weil sie sich über die allerdings komplexen methodologischen und forschungsstrategischen Prämissen des interdiszi- plinären Materialismus, wie man das Theoriemodell des „Instituts für So- zialforschung" verkürzt genannt hat, nicht informiert hat.35 Da ist einmal die Annahme, die in der „Zeitschrift für Sozialforschung", etwa in Horkheimers zahlreichen Studien, auch realisiert wird, daß Verän- derungen in der Bewußtseins- und Seelenlage der bürgerlichen Schichten

31 F. Neumann, Behemoth (1942), dt. Frankfurt 1976, S. 77. 32 Ebd., S. 68 ff., S. 93 ff. 33 Ebd., S. 194 ff. 34 O. Kirchheimer, Die Rechtsordnung des Nationalsozialismus (1941), in: ders., Funktio-

nen des Staats u. der Verfassung, Frankfurt 1972, bes. S. 129 f., 141 f. Ebenso Neumann, Behemoth, S. 509 ff., wo wieder fortwährend auf Schmitt Bezug genommen wird.

35 Vgl. zusammenfassend: W. Bonß u. N. Schindler, Kritische Theorie als interdisziplinärer Materialismus, in: W. Bonß u. A. Honneth (Hg.), Sozialforschung als Kritik, Frankfurt 1982, S. 31 ff.

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nicht aus sich selber erklärt werden können, sondern in einen sozialge- schichtlichen und letztlich ökonomischen Rahmen gestellt werden müssen. Nur dann kann die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität überhaupt entschieden werden. Schon Marcuses Liberalismus- Aufsatz von 1934 weist unmißverständlich darauf hin, daß die Kontinuität zwischen dem klassi- schen Liberalismus und den protofaschistischen Denkern nur in einem be- stimmten Bereich anzunehmen ist, nämlich in der naturalistischen Sicht- weise der ökonomischen Ordnung.36 In allen anderen Bereichen, etwa in der politischen Theorie, in der Philosophie und in der Wissenschaftstheorie, kommt es gerade zum Gegenteil, zur Aufkündigung, ja zur Selbstzerstö- rung des bürgerlich-liberalen Erbes. Das ist der zweite Punkt, auf den hier nur hingewiesen werden kann: Ent- scheidend für das Erklärungsmodell der frühen „Frankfurter Schule" ist doch gerade die Schwelle, die der politische Irrationalismus und sein so- zialpsychisches Pendant, die regressiv-repressive Verschmelzung von Füh- rer und Masse, bezeichnen - hier liegt das ebenso wichtige Element der D/skonuität zwischen Liberalismus und Faschismus, wobei freilich Hork- heimer und - für die Massenpsychologie der 30er Jahre - Fromm Sozialhi- storiker genug waren, um den autoritären Unterton nicht zu verkennen, der im bürgerlichen Freiheitspathos immer schon mitschwang.37 Der Testfall dafür ist, wie wir aus der „Autoritären Persönlichkeit" wissen, bis auf den heutigen Tag der Antisemitismus oder allgemeiner: der Ethnozentrismus. Die Verteidigung der rationalen Intentionen wie Verfahren des Horkhei- mer-Kreises - sie lassen sich übrigens bis in die „Dialektik der Aufklärung" und darüber hinaus nachweisen - kann hier abgebrochen werden; denn nicht um eine abgewogene wissenschaftsgeschichtliche Leistungsbilanz geht es in Ellen Kennedys Abhandlung, sondern um die Chronique Scanda- leuse der „Frankfurter Schule". Für diese Absicht aber sind ihr die fettesten Brocken entgangen, auf die hinzuweisen, ich mir die Bosheit nicht verknei- fen kann: Was hat es zu bedeuten, daß es Horkheimer und Adorno nach ih- rer Rückkehr nach Deutschland peinlich darum zu tun war, ihre eigenen Arbeiten aus den 30er Jahren unter Verschluß zu halten? Wie reimt es sich zusammen, daß eine Übersetzung des Instituts-Produkts, das in Amerika rasch als ein Klassiker der Nationalsozialismusforschung, ja zeitweilig als Handlungsanleitung für die Besetzung Deutschlands aufgenommen wur- de,38 verhindert wurde? Schließlich - und überleitend in die Gegenwart: Wieso mußte Habermas zu Wolfgang Abendroth nach Marburg gehen, um sich mit einer Arbeit zu habilitieren, die Horkheimer und Adorno mehr zu

36 H. Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung (1934), in: ders., Schriften, Bd. 3, Frankfurt 1979, S. 22.

37 Vgl. meine Zusammenfassung in: Geschichte u. Herrschaft, S. 70 ff. 38 Vgl. dazu meine Dokumentation: Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland,

2 Bde., Frankfurt/M 1986.

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verdanken glaubte als jeder anderen Tradition deutscher Sozialwissen- schaft? Das alles hat mit Tabus zu tun, die die Heimkehrer im Adenauer- Deutschland sich glaubten auferlegen zu müssen, aber gerade nicht mit sol- chen um Carl Schmitt, sondern viel eher mit solchen, die das offizielle Feindbild der Verdrängungsgesellschaft berührten - und das hieß Kommu- nismus und Marxismus.

4. Habermas - der politologische Aufklärer als heimlicher Schmittianer? Wirkungsgeschichte ist ein komplexes Geflecht von Zusammenhängen, ihre Deutung, wie jedes hermeneutische Unternehmen, ein vorausset- zungsreiches Geschäft. Um seinen Tücken zu entgehen, wurde im angel- sächsischen Kontext bekanntlich ein Verfahren entwickelt, das bisher am häufigsten in der Geschichte der Naturwissenschaften, aber auch in den

Spezialwissenschaften angewendet worden ist: das Auszählen von Zita- ten.39 So ironisch es klingen mag: Ich möchte Ellen Kennedy empfehlen, sich bei der Verteidigung der These vom verdeckten, aber bestimmenden Einfluß Schmitts auf das Denken von Habermas, auf das Maß an Objektivi- tät zu beschränken, das diese quantifizierende Methode leistet. Sie würde dabei, was z.B. den „Strukturwandel der Öffentlichkeit" betrifft, durchaus nicht schlecht fahren. Sie müßte sich auf theorielogische Probleme in Sozio-

logie und Philosophie nicht groß einlassen und könnte trotzdem belegen, daß Schmitt unverhältnismäßig oft, nämlich neun Mal, zitiert wird und daß seine Statthalter in der frühen Bundesrepublik, etwa Ernst Forsthoff sechs Mal und Werner Weber fünf Mal herangezogen werden.

