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Angewandte Mathematik für Studierende der Ingenieurwissenschaften Frank Osterbrink Moers, den 25. Juli 2012

Angewandte Mathematik für Studierende der … · 2017. 9. 3. · Angewandte Mathematik für Studierende der Ingenieurwissenschaften FrankOsterbrink Moers,den25.Juli2012. Einführung

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Angewandte Mathematik für Studierende derIngenieurwissenschaften

Frank Osterbrink

Moers, den 25. Juli 2012

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Einführung

Den Begriff Mathematik assoziieren die meisten Menschen mit komplizierten Rechnungen, komi-schen Symbolen und endlosen Gleichungen. Diese Abstraktion in Perkfektion ist zugleich Segenund Fluch der Mathematik. In ihrer extremen Abstraktion und gleichzeitigen Präzision liegt derGrund für ihre enorme Leistungsfähigkeit, aber auch für die großen Schwierigkeiten beim Um-gang mit ihr. Jedes Wort eines Satzes oder einer Definition ist wohlüberlegt und muss auch indie Interpretation mit einbezogen werden.

Dabei liegen die meisten Probleme gerade in den Grundlagen wie der Bruch-, Potenz- oder Ex-ponentialrechnung. Auch der Flächeninhalt eines Kreises oder die trigonometrischen Funktionen,sind nicht jedem geläufig, gehören aber (zumindest meiner Meinung nach) zu einem fundiertenAllgemeinwissen dazu. Ziel dieses Kurses ist es daher allen angehenden Studierenden naturwis-senschaftlicher Fächer und auch den Mathematikstudenten selbst, die Grundlagen noch einmalvor Augen zu führen und soweit einzuüben, dass sie im eigentlichen Studium kein Problem mehrdarstellen. Ich möchte sie zum einen dabei unterstützen, die hohe Schwelle von der Schul- zurHochschul-Mathematik zu nehmen. Zum anderen will ich gewisse Defizite auszuräumen, auf dieich leider immer wieder stoße. Diese Defizite liegen vor allem im Bereich der Bruch- und Potenz-rechnung sowie im Umgang mit Gleichungen & Ungleichungen. Woher diese Defizite stammen undworin sie begründet sind, mag ich nicht zu beurteilen, aber spätestens zu Beginn des Studiumsmüssen diese Themen erledigt sein.

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Inhaltsverzeichnis

1 Mengenlehre 51.1 Der Begriff der „Menge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.2 Aussagen und Wahrheitswerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.3 Mengen können eine Menge... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101.4 Die rationalen und die reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1.4.6 In R herrscht Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171.5 Supremum und Infimum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191.6 Das Prinzip der vollständigen Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191.7 Potenzen und Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211.8 Summen und Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2 Gleichungen 282.1 Äquivalenzumformungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292.2 Lineare Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292.3 Quadratische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302.4 Kubische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322.5 Gleichungen höherer Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342.6 Betragsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352.7 Wurzelgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362.8 Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

3 Funktionen 393.1 Was ist eine Funktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403.2 Wichtige Eigenschaften einer Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463.3 Lineare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483.4 Quadratische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493.5 Rationale Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503.6 Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.7 Logarithmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523.8 Trigonometrische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

4 Die komplexen Zahlen 614.1 Die Lösung von x2 + 1 = 0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624.2 Die Polardarstellung komplexer Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654.3 Multiplikation und Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

5 Folgen, Grenzwerte und Stetigkeit 705.1 Folgen reeller oder komplexer Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715.2 Grenzwerte und Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725.3 Stetige Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795.4 Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

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6 Differentialrechnung 826.1 Die Ableitung einer Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836.2 Taylorentwicklung und lokale Extrema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

7 Integralrechnung 957.1 Die Fläche unter einer Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967.2 (Riemann-)Integrierbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977.3 Integrationsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

8 Lineare Algebra und Analytische Geometrie 1058.1 Lineare Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

8.1.5 Matrizen zur Lösung linearer Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . 1088.1.14 Determinanten und die Inverse Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

8.2 Vektoren und Vektorräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1168.3 Der Vektorraum Rn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1178.4 Lineare Unabhängigkeit und Basen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1228.5 Geraden und Ebenen im R3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

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Kapitel 1

Mengenlehre

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1.1 Der Begriff der „Menge“

Der Begriff der Menge wird in den verschiedensten Bereichen des alltäglichen Lebens wie selbst-verständlich benutzt. Zum Beispiel spricht man von der Menge der Bücher in einem Bücherregal,oder der Menge Salz, die man zum Essen hinzugibt. Die Kraft und Leistungsfähigkeit der Mathe-matik resultiert aber aus ihrer strengen Disziplin, ihrer Ordnung und ihrer Genauigkeit. Daherist es unumgänglich Begriffe, mit denen wir arbeiten wollen, klar und exakt zu „definieren“. Erstdann ist sichergestellt, dass jeder, der von diesem Begriff spricht, von ein und derselben Vorstel-lung ausgeht. Die strenge mathematische Definition einer „Menge“ ist daher weitaus komplexerund vor allem schwieriger, als es zunächst den Anschein hat. Ein erster Versuch aus dem 19.Jahrhundert lautet:

„Eine Menge ist eine Zusammenfassung von bestimmten, wohlunterschiedenen Objekten unsererAnschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen.“

(Georg Cantor, 1845 - 1918: Begründer der naiven Mengenlehre)

Diese Definition wirkt zunächst sehr ansprechend und gut gelungen, ist aber mathematisch formalnicht korrekt und führt auf Widersprüche wie das folgende „Russelsche Paradoxon“:

Man stelle sich einen Barbier in einem Ort vor, der genau die Männer des Ortes rasiert, diesich nicht selbst rasieren. Rasiert er sich dann selbst?

Wenn ja, dürfte er sich nach obiger Aussage aber nicht selbst rasieren, wenn nein, dann müsste eres jedoch tun. Hier ist also Vorsicht geboten! Durch einen entsprechenden axiomatischen Aufbauder Mengenlehre kann man dieses sowie viele andere Paradoxa von vornherein vermeiden. Immathematischen Alltag spielen diese feinen Unterschiede aber kaum eine Rolle, sodass wir hiervon der obigen „naiven “ Definition ausgehen (Tatsächlich lassen wir also den Begriff der Mengeundefiniert −→ In der Mathematik ein Kapitalverbrechen!).

Die Objekte in einer Menge nennt man „Elemente“ der Menge. Ist x ein Element der MengeM , so schreiben wir x ∈ M ; andernfalls x /∈ M. Mengen lassen sich prinzipiell auf zwei Artenbeschreiben:

1. durch Aufzählung ihrer Elemente.

M = x, y, z, . . .

bedeutet

„M ist die Menge, die aus den Elementen x, y, z, . . . besteht“.

Natürlich dürfen die Punkte nur dann gesetzt werden, wenn absolut und zweifelsfrei klarist, wie es weitergeht.

Beispiel 1.1.1:

• N := 1, 2, 3, 4, . . . ist die Menge der „natürlichen Zahlen“.

• G := 0, 2, 4, 6, 8, 10, . . . ist die Menge der geraden, d. h. durch zwei teilbaren natür-lichen Zahlen.

• ∅ := ist die sogenannte leere Menge, die kein Element enthält.

Das Symbol „:=“ bedeutet übrigens „wird definiert durch“ und wird zur schnellen und ein-fachen Definition mathematischer Symbole verwendet. Der Doppelpunkt steht dabei immerauf der zu definierenden Seite.

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2. durch Charakterisierung ihrer Elemente.

M = x |x hat die Eigenschaft E

bedeutet

„M ist die Menge aller Elemente x, die die Eigenschaft E haben.

Natürlich darf man bei dieser Art der Definition auch mehrere Eigenschaften aufzählen.

Beispiel 1.1.2:

• G := x ∈ N | x ist gerade . Es gilt 2 ∈ G, aber 101 6∈ G.• P := Planeten im Universum | Planet liegt in unserem Sonnensystem . Nach derneuenDefinition eines Planeten (durch die Internationale Astronomische Union am 24.08.2006beschlossen) ist Mars ∈ P , aber Pluto 6∈ P .

Wir sind nun im Stande unseren ersten mathematischen „Satz“ zu formulieren. Sätze treffenAussagen über mathematische Sachverhalte und enthalten stets Voraussetzungen und Behaup-tung(en). Die Voraussetzungen nennen dabei die Bedingungen, unter denen die Behauptung(en)gelten. Ein Satz muss daher stets auch bewiesen werden!

Satz 1.1.3: Für eine Menge M und ein beliebiges Objekt x gilt stets x ∈ M oder x /∈ M , nichtaber beides.

Beweis. Für den Beweis ist ein axiomatischer Aufbau des Mengenbegriffs zwingend notwendig.Daher wollen wir an dieser Stelle der Behauptung einfach stillschweigend glauben und verzichtenauf einen Beweis. In der Mathematik eigentlich ein absolutes No-Go.

1.2 Aussagen und Wahrheitswerte

Nachdem wir schon im vorherigen Abschnitt den Begriff der Aussage ganz intuitiv verwendethaben, wollen wir ihn nun auf eine etwas solidere Basis stellen und einen kurzen Ausflug in dieLogik unternehmen. Als Aussage werden wir im Folgenden jeden sprachlichen Satz verstehen,der seiner inhaltlichen Bedeutung nach entweder wahr oder falsch ist. Man nennt dies auch dastertium non datur -Prinzip (sinngemäß: „Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht“). Dabei kommt esnicht darauf an ob der Satz wahr oder falsch ist. Der Satz „Morgen wird es regnen.“ ist schon heuteeine Aussage obwohl sich erst morgen herausstellen wird, ob sie wahr oder falsch ist. Formal ordnenwir einer wahren Aussage den Wahrheitswerte w und einer falschen Aussage den Wahrheitswertf zu.Aussagen können mit Hilfe logischer Verknüpfungen zu komplexeren Aussagen kombiniert werden.Zum Beispiel lassen sich die Aussagen

„Morgen wird es regnen.“ und „Ich werde in die Uni gehen.“

zur Aussage„Morgen wird es regnen und ich werde in die Uni gehen.“

zusammensetzen. Ob eine komplexere Aussage wahr oder falsch ist errechnet sich dann aus denWahrheitswerten der Teilaussagen.

Die wichtigsten logischen Verknüpfungen (oder auch Junktoren) sind:

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(a) Die Negation (in Zeichen: ¬) ordnet einer Aussage A ihren entgegengesetzten Wahrheitswertzu:

A ¬A

w f

f w

(b) Die Konjugation (in Zeichen: ∧) ordnet Aussagen A und B genau dann den Wahrheitswertw zu, wenn A und B wahr sind:

A B A ∧B

w w w

w f f

f w f

f f f

Umgangssprachlich entsprich die Konjugation in etwa der Verknüpfung zweier Aussagendurch das Bindewort „und“.

(c) Die Disjunktion (in Zeichen: ∨) ordnet Aussagen A und B genau dann den Wahrheitswertw zu, wenn A oder B oder beide wahr sind:

A B A ∨B

w w w

w f w

f w w

f f f

Sie entspricht daher ungefähr dem umgangssprachlichen „oder“.1

(d) Die Implikation (in Zeichen: =⇒) ordnet Aussagen A und B Wahrheitswerte gemäß folgen-der Tabelle zu:

A B A =⇒ B

w w w

w f f

f w w

f f w

(e) Die Äquivalenz (in Zeichen:⇐⇒) ordnet Aussagen A und B genau dann den Wahrheitswertw zu, wenn A und B denselben Wahrheitswert haben:

1Gemeint ist hier nicht das ausschließende oder im Sinne von „entweder A oder B“

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A B A⇐⇒ B

w w w

w f f

f w f

f f w

Satz 1.2.1: Sind A und B zwei Aussagen so ist A ⇐⇒ B genau dann erfüllt, wenn A =⇒ Bund B =⇒ A gelten, oder kürzer:

(A ⇐⇒ B) ⇐⇒ (A =⇒ B ∧ B =⇒ A).

Beweis. siehe Übungen!

Beispiel 1.2.2: (1) Wir untersuchen die Aussagen „ − 1 = 1“ und „(−1)2 = 12“. Während diezweite wahr ist, ist die erste offensichtlich falsch und dennoch gilt gemäß unserer Definitio-nen:

−1 = 1 =⇒ (−1)2 = 12,

aber eben nicht(−1)2 = 12 =⇒ −1 = 1.

(2) Es giltx− 2 = 0 ⇐⇒ x = 2.

Ist nämlich x = 2, so ist x − 2 = 2 − 2 = 0 und damit „ ⇐= “ gezeigt. Andersherum folgtaus x− 2 = 0, dass x = x− 2 + 2 = 0 + 2 = 2 und somit auch „ ⇐= “.

Definition 1.2.3: (Quantoren) Ist A(x) eine Aussage, die für die Elemente x einer Menge Msinnvoll ist, so schreiben wir

• ∀ x ∈M : A(x), wenn für jedes Element der Menge M die Aussage A zutrifft undsagen

„Für alle x in M gilt A(x).“

• ∃ x ∈M : A(x), wenn es mindestens ein x ∈M gibt, für dass A(x) gilt und sagen

„Es gibt ein x in M , für dass A(x) gilt.“

• ∃! x ∈M : A(x), wenn es genau ein x ∈M gibt, für dass A(x) gilt und sagen

„Es gibt genau ein x in M , für dass A(x) gilt.“

Die Symbole ∃ und ∀ nennt man den Existenz- und Allquantor.

Beispiel 1.2.4: Sei M die Menge aller verheirateten Menschen. Dann ist die Aussage

∀ x ∈M ∃ y ∈M : x ist mit y verheiratet

(„Für jeden Menschen x in der Menge M gibt es mindestens einen Menschen yin der Menge M , der mit ihm verheiratet ist.“)

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wahr; die Aussage

∃ x ∈M ∀ y ∈M : x ist mit y verheiratet

(„Es gibt mindestens einen Menschen x in der Menge M , der mit allenMenschen in der Menge M (also insbesondere auch sich selbst) verheiratet ist.“)

aber (zumindest in Deutschland) offensichtlich nicht.

Merke: Es kommt auf die Reihenfolge der Quantoren an!

Neben der offensichtlich kompakteren Schreibweise bieten diese Formalismen und Symbole derMathematik noch einen weiteren Vorteil. Die Negation von Aussagen ist nämlich in der formalenSchreibweise sehr viel einfacher, als wenn eine in der natürlichen Sprache formulierte Aussage ne-giert werden soll. Zum Beispiel ist die korrekte Negation der Aussage „Jeder Student besucht eine Universität.“nicht etwa „Kein Student besucht eine Universität.“, sondern

„Es gibt mindestens einen Studenten der keine Universität besucht.“

Nennen wir die Menge der Studenten S und die Menge der Universitäten U können wir dieAussage und ihre Negation auch in der Symbolsprache der Mathematik formulieren:

∀ x ∈ S ∃ Y ∈ U : x ∈ Y(„Jeder Student besucht eine Universität.“)

und

∃ x ∈ S ∀ Y ∈ U : x 6∈ Y .

(„Es gibt mindestens einen Studenten der keine Universität besucht.“)

Schon bei einem oberflächlichen Blick fällt sofort auf, dass sich die Symbole bei der Negationeinfach umgedreht haben.

Merke: Zur Negation einer Aussage müssen die logischen Symbole umgedreht werden!

1.3 Mengen können eine Menge...

Sind M und N Mengen, so heißt N „Teilmenge“ der Menge M (in Zeichen: N ⊆ M), falls jedesElement x aus N auch in M liegt. M und N sind „gleich“ (in Zeichen: M = N), falls M ⊆ Nund N ⊆M ist. Übertragen in die Symbolsprache der Mathematik bedeutet das:

N ⊆M ⇐⇒ ∀ x ∈ N : x ∈M und N = M ⇐⇒ N ⊆M ∧ M ⊆ N.

Zum Beispiel ist also die Menge G = 2n | n ∈ N der geraden natürlichen Zahlen eine Teilmengeder natürlichen Zahlen N.

Satz 1.3.1: Sei M eine Menge. Dann gilt:

x ∈M ⇐⇒ x ⊆M.

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Beweis. Nach Definition der Äquivalenz „ ⇐⇒ “ müssen wir zeigen, dass

(1) x ∈ M =⇒ x ⊆ M und (2) x ⊆ M =⇒ x ∈ M.

Beginnen wir mit (1), müssen wir für jedes x in der Menge M zeigen, dass x eine Teilmengeder MengeM ist. Das ist aber nach Definition sofort klar, denn jedes Element, dass in der Mengex liegt (es gibt ja nur eines, nämlich x) liegt nach Voraussetzung (x war ja ein Element derMenge M) in M und somit

x ⊆M.

Ist nun andersherum x eine Teilmenge der Menge M , so ist nach Definition einer Teilmenge,jedes Element der Menge x auch ein Element der Menge M und somit x ∈ M . Also gilt auch(2).

Definition 1.3.2: Sind M und N zwei Mengen, so nennt man

→ die MengeM ∪N := x | x ∈M ∨ x ∈ N

die „Vereinigung“ der Mengen M und N .

→ die MengeM ∩N := x | x ∈M ∧ x ∈ N

den „Schnitt“ bzw. „Durchschnitt“ der Mengen M und N .

→ die MengeM \N := x ∈M | x /∈ N

die „Differenz“ der Mengen M und N .

→ die MengeM ×N := (m,n) | m ∈M, n ∈ N

das „kartesische Produkt“ der Mengen M und N .

