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Anette Horn und Peter Horn Der Schrei ist das einzig Ewige Die Romane omas Bernhards

Anette Horn und Peter Horn Der Schrei ist das einzig Ewige Die Romane Thomas Bernhards · 2016. 4. 22. · Thomas Bernhard hat dieses Dilemma in einer radikalen Form ausgespro-chen:

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  • Anette Horn und Peter HornDer Schrei ist das einzig Ewige

    Die Romane Thomas Bernhards

  • Anette Horn und Peter HornDer Schrei ist das einzig Ewige

    Die Romane Thomas Bernhards

  • Beiträge zur Kulturwissenschaft

    Band 38

  • Anette Horn und Peter Horn

    Der Schrei ist das einzig Ewige

    Die Romane Thomas Bernhards

    ATHENA

  • Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

    E-Book-Ausgabe 2016Copyright der Printausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag,Copyright der E-Book-Ausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag,Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen www.athena-verlag.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlagabbildung: Judith Holzmeister as die Gute and Martha Wallner as Johan-na in the first night of ›Ein Fest fuer Boris‹ by Thomas Bernhard. Akademietheater. Vienna. February, 2nd 1973. Photograph. akg-images / ImagnoISBN (Print) 978-3-89896-617-7ISBN (PDF-E-Book) 978-3-89896-777-8

  • This material is based upon work supported financially by the National Re-search Foundation. Any opinion, findings and conclusions or recommenda-tions expressed in this material are those of the author(s) and therefore the NRF does not accept any liability in regard thereto.

    We gratefully acknowledge that the University of Witwatersrand supported our research.

  • Inhalt

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    Die Sprache ist die Stimme des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15Sprache als Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Gegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19Übertreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21Ein gefährdeter Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22Krankheit und Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Anarchismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35Kritik der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38Selbstmord und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Eine Schrift schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

    Frost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

    Verstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

    Das Kalkwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

    Korrektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

    Beton. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

    Der Untergeher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

    Holzfällen: Eine Erregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

    Alte Meister: Eine Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

    Auslöschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

    Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247Begräbnis als Schauspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249Murau als Lehrer von Gambetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255Muraus Beziehung zu Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260Die Vergangenheit ›auslöschen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

  • 8 Inhalt

    Die Authentizität der Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

    Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

    Thomas Bernhard. Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277Andere zitierte Werke Thomas Bernhards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

  • »Die Problematik der Philosophie ist die Problematik des Witzes.« Ludwig Wittgenstein.

    »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es nur unerbittlich zu wiederholen.« Ludwig Wittgenstein.

    »Auch die Philosophie hat ihre Blüthen. Das sind die Gedanken, von de-nen man immer nicht weiß, ob man sie schön oder witzig nennen soll.« Friedrich Schlegel

    »Man unterscheide doch endlich zwischen Kunstträgern und Kulturträ-gern … Der Kunstträger ist statistisch asozial.« Gottfried Benn

  • Einleitung

    Die Sprache ist die Stimme des Menschen

    Jede Analyse der Romane von Thomas Bernhard sollte von dem Satz ausge-hen: »Es kommt auf das Wie an, und das ist eben die Sprache.« (Thomas Bern-hard zit. Dreissinger 1992: 191) Die Sprache ist die Stimme des Menschen. Im Gegensatz zur Stimme des Tiers ist aber die menschliche Stimme nicht leer.1 Schopenhauer (o. D.: 596) schreibt: »Die thierische Stimme dient al-lein dem Ausdruck des Willens in seinen Erregungen und Bewegungen; die menschliche aber auch dem der Erkenntniß.« Daher, so Agamben (2007: 61), ist die menschliche Sprache die ›Stimme des Bewusstseins‹. Doch auch die menschliche Stimme hat noch das ›reine Tönende‹ der animalischen Stimme. »Die Artikulation erscheint […] als ein Prozess der Unterschei-dung, der Unterbrechung und der Aufbewahrung der animalischen Stim-me.« Die Prosa Thomas Bernhards ist zwar (menschliche) Sprache, aber sie ist, in diesem Sinn, immer auch noch (tierische) Stimme, »durchzuckt von einer monomanen Energie«, und diese Sprachgestik bestimmt letztlich, wie die Sprache gelesen werden muss.2 Die Sprache der Romane Bernhards ist weithin »Rede« – eine komplizierte Mischung von direkter und indirekter Rede. Aber: »Die Energie […], die die Rede vorantreibt, entlädt sich nicht stoßweise in kurzen, vielleicht sogar elliptischen Sätzen, wie es der mono-mane Sprachzustand erwarten lässt.« (Maier 1970: 18)3

    Schopenhauer (o.  D.: 300), einer der Lieblingsschriftsteller Bernhards, schreibt: »Unser und aller Thiere Dasein ist nicht ein fest dastehendes und wenigstens zeitlich beharrendes, sondern es ist eine bloße existentia fluxa, die nur durch den steten Wechsel besteht, einem Wasserstrudel vergleich-bar.« Da die Beständigkeit der Welt zu bezweifeln ist, verfällt auch die Be-ziehung zwischen Wort und Welt der Doppeldeutigkeit, der Sprachskepsis,

    1 In der Jenenser Realphilosophie I schreibt Hegel (1932: Bd. 19, 212): »Das reine Tönende der Stimme, das Vokale, unterscheidet sich selbst, indem das Organ der Stimme seine Gliederung als eine solche in ihren Unterschieden zeigt. Dieses rein Tönende wird durch die stummen [Mitlaute] unterbrochen, das eigentlich Hemmende des bloßen Tönens, wo-durch vorzüglich jeder Ton für sich eine Bedeutung hat, da die Unterschiede des bloßen Tönens im Gesange nicht für sich bestimmte Unterschiede sind, sondern sich erst durch den vorhergehenden und folgenden Ton bestimmen.« (Zit. Agamben 2007: 77)

    2 Maier (1970: 20) spricht von einer »schamanenhaft-irrationalen Rede«. 3 »Bernhard schreibt weniger Sätze (parataktisch) als Satzgebäude. Die Hypotaxe ist das

    System der lückenlosen, geschlossenen Form.« (Maier 1970: 19)

  • 12 Einleitung

    wie schon bei Fritz Mauthner, Karl Kraus und Ludwig Wittgenstein. Die Sprache ist für Wittgenstein die sprachliche Form des Käfigs, der uns von der Welt trennt. Thomas Bernhards Werk ist geprägt von einem irrever-siblen Verlust metaphysischer Sinnstiftung. Philosophie oder Wissenschaft jedenfalls, das zeigen alle Gestalten Bernhards, die sich mit der einen oder anderen Form der Philosophie oder der Wissenschaft beschäftigen, kann eine solchen »Sinn« nicht herstellen oder finden.4 Aber auch die Kunst kann das nicht. Kunst und Denken sind in der Moderne nur noch Randerschei-nungen. Aber Künstler und Denkende müssen sich gegen diese Entwick-lung wehren, wie Oehler in der Erzählung Gehen (Bd. 12: 147) sagt: »Und während der Staat und während die Gesellschaft und während die Masse alles tut, um das Denken abzuschaffen […], wehren wir uns mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diese Entwicklung«.5 Allerdings glaubt auch er »die meiste Zeit an die Sinnlosigkeit des Denkens«. Ähnlich spricht Derrida davon, dass grundsätzlich nur noch verlorene Schlachten geschlagen werden. In ›Die Kälte‹ (352) schreibt Bernhard: »Die Absurdität ist der einzig mögliche Weg«. Gessmann (2009: 109) meint, man könne in der Absurdität des wissenschaftlichen und künstlerischen Unternehmens immer noch einen Grund finden, weiter zu machen, wenn man den Sinn dafür noch nicht verloren hat, sich für eine Sache mit dem ganzen Aufwand seiner denkerischen Mittel einzusetzen. Thomas Bernhard stellt so jede Be-schreibung der Wirklichkeit in Frage, auch wenn er trotzdem immer wie-der Wirklichkeit beschreiben will.6 In ›Der Keller‹ (136) schreibt Bernhard: »Da die Wahrheit mitzuteilen und also zu zeigen, nicht möglich ist, haben wir uns damit zufriedengestellt, die Wahrheit schreiben und beschreiben zu wollen, wie die Wahrheit zu sagen, auch wenn wir wissen, daß die Wahrheit niemals gesagt werden kann.« Höller (2002: 22) wandelt Bernhards Begriff ›Wissenschaft als Finsternis‹ ab und findet »im Roman Kalkwerk, Wissen-

