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DOI: 10.1002/bewi.201401706 Alfred Lohr, Der Computus Gerlandi. Edition, Ƞbersetzung und ErlȨuterungen, (Sudhoffs Archiv; Beiheft 61) Stuttgart: Franz Steiner 2013. 493 S., zahlr. Abb. u. Tab., kart., E 74,00. ISBN 978-3-515-10468-5. Die Kunst der Kalenderberechnung, die Komputis- tik, ist kein isoliertes Spezialgebiet mittelalterlicher Wissenschaft, sondern eng mit dem intellektuellen, kulturellen und religiçsen Leben jener Epoche ver- bunden, wie die Arbeiten z.B. von Arno Borst und Nadja Germann eindrucksvoll dokumentieren. Sie ist daher fɒr MediȨvisten verschiedenster Couleur von Interesse. Umso erstaunlicher ist es, dass eines der wichtigsten einschlȨgigen Werke bisher einer kri- tischen Edition harrte, welche Alfred Lohr in seiner in Freiburg im Breisgau eingereichten, mittellateini- schen Dissertation, die nun in Buchform erschienen ist, in mustergɒltiger Weise vorgelegt hat: Die Rede ist von dem Computus, den ein ,Gerlandus‘ (so die Handschriften) bzw. ,Garlandus‘ (so die meisten Forscher) verfasste, der von ca. 1030/40 – 1100 lebte. Um ihn von anderen TrȨgern dieses Namens zu unterscheiden, wurde ihm der Beiname ,Compo- tista‘ verliehen. Dass sich bisher kein Philologe oder Historiker an eine kritische Ausgabe wagte, ist nicht zuletzt der breiten Ƞberlieferung geschuldet. Lohr konnte 37 (statt bisher 25) Handschriften identifizieren, die den Computus ganz oder teilweise enthalten. Die hohe Zahl an Textzeugen ist ɒberraschend: Gerlands Werk war zu unkonventionell, um nicht auf Vorbe- halte zu stoßen: So zieht er bevorzugt Beda Venera- bilis statt wie ɒblich Helperich und Dionysius Exi- guus als AutoritȨt heran, der Inkarnationsjahr und Kreuzigungstermin anders festlegt (vgl. Kapitel I 24 und 25). Doch stieß Gerlands Rechtfertigung im Prolog (S. 86 f.) nicht auf taube Ohren, wie die breite Ƞberlieferung zeigt. Gerade im strengen Re- formorden der Zisterzienser konnte sich der Compu- tus reger Aufmerksamkeit erfreuen (S. 15). Gerlandus verfasste seinen Computus grçßtenteils in Prosa, schmɒckte ihn aber durch zahlreiche Vers- partien aus. Er legte ihn in zwei Redaktionen vor. Die Ȩltere und umfangreichere Fassung ist in zwei Bɒcher unterteilt. Deren erstes ist der traditionellen Kalenderrechnung gewidmet, wȨhrend das zweite den Mondumlauf zum Gegenstand hat. In der jɒn- geren Version reduziert Gerland den Stoff auf ein Buch, ordnet einige Kapitel neu an und ergȨnzt eine Passage ɒber den Sonnen- und Mondlauf im Tier- kreis. Lohrs Ausgabe folgt der Ȩlteren Fassung, die Textgestalt der jɒngeren wird jedoch anhand eines Schemas (S. 11) nachvollziehbar. SȨmtliche ErgȨn- zungen durch Gerland oder spȨtere Rezipienten wurden als Appendix angefɒgt (S. 367–370). Um das fɒr den Computus notwendige mathematische Hintergrundwissen in zeitgençssischer Form zugȨng- lich zu machen, hat Lohr zusȨtzlich auch die eben- falls von Gerlandus verfassten Regulae super abacum ediert (S. 454 – 477). Bei der Edition umfangreicher und breit ɒberlie- ferter Texte wie dem Computus Gerlandi stellt sich stets das Problem der Realisierbarkeit in einer ange- messenen Zeit, weshalb gerade populȨre Werke oft noch nicht in einer zuverlȨssigen Ausgabe vorliegen. Um dem beizukommen, ist Lohr zunȨchst dem Leit- handschriftenprinzip gefolgt, wobei er die maßgeb- liche Abschrift nach Kapitel I 27 (dem Punkt, ab dem sich die beiden Redaktionen unterscheiden) wechselte. In einem zweiten Schritt erstellte er anhand von 35 Handschriften, d. h. beinahe der vollstȨndigen Ƞberlieferung, einen kritischen Text, wobei er sich im Zweifelsfall stets an den Leithand- schriften orientierte. Dem Rezensenten scheint dies eine praktikable Lçsung fɒr die Edition breit ɒber- lieferter Texte zu sein, auch wenn einige strenge Philologen die Stirn runzeln mçgen. Die dem latei- nischen Text leider nicht gegenɒberliegende, son- dern auf ihn folgende deutsche Ƞbersetzung zeich- net sich gleichermaßen durch PrȨzision und Ver- stȨndlichkeit aus, was aufgrund der immensen Schwierigkeit, die auf uns fremden wissenschaftli- chen Konzepten beruhende mittelalterliche Fach- terminologie in eine moderne Sprache zu ɒbertra- gen, eine nicht genug zu lobende Leistung ist. Ein sich durch Gelehrsamkeit auszeichnender Stellen- kommentar ermçglicht tiefergehende Einblicke in Ƞberlieferung, Quellen und Inhalt eines (vor allem mathematisch anspruchsvollen) Werkes. Das, um Ƞberschneidungen mit dem Stellenkom- mentar zu vermeiden, knapp gehaltene Vorwort re- kapituliert nach einer Synopse des Computus den Stand der Diskussion um seine Entstehungszeit (ver- mutlich wurde er bereits in den 60er Jahren des 11. Jahrhunderts begonnen und erst nach 1093 voll- endet, vgl. S. 13 f.), die IdentitȨt des Autors und die ihm zuzuschreibenden Werke. Eine solche Bestands- Rezensionen # 2014 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 287 Ber. Wissenschaftsgesch. 37 (2014) 287 – 294 www.bwg.wiley-vch.de