Allerdings wäre sie dann auch gezwungen, die Fehlkonstruktion einer ein- heitlichen „Frankfurter Schule" aufzugeben; Horkheimer und Adorno werden nämlich zusammen nur fünf Mal und Marcuse wird nur zwei Mal zi- tiert.40 Interessant aber könnte es werden, wenn man den quantitativen Vergleich fortsetzen würde und etwa dem Lager der politisch rechtsstehenden Staats- rechtler das linke Zitierkartell gegenüberstellen würde. Dann sähe man, daß Neumann, Kirchheimer und Fraenkel, die wichtigsten Gegenspieler Schmitts in der Emigration, elf Mal zitiert werden. Diese vergleichsweise schmale Zahl würde indessen sofort beträchtlich, auf zwanzig anwachsen, wenn man die nächste Generation linker Staatsrechtler hinzunähme, etwa Abendroth und Ridder, die zusammen neun Mal angeführt werden. Richtig interessant aber würde es erst werden, wenn man die reichlich zitierten Po-

litologen angelsächsischer wie westdeutscher Provenienz auflistete: Wo

39 Vgl. dazu E. Garfield, Citation Judexing: Its Theory and Application in Science, Techno-

logy and Humanities, New York 1978; D. Edge, Quantitative Measures of Communica- tion in Science: A Critical Review, in: History of Science 17. 1979, S. 103 ff.

40 Zum wirklichen Verhältnis zwischen Adorno und Habermas vgl. A. Honneth, Von Adorno zu Habermas. Zum Gestaltwandel kritischer Gesellschaftstheorie, in: Bonß u. Honneth (Hg.), S. 87 ff.

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wäre ein Theodor Eschenburg, ein Wilhelm Hennis, wo ein David Riesman, ein M. Janowitz anzusiedeln, der immerhin sieben Mal genannt wird? Sol- che Fragen könnte man nur beanworten, wenn man das Umfeld genauer ausleuchtete, in das Habermas' frühe Werke vielleicht noch am ehesten ge- hören: die junge westdeutsche Politologie, die das Paradigma der Weima- rer Staatswissenschaft wissenschaftsgeschichtlich auf ebenso dramatische wie vermittelte Weise abgelöst hatte. Doch damit nicht genug: Jetzt müßte man dasselbe für die Soziologie, für die Historiographie, für die Philosophie anschließen usw. Ich möchte das Szenario der Zitiervermessung hier nicht fortsetzen, ob- schon gerade Habermas' Schriften ein reizvolles Versuchsfeld dafür abge- ben dürften, weil er von Anfang an zu den rezeptionsfreudigsten Autoren der Nachkriegsgeschichte zählt. Doch dürfte deutlich geworden sein, wel- che Beweislast man auf sich nimmt, wenn man eine so direkte und starke Linie von der Weimarer Rechten zur westdeutschen Politologie in den 60er Jahren zieht. Es ist nicht so, daß es hier überhaupt keine Zusammenhänge gäbe, man kann ihnen jedoch unmöglich gerecht werden, wenn man, wie es Ellen Kennedy tut, aus einem komplexen Gewebe gleichsam einzelne Fä- den herauszieht. Nun ist sich die Zitieranalyse ihrer Grenzen durchaus be- wußt. Sie weiß, daß positive von negativen Zitaten zu unterscheiden sind, daß überhaupt Quantifizierung nur als Teil eines Zitiervergleichs plausibel ist, daß Zitate im Rahmen von Argumentationstopoi zu lokalisieren sind, und - schließlich und am wichtigsten - daß dies alles, wenn es denn um Theorien geht, nur im Rahmen der Gesamtargumentation eines Autors Sinn macht, die wiederum mit anderen Theoriestrategien zu vergleichen ist. Nichts von solchen methodologischen Überlegungen, Voraussetzung einer seriösen Wissenschaftsgeschichte, findet sich in Ellen Kennedys Zusam- menschau eines Weimarer Antidemokraten mit einem der profiliertesten prodemokratischen Denker der Bundesrepublik. Was auf diese Weise ver- fehlt werden muß, ist nicht nur die fundamental verschiedene Lage der Staatswissenschaft dort und der Politikwissenschaft hier; unklar bleibt auch der Theoriekern des jeweiligen Denkens selber - und damit jenes Zen- trums, von dem aus der Stellenwert einzelner Topoi wie Öffentlichkeit, Rechtsstaat, Repräsentation usw. allein beurteilt werden kann. Was ist dieser Theoriekern im Falle der frühen Schriften von Habermas? Ist es tatsächlich die Demokratievorstellung eines „Weimarer Substanziali- sten", die hier Wiedererstehung feiert, was sinnvollerweise nichts anderes heißen kann, als die schon an Kirchheimer gestellte Frage zu wiederholen: Ob etwa mit jener „Identität von Regierenden und Regierten" (Schmitt), also ontologisch und latent- völkisch argumentiert wird, so daß die Normen und Institutionen der gegebenen Demokratie von vorneherein zum Schei- tern verurteilt sind? Ellen Kennedy widerlegt sich zunächst selber, indem sie immer wieder daraufhinweist, daß der politische Werthorizont von Schmitt und Habermas durchaus verschieden ist. Und was die angeblichen Struk-

