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Amok im Kopf

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Warum Schüler töten

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Vorwort der deutschen Ausgabevon Prof. Dr. Klaus Hurrelmann 8

Vorwort 20

Vorbemerkung zum Text 23

1. Schul-Amokläufer: Jenseits journalistischer Erklärungsversuche 25

pSychopAthiSche täter

2. »Ich bin das Gesetz«: Zwei Psychopathen 54

pSychotiSche täter

3. »Ein Gott der Trauer« Ein schizotyper Jugendlicher 96

4. »Nichts ist wirklich« Vier Schizophrene 131

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trAumAtiSierte Amokläufer

5. »Jedermanns Albtraum« Drei traumatisierte Kinder 178

DAS gröSSere BilD

6. Jenseits der Typologie 212

7. Potenzielle Schul-Amokläufer, die rechtzeitig entdeckt wurden 251

8. Wie man Schulmassaker verhindern kann 283

Danksagung 309

Anmerkungen 311

Bibliografie 324

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Allen jungen Menschen, deren Leben ein gewaltsames Ende fand.All denen, die einen plötzlichen Verlust erleiden mussten.

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VorWort Der DeutSchen AuSgABeKLAus HurreLmANN

p e t e r l A n g m A n i S t Psychiater und Psychotherapeut und spezialisiert auf schwere mentale Krankheiten bei Jugendli-chen. Er hat das vorliegende Buch, wie er selbst sagt, mit gro-ßem innerem Widerstand geschrieben, weil ihn die Beschäf-tigung mit potenziellen jugendlichen Amokläufern, also mit möglichen Mördern und Selbstmördern in einer Person, an die Grenze seines professionellen und menschlichen Fassungs-vermögens gebracht hat. Er schreibt das Buch dennoch, weil er nicht nur seinen Kollegen, sondern auch Pädagogen und El-tern seine Erkenntnisse über die Ursachen dieser Gewalttaten mitteilen und Vorbeugungsschritte ableiten möchte.

Am Ende seiner Analyse, die sich ohne Weiteres auch auf die deutschen Geschehnisse von Emsdetten, Erfurt oder zu-letzt Winnenden übertragen lässt, weiß der Leser sehr viel über das völlig gestörte psychische Innenleben von tatsächlichen und potenziellen Gewalttätern. Es bleibt die Frage, warum ausgerechnet der Schüler X zu einem bestimmten Zeitpunkt Y eine unfassliche Tat begeht, die meist viele Menschen und ihn selbst das Leben kostet, die unzählige körperliche und psychische Verletzungen bei den Überlebenden zur Folge hat und eine ganze Gesellschaft traumatisieren kann. Diese Frage ist für den Einzelfall auch nach jahrelangen Recherchen nur schwer zu beantworten, denn Ereignisse wie ein Amoklauf mit

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einem Massenmord sind zumindest nach normalen menschli-chen Maßstäben nicht erklärlich, wenn auch rekonstruierbar und deshalb aus ihrer Zufallshaftigkeit herauszuholen. Durch eine genaue Analyse lassen sich Abläufe und Verzweigungen der brutalen Handlung Schritt um Schritt nachvollziehen, und jedem einzelnen Schritt liegt auch eine situative Logik zugrunde. Aber die Frage nach dem »Warum« des gesamten Tatablaufs und vor allem nach der Verursachung und Auslö-sung der eigentlichen Tat und ihrem genauen Zeitpunkt, also wann sie erfolgt, ist nicht gänzlich aufzuklären. Das ist eine der Kernaussagen von Peter Langman: Die Taten werden nachvoll-ziehbar, aber es bleibt ein unaufklärbarer Rest, und in genau diesem Sinne bleiben sie mysteriös.

