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4 Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften Gesucht ist eine Gleichung, welche die Zahlen 1, 2, 3, 4 und 5 als Lösun- gen besitzt. 4.1. Historisch weckten die Erfolge bei der Auflösung der kubischen und biquadratischen Gleichung fast zwangsläufig den Wunsch, auch für Glei- chungen höherer Grade Lösungsformeln zu finden. Damit verbunden entwickelte sich ein Interesse dafür, die prinzipiellen Eigenschaften von Gleichungen noch besser und vor allem systematischer zu studieren. In diesem Zusammenhang wurde auch die hier wiedergegebene Aufgabe gestellt und gelöst. Sie ist zu finden in dem 1591 erschienenen Werk In artem analyticem isagoge von François Viète. Neben der Schaffung einer bereits zweckmäßigeren Symbolik legte Viète in seinem Buch ausführlich dar, welche Transformationen bei Gleichun- gen zulässig sind, ohne dass die Lösungen verändert werden. Auch fand Viète einen Weg, wie man Gleichungen konstruieren kann, die vorgege- bene Zahlen x 1 , x 2 , ..., x n als Lösungen besitzen. Im Fall von zwei vorge- gebenen Lösungen x 1 und x 2 reicht dazu eine quadratische Gleichung, nämlich x x x x xx 2 1 2 1 2 0 + + = ( ) . Bei drei vorgegebenen Lösungen x 1 , x 2 und x 3 erfüllt die kubischen Glei- chung x x x x x xx xx xx x xxx 3 1 2 3 2 1 2 1 3 2 3 1 2 3 0 + + + + + = ( ) ( ) die gewünschten Anforderungen. Entsprechend sind die vier Zahlen x 1 , x 2 , x 3 und x 4 Lösungen der folgenden biquadratischen Gleichung: x x x x x x xx xx xx xx xx xx x xxx xxx xxx xxx x xxxx 4 1 2 3 4 3 1 2 1 3 2 3 1 4 2 4 3 4 2 1 2 3 1 2 4 1 3 4 2 3 4 1 2 3 4 0 + + + + + + + + + + + + + = ( ) ( ) ( ) J. Bewersdorff, Algebra für Einsteiger, DOI 10.1007/978-3-658-02262-4_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Algebra für Einsteiger || Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften

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4 Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften

Gesucht ist eine Gleichung, welche die Zahlen 1, 2, 3, 4 und 5 als Lösun-gen besitzt.

4.1. Historisch weckten die Erfolge bei der Auflösung der kubischen und biquadratischen Gleichung fast zwangsläufig den Wunsch, auch für Glei-chungen höherer Grade Lösungsformeln zu finden. Damit verbunden entwickelte sich ein Interesse dafür, die prinzipiellen Eigenschaften von Gleichungen noch besser und vor allem systematischer zu studieren. In diesem Zusammenhang wurde auch die hier wiedergegebene Aufgabe gestellt und gelöst. Sie ist zu finden in dem 1591 erschienenen Werk In artem analyticem isagoge von François Viète.

Neben der Schaffung einer bereits zweckmäßigeren Symbolik legte Viète in seinem Buch ausführlich dar, welche Transformationen bei Gleichun-gen zulässig sind, ohne dass die Lösungen verändert werden. Auch fand Viète einen Weg, wie man Gleichungen konstruieren kann, die vorgege-bene Zahlen x1, x2, ..., xn als Lösungen besitzen. Im Fall von zwei vorge-gebenen Lösungen x1 und x2 reicht dazu eine quadratische Gleichung, nämlich

x x x x x x21 2 1 2 0− + + =( ) .

Bei drei vorgegebenen Lösungen x1, x2 und x3 erfüllt die kubischen Glei-chung

x x x x x x x x x x x x x x x31 2 3

21 2 1 3 2 3 1 2 3 0− + + + + + − =( ) ( )

die gewünschten Anforderungen. Entsprechend sind die vier Zahlen x1, x2, x3 und x4 Lösungen der folgenden biquadratischen Gleichung:

x x x x x x

x x x x x x x x x x x x x

x x x x x x x x x x x x x x x x x

41 2 3 4

3

1 2 1 3 2 3 1 4 2 4 3 42

1 2 3 1 2 4 1 3 4 2 3 4 1 2 3 4 0

− + + +

+ + + + + +

− + + + + =

( )