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turanalogien in der analytischen Argumentation sind, verrät sie den Unter- stellungscharakter ihrer Parallelisierungen ganz unverblümt, wenn sie ein- räumen muß, daß eine identitäre Demokratietheorie bei Habermas „nur negativ ausgedrückt ist", daß sie lediglich „logischerweise vorausgesetzt" werden müsse.41 Nun gibt es bei Habermas zwar Formulierungen wie: „Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr".42 Ebenso wird dem historischen Liberalismus ein grundle- gender Widerspruch attestiert, etwa: „Der Widerspruch: die Idee der De- mokratie zu proklamieren, in gewisser Weise auch zu institutionalisieren; und doch eine Minoritätenherrschaft auf der Basis einer sozialen Hierar- chie faktisch zu betreiben - ist dem liberalen Rechtsstaat eigentümlich".43 Doch hat das mit einer Denunziation des Liberalismus nichts zu tun, es steht geradezu für das genaue Gegenteil der Argumentation, wie sie von Carl Schmitt seit seiner „geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamenta- rismus" vorgetragen worden ist. Besteht der Witz- und - wenn man es so nennen will - die Methode dieser Art von geistesgeschichtlicher Abhand- lung darin, die idealisierten Ansprüche des alteuropäischen Liberalismus unmittelbar mit der Realität des Weimarer Parteienstaates zu konfrontie- ren - mit dem bekannten Resultat der plebiszitären Demokratie, ist Ha- bermas' Erkenntnisinteresse von vorne herein vollkommen anders ausge- richtet. Die Voraussetzungen für diese Verlagerung sind vielfältiger Natur. In ei- nem polemischen Kontext muß es genügen, auf einen theorieimmanenten Gesichtspunkt zu verweisen. Dabei sei gar nicht in Abrede gestellt, daß auch der Wissenschaftshistoriker häufig in der Gefahr ist, die proklamier- ten Konstruktionsprinzipien eines Denkens gegenüber seinen schwerer greifbaren Unterströmungen überzubewerten. Bei den politischen Schrif- ten von Habermas aber liegen die Dinge vergleichsweise eindeutig. Sie sind so sehr von einem einzigen methodischen Gedanken geprägt, daß es schwerfällt, ihn nicht geradezu überall durchblicken zu sehen. Gemeint ist das Verfahren der „immanenten Kritik". Um nur eine Stelle herauszugreifen, die eine der frühesten Äußerungen von Habermas zu der für ihn verpflichtenden Methode ist - sie spricht in unse- rem Zusammenhang um so mehr aus, als sie einen direkten Zusammenhang mit Geschichte und Gegenwart des Liberalismus herstellt und gleichzeitig eine direkte Übernahme aus Horkheimers und Adornos schwärzestem Buch ist, aus der „Dialektik der Aufklärung". Immanente Kritik ist, zitiert Habermas, dadurch definiert, „daß sie die bürgerlichen Ideale . . . akzep-

41 E. Kennedy in ihrer Anmerkung 65. 42 Habermas, Zum Begriff der politischen Beteiligung (1958), in: ders., Kultur u. Kritik,

Frankfurt 1973, S. 11. 43 Ebd., S. 18.

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tiert, seien es die, welche seine [des Bürgertums] Vertreter wenn auch ent- stellt noch verkünden, oder die, welche als objektiver Sinn der Institutio- nen, technischer wie kultureller, trotz aller Manipulierung noch erkennbar sind ... Sie leiht dem Widerspruch von Glauben und Wirklichkeit die Spra- che und hält sich dabei eng ans zeitbedingte Phänomen".44 Wenn es in Deutschland ein Gegenprogramm zum „Weimarer Substantia- lismus" gab, steckt in diesem Satz seine denkbar schärfste Formulierung. Hier sei nur auf seine demokratietheoretischen Folgen hingewiesen, die sich, wenn der Vergleich mit Weimar schon angestrebt werden soll, noch am ehesten an Hellers Programm der „Wirklichkeitswissenschaft" anleh- nen. Deutlich ist das schon in der Einleitung zu „Student und Politik", übri- gens einer Untersuchung zum Demokratiepotential der Bundesrepublik, die auf die Gefahren politischer Apathie gerade in einer noch ungesicherten Demokratie hinwies. Der Widerspruch von Norm und Wirklichkeit, wie er für den historischen Liberalismus systemimmanent konstatiert wird, wird nun aber keineswegs unmittelbar in die Gegenwart übertragen. Worauf es Habermas vielmehr ankommt, ist zu zeigen, wie dieser Widerspruch sich aus der historischen Entwicklung des liberalen Verfassungsstaates heraus selber ergibt - und verändert. Dieser historische Wandel wird zum zentra- len Untersuchungsfeld in seinem „Strukturwandel der Öffentlichkeit", jetzt noch dadurch verstärkt, daß die Erarbeitung und Erprobung eines so- ziologischen Erklärungsmodells ins Zentrum trifft.45 Zur Debatte steht je- ner komplexe Prozeß, der das Spannungsverhältnis von Demokratienorm und sozialer Wirklichkeit, wie es in der bürgerlichen Publizität im 18. Jahr- hundert keimhaft angelegt war, auf dem Weg ins 20. Jahrhundert transfor- miert hat: Demokratie als „geschichtlicher Prozeß".46 Als Hauptfaktoren werden die folgenden genannt: politisch die Generalisierung des Wahl- rechts, soziologisch das Aufkommen von Massenparteien und Interessen- verbänden, kulturell die Mediatisierung der Meinungs- und Willensäuße- rung.47 Um den Eindruck zu korrigieren, als handle es sich beim „Strukturwandel der Öffentlichkeit" eigentlich um ein apokryphes Spätwerk von Schmitt, muß man die Belegstellen nicht alle auflisten, an denen das Verfahren der immanenten Kritik seine manifesten Folgen zeitigt.48 Es genügt auch, ei-