Ist N eine Teilmenge von M , so nennt man

NC := M \N

das „Komplement“ der Menge N inM . Den Zusammenhang zwischen verschiedenen Mengen kannman sehr schön mit den sogenannten „Venn-“ oder „Euler-“Diagrammen veranschaulichen:

M

N

M ∪N

(a) Die Vereinigung M ∪N

M

N

M ∩N

(b) Der Schnitt M ∩N

M

N

M \N

(c) Die Differenz M \N

Beispiel 1.3.3:

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(1) FürA := −3,−1, 4, 8 und B := 0, π

istA×B = (−3, 0), (−3, π), (−1, 0), (−1, π), (4, 0), (4, π), (8, 0), (8, π)

undB ×A = (0,−1), (0,−3), (0, 4), (0, 8), (π,−1), (π,−3), (π, 4), (π, 8) .

Merke: Beim kartesischen Produkt A×B kommt es auf die Reihenfolge derMengen A und B an. Im Allgemeinen ist

A×B 6= B ×A.

(2) Gegeben seien die Mengen

M := ♣, 2, 4, 5 und N := ♣, π, 5,♥ .

Dann ist

M ∪N = ♣, 2, 4, π, 5, ♥, M ∩N = ♣, 5 , N \M = π, 7, ♥.

(3) Wir steigern den Schwierigkeitsgrad und untersuchen das Verhältnis der Mengen

M := x ∈ N | x ist durch 5 teilbar und kleiner als 20 und N := 0, 5, 15 .

Offenbar ist M = 0, 5, 10, 15 und daher

N ⊆M,

bzw.N ∪M = M, N ∩M = N, N \M = ∅, NC = 10 .

Satz 1.3.4: (De Morgan’sche Regeln) Sind M und N zwei Mengen, so gilt:

(M ∪N)C = MC ∩NC und (M ∩N)C = MC ∪NC .

Beweis. Um eine Aussage zweifelsfrei zu beweisen, dürfen wir Sie lediglich aus den bereits be-kannten Definitionen und schon zuvor bewiesenen Sätzen ableiten. Nur dann ist die Aussage ausmathematischer Sicht unumstößlich und allgemein gültig.

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Für unsere ersten Erfahrungen mit einem Beweis beschränken wir uns nun auf den ersten Teilder Aussage und überlassen den zweiten Teil den Übungen. Zu zeigen ist also

(M ∪N)C = MC ∩NC .

Nach unseren vorhergehenden Definitionen müssen wir dazu zweierlei zeigen:

(1) (M ∪N)C ⊆MC ∩NC und (2) MC ∩NC ⊆ (M ∪N)C .

Nach Definition einer Teilmenge ist somit nachzuweisen, dass

(1) ∀ x ∈ (M ∪N)C : x ∈MC ∩NC und (2) ∀ y ∈MC ∩NC : y ∈ (M ∪N)C .

Sei nun also zunächst x ∈ (M ∪N)C beliebig. Dann gilt:

x ∈ (M ∪N)CDef.=⇒ x /∈M ∪NDef.=⇒ x /∈M ∧ x /∈ NDef.=⇒ x ∈MC ∧ x ∈ NC Def.

=⇒ x ∈MC ∩NC

Da wir an das Element x keinerlei Forderung gestellt haben (außer das es in (M ∪N)C liegt),gilt die Aussage für jedes beliebige x ∈ (M ∪N)C und somit die erste Behauptung. Ist nunandersherum y ∈MC ∩NC beliebig. Dann gilt:

y ∈MC ∩NC Def.=⇒ y ∈MC ∧ y ∈ NC

Def.=⇒ y /∈M ∧ y /∈ NDef.=⇒ y /∈M ∪N Def.

=⇒ y ∈ (M ∪N)C

Wie schon im ersten Fall haben wir auch hier an das Element y keinerlei Forderung gestellt (außerdas es in MC ∩ NC liegt). Also gilt auch diese Aussage für jedes beliebige y ∈ MC ∩ NC unddamit die Behauptung.

1.4 Die rationalen und die reellen Zahlen

Die Mathematik kennt natürlich unbeschreiblich viele Mengen, aber einige von ihnen sind sowichtig, dass Sie einen speziellen Namen bekommen haben. Die Menge der natürlichen Zah-len haben wir bereits kennengelernt. Sie umfasst die sogenannten „Zählzahlen“, d. h. die Zahlen1, 2, 3, 4, . . . , insgesamt unendlich viele, so dass wir sie nicht alle aufschreiben können2. Sie wirdmit N bezeichnet, also

N := 1, 2, 3, . . . ,

und wir schreiben N0, falls wir die natürlichen Zahlen zusammen mit der 0 meinen.

Merke: Die natürlichen Zahlen sind nach oben unbeschränkt. Das bedeutet;zu jeder positiven Zahl r existiert eine natürliche Zahl n, die größer als r ist.

Es gibt also keine größte natürliche Zahl.

2Übrigens gibt es unter Mathematikern einen erbitterten Streit darüber, ob man die 0 zu den natürlichen Zahlenhinzu rechnen sollte oder nicht. In diesem Kurs jedenfalls gehört sie nicht dazu.

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Bekanntlich können wir eine Gleichung der Form a+ x = b nur dann in N lösen, wenn a kleinerals b ist. Andernfalls und auch wenn man z. B. die Punkte einer Ebene durch Paare von Zah-len beschreiben will, werden negative Zahlen nötig. Daher vervollständigen wir die Menge dernatürlichen Zahlen durch Hinzunahme ihrer negativen Pendants zu den ganzen Zahlen

Z := . . . ,−3,−2,−1, 0, 1, 2, 3, . . . .

Auch diese Menge reicht noch nicht aus um unsere Bedürfnisse zu befriedigen; es fehlen die„Brüche“ bzw. genauer gesagt die Menge der rationalen Zahlen

Q :=

p

q

∣∣∣ p, q ∈ Z, q 6= 0

.

Während aber das Rechnen mit ganzen Zahlen den allermeisten Studierenden einfach und schnellvon der Hand geht, stellt Sie die „Bruchrechnung“ (dem Taschenrechner sei Dank) vor gravierendeProbleme.

Bemerkung 1.4.1: Wir werden die Zahlenmengen N, Z, Q und R bis auf weiteres einfach be-nutzen. Für eine genauere Definition bzw. Konstruktion dieser Objekte ist ein Blick in eines dervielen Bücher zu diesem Thema empfehlenswert.

Man kann ein und dieselbe rationale Zahl auf verschiedene Arten schreiben; zum Beispiel ist

8

14=

4

7=

12

21.

Dabei wurde zunächst mit 2 „gekürzt“ und anschließend mit 3 „erweitert“, d. h.

8

14=

4 · 27 · 2

=4

7=

4 · 37 · 3

=12

21.

Merke: Brüche werden erweitert bzw. gekürzt indem Zähler und Nenner mitderselben von null verschiedenen reellen Zahl multipliziert bzw. durch dieselbe

von null verschiedene Zahl dividiert werden. Ihr Wert bleibt dabeiunverändert.

Definition 1.4.2: Fürp

q∈ Q \ 0

heißtq

p∈ Q \ 0

der Kehrbruch zup

q.

Auch mit Brüchen kann man (im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme) wunnderbar rechnen,sofern man sich an die entsprechenden Regeln für den Umgang mit rationalen Zahlen erinnert.Sicherheitshalber wiederholen wir sie daher an dieser Stelle.

Definition 1.4.3: Zwei Brüchep

q,a

b∈ Q

(a) heißen gleich (in Zeichenp

q=a

b), falls

pb = aq.

15

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(b) werden addiert bzw. subtrahiert, indem sie zunächst auf den selben Nenner erweitert undanschließend die Zähler addiert bzw. subtrahiert werden, d. h.

p

q± a

b:=

p · bq · b± a · qb · q

=pb± aqqb

.

(c) werden multipliziert, indem sowohl die Zähler als auch die Nenner multipliziert werden, d. h.

p

q· ab

:=p · aq · b

.

(d) werden dividiert, indem man zunächst den Kehrbruch des Teilers bildet und die Brücheanschließend multipliziert, d. h.

p

q:a

b:=

p

q· ba

=p · bq · a

.

(Natürlich muss dazua

b6= 0 sein.)

Beispiel 1.4.4:

• 3

4· 14

27=

3 · 14

4 · 27=

3 · 7 · 22 · 2 · 9 · 3

=7

2 · 9=

7

18.

• 4

3− 3

8=

4 · 83 · 8

− 3 · 38 · 3

=32

24− 9

24=

23

24.

• 2

5: 3 =

2

5:

3

1=

2

5· 1

3=

2 · 15 · 3

=2

15.

• 6

121:

3

11=

6

121· 11

3=

6 · 11

121 · 3=

3 · 2 ·11

11 · 11 · 3=

2

11.

Man könnte nun meinen, dass die rationalen Zahlen tatsächlich bereits die ganze, aus der Schulebekannte, „Zahlengerade“ ausfüllen. Tatsächlich kann man zeigen, dass in beliebiger Nähe einerrationalen Zahl noch unendlich viele weitere rationale Zahlen liegen. Anders als bei den ganzenZahlen gibt es zu einer rationalen Zahl daher keine „nächstkleinere“ oder „nächstgrößere“ Zahl.Trotzdem gilt:

Konstruiert man über dem Einheitsintervall der Zahlengerade von 0 bis 1 ein Quadrat undschlägt um 0 einen Kreis, der durch die rechte obere Ecke des Quadrates geht, so schneidetdieser die Zahlengerade in keinem rationalen Punkt! Mit anderen Worten: Es gibt keine

rationale Zahl r mit r2 = 2.

√2

−2 −1 0 1 2

Wie aber kommt man zu dieser Behauptung? Dazu nehmen wir einfach mal an, es gibt doch einesolche Zahl r ∈ Q. Dann können wir sie als Bruch in der Form

r =p

qmit p, q ∈ Z, q 6= 0

16

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schreiben. Insbesondere dürfen wir davon ausgehen, dass dieser Bruch maximal gekürzt und daherp und q teilerfremd (d. h. sie haben keinen gemeinsamen Teiler) sind. Wegen

2 = r2 =

(p

q

)2

=p2

q2⇐⇒ p2 = 2 · q2,

ist dann p2 durch 2 teilbar, also eine gerade Zahl. Da aber das Quadrat einer geraden Zahl genaudann gerade ist, wenn die Zahl gerade ist (vgl. Übungen), ist auch p gerade und es gibt ein m ∈ Zmit

p = 2 ·mbzw.

2q2 = p2 = (2 ·m)2 = 4 ·m2 ⇐⇒ q2 = 2 ·m2.

Folglich sind auch q2 und damit q gerade Zahlen und es gibt n ∈ Z \ 0, sodass

q = 2 · n.

Zusammengenommen erhalten wir

r =p

q=

2 ·m2 · n

=m

n

im Widerspruch zur Annahme, dass r bereits maximal gekürzt war. Also führt unsere Annahmezu einem Widerspruch und muss daher falsch sein. Das bedeutet: Das Gegenteil ist richtig undes gibt tatsächlich kein r ∈ Q mit r2 = 2.

Nach obigem Satz ist also „√

2 “ eine irrationale Zahl (ebenso√

3,√

7, . . .). Vervollständigen wirnun Q durch Hinzunahme dieser irrationalen Zahlen, erhalten wir den Zahlenstrahl, also dieMenge R der reellen Zahlen. Offensichtlich gilt

N ⊆ Z ⊆ Q ⊆ R,

doch selbst in R gibt es keine Zahl x mit x2 = −1. Die Lösung dieser Gleichung wird uns späterauf die komplexen Zahlen C führen.

Eine reelle Zahl ist rational, wenn ihre Dezimalbruchdarstellung endlich oder ab einer gewissenStelle periodisch ist.

Beispiel 1.4.5:

• x = 0, 71 und y = 1, 2563 sind rational, da

x =71

100bzw. y =

12563

10000.

• Auch a = 0, 212121 . . . =: 0, 21 und b = 0, 9999 . . . =: 0, 9 sind rationale Zaheln. Den jeweilszugehörigen Bruch p/q findet man hier durch einen kleinen Trick. Es gilt:

100 · 0, 21 = 21, 21

1 · 0, 21 = 0, 21

und nach Subtraktion der beiden Gleichungen

99 · 0, 21 = 21 ⇐⇒ 0, 21 =21

99=

7

33.

Insbesondere ist:

10 · 0, 9 = 9, 9

1 · 0, 9 = 0, 9

=⇒ 9 · 0, 9 = 9 ⇐⇒ 0, 9 =

9

9= 1 .

17

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Merke: Die Dezimalbruchdarstellung einer Zahl ist nicht eindeutig!

0, 9 = 1 .

1.4.6 In R herrscht Ordnung

Innerhalb der reellen Zahlen sind gewisse Elemente als positiv ausgezeichnet (Schreibweise x >0).Genauer gesagt , existiert eine Teilmenge R+ ⊂ R so dass folgende Axiome erfüllt sind:

(1) (Trichotomie) Für jedes x ∈ R gilt genau eine der drei Beziehungen

x ∈ R+, x = 0, −x ∈ R+ .

(2) (Abgeschlossenheit gegenüber der Addition) Für x, y ∈ R+ ist

x+ y ∈ R+ .

(3) (Abgeschlossenheit gegenüber der Multiplikation) Für x, y ∈ R+ gilt

x · y ∈ R+ .

Diese ermöglichen uns die Definition einer „kleiner-Beziehung“ < und einer „größer-Beziehung“>.

Definition 1.4.7: Für zwei reelle Zahlen x, y definieren wir

(a) x > y :⇐⇒ y < x ⇐⇒ x− y ∈ R+0

(b) x ≥ y :⇐⇒ y ≤ x :⇐⇒ x > y oder x = y

Aus dieser Definition lassen sich einige nützliche Eigenschaften ableiten, die man häufig (insbe-sondere bei der Lösung von Ungleichungen) benötigt und daher ständig parat haben sollte.

Satz 1.4.8: Für x, y, z, a, b ∈ R gilt:

(1) x < y, y < z =⇒ x < z

(2) x < y und a ≤ b =⇒ x + a < y + b

(3) x < y und a > 0 =⇒ ax < ay

(4) x < y und a < 0 =⇒ ax > ay

(5) 0 ≤ x < y und 0 ≤ a < b =⇒ ax < by

Beweis. Wir beweisen nur zwei der sieben Behauptungen. Die anderen folgen auf ähnliche Weiseund sind eine gute Übung.

Zu (2): Direkt aus der Definition folgt

x < yDef.=⇒ Def.

=⇒ y − x ∈ R+ a ≤ b Def.=⇒ b− a ∈ R+ ∨ b = a ,

und nach Charakterisierung von R+ somit

(y + b)− (x+ a) = (y − x) + (b− a) ∈ R+ ⇐⇒ x+ a < y + b .

18

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Zu (3): Auch hier nutzen wir nur die Definition und die zuvor eingeführten Axiome. Sind x, y, a ∈R mit x < y und a > 0, so gilt

x < yDef.=⇒ y > x

Def.=⇒ y − x > 0

Axiom=⇒ a(y − x) > 0

=⇒ ay − ax > 0

Def.=⇒ ay > ax

Def.=⇒ ax < ay .

Definition 1.4.9: Für a, b ∈ R heißt

(a) [a, b] := x ∈ R | a ≤ x ≤ b das abgeschlossene Intervall von a nach b.

(b) [a, b) := x ∈ R | a ≤ x < b das nach rechts halboffene Intervall von a nach b.

(c) (a, b] := x ∈ R | a < x ≤ b das nach links halboffene Intervall von a nach b.

(d) (a, b) := x ∈ R | a < x < b das offene Intervall von a nach b.

−4 −2 0 2 4

[−3,−1) [0, 2.5] (−1,−1) (2.5, 4]

Der (Absolut-)Betrag einer Zahl a ∈ R ist

|a| :=

a für a ≥ 0 ,

−a für a < 0 ..

Offenbar gilt für alle a ∈ Ra ≤ |a| und − a ≤ |a| .

Satz 1.4.10: Für a, b ∈ R ist

(1) |a · b| = |a| · |b|

(2) |a+ b| ≤ |a|+ |b| (Dreiecksungleichung)

(3) ||a| − |b|| ≤ |a+ b| (inverse Dreiecksungleichung)

Beweis. siehe Übungen!

19

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1.5 Supremum und Infimum

Wir nennen eine Menge M ⊂ R “nach oben beschränkt„ bzw. „nach unten beschränkt“, falls eineobere Schranke C ∈ R bzw. eine untere Schranke C ∈ R existiert, so dass für alle Elemente x ∈M

x ≤ C bzw. x ≥ C

gilt. Die kleinste obere Schranke nennen wir das Supremum von M und schreiben dafür supM ,während die größte untere Schranke mit inf M bezeichnet wird und Infimum von M heißt.

Beispiel 1.5.1: Die Menge

M = (0, 2) = x ∈ R | 0 < x < 2

ist sowohl nach oben als auch nach unten beschränkt, da für alle x ∈M nach Definition ja geradex ≤ 2 und x ≥ 0 gilt. Somit sind also b = 2 und a = 1 eine obere bzw. eine untere Schranke vonM . Diese sind aber auch die größte obere bzw. kleinste untere Schranke. Gäbe es nämlich zumBeispiel eine kleinere obere Schranke m ∈ R von M , so wäre einerseits

0 < y := m+b−m

2=m+ b

2< 2,

also y ∈M und andererseits auch

y =m+ b

2>m+m

2= m,

ein Widerspruch! Also ist supM = 2 und analog sieht man, dass inf M = 0.

Gehören das Supremum bzw. das Infimum selbst zur MengeM , so nennen wir es das „Maximum“maxM bzw. „Minimum“ minM der Menge.

Beispiel 1.5.2: Für die Menge

M = (−1, 2] ∪ (3, 5] = x ∈ R | − 1 < x ≤ 2 oder 3 < x ≤ 5

sieht man leicht, dass supM = 5 und inf M = −1. Da aber 5 ∈ M und −1 /∈ M , ist maxM =supM = 5 zwar ein Maximum von M , aber ein Minimum existiert nicht.