( )

( )

J. Bewersdorff, Algebra für Einsteiger, DOI 10.1007/978-3-658-02262-4_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

30 Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften

Schließlich führte Viète noch an, wie man eine Gleichung fünften Grades passend zu den vorgegebenen Lösungen x1, x2, x3, x4 und x5 findet:

x x x x x x x

x x x x x x x x x x

x x x x x x x x x x x

x x x x x x x x x x x x x x x

x x x x x x x x x x x x x x x x

x

51 2 3 4 5

4

1 2 1 3 2 3 1 4 2 4

3 4 1 5 2 5 3 5 4 53

1 2 3 1 2 4 1 3 4 2 3 4 1 2 5

1 3 5 2 3 5 1 4 5 2 4 5 3 4 52

1

− + + + +

+ + + + +

+ + + + +

− + + + +

+ + + + +

+

( )

(

)

(

)

( x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x

x x x x x2 3 4 1 2 3 5 1 2 4 5 1 3 4 5 2 3 4 5

1 2 3 4 5 0

+ + + +

− =

)

Viètes Beispiel zur letzten Aussage ist die eingangs gestellte Aufgabe. Für sie gibt er die Gleichung

x x x x x5 4 3 215 85 225 274 120 0− + − + − =

an23.

Einzig die offenkundig auszumachende Symmetrie verhindert, dass man bei Viètes Formeln jeglichen Überblick verliert. Zwar ist eine Nachprü-fung des Vieta’schen Wurzelsatzes, wie die aufgelisteten Gesetzmäßig-keiten auch genannt werden (der Begriff Wurzel wird häufig als Syno-nym für Lösung gebraucht), durch simples Einsetzen der vorgegebenen Lösungen möglich. Viel interessanter aber ist die Frage, wie man solche Aussagen – auch für mehr als fünf vorgegebene Lösungen – erhält. Auch dies ist keinesfalls schwer und wurde erstmals 1637 von René Descartes (1596-1650) in seinem Werk La Géometrie beschrieben: Ist zu den vor-gegebenen Zahlen x1, x2, ..., xn eine Gleichung gesucht, die diese Zahlen als Lösungen besitzt, so kann man einfach die Gleichung

( )( )...( )x x x x x xn− − − =1 2 0

23 In der Schreibweise von Viète lautet die Gleichung

1QC – 15QQ + 85C – 225Q + 274N, equatur 120. Ein entsprechendes Faksimile samt Übersetzung ist zu finden in Henk J. M. Bos, Ka-

rin Reich, Der doppelte Auftakt zur frühneuzeitlichen Algebra: Viète und Descartes, in: Erhard Scholz (Hrsg.), Geschichte der Algebra, Mannheim 1990, S. 183-234; Fak-simile und Übersetzung: S. 196 f.

Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften 31

nehmen. Für diese Gleichung ist es natürlich offensichtlich, dass die Zah-len x1, x2, ..., xn Lösungen sind und dass es keine anderen Lösungen gibt. Man braucht also nur die Terme auszumultiplizieren und erhält dann eine Gleichung mit der gewünschten Eigenschaft.

Insbesondere erklärt der Vieta’sche Wurzelsatz auch eine bereits von Cardano in seiner Ars magna niedergeschriebene Beobachtung. Dieser hatte für einige Gleichungen der Form x3 + bx = ax2 + c drei Lösungen gefunden und bemerkt, dass die Summe der Lösungen jeweils mit dem Koeffizienten a des quadratischen Terms übereinstimmen24. Eine Erklä-rung für diese Tatsache dürfte für Cardano allerdings schwierig gewesen sein, da dies letztlich den Gebrauch von negativen Zahlen voraussetzt, um die Gleichung in eine Form zu bringen, bei der auf der rechten Glei-chungsseite nur die Null steht.