44 Ebd., S. 53. 45 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), Frankfurt 1969, S. 38ff., 265 ff. 46 Habermas, Zum Begriff, S. 14. 47 Habermas, Strukturwandel, S. 199 ff. 48 Z. B. „Freilich begreifen wir die Grundrechte nicht deshalb historisch aus dem gesell-

schaftlichen Lebenszusammenhang, um sie als pure Ideologie zu entwerten, sondern ge- rade um zu verhindern, daß die Ideen, nachdem ihnen die lebendige Basis entzogen, ihren Sinn preisgeben und sodann rechtfertigen, wovon sie einst die Menschen doch lossprechen sollten: die unaufgelöst substantielle Gewalt von politischer Herrschaft und sozialer Macht, die der Legitimation an öffentlich diskutierten und rational erweisbaren Zwecken

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nige schlichte historische Überlegungen anzustellen. Bei Ellen Kennedy kann es so aussehen, als ob Habermas das Gefälle zwischen Verfassungs- norm und sozialer Realität für die gegenwärtige Gesellschaft nur deshalb aufrechterhalten kann, weil er sich von Schmitt abhängig macht. Nichts ist irreführender als das - und deutlicherer Beweis für die vorne monierte real- analytische Unernsthaftigkeit einer solchen theoriehistorischen Rekon- struktion! Die Herausbildung des Sozialstaates oder - was nur ein anderer Ausdruck dafür ist - des Daseinsfürsorgestaates ist eine ebenso globale wie

lapidare Tatsache europäischer Demokratien, sie anzuerkennen eine

simple Frage des historischen Realitätssinns, ganz gleich von wem man sie

philologisch übernimmt, ob von Forsthoff, Schumpeter oder Abendroth, die Habermas alle drei zitiert. Und daß die Durchsetzung der „catch-all- party", wie Kirchheimer es nannte, und das Aufkommen der Massenme- dien zur Mediatisierung der Öffentlichkeit, also zur relativen Abkoppelung des Wahlvolkes und seines politischen Willens von den parlamentarischen Entscheidungen führen, ist ein ebenso unbezweifelter Gemeinplatz von Fraenkel über Hennis bis wiederum zu Abendroth. Nichts anderes ist auch die These vom Strukturwandel der Öffentlichkeit, die zum Gemeingut der westdeutschen Politikwissenschaft wurde. Erst wenn man sich solcher Zusammenhänge erinnert, begibt man sich auf

jene Vergleichsebene, auf der eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Anfängen von Habermas möglich wird. Erst jetzt befindet man sich auch wieder auf dem eigentlichen Feld der politischen Theorie, auf dem sich in den 50er und 60er Jahren die wissenschaftlichen Geister zu scheiden an-

fingen. Es ging um die Frage, welche Folgerungen man aus dem Sozialstaat, der Parteiendemokratie und der Mediatisierung der Öffentlichkeit zu zie- hen habe. Während ein Forsthoff, in klarer Fortsetzung Schmittscher Ge- danken, zu zeigen unternahm, daß die Sozialstaatlichkeit die Prinzipien des liberalen Rechtsstaates aufhebe - mit Folgerungen, die heute neokonserva- tive Denker wieder ziehen -, trat Abendroth den Gegenbeweis an: Im So- zialstaat werde das Gleichheitsgebot allererst zur sozialen Realität. Genau hier aber läßt sich die Gelenkstelle aufsuchen, an der die politische Theorie von Habermas ansetzte: Sie dachte logisch und immanent zu Ende, was So- zialdemokratie und Sozialliberalismus historisch auf den Weg gebracht hat- ten. Seine Forderung nach Steigerung der Partizipation - „Mehr Demokra- tie wagen!" nannte Willy Brandt es zehn Jahre später- war nicht als Gegen- satz zur repräsentativen Demokratie gedacht, sondern als deren Einlösung und Ergänzung. In „Student und Politik" richtete sie sich z.B. an die Ge- werkschaften und die Beamten!49

weder willens noch fähig ist." Habermas, Theorie u. Praxis, Neuwied 1963, S. 86. Wenn Ellen Kennedy schon die Mühe scheute, dieses Buch auch nur ein einziges Mal zu zitieren, hätte sie auch in den von ihr ausgeschlachteten Schriften von Habermas fündig werden können, z. B. Zum Begriff, S. 54; ders., Strukturwandel, S. 14, S. 101, S. 102 ff.

49 Habermas, Zum Begriff, S. 56 ff.

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Wie „sozialdemokratisch" -diesen Ausdruck ganz nüchtern-konstatierend gebraucht - Habermas von Anfang an gesinnt war, zeigte nicht erst das Verdikt vom „Linksfaschismus", das er 1968 gegen die rebellierenden Stu- denten zur Hand hatte, als diese den Partizipationsgedanken in unkonven- tioneller Form beim Wort nahmen. Auch der Ausgang des „Strukturwan- dels der Öffentlichkeit" war schon so vorsichtig-systemimmanent formu- liert, wie überhaupt nur denkbar. Es heißt da: „Demgegenüber kann sich unter Bedingungen sozialstaatlicher Massendemokratie der Kommunika- tionszusammenhang eines Publikums nur in der Weise herstellen, daß der förmlich kurzgeschlossene Kreislauf der „quasi-öffentlichen" Meinung mit dem informellen Bereich der bisher nicht-öffentlichen Meinungen durch eine in organisationsinternen Öffentlichkeiten entfachte Publizität vermit- telt wird".50 Dieser ohnehin ganz und gar systemimmanente Gedanke ist schon soziologisch gebrochen, wenn vorher darauf insistiert wurde, daß es eine Frage der „empirischen Ermittlung (sei), welches Ausmaß und welche tatsächliche Auswirkung diese Tendenz hat; ob es sich überhaupt um eine fortschreitende oder vielleicht um eine rückläufige Tendenz handelt."51 Wenn solche Formulierungen, in ihrer geradezu peniblen Rückvermittlung an die faktischen Prozesse der Massendemokratie, etwas mit substantieller Demokratietheorie und Antiliberalismus zu tun haben, waren politische Theorien, die das Repräsentativsystem aus der Perspektive einer idealisier- ten attischen Polis, unter der Norm des antiken Praxisbegriffs betrachteten, also etwa die Demokratietheorien einer Hannah Arendt oder eines Wil- helm Hennis,52 potenzierter Carl Schmitt. Hier deutet sich eine Vergleichs- ebene an, die sich weiter auszumessen lohnt, meinetwegen mit dem Blick zurück auf die Weimarer Staatswissenschaften. Während Kirchheimer z.B. zeit seines Lebens der atheoretische „Hersteller politischer Analysen"53 blieb, als der er sich selber empfand, gibt es in der Bundesrepublik eine Re- naissance an politischer Philosophie, deren „wirklichkeitswissenschaftli- chen" Wert man bezweifeln kann. Verglichen mit manchen normativ-phi- losophischen Arbeiten aus der „Freiburger Schule" etwa ist der „Struktur- wandel der Öffentlichkeit" ein eminent historisch-konkretes Buch, das auch den im Staatsrecht dominierenden Abstraktionen, etwa dem Smend- schen Begriff der Integration, Paroli bietet. Überhaupt erweisen sich die frühen Arbeiten von Habermas als ein wissen- schaftsgeschichtlicher Punkt, an dem studiert werden kann, was politische Theorie in dem sich ausdifferenzierenden Feld von politischer Soziologie, Staatsrecht und Philosophie überhaupt noch zu leisten vermochte. Das ist,