Alfred Lohr, Der Computus Gerlandi. Edition, Übersetzung und Erläuterungen

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DOI: 10.1002/bewi.201401706

Alfred Lohr, Der Computus Gerlandi. Edition, �bersetzung und Erl�uterungen,(Sudhoffs Archiv; Beiheft 61) Stuttgart: Franz Steiner 2013. 493 S., zahlr. Abb. u.Tab., kart., E 74,00. ISBN 978-3-515-10468-5.

Die Kunst der Kalenderberechnung, die Komputis-tik, ist kein isoliertes Spezialgebiet mittelalterlicherWissenschaft, sondern eng mit dem intellektuellen,kulturellen und religiçsen Leben jener Epoche ver-bunden, wie die Arbeiten z.B. von Arno Borst undNadja Germann eindrucksvoll dokumentieren. Sieist daher f�r Medi�visten verschiedenster Couleurvon Interesse. Umso erstaunlicher ist es, dass einesder wichtigsten einschl�gigen Werke bisher einer kri-tischen Edition harrte, welche Alfred Lohr in seinerin Freiburg im Breisgau eingereichten, mittellateini-schen Dissertation, die nun in Buchform erschienenist, in musterg�ltiger Weise vorgelegt hat: Die Redeist von dem Computus, den ein ,Gerlandus‘ (so dieHandschriften) bzw. ,Garlandus‘ (so die meistenForscher) verfasste, der von ca. 1030/40–1100lebte. Um ihn von anderen Tr�gern dieses Namenszu unterscheiden, wurde ihm der Beiname ,Compo-tista‘ verliehen.

Dass sich bisher kein Philologe oder Historiker aneine kritische Ausgabe wagte, ist nicht zuletzt derbreiten �berlieferung geschuldet. Lohr konnte 37(statt bisher 25) Handschriften identifizieren, dieden Computus ganz oder teilweise enthalten. Diehohe Zahl an Textzeugen ist �berraschend: GerlandsWerk war zu unkonventionell, um nicht auf Vorbe-halte zu stoßen: So zieht er bevorzugt Beda Venera-bilis statt wie �blich Helperich und Dionysius Exi-guus als Autorit�t heran, der Inkarnationsjahr undKreuzigungstermin anders festlegt (vgl. Kapitel I 24und 25). Doch stieß Gerlands Rechtfertigung imProlog (S. 86 f.) nicht auf taube Ohren, wie diebreite �berlieferung zeigt. Gerade im strengen Re-formorden der Zisterzienser konnte sich der Compu-tus reger Aufmerksamkeit erfreuen (S. 15).

Gerlandus verfasste seinen Computus grçßtenteilsin Prosa, schm�ckte ihn aber durch zahlreiche Vers-partien aus. Er legte ihn in zwei Redaktionen vor.Die �ltere und umfangreichere Fassung ist in zweiB�cher unterteilt. Deren erstes ist der traditionellenKalenderrechnung gewidmet, w�hrend das zweiteden Mondumlauf zum Gegenstand hat. In der j�n-geren Version reduziert Gerland den Stoff auf einBuch, ordnet einige Kapitel neu an und erg�nzt einePassage �ber den Sonnen- und Mondlauf im Tier-kreis. Lohrs Ausgabe folgt der �lteren Fassung, die

Textgestalt der j�ngeren wird jedoch anhand einesSchemas (S. 11) nachvollziehbar. S�mtliche Erg�n-zungen durch Gerland oder sp�tere Rezipientenwurden als Appendix angef�gt (S. 367–370). Umdas f�r den Computus notwendige mathematischeHintergrundwissen in zeitgençssischer Form zug�ng-lich zu machen, hat Lohr zus�tzlich auch die eben-falls von Gerlandus verfassten Regulae super abacumediert (S. 454–477).

Bei der Edition umfangreicher und breit �berlie-ferter Texte wie dem Computus Gerlandi stellt sichstets das Problem der Realisierbarkeit in einer ange-messenen Zeit, weshalb gerade popul�re Werke oftnoch nicht in einer zuverl�ssigen Ausgabe vorliegen.Um dem beizukommen, ist Lohr zun�chst dem Leit-handschriftenprinzip gefolgt, wobei er die maßgeb-liche Abschrift nach Kapitel I 27 (dem Punkt, abdem sich die beiden Redaktionen unterscheiden)wechselte. In einem zweiten Schritt erstellte eranhand von 35 Handschriften, d.h. beinahe dervollst�ndigen �berlieferung, einen kritischen Text,wobei er sich im Zweifelsfall stets an den Leithand-schriften orientierte. Dem Rezensenten scheint dieseine praktikable Lçsung f�r die Edition breit �ber-lieferter Texte zu sein, auch wenn einige strengePhilologen die Stirn runzeln mçgen. Die dem latei-nischen Text leider nicht gegen�berliegende, son-dern auf ihn folgende deutsche �bersetzung zeich-net sich gleichermaßen durch Pr�zision und Ver-st�ndlichkeit aus, was aufgrund der immensenSchwierigkeit, die auf uns fremden wissenschaftli-chen Konzepten beruhende mittelalterliche Fach-terminologie in eine moderne Sprache zu �bertra-gen, eine nicht genug zu lobende Leistung ist. Einsich durch Gelehrsamkeit auszeichnender Stellen-kommentar ermçglicht tiefergehende Einblicke in�berlieferung, Quellen und Inhalt eines (vor allemmathematisch anspruchsvollen) Werkes.

Das, um �berschneidungen mit dem Stellenkom-mentar zu vermeiden, knapp gehaltene Vorwort re-kapituliert nach einer Synopse des Computus denStand der Diskussion um seine Entstehungszeit (ver-mutlich wurde er bereits in den 60er Jahren des11. Jahrhunderts begonnen und erst nach 1093 voll-endet, vgl. S. 13 f.), die Identit�t des Autors und dieihm zuzuschreibenden Werke. Eine solche Bestands-

Rezensionen

� 2014 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 287

Ber. Wissenschaftsgesch. 37 (2014) 287 – 294 www.bwg.wiley-vch.de

aufnahme ist durchaus dringlich: Die Forschungzum Computus Gerlandi stellt auch eine Geschichteder Verwechslungen dar (vor allem mit dem deutlichj�ngeren Gerlandus von BesanÅon, dem Verfasserder Dialectica und der theologischen Enzyklop�dieCandela). Nat�rlich kann Lohr im Rahmen seinerEinleitung die noch umstrittene Autorschaft einigerder von ihm genannten Texte nicht abschließendkl�ren. Doch ist sein �berblick �ber den aktuellenDiskussionsstand zugleich eine solide Grundlage f�rweitere diesbez�gliche Studien.

Die darauffolgende Beschreibung der Handschrif-ten beschr�nkt sich nicht auf rein kodikologische As-pekte; in tabellarischer Form werden auch die ver-schiedenen Textfassungen genau dokumentiert(S. 36–39). In Verbindung mit dem Quellenapparatder Edition, den Appendices und den rezeptionsge-schichtlichen Anmerkungen im Stellenkommentarermçglicht Lohrs Edition somit einen faszinierendenEinblick in die Genese mittelalterlicher Fachlitera-tur: Gerland integriert die �ltere Komputistik,indem er (ohne es ausdr�cklich kenntlich zumachen) lange Passagen vor allem aus Bedas De ra-tione temporum zitiert, um die herum er seinen eige-nen Text verfasst. Dieses Konglomerat ist wiederumeinem langj�hrigen Revisionsprozess unterworfen,der durch die zwei �berlieferten Redaktionen zumin-dest teilweise greifbar bleibt. Allerdings stellen auchdiese keine fixen Endprodukte dar: Sie wurden vonsp�teren Lesern nach Belieben exzerpiert, �berarbei-tet und erg�nzt. Der Computus Gerlandi teilt dieseEntstehungs- und Rezeptionsgeschichte mit vielenanderen Abhandlungen zu den ,artes liberales‘. Die

medi�vistische Forschung hat sich allzu oft dazu hin-reißen lassen, in ihnen nur wenig originelle Kompi-lationen zu sehen. Doch weder ihre Traditionsge-bundenheit noch ihre Instabilit�t sind ein Makel,sondern vielmehr Ausdruck eines sich oft �ber Jahr-hunderte hinweg vollziehenden kollektiven Arbeits-prozesses. In der Dokumentation eines solchen lite-rarischen Netzwerkes liegt ein besonderes VerdienstLohrs.

Am Ende des Bandes stehen die �blichen Register(Handschriften, Quellen, Personen und Orte,Wçrter und Sachen). Ihm ist eine CD beigelegt, dieneben dem f�r Detailrecherchen hilfreichen permu-tierten Registern auch diplomatische Abschriften dereinzelnen Handschriften des Computus und der Re-gulae enth�lt. �ber deren Sinn und Zweck mag mangeteilter Meinung sein – gerade angesichts der sorg-f�ltig ausgearbeiteten kritischen Apparate (deren Be-schr�nkung auf ausgew�hlte Informationen geradedie Aufgabe des Editors ist). Zumindest ist auf dieseWeise der gesamte Text in elektronischer Form zu-g�nglich. Ohnehin �ndern solche Quisquilien nichtsan dem durchwegs positiven Eindruck der gesamtenAusgabe: Lohr hat ein wichtiges Monument mittel-alterlicher Komputistik in vorbildlicher Weise er-schlossen. Seine Edition stellt die Forschung zumComputus Gerlandi, zu seinen Quellen wie seinemhistorischen Kontext auf eine neue und zuverl�ssigeTextbasis. Es bleibt zu hoffen, dass er damit grçßeresInteresse an der noch zu wenig untersuchten Wissen-schaftsgeschichte des 11. Jahrhunderts zu weckenvermag.

Bernhard Hollick (Kçln)

288 � 2014 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgeschichte 37 (2014) 287 – 294

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014): Rezensionen