    4 »Grundlegend für Bernhards Literatur ist seine Überzeugung, nach der eine sichere Er-kenntnis seiner Selbst, seiner eigenen Geschichte, der Wirklichkeit überhaupt unmöglich ist. Daraus folgt logisch die Vergeblichkeit jeglichen wissenschaftlichen Forschens oder künstlerischen Gestaltens, wenn Wirklichkeit erfaßt oder abgebildet werden soll. Ergebnis jeder Suche nach Wahrheit kann nur Unwahrheit sein.« (Marquardt 2002: 84)

    5 In Die Jagdgesellschaft heißt es: »Wir leben in einer Zeit / in welcher die Forderungen der gemeinen Menschen / erfüllt werden / das hat es nie gegeben sagt er«. (Dr1: 349)

    6 Ähnlich wie George Bataille kritisierte Thomas Bernhard den Versuch, unter dem Namen einer Wissenschaft eine Welt abstrakter Dinge zu konstruieren, die wiederum von den Dingen der profanen Welt kopiert wurden, von einer Teilwelt also, die von dem Begriff der Nützlichkeit dominiert wird.

  • Einleitung 13

    schaft als Wahnsinn, genauer gesagt, ›Wahnsinn mit Methode‹« ja sogar »die strengste Pseudo-Methodik der Hexenprozesse«.

    In dem autobiografischen Roman ›Die Kälte‹ (69f.) formuliert Bernhard seine Sprachskepsis so: »Die Sprache ist unbrauchbar, wenn es darum geht, die Wahrheit zu sagen, Mitteilung zu machen, sie läßt dem Schreibenden nur die Annäherung, immer nur die verzweifelte und dadurch auch nur zweifelhafte Annäherung an den Gegenstand«. Immer wieder versucht Bernhard durch Sprache ein ›Authentisches‹ darzustellen, »aber, die Sprache gibt nur ein gefälschtes Authentisches wider [sic], das erschreckend Verzerr-te, sosehr sich der Schreibende auch bemüht, die Wörter drücken alles zu Boden und verrücken alles und machen die totale Wahrheit auf dem Papier zur Lüge.«7 Mit Sprache kann daher Wahrheit nicht ausgesagt werden, aber dennoch müssen wir Sprache benutzen, da es nichts Anderes gibt, und da sie unter Umständen zumindest näherungsweise erlaubt, das Gemeinte aus-zusprechen. Da man sich nur durch Sprache wie auch immer unzulänglich ausdrücken kann und sich nur verständlich machen kann, wenn man sich dem bestehenden Regeln der Sprache unterwirft, muss der Sprecher, um das ihm ganz allein Eigene auszusagen, gerade das Allgemeine und Verständli-che sagen. Deswegen kann er aber sein Eigenstes nie verständlich machen. Thomas Bernhard hat dieses Dilemma in einer radikalen Form ausgespro-chen: »Ich spreche die Sprache, die nur ich allein verstehe, sonst niemand, wie jeder nur seine eigene Sprache versteht; und die glauben, sie verstünden, sind Dummköpfe und Scharlatane.« (Ke 156f.) Wenn das stimmt, versetzt das natürlich den Leser und den Interpreten in eine unmögliche Situation: er kann Bernhards Texte nie verstehen.8 Bernhard formuliert die gedankli-che Grundlage der monologischen Sprache seiner Romane so: »Es kommt mir vor, als existierte ich als Rutengänger im eigenen Kopf. Bin ich Teil oder Opfer der sich immer schneller drehenden und alles in ihr ununterbrochen malmenden und zermalmenden Existenzmaschine?« Als einzigen Zweck des

    7 Schweikert (1974: 2) »Bernhards distanziert und zugleich subjektiv gestimmtes Erzählen verdankt seinen Wahrheitsanspruch also dem poetologischen Faktum der fingierten Wirk-lichkeitsaussage (Käte Hamburger), die ihm freilich mehr als nur formales Stilmittel ist. Sie verleiht seinen Aussagen den Charakter von Authentizität. Diese radikale Authentizität in Form apodiktischer Aussagen … bewirkt einerseits, daß Erzähler-Ich und Autor-Ich ineinander übergehen.«

    8 Lorenzer (1973: 103) meint: »Die Heimtücke der Privatsprache besteht darin, dass sie in Folge ihrer allgemeinsprachlichen Einkleidung nie indirekt aus den Verhaltensabweichun-gen als privatisiert ermittelt werden kann.«

  • 14 Einleitung

    Lebens sieht er, »die Zwecklosigkeit (der Natur) zu beobachten.« (WiZ; vgl. Donnenberg 1983: 13)

    Nietzsche sprach vom ›Tod Gottes‹ und meinte den Verlust des meta-physischen Sinns. Den »›Sinn der Wissenschaft‹, sie könnte den ›Weg zum wahren Sein‹, ›Weg zur wahren Kunst‹, ›Weg zur wahren Natur‹, ›Weg zum wahren Gott‹, ›Weg zum wahren Glück‹« weisen, hielt er für versunkene Il-lusionen, an die nur noch einige große Kinder glaubten. (Vgl. Stulpe 2010: 121) Schopenhauer (1977: Bd. 1, 58–59) sieht die Wissenschaft in Die Welt als Wille und Vorstellung als Materialismus: »Dennoch ist im Grunde das Ziel und das Ideal aller Naturwissenschaft ein völlig durchgeführter Mate-rialismus. Daß wir nun diesen hier als offenbar unmöglich erkennen, bestä-tigt eine andere Wahrheit, die aus unserer fernern Betrachtung sich ergeben wird, daß nämlich alle Wissenschaft im eigentlichen Sinne, worunter ich die systematische Erkenntniß am Leitfaden des Satzes vom Grunde verstehe, nie ein letztes Ziel erreichen, noch eine völlig genügende Erklärung geben kann; weil sie das Innerste Wesen der Welt nie trifft, nie über die Vorstellung hinaus kann, vielmehr im Grunde nichts weiter, als das Verhältniß einer Vorstellung zur andern kennen lehrt.«

    Jahraus (2002: 73) sieht Bernhards Werk als einen innovativen Beitrag zur literarischen Subjekttheorie, und verweist auf die zahlreichen intertextuellen Bezüge, z. B. auf Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard, insbesondere auch auf Montaigne, Pascal, Descartes und auf Wittgenstein. In jedem Fall aber ergibt sich die Notwendigkeit, »die Konvergenz von Literatur und Theorie/Philosophie genau zu eruieren, und [zu] verhindern, dass der Text zur Il-lustration der Theorie herabgestuft wird.« Marquardt (2002: 84) verfolgt eine ähnliche Argumentation: auch sie sieht als Bernhards Überzeugung, dass »eine sichere Erkenntnis seiner Selbst, seiner eigenen Geschichte, der Wirklichkeit überhaupt unmöglich ist.« Daraus ergibt sich eine »erkennt-nistheoretische Aporie«, dass nämlich »Tatsächliches und Vorgestelltes […] grundsätzlich nicht deckungsgleich« seien. Wenn überhaupt, dann kann man nur mit Hilfe einer Approximation in das Unendliche, Unerforsch-te und ›Unerforschliche‹ eindringen: »Ein poetischer Text wird verstanden als die Darstellung des Prozesses sukzessiver Approximation, das Unsagbare sagbar zu machen oder (und) das Ungesagte zu sagen.« (Vgl. dazu Lederer 1970: 42)

  • Einleitung 15

    Wiederholung

    Eines der Kennzeichen von Thomas Bernhards Prosa ist die Wiederholung; sie ist ein wichtiges Element seines Erzählens.9 Endres (1994: 25) empfin-det die Wiederholung »wie ein Donnerrollen auf einer leeren Bühne« und meint: »Die Wiederholung duldet keine Pause, kaum ein Innehalten. Un-terbrechung ist Tod. Verzweifelt arbeitet die Maschine.« Das zu beschrei-bende Geschehen erweist sich ihrer Meinung nach als maschinelle Leere: »Die Zeit steht still. Die maschinelle Bewegung der Wiederholung entleert sich in die tote Gegenwart hinein.« Tismar (1970: 72) spricht von dem »Strudel der in sich kreiselnden Begriffe« und von »auf- und abschwellenden Wortklängen«. Und er meint: »Die lyrische Einheit unterläuft das rational logische Prinzip der syntaktischen Ordnung.« (Ebd.)