1.6 Das Prinzip der vollständigen Induktion

Das „Prinzip der vollständigen Induktion“3 ist das wichtigste Strukturmerkmal der natürlichenZahlen. Es ist eine direkte Folgerung der sogenannten „Peano‘schen Axiome“ und besagt im Kern,dass man, wenn man bei 1 beginnend immer von einer natürlichen Zahl zur nächsten weitergeht,alle natürlichen Zahlen ohne Wiederkehr durchläuft. Genauer:

Für jedes natürliche n sei A(n) eine Aussage. Ist A(1) richtig („Induktionsanfang“)und folgt aus der Annahme, A(n) sei für irgendein n ∈ N richtig

(„Induktionsannahme“), dass dann auch A(n+ 1) gilt („Induktionsschluss“), so istA(n) für jedes n ∈ N richtig.

3Das Verfahren tauchte explizit erstmals 1654 in Blaise Pascal’s Traité du triangle arithmétique auf, wurde aberbis 1879 nur in der Zahlentheorie genutzt. Der Begriff leitet sich vom lateinischen inductio ab und bedeutet so vielwie Hinaufführung.

20

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Die Induktion ist vergleichbar mit dem „Domino-Effekt“. Ist A(1) richtig, folgt aus dem Indukti-onsschritt, dass auch A(2) richtig ist. Daraus folgt nun aber (erneut mit dem Induktionsschritt),dass auch A(3) richtig ist und so weiter. Wie beim Domino-Effekt bringt also ein Stein den nächs-ten ins Rollen.

Für ein einfaches Beispiel betrachten wir den Term 3n − 3. Setzen wir nacheinander die erstensechs natürlichen Zahlen ein

n = 0 : 3n − 3 = 30 − 3 = 1− 3 = −2

n = 1 : 3n − 3 = 31 − 3 = 3− 3 = 0

n = 2 : 3n − 3 = 32 − 3 = 9− 3 = 6

n = 3 : 3n − 3 = 33 − 3 = 27− 3 = 24

n = 4 : 3n − 3 = 34 − 3 = 81− 3 = 78

n = 5 : 3n − 3 = 35 − 3 = 243− 3 = 240

fällt auf, dass das Ergebnis für n ≥ 1 durch sechs teilbar ist. Wir stellen daher die Vermutungauf, dass 3n − 3 für jedes n ≥ 1 durch sechs teilbar ist, also

∀ n ∈ N : 3n − 3 = 6 ·m für ein m ∈ Z.

Zum Beweis dieser Behauptung nutzen wir das eben eingeführte Prinzip der vollständigen Induk-tion. Demnach müssen wir die Behauptung zunächst für n = 1 zeigen:

31 − 3 = 3− 3 = 0 = 6 · 0 und 0 ∈ Z =⇒ Die Behauptung stimmt für n = 1.

Um den Beweis nun abzuschließen müssen wir aus der Annahme, dass unsere Behauptung fürirgendein n ≥ 1 gilt, folgern, dass sie auch für n+ 1 gilt. Nun ist aber

3n+1 − 3 = 3 · 3n − 3 = 3 · 3n − 9 + 6 = 3 · (3n − 3) + 6

und nach unserer Annahme 3n − 3 durch sechs teilbar, also 3n − 3 = 6 ·m für ein m ∈ Z, so dass

3n+1 − 3 = 3 · (3n − 3) + 6 = 3 · 6 ·m+ 6 = 6 · (3m+ 1).

Da für m ∈ Z auch 3m + 1 ∈ Z ist, ist nach unserer Rechnung und der Induktionsannahme dieBehauptung also auch für n+ 1 richtig und unser Beweis damit zu Ende.

Satz 1.6.1: Eine Menge, die n Elemente enthält, besitzt stets 2n Teilmengen.

Beweis. Auch diese Behauptung können wir sehr einfach mit vollständiger Induktion beweisen:

Induktionsanfang n = 1:

Sei M = m eine Menge mit nur einem Element. Dann ist die Menge der Teilmengen von M∅, m

.

Also hat M genau 2 = 21 Elemente und die Behauptung A(n) stimmt für n = 1.

Induktionsannahme: Gelte A(n) für ein beliebiges n ∈ N, d h. es gelte, dass jede n-elementigeMenge genau 2n viele Teilmengen hat.

Induktionschluss n→ n+ 1:

Sei nunM = m1,m2, . . . ,mn,mn+1 = m1,m2, . . . ,mn ∪ mn+1

21

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Wir betrachten die Menge aller Teilmengen vonM . Diese Mengen können wir in zwei TeilmengenM1 und M2 unterteilen, von denen M1 alle Teilmengen von M umfasst, die mn+1 enthalten, undM2 alle Teilmengen vonM , die mn+1 nicht enthalten. Dann sind inM2 genau die Teilmengen derMenge m1, ...,mn enthalten. Nach Induktionsvoraussetzung besitzt M2 genau 2n Elemente. Zujeder dieser Teilmengen kann man das Element mn+1 zuzählen, d. h. die Anzahl der Elemente inM1 ist ebenfalls 2n. Insgesamt ist damit die Anzahl aller Teilmengen von M gegeben durch

2n + 2n = 2 · 2n = 2n+1

und die Behauptung bewiesen.

Bemerkung 1.6.2: Dass die Induktion bei n = 1 beginnt, ist natürlich nicht wesentlich. Mankann die vollständige Induktion auch auf Aussagen A(n) anwenden, die erst ab einem bestimmtenn0 ∈ N gelten, beispielsweise ab n0 = 5. Als Induktionsanfang muss dann gezeigt werden, dassA(5) wahr ist.

1.7 Potenzen und Wurzeln

Für n ∈ N definieren wir die „n-te Potenz“ der reellen Zahl a rekursiv durch

a1 := a und an+1 := a · an ∀ n ∈ N∗

und setzena0 := 1 ∀ a ∈ R und a−n :=

1

an∀ a ∈ R \ 0 .

Satz 1.7.1: Für a, b ∈ R und m,n ∈ N gilt

am · an = am+n, (am)n = am·n, (a · b)m = am · bm

Beweis. Einen strengen Beweis dieser Aussage verschieben wir in die Übungen. Stattdessenbegnügen wir uns mit einer Rechtfertigung. Für a ∈ R und m,n ∈ N ist

(am)n =

a · a · . . . · a︸ ︷︷ ︸m - mal

n

=

a · a · . . . · a︸ ︷︷ ︸m - mal

·a · a · . . . · a︸ ︷︷ ︸

m - mal

· . . . ·a · a · . . . · a︸ ︷︷ ︸

m - mal

︸ ︷︷ ︸

n - mal

= a · a · . . . · a︸ ︷︷ ︸n ·m - mal

= am·n

und somit (b) mit ziemlicher Sicherheit richtig. Die Aussagen (a) und (c) macht man sich nunleicht genauso plausibel.

Bemerkung 1.7.2:

• Tatsächlich stellt die obige Rechnung keinen mathematisch sauberen Beweis dar, da wir mit„Pünktchen“ gearbeitet haben. Pünktchen sind aber nicht streng definiert und können fürviele Dinge stehen.

22

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• Sind a und b von null verschiedene reelle Zahlen, so gilt der Satz sogar für alle m,n ∈ Z.

Beispiel 1.7.3:

• Für a, b ∈ R mit b 6= 0 und m ∈ N ist(ab

)m=

(a · 1

b

)m=(a · b−1

)m= am ·

(b−1)m

= am · b−m = am · 1

bm=am

bm.

• Für x, y, z ∈ R mit x, y 6= 0 ist

x4y3z3

x2y4=x4

x2· y

3

y4· z

3

1

= x4 · 1

x2· y3 · 1

y4· z3

= x4 · x−2 · y3 · y−4 · z3

= x4−2 · y3−4 · z3

= x2 · y−1 · z3 = x2 · 1

y· z3 =

x2z3

y

• Für a, b, c ∈ R \ 0 ist(a3cm−4

bn−3

)2

:c5a

b3=a2·3c2·(m−4)

b2·(n−3)· b

3

c5a

=a6c2m−8b3

b2n−6c5a= a6−1c2m−8−5b3−(2n−6) = a5c2m−13b9−2n

Es lässt sich zeigen, dass für jedes a ≥ 0 und n ∈ N die Gleichung

xn = a

genau eine nichtnegative Lösung in R hat. Diese wird mit

a1n oder n

√a

bezeichnet und die „n-te Wurzel aus a genannt. Statt 2√

schreiben wir wie üblich√

.

Beispiel 1.7.4:

• Die Gleichung x2 = 4 hat die einzige positive Lösung

x =2√

4 =√

4 = 2 .

• x4 = 17 hat die eindeutige positive Lösung

x =4√

17 .

Merke: n√a ist nur für a ≥ 0 definiert und für a > 0 gilt stets n

√a ≥ 0.

Somit ist√

4 = 2; aber niemals√

4 = −2!

Die Aussage√

4 = ±2 ist sinnlos!

23

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Insbesondere gilt nach Definition der Wurzel für jedes x ∈ R

√x2 = |x| =

x für x ≥ 0 ,

−x für x < 0 ..

Schließlich wollen wir noch ax für beliebige rationale Zahlen x und a > 0 erklären. Für x = p/q ∈Q setzen wir

ax = apq := q

√ap und a−x = a

− pq :=

1q√ap.

Natürlich gelten auch für rationale Exponenten die üblichen Potenzgesetze aus Satz 1.7

Beispiel 1.7.5:

• 1638 = (24)

38 = 2

32 =√

23 =√

8.

• 3

√6 · √y =

(6 · y

12

) 13

= 613 · y

16 =

3√

6 ·√

6y.

•4

√16a

3√

3a4 =(

16a ·(3a4) 1

3

) 14

= 1614 · a

14 ·(3a4) 1

12 = 2 · 12√

3 · a712 = 2 · 12

√3 · 12√a7.

Insbesondere gilt also für a, b > 0 und m,n ∈ N:

n√a · b = n

√a · n√b,

n

√m√a = m·n√a, n

√am = n

√am,

aber im Allgemeinen istn√a+ b 6= n

√a+

n√b.

Als abschließende Bemerkung sollten wir noch festhalten, dass sich Potenzen auch für reelleExponenten erklären lassen. Ausdrücke wie

x√2 oder 4

√3

sind daher sinnvoll und wohldefiniert.

1.8 Summen und Produkte

In der Mathematik trifft man häufig auf große Summen der Form

a0 + a1 + a2 + a3 + · · ·+ an

wie zum Beispiel

1 + 2 + 3 + · · ·+ 1000 oder 1 +1

4+

1

9+ · · ·+ 1

252,

in denen die einzelnen Summanden alle von der gleichen Bauart sind. Zur Vereinfachung führtman daher eine kompaktere Notation, das sogenannte Summenzeichen

∑ein. Sind m,n ∈ Z mit

m ≤ n, so setzen wirn∑

k=m

ak := am + am+1 + · · ·+ an.

24

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Beispiel 1.8.1:

3∑n=0

xn = x0 + x1 + x2 + x3

4∑j=1

1

j=

1

1+

1

2+

1

3+

1

4=

25

12

n∑l=1

l = 1 + 2 + 3 + · · ·+ n

Analog zum Summenzeichen für die Addition existiert auch für Produkte der Form

a1 · a2 · a3 · . . . · an

eine Kurzschreibweise mittels des sogenannten Produktzeichens∏:

n∏k=m

ak := am · am+1 · . . . · an m,n ∈ Z mit m ≤ n.

Beispiel 1.8.2:n∏j=1

j = 1 · 2 · 3 · · · · · n = n!

2∏l=1

(2 + j2)(2j − 1)2 = (2 + 12)(2 · 1− 1)2 · (2 + 22)(2 · 2− 1)2 = 3 · 1 · 6 · 9 = 162

2∏k=0

(xk + 1)k−1 = 2−1 · (x+ 1)0 · (x2 + 1)1 =1

2(x2 + 1)

Satz 1.8.3 (Die Binomischen Formeln): Für a, b ∈ R ist

(a+ b)2 = a2 + 2ab+ b2, (a− b)2 = a2 − 2ab+ b2, (a− b) · (a+ b) = a2 − b2.

Beweis. Der Beweis erfolgt durch direktes Nachrechnen. Wir überlassen ihn daher dem Leserzur Übung.

Dieser Satz lässt sich auf (a+ b)n für n ∈ N und a, b ∈ R verallgemeinern4:

(a+ b)n =n∑j=0

(n

j

)an−jbj und an − bn = (a− b) · an−1 ·

n−1∑j=0

(b

a

)j.

Dabei ist (n

j

):=

n · (n− 1) · . . . · (n− j + 1)

1 · 2 · . . . · j=

n!

j!(n− j)!der Binomialkoeffizient n über j und

n! := 1 · 2 · . . . · n, 0! := 1,

die Fakultät der Zahl n ∈ N. Die Binomialkoeffizienten lassen sich neben der direkten Auswertunggemäß der Definition auch über das sogenannte Pascal’sche Dreieck berechnen. Dabei beginnenwir mit einem Dreieck aus drei Einsen.

4Man nennt diese Formeln auch den „binomischen Lehrsatz“.

25

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1

1 1

1 . . .

Die folgenden Zeilen beginnen und enden nun ebenfalls mit einer Eins und dazwischen liegenjeweils die Zahlen, die sich als Summe der beiden darüber liegenden Zahlen ergeben.

1

1 1

1 2 1

1 3 3 1

1 . . .

So kann das Dreieck beliebig weit fortgesetzt werden und die Binomialkoeffizienten kann mannun direkt ablesen; dabei entspricht die Variable n der Zeilennummer und die Variable k derSpaltennummer beginnend bei null.

1

(0

0

)1 1

(1

0

) (1

1

)1 2 1

(2

0

) (2

1

) (2

2

)1 3 3 1

(3

0

) (3

1

) (3

2

) (3

3

)Beispiel 1.8.4: Es ist

(a+ b)3 =

3∑j=0

(3

j

)a3−jbj

=

(3

0

)a3−0b0 +

(3

1

)a3−1b1 +

(3

2

)a3−2b2 +

(3

3

)a3−3b3

26

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und nach einem Blick ins Pascal’sche Dreieck(3

0

)= 1,

(3

1

)= 3,

(3

2

)= 3,

(3

3

)= 1.

Somit ist(a+ b)3 = a3 + 3a2b+ 3ab2 + b3.

Neben den binomischen Formeln lassen sich auch für andere Summen und Produkte konkreteBerechnungsformeln ableiten. Ein Beispiel dafür ist die Gauß‘sche Summenformel, die von CarlFriedrich Gauß im Alter von neun Jahren bei einer Schulstunde entdeckte. Seine Aufgabe war es,die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren, also die Summe

1 + 2 + 3 + . . .+ 99 + 100 =100∑k=1

k

zu berechnen. Er entdeckte, dass die erste und die letzte Zahl (1 & 100), die zweite und dievorletzte Zahl (2 & 99) usw. zusammen immer 101 ergeben. Der Wert der gesuchten Summeergibt sich so zu 50 mal 101. Übertragen auf die allgemeine Summe der ersten n Zahlen folgt

n∑k=1

k =n

2(n+ 1).

Aber stimmt diese Formel wirklich für beliebige n ∈ N? Wirklich bewiesen haben wir (genauergesagt er) diese Behauptung nur für n = 100. Was ist aber mit allen anderen n ∈ N? Gilt Sie hierauch? Nachrechnen können wir es nicht, denn es gibt unendlich viele natürliche Zahlen n, abereinem Beweis durch vollständiger Induktion steht nichts im Wege. Sei also A(n) die Aussage, dassdie Gauß‘sche Summenformel für n ∈ N gilt.

Induktionsanfang n = 1:

1∑k=1

k = 1 =1

2(1 + 1) stimmt!

Induktionsannahme: Gelte A(n) für ein beliebiges n ∈ N, d. h.n∑k=1

k =n

2(n+ 1) für dieses n ∈ N.

Induktionschluss n→ n+ 1:

n+1∑k=1

k =

n∑k=1

k + (n+ 1)

Nach Induktionsannahme ist abern∑k=1

k =n

2(n+ 1)

und dahern∑k=1

k + (n+ 1) =n

2(n+ 1) + (n+ 1) = (n+ 1) ·

(n2

+ 1)

=n+ 1

2(n+ 2).

Der junge Gauß lag mit seiner Vermutung also genau richtig

27

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Andere überaus nützliche Beispiele sind

(1) die „Teleskopsumme“:

n∑k=0

(ak+1 − ak) = (a1 − a0) + (a2 − a1) + . . .+ (an − an−1) + (an+1 − an) = an+1 − a0.

(2) das „Teleskopprodukt“:

n∏k=0

ak+1

ak=a1a0· a2a1· a3a2· . . . · an−1

an−2· anan−1

· an+1

an=an+1

a0.

(3) die insbesondere für die Rentenrechnung wichtige „geometrische Summe“

n∑k=0

qk =1− qn+1

1− qfür q ∈ R \ 1.

28

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Kapitel 2

Gleichungen

29

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2.1 Äquivalenzumformungen

Ein zentraler Aspekt der Mathematik ist die Lösung verschiedenster „Gleichungen“; seien es al-gebraische Gleichungen, Differentialgleichungen oder Ungleichungen. Wir konzentrieren uns imfolgenden Abschnitt auf die Lösung algebraischer Gleichungen und Ungleichungen und überlassendie Differentialgleichungen der Einführung ins mathematische Denken. Dabei ist eine Umformungder Gleichungen durch „Äquivalenzumformungen“, die die Lösungsmenge der Gleichung bzw. Un-gleichung erhalten, wünschenswert, aber nicht immer möglich. Zum Beispiel folgt zwar stets ausx = 1, dass x2 = 1, aber aus x2 = 1 folgt nicht notwendigerweise, dass x = 1 ist (es könnte auchx = −1 sein). Offensichtlich sind die beiden Gleichungen

x = 1 und x2 = 1

nicht äquivalent zueinander und das „Quadrieren“ somit im Allgemeinen keine Äquivalenzumfor-mung.