50 Habermas, Strukturwandel, S. 270 f. 51 Ebd., S. 269. 52 Zu untersuchen sind hier z. B. W. Hennis, Politik u. praktische Philosophie, Neuwied

1963, und besonders H. Arendt, Vita activa (1958), München 1967. 53 O. Kirchheimer, Vorbemerkung zu: ders., Politik u. Verfassung, S. 7.

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wie es scheint, die herausragende Stellung, die Habermas' politologische Schriften in der Wissenschaftsgeschichte der Bundesrepublik einnehmen: daß sie durchaus widersprüchliche Traditionen und Fachdisziplinen noch einmal zusammenzuknüpfen verstanden zu einem „Paradigma" von Poli- tikwissenschaft, das diesen Namen wirklich verdient. Indem sie histori- sche Fundierung, soziologische Strukturierung und normative Reflexion auf theoretisch anspruchsvolle Weise vermittelten und gleichzeitig prak- tische Schlußfolgerungen zogen, gelang ihnen ein Maß von Ausgewogen- heit, wie es später auch von Habermas selber nicht noch einmal erreicht wurde. Mit diesen wissenschaftshistorischen Überlegungen ist ein Punkt angedeu- tet, von dem aus man nicht nur auf die Geschichte der westdeutschen Poli- tik- und Sozialwissenschaften zurückblicken könnte, sondern der vielleicht auch einen Ausblick gestattet auf Habermas' weitere intellektuelle Biogra- phie. Was deren innere Entwicklungslogik betrifft, zeigt sich in Ellen Ken-

nedys Urteil eine doppelte Verzerrung der Wahrnehmung: Einmal verfehlt sie die entscheidende Weichenstellung, die ein Buch wie „Legitimations- probleme im Spätkapitalismus" allererst möglich gemacht hat: die Revision der soziologischen Grundlagen durch die Integration von Luhmanns

Systemtheorie. Zum anderen scheint sie nicht wahrhaben zu wollen, was ihr von ihren eigenen Prämissen her am meisten einleuchten müßte: Die Re-

zeption der angelsächsischen Sprachphilosophie, der schon fast sprichwört- liche „linguistic turn" in einer Lerngeschichte von vergleichsweise hoher Konsistenz war nur möglich, weil die Voraussetzungen vorher schon existierten: in einer Demokratieauffassung, die den westlichen Libera- lismus organisch integriert hatte. Wie schief die ganze Kennedysche Perspektive liegt, zeigt sich vollends bei dem Versuch einer Aktualisierung, die bei dem Thema „Carl Schmitt und die Frankfurter Schule" nicht ausbleiben kann; ihre Vordergründigkeit erweist die ganze Fragestellung als scheinhaft. '

Die Kritikerin vergreift sich vollkommen, wenn sie einem Autor, der auf mehr als tausend Seiten den rein formalen, also anti-substantialistischen Charakter seiner Vermittlung von Wahrheit und Demokratie glaubt dartun zu müssen, der keinen Winkelzug der angelsächsischen Linguistik ausläßt, um diese Vermittlung ja nicht mit materialen Legimationsansprüchen auf- zuladen, der in gewisser Weise den Rechtsformalismus durch einen Kon- sensformalismus überbietet und doch auch aufhebt - wenn sie mithin den Habermas der 80er Jahre mit plebiszitären Aspirationen zusammenbringt. Eine wahrhaft absurde Konstruktion - und ohne jeden Beleg! Denn was El- len Kennedy aus seiner Wortmeldung zum Problem des „zivilen Ungehor- sams" zitiert, ist so offensichtlich der Beweis des Gegenteils, daß eine de- nunziatorische Absicht nicht mehr auszuschließen ist. Die Kritikerin weiß ganz genau, daß Habermas' Gewährsmann für seine höchst abwägende Diskussion des zivilen Ungehorsams nicht Carl Schmitt, sondern John