Im Deutschen arbeiten wir bei affektgeladenen Gewalttaten mit dem Begriff »Amoklauf«. Obwohl es im Englischen eine Entsprechung gibt, vermeidet Langman diese Bezeichnung. Stattdessen schreibt er von »school shooting« und »rampage« (wüten, randalieren), bleibt aber bei insgesamt vorsichtigen, nüchternen Deskriptionen. Die Weltgesundheitsorganisation hat aber inzwischen einiges dafür getan, den Begriff Amok zu präzisieren, und deshalb ist er durchaus vertretbar. Ein Amok-lauf ist demnach eine anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich zerstörerischen Verhaltens, die eine extreme Gefährdungslage für die Menschen in der Umwelt und für den Täter mit sich bringt. In seinen kriminologischen Analysen hat in Deutschland vor allem Robert Harnischma-cher herausgearbeitet, welche Elemente zu dieser Episode füh-ren. Er beschreibt den Amoklauf durch Merkmale wie

den grundsätzlich allein agierenden Einzeltäter, –der anscheinend wahllos und gezielt agiert, –

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und zwar mittels Waffen, Sprengmitteln, gefährlicher –Werkzeuge oder anderer außergewöhnlicher Gewaltan-wendung,der eine zunächst nicht bestimmbare Zahl von Men- –schen verletzt oder tötet oderdurch sein Verhalten zumindest die Verletzung oder Tö- –tung erwartbar macht undauch seine eigene Tötung zumindest vorbereitet. –

Der Begriff Amok kommt wahrscheinlich aus der Sprache der Malaien und beschreibt so etwas wie unkontrollierte Wutaus-brüche. Ursprünglich hat man wohl Fälle von plötzlich auftre-tenden psychischen Störungen mit aggressivem Aktionsdrang hierunter verstanden und in der Definition auch den Zustand der äußersten Demütigung und Verwirrung mit einbezogen, der den Täter zu seiner Wahnsinnstat treibt. Ein Amokläufer ist also ein meist persönlichkeitsgestörter kranker Täter, der spontan aus aufgestauter Wut und Frustration, aus einem Af-fekt heraus, wahllos und blindwütig andere am Tatort anwe-sende Menschen angreift, verletzt oder tötet.

Langman geht in seiner Analyse fallbezogen vor. Er ist sen-sibilisiert durch seine Arbeit als Psychologe und Psychothera-peut, der in den letzten Jahren immer wieder zur Behandlung von potenziellen Amokläufern jugendlichen Alters herange-zogen wurde. Er berichtet über Erfahrungen mit seinen Pati-enten. Zusätzlich aber, und das bildet den Schwerpunkt des Buches, konzentriert er sich auf eine detaillierte Analyse von zehn jugendlichen Amokläufern an Schulen, die ihre Taten tatsächlich vollzogen haben und sich dabei selbst töteten. An-hand dieser zehn Fallanalysen versucht Langman zu verstehen, in welcher Ausgangssituation sich die Täter befanden. Er weist

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darauf hin, wie unbefriedigend bisherige Erklärungen, auch in der wissenschaftlichen Fachliteratur, sind, die letztlich nur an der Oberfläche der Phänomene bleiben konnten, weil nur sehr wenige in die Tiefe gehenden und wirklich nachhaltigen Ana-lysen vorliegen. Eine solche Analyse existiert nun mit seinem Buch.

Die zentrale These von Peter Langman ist: Jugendliche Amokläufer an Schulen sind psychisch krank. In allen von Langman genau untersuchten Fällen, in denen die entspre-chenden Dokumente und Krankenberichte vorlagen, konnte er starke psychische Störungen und Krankheiten diagnosti-zieren. Er gruppiert die jugendlichen Täter in drei Kranken-gruppen: psychopathisch, psychotisch und traumatisch kran-ke Jugendliche. In fast allen Fällen sind es junge Männer. Aus seinen Aktenanalysen und Fallrekonstruktionen von zehn Tätern wird in erschreckender Anschaulichkeit deutlich, wie zerstört das Innenleben dieser zu Massenmördern gewordenen jungen Männer war, als sie zur Tat schritten. Sie wurden zu Tätern, so die zentrale Aussage von Langmans Fallstudien, weil sie wegen psychischer Krankheiten sich selbst und ihre soziale Umwelt nicht mehr ertragen konnten. Sie verzweifelten an ih-rer eigenen Existenz und konnten mit ihrer sozialen Umwelt nicht mehr zurechtkommen. Sie wollten sich selbst zerstören, indem sie andere und die Welt um sich herum zerstörten, und umgekehrt wollten sie die Umwelt vernichten, um sich selbst auszulöschen.