    Erzählen, wie die Musik, findet in der Zeit statt, aber die Wiederholung macht es als etwas außer der Zeit erfahrbar. Was gewesen ist, kann immer noch einmal wiederholt werden. Meistens sind die Wiederholungen ab-geändert, laufen aber, wenn auch manchmal gesteigert, doch auf dasselbe hinaus: »Tautologien, Paradoxa, Anakoluthe, hektische Reihungen (asyn-detisch), die häufig im Kürzel ›usf.‹ enden etc.« (Maier 1970: 20) Manfred Jurgensen (1981: 101, 113) geht so weit, Bernhards Schreiben mit »Arien in verschiedenen Denkarten« zu vergleichen, »so wie ein Komponist in un-terschiedlichen, jedoch aufeinander bezogenen Tonarten komponiert.« Die »Bedeutung eines Bernhardschen Werks« sieht er »in bewusst komponierten Stileffekten, in spielerisch formalen Bezügen, das heißt: in der Besonderheit des sprachlichen Ausdrucks […]. Jede andere Sinngebung wird von Bern-hard geleugnet.«

    Endres (1994: 23) glaubt, das kritisieren zu müssen: »Bernhards Texte sprechen die Sprache des Misstrauens. Sie werden geschrieben gegen die Natur, gegen die Gesellschaft, gegen Wissenschaft und Kunst, gegen die Se-xualität, gegen die Frau […], nur nicht gegen die Sprache selbst« und meint, »wichtig ist für den Autor vor allem, dass weitergesprochen wird.« Dabei ist doch klar ersichtlich, dass sich Bernhards Misstrauen vor allem auch gegen die Sprache richtet. Je entschiedener ein Protagonist etwas behauptet, je öfter er etwas wiederholt, desto mehr ist es in Zweifel zu ziehen, zu kor-

    9 Maria Popova, How Repetition Enchants the Brain and the Psychology of Why We Love It in Music. In: Elizabeth Hellmuth Margulis: On Repeat: How Music Plays the Mind. Margulis versucht zu zeigen, warum Wiederholung psychoemotional so befriedigend ist. [2014/ 09/18/on-repeat-margulis/16.1.2015]

  • 16 Einleitung

    rigieren. So heißt es in ›Korrektur‹: »Tatsächlich bin ich erschrocken über alles, das ich jetzt geschrieben habe, daß alles ganz anders gewesen ist, denke ich, aber ich korrigiere, was ich geschrieben habe, jetzt nicht, ich korrigiere dann, wenn der Zeitpunkt für eine solche Korrektur ist, dann korrigiere ich und dann korrigiere ich das Korrigierte und das Korrigierte korrigiere ich dann wieder und sofort«. (Ko 285)

    Die Sprache ist dennoch das, worin wir als Subjekte konstituiert sind, das, was uns so und nicht anders macht. Die Sprache ist die letzte, uns selbst schon nicht mehr sichtbare Form des Gesetzes (nicht sichtbar, weil wir die Welt mit Hilfe der Sprache sehen, mit Hilfe des Werkzeugs des Sehens das Werkzeug selbst nicht sehen können. Genauso wenig können wir den Raum und die Zeit sehen, weil Raum und Zeit die a priori Kategorien sind, mit deren Hilfe wir uns in der empirischen Welt zurechtfinden). Der Glaube an die Grammatik ist der letzte und unerschütterlichste Glaube, weil uns dieser Glaube so selbstverständlich ist, dass wir ihn gar nicht mehr wahrnehmen. Gleichzeitig ist Sprache aber auch, weil sie uns erlaubt, die Welt mittels ei-ner Ordnung wahrzunehmen, Ursprung jener Freiheit des Subjekts, die das Subjekt in einen gesellschaftlichen Widerspruch zum Gesetz bringt. Nur mittels der Sprache können wir uns als »frei« denken (vgl. Horn 1988: 52 und 2015: 180) Wie wichtig »die ›stetige Gegenwart‹ der Instanz der Rede« für das »Verhältnis von Sein und Präsenz in der Geschichte der abendländi-schen Philosophie« ist, zeigt Agamben (2007: 68).

    Sprache als Musik

    Schweikert (1974: 2) geht davon aus, dass man am direktesten ins Zentrum von Bernhards Werk tritt, »wenn man sich diesem von der formalen Ana-lyse her nähert.« Eine »nacherzählbare Handlung oder Fabel kennen seine Romane und Erzählungen nicht.« Er übernimmt Bernhards Aussage, dass er ein Geschichtenzerstörer ist, und meint: »Im Ablauf einer Geschichte wird diese Geschichte als Geschichte systematisch zerstört (ich bin … kein Ge-schichtenerzähler, Geschichten hasse ich im Grund. Ich bin ein Geschichtenzer-störer, ich bin der typische Geschichtenzerstörer – so Bernhard in ›Drei Tage‹.«10

    In ›Alte Meister‹ scheint Bernhard eine Art ›close reading‹11 der besonderen Art für sein Werk und für Literatur im Allgemeinen vorzuschlagen: »Es ist

    10 So absolut stimmt das natürlich nicht.11 Vgl. Roland Barthes »Die Lust am Text« wo er diese Art der Lektüre eine aristokratische

    nennt.

  • Einleitung 17

    doch besser, wir lesen alles in allem nur drei Seiten eines Vierhundertseiten-buches tausendmal gründlicher als der normale Leser, der alles, aber nicht eine einzige Seite gründlich liest, sagte er. Es ist besser, zwölf Zeilen eines Buches mit höchster Intensität zu lesen und also zur Gänze zu durchdrin-gen, wie gesagt werden kann, als wir lesen das ganze Buch wie der normale Leser, der am Ende das von ihm gelesene Buch genauso wenig kennt, wie ein Flugreisender die Landschaft, die er überfliegt. Er nimmt ja nicht einmal die Konturen wahr. So lesen heute die Leute alle alles im Flug, sie lesen alles und kennen nichts.« (AM 26f.)