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Rawls (und Ronald Dworkin) heißt!54 Sie weiß auch, daß diese Rechtferti- gung von der Ablehnung der Kategorie des Ausnahmezustandes explizit abhängig gemacht wird und daß die Unterscheidung von Legalität und Le- gitimität eingepackt bleibt in das Denkgebäude einer prozeduralen Kon- sensustheorie. Schließlich kann sie nicht überlesen haben, wozu das ganze Unternehmen dient, nämlich dazu, „auch in Deutschland zivilen Ungehor- sam als Element einer reifen politischen Kultur begreiflich zu machen",55 wenn man so will: angelsächsische Normalität zu propagieren! Das ent- scheidende Argument bei Habermas lautet: „Der Fall des zivilen Ungehor- sams kann nur unter Bedingungen eines im ganzen intakten Rechtsstaates eintreten. Dann darf aber der Regelverletzer die plebiszitäre Rolle des un- mittelbar souverän auftretenden Staatsbürgers nur in den Grenzen eines Appells an die jeweilige Mehrheit übernehmen. Im Unterschied zum Resi- stance-Kämpfer erkennt er die demokratische Legalität der bestehenden Ordnung an. Die Möglichkeit des berechtigten zivilen Ungehorsams ergibt sich für ihn allein aus dem Umstand, daß auch im demokratischen Rechts- staat legale Regelungen illegitim sein können - illegitim freilich nicht nach Maßgabe irgendeiner Privatmoral, eines Sonderrechts oder eines privile- gierten Zugangs zur Wahrheit. Maßgebend sind allein die für alle einsichti- gen moralischen Prinzipien, auf die der moderne Verfassungsstaat die Er- wartung gründet, von seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu wer- den. Es geht nicht um den Extremfall der Unrechtsordnung, sondern um ei- nen Normalfall, der immer wieder eintreten wird, weil die Verwirklichung anspruchsvoller Verfassungsgrundsätze mit universalistischem Gehalt ein langfristiger, historisch keineswegs geradlinig verlaufender, vielmehr von Irrtümern, Widerständen und Niederlagen gekennzeichneter Prozeß ist."56 Man vergleiche damit die Formulierungen eines gewissen Autors aus dem Jahre 1932, der damit die Lücke für den logischen Schlußstein seiner Libe- ralismuskritik bezeichnet: „Angesichts der Notverordnungspraxis des Reichspräsidenten erscheint der deutsche Staat in seiner gegenwärtigen konkreten Verfassungswirklichkeit als eine Verbindung von Verwaltungs- und Jurisdiktionsstaat, der auf der Grundlage und im Rahmen plebiszitär- demokratischer Legitimität seine Art letzter Rechtfertigung findet. Der Sinn der plebiszitären Willensäußerung ist aber nicht Normierung, sondern, wie das Wort „Volksentscheid" treffend zum Ausdruck bringt, Entschei- dung durch einen Willen . . . Das Volk kann nur Ja und Nein sagen; es kann nicht beraten, deliberieren oder diskutieren; es kann nicht regieren und nicht verwalten; es kann auch nicht normieren, sondern nur einen ihm vor- gelegten Normierungsentwurf durch sein Ja sanktionieren. Es kann vor al-

54 Habermas, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985, S. 83 ff.

55 Ebd., S. 81. 56 Ebd., S. 87.

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lern auch keine Frage stellen, sondern nur auf eine ihm vorgelegte Frage mit Ja oder Nein antworten."57 Und der Schlußstein selber „betrifft die grund- legende Alternative: Anerkennung substanzhafter Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes oder Beibehaltung und Weiterführung der funktionalisti- schen Wertneutralität mit der Fiktion gleicher Chance für unterschiedslos alle Inhalte, Ziele und Strömungen."58 Angesichts dieser Beweislage ist es nicht verwunderlich - und nur mehr

psychologisch interessant, wo sich der unvermeidliche Populismusverdacht bei Ellen Kennedy findet: versteckt in der allerletzten Anmerkung, dazu

belegt mit einem Zitat, das nicht von Habermas stammt.

5. Verwestlichung - eine wissenschaftsgeschichtliche Perspektive. An dieser Stelle könnte eine polemische Abhandlung eigentlich abbrechen - wäre da nicht die Versuchung für den Wissenschaftshistoriker, dem Thema doch noch eine konstruktive Seite abzugewinnen. Blickt man von den Argumentationshöhen der „Theorie des kommunikativen Handelns" zurück auf die politologischen Schriften der 50er und 60er Jahre, ermißt man weiter den Abstand, der diese wiederum von den rechten wie linken Staatswissenschaftlern am Ende der Weimarer Republik trennt, zeichnet sich - so problematisch die Abstraktion auch sein mag - ein durchgehender und dominierender Trend ab: die Verwestlichung, - wenn man so will: die

Amerikanisierung - einer Wissenschaftstradition, die der deutschen Gei-

stesgeschichte entsprang. Sucht man nach den Faktoren, die diese Entwick-

lung bewirkten, stößt man auf die wissenschaftliche Emigration nach 1933, die, zunächst unfreiwillig und gewaltsam aus dem intellektuellen Konti- nuum von Weimar herausgebrochen, zu einem unübersehbar positiven Kraftfeld für einen folgenreichen kulturellen Verschmelzungsprozeß wur- de. Dieses Kraftfeld wirkte in den 50er und 60er Jahren intensiv auf West- deutschland zurück und wurde zu einer wichtigen Bedingung, um einen Prozeß zu verstetigen, der vielleicht ohnehin schon auf dem Weg war. Daß er durch Hitler gleichzeitig verzögert und beschleunigt wurde - dieses Pa- radoxon zu erforschen, bleibt eine wichtige und zudem reizvolle Aufgabe einer Zeitgeschichte der Wissenschaft, und die junge Politikwissenschaft der Bundesrepublik ein geeignetes Untersuchungsfeld dafür. Unternimmt man den Versuch, Habermas' wissenschaftliche Anfänge in diesem Szenario zu lokalisieren, zeigt sich eine interessante Ambivalenz, in der vor allem man seine Beziehung zur „Frankfurter Schule" aufsuchen sollte. Dazu muß man sich eines anderen Paradoxons versichern: der Tatsa- che, daß es eine ausgesprochen konservative Seite dieser Schule gibt, die das Attribut der „kritischen" für sich beanspruchte. Horkheimer und Adorno spielten, zumindest seit ihrer Rückkehr aus der Emigration, eine