Langman ist Psychologe und Psychotherapeut. Da liegt es nahe, dass er diesen Persönlichkeitsfaktor in seiner Gesamtana-lyse besonders stark macht. Bei der Lektüre dieses Buches ist es aber wichtig, den persönlichkeitsbezogenen, pathologischen Aspekt immer wieder in seinen Kontext zu stellen. Gleich zu

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Beginn der Analyse tut Langman das selbst, indem er auf zwei wichtige Faktoren außerhalb der Persönlichkeit der Täter hin-weist, die zur Analyse und Erklärung der Tat mit herangezogen werden müssen, wenn ein vollständiges Bild entstehen soll: auf das Medium der Tat und auf das Umfeld.

Bei allen bisher bekannt gewordenen Amokläufen auch in Deutschland spielt die Verfügbarkeit und meist auch die Gewöhnung an Waffen eine entscheidende Rolle. Bei allen Amokläufen waren außerdem problematische soziale Umwelt-bedingungen gegeben. Hierzu gehörten zum Beispiel ein sozial und psychisch zerrüttetes Elternhaus, die Flucht der Täter in eine mediale Scheinwelt mit gewalthaltigen Videospielen (Kil-lerspielen), eine verunsicherte Beziehungsgestaltung bis hin zur sozialen Isolation im Gleichaltrigenkreis, eine langjährige psychische Zurücksetzung mit starker Störung des Selbstwert-gefühls und oft auch ein Mangel an Anerkennung im schuli-schen Leistungssektor.

Es sind drei zentrale Faktoren, die wir zur Erklärung von Amokläufen Jugendlicher an Schulen identifizieren müssen, wenn wir sie analysieren und verstehen wollen. Der erste Fak-tor ist die Persönlichkeit des Täters. Hierzu wussten wir bis-her sehr wenig, und hierauf konzentriert sich die vorliegende Analyse von Langman. Der zweite Faktor ist die Beschaffenheit der sozialen Lebenswelt, also vor allem der Umwelt in Fami-lie, Freundeskreis und Schule. Hierzu liegen inzwischen eine Reihe von erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Untersu-chungen vor. Der dritte Faktor ist das Medium, mittels dessen die Tat ausgeführt wird. Es ist bei den allermeisten Amokläu-fen in den Schulen eine Waffe, meist eine Schusswaffe, deren Verfügbarkeit, Existenz und Einsatzmöglichkeit ebenso Vor-

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aussetzung für die Durchführung der Tat ist wie die beiden anderen Faktoren.

Wir müssen immer das Zusammenspiel der drei Faktoren Persönlichkeit – Lebenswelt – Tatmedium im Auge haben, wenn wir eine einigermaßen zufriedenstellende analytische Erklärung anstreben. Jede Erklärung, die nur auf einen der Faktoren abstellt, ist unzureichend. Bei allen bisherigen Taten waren der Zugang, die Verfügbarkeit und die Einsatzmöglich-keit von Waffen im Spiel – diese Bedingungen sind aber tau-sendfach bei anderen Jugendlichen gegeben, ohne dass sie zu Amokläufern werden. Das Gleiche gilt für die Faktoren in der sozialen Lebenswelt. Peter Langman weist im ersten Kapitel seines Buches darauf hin, dass Schulversagen, Demütigung im Freundeskreis, Vernachlässigung und Misshandlung in der Fa-milie zwar bei den meisten Amokläufern anzutreffen waren, aber die gleichen Faktoren treten tausendfach bei anderen Ju-gendlichen auf, ohne dass sie zu Tätern werden.

Auch für den Faktor Persönlichkeit gilt diese Aussage. Nicht jeder traumatisierte, psychotische, schizophrene, paranoide, antisoziale, narzisstische, sadistische oder sonst wie psycho-pathologische Jugendliche wird zu einem Amokläufer. Es sind nur einige wenige, denen dieses Schicksal vorgezeichnet ist. Ob das Ereignis eintritt oder nicht, das hängt nicht alleine vom Faktor Persönlichkeit ab, sondern davon, wie die Persönlichkeit in ihrer Lebenswelt aufgenommen wird und sich dort bewegt und wie sie mit dem Medium der Tat vertraut ist. Erst alle drei Faktoren zusammen in einem bisher nicht befriedigend zu er-klärenden Wechselspiel, in einer verhängnisvollen gegenseiti-gen Beeinflussung, führen zur Tat.