    Die Wiederholungen in Bernhards Texten erlauben es ihm, die Texte zu einer Art musikalischer Komposition zu verarbeiten. Ervedosa (2008: 313, 346) hebt das »spiralartig und manisch wirkende Insistieren auf ein Motiv« hervor und macht das für die für Bernhards Texte charakteristische Musi-kalität verantwortlich. »Die Sprache distanziert sich auf diese Weise immer mehr von der diskursiven Ausdrucksweise und wird zur Manifestation von Musikalität.« Die Musikalität der Texte Bernhards beruht weiter darauf, den Akt des Erzählens auf viele Stimmen zu verteilen, und das ist ein Versuch, die Polyphonie der Musik in einem literarischen Text nachzuahmen. Bern-hard selbst sagte: »Den Stoff im eigentlichen Sinn halte ich für ganz und gar sekundär. […] [E]s ist eine Frage des Rhythmus und hat viel mit Musik zu tun«. (WS 219) Bernhard hat die Musikalität als positive Qualität österrei-chischer Dichtkunst hervorgehoben, das eigene Œuvre mit eingeschlossen: »Nehmen Sie die Aussprache, die Sprachmelodie. Da gibt es schon einen wesentlichen Unterschied. Meine Schreibweise wäre bei einem deutschen Schriftsteller undenkbar«. Zugleich hat Bernhard deutschen Kritikern vor-geworfen, »kein Ohr für die Musik« zu haben, und in diesem Kontext eine Bemerkung gemacht, in der er der Form den Vorzug gegenüber dem In-halt eingeräumt hat: »Um darauf zurückzukommen, wie ich meine Bücher schreibe: Ich würde sagen, es ist eine Frage des Rhythmus« (WS 219). Da-neben geht es aber auch um Komik, die Sprache wird spielerisch, exzent-risch und übertrieben und verstößt oft gegen die konventionellen Sprach-regeln. Ervedosa (2008: 321) meint, dass gerade in dieser Inkongruenz eine bedeutende Quelle des Komischen liegt, »zumal der darin zum Ausdruck kommende performative Umgang mit Sprache und Literatur den Eindruck des Spiels bzw. der Harmlosigkeit verstärkt, deren das Komische zu seiner Entstehung bedarf.«

    Am Anfang der Romane von Bernhard steht fast immer eine Erzählerins-tanz, die sich manchmal »ich« nennt – »Während alle auf den Schauspieler

  • 18 Einleitung

    warteten […], beobachtete ich die Eheleute Auersberger genau« – und er tut das zu einem Jetzt in der Vergangenheit (während) an einem Hier, »genau von jenem Ohrensessel aus« (H 7). Thomas Bernhard delegiert das Erzählen aber auch oft an einen anonymen Metaerzähler, z. B. in ›Gehen‹, ›Alte Meis-ter‹ und ›Auslöschung‹. Über ihn erfahren wir nichts.12

    Bernhard kennzeichnet seine Hauptfiguren oft als ›Geistesmensch‹, der wie auf einer Bühne in oft langen Redekaskaden seine Gedanken vorträgt, ja rezitiert.13 Eine zweite Person übernimmt die Rolle des geduldigen Zu-hörers. Schweikert (1974: 2) geht davon aus, dass Bernhard die Form der Ich-Erzählung benutzt, eigentlich eine Form der ›Rollenerzählung‹, die sei-ner Meinung nach die ›Identität von Erzählen und Erzähltem‹ garantiere. Ich-Erzählung und Rollenprosa scheint mir aber ein Widerspruch zu sein. Die Er-Form, die auktorial verbürgt ist, ist selten (z. B. in der Erzählung ›Der Kulterer‹). Die Frage bleibt offen, »ob und inwieweit diese Identität den Autor miteinbezieht.« Wie allerdings das »poetologische Faktum der fingierten Wirklichkeitsaussage (Käte Hamburger) […] seinen Aussagen den Charakter von Authentizität« verleihen kann, ist mir unklar, und wie Schweikert damit die »radikale Authentizität in Form apodiktischer Aussa-gen« begründen will, ebenfalls. Denn eine »fingierte Wirklichkeitsaussage« ist schließlich nie ›authentisch‹. Im Gegensatz zu seiner Auffassung scheint mir auch, dass Erzähler-Ich und Autor-Instanz nie ineinander übergehen, auch wenn hie und da oberflächlich der Eindruck entstehen könnte. Wie Schweikert (1974: 3) richtig sagt, handelt es sich bei Bernhard nicht um plan berichtende Ich-Erzählungen. Fast immer haben wir es mit vielerlei Perspektiven zu tun, oft die eines anonymen Erzählers, der die Perspektive des Protagonisten wiedergibt, der seinerseits andere Perspektiven referiert. »Bernhards Erzählen ist indirektes, konjunktivisches Erzählen, sagte er seine gebräuchlichste Floskel«. Ervedosa (2008: 346), die auf die ›Performanz‹ Bernhardscher Prosa hingewiesen hat, betont, dass sich bei Bernhard das Erzählen gewissermaßen selbst inszeniert; aber gleichzeitig sei es dem Leser

    12 Ervedosa (2008: 347) verweist auf die performative Dimension als Aspekt der Erzähltech-nik Bernhards und auf die bei ihr inhärente Technik der Auslöschung des Erzählten mittels Delegierung des Erzählens an einen anonymen Metaerzähler. Sie meint, dass in Werken Bernhards »der Metaerzähler, auf den das Erzählte letztendlich zurückgeht, gesichtslos bleibt. Über ihn bekommt der Leser nichts mit, weder seinen Namen noch die Motive für seine Erzählung. Infolgedessen erfährt der Leser nie, wer die Fäden des Erzählens und somit aller Erzählinstanzen in der Hand hält.«

    13 In ›Heldenplatz‹ heißt es: »Ein Geistesmensch wird nie verstanden / hat der Professor ge-sagt / ein Geistesmensch ist immer unverstanden / ganz allein geht ein Geistesmensch / durch sein Leben« (Dr6: 255)

  • Einleitung 19

    nicht möglich, »bei der Lektüre die Anwesenheit des Erzählers aus seiner Wahrnehmung auszublenden und sich also nur auf das Dargestellte zu kon-zentrieren.« Der Erzähler bleibt ständig präsent.

    Agamben (2007: 47, 51) stellt die Frage: »Welches ist also die ›Realität‹, auf die ich oder du sich bezieht?« und meint, es sei »[e]inzig und allein eine ›Realität [der Rede]‹, was eine ganz besondere Sache ist.« Denn: »Ich kann nur als ›Redewendung‹, nicht als Gegenstand definiert werden, wie es bei einem nominalen Zeichen der Fall ist. Ich bedeutet ›die Person, welche die gegenwärtige [Instanz der Rede], die ich enthält, [äußert]‹.«14 In dem Nichts ist es nur die Sprache, die ein Sein aussprechen kann. Aber: »Nur weil die Sprache es mittels der shifter erlaubt, sich auf die eigene Instanz zu beziehen, erschließt sich dem Denken so etwas wie Sein, wie Welt.«

    Andererseits sind die Romane zwar eine Art Wort-Musik, aber sie stehen auch gegen eine Welt, in der »unsere Existenz eine unerträgliche und ent-setzliche Existenz ist«. Ein Aspekt dieses Entsetzlichen ist: »Alles ist jeden Tag tagtäglich / eine Wiederholung von Wiederholungen«, wie es in ›Ein Fest für Boris‹ (Dr1: 142) heißt. Diese Einsicht wird in ›Heldenplatz‹ auf die Spitze getrieben: »Was die Schriftsteller schreiben / ist ja nichts gegen die Wirklichkeit / jaja sie schreiben ja daß alles fürchterlich ist / daß alles verdorben und verkommen ist / daß alles katastrophal ist / und daß alles ausweglos ist / aber alles was sie schreiben / ist nichts gegen die Wirklichkeit / die Wirklichkeit ist so schlimm / daß sie nicht beschrieben werden kann / noch kein Schriftsteller hat die Wirklichkeit so beschrieben / wie sie wirk-lich ist / das ist das Fürchterliche.« (Bd. 20: 299f.)15

    Gegensätze

    Mit Hilfe der Sprache können wir Gegensätze, Widerspruch und sogar Widersinn formulieren, etwas, das in Bernhards Werk immer und immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Das Denken und Schreiben in Gegen-

    14 »Die Pronomen und die anderen Indikatoren der Äußerung weisen, noch ehe sie wirkliche Gegenstände bezeichnen, auf nichts anderes hin, als daß Sprache stattfindet. Sie erlauben es also, noch bevor man sich auf die Welt der Signifikate bezieht, sich auf das Sprachereignis selbst zu beziehen, denn nur in ihm kann etwas bedeutet werden.« (Agamben 2007: 50)

    15 In ›Heldenplatz‹ sagt Anna zu ihrer Schwester: »du denkst alles ist nicht so schlimm / wäh-rend es doch das Schlimmste ist / du machst dir auch die ganze Zeit vor, daß nicht wahr ist / was nicht wahr sein soll« (Dr6: 275).