Merke: Bei nichtäquivalenten Umformungen einer Gleichung können sichsogennante „Pseudolösungen“ einschleichen, die keine Lösungen im

eigentlichen Sinne sind.

2.2 Lineare Gleichungen

Definition 2.2.1: Eine lineare Gleichung lässt sich stets in die Form

ax+ b = 0 a, b ∈ R, a 6= 0,

überführen.

Beispiel 2.2.2:

• 3x+ 4 = 5 ⇐⇒ 3x− 1 = 0

• 2x− 6 = x+ 10 ⇐⇒ x− 16 = 0

• x+ 5 = 4− 3x ⇐⇒ 4x+ 1 = 0

Da stets a 6= 0 ist, besitzt eine lineare Gleichung stets die eindeutige Lösung

x = − ba.

So ist zum Beispiel

3x− 4 = 2x− 10 | − 2x

⇐⇒ x− 4 = −10 | + 4

⇐⇒ x = −6

also x = 6 die Lösung der Gleichung 3x− 4 = 2x− 10.

30

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2.3 Quadratische Gleichungen

Definition 2.3.1: Eine Gleichung die man in der Form

ax2 + bx+ c = 0 a, b, c ∈ R, a 6= 0

schreiben kann, nennt man eine quadratische Gleichung.

D :=

(b

2a

)2

− c

a

heißt „Diskriminante“ der Gleichung.

Beispiel 2.3.2:

• 3x2 − 4 = 6x− x2 ⇐⇒ 4x2 − 6x− 4 = 0; Diskriminante D =

(−6

4

)2

− −4

4=

13

4.

• x2 + 4x = 0; Diskriminante D =

(4

2

)2

= 4.

• 6x2 − 8x+ 4 = 3x− 5 ⇐⇒ 6x2 − 11x+ 9 = 0 Diskriminante D =

(−11

6

)2

− 9

6=

67

36.

Die Diskriminante erlaubt uns eine schnelle Analyse quadratischer Gleichungen, da sie Auskunftüber die Zahl und Art ihrer Lösungen gibt..

Satz 2.3.3: Eine quadratische Gleichung

ax2 + bx+ c = 0 für a, b, c ∈ R, a 6= 0

besitzt

(a) keine Lösung, falls D < 0 ist.

(b) genau eine Lösung, falls D = 0 ist.

(c) genau zwei Lösungen, falls D > 0 ist.

Ist die Gleichung lösbar, so sind die Lösungen durch die sogenannte „abc-Formel“

x = − b

2a±

√(b

2a

)2

− c

a.

gegeben.

Beweis. Sei alsoax2 + bx+ c = 0

mit a, b, c ∈ R und a 6= 0 eine gegebene quadratische Gleichung. Dann gilt

ax2 + bx+ c = 0 | : a

⇐⇒ x2 +b

ax+

c

a= 0

Hier fügen wir nun geschickt eine „0“ ein:

x2 +b

ax+

c

a= 0

31

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⇐⇒ x2 +b

ax+

(b

2a

)2

−(b

2a

)2

︸ ︷︷ ︸= 0

+c

a= −6 | +

(b

2a

)2

− c

a

⇐⇒ x2 +b

ax+

(b

2a

)2

=

(b

2a

)2

− c

a

⇐⇒(x+

b

2a

)2

=

(b

2a

)2

− c

a

⇐⇒(x+

b

2a

)2

= D

Man erkennt nun, dass die Diskriminante tatsächlich die Lösungsmenge bestimmt. Ist nämlichD < 0, so ist diese Gleichung für beliebige x ∈ R bereits nicht mehr erfüllbar. Gehen wir davonaus, dass D ≥ 0 ist, können wir die Wurzel ziehen und erhalten:(

x+b

2a

)2

= D ⇐⇒∣∣∣∣x+

b

2a

∣∣∣∣ =√D

Je nachdem ob nun der Term innerhalb des Betrages positiv oder negativ ist bekommen wir eineandere Lösung:

x+b

2a=√D ∨ −

(x+

b

2a

)=√D

⇐⇒ x = − b

2a±√D

⇐⇒ x = − b

2a±

√(b

2a

)2

− c

a

Offensichtlich stimmen im Fall D = 0 beide Lösungen überein und wir erhalten genau eine Lösungder quadratischen Gleichung, nämlich

x = − b

2a.

Bemerkung 2.3.4: Man kann die Gleichung ax2 + bx + c = 0 auch zunächst in die Formx2 + px+ q = 0 transformieren und dann die „p-q-Formel“

x = −p2±√(p

2

)2− q

anwenden. Für die Diskriminante erhalten wir in dieser Form

D =(p

2

)2− q .

Beispiel 2.3.5:

• Gesucht wird die Lösungsmenge der Gleichung

x2 − 2x = 6− 3x .

Nun giltx2 − 2x = 6− 3x ⇐⇒ x2 + x− 6 = 0

und wir erhalten für die Diskriminante

D =(p

2

)2− q =

(1

2

)2

− (−6) =25

4> 0 .

32

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Folglich gibt es zwei Lösungen und diese sind gegeben durch

x = −p2±√(p

2

)2− q = −1

2±√

25

4= −1

2± 5

2.

Die Lösungsmenge ist alsoL = −3, 2 .

• Als Lösung der Gleichung1

2x2 − 2x+ 2 = 0

erhalten wir wegen1

2x2 − 2x+ 2 = 0 ⇐⇒ x2 − 4x+ 4 = 0

⇐⇒ (x− 2)2 = 0 ⇐⇒ |x− 2| = 0 ⇐⇒ x = 2

die MengeL = 2 .

2.4 Kubische Gleichungen

Definition 2.4.1: Gleichungen, die man in die Form

ax3 + bx2 + cx+ d = 0 a, b, c, d ∈ R, a 6= 0

überführen kann, nennt man kubische Gleichungen.

Auch für diese Gleichungen gibt es eine geschlossene Lösungsformel, die sogenannte „Cardani-sche Formel“, die allerdings nicht so intuitiv und einfach zu benutzen ist, wie die „p-q-Formel“.In vielen Fällen kann man die Lösungen allerdings auch durch Reduktion der Gleichung mit„Polynomdivision“ bestimmen.

Merke: Ist p(x) ein „Polynom“ vom Grad n ≥ 1 in der Unbekannten x, d. h.ein Ausdruck der Form

p(x) = anxn + an−1x

n−1 + . . .+ a1x+ a0 .

und p(λ) = 0, so gibt es ein Polynom q(x) vom Grad n− 1 mit

p(x) = (x− λ) · q(x) .

Ist also eine Lösung λ ∈ R der Gleichung bekannt, so erhält man die übrigen Lösungen indemman das Polynom ax3 + bx2 + cx+ d durch (x−λ) dividiert und anschließend die Nullstellen desentstehenden Polynoms bestimmt.

Beispiel 2.4.2: Die Lösungen der Gleichung

x3 + 2x2 = 5x+ 6

erhält man nun, indem man zunächst eine Lösung der Gleichung „rät“ und anschließend einePolynomdivision1 durchführt. Wegen

x3 + 2x2 = 5x+ 6 ⇐⇒ x3 + 2x2 − 5x− 6 = 01Zur Erinnerung: Bei der schriftlichen Division von Zahlen dividiert man schrittweise von links nach rechts,

multipliziert die aktuelle Ziffer zurück und zieht das Ergebnis von dem, was man noch hat, ab. Die Polynomdivisionfunktioniert ähnlich: Man richtet sich danach wie oft die höchste x-Potenz in den (verbliebenen) Ausdruck passt.

33

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und23 + 2 · 22 − 5 · 2− 6 = 0

ist x = 2 eine Lösung. Für die weiteren Lösungen müssen wir nun p(x) = x3 + 2x2 − 5x− 6 aufdas Polynom q(x) reduzieren. Dazu nutzen wir die Bemerkung und folgern

q(x) = p(x) : (x− λ) .

Nun gilt (x3 + 2x2 − 5x− 6

):(x− 2

)= x2 + 4x+ 3

− x3 + 2x2

4x2 − 5x− 4x2 + 8x

3x− 6− 3x+ 6

0

und daher

0 = p(x) ⇐⇒ x3 + 2x2 − 5x− 6 = 0 ⇐⇒ (x− 2) · (x2 + 4x+ 3) = 0 .

Also erhalten wir die übrigen Lösungen durch Lösung der Gleichung

x2 + 4x+ 3 = 0 .

Mit der „p-q-Formel“ folgt

x2 + 4x+ 3 = 0 ⇐⇒ x = −2±√

22 − 3 ⇐⇒ x = −3 ∨ x = −1 ,

sodassL = −3,−1, 2 .

Die entscheidende Frage bei der Lösung kubischer Gleichungen scheint also die Frage nach derersten Lösung zu sein. Gibt es einen Trick, wie man besonders einfach bzw. besonders schnell eineLösung der Gleichung errät? Die Antwort ist: Ja, den gibt es!

Bemerkung 2.4.3: Istax3 + bx2 + cx+ d = 0

eine kubische Gleichung mit ganzzahligen Koeffizienten, d. h. a, b, c, d ∈ Z mit a 6= 0, die eineganzzahlige Lösung λ besitzt, so ist λ ein Teiler von d.

Somit sind die ganzzahligen Teiler des Absolutgliedes die einzigen Kandidaten für ganzzahligeLösungen einer kubischen Gleichung.

Die Polynomdivision muss nicht unbedingt aufgehen. Allgemein lässt sich zeigen, dass zu zweiPolynomen f und g immer zwei weitere Polynome q und r existieren, so dass

f(x) = q(x) · g(x) + r(x)

ist. Diese Eigenschaft, die wir auch in vielen anderen Bereichen, wie etwa der Integralrechnung,als nützliches Hilfsmittel wieder aufgreifen werden, liefert auch eine Aussage über die Anzahl vonLösungen algebraischer Lösungen.

34

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Merke: Eine algebraische Gleichung der Form

anxn + an−1x

n−1 + . . .+ a1x+ a0 = 0

mit n ∈ N und ai ∈ R, an 6= 0 besitzt höchstens n Lösungen.

Beispiel 2.4.4: fehlt noch....

2.5 Gleichungen höherer Ordnung

Niels Henrik Abel konnte 1824 basierend auf den Arbeiten von Paolo Ruffini zeigen, dass beiGleichungen höherer Ordnung, also Gleichungen der Form

anxn + an−1x

n−1 + . . .+ a1x+ a0 = 0 mit n ∈ N, n ≥ 4, ai ∈ R, an 6= 0

die Lösung im Allgemeinen nicht mehr berechnet sondern nur noch angenähert werden können.Dennoch kann man in einigen Spezialfällen zur Lösung solcher Gleichungen eine Mischung derbereits vorgestellten Methoden nutzen.

Beispiel 2.5.1: Gesucht sind die Lösungen der Gleichung

x4 − 7x2 + 12 = 0 .

Identifizieren wirz := x2 ,

wird die Gleichung vierten Grades zu einer quadratischen Gleichung

x4 − 7x2 + 12 = 0z=x2⇐⇒ z2 − 7z + 12 = 0 .

Mit der p-q-Formel folgt

z2 − 7z + 12 = 0 ⇐⇒ z =7

√(7

2

)2

− 12 =7

2± 1

2⇐⇒ z = 3 ∨ z = 4 .

Wegenx2 = z ⇐⇒ |x| =

√z ⇐⇒ x = −

√z ∨ x =

√z

erhalten wir dann für die eigentliche Lösungsmenge

L =− 2,−

√3,√

3, 2.

Beispiel 2.5.2: Zur Lösung der Gleichung

x4 − 9x2 − 4x+ 12 = 0

bestimmen wir zunächst die ganzzahligen Teiler des Absolutgliedes. Diese sind

−12, 12,−6, 6,−4, 4,−3, 3,−2, 2,−1, 1.

Setzen wir die eins ein, so folgt

14 − 9 · 12 − 4 · 1 + 12 = 0

und damit ist x = 1 eine Lösung dieser Gleichung. Polynomdivision durch (x− 1) liefert

35

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(x4 − 9x2 − 4x+ 12

):(x− 1

)= x3 + x2 − 8x− 12

− x4 + x3

x3 − 9x2

− x3 + x2

− 8x2 − 4x8x2 − 8x

− 12x+ 1212x− 12

0

also ein Polynom dritten Grades. Die übrigen Lösungen erhalten wir nun also durch Lösen derGleichung

x3 + x2 − 8x− 12 = 0.

Wegen(−2)3 + (−2)2 − 8 · (−2)− 12 = −8 + 4 + 16− 12 = 0,

ist auch x = 2 eine Lösung der Gleichung und wir erhalten durch erneute Polynomdivision

(x3 + x2 − 8x− 12) : (x+ 2) = x2 − x− 6,

ein Polynom zweiten Grades, dessen Nullstellen wir mit der „p-q-Formel“ bestimmen:

x = −−1

√(−1

2

)2

+ 6 =1

2±√

25

4⇐⇒ x = 3 ∨ x = −2.

Die Lösungsmenge der Gleichung x4 − 9x2 − 4x+ 12 = 0 ist daher

L = −2, 1, 3.

2.6 Betragsgleichungen

Gleichungen in denen die „Betragsfunktion“

|x| :=

x für x ≥ 0 ,

−x für x < 0 .

auftritt, heißen „Betragsgleichungen“. Zur Lösung dieser Gleichungen muss man den Betrag durcheine „Fallunterscheidung“ auflösen.

Beispiel 2.6.1: Wir suchen die Lösungen der Gleichung

|x+ 3|+ |x− 1| = 4 .

Da die beiden Beträge jeweils bei x = −3 und x = 1 „umschalten“ müssen wir die Fälle

(1) x < −3, (2) − 3 ≤ x < 1, (3) x ≥ 1

untersuchen.

Zu (1): Für x < −3 sindx+ 3 < 0 und x− 1 < 0,

und daher

|x+ 3|+ |x− 1| = 4

36

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⇐⇒ −(x+ 3)− (x− 1) = 4

⇐⇒ −2x− 2 = 4 | + 2

⇐⇒ −2x = 6 | : (−2)

⇐⇒ x = −3 .

Da wir aber vorausgesetzt hatten, dass x < −3 ist, gilt somit für diesen Fall

L1 = ∅ .

Zu (2): Für −3 ≤ x < 1 sindx+ 3 ≥ 0 und x− 1 < 0,

und daher

|x+ 3|+ |x− 1| = 4

⇐⇒ x+ 3− (x− 1) = 4

⇐⇒ 4 = 4

Da diese Aussage offensichtlich wahr ist, ist die Gleichung für alle x ∈ R erfüllt, dieunsere Voraussetzung erfüllen. Also gilt

L2 =x ∈ R : −3 ≤ x < 1

= [−3, 1) .

Zu (3): Für x ≥ 1 sindx+ 3 > 0 und x− 1 ≥ 0,

und daher

|x+ 3|+ |x− 1| = 4

⇐⇒ x+ 3 + x− 1 = 4

⇐⇒ 2x+ 2 = 4 | − 2

⇐⇒ 2x = 2 | : (2)

⇐⇒ x = 1 .

Nachdem wir aber vorausgesetzt hatten, dass x ≥ 1 ist, gilt somit für diesen Fall

L3 = 1 .

Insgesamt besitzt die Gleichung also die Lösungsmenge

L = L1 ∪ L2 ∪ L3 = [−3, 1) ∪ 1 = [−3, 1] .

2.7 Wurzelgleichungen

Gleichungen in denen die Unbekannte unter einer Wurzel steht nennt man „Wurzelgleichungen“.Bei der Lösung dieser Gleichungen muss man beachten, dass das „Quadrieren“ keine Äquivalen-zumformung ist und sich daher die Lösungsmenge verändert. Abschließend ist also eine Probenötig um zu überprüfen, ob die gefundenen Lösungen tatsächlich auch Lösungen sind.

Beispiel 2.7.1: Gesucht ist die Lösungsmenge der Gleichung√

2x+ 6 + 1 = x .

37

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Dann ist√

2x+ 6 + 1 = x | − 1

⇐⇒√

2x+ 6 = x− 1 | ( )2

=⇒ 2x+ 6 = (x− 1)2

⇐⇒ 2x+ 6 = x2 − 2x+ 1 | − 2x− 6

⇐⇒ x2 − 4x− 5 = 0 | p-q-Formel

⇐⇒ x1,2 =4

√(−4

2

)2

+ 5

⇐⇒ x1,2 = 2±√

9

⇐⇒ x1 = −1 ∧ x2 = 5

Eine Probe ergibt:√

2 · −1 + 6 + 1 =√

4 + 1 = 3 6= −1 =⇒ x1 = −1 ist keine Lösung,√

2 · 5 + 6 + 1 =√

16 + 1 = 5 =⇒ x2 = 5 ist eine Lösung.

Also giltL = 5 .

2.8 Ungleichungen

„Ungleichungen“ wie

2x+ 3 < x− 4, oder 3x− |x+ 3| ≥ 2x− 4,

behandelt man in fast allen Punkten wie die entsprechenden Gleichungen; d. h. man nutzt zurLösung ebenfalls Termumformungen, muss dabei aber beachten, dass sich der Ungleichungssinnbei Multiplikation oder Division mit negativen Zahlen umdreht. Insbesondere werden geschlosseneLösungsformeln wie die p-q- oder die abc-Formel ungültig.

Beispiel 2.8.1: Gesucht werden die Lösungen der Ungleichung

−x2 + x+ 6 < 2− 2x .