4.2 Descartes erörterte auch das Problem, ob und unter welchen Umstän-den die linke Seite einer Gleichung

x a x a x ann

n+ + + + =−−

11

1 0 0 K

in ein Produkt der Form (x – x1)(x – x2)...(x – xn) zerlegt werden kann. Liegt eine solche Zerlegung in so genannte Linearfaktoren vor, sind of-fensichtlich alle Lösungen bekannt. Aber auch umgekehrt, so Descartes, erhält man mit jeder Lösung einen Teilschritt hin zu einer Zerlegung in Linearfaktoren. Ist beispielsweise eine Lösung x1 bekannt, so kann man innerhalb des auf der linken Gleichungsseite stehenden Polynoms die Unbekannte x durch x1 + (x – x1) ersetzen. Entwickelt man nun die Po-tenzen (x1 + (x – x1))

k nach Potenzen von x1 und (x – x1), so findet man, dass sich der Faktor (x – x1) abspalten lässt:

x a x a x a

x x b x x b x x b

nn

n

nn

n

+ + + +

= − + − + + − +−

−−

11

1 0

1 1 11

1 1 0

K

K( ) ( ) ( )

mit b x a x a x ann

n0 1 1 1

11 1 0 0= + + + + =−

− K .

Daher ergibt sich nun wie gewünscht:

24 Girolamo Cardano (siehe Fußnote 5), Chapter I, Gleichung x3 + 72 = 11x2.

32 Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften

( )x a x a x a

x x x x b x x b

x x x c x c

nn

n

nn

n

nn

n

+ + + +

= − − + − + +

= − + + +

−−

−−

−−

11

1 0

1 11

1 12

1

11

22

0

K

K

K

( ) ( ) ( )

( )( )

Letztlich ist uns damit nichts anderes als eine Polynomdivision durch den Faktor (x – x1) gelungen, wobei alle Koeffizienten c0, c1, ..., cn–2 des ent-stehenden Polynoms aus denen der ursprünglichen Gleichung und der Lösung x1 mittels Addition und Multiplikation berechnet werden können.

Findet man weitere Lösungen, kann der beschriebene Prozess der Abspal-tung von Linearfaktoren fortgesetzt werden. Bei einer Gleichung n-ten Grades ist aber spätestens nach der n-ten Lösung keine weitere Abspal-tung mehr möglich. Daher kann, wie schon Descartes formulierte, eine Gleichung n-ten Grades höchstens n Lösungen haben.

4.3. Wenn die Zahl der Lösungen bei einer Gleichung n-ten Grades höchstens gleich n sein kann, dann stellt sich natürlich sofort die Frage, wie klein diese Anzahl unter Umständen sein kann. Dabei ist klarzustel-len, dass damit nicht etwa die Anzahl der verschiedenen Lösungen ge-meint ist, denn offensichtlich hat eine Gleichung wie zum Beispiel xn = 0 nur eine einzige Lösung, nämlich 0. Mit der „Anzahl der Lösungen“ ist vielmehr die Anzahl der Linearfaktoren gemeint. Wir fragen also nach der Anzahl von Linearfaktoren, die sich bei einer Gleichung n-ten Grades mindestens abspalten lassen, wobei durchaus einige der Linearfaktoren identisch sein können – man spricht dann von so genannten mehrfachen Lösungen25.

Die Möglichkeit, Linearfaktoren zu gefundenen Lösungen abzuspalten, erlaubt auch eine Aussage über ihre Mindestanzahl: Sollte es keine Glei-chung n-ten Grades ohne Lösung geben, dann kann bei jeder Gleichung ein Linearfaktor abgespalten werden. Und da die verbleibende Gleichung, sofern ihr Grad mindestens gleich 1 ist, wiederum eine Lösung haben muss, kann der Prozess sogleich weiter fortgesetzt werden, und zwar so lange, bis die ganze Gleichung gänzlich in Linearfaktoren zerlegt ist. Das heißt: Kann bewiesen werden, dass jede Gleichung n-ten Grades mindes-

25 Bereits Cardano hat solche mehrfache Lösungen behandelt. Siehe Girolamo Cardano

(siehe Fußnote 5), Chapter I, Gleichung x3 + 16 = 12x.

Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften 33

tens eine Lösung besitzt, dann gibt es sogar stets n Lösungen, wobei jede mehrfache Lösung mit ihrer Vielfachheit gezählt wird.

Schon vor Descartes hatte Albert Girard (1590-1632) 1629 vermutet, dass eine Gleichung mit komplexen Koeffizienten immer eine ihrem Grad ent-sprechende Anzahl von komplexen Lösungen besitzt. Trotz mehrfacher Versuche von verschiedenen Mathematikern gelang ein lückenloser Be-weis dieses so genannten Fundmentalsatzes der Algebra aber erst 1799 Carl Friedrich Gauß. Mit diesem Nachweis bestätigt sich – zumindest aus algebraischer Sicht – zugleich die Zweckmäßigkeit der komplexen Zah-len, da die Notwendigkeit einer nochmaligen Erweiterung des Zahlbe-reichs nicht gegeben ist.

Die Bezeichnung „Fundamentalsatz der Algebra“ ist übrigens historisch zu verstehen und aus heutiger Sicht eher missverständlich. Denn eigent-lich ist dieser Satz in seiner Natur überhaupt nicht algebraisch, das heißt, er basiert nur zu einem geringen Teil auf denjenigen Eigenschaften, wel-che die vier (Grundrechen-)Operationen im Bereich der komplexen Zah-len besitzen. Viel entscheidender sind dagegen die Eigenschaften der komplexen Zahlen, die auf dem Abstandsbegriff aufbauen – gemeint sind Thematiken wie Konvergenz, Stetigkeit und so weiter. Ein Vergleich mit einer ähnlichen Erscheinung im Bereich der reellen Zahlen mag dies er-läutern:

Der Graph des als reellwertige Funktion aufgefassten Polynoms x3 – 2 verläuft im Koordinatensystem von „links unten“ nach „rechts oben“. Daher „muss“ er die x-Achse zwangsläufig an mindestens einer Stelle schneiden. Das heißt, das untersuchte Polynom – und entsprechend jedes andere Polynom mit ungeradem Grad – hat mindestens eine Nullstelle. Was so einfach und selbstverständlich aussieht, ist in der Infinitesimal-rechnung Gegenstand sehr grundlegender Überlegungen, die im so ge-nannten Zwischenwertsatz ihre Zusammenfassung finden. Dabei sind zwei Eigenschaften der beteiligten Objekte entscheidend:

• Zum einen ist die durch das Polynom definierte Funktion stetig, be-sitzt also keine Sprungstelle, sondern verändert ihren Wert überall weniger als jede vorgegebene Obergrenze, sofern die Änderung des Arguments x entsprechend eingegrenzt wird.

34 Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften

• Zum anderen besitzt der Zahlbereich der reellen Zahlen keine „Lü-cken“, wie es beispielsweise bei den rationalen Zahlen der Fall ist: Zwar können durchaus zu jeder Position auf dem Zahlenstrahl unend-lich viele rationale Zahlen gefunden werden, die beliebig nahe bei die-ser vorgegebenen Zahl liegen, jedoch gibt es trotzdem Grenzwertpro-zesse, die aus dem Bereich der rationalen Zahlen herausführen. Ein-fache Beispiele erhält man, wenn man aus der Dezimalzifferndar-stellung einer irrationalen Zahl wie 2 eine Folge

1; 1,4; 1,41; 1,414; 1,4142; ...

bildet. Wichtig ist nun, dass vergleichbare Konstruktionen im Zahl-bereich der reellen Zahlen nicht möglich sind.

Ein Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra basiert nun abgesehen von der Stetigkeit polynomialer Funktionen auf den beiden entscheiden-den Eigenschaften der komplexen Zahlen, nämlich der Vollständigkeit genannten „Lückenlosigkeit“ sowie der Existenz einer Zahl i, welche die Gleichung i2 = –1 erfüllt. Im Kasten „Der Fundamentalsatz der Algebra: Plausibilität und Beweis“ (siehe Seite 34) wird sowohl eine Plausibilitäts-betrachtung als auch die Skizze eines exakten Beweises beschrieben.

Der Fundamentalsatz der Algebra: Plausibilität und Beweis

Wie im Haupttext dargelegt, reicht es, die folgende Aussage zu be-weisen:

SATZ. Ein Polynom mit komplexen Koeffizienten, dessen Grad mindestens gleich 1 ist, hat mindestens eine komplexe Nullstelle.

Wir beginnen mit einer Plausibilitätsbetrachtung, die entscheidenden Gebrauch macht von den Eigenschaften der Betragsfunktion für

komplexe Zahlen a bi a b+ = +2 2 : Für zwei beliebige komplexe

Zahlen z1 und z2 gilt einerseits die so genannte Dreiecksungleichung z z z z1 2 1 2+ ≤ + sowie andererseits die Identität z z z z1 2 1 2= . Das

hat zur Folge, dass bei einem mit den komplexen Koeffizienten an-1, ..., a1, a0 gegebenen Polynom

Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften 35

f z z a z a z ann

n( ) = + + + +−−

11

1 0 K

der Funktionswert f (z) für betragsmäßig genügend große Argumente z im Wesentlichen durch den Summanden zn bestimmt wird. Konkret gilt für eine komplexe Zahl z mit

( )z R a a an≥ = + + +−: 1 2 1 1 0+ K

die Ungleichung

( ) ( )

a z a z a

a z a z a

a a a z R z z z

nn

nn

nn n n n

−−

−−

−− −

+ + +

≤ + +

≤ + + ≤ ≤ =

11

1 0

11

1 0

1 1 01 1

2

1 12

12

+

+

K

K

K .

a0 a0a0

Bild 8 Ein Umlauf auf einem Kreis mit genügend großem Radius um den Nullpunkt (links) wird durch ein Polynom n-ten Grades in einen n-maligen Umlauf innerhalb eines Kreis-rings mit 0 im Zentrum abgebildet (rechts). Das mittlere Teilbild zeigt die Kurve zur höchsten Potenz zn und an zwei beispielhaften Stellen deren maximale „Störung“ durch die Polynomterme zu den niedrigeren Potenzen.

Wir wollen uns nun überlegen, wie die Bewegung einer komplexen Zahl z auf einem Kreis mit Radius R um den Nullpunkt durch das Po-lynom f (z) transformiert wird. Bei dem Anteil zn ist alles klar, da aufgrund der Moivre’schen Formel ein Umlauf auf dem Kreis mit Radius R in n Umläufe auf dem Kreis mit dem Radius Rn um den Nullpunkt abgebildet wird (im mittleren Teil von Bild 8 ist dieser Kreis durchgezogen dargestellt). Die restlichen Terme des Polynoms

36 Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften

verändern dieses Ergebnis, wie wir eben gesehen haben, ver-gleichweise wenig, so dass es beim Funktionswert f (z) zu einem n-maligen Umlauf innerhalb eines Kreisrings mit 0 als Zentrum und dem Innenradius 1

2 R n sowie dem Außenradius 32 R n kommt (im mitt-

leren Teil von Bild 8 sind beispielhaft zwei Begrenzungskreise für die restlichen Terme dargestellt; der begrenzende Kreisring ist sowohl im mittleren wie im rechten Teilbild grau eingezeichnet).

Was passiert aber nun, wenn der Radius des Ausgangskreises variiert wird? Unabhängig von Details ist es für uns einzig wichtig, dass „al-les stetig ist“. Da wir auf eine Präzisierung im Rahmen der Plausibili-tätsbetrachtung bewusst verzichten wollen, beschränken wir uns auf eine verbale Beschreibung der Konsequenzen: Unabhängig vom Ra-dius des Ausgangskreises, den der Punkt z durchläuft, bilden die ent-sprechenden Bildpunkte f (z) stets eine geschlossene Kurve, die nir-gends eine „Lücke“ aufweist. Außerdem können die Änderungen, welche die Kurve bei einer Veränderung des Radius des Ausgangs-kreises erfährt, beliebig klein gehalten werden, wenn die Verände-rung des Radius nur genügend beschränkt wird.

Und noch eine Tatsache ist offenkundig: Bei einem Radius 0 ergibt sich nur ein einziger Bildpunkt, nämlich a0, der nach Konstruktion innerhalb des Innenkreises mit Radius 1

2 R n liegt.

Und nun kommt schließlich, ähnlich wie beim entsprechenden Satz für reelle Polynome ungeraden Grades, das entscheidende Stetig-keitsargument: Zieht man den Kreis, auf dem sich z bewegt, ausge-hend vom Radius R langsam auf den Nullpunkt zusammen, so zieht sich die Bildkurve ausgehend von einer n-fachen Umrundung des Nullpunktes auf den Punkt a0 zusammen. Dabei muss der Nullpunkt irgendwann einmal getroffen werden. Daher besitzt das Polynom f (z) im Kreis mit Radius R mindestens eine – und damit sogar n – kom-plexe Nullstellen.

Da es gar nicht so einfach ist, die gerade erläuterte, plausibel erschei-nende Argumentation wirklich „wasserdicht“ zu machen, werden wir bei der angekündigten Präsentation eines exakten Beweises einen ganz anderen Weg beschreiten, der erstmals 1815 von Jean Robert

Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften 37

Argand (1768-1822) beschritten wurde und wenige Jahre später von Augustin-Louis Cauchy (1789-1857) vereinfacht wurde.

Wir haben bereits gesehen, dass die Funktionswerte f (z) des Poly-noms außerhalb eines genügend großen Kreises betragsmäßig den Wert | f (0)| = |a0| übersteigen. Das Minimum der reellwertigen Funk-tion | f (z)| ist daher innerhalb des Kreises zu finden und wird dort – so ein Satz über die Extremwerte von stetigen, reellwertigen Funktio-nen (mehrerer Veränderlicher) – an einer Stelle angenommen, die wir mit z0 bezeichnen. Eine Entwicklung des Polynoms nach z0 besitzt die Form

f z b b z z b z z b z zmm

mm

nn( ) ( ) ( ) ( )= + − + − + + −+

+0 0 1 0

10 K ,

wobei der Index m ≥ 1 so gewählt ist, dass bm ≠ 0 ist. Außerdem kön-nen wir b0 ≠ 0 annehmen, da ansonsten bereits eine Nullstelle gefun-den ist.

Man bestimmt nun – beispielsweise mit der Moivre’schen Formel – eine komplexe Zahl w mit der Eigenschaft

wb

bm

m

= − 0

und bildet dann auf Basis einer noch später zu wählenden positiven, kleinen Zahl 0 < ε < 1 das Argument z1 = z0 + εw. Für den zugehöri-gen Funktionswert f (z1) findet man nun:

f z b bb

bb w b w

b b w b w

mm

mm

m mn

n n

mm

m mn

n n

( )

( )

1 00

11 1

0 11 11

= − + + +

= − + + +

++ +

++ +

ε ε ε

ε ε ε

K

K

Diese Gleichung erlaubt nun eine Abschätzung für den Betrag | f (z1)|:

( )( )

f z b b w b w

b B

m mm

mn

n

m

( ) ( )

( ( ) ,

1 01

11

0

1

1 1

≤ − + + +

= − −

++

+ε ε

ε ε

K

wobei der Quotient B = (| bm+1wm+1| + ... + | bnw

n|)/| b0| nur von den Koeffizienten b0, bm, ..., bn und der darauf aufbauenden Wahl der Zahl w abhängt. Dabei kann der Wert ε > 0 offensichtlich so klein gewählt werden, dass 1 – ε B positiv ist. Und bei einer solchen Wahl

38 Gleichungen n-ten Grades und ihre Eigenschaften

wird zugleich das vermeintlich in z0 erreichte Minimum nochmals un-terboten: | f (z1)| < | b0| = | f (z0)|. Der Widerspruch löst sich erst auf, wenn die Annahme b0 ≠ 0 aufgegeben wird.

Es bleibt noch anzumerken, dass die schönsten und kürzesten Bewei-se des Fundamentalsatzes der Algebra auf grundlegenden Sätzen der so genannten Funktionentheorie, wie die Infinitesimalrechnung für den Bereich der komplexen Zahlen bezeichnet wird, beruhen.

Aufgaben

1. Zeigen Sie, dass die nicht-reellen Nullstellen eines Polynoms mit reel-len Koeffizienten jeweils paarweise zueinander konjugiert komplexe Zah-len sind.

2. Konstruieren Sie ein Polynom n-ten Grades, das an n vorgegebenen, voneinander verschiedenen Stellen x1, ..., xn die beliebig vorgegebenen Werte y1, ..., yn annimmt.

Hinweis: Man untersuche für j = 1, ..., n zunächst die Polynome der Form

g xx x

x xji

j ii ni j

( )( )

( ), ...,

=−

−=≠

∏1

an den Stellen x = x1, ..., xn . Die darauf aufbauende Lösung der gestellten Aufgabe wird übrigens auch als Lagrange’sche Interpolationsformel bezeichnet.