  • 20 Einleitung

    sätzen ist bei Bernhard besonders auffällig.16 Aus dem Widerspruch heraus ist auch die Übertreibung, ebenso wie die ständige Wiederholung und das Paradox als Stilmittel zu verstehen. (Vgl. Marquardt 2002: 85)17 Vor allem das Paradox ist der Ansatz einer erst noch zu gewinnenden Einsicht in sehr komplexe Zusammenhänge. (Vgl. Lorenzer 1973: 89)

    Der Gegensatz ist bei Bernhard nicht nur eine sprachliche Erscheinung, er wird auch immer wieder zum Motiv: so wird Murau von seinem Onkel »auf den Gegenweg, gebracht.«18 Eine Möglichkeit des ›Gegen‹ ist es, den Ort der Herkunft zu fliehen, z. B. um wie in ›Expedition‹ (Erz 330f.) der engen österreichischen Herkunft zu entfliehen und auf Entdeckungsreisen zu gehen und in der Fremde seine Kreativität auszuleben. Der zu Hause er-folglose Maler wendet sich der Wissenschaft zu und verschwindet während einer wissenschaftlichen Expedition in Südamerika. Einundsechzig Jahre nach seinem Verschwinden liest seine Frau in Le Monde über seinen Tod als berühmter und reicher südamerikanischer Künstler, »ein in der ganzen Welt berühmter Maler, welcher der südamerikanischen Malerei und, wie Le Monde geschrieben hatte, der ganzen südamerikanischen Kunst neuen Auftrieb gegeben und Weltgeltung verschafft hatte«. Er stirbt »unverhei-ratet, aber von ihm dienenden Frauen umgeben«. Thomas Bernhard selbst beschreibt in seiner Autobiografie (Ke 113) den Entschluss des fünfzehn-jährigen Thomas Bernhard, dem Gymnasium19 den Rücken zu kehren, in die »entgegengesetzte Richtung« (Ke 120) zu gehen. Marquardt (2002: 85) sieht im Gegensatz zur stilisierten Darstellung in ›Der Keller‹ in ›Die Kälte‹ ein in die Vergangenheit projiziertes Deutungsmuster des eigenen Lebens,

    16 Thomas Bernhards Paradigmen polarer Gegensätze finden sich auch schon im romanti-schen Denken. (Vgl. Zelinsky 1970) Schon bei Novalis (1960ff.: Bd. 2, 429) findet sich die Auffassung: »In heitern Seelen giebts keinen Witz. Witz zeigt ein gestörtes Gleich-gewicht an: er ist die Folge der Störung und zugleich das Mittel der Herstellung. Den stärksten Witz hat die Leidenschaft. Der Zustand der Auflösung aller Verhältnisse, die Verzweiflung oder das geistige Sterben ist am fürchterlichsten witzig.«

    17 Bernhards eigene Erfahrung ist hier relevant. Er entdeckte die Kraft des literarischen Nen-nens während seiner Krankheit im Sanatorium Grafenhof. Schreiben und die Musik wa-ren Teil der Revolte Bernhards gegen Grafenhof und die Ärzte. (Vgl. Dowden 1991: 18)

    18 In ›Die Ursache‹ (71) erzählt Bernhard von seinem in Salzburg lebenden Onkel, der »zeit-lebens ein genialer Kommunist und Erfinder gewesen ist«. Er sei der »Freund und Gehilfe des berühmten Ernst Fischer gewesen« und »landete schließlich nacheinander in den ver-schiedenen Gefängnissen in Wien und den Bundesländern«. (Ki 442) Allerdings berichtet er in ›Der Keller‹, dass der Onkel mit seinen Erfindungen nicht besonders erfolgreich war.

    19 Das Gymnasium erscheint ihm als »eine katastrophale Verstümmelungsmaschinerie mei-nes Geistes«. (Ur 82) Deswegen hat er sich eines Tages entschlossen, das Gymnasium zu verlassen und aufs Arbeitsamt zu gehen. (Ur 109)

  • Einleitung 21

    als nämlich der Erzähler beschließt »im lebensentscheidenden Moment ge-gen jede Wahrscheinlichkeit weiter zu atmen und damit weiter zu leben«.

    Übertreibungen

    Thomas Bernhards Protagonisten weisen immer wieder darauf hin, dass sie ›Übertreiber‹ sind. Die Übertreibungen in Bernhards Romanen sind nicht zu übersehen und müssen bei der Interpretation jeweils berücksichtigt wer-den. Sie sind oft mit der Wiederholung verbunden, denn das Wiederholte wirkt oft schon durch die Wiederholung übertrieben und demontiert sich in farcenhaften Reden und Schimpftiraden selbst.20 Der Superlativ scheint den Meinungen der Charaktere eine absolute Qualität zu geben und jeden Mittelweg und Ausgleich zu versperren. Ervedosa (2008: 314) betont, dass der hyperbolische Stil den Eindruck des Unechten und Affektierten her-vorruft, und das komme der theatralischen und artifiziellen Dimension der Texte zugute. Auf diese Weise werde jeder Anschein von Realitätsbezug und mimetischer Absicht konterkariert.21

    Durch Übertreibungen werden einem Thema oft besonderer Nachdruck und Intensität verliehen. »Charakteristisch für Bernhards Werk sind immer wiederkehrende Pauschalurteile in Form von Schmähreden. Daher ist man geneigt, sein Werk mit der immer gleichen Hassliebe zu Österreich erklären zu wollen, seine Kunst darauf zu reduzieren.« (Götze 2009: 7) Das ist wohl auch der Grund, warum Thomas Bernhard immer wieder eine ›sogenannte Nestbeschmutzung‹ vorgeworfen wurde.

    Bernhard neigt dazu die ungeheuerlichsten Dinge vorzutragen und zu be-haupten, sie seien wahr.22 Vor allem in ›Auslöschung‹ »finden sich zum einen die exzessivsten und überspitztesten Darlegungen, zum anderen gibt sich Murau sogar der Reflexion über das Wesen der Übertreibung selbst hin.«

    20 Kafitz (1980: 105) sieht die ›Beschimpfungsattitüde‹ bei Bernhard als ›Ausdruck der Ohn-macht des Menschen‹.

    21 Bernhard benutzt die Karikatur, z. B. gegen die Stadt Wien: »›Wien ist ganz oberflächlich wegen seiner Oper berühmt, aber tatsächlich gefürchtet und verabscheut wegen seiner skandalösen Toiletten‹. Und: ›die Wiener Toiletten und die Wiener Aborte [sind] insge-samt die schmutzigsten auf der Welt‹.« (Vgl. Sharp 2011)

    22 »Für ihn ist es die Kunst, die das unerträgliche Leben möglich macht, Kunst als Gegenpo-sition zur Gedankenlosigkeit, und das heißt bei Bernhard: als Schule des Todes – in einem mehrfachen Sinn. Ein immer wiederkehrendes mehrwertiges Bild des Todes ist die Fins-ternis: ›In der Finsternis wird alles deutlich.‹ Nämlich all das, was der Mensch in seinem Lebensdilettantismus so gerne verbirgt, verschleiert.« (Donnenberg 1983: 12)