Wir kennen heute aus jedem der drei Bereiche die wesent-lichen Risikofaktoren. Was wir aber nicht wissen ist, welche

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Zusammengehörigkeiten, welche Kombinationen von Merk-malen aus den drei Bereichen gegeben sein müssen, damit es tatsächlich zur Tat kommt. Warum treffen bei den zehn von Peter Langman analysierten Tätern die psychische Krankheit, die zerbrochene soziale Lebenswelt und das Medium Tatwaffe so zusammen, dass sie tatsächlich den unfassbaren Schritt zur Tötung anderer Menschen und von sich selbst gehen? Diese Frage ist nur schwer zu beantworten.

Dennoch lässt sich aus dem bisherigen Erkenntnisstand sehr vieles über die Vorbeugung, die Prävention von Amok-läufen von Jugendlichen an Schulen ableiten. Peter Langmans Analyse bestätigt, dass ein Amoklauf keine Spontanhandlung ist, sondern das Ende einer längeren Handlungskette, die in der Regel über einen Zeitraum nicht nur von Monaten, sondern meist von Jahren aufgebaut wird. In diesem Sinne erscheint ein Amoklauf zufällig, er ist es aber nicht. Würden aus dem sozi-alen Umfeld genügend Aufmerksamkeit und Sensibilität dem potenziellen Täter entgegengebracht werden, könnte er früh-zeitig identifiziert werden.

Peter Langman wendet sich im Schlusskapitel seines Buches vor allem den Eltern zu und unterbreitet genau abgeleitete Vorschläge, wie sie bei ihren eigenen Kindern das Risiko von Gewalttaten identifizieren können. Jeder potenzielle Täter sendet bewusst, meist aber unbewusst, eindeutige Signale aus, die auf seine Neigung und auf seine Absichten schließen lassen. Es ist ein Drama, dass die Eltern aller bisherigen Amokläufer entweder nicht in der Lage waren, diese Signale zu verstehen, oder nicht bereit waren, die Signale in einer geeigneten Weise an Hilfe gebende Personen weiterzuleiten.

Ähnliches gilt für den schulischen Bereich, dort in aller-

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erster Linie für die Gleichaltrigen und Freunde der potenziel-len Täter und in einer zweiten Reihe für die Lehrerinnen und Lehrer. Von großer Bedeutung für die Vorbeugung von Amok-läufen an Schulen ist es, dass Gleichaltrige ein Gespür dafür entwickeln, wann einer ihrer Mitschüler solche Formen von psychischer und sozialer Abweichung zeigt, dass eine tatsäch-liche Gefährdung für ihn selbst und für andere gegeben ist. Es ist für den schulischen Kontext sehr unangenehm, aber die sorgfältige Diskussion darüber, wie in der Schülergemeinschaft potenzielle Taten erkannt werden können, gehört heute mit auf die Tagesordnung. Haben Mitschüler Zugang zu Waffen, sind sie Opfer von Gewalt durch Mitschüler, gibt es Schüler mit schweren Verlusterlebnissen, haben Schüler Ankündigungen einer Tat vorgenommen, sind diese Ankündigungen mehr als nur diffus und haben ganz konkrete Orte und Zeiten genannt? Solche und andere Aspekte gehören in den schulischen Kon-text und müssen im Bewusstsein von Mitschülerinnen und Mitschülern verankert sein (Harnischmacher 2007).

Ähnliches gilt für Lehrkräfte, auch wenn sie lange nicht einen so direkten Zugang zur alltäglichen Lebenswelt ihrer Schüler haben können. Bei ihnen aber wäre es möglich, über eine in größeren Abständen aufzufrischende Fortbildung auf die heute bekannten Warnsignale aufmerksam zu werden, die potenzielle Täter aussenden. Lehrer wären es dann auch, die geeignete professionelle Unterstützung und Hilfe heranziehen könnten.