57 Schmitt, Legalität, S. 92 f. 58 Ebd., S. 97.

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eher verzögernde Rolle in dem genannten Trend der Verwestlichung. Das hing u. a. damit zusammen, daß sie, bei aller Kritik an der hegel-marxisti- schen Tradition, am geschichtsphilosophischen Denken doch festhielten. Bei Habermas ist diese Ambivalenz ebenfalls greifbar; sie zeigt sich vor al- lem darin, daß der von mir hervorgehobene Aspekt: die Methode der im- manenten Kritik, ohne einen Rest an Geschichtsphilosophie gar nicht zu begreifen ist. Das ist in der Tat ein substantialistisches Erbe, das sowohl theorieimmanent als auch wirkungsgeschichtlich eine enorme Rolle spielte, wenngleich eine ganz andere als Ellen Kennedy auch nur vermuten kann. Tatsächlich unternimmt Habermas den Versuch, die seit der „Dialektik der Aufklärung" aufgegebene Idee einer politischen Vermittlung von Theorie und Praxis zurückzugewinnen; er nimmt, was zur resignativen Metapher verkümmert war, erneut auf als ein konkretes kulturpolitisches Programm: „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht".59 Die unter diesem Programm firmierenden frühen Arbeiten von Habermas - ich möchte den „Strukturwandel der Öffentlichkeit" explizit hinzuzählen - zeigen eine überraschende Kehrseite, wenn man sie auf unseren Kontext, auf die Frage nach der Einschmelzung deutscher Wissenschaft in die angel- sächsische Kultur, bezieht: Was als traditionalistischer Rest erscheint, war in Wahrheit ihr konstruktivstes und positivstes Vehikel. Habermas hatte auf allen Stufen seiner intellektuellen Biographie, am meisten aber viel- leicht an ihrem Anfang ein ausgeprägtes Bewußtsein davon, daß Geistesge- schichte und im engeren Sinn politische Theoriegeschichte ein unverzicht- bares Unternehmen ist, weil es mit der lebenspraktischen Stiftung von Tra- ditionen zu tun hat.60 Der Wirkungsstrom, den er -zusammen mit anderen - zu Anfang der 60er Jahre für die politische Kultur in Westdeutschland in Gang brachte, wurde natürlich primär aus der deutschen Geistesgeschichte gespeist. Gerade darin aber lag eine Chance - und Habermas nutzte sie für den Nachweis, daß auch genuin deutsche Denklinien ein prodemokrati- sches Potential in sich enthielten. Der deutsche Idealismus wie seine mate- rialistische Fortsetzung durch Marx mögen historisch oft anti-liberal gewe- sen sein oder wenigstens in Deutschland häufig so gewirkt haben - das Ge- sicht aber, das diese Tradition durch Habermas' hermeneutische, also dem- selben Zusammenhang entstammende Rekonstruktionskunst hervorzu- kehren begann, war dem Liberalismus nicht mehr ab-, sondern ihm zuge- wandt.61 Es ging um das - im Nachkriegsdeutschland bitter nötige - Pro- jekt, der von außen eingepflanzten Demokratie ein autochthones Funda- ment, die nötige Traditionsverstrebung zu verschaffen.

59 Habermas, Theorie u. Praxis, S. 179 ff. 60 Vgl. z. B. seine theoriebiographische Einleitung zur Taschenbuchausgabe von: Theorie u.

Praxis, Frankfurt 1971, S. 9 ff. 61 Dafür könnte man so gut wie sämtliche philosophiegeschichtlichen Abhandlungen zitie-

ren, die in „Theorie und Praxis" gesammelt sind, genauso aber sein schon eher methodolo- gisch orientiertes Buch: Erkenntnis u. Interesse, Frankfurt 1968.

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Daß dies ein Projekt jenseits des Weimarer Substantialismus war, kann man einem wenig beachteten Text von 1961 entnehmen, der schlagend be- legt, daß die These von der „verborgenen Rezeption" Schmitts unhaltbar ist. Nicht zufällig handelt er wieder vom Zusammenhang von Geschichts- philosophie und kritischer Traditionsvermittlung, jetzt aber zugespitzt auf einen ganz besonders neuralgischen Punkt.62 Habermas rekonstruiert hier die jüdisch-deutsche Kultursymbiose vor Hitler, um am Ende plötzlich in dem Erschrecken darüber zum Stehen zu kommen, mit welcher Brutalität dieses Erbe gerade von den konservativen Revolutionären, von den Schmitt, Heidegger, Jünger und wie sie alle heißen, durchgeschnitten wur- de. Dieses Erschrecken mündet in eine höchst persönliche Stellungnahme, die zu zitieren sich lohnt, weil sie - an ein Trauma der deutschen Intelligenz rührend, dasselbe, demgegenüber Ellen Kennedy sich so ahnungslos zeigt -

gleichsam eine Nahtstelle im Kontinuitätsbewußtsein der Bundesrepublik aufreißt: „obwohl ich jahrelang Philosophie studiert habe, war mir, bis ich diese Arbeit begonnen habe, nicht bei der Hälfte der genannten Gelehrten

überhaupt ihre [jüdische, A. S.] Herkunft bewußt. Solche Naivität halte ich heute nicht mehr für angebracht."63 Was nach einer Selbstbezichtigung im Sinne Ellen Kennedys aussieht, ist in Wahrheit ein höchst sprechendes Dokument für das komplexe Zusammen-

spiel von Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Geistesgeschich- te nach 1945, das auszuloten längst an der Zeit ist. Was Habermas selber be-

trifft, ist es die schonungs- und beispiellose Selbstkritik eines Autors, die dieser weniger als viele andere nötig gehabt hätte. Das letztere ist verbürgt durch seine bis in die frühen 50er Jahre zurückreichende Heideggerkritik, die eine deutliche politische Sprache bereits kannte, als der „Jargon der Ei-

gentlichkeit" (Adorno) noch durch die philosophischen Seminare weste.64 Dazu gehört auch seine unvoreingenommene Rezeption der Emigrantenli- teratur. Was aber die kollektive Mentalität der Deutschen nach 1945 und die hier anzunehmende autoritäre Kontinuität betrifft, erkennt er die ent- scheidende Dimension: den Vorrang des Unbewußten im Kontinuum der

Identitätsbildung, deren Naturwüchsigkeit aufzuklären gerade die ge- schichtsphilosophische Reflexion das geeignete Instrument war. Es war nicht zufällig Benjamin, an dem er später den Gedanken einer Einheit von bewußtmachender und rettender Kritik entwickelte.65 Die Seelengeschichte der Bundesrepublik ist ein noch unergründetes Feld. Damit es nicht unergründlich bleibe und deshalb dem Prinzip der verdeck-

62 Habermas, Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen (1961), in: ders., Philoso-

phisch-politische Profile, Frankfurt 1971, S. 37ff. 63 Ebd., S. 64. 64 Vgl. ebd., S. 67 ff. 65 Vgl. Habermas, Bewußtmachende oder rettende Kritik - Die Aktualität W. Benjamins

(1972), in: ders., Kultur u. Kritik, S. 302 ff.