Es gilt

−x2 + x+ 6 < 2− 2x | − 2 + 2x

⇐⇒ −x2 + 3x+ 4 < 0 | · (−1)

⇐⇒ x2 − 3x− 4 > 0

⇐⇒ x2 − 3x+

(3

2

)2

−(

3

2

)2

− 4 > 0 | + 4 +

(3

2

)2

⇐⇒ x2 − 3x+

(3

2

)2

> 4 +9

4

⇐⇒(x− 3

2

)2

>25

4|√

⇐⇒∣∣∣∣x− 3

2

∣∣∣∣ > 5

2

38

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⇐⇒ x− 3

2>

5

2∨ −

(x− 3

2

)>

5

2

⇐⇒ x > 4 ∨ x < −1

Somit ist die Ungleichung für alle x in

L = (−∞,−1) ∪ (4,∞) = R \ [−1, 4]

erfüllt.

39

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Kapitel 3

Funktionen

40

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3.1 Was ist eine Funktion?

Gleich nach den Mengen, die die Grundbausteine der Mathematik bilden, sind Abbildungen bzw.Funktionen die wichtigsten Objekte der Mathematik. Sie dienen dazu, verschiedene Mengen aufsystematische Weise miteinander zu verbinden.Unter einer „Funktion“ oder „Abbildung“ f versteht man eine Vorschrift, die jedem x aus einerMenge D genau ein Element y aus einer Menge W zuordnet. Den Wert y, dem x zugeordnet wird,nennen wir den „Funktionswert“ der Funktion f an der Stelle x. Ist f eine Abbildung von D nachW schreiben wir:

f : D −→ W

x 7−→ y = f(x).

D

x

f

y = f(x)

W

Abb. 3.1: Funktionen ordnen jedem Wert des Definitionsbereichs D genau einen Wert des Wer-tebereichs W zu. Allerdings muss nicht jeder Wert im Wertebereich auch tatsächlich getroffenwerden.

Bemerkung 3.1.1:

• D wird „Definitionsmenge“ oder „Urbild“ der Funktion f genannt.

• W heißt „Wertebereich“ oder „Zielmenge“ der Funktion f .

• Man unterscheidet klar zwischen der Funktion f und dem Funktionswert f(x) der Funktionan der Stelle x ∈ D. Aus der Schule bekannte Aussagen der Form

„Die Funktion f(x) . . .“

sind also vollkommen sinnlos. Insbesondere mssen zur Definition einer Funktion (andersals in der Schule) drei verschiedene Daten angegeben werden:

die Definitionsmenge, den Wertebereich unddie Zuordnungsvorschrift x 7−→ f(x).

Bei reellen Funktionen, d. h. Funktionen deren Wertebereich die reellen Zahlen sind, wird häu-fig der Definitionsbereich nicht ausdrücklich angegeben; insbesondere wenn die Funktion durcheinen Term erklärt ist. In diesen Fällen ist es üblich, als Definitionsmenge die maximal mög-liche Teilmenge der Menge der reellen Zahlen zu definieren, für die sich beim Einsetzen in dieFunktionsgleichung reelle Funktionswerte ergeben.

41

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Beispiel 3.1.2:

• Die Vorschriftf : (0, 1) −→ R , x 7−→ x2

ist eine Funktion, da jeder reellen Zahl x ∈ (0, 1) ihr eindeutiges Quadrat zugeordnet wird.

• Ein Beispiel für eine Zuordnung, die keine Funktion ist, erhalten wir zum Beispiel indem wirjedem Menschen seine Geschwister zuordnen. Da es sicherlich Menschen gibt, die mehrereGeschwister haben, wird diesen Menschen mehr als nur ein Bruder bzw. mehr als nur eineSchwester zugeordnet.

• Die Zuordnung

FV : Menge der Spieler

in der 1. Fußballbundesliga

−→

Menge der Vereinein der 1. Fußballbundesliga

Spieler 7−→ Bundesligaverein in dem

der Spieler spielt

ist ebenfalls eine Funktion, wenn man das Ausleihen von Spielern vernachlässigt.

Jedes Paar(x, f(x)

)markiert einen Punkt im „kartesischen Koordinatensystem“1

R2 := R× R = (x, y) | x, y ∈ R

−2 −1 1 2

−2

−1

1

2

0

Γf

Abb. 3.2: Koordinatensystem

und ermöglicht somit die Darstellung der Funktion durcheine Punktmenge, den sogenannten „Graphen“ Γf derFunktion f

Γf := (

x, f(x))∈ R2

∣∣∣ x ∈ D.

Dazu wählen wir zunächst zwei zueinander senkrechte, will-kürliche Geraden und bezeichnen ihren Schnittpunkt mitO. Auf jeder Geraden kennzeichnen wir nun die Punkteauf der einen Seite durch ihren Abstand zu O und auf deranderen Seite durch ihren Abstand multipliziert mit −1.Eine der Geraden nennen wir „x - Achse“, die andere „y-Achse“. Der Punkt (x, y) entspricht nun dem Schnittpunktder beiden Parallelen durch den Wert x auf der x-Achseund den Wert y auf der y-Achse.

Beispiel 3.1.3: Ein Händler verkauft auf dem Markt Himbeeren für einen Kilopreis von 2, 50e.Eine passende Tragetasche die wir in jedem Fall dazu kaufen kostet 0, 50e zusätzlich. Da zu je-der Portion Himbeeren genau ein bestimmtes Gewicht und damit genau ein Preis gehört, kanndie Beziehung zwischen dem Preis y und dem Gewicht x der Himbeeren als Funktion aufgefasstwerden.

Die Zuordnungsvorschrift lautet dabei:

Preis = Kilopreis · Gewicht + Tragetaschey = 2, 5 · x + 0, 5

1nach Rene Descartes (1595-1650)

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Darüber hinaus istD = x ∈ R | x ≥ 0 = [0,∞),

da es keine negativen Gewichte gibt und man (zumindest theoretisch) beliebig viele Himbeeren kau-fen kann. Für den Wertebereich der Funktion müssen wir berücksichtigen, dass wir aufgrund derTragetasche mindestens 0, 50e bezahlen müssen und dass der Preis mit steigender Himbeermenge(zumindest theoretisch) beliebig groß werden kann. Daher gilt:

W = y ∈ R | y ≥ 0.5 = [0.5,∞).

Um die Funktion nun in einem Koordinatensystem darstellen zu können, erstellen wir zunächsteine Wertetabelle und konstruieren daraus den Graphen der Funktion.

Gewicht in kg 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 4 6Preis in e 0,5 1,75 3 4,25 5,50 6,75 8 10,50 15,50

x1 2 3 4 5 6

y

2

4

6

8

10

0

y = 2, 5 · x+ 0, 5

Definition 3.1.4: Sind f : A −→ B und g : X −→ Y zwei Funktionen mit Y ⊆ A, so heißt

f g : X −→ B

x 7−→ f(g(x))

die „Komposition“ oder „Verkettung“ der Funktion f nach g.

Beispiel 3.1.5:

(a) Für die Funktionen

f : R −→ R

x 7−→ 1

2x2 + 1

undg : N −→ R

n 7−→ 1

6n+ 2

existiert zwar die Verkettung

f g : N −→ R , x 7−→ f(g(x)

)= f

(1

6n+ 2

)=

1

2

(1

6n+ 2

)2

+ 1 ,

aber die Komposition g f existiert nicht, da R 6⊆ N.

43

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Merke: Bei der Komposition von Funktionen kommt es auf die Reihnfolgean; Die Verkettung der Funktion f nach g ist im Allgemeinen eine andere

Funktion als die Verkettung von g nach f .

(b) Sei S die Menge der Studenten der Universität Duisburg-Essen. Die Zuordnung

M : S −→ N

s 7−→ Matrikelnummer von s

ist eine Abbildung von S in die natürlichen Zahlen N. Nehmen wir nun die Abbildung

P : N −→ x ∈ N | x ≤ 81 n 7−→ Quersumme von n

hinzu und bilden die Verkettung

P M : S −→ x ∈ N | x ≤ 81 s 7−→ P (M(s))

,

so ordnet diese jedem Studierenden der Universität Duisburg-Essen die Quersumme sei-ner Matrikelnummer zu. Vor dem Zusammenschluss der beiden Universitäten Duisburg undEssen konnte man mit dieser Funktion überprüfen, ob man tatsächlich Student der Gesamt-hochschule Essen war. In diesem Fall musste (P M)(s) = P (M(s)) = 0 sein.

x

Xg

f

y = g(x)

Y

f g

z = f(g(x))

Z

Abb. 3.3: Komposition der Funktion f nach g.

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Definition 3.1.6: Eine Funktion f : D −→W heißt

(a) surjektiv, falls zu jedem y ∈W ein x ∈ D existiert mit f(x) = y.

(b) injektiv, falls für x, y ∈ D mit x 6= y stets auch f(x) 6= f(y) gilt.

(c) bijektiv, wenn sie surjektiv und injektiv ist.

D

d

c

b

a

W

α

β

γ

δf

(a) surjektiv

D

d

c

b

a

W

α

β

γ

δ

εf

(b) injektiv

D

d

c

b

a

W

α

β

γ

δf

(c) nicht surjektiv

D

d

c

b

a

W

α

β

γ

δ

εf

(d) nicht injektiv

Eine surjektive Funktion nimmt also jedes Element des Wertebereichs mindestens einmal als Wertan und eine injektive Funktion nimmt jeden Funktionswert höchstens einmal an. Bijektive Funk-tionen ordnen also jedem Element des Definitionsbereichs genau ein Element des Wertebereichszu; sie sind daher „invertier-“ oder „umkehrbar“. Das bedeutet, wir können eine Funktion f−1

definieren, für die gilt:y = f(x) ⇐⇒ x = f−1(y) .

f−1 heißt die eindeutige „Umkehrfunktion“zur Funktion f .

Beispiel 3.1.7:

(a) Sei c ∈ R. Die konstante Funktion

const : R −→ R

x 7−→ c

ist weder surjektiv noch injektiv, denn zum einen gibt es kein x ∈ R mit f(x) = c + 1 ∈ Rund zum anderen ist f(1) = f(−1) = c obwohl 1 6= −1.

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(b) Die Funktionf : [0,∞) −→ R

x 7−→ x2

ist injektiv, denn für x1, x2 ∈ [0,∞) ist

f(x1) = f(x2) =⇒ x21 = x22 =⇒ |x1| = |x2| =⇒ x1 = x2.

Durch Negation dieser Aussage folgt dann:

x1 6= x2 =⇒ f(x1) 6= f(x2).

Sie ist aber nicht surjektiv, denn zum Beispiel gibt es zu −2 ∈ R kein x ∈ [0,∞) mit

f(x) = x2 = −2.

Merke: Durch Einschränken des Definitions- und Wertebereichs lässt sicheine Funktion so modifizieren, dass das Ergebnis surjektiv, injektiv oder sogar

bijektiv wird

(c) Die Funktiong : [0,∞) −→ [0,∞)

x 7−→ x2

ist surjektiv, denn zu beliebigem y ∈ [0,∞) wählen wir x =√y ∈ [0,∞) und erhalten

f(x) =√y2 = y. Darüber hinaus ist f auch injektiv, denn sind x1, x2 zwei Elemente in

[0,∞) mit x1 6= x2, so ist entweder x1 > x2 oder x2 > x1. In beiden Fällen folgt aber direkt

f(x1) = x21 > x1x2 > x22 = f(x2) bzw. f(x2) = x22 > x2x1 > x21 = f(x1)

und somit f(x1) 6= f(x2). Folglich ist f eine bijektive Funktion, für die wir eine Umkehr-funktion bestimmen können. Dazu vertauschen wir (gemäß obiger Merkregel) zunächst dieVariablen x und y in der Gleichung y = g(x) = x2 und erhalten so

x = g(y) = y2.

Auflösen dieser Gleichung nach y ergibt dann y =√x, sodass die Umkehrfunktion

g−1 : [0,∞) −→ [0,∞)

x 7−→√x

ist.

Merke: Eine bijektive Funktion f : D −→W, x 7−→ f(x) kann in eindeutiger Weiseumgekehrt werden. Die Umkehrfunktion f−1 erhält man, indem man

(1) die Variablen x und y in y = f(x) vertauscht: x = f(y)

(2) die neue Beziehung nach y auflöst: y = f−1(x)

(3) und abschließend Definitions- und Wertebereich vertauscht: D←→W

f−1 : W −→ D

y 7−→ f−1(y)

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x

y

Γf

Spiegeln an y = x

x

y

Γf

Γf−1

Abb. 3.4:Graphisch erhalten wir den Graphen von f−1 aus dem Graphen von f durch Spiegelungan der ersten Winkelhalbierenden y = x erhalten.

3.2 Wichtige Eigenschaften einer Funktion

Die prägnantesten Merkmale einer Funktion f mit Definitionsbereich D und Wertebereich W wer-den im Folgenden kurz und trocken – inklusive der zugehörigen Definitionen – zusammengestellt.

1.) Nullstellen:x ∈ D heißt „Nullstelle“ von f genau dann, wenn gilt f(x) = 0.

2.) Symmetrie:Eine Funktion f : D −→W heißt „gerade“, falls:

f(−x) = f(x) ∀ x ∈ D,

sie heißt „ungerade“, falls:f(−x) = −f(x) ∀ x ∈ D.

3.) Monotonie:Eine Funktion f : D −→W nennen wir

(a) „monoton wachsend“, falls

f(x2) ≥ f(x1) ∀ x1, x2 ∈ D mit x2 > x1.

(b) „streng monoton wachsend“, falls

f(x2) > f(x1) ∀ x1, x2 ∈ D mit x2 > x1.

(c) „monoton fallend“, falls

f(x2) ≤ f(x1) ∀ x1, x2 ∈ D mit x2 > x1.

(d) „streng monoton fallend“, falls

f(x2) < f(x1) ∀ x1, x2 ∈ D mit x2 > x1.

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4.) Periodizität:Eine Funktion f heißt „p-periodisch“, falls für jedes x ∈ D

(x+ p) ∈ D und f(x+ p) = f(x)

ist2.

x

y

Γg

Γf

(a) Nullstellen

x

y

Γd

Γb

(b) Symmetrie

x

y

Γk

Γh

(c) Monotonie

x

y

ΓqPeriode p

(d) Periodizität

Abb. 3.5: (a) Die Funktion f besitzt drei Nullstellen, g hat keine Nullstelle; (b) b ist eineungerade, d eine gerade Funktion; (c) k ist monoton steigend, während h sogar streng monotonsteigend ist; (d) die Funktion q ist p-periodisch.

2Auch nicht-periodische Funktionen können als periodisch aufgefasst werden und zwar mit Periode p =∞.

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3.3 Lineare Funktionen

Definition 3.3.1: Eine lineare Funktion wird beschrieben durch

f : D −→ D , x 7−→ m · x+ b für m, b ∈ R.

Man nennt m die „Steigung“ und b den „y-Achsenabschnitt“ der Funktion f .

Der Graph Γf einer linearen Funktion ist (wie wir bereits gesehen haben) eine Gerade. Dabeikommt der Steigung m eine besondere Bedeutung zu; sind nämlich x1 und x2 zwei beliebigeElemente aus dem Definitionsbereich der Funktion f , so gilt

f(x2)− f(x1) = m · x2 + b− (m · x1 + b) = m · x2 + b−m · x1 − b = m · (x1 − x2) ,

Weichen wir also um den Faktor h = x2 − x1 von einem gegebenen Startwert x1 ab, so weichtder Funktionswert an der Stelle x2 um den Faktor m · h vom Funktionswert an der Stelle x1 ab.Folglich bestimmt die Steigung m das Verhalten der Funktion bzw. die Orientierung der GeradenΓf . Ist die Steigung m positiv, so sprechen wir von einer steigenden Geraden und für negative mvon einer fallenden Geraden. Ist m = 0 so ist der Graph eine Parallele zur x-Achse.

Satz 3.3.2: Für zwei beliebige Punkte (x1, y1) und (x2, y2) mit x1 6= x2 gibt es genau eine lineareFunktion f mit

(x1, y1), (x2, y2) ∈ Γf .

Diese Funktion f ist gegeben durch

f(x) = y1 +y2 − y1x2 − x1

(x− x1) .

Beweis. Zunächst weisen wir die Existenz einer solchen Funktion f durch die Konstruktion einerFunktionsgleichung mit den gewünschten Eigenschaften. Nach Voraussetzung muss die Funktiondie Eigenschaft

(x1, y1), (x2, y2) ∈ Γf ⇐⇒ y2 = f(x2) ∧ y1 = f(x1)

erfüllen. Für die Steigung m von f bedeutet das nach obiger Überlegung, dass

y2 − y1 = f(x2)− f(x1) = m · (x2 − x1) ⇐⇒ m =y2 − y1x2 − x1

ist. Da diese Gleichung bei einer linearen Funktion für beliebige x1, x2 ∈ R erfüllt ist, gilt außer-dem

f(x)− f(x1) = m · (x− x1) ⇐⇒ f(x) = f(x1) +m · (x− x1) = y1 +y2 − y1x2 + x1

· (x− x1).

Schreiben wir diese Gleichung ein wenig um, erhalten wir

f(x) =y2 − y1x2 − x1︸ ︷︷ ︸

:=m

·x+

(y1 −

y2 − y1x2 − x1

· x1)

︸ ︷︷ ︸:=b

= mx+ b,

also tatsächlich die Funktionsgleichung einer linearen Funktion. Insbesondere gilt

f(x1) =y2 − y1x2 − x1

· x1 +

(y1 −

y2 − y1x2 − x1

· x1)

= y1

undf(x2) =

y2 − y1x2 − x1

· x2 +

(y1 −

y2 − y1x2 − x1

· x1)

=y2 − y1x2 − x1

· (x2 − x1) + y1 = y2 .