Für beide Gruppen, also die Schülerinnen und Schüler und die Lehrerinnen und Lehrer, wäre es von großer Hilfe, wenn unkompliziert erreichbare Meldestellen existieren würden, bei denen absolute Anonymität gesichert und gleichzeitig eine professionelle Reaktion zu erwarten ist. Nur diese professio-

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nellen Helfer können entscheiden, ob es in einem konkreten Fall zu einem Zusammentreffen von mehreren spezifischen Hinweisen gekommen ist, die tatsächlich den Tatbestand eines ernsten Warnsignals ausdrücken. In sehr vielen Fällen sind es ja nur Verdachtsmomente, die für sich noch keine echte Kri-sengefährdung ausdrücken. Diese Unterscheidung kann ein normaler Lehrer und kann ein normaler Schüler so nicht tref-fen.

Ziel der Analyse von Peter Langman ist es, durch eine Sensibi-lisierung und tabufreie sachliche Diskussion aller bekannten Risikofaktoren darauf hinzuwirken, dass im schulischen Kon-text potenzielle Täter frühzeitig identifiziert werden können. Langmans Studie hilft uns, hier konkrete Schritte einzuleiten, ohne »verdächtige« Jugendliche zu stigmatisieren.

Seine Studie macht nachdrücklich auf ein Phänomen auf-merksam, dem in den nächsten Jahren unbedingt eine größere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Auch wenn Mäd-chen durchaus zu potenziellen Täterinnen werden können, worauf Langman ausdrücklich hinweist, sind fast alle Täter, die eine wahnhaft gesteuerte Gewalt an Schulen ausüben, männlichen Geschlechts. Einer der Hintergründe für diese Entwicklung scheint darin zu liegen, dass Jungen schon von Kindheit an erheblich größere Schwierigkeiten bei der Identifi-zierung mit und in der Gestaltung von ihrer Geschlechtsrolle haben als Mädchen.

Jungen werden häufiger psychisch krank und sind von den psychiatrisch identifizierbaren Krankheiten, die nach Peter Langman mit extremen schulischen Gewalttaten in Verbin-dung stehen (Psychopathologien, Psychosen und Traumatisie-rungen), deutlich stärker betroffen als Mädchen. Die Jungen

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haben bei allen zentralen Entwicklungsaufgaben im Jugend-alter die größeren Schwierigkeiten der Bewältigung. Sie fallen im Qualifikationsbereich immer weiter zurück und sind in den Leistungsbilanzen und Abschlüssen bereits von den Mädchen überholt worden. Sie haben Probleme im Aufbau von Bindun-gen, Beziehungen und Kommunikationsabläufen, die sich bis in die Freundschaftsbeziehung hinein fortsetzen. Sie haben ein einseitiges und eintöniges Freizeitverhalten, mit dem sie sich eine vielfältige Entfaltung ihrer Persönlichkeit und eine flexible Anpassung an veränderten Umwelten verbauen. Sie flüchten über Medien in Traumwelten und verlernen damit, sich aktiv mit ihrer realen Welt auseinanderzusetzen.

Wie die Analyse von Langman zeigt, sind es die jungen Männer, die erheblich größere Schwierigkeiten im Umgang mit Frustrationen, Zurücksetzungen, Demoralisierungen und De-mütigungen haben als junge Frauen. Viele von ihnen reagieren auf schwere Enttäuschungen mit völliger Fassungslosigkeit und Irritation, manche von ihnen dann leider auch mit einem Ver-lust ihrer Persönlichkeitsstruktur. Entsprechend häufen sich bei jungen Männern Kontrollstörungen, also unflexible und unproduktive Strategien der Konfliktbewältigung, Wut- und Racheausbrüche, Existenzängste, aber auch beschämtes Aus-dem-Felde-Gehen, beleidigtes Beiseitetreten und resigniertes In-sich-Hineinfressen.

Das vermeintlich starke Geschlecht zeigt erhebliche Schwä-chen, mit einer lang gestreckten, offenen und sozial unstruk-turierten Jugendphase produktiv umzugehen. Im Unterschied zu Mädchen und jungen Frauen fehlt es an Flexibilität, stra-tegischer Anpassungsbereitschaft, selbstkritischen Kontroll-möglichkeiten, sensiblen Korrekturen einmal eingeschlagener Wege, Durchhaltevermögen und Ausdauer bei Rückschlägen.

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Im Unterschied zum weiblichen Geschlecht fehlen den Jungen und jungen Männern in ihrer Entwicklungsnot heute Unter-stützung und Angebote für Auswege aus der Sackgasse, in die sie sich oft selbst hineinmanövrieren. Die Sackgasse – sie be-steht für viele von ihnen eben darin, zu traditionellen, völlig veralteten Bildern vom Mann Zuflucht zu nehmen und den Gladiator zu spielen, der mit starker Hand Ordnung nicht nur in sein eigenes Leben, sondern auch für die ganze Welt bringt. Ein verhängnisvolles Einfallstor für psychisch überstrapazierte Persönlichkeiten, um sich durch Gewalttaten als handlungsfä-hig und mächtig zu stilisieren.

Weil die allermeisten Amokläufer an Schulen junge Män-ner sind, sollten in den nächsten Jahren dringend spezielle vor-beugende Strategien entwickelt werden, die in eine umfassen-de pädagogische Jungen- und Männerförderung eingebunden sind. Alles das, was Peter Langman als Warnsignale und Vorab-Krisenzeichen identifiziert, sollte in einer geschlechtsspezi-fischen Akzentuierung beachtet werden. Dazu gehört sicher auch das Phänomen, dass unter den Opfern von Schul-Amok-läufen, wie in Winnenden, überhäufig Mädchen zu finden sind. Seit dem Amokalarm an einer Schule in Sankt Augustin im Mai dieses Jahres, stellt sich außerdem die Frage, ob und inwie-weit nicht auch Mädchen mit vielleicht ganz anderen Hand-lungsmustern zu Täterinnen werden können.

Eltern, Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeiter benöti-gen beim Verdacht, dass ein Jugendlicher eine Gewalttat pla-nen könnte, abgesicherte Kriterien. Handelt es sich bei dem Jungen um einen Menschen mit einer narzisstischen Persön-lichkeitsstruktur männlicher Prägung? Liegt eine niedrige Hemmschwelle von unzureichender Frustrationstoleranz vor? Sind sozial abweichende Auffälligkeiten im Verhalten des

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Jungen ersichtlich? Ist der Junge medienabhängig und flüchtet stundenlang in Computerspiele gewaltlastigen Inhaltes? Wie sieht sein Aggressionspotenzial gegenüber anderen aus? Sind Anzeichen erkennbar, dass sich gewaltsame Übergriffe gestei-gert bzw. verbale Drohungen mit einer Gewalttat an Schärfe und Deutlichkeit zugenommen haben? Ist der Junge sozial integriert oder nicht? Erfährt er Ausgrenzung, Mobbing oder emotionale Ablehnung und spiegelt dieses Verhalten eventu-ell gegenüber anderen? Ist er ein Waffennarr und kennt sich mit Waffen aus? Hat er unkomplizierten Zugriff zu Waffen? Ist er ein depressiv geprägter Typ mit Suizidneigung? Hat er eine komplizierte Geschichte mit seinen Eltern hinter sich und eventuell erniedrigende und demoralisierende Erfahrungen mit Vater oder Mutter gemacht? Diese und andere Aspekte könnten der Kristallisationspunkt für eine Art Risikobewer-tung von tatverdächtigen Jungen und jungen Männern sein, die für das Einleiten von Unterstützung und Hilfsmaßnahmen herangezogen werden kann.

Professor Dr. Klaus HurrelmannFakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld und Hertie School of Governance, Berlin

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VorWort

ic h W o l lt e D ie S e S Buch nicht schreiben. Ich habe mich gegen diesen Gedanken gewehrt und gab mich dem Glauben hin, dass die Epidemie der Schulmassaker der späten 1990er-Jahre vorüber sei. Es war eine naive Hoffnung. Die Gespenster von Columbine sind nach wie vor in den Fluren unserer Schu-len unterwegs, und jedes Jahr gibt es Schüler, die Eric Harris und Dylan Klebold nacheifern wollen. In der Tat sind es die Anschläge dieser beiden Jungen, die mich zur Beschäftigung mit dem Problem der Schulmassaker geführt haben.

Am 20. April 1999 überfielen Eric und Dylan die Colum bine High School. Sie ermordeten 13 Menschen, verwundeten 23 und töteten sich dann selbst. Am Tag des Überfalls arbeitete ich als Assistenzarzt in einer psychiatrischen Kinderklinik. Wie der Rest des Landes war ich schockiert und bestürzt von dem Massaker, und ich wusste, dass dieses Verbrechen einen Ein-schnitt in der Geschichte der USA darstellte. Ich konnte aber nicht voraussehen, welchen Einfluss das Geschehen auf mein Leben haben würde.