  • 22 Einleitung

    (Grabher 2004: 388) Dennoch gibt es ein Prinzip, »das Bernhards Literatur stärker bestimmt, dem die Übertreibung [seiner] Meinung nach unterzu-ordnen ist – das der Ambivalenz bzw. Widersprüchlichkeit.« Im Spätwerk »schlägt die Übertreibung ein ums andere Mal ins Gegenteil um«. Bernhards Protagonisten »stellen ihre Thesen auf, sie relativieren sie, sie dementieren sie, um dann wieder von vorne zu beginnen. Bernhard könnte genauso gut als großer Abwäger, Relativierer oder eben als Inszenierer davon gelten, er fungiert aber als Meister der Beschimpfung und Übertreibung«. Anz (1989: 82) meint »dieser Diskurs [beginnt] in selbstparodistische Formen und durch lauter Superlative grotesk übertönte Leerformeln umzuschlagen«.23

    Ein gefährdeter Individualismus

    Stulpe (2010: 124) sieht die Moderne »als das vorläufige Ergebnis von Pro-zessen der Entzauberung, Enttäuschung, Desillusionierung und Kränkung, des Verlustes an Sicherheit, Orientierung, Geborgenheit und Weltvertrau-en«. Während diese Entwicklung »als Aufklärung begrüßt und vorangetrie-ben« wird, verheißt sie aber »keinen utopistischen Fluchtweg mehr«. Er sieht die Moderne als einen »heil- und glücklosen Ort«. Viele Kritiker versetzen Thomas Bernhard an einen solchen Ort, wenn es auch viele Anzeichen gibt, dass es in Thomas Bernhards Werk auch und vor allem um anderes geht: um Komik, Satire, Farce.

    Ein wesentliches Thema ist eine gefährdete Individualität. Bernhard sieht das autonome Individuum, so wie die Aufklärung es sah, als eine ausster-bende Spezies. Der Konformismus – vor allem in Österreich –, der das In-dividuum zwingt, seine Individualität aufzugeben, entsteht aus der Um-

    23 Als Beispiel führt Anz (1989: 82) an: »die ganze und zwar die nächste und die nähere und die weitere und die weiteste Umwelt waren Schuld daran, daß ich in einen solchen Krankheitsanfall gestürzt worden war, nicht zuletzt die Gemeinheit und die Bosheit und die Hinterhältigkeit meiner unmittelbaren Umwelt, die sich mehr und mehr und in allen ihren Erscheinungen erkennbar zu dem einzigen Zwecke zusammenzuziehen schien, mich zu zerstören und zu vernichten, wogegen ich vollkommen machtlos gewesen war und in dem Bewußtsein, diesem Zerstörungs- und Vernichtungswillen gegenüber macht- und schutzlos zu sein, hatte, in Verbindung mit meiner Arbeitsunfähigkeit, also absoluten Ar-beitshilflosigkeit, diesen fürchterlichen Ausbruch meiner Krankheit mitverursacht und die entsetzlichen politischen Verhältnisse in diesem unserem Lande und in ganz Europa, hat-ten vielleicht überhaupt den Ausschlag gegeben für diese Katastrophe, weil alles Politische sich genau in das Gegenteil von dem entwickelte, von welchem ich überzeugt war, daß es das Richtige wäre und von welchem ich auch heute überzeugt bin, daß es das Richtige ist.« (Erz-1979: 543)

  • Einleitung 23

    armung von Katholizismus und Nazismus,24 und die Konformisten sind in den korrupten Familien verkörpert, die den Verfall der österreichischen Zivilisation symbolisieren. Hin und wieder produzieren sie aber doch wahre Individualisten, wie Ludwig Wittgenstein oder Bernhards Großvater. Aber in ihrer Anstrengung Individualisten zu sein überschreiten sie oft die äu-ßersten Grenzen der Isolation, des Wahnsinns und des Selbstmords. (Vgl. Dowden 1991: 6)25

    Ein Beispiel eines solchen Individualismus finden wir in ›Billigesser‹: »Was ihn betreffe, so habe er sich schon sehr früh vor allem darauf eingestellt gehabt, keinerlei Ratschläge, von welcher Seite auch immer, zu befolgen, ja, es sich sogar zur Regel gemacht, genau das zu tun, wovon ihm abgeraten worden, wovor er gewarnt worden war, und es habe sich immer, wenn auch sehr oft erst viel später, herausgestellt, daß er richtig gehandelt hatte, indem er keinen Ratschlag befolgt habe, das nicht nur in der ganz allgemeinen son-dern vor allem auch in jeder Geistesbeziehung.« (Bi 171) Auch hier spielt der Begriff des ›Geistesmenschen‹, der sich von der Masse distanziert, eine wichtige Rolle: »Der Geistesmensch müsse es sich geradezu zur Vorausset-zung und zum Prinzip seiner Existenz machen, keinen Rat zu befolgen oder wenigstens immer das genaue Gegenteil dessen zu tun, was ihm geraten worden ist.« (Bi 171) Da der ›Geistesmensch‹ sich so den Regeln der Gesell-schaft entzieht, muss er notwendigerweise alle vor den Kopf stoßen: »Die größte Wichtigkeit sei ihm gewesen, von Anfang an seinen Eigensinn zu entwickeln und immer noch mehr und mehr zu entwickeln, auch wenn das zuerst das totale Vordenkopfstoßen gegenüber Eltern und Umwelt bedeute-te, schließlich das totale Vordenkopfstoßen gegenüber überhaupt allem, da-vor dürfe der Geistesmensch naturgemäß nicht zurückschrecken.« (Bi 171)

    24 Über ›Vor dem Ruhestand‹ sagt Jeanette R. Malkin (1995: 105), das Drama sei ein meta-phorisches Ritual, in dem Handlung und Sprache zirkuläre Wiederholungen vergangener Wiederholungen sind. Geschichte ist nicht beschrieben, sondern wiederholt. Auch das Publikum ist sowohl Subjekt als auch Objekt des Theaterstücks. Die Schwester im Stück dient dem ehemaligen SS-Mann als Puppe, mit der er die Vergangenheit immer wieder in-szeniert. In ›Der Wetterfleck‹ sagt Bernhard: »das Leben sei nichts anderes als Wiederholung der Wiederholung, erschöpfe sich sehr rasch in Monotonie.« (Erz 138)

    25 »Daß der Paul sich von seiner Verrücktheit hat vollkommen beherrschen lassen, während ich mich von meiner ebenso großen Verrücktheit niemals habe vollkommen beherrschen lassen, […] und vielleicht ist aus diesem Grund meine eigene Verrücktheit sogar die viel verrücktere Verrücktheit gewesen als die des Paul […] ich habe zu meiner Verrücktheit auch noch die Lungenkrankheit gehabt und ich habe beide, die Verrücktheit genauso wie die Lungenkrankheit, ausgenützt: ich habe sie zu meiner Existenzquelle gemacht eines Tages von einem Augenblick auf den andern für mein ganzes Leben.« (Wi 227)

  • 24 Einleitung

    So stehen daher auch Bernhards Äußerungen zu Politik und Gesellschaft immer wieder quer zu dem gerade gängigen Diskurs. In der Politischen Mor-genandacht schreibt Bernhard (WS 43): »vor hundert Jahren ist der einge-sperrt und geköpft worden, der gesagt hat, die Monarchie ist nichts, heute wird eingesperrt (und ›geköpft‹), wer da sagt, der Kommunismus ist nichts, der Sozialismus ist nichts«. In einem Vortrag über Rimbaud schreibt Tho-mas Bernhard, er hätte »nichts mit der Politik, der Kunstbefremdung zu tun und gemein.« (WS 9) Deshalb glaubt er auch nicht daran, »man könnte mit der Literatur auf die Leser Einfluss ausüben und auch nur das Geringste bewirken«. Dennoch: »Bernhards Erzählungen sind zwar finster, doch nicht unbedingt grimmig. Denn er ist ein heiterer Tragiker, ein makabrer Humo-rist, ein lachender Rebell.« (Marcel Reich-Ranicki im Begleitheft zu Thomas Bernhard: Holzfällen) Bernhard, der über die »sogenannte Studentenrevo-lution« gesagt hat, sie sei eine »nur romantische und daher vollkommen missglückte dilettantische Revolte gewesen« (Op 311) ist schon 1970 von Wolfgang Maier als ›das Lustobjekt konservativer Kritiker‹ geoutet worden (Über Thomas Bernhard); und Uwe Schweikert hat sein politisches Bekennt-nis als das eines ›anarchischen Konservatismus‹ beschrieben. Die Frage, die man stellen muss, ist: »ob Bernhard denn meine und billige, was er seinen Ich-Erzählern an irrationalem Querulantentum und kulturkonservativen Ausfällen in den Mund lege« (Schweikert 1974: 1). Dieser Frage kann man nicht damit aus dem Weg gehen, »in seiner Katastrophenliteratur sei gleich-sam modellhaft der pathologische Zustand der Gesellschaft umschrieben; mehr noch, die rücksichtslose Selbstentblößung des Autors sei zugleich Entblößung der bestehenden Verhältnisse« (Schweikert 1974: 1)26 Schweikert (1974: 1) macht darauf aufmerksam, »sein politisches Bekenntnis eines anarchischen Konservativismus (Ich hasse alle Parteien) hätte man der ›Politischen Morgen-andacht‹ entnehmen können. In diesem 1966 veröffentlichten Schlüsseltext Bernhardscher Selbstaussage (WS 41, 43) ist zu lesen, dass die proletarische Weltrevolution eine verheerende und vernichtende Menschheitsentwicklung eingeläutet habe. Und daß die Proleten (das muß sein!) keine Kultur haben, und daß das Proletariat keine Kultur hat, und daß Proleten wie Proletariat die Kultur gar nicht wollen, weil die Kultur mit dem Begriff des Proletariats überhaupt nicht vereinbar ist, usf., gilt ihm im selben Zusammenhang als

    26 Klenner (2010: 387) zitiert Billenkamp, der gezeigt hat, wie Bernhard narrative Strategien entwickelt habe, die ihm erlaubten, seine eigene Biografie in seine Texte zu integrieren.

  • Einleitung 25

    eine unwiderlegbare Tatsache.«27 Thomas Bernhard, der als Reporter und Gerichtssaalberichterstatter gearbeitet hat, »ist dem menschlichen Elend und seiner Absurdität am nächsten«. Er berichtet z. B. in ›Exempel‹ über tatsächliche oder über nur angenommene, aber naturgemäß immer beschä-mende Verbrechen und verdient damit sein Brot und ist naturgemäß bald von überhaupt nichts mehr überrascht. (Erz 248)

    Bernhard zeigt nicht nur das Ungenügen des Gesetzes gegenüber der Mo-ral, sondern auch die Probleme einer Identität, die auf dem Signifikanten ›Opfer‹ aufgebaut ist. (Vgl. Naqvi 2002: 411f.) Zudem tendieren die ›Op-fer‹ dazu, die absolute Rhetorik der Täter zu übernehmen, wie Labarthe und Nancy28 gezeigt haben. Mit Ausreden hat er wenig Geduld: »Natürlich ist alles ein Milderungsgrund, sage ich. Die Leute können alles angeben als Milderungsgrund, sage ich.« Und dann zählt er die Ausreden auf: »Die armen Teufel können sagen vor Gericht, sie seien arm gewesen, die Reichen, reich. […] Wie die Dummen, daß sie zeitlebens dumm gewesen sind. Die einen geben an, sie sind zeitlebens benachteiligt gewesen, die andern geben an, zeitlebens bevorzugt.« Als »Milderungsgrund« kann alles gebraucht wer-den: »Die einen, sie hätten die ganze Welt gesehen, die andern, sie hätten nichts gesehen. Die einen, daß sie eine hohe Schulbildung haben, die an-dern, daß sie überhaupt keine Schulbildung haben. Der Philosoph, daß er Philosoph gewesen ist, wie der Fleischhauer, daß er Fleischhauer gewesen ist.« (Wa 85)29

    Ist Bernhard also ein Vertreter eines antibürgerlichen Individualismus mit einer nur leicht verhüllten aristokratischen Attitüde, die sich vor allem in

    27 »Der Sozialismus ist tödlich«, sagt Kant im gleichnamigen Stück (288). (Vgl. auch Fuchs 2010: 37) Immer wieder lässt er sich über die angebliche Kulturlosigkeit der ›Proletarier‹ aus.

    28 Lacoue-Labarthe, Nancy und Holmes untersuchen die ›Logik‹ des Faschismus und zeigen, dass diese Logik der allgemeinen Logik der Rationalität und der Metaphysik des Subjekts nicht völlig fremd ist. (294) Sie analysieren die Sprache des Nazi-Ideologen Alfred Rosen-berg (Der Mythus des 20. Jahrhunderts) und Adolf Hitlers Mein Kampf. Dabei stellt sich heraus, dass die Schusters (in ›Heldenplatz‹)als jüdische Opfer zu der absoluten Rhetorik der faschistischen Ideologie tendieren. (Naqvi 2002: 412)

    29 Auch Nietzsche (1954: Bd. 2, 767) verwirft Ausreden und Mitleid: »ich verstand die im-mer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäi-schen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Bud-dhismus? zum – Nihilismus? […] Diese moderne Philosophen-Bevorzugung und Über-schätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues: gerade über den Unwert des Mitleidens waren bisher die Philosophen übereingekommen. Ich nenne nur Plato, Spinoza, Laroche-foucauld und Kant, vier Geister so verschieden voneinander als möglich, aber in einem eins: in der Geringschätzung des Mitleidens.«

  • 26 Einleitung

    symbolischer Aggression, Provokation und Nonkonformismus ausdrückt? Und ist er ein Nachfolger von Stirners Einzigem oder Nietzsches Übermen-schen? Wird bei ihm die eigene politische, wirtschaftliche und moralische Außenseiterposition zu einer Position der kulturellen Überlegenheit gegen-über der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte-Ordnung umgewertet? (Vgl. Stulpe 2010: 486f.) Bernhards ›geistiger Mensch‹ findet sich in einer existenziellen Krise, aus der er als Individualist hervorgeht. Er wird ›Egoist‹ im Sinne Stirners. »Dem angepaßten, mittelmäßigen Menschen fehlt diese gesteigerte Erfahrung«. (Vgl. Stulpe 2010: 477)30

    Krankheit und Genie

    Die Metaphorik der Grenze spielt bei Bernhard eine wichtige Rolle, so z. B. der an ›Kontaktlosigkeit‹ leidende Erzähler in der Erzählung ›Ja‹, der durch unvorhergesehene Besucher vor dem Eintritt in ›die vollkommene Verrückt-heit‹ (Ja 23) gerade noch gerettet wird: »Ich habe sehr oft in meinem Leben die Grenze der Verrücktheit und auch des Wahnsinns überschritten, aber an diesem Nachmittag glaubte ich, nicht mehr zurückzukönnen.« Bernhard stellt immer wieder diese Grenze dar und beschreibt dabei einerseits den einen, der die Grenze überschreitet und wahnsinnig wird oder Selbstmord begeht, und andererseits den anderen, der vor dieser Grenze haltmacht.31 Paul Wittgenstein, in der (angeblich) autobiografischen Erzählung ›Witt-gensteins Neffe‹, ist einer, der die Grenze überschreitet, während der Ich-Erzähler (Bernhard selbst?) das nicht tut: »Wir waren gleich und doch völlig anders.« (Wi 229) Beide begründen ihr Genie in ihrer Krankheit:32 Paul Wittgenstein hat »seine Verrücktheit lebenslänglich abgesichert und sich erhalten und ausgenützt und unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu seinem Lebensinhalt gemacht, wie ich meine Lungenkrankheit, wie ich meine Verrücktheit, wie ich schließlich aus dieser Lungenkrankheit und aus dieser Verrücktheit sozusagen meine Kunst.« (Wi 227) Auch von seinem Bruder Ludwig Wittgenstein unterscheidet sich Paul. Verrückt waren sie

    30 »Die grotesken Stilisierungen der Figuren und Konstellationen in Bernhards Dramen, scheinbar von abstruser Komik zeugend, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als präg-nante Strukturbeschreibungen der neuzeitlichen Industriegesellschaft.« (Kafitz 1980: 114)

    31 ›Die Ursache‹: »Zweitausend Menschen pro Jahr versuchen im Bundesland Salzburg ihrem Leben selbst ein Ende zu machen.« (Ur 8)

    32 Schopenhauer (1924: 166): »Zwischen dem Genie und dem Wahnsinnigen ist die Ähn-lichkeit, daß sie in einer anderen Welt leben, als die für Alle vorhandene.« In ›Ein Kind‹ (503) sagt der Großvater: »Die Gescheitesten sind fortwährend von Verrücktheit bedroht«.

  • Einleitung 27

    beide, Ludwig ist sogar, behauptet Paul, »der Verrückteste der Familie gewe-sen«. (Wi 269) Doch: »Ludwig war der Veröffentlicher (seiner Philosophie), Paul war der Nichtveröffentlicher (seiner Philosophie)«. (Wi 269)

    Die zur Kunst nötige Intensität des Denkens und Fühlens überschrei-tet notwendigerweise das Normale. »Eine Figur, die im Gegensatz zu ih-ren ebenfalls dem Wahnsinn nahen Freunden die ›Grenzüberschreitung in endgültiges Verrücktsein‹ vollzogen hat, ist der Mann namens Karrer in der Erzählung ›Gehen‹.« (Anz 1989: 158) In ›Gehen‹ sagt Karrer: »Ich mache die Augen zu und lege meine flachen Hände auf die Bettdecke und verfol-ge den ganzen vergangenen Tag mit großer Intensität, so Karrer. Mit einer sich immer noch steigernden, einer immer noch zu steigernden Intensität, so Karrer. Die Intensität ist immer noch mehr zu steigern, kann sein, ein-mal überschreitet diese Übung die Grenze zur Verrücktheit, darauf kann ich aber keine Rücksicht nehmen, so Karrer. Die Zeit, in welcher ich Rücksicht genommen habe, ist vorbei, ich nehme keine Rücksicht mehr, so Karrer. Der Zustand der vollkommenen Gleichgültigkeit, in welchem ich mich dann befinde, so Karrer, ist ein durch und durch philosophischer Zustand.« (Ge 227)33

    In der Erzählung ›An der Baumgrenze‹ bewegt sich Thomas Bernhard an eben der Grenze, an der der Geist überfordert wird und zu funktionieren aufhört, genau wie auch die Bäume jenseits der Baumgrenze nicht überle-ben können. (Vgl. May 1978–79: 60) Die unter Intellektuellen weit ver-breitete Auffassung, dass Kranke, vor allem Geisteskranke, kulturell hoch zu bewerten seien, findet sich auch bei Bernhard, doch relativiert er diese Auf-fassung auch immer wieder, zum Teil mit ironischer Distanz, und nimmt so seine Aufwertungen des ›Geisteskranken‹ teilweise wieder zurück.34 »Spä-testens seit Prinzhorns ›Kunst der Geisteskranken‹ ist die Kreativität soge-nannter Wahnsinniger eine anerkannte Größe, vor allem die französische Philosophie hat den Terrorismus der Vernunft, der sich in der ›Wahnsinns-grenze‹ artikuliert, herausgearbeitet«. (Pfabigan 2002: 46) Auch wenn die Geisteskrankheit als Zeichen des Genie-Seins einerseits attraktiv ist, ist sie

    33 Diese Zustand beschreibt Bernhard auch in ›Der Keller‹ (211): »Mein besonderes Kenn-zeichen heute ist die Gleichgültigkeit, und es ist das Bewußtsein der Gleichwertigkeit alles dessen, was jemals gewesen ist und das ist und das sein wird.«

    34 »Doch dieser ist nicht identisch mit dem Standort des erzählenden Autors. Daß dieser kaum noch auszumachen ist, weil er sich der Identifizierbarkeit gezielt entzieht, macht die irritierende Schwierigkeit der Bernhard-Lektüre aus. Der Standort des erzählenden Autors vermittelt sich, wenn überhaupt, dann nur über vielfache perspektivische Brechungen und (selbst)ironische Relativierungen.« (Anz 1989: 163)

  • 28 Einleitung

    andererseits doch erschreckend: Dieser Angst vor der totalen Verrücktheit entspricht die panische Angst, mit dem Tod unmittelbar konfrontiert zu sein. Mit dem Tod konfrontiert war Thomas Bernhard selbst als Achtzehn-jähriger in einem Salzburger Krankenhaus in einem Badezimmer, in das die Sterbenden abgeschoben werden. Nicht nur wird er Zeuge des Todes eines anderen Patienten, er selbst entgeht dem Tod nur durch Zufall: »Plötzlich fällt die nasse und schwere Wäsche, die die ganze Zeit an einem quer durch das Badezimmer und gerade über mir gespannten Strick aufgehängt gewe-sen war, auf mich. Zehn Zentimeter, und die Wäsche wäre auf mein Gesicht gefallen, und ich wäre erstickt.« (At 224) Diese Erfahrung weckt in ihm den unbedingten Willen zum Leben: »Ich will nicht sterben, denke ich, jetzt nicht.« Über die Haltung der Krankenschwester schreibt er: »Die Schwester hat es nicht mehr erwarten können, daß er zu atmen aufgehört hat, dachte ich. Auch ich hätte zu atmen aufhören können.« (At 224f.) Trotzig sagt er sich: »Ich bestimmte, welchen der beiden möglichen Wege ich zu gehen hatte. Der Weg in den Tod wäre leicht gewesen.« (At 225f.) Mit dem Tod konfrontiert, antwortet Bernhard mit dem Willen zum Leben, und dem Willen »zur ›eigentlichen‹, autonomen, von entfremdenden Rollenzwängen befreiten Existenz.« »Ich wollte leben, alles andere bedeutete nichts. Leben, und zwar mein Leben leben, wie und solange ich es will.« (At 225) Die Ini-tiationsreise durch die Hölle des Salzburger Landeskrankenhauses (At 305) ist, zumindest vorläufig, geglückt. »Der Zurückgekehrte hat den Willen zur eigentlichen Existenz gewonnen. Die überwundene Krankheit bekommt im Sinne Nietzsches35 als Stimulans des Lebens, die Nähe des Todes im Sinne Kierkegaards oder Heideggers als Stimulans zur Eigentlichkeit ihren Sinn.« (Anz 1989: 159f.) Andererseits ist das Leben, wie Schopenhauer in ›Parerga und Paralipomena‹ (o. D.: Bd. 2, 294) sagt, durch den Tod eine Nichtig-keit: »Die Nichtigkeit findet ihren Ausdruck an der Form des Daseins, an

    35 Nietzsche schreibt in Jenseits von Gut und Böse (vgl. Nietzsche 1954: Bd. 2, 742ff.): »Je mehr ein Psycholog – ein geborener, ein unvermeidlicher Psycholog und Seelen-Errater – sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen zukehrt, um so größer wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken: er hat Härte und Heiterkeit nötig, mehr als ein andrer Mensch. Die Verderbnis, das Zugrundegehen der höheren Menschen, der fremder gearteten Seelen ist nämlich die Regel: es ist schrecklich, eine solche Regel immer vor Augen zu haben. Die vielfache Marter des Psychologen, der dieses Zugrundegehen entdeckt hat, der diese gesamte innere ›Heillosigkeit‹ des höheren Menschen, dieses ewige ›Zu spät!‹ in jedem Sinne, erst einmal und dann fast immer wieder entdeckt, durch die ganze Geschichte hindurch – kann vielleicht eines Tags zur Ursache davon werden, daß er mit Erbitterung sich gegen sein eignes Los wendet und einen Versuch der Selbst-Zerstörung macht – daß er selbst ›verdirbt‹.«