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Für die Eindeutigkeit dieser Funktion, nehmen wir an es gäbe eine weitere Funktion g mit g(x) =m′ · x+ b′ und

(x1, y1), (x2, y2) ∈ Γg .

Dann wäre

m · x1 + b = f(x1) = y1 = g(x1) = m′ · x1 + b′ ⇐⇒ (m−m′) · x1 + b− b′ = 0

undm · x2 + b = f(x2) = y2 = g(x2) = m′ · x2 + b′ ⇐⇒ (m−m′) · x2 + b− b′ = 0 .

Ziehen wir die beiden Gleichungen voneinander ab und bedenken, dass nach Voraussetzungx1 6=x2, so gilt

(m−m′) · (x1 − x2) = 0 ⇐⇒ m−m′ = 0 ⇐⇒ m = m′ .

Eingesetzt in eine der beiden Gleichungen folgt dann sofort

b = b′

und somit f = g.

3.4 Quadratische Funktionen

Definition 3.4.1: Quadratische Funktionen sind Polynome zweiten Grades, also von der Form

f : D −→ D , x 7−→ a2x2 + a1x+ a0

für a2, a1, a0 ∈ R mit a2 6= 0.

Der Graph einer quadratischen Funktion wird „Parabel“ genannt; im Spezialfall a0 = a1 = 0und a2 = 1 erhalten wir die bereits bekannte Normalparabel. Alle anderen Parabeln lassen sichnun durch Streckung bzw. Stauchung, Spiegelung und Verschiebung der Normalparabel im Ko-ordinatensystem konstruieren. Dazu transformiert man die Funktionsgleichung in die sogenannte„Scheitelpunktsform“

f(x) = α · (x− β)2 + γ für α, β, γ ∈ R, α 6= 0 .

Dann gilt:

• Der Faktor α bewirkt für |α| < 1 eine Stauchung und für |α| > 1 eine Streckung derNormalparabel. Ist α < 0, so muss die Parabel zusätzlich an der x-Achse gespiegelt werden.

• Die Subtraktion des Paramters β führt zu einer Verschiebung der Normalparabel entlangder x-Achse. Für β > 0 erfolgt die Verschiebung nach rechts, für β < 0 nach links.

• Die Addition der Konstanten γ bewirkt für γ > 0 eine Verschiebung in Richtung der posi-tiven y-Achse und für γ < 0 eine Verschiebung in Richtung der negativen y-Achse.

• Der Punkt S(β, γ) wird „Scheitelpunkt“ der Parabel genannt und entspricht für α > 0 demkleinsten und für α < 0 dem größten Funktionswert.

Beispiel 3.4.2:

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• Die Zuordnungf : [−1, 3] −→ R

x 7−→ 1

2(x− 1)2 +

1

2

ist die Einschränkung der quadratischen Funktion

f : R −→ R

x 7−→ 1

2(x− 1)2 +

1

2

auf das Intervall [−1, 3]. Ihr Graph ist daher eine um den Faktor 0,5 gestreckte, nach obengeöffnete und um eins nach rechts bzw. zwei nach oben verschobene Normalparabel, die nurüber dem Intervall [−1, 3] existiert.

• Betrachten wirf : R −→ R

x 7−→ −2x2 − 8x− 6,

so müssen wir, bevor wirüber den Graphen dieser Funktion irgendeine Aussage treffen kön-nen, diesen zunächst in die Scheitelpunktsform transformieren. Dabei ist die quadratischeErgänzung wieder das entscheidende Hilfsmittel. Es gilt:

f(x) = −2x2 − 8x− 6

= −2 · (x2 + 4x)− 6

= −2 · (x2 + 4x+ 22 − 22)− 6

= −2 · (x2 + 4x+ 22) + 8− 6 = −2 · (x+ 2)2 + 2

Der Graph dieser quadratischen Funktion ist somit eine um den Faktor 2 gestreckte, nachunten geöffnete und um zwei nach links bzw. um zwei nach oben verschobene Normalparabel.Ihr Scheitelpunkt liegt bei S(−2, 2).

3.5 Rationale Funktionen

Definition 3.5.1: Eine rationale Funktion ist von der Form

f : D −→ W , x 7−→ anxn + an−1x

n−1 + . . .+ a1x+ a0bmxm + bm−1xm−1 + . . .+ b1x+ b0

für n,m ∈ N und ai, bi ∈ R. Sie heißt „ganzrational“, falls m = 0 und b0 6= 0, „gebrochen-rational“ sonst.

Beispiel 3.5.2:

• Quadratische und lineare Funktionen sind ganzrationale Funktionen.

• f : R −→ R , x 7−→ x2 + 3x16 − x4 ist eine ganzrationale Funktion.

• g : [3,∞) −→ R , x 7−→ 2x3−5x+4x−2 ist eine gebrochen-rationale Funktion.

Merke: Eine gebrochen-rationale Funktion ist nur für diejenigen x ∈ Rdefiniert, die nicht zu den Nullstellen des Nenners gehören.

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Definition 3.5.3: Für eine gebrochen-rationale Funktion f heißen die Nullstellen des Nenners,die sich durch Termumformungen aus der Funktion herauskürzen lassen, „hebbare Definitions-lücken“. Die anderen Nullstellen nennt man „Polstellen“ der Funktion f .

Beispiel 3.5.4:

• Die Zahl 2 ist eine hebbare Definitionslücke der Funktion

f : R \ 2 −→ R , x 7−→ x2 − 4x− 2 ,

da

f(x) =x2 − 4

x− 2=

(x− 2) · (x+ 2)

x− 2= x+ 2 .

Merke: Ändert man die Funktionsgleichung einer gebrochen-rationalenFunktion durch Herauskürzen der hebbaren Definitionslücken, so nennt mandie neu etnstandene Funktion die „stetige Fortsetzung“ der Funktion f und

bezeichnet Sie mit f . Es gilt:

f 6= f ,

d. h. f ist eine neue Funktion und nicht das selbe wie die Funktion f .

• g : R \ −1, 1 −→ R , x 7−→ 3x−1x2−1 besitzt die Polstellen −1 und 1, aber keine hebbaren

Definitionslücken.

3.6 Exponentialfunktion

Definition 3.6.1: Eine Funktion der Form

f : R −→ (0,∞) , x 7−→ ax für a > 0

heißt Exponentialfunktion zur Basis a und wird mit expa bezeichnet.

Beispiel 3.6.2:

• exp2 : R −→ (0,∞) , x 7−→ 2x

• g : R −→ R , x 7−→ −3x

Für a < 0 sind Exponentialfunktionen nicht definiert, da man sonst Probleme wie zum Beispiel

(−1)12 =√−1

bekäme.Exponentialfunktionen erfüllen natürlich die bekannten Potenzgesetze und spielen eine sehr großeRolle bei der Beschreibung von Wachstumsprozessen jeglicher Art, wie zum Beispiel dem Bak-terienwachstum, dem Medikamentenabbau im Blut oder dem Zerfall radioaktiver Isotope. Insbe-sondere gibt es genau eine Exponentialfunktion (die wir mit exp bezeichnen), die an der Stellex = 0 die Steigung eins besitzt. Die zugehörige Basis a > 0 nennen wir e und schreiben

exp : R −→ (0,∞) , x 7−→ ex .

Die Zahl e nennt man die „Euler’sche Zahl“; sie ist ebenso wie√

2 irrational und hat näherungs-weise den Wert

e = 2, 718281 . . . .

Tatsächlich werden wir später sehen, dass exp die einzige Funktion ist, für die ihre Steigung injedem Punkt mit ihrem Funktionswertübereinstimmt.

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3.7 Logarithmen

Exponentialfunktionen f(x) = ax sind für a > 1 streng monoton wachsend und für 0 < a < 1streng monoton fallend und besitzen daher eine eindeutige Umkehrfunktion, die „Logarithmen“genannt und mit loga bezeichnet werden

loga : (0,∞) −→ R, x 7−→ loga(x).

Es gilty = ax ⇐⇒ x = loga(y) .

2 4 6

−2

2

log(x)

log2(x)

log4(x)

log10(x)

Abb. 3.6: Die Graphen verschiedener Logarithmen

Speziell ist log := loge der sogenannte „natürliche Logarithmus“ und lg = log := log10 dersogenannte „dekadische Logarithmus“.

Satz 3.7.1: Für a, x, y ∈ (0,∞) und z ∈ R gilt

loga(x · y) = loga(x) + loga(y), loga (x/y) = loga(x)− loga(y), loga(xz) = z · loga(x)

und insbesondere

loga(x) =logy(x)

logy(a)a 6= 1.

Beweis. Seien a, x, y ∈ (0,∞) und z ∈ R. Aus den Potenzgesetzen folgt für beliebigem1,m2 ∈ R

am1+m2 = am1 · am2 ⇐⇒ loga(am1+m2

)= loga (am1 · am2) ⇐⇒ m1 +m2 = loga (am1 · am2) .

Da diese Aussage für beliebige m1,m2 ∈ R gilt, gilt sie insbesondere auch für

m1 := loga(x) und m2 := loga(y) .

Dann ist

m1 +m2 = loga (am1 · am2)

⇐⇒ loga(x) + loga(y) = loga

(aloga(x) · aloga(y)

)⇐⇒ loga(x) + loga(y) = loga(x · y)

und daher die erste Behauptung korrekt. Für die zweite Behauptung beachte, dass für m, z ∈ R

(am)z = am·z

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ist. Dann giltloga ((am)z) = loga (am·z) ⇐⇒ loga ((am)z) = m · z .

Wie oben wählen wir auch hier ganz speziell m := loga(x), so dass

loga ((am)z) = m · z ⇐⇒ loga

((aloga(x)

)z)= z · loga(x) ⇐⇒ loga (xz) = z · loga(x) .

Nehmen wir nun die erste und die dritte Aussage, so folgt

loga

(x

y

)= loga

(x · y−1

)= loga(x) + loga

(y−1)

= loga(x)− loga(y) ,

also Behauptung drei. Zum Schluss ist für a 6= 1 und x = am einerseits loga(x) = m undandererseits

logy(x) = logy (am) = m · logy(a) ⇐⇒ m =logy(x)

logy(a),

also

loga(x) = m =logy(x)

logy(a).

Beispiel 3.7.2: ....fehlt noch

Merke: Für x, a > 0 und y ∈ R beliebig ist nach Definition des Logarithmus stets

aloga(x) = x und loga (ay) = y.

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3.8 Trigonometrische Funktionen

Bei der Untersuchung rechtwinkliger Dreiecke stellt man fest, dass die Verhältnisse der Seiten-längen nur vom Maß der beiden anderen spitzen Winkel abhängen.

cb

a

c′

b′

a′

c′′

b′′

a′′

α

Es gilt:

b

a=b′

a′=b′′

a′′

a

c=a′

c′=a′′

c′′

a

c=a′

c′=a′′

c′′

Abb. 3.7: Seitenverhältnisse in einem rechtwinkligen Dreieck

Diese Beobachtung führt uns auf die sogenannten „trigonometrischen Funktionen“, die zu denwichtigsten Funktionen in den Naturwissenschaften gehören. Viele Phänomene lassen sich näm-lich wunderbar durch diese Funktionen beschreiben. So zum Beispiel schwingende Gitarrensaiten,Wasserwellen oder die Brechung des Lichts, um nur einige zu nennen. Auch basieren viele All-tagsanwendungen wie z. B. HiFi-Equalizer oder Bildbearbeitungsprogramme ganz wesentlich aufden trigonometrischen Funktionen. Man definiert

cos(ϕ) =Ankathete

Hypothenuse=a

c, sin(ϕ) =

Gegenkathete

Hypothenuse=b

c,

tan(ϕ) =Gegenkathete

Ankathete=b

a, cot(ϕ) =

Ankathete

Gegenkathete=a

b.

Die Definitionen kann man sich mit der

„GAGA Hummel-Hummel AG“ oder der „GAGA HühnerHof AG“

merken, bei der die Großbuchstaben von GAGA und Hummel-Hummel bzw. HühnerHof AG dieZähler bzw. Nenner bei der Darstellung der Funktionen in derüblichen Reihenfolge darstellen:

G

H

A

H

G

A

A

G.

Für die Messung von Winkeln gibt es zwei Möglichkeiten

• Das Gradmaß:

Einteilung des Vollkreises in 360 beliebige „Win-kelgrade“ (Vollkreis ∼= 360); ein Winkelgrad be-steht dann aus 60 „Bogenminuten“ (1 = 60′)und eine Bogenminute aus 60 „Bogensekunden“(1′ = 60′′).

Aufgrund der Willkür und Dimensionsbehaf-tung ist das Gradmaß in den Naturwissenschaf-ten eher unüblich.

r

ϕ

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• Das Bogenmaß:

Der Kreisbogen s, der vom Winkel ϕ aufge-spannt wird, ist ebenfalls ein Maß für die Größedes Winkels. Da er aber proportional zum Ra-dius r wächst, definiert man

ϕ :=s

r( 360 = 2π ) .

Das Bogenmaß ist aufgrund der Dimensionsfrei-heit in den Naturwissenschaften das Standard-maß für Winkel.

ϕ

rs

s′r′

Merke: ϕ [ im Gradmaß ] =360

2π· ϕ [ im Bogenmaß ]

ϕ [ im Gradmaß ] 0 30 45 60 90 180 270 360

ϕ [ im Bogenmaß ] 0 π6

π4

π3

π2 π 3

2π 2π

Definition 3.8.1 (Trigonometrische Funktionen): Wir definieren

• die „Kosinusfunktion“ durch cos : R −→ [−1, 1] , x 7−→ cos(x) .

• die „Sinusfunktion“ durch sin : R −→ [−1, 1] , x 7−→ sin(x) .

• die „Tangensfunktion“ durch tan : R \

(2n+ 1) · π2∣∣ n ∈ Z

−→ R , x 7−→ tan(x) .

Die Graphen und Werte dieser Funktionen lassen sich mit Hilfe des sogenannten „Einheitskreises“konstruieren: Dazu skizziert man zunächst einen Kreis mit Radius r = 1 im kartesischen Koor-dinatensystem um den Punkt (−2, 0). Anschließend wird der rechtswärts horizontal abgetrageneRadius als Bezugs- oder Nullrichtung festgelegt. Zur Konstruktion der Sinus- und Kosinusfunk-tion dreht man nun diesen Radius wie einen Fahrstrahl dem Uhrzeigersinn entgegengesetzt umeinen Winkel α (in Abbildung 3.8: α = 45, 155 und 240).

1

−1

1

2π π

3

2π 2π

5

1

1

1

α

y

x

cos(α) = x sin(α) = y

Abb. 3.8: Konstruktion der Sinus- und Kosinusfunktion

Dadurch ergibt sich ein Punkt auf dem Kreisbogen. Das von diesem Punkt auf die Nullrichtunggefällte Lot stellt die Gegenkathete y des Drehwinkels α dar. Der Radius fungiert als Hypotenuse

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c mit Länge 1. Da dann sin(α) = y/1 = y gilt, ist die Länge y des geometrisch konstruiertenLotes gerade der gesuchte Funktionswert sin(α). Betrachten wir nicht die Länge des Lotes des umden Winkel α gedrehten Radius, sondern die Länge der Projektion auf die x-Achse, so erhaltenwir gerade cos(α). Die Graphen der Tangens- und Kotangensfunktion erhält man durch Divisionder bereits konstruierten Funktionswerte.

1

−1

1

2π π

3

2π 2π

5

tan(α) = z cot(α) =1

z

Abb. 3.9: Die Graphen der Tangens- und Kotangensfunktion

Nach einer vollen Umdrehung (α = 2π) kann man diese Prozesse beliebig oft wiederholen, wo-bei mit jedem weiteren Durchlauf die Funktionswerte identisch bleiben; die trigonometrischenFunktionen sind also periodisch. Neben dieser, lassen sich aus der Konstruktion viele weitereEigenschaften ableiten, die wir nun in einer kurzenÜbersicht zusammenstellen wollen.

1. Wertetabelle:

α 0π

6

π

4

π

3

π

2

2

3

5

6π π

sin(α) 01

2

1

2

√2

1

2

√3 1

1

2

√3

1

2

√2

1

20

cos(α) 11

2

√3

1

2

√2

1

20 −1

2−1

2

√2 −1

2

√3 −1

tan(α) 01

3

√3 1

√3

nicht

definiert−√

3 −1 −1

3

√3 0

2. Nullstellen:

cos(α) = 0 für α = (2n+ 1) · π2, n ∈ Z

sin(α) = 0 für α = n · π, n ∈ Z

tan(α) = 0 für α = n · π, n ∈ Z

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3. Periodizität:

cos(α+ 2π) = cos(α), sin(α+ 2π) = sin(α) und tan(α+ π) = tan(α) .

Merke: Die Sinus- und die Kosinusfunktion sind 2π-periodisch und dieTangensfunktion π-periodisch.

4. Symmetrie:

cos(−α) = cos(α), sin(−α) = − sin(α) und tan(−α) = − tan(α) .

Merke: Die Sinus- und die Tangensfunktion sind ungerade, dieKosinusfunktion eine gerade Funktion.

5. Zusammenhang:

tan(α) =sin(α)

cos(α), sin2(α) + cos2(α) = 1 und sin

(α− π

2

)= cos(α) .

Satz 3.8.2: Die Sinus- und die Kosinusfunktion erfüllen die folgenden „Additionstheoreme“

cos(α+ β) = cos(α) · cos(β)− sin(α) · sin(β)

sin(α+ β) = sin(α) · cos(β) + sin(β) · cos(α)

für beliebige α, β ∈ R.

Beweis. Aufgrund der Symmetrie und Periodizität der Sinus- und der Kosinusfunktion genügtes die Behauptung für α, β ∈ [0, π/2] zu beweisen. Wenn aber entweder α oder β oder beideden Wert 0 oder π/2 annehmen, prüft man leicht mit der Tabelle der Nullstellen, Maxima undMinima nach, dass die Additionstheoreme in diesen Fällen erfüllt sind. Somit bleibt uns nur dieBehauptung für α, β ∈ (0, π/2) zu beweisen. Dazu betrachten wir die folgende Konstruktion

1

1O x

y A

B

y′

x′

C

D

E

α

γγ′

β

und zeigen zunächst, dass γ = α ist. In einem Dreieck ist die Summe der Innenwinkel immer180, so dass

im Dreieck ∆OAB: 180 = α+ β + 90 + γ′,

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im Dreieck ∆OAC: 180 = β + γ + 90 + γ′

und somit nach Subtraktion der beiden Gleichungen

0 = α− γ ⇐⇒ γ = α.

Zurück zum eigentlichen Beweis zeigen wir zunächst das Additionstheorem für den Sinus.

Im Dreieck ∆OAB gilt wegen OA = 1 offensichtlich

sin(α+ β) =AB

OA= AB .

Die Idee ist nun die Strecke AB anders darzustellen. Offenbar gilt

AB = AE + EB = AE +DC .

Für die einzelnen Teilstrecke folgt nun:

• aus dem Dreieck ∆EAC:

cos(α) =EA

AC⇐⇒ EA = cos(α) ·AC

und aus dem Dreieck ∆OAC:

sin(β) =AC

OA= AC ,

so dass

EA = cos(α) ·AC = cos(α) · sin(β) .

1

1O x

y A

B

y′

x′

C

D

E

α

α

β

• aus dem Dreieck ∆OCD:

sin(α) =CD

OC⇐⇒ CD = sin(α) ·OC .

Das Dreieck ∆OAC liefert nun

cos(β) =OC

OA= OC ,

sodassCD = sin(α) ·OC = sin(α) · cos(β) .

Zusammengenommen folgt

sin(α+ β) = AB = AE +DC = cos(α) · sin(β) + sin(α) · cos(β) .

Für das Additionstheorem für den Kosinus gehen wir ähnlich vor. Im Dreieck ∆OAB gilt wegenOA = 1 offensichtlich

cos(α+ β) =OB

OA= OB

und auch diese Strecke können wir anders darstellen:

OB = OD −BD = OD − EC .

Für die Teilstrecken erhalten wir :

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• aus dem Dreieck ∆EAC:

sin(α) =EC

AC⇐⇒ EC = sin(α) ·AC

alsoEC = sin(α) ·AC = sin(α) · sin(β) .

• aus dem Dreieck ∆OCD

cos(α) =OD

OC⇐⇒ OD = cos(α) ·OC .

alsoOD = cos(α) ·OC = cos(α) · cos(β) .

Zusammengenommen folgt

cos(α+ β) = OB = OD −BD = cos(α) · cos(β)− sin(α) · sin(β) .

Auch die trigonometrischen Funktionen sind eingeschränkt auf Teile ihres Definitionsbereichsstreng monoton und somit invertierbar. Ihre Umkehrfunktionen sind ebenso wichtig wie die Funk-tionen selbst.

Definition 3.8.3:

(1) Die Funktionarcsin : [−1, 1] −→

[−π

2,π

2

]heißt „Arkussinus“ und ist definiert durch

arcsin(y) = x ⇐⇒ y = sin(x) .

(2) Die „Arkuskosinus“-Funktion

arccos : [−1, 1] −→ [0, π]

ist definiert durcharccos(y) = x ⇐⇒ y = cos(x) .

(3) Die Funktionarctan : R −→

(−π

2,π

2

)heißt „Arkustangens“ und ist definiert durch

arctan(y) = x ⇐⇒ y = tan(x) .

(4) Die „Arkuskotangens“-Funktion

arccot : R −→ (0, π)

ist definiert durcharccot(y) = x ⇐⇒ y = cot(x) .

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In seltenen Fällen ist man gezwungen auch trigonometrische Gleichungen zu lösen. Dazu trans-formiert man die Gleichung mit den Additionstheoremen stets auf eine Gleichung in der nur nocheine trigonometrische Funktion vorkommt. Dabei kann man insbesondere auch zwei trigonome-trische funktionen zu einer zusammenführen. Zum Beispiel ist

A · cos(ϕ) +B · sin(ϕ) = C · sin(ϕ+ ϕ0)

⇐⇒ A · cos(ϕ) +B · sin(ϕ) = C · (sin(ϕ) · cos(ϕ0) + sin(ϕ0) · cos(ϕ))

⇐⇒ A · cos(ϕ) +B · sin(ϕ) = C cos(ϕ0) · sin(ϕ) + C sin(ϕ0) · cos(ϕ)

⇐⇒ A = C cos(ϕ0) ∧ B = C sin(ϕ0)

und daher

A2 +B2 = C2 sin2(ϕ0) + C2 cos2(ϕ0) = C2 ⇐⇒ C =√A2 +B2 ,

sowie

sin(ϕ0) =A

C=

A√A2 + B2

=⇒ ϕ0 = arcsin

(A√

A2 + B2

).

Beispiel 3.8.4: Gesucht ist die Lösung der Gleichung

−3 sin(ϕ) + 4 cos(ϕ) = 6 .

Mit obiger Rechnung ist−3 sin(ϕ) + 4 cos(ϕ) = c · sin(ϕ+ ϕ0)

für

C =√

(−3)2 + 42 = 5 und ϕ0 = arcsin

(−3√

(−3)2 + 42

)= −0, 564 .

Dann ist

−3 sin(ϕ) + 4 cos(ϕ) = 6 ⇐⇒ C · sin(ϕ+ ϕ0) = 6 ⇐⇒ ϕ = arcsin

(5

6

)− ϕ0 = 1, 549 .

61

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Kapitel 4

Die komplexen Zahlen

62

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4.1 Die Lösung von x2 + 1 = 0

Während man Gleichungen wie x2 − 3 = 0 oder x2 − 3x = 4 problemlos in den reellen Zahlenlösen kann, gelingt das schon bei der einfachen Gleichung x2 + 1 = 0 nicht mehr. Die Idee derkomplexen Zahlen ist es nun eine neue, sogenannte „imaginäre Einheit“ i einzuführen, für die

i2 = −1

ist. Diese neue Konstante ist natürlich keine reelle Zahl (weil das Quadrat einer reellen Zahl nienegativ ist) und führt somit zu einer Erweiterung unserer bisherigen Zahlenvorräte. Was aber istnun dieses i?

Diese Frage ist ein rein philosophisches Problem. Aus mathematischer Sicht reicht es zu zeigen,dass die Annahme, dass ein solches Objekt existiert, nicht zu Widersprüchen mit den festgeleg-ten Rechenregeln wie dem Assoziativ,- Kommutativ- oder Distributivgesetz führt. Tatsächlichbrauchten die Mathematiker aber bis ins 19. Jahrhundert, um die Idee von Zahlen z mit derEigenschaft z2 < 0 zu akzeptieren. Der Norweger Caspar Wessel (1745-1818) gilt als der Erste,der eine zufriedenstellende Definition der komplexen Zahlen gab. 1832 formulierte William RowanHamilton (1805-1865) die heute übliche Definition, die auch wir nutzen werden.

Definition 4.1.1: Wir betrachten die Menge R2 =

(x, y) | x, y ∈ Rund definieren auf ihr

eine Addition und eine Multiplikation durch

(x, y) + (u, v) = (x+ u, y + v) bzw. (x, y) · (u, v) = (xu− yv, xv + yu).

Setzen wir nun i := (0, 1) und 1 := (1, 0), so definieren wir die Menge der komplexen Zahlendurch

C :=z = x · 1 + y · i | x, y ∈ R

.

Statt z = x · 1 + y · i schreibt man abkürzend z = x+ iy.

Wir nennen z = x + iy die „Normaldarstellung“, Rez := x den „Realteil“ und Imz := y den„Imaginärteil“ der komplexen Zahl z. Ist Imz = 0, so nennen wir z reell und identifizieren siemit der reellen Zahl x. Auf diese Weise wird die Menge der komplexen Zahlen C zu einer echtenErweiterung der reellen Zahlen R und es gilt N ⊆ Z ⊆ Q ⊆ R ⊆ C.

Satz 4.1.2 (Die imaginäre Einheit):i2 = −1.

Beweis. Nach Definition ist

i2 = i · i = (0, 1) · (0, 1) = (0 · 0− 1 · 1, 0 · 1 + 1 · 0) = (−1, 0) = −1

Eine Komplexe Zahl z = x+ iy wird im Wesentlichen durch ihre zwei reellen Komponenten x undy charakterisiert. Daher bietet es sich an, sie geometrisch in einem „kartesischen Koordinatensys-tem“ darzustellen. Die komplexe Zahl z = x + iy entspricht dann dem Punkt (x, y) in diesemKoordinatensystem. Diese Darstellung nennt man auch die „Gauß’sche Zahlenebene“.

Beispiel 4.1.3:

(a) Wegenz2 = −81 ⇐⇒ z = ±

√81i2 = ±9i

ist die Lösungsmenge der Gleichung z2 + 81 = 0:

L = −9i, 9i .

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−4 −2 2 4

−2i

2i

2 + 3i

4 + i

−3 +3

2i

−3

2− 3

2i

Abb. 4.1: Die Gauß’sche Zahlenebene

(b) Für x2 + 2x+ 5 = 0 liefert die p− q-Formel

x = −pq±

√(p

q

)2

− q = −2

√(2

2

)2

− 5 = −1±√

4i2 = −1± 2i.

Folglich ist die Lösungsmenge der Gleichung x2 + 2x+ 5 = 0:

L = −1− 2i,−1 + 2i .

Wie obige Beispiele implizieren, ist mit Hilfe der komplexen Zahlen tatsächlich jede quadratischeGleichung lösbar. Mehr noch: es lässt sich sogar ganz allgemein zeigen, dass eine Polynomglei-chung n-ten Grades genau n komplexe Lösungen besitzt1. Die wichtigsten Anwendungen derkomplexen Zahlen liegen aber in der Physik und den Ingenieurwissenschaften, vor allem in derSignalverarbeitung, wo sie etwa bei Musikaufnahmen zum Zuge kommen. So werden harmonischeSchwingungen (Töne) durch f(t) = sin(ωt + φ) dargestellt, wobei ω die Kreisfrequenz, a dieAmplitude und φ die Phase ist. In komplexer Form kann stattdessen f(t) = Aeiωt mit komplexerAmplitude geschrieben werden, in die die reelle Amplitude a und die Phase φ eingehen. Auch dieBeschreibung von Wellen ist im Kalkül der komplexen Zahlen besonders elegant.

Bemerkung 4.1.4: In den obigen Beispielen sind wir ganz naiv davon ausgegangen, dass wirwie gewohnt auch ganz einfach Wurzeln aus komplexen Zahlen ziehen können. Tatsächlich zeigtaber die (offensichtlich falsche) Rechnung

1 =√

1 =√

(−1) · (−1) =√−1 ·√−1 = i · i = i2 = −1,

dass es gar nicht so einfach ist die Wurzel einer komplexen Zahl zu definieren. Wir werden späterdarauf zurückkommen, wollen aber hier eine sehr deutliche Warnung aussprechen.

Definition 4.1.5: Zu einer komplexen Zahl z = x + iy definieren wir die „konjugiert komplexeZahl“ z durch

z := x− iy

und ihren „Betrag“ durch|z| :=

√a2 + b2.

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z = x+ iy

z = x− iy(a) z entsteht durch Spiegelung der komplexenZahl z an der waagerechten Achse.

y

x

z = x+ iy

|z|

(b) Der Betrag |z| entspricht dem Abstand derkomplexen Zahl z zum Ursprung (Satz des Py-thagoras).

Beispiel 4.1.6: Der Realteil der komplexen Zahl z = 4 + 3i ist Rez = 4, der ImaginärteilImz = 3 und der Betrag

|z| =√

42 + 32 =√

25 = 5.

Für die konjugiert komplexe Zahl erhalten wir

z = 4− 3i.

Satz 4.1.7: Für z, w ∈ C gilt:

(1) z + w = z + w und z · w = z · w

(2) −|z| ≤ Rez ≤ |z|

(3) |z · w| = |z| · |w|

(4) |z + w| ≤ |z|+ |w| (Dreiecksungleichung)

(5) ||z| − |w|| ≤ |z + w| (inverse Dreiecksungleichung)

Beweis. Sie Aussagen (1) und (3) sind sehr leicht zu verifizieren und wir überlassen sie daherdem Leser zur Übung.

Zu (2): Sei z = x+ iy ∈ C beliebig. Dann unterscheiden wir zwei Fälle:

1. Fall: x ≥ 0. Dann ist offensichtlich

−|z| ≤ 0 ≤ x = Rez

und außerdem gilt

x2 ≤ x2 + y2 = |z|2 ⇐⇒ Rez = x ≤ |z|.

2. Fall: x ≤ 0. Dann giltRez ≤ 0 ≤ |z|

und zudem auch Re−z = −x ≥ 0. Genauso wie im ersten Fall erhalten wir dann

Re−z ≤ | − z| = |z| ⇐⇒ Rez ≥ −|z|.1In der Literatur findet man diesen Sachverhalt unter dem Stichwort „Fundamentalsatz der Algebra“.

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Zu (4): Ist z + w = 0, so ist die Aussage klar. Falls z + w 6= 0 so ist

1 =z

z + w+

w

z + w.

Nehmen wir nun auf beiden Seiten den Realteil, so erhalten wir

1 = Re

z

z + w

+ Re

w

z + w

(2)

≤∣∣∣∣ z

z + w

∣∣∣∣+

∣∣∣∣ e

z + w

∣∣∣∣ (3)=|z||z + w|

+|e|

|z + w|.

Zu (5): Wir haben

|z| = |z + w − w|(4)

≤ |z + w|+ | − w| = |z + w|+ |w| ⇐⇒ |z| − |w| ≤ |z + w|

und durch Vertauschen von z und w ebenso

|w| − |z| ≤ |z + w|.

4.2 Die Polardarstellung komplexer Zahlen

Bisher haben wir komplexe Zahlen immer durch ihre Normalform charakterisiert und über kartesi-sche Koordinaten dargestellt. Allerdings gibt es noch eine weitere Möglichkeit; statt eine komplexeZahl z durch (Rez, Imz) zu beschreiben, kann man auch ihren Betrag |z| und den Winkel ϕ(das „Argument arg z“ von z) angeben, den sie mit der positiven x-Achse einschließt. Damit dieseZuordnung eindeutig wird, müssen wir den Winkel arg z einschränken

0 ≤ arg z < 2π.

x

y

z = x+ iy

|z|

ϕ

Abb. 4.2: Die Polardarstellung kompexer Zahlen

Hat nun eine komplexe Zahl z = a + bi den Betrag |z| = r und das Argument arg z = ϕ, folgtaus der Definition der trigonometrischen Funktionen

x = r · cos(ϕ) und b = r · sin(ϕ),

alsoz = r ·

(cos(ϕ) + i sin(ϕ)

).

Zusammen mit der 1748 von Leonhard Euler bewiesenen und nach ihm benannten „Euler’ schenFormel“

eiϕ = cos(ϕ) + i sin(ϕ), ϕ im Bogenmaß,

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erhält man so die „Polardarstellung“z = r · eiϕ

der komplexen Zahl z.

Merke: Aus der Euler’schen Formel erhält man für ϕ = π die Gleichung

eiπ + 1 = 0.

Diese (eigentlich sehr triviale) Aussage nennt man auch die „Weltformel derMathematik“, da sie alle in der Mathematik auftretenden Naturkonstanten e, i, π, 0

und 1 in sich vereint.

Satz 4.2.1: Die Exponentialfunktion exp ist 2πi-periodisch, d. h.

ez = ez+2πi ∀ z ∈ C.

Beweis. Für z ∈ C istez+2πi = ez · e2πi = ez ·

(eπi)2

= ez.

Merke: Ist z 6= 0 in der Normaldarstellung z = x+ iy gegeben,erhält man ihren Betrag |z| durch

|z| =√x2 + y2

und ihr Argument arg z durch

arg z =

arccos

(xr

)für y > 0 ,

2π − arccos(xr

)für y < 0 .

4.3 Multiplikation und Wurzeln

Grundsätzlich rechnen wir mit komplexen Zahlen wie gewohnt, allerdings stets unter der Be-rücksichtigung, dass i2 = −1 ist. Zum Beispiel gilt für die Addition und Multiplikation zweierkomplexer Zahlen z = x+ iy und w = u+ iv:

z + w = (x+ iy) + (u+ iv) = (x+ u) + i(y + v)

undz · w = (x+ iy) · (u+ iv) = ux+ iuy + ivx+ i2vy = (ux− vy) + i(uy + vx).

Natürlich können wir in C auch subtrahieren und dividieren, wobei wir bei letzterem (ähnlich zurBruchrechnung) einen kleinen Umweg machen müssen:

z

w=x+ iy

u+ iv=

(x+ iy) · (u− iv)

(u+ iv) · (u− iv)=ux+ iuy − ivx− i2vy

u2 − i2v2=ux+ vy

u2 + v2+ i

uy − vxu2 + v2

.

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Merke: Zwei komplexe Zahlen z und w werden dividiert, indem man denzugehörigen Bruch mit dem komplex konjugierten des Nenners erweitert:

z

w=z · ww · w

=z · w|w|2

.

Aufgrund der Polardarstellung der komplexen Zahlen können wir die Multiplikation auch geome-trisch interpretieren. Für z = reiϕ und z′ = seiψ ist nämlich

z · z′ = reiϕ · seiψ = rs · ei(ϕ+ψ),

d. h. bei der Multiplikation werden die Beträge multipliziert und die Argumente addiert. DasArgument muss man dann natürlich wieder auf den Winkelbereich [0, 2π) einschränken.

|z|

|z′|

|zz′|

ϕ + ϕ′ϕ′

ϕ

0.80.96 1.20.8 0.961.2

Abb. 4.3: Die Multiplikation komplexer Zahlen in Polardarstellung

Bemerkung 4.3.1: Hier versteckt sich in gewisser Weise auch eine Legimitation für die Defi-nition der imaginären Einheit i. Da eine Multiplikation mit −1 einer Drehung um den Winkel πentspricht, entspricht eine Multiplikation von i (wegen i2 = −1) einer Drehung um π/2. Möchteman alle Drehungen mit einer Multiplikation identifizieren, muss man zwangsläufig die reellenZahlen auf die komplexen Zahlen erweitern.

Beispiel 4.3.2:

(a) Seien z = 2− i und w = 3 + 2i. Dann ist

z

w=

2− i3 + 2i

=(2− i)(3− 2i)

(3 + 2i)(3− 2i)=

6− 3i− 4i+ 2i2

9− 4i2=

4− 7i

13=

4

13− 7

13i.

(b) Gesucht ist die Normaldarstellung der Zahl

z = i49 + i50 + i51 + i52.

Wegeni49 + i50 + i51 + i52 = i49 · (1 + i+ i2 + i3) = i49 · (1 + i− 1− i) = 0

ist z = 0.

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(c) Für z = 3eπi und w = −1 − i suchen wir das Produkt z · w. Dazu transformieren wir wzunächst in ihre Polardarstellung. Für den Betrag erhalten wir

|w| =√

(−1)2 + (−1)2 =√

2

und da Imw = −1 < 0 berechnen wir das Argument gemäß

arg z = 2π − arccos

(−1√

2

)= 2π − arccos

(−1

2

√2

)=

5

4π,

sodassw =

√2 · e

54πi.

Dann gilt

z · w = 3eπi ·√

2e54πi = 3

√2 · e

94πi = 3

√2 · e

14πi+2πi = 3

√2 · e

14πi.

Nun können wir uns die Frage stellen, wie wir die Wurzel aus einer komplexen Zahl z definierenkönnen. Ist es überhaupt sinnvoll die Wurzel aus z zu ziehen? Ausgangsproblem hierbei ist esLösungen der Gleichung

x2 − a = 0

zu finden. Schon in R hatten wir dabei einige Schwierigkeiten. Ist a eine positive reelle Zahl, sogibt es zwei mögliche Lösungen der Gleichung, eine positive und eine negative. Nenne wir diepositive b, dann ist die negative −b und wir hatten uns darauf geeinigt

√a := b zu definieren.

Tatsächlich hätten wir aber es aber auch anders herum machen können. Für negative a gab esüberhaupt keine Lösung.

Sei nun z ∈ C mit z 6= 0 fest. Gibt es nun Zahlen w ∈ C für die w2 = z ist? Für die Antwortauf diese Frage nutzen wir die Polardarstellung und schreiben z = |z|eiϕ und w = |w|eiψ mitϕ,ψ ∈ [0, 2π). Dann ist w2 = |w|2ei2ψ und für w2 = z muss

|w| =√|z|

gelten (hier meinen wir die übliche Wurzel aus R), sowie

2ψ = ϕ+ 2kπ

für ein k ∈ Z sein. Da aber nach Voraussetzung ϕ,ψ ∈ [0, 2π) sind, kann k hier nur 0 oder 1 seinund wir erhalten

w1 :=√|z|e

ϕ2i und w2 :=

√|z|e

ϕ2i+πi = −w1

als Lösungen für w2 = z. Zu jeder komplexen Zahl z 6= 0 gibt es wie auch in R genau zweiMöglichkeiten für die Definition einer Wurzel. Da aber im Gegensatz zu R die komplexen ZahlenC nicht angeordnet werden können (d. h. im Wesentlichen, dass es keine Begriffe wie „positiv“oder„negativ“gibt), können wir aber keine der beiden Lösungen der anderen vorziehen. Daher nennenwir beide Lösungen eine Wurzel von z.

Merke: Die komplexe Wurzel ist keine Funktion, d. h. sie beschriebt keineeindeutige Zuordnung zwischen einer komplexen Zahl z und den Lösungen w derGleichung w2 = z. Daher spricht man in C nie von „der“ Wurzel einer komplexen

Zahl!

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Satz 4.3.3 (Wurzeln in C): Für jedes z ∈ C und jedes n ∈ N existiert ein w ∈ C so dass wn = z.Ist z 6= 0 gibt es genau n Lösungen von wn = z mit z = |z| · eiϕ, ϕ ∈ [0, 2π):

wk := n√|z| · e

in(ϕ+2kπ), k = 0, 1, . . . , n− 1.

Diese wk nennt man auch die n-ten Wurzeln von z.

Beweis. Ist z = 0 nehme w = 0. Andernfalls gilt:

wnk =(n√|z| · e

in(ϕ+2kπ)

)n= |z| · ei(ϕ+2kπ) = |z| · eiϕ · e2kπi = |z| · eiϕ.

Aufgrund der 2πi-Periodizität der Exponentialfunktion sind dies alle n-ten Wurzeln und sie sindalle verschieden.

Beispiel 4.3.4: Gesucht sind die Lösungen der Gleichung

w4 = i.

Dazu transformieren wir i zunächst in seine Polardarstellung; für den Betrag erhalten wir

|i| =√

02 + 12 = 1

und für das Argumentarg i = arccos(0) =

π

2,

sodassi = ei

π2 .

Dann sind die Lösungen der Gleichung gegeben durch

w0 = ei4(π2+0) = e

π8i =

√2 +√

2

2+ i

√2−√

2

2

w1 = ei4(π2+2π) = e

58πi = −

√2−√

2

2+ i

√2 +√

2

2

w2 = ei4(π2+4π) = e

98πi = −

√2 +√

2

2− i√

2−√

2

2

w3 = ei4(π2+6π) = e

138πi =

√2−√

2

2− i√

2 +√

2

2

70

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Kapitel 5

Folgen, Grenzwerte und Stetigkeit

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5.1 Folgen reeller oder komplexer Zahlen

Eine der wichtigsten Aufgaben der Mathematik ist die Untersuchung und Charakterisierung vonFunktionen einer oder mehrerer Variablen. Ganz essentiell ist dabei die Theorie der Grenzwerteunendlicher Folgen, denn auf ihr beruhen die Berechnung von Grenzwerten von Funktionen, dieDefinition der Ableitung (Differentialquotient als Grenzwert einer Folge von Differenzenquotien-ten) und auch der Riemann’sche Integralbegriff.

Definition 5.1.1: Eine Zuordnung, die jeder natürlichen Zahl n ∈ N eine reelle (komplexe) Zahlan zuordnet, heißt „reelle (komplexe) Zahlenfolge“. Statt

f : N −→ R

n 7−→ an

schreiben wir kürzer ann∈N und nennen an dass „n-te Folgenglied“ und n den „Folgenindex“.

Folgen lassen sich auf verschiedene Art und Weise beschreiben:

(1) explizit: Bei dieser Methode definiert man die Folge durch eine Formel, aus der jedes belie-bige Folgenglied sofort berechnet werden kann.

Beispiel 5.1.2:

• ann∈N wird definiert durch an := n2 − 1. Dann ist

a5 = 52 − 1 = 24 und a100 = 1002 − 1 = 9999.

• cnn∈N wird definiert durch cn := (−1)n. Dann ist

c5 = (−1)5 = −1 und a100 = (−1)100 = 1.

(2) rekursiv: Bei dieser Methode gibt man das erste Glied der Folge und eine Formel an, mitder man aus einem beliebigen Folgenglied das nachfolgende Folgenglied berechnen kann.

Beispiel 5.1.3:

• ann∈N wird definiert durch a1 := −1 und an+1 := −an. Möchte man nun a4 berech-nen, so folgt aus der Definition

a4 = a3+1 = −a3.

Man benötigt also zunächst das Folgenglied a3. Analog benötigt man zur Berechnungvon a3 das Folgenglied a2 und zur Berechnung von a2 das Folgenglied a1. Es ist

a2 = −1 =⇒ a3 = 1 =⇒ a4 = −1

und man kann zeigen, dass ann∈N mit der Folge cnn∈N von oben übereinstimmt.• bnn∈N mit

b1 := 2 und bn+1 :=1

2

(bn +

2

bn

).

Dann ist

b2 =1

2

(2 +

2

2

)= 1.5

=⇒ b3 =1

2

(3

2+

4

3

)=

17

12

=⇒ b4 =1

2

(17

12+

24

17

)=

577

204usw.

72

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Merke: Bei einer rekursiv definierten Folge benötigt man (anders als beieiner explizit definierten Folge) alle Folgenglieder a1, a2, . . . , an um das

Folgenglied an+1 zu berechnen.

Bemerkung 5.1.4: Eine Folge ann∈N muss nicht immer bei dem Index n = 1 beginnen. Wirlassen natürlich auch Folgen zu, die erst bei n = m ∈ N beginnen und schreiben dann ann≥m.

5.2 Grenzwerte und Konvergenz

Definition 5.2.1: Eine Folge ann∈N heißt „konvergent gegen a ∈ R (a ∈ C)“, fall zu jedemε > 0 ein Index n0 = n0(ε) ∈ N existiert, so dass

∀ n > n0 : |an − a| < ε.

Man schreibt dannan −→ a für n→∞ oder lim

n→an = a

und nennt a den „Grenzwert“ von ann∈N.

Für eine konvergente Folge gibt es also zu jeder (noch so kleinen) Zahl ε einen Index n ≥ n0, sodass der Abstand |an − a| aller darauffolgenden Folgenglieder an zum Grenzwert a kleiner als εist. Man sagt auch:

N

Ran0(ε)

an0(ε′)

an0(ε)εε′

ε

εε′

ε

Abb. 5.1: ...

Nur endlich viele Folgenglieder liegen außerhalb des „ε-Schlauchs“ um a. Je kleiner ε wird, umsogrößer ist im Allgemeinen das n0 zu wählen, d. h. umso mehr Folgenglieder liegen außerhalb desε-Schlauchs.

Bemerkung 5.2.2:

(a) Der Grenzwert a einer konvergenten Folge ann∈N ist eindeutig bestimmt.

(b) Statt „an −→ a für n→∞“ schreiben wir auch abkürzend

ann→∞−−−−→ a.

Beispiel 5.2.3:

73

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(a) Jede konstante Folge, d. h. jede Folge ann∈N mit an = c für alle n ∈ N, ist konvergentgegen c ∈ R. Ist nämlich ε > 0 vorgegeben, können wir n0 := 1 ∈ N wählen und erhaltenfür alle n ∈ N mit n > n0:

|an − c| = |c− c| = 0 < ε.

(b) Es gilt:1

n−→ 0 für n→∞.

Sei dazu wieder ε > 0 vorgegeben. Dann wählen wir n0 ∈ N, so dass n0 ≥ ε−1 (möglich, dadie natürlichen Zahlen nach oben unbeschränkt sind) und erhalten für alle n > n0:

|an − 0| =∣∣∣∣ 1n − 0

∣∣∣∣ =1

n<

1

n0≤ 1

ε−1= ε.

(c) Die Folge (−1)nn∈N konvergiert nicht. Denn angenommen a ∈ R wäre der Grenzwertdieser Folge, so gäbe es zu ε = 1 ein n0 ∈ N, so dass für alle n > n0: |an − a| < 1 . Dannwäre aber auch

2 = |an − an+1| = |an − a+ a− an+1| ≤ |an − a|+ |an+1 − a| < 1 + 1 = 2.

Ein Widerspruch!

Merke: Eine Folge muss nicht konvergieren. Nicht-konvergente Folgenheißen „divergent“.

Satz 5.2.4: Sind ann∈N und bnn∈N zwei Folgen mit

limn→∞

an = a und limn→∞

bn = b,

dann gilt:limn→∞

an + bn = a± b, limn→∞

an · bn = a · b, limn→∞

anbn

=a

b,

wobei die letzte Konvergenz nur für b 6= 0 sinnvoll ist.

Beweis. Wie üblich müssen wir auch hier für jede der Folgen an + bnn∈N, an · bnn∈N undan/bnn∈N zeigen, dass sie die Eigenschaften aus der Definition der Konvergenz besitzen. Seialso ε > 0 vorgegeben. Dann müssen wir zunächst zeigen, dass ein n0 ∈ N existiert, so dass

∀ n > n0 : |(an + bn)− (a+ b)| < ε.

Nach Voraussetzung wissen wir, dass na, nb ∈ N existieren, so dass

∀ n > na : |an − a| <ε

2und ∀ n > nb : |bn − b| <

ε

2.

Wählen wir nun für n0 den größeren der beiden Werte na und nb, also n0 = maxna, nb, so folgtfür alle n > n0

|(an + bn)− (a+ b)| ≤ |an − a|+ |bn − b| <ε

2+ε

2= ε.

und damitan + bn −→ a+ b für n→∞.

Die beiden fehlenden Behauptungen folgen auf ähnliche Weise.

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Beispiel 5.2.5: Für die Folge ann∈N mit

an =n4 − 75n2 + 12n− 6

3n7 + 2n5 − 14n3 + 2n− 19

gilt

an =

n7(

1

n3− 75

n5+

12

n6− 6

n7

)n7(

3 +2

n2− 14

n4+

2

n6− 19

n7

) =

1

n3− 75

n5+

12

n6− 6

n7

3 +2

n2− 14

n4+

2

n6− 19

n7

.

Nach dem Satz und Beispiel 5.2.3 folgt nun:

1

n3=

(1

n

)3

−→ 03 = 0,2

n2= 2 ·

(1

n

)2

−→ 2 · 02 = 0

12

n6= 12 ·

(1

n

)6

−→ 12 · 06 = 0,14

n4= 14 ·

(1

n

)4

−→ 14 · 04 = 0

6

n7= 6 ·

(1

n

)7

−→ 6 · 07 = 0,19

n7= 19 ·

(1

n

)7

−→ 19 · 07 = 0

für n→∞ und somit

an −→0− 0 + 0− 0

3 + 0− 0 + 0− 0= 0 für n→∞.

Mit den Rechenregeln und den bisherigen Beispielen lassen sich also bereits etwas kompliziertereFolgen auf Konvergenz untersuchen. Die zugrundeliegende Idee ist dabei die Rückführung derGrenzwerte auf bereits bekannte Grenzwerte. Natürlich ist es daher sehr nützlich möglichst vielekonvergente Folgen zu kennen. Die wichtigsten sind

(1) qnn∈N konvergiert für q ∈ (−1, 1) gegen 0 und für q = 1 gegen 1.

(2) n√a n∈N konvergiert für a > 0 gegen 1.

(3) n√n n∈N konvergiert gegen 1.

(4)

nk

zn

n∈N

konvergiert für festes k ∈ N und |z| > 1 gegen 0.

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Definition 5.2.6: Eine reelle Zahlenfolge ann∈N heißt

(a) „uneigentlich konvergent gegen ∞“, falls zu jedem M ∈ R ein n0 ∈ N existiert, so dass

an > M für alle n > n0.

(b) „uneigentlich konvergent gegen −∞“, falls zu jedem M ∈ R ein n0 ∈ N existiert, so dass

an < M für alle n > n0.

Beispiel 5.2.7: Die Folge ann∈N mit an = n ist uneigentlich konvergent gegen ∞. Ist nämlichM ∈ R vorgegeben, können wir ein n0 ∈ N finden, so dass n0 > M (möglich, da die natürlichenZahlen nach oben unbeschränkt sind). Dann gilt aber auch für alle n > n0: an = n > n0 > M.

Definition 5.2.8 (Teilfolge): Sei ann∈N eine Folge und ϕ : N −→ N streng monoton steigend.Dann heißt die Folge aϕ(k)k∈N „Teilfolge“ der Folge ann∈N.

Bemerkung 5.2.9:

• Setzt man nk := ϕ(k) für k ∈ N , so erhält man die für die Teilfolge aϕ(k)k∈N gebräuch-lichere Schreibweise ankk∈N.

• Prinzipiell erhält man Teilfolgen durch Wegstreichen einiger Folgenglieder. Die Nummerie-rung der Folgenglieder wird dabei nicht verändert.

Beispiel 5.2.10:

(a) Sei ann∈N = (−1)nn∈N. Dann ist die Teilfolge mit nk = ϕ(k) := 2k gegeben durch

a2kk∈N = (−1)2kk∈N = 1k∈N,

also durch die Folge, die konstant 1 ist.

(b) Für bnn∈N mit

bn =

(1 +

1

n

)n,

ist die Teilfolge mit nk = ϕ(k) := 2k + 1 die Folge

b2k+1k∈N =

(1 +

1

2k + 1

)2k+1k∈N

.

Satz 5.2.11: Ist ann∈N ⊆ R eine gegen a ∈ R konvergente Folge, so konvergiert auch jedeTeilfolge dieser Folge gegen a.

Beweis. Sei ε > 0 vorgegeben und aϕ(n)n∈N eine Teilfolge der Folge ann∈N. Dann existiertnach Voraussetzung ein n0 ∈ N, so dass |an − a| < ε. Da ϕ monoton wachsend ist, folgt

ϕ(n) ≥ n ∀ n ∈ N.

und somit|aϕ(n) − a| < ε ∀ ϕ(n) ≥ n > n0.

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Nach unseren bisherigen Überlegungen müssen wir den Grenzwert a einer Folge ann∈N bereitskennen oder zumindest eine Vermutung haben, was der Grenzwert ist, bevor wir die Konvergenzeiner Folge zeigen können. In der Regel kann man einer Folge ihren Grenzwert (sofern er existiert)aber nicht ansehen. In diesem Abschnitt stellen wir daher einige nützliche Sätze zusammen, die