Am 30. April 1999, nur zehn Tage nach dem Überfall in Columbine, wurde ein Teenager in die psychiatrische Klinik eingewiesen, an der ich arbeitete, weil der dringende Verdacht bestand, er könnte »Columbine nachahmen«. Er hatte eine To-desliste auf seiner Website und zeigte weitere beunruhigende und bedrohliche Verhaltensweisen. Eine Schülerin hatte seine

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Website entdeckt und ihrem Vater gezeigt, der daraufhin die Schule informierte. So kam dieser Junge zu mir. Ich wurde gebeten, das Risiko eines Schulmassakers abzuschätzen – eine durchaus beängstigende Aufgabe. Ich musste herausfinden, ob ein 16-jähriger Junge das Potenzial zum Massenmörder besaß. Was die Sache noch vertrackter machte, war, dass es damals faktisch keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber gab, was in jugendlichen Amokläufern vorgeht.

Seither habe ich pro Jahr einen bis zwei potenzielle Amok-läufer begutachtet. Als Psychologe fühlte ich eine ethische Verpflichtung, so viel wie möglich zu dem Thema zu wissen. Ich las, was ich finden konnte, um meine Kenntnis über diese Jugendlichen zu erweitern. Doch je mehr ich las, desto mehr wurde mir klar, dass wesentliche Aspekte fehlten.

Obgleich ich diese Lücken sah, war ich mir nicht sicher, ob ich derjenige sein wollte, der sie schließt. Die Aussicht stieß mich ab, Jahre meines Lebens mit der Erforschung von Mas-senmorden zu verbringen. Viele Leute mögen Filme, in denen Gewalt vorkommt, Horrorgeschichten und Bücher über Seri-enmörder – ich nicht. Dennoch, als ich mich mit den jugendli-chen Mördern beschäftigte und die vorhandene Literatur dazu las, wurde ich von dem Thema und der Fülle von Fragen, die es aufwirft, fasziniert. Wie konnte jemand so etwas tun? Warum genau dieser Junge und nicht sein Bruder? Warum diese beiden Jungen, wenn es doch Kinder gab, die größeren Verletzungen in ihrer Kindheit und Jugend ausgesetzt waren? Welche Ein-flüsse trieben sie zu einer so extremen Tat?

In den letzten neun Jahren habe ich, aus meiner Perspektive eines Psychologen, versucht, diese Fragen zu beantworten. Ich befasse mich mit Menschen als Individuen, mich interessiert, was in ihrem Bewusstsein geschieht – ihre Persönlichkeit, ihre

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Gedanken, Gefühle, Hoffnungen: alles, was ihre Identität aus-macht. Das bedeutet nicht, dass ich äußere Faktoren vernach-lässige. Interaktionen in der Familie, soziale Umgebung und Beziehungen zu Gleichaltrigen haben einen profunden Ein-fluss auf die Identität und Erfahrungswelt der Menschen. Was ich jedoch verstehen wollte, war: Was genau ging im Bewusst-sein von Schul-Amokläufern vor? Wie sahen sie die Welt? Wie erklärten sie sich ihren mörderischen Drang?

Zwar teile ich hier meine Einsichten, Schlüsse und Speku-lationen mit, aber es gibt keine einfache Erklärung für das Phä-nomen des jugendlichen Amokläufers oder eine Formel, nach der sich voraussagen ließe, wer zum Massenmörder wird. Am Ende des Buches gibt es also nichts dergleichen wie: A + B + C = Schul-Amokläufer. Das Problem ist zu komplex, und es gibt Vieles, was wir nicht wissen. Gleichwohl glaube ich, dass dieses Buch Licht auf ein Phänomen werfen wird, das trotz ausgiebi-ger Behandlung in den Medien rätselhaft geblieben ist. Mei-ne Hoffnung ist, dass wir durch ein größeres Verständnis der Antriebskräfte von jugendlichen Tätern besser in der Lage sein werden, frühe Warnzeichen zu erkennen, wirkungsvoll zu in-tervenieren und damit das Leben von Menschen retten.