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ten Wiederkehr des Gleichen unterworfen, wird man an Reflexionen wie die von Habermas zitierten anknüpfen müssen. Man wird z.B. den mächti- gen Strom an Emigrantenliteratur, dem sich die politische Kultur der Bun- desrepublik erst in den 60er Jahren in ganzer Breite zu öffnen begann, mit dem ins Verhältnis setzen müssen, was an autochthonem Aufklärungspo- tential noch vorhanden war. Dabei wird man mit mancher Zweideutigkeit, mit peinlicher Tiefe und entlarvender Oberflächlichkeit zu rechnen haben, keinesfalls aber mit reibungslosen Übergängen, die uns ein neudeutsches Geschichtsbewußtsein zu suggerieren versucht.66 Wieder dürfte hier die neue Demokratiewissenschaft ein Studienfeld sein, das Überraschungen verspricht: Während z. B. die seit den frühen 60er Jahren auf die Lehrstühle nachrückende Generation der Politologen mit einem Selbstbild lebt, als seien sie hauptsächlich im Geist der Emigranten erzogen worden, zeigt eine neuere Studie einen vergleichsweise geringen Einfluß der Emigranten in den 50er Jahren.67 Wirkungsgeschichte ist, noch einmal gesagt, ein vieldeutiges Phänomen. Das gilt auch für die Umkehrung der These von der Verwestlichung deut- scher Traditionen. So kann man sich z. B. fragen, ob die vehemente Rezep- tion, die gerade Habermas heute in den USA erfährt, damit zu tun haben könnte, daß ein im Neokonservatismus versinkendes Land sich seiner libe- ralen Traditionen nur mehr mittels alteuropäischer Reminiszenzen zu ver- sichern vermag.68 Es wäre dann gerade der geschichtsphilosophische Rest eines Denkens, der zur Stabilisierung des gegenwärtigen Liberalismus bei- zutragen vermöchte, ja man kann sogar der Meinung sein, die eine andere amerikanische Habermas-Kritikerin geäußert hat, daß die Lerngeschichte von Habermas zu viel auf dem Weg liegengelassen habe, daß sie als Verlust- rechnung aufgemacht werden müsse.69 Ellen Kennedy aber, indem sie die prowestliche Vermittlerrolle der politischen Theorie im Umkreis der „Frankfurter Schule44 verkennt und die deutsche Geistesgeschichte seit Weimar gleichsam seitenverkehrt rekonstruiert, scheint sich einer objekti- veren Ambivalenz nicht bewußt zu sein, die sich in Italien und Frankreich bereits manifestiert hat und vielleicht auch im angelsächsischen Bereich nicht mehr völlig außerhalb des Möglichen liegt.

66 Z. B. H. Lübbe, 1933-1983: 50 Jahre danach - Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart, Vortrag am 15. Januar 1983 im Reichstag/Berlin; dazu kri- tisch: J. Habermas, Entsorgung der Vergangenheit, in: ders., Neue Unübersichtlichkeit, S. 261 ff.

67 A. Mohr, Politische Wissenschaft als Alternative. Stationen einer werdenden Disziplin in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Heidelberg 1985, S. 431 ff.

68 Vgl. dazu H. Dubiel, Was ist Neokonservatismus?, Frankfurt 1985. 69 J. Cohen, Warum noch politische Theorie? Anmerkungen zu J. Habermas, in: Bonß u.

Honneth (Hg.), S. 327 ff.; ähnlich mein: J. Habermas u. die kritische Theorie des gegen- wärtigen Rechtsstaates, in: Leviathan 1982, S. 97 ff.

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Die Entkernung der Vermittlungsglieder, die das ältere antidemokratische Denken bisher erfolgreich neutralisiert haben, könnte nämlich auch dazu dienen, einem bisher stillgelegten Potential einen neuen Wirkungskanal erst wieder zu eröffnen. Zwar ist die offene Renaissance eines aggressiven Schmittianismus unwahrscheinlich, jedoch könnte die Remythologisierung des Denkens, die den Zeitgeist zu faszinieren scheint, kein besseres Vorbild finden als eben diesen konservativen Revolutionär aus Weimarer Zeiten - unter Bedingungen, in denen die Figur des abenteuerlichen, des starken Mannes zur Normalität liberaler Gesellschaften geworden ist, ist auch die Ästhetisierung des Politischen nicht mehr weit. Und wieso sollte sich der späte Siegeszug, den Heidegger dank dem französischen Poststrukturalis- mus durch die Seminare der westlichen Welt angetreten hat - Habermas hat diesen Vorgang jüngst einer beißenden historischen Kritik unterzogen70 - in der politischen Theorie nicht wiederholen lassen? Selbst wenn man solche Befürchtungen nicht teilt - „Carl Schmitt und die Frankfurter Schule": das wäre ein großes Thema gewesen, dazu eines, das nicht auf Deutschland beschränkt ist. Wie Ellen Kennedy jedoch das Dreh- buch konzipiert hat, ist eine Chance vertan worden. Weder treten die richti- gen Gegenspieler auf, noch ist die Bühne richtig gestellt, auf der das Drama abrollen müßte. Die Rollen müssen erweitert, die Kulissen verschoben werden!

70 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 19852, S. 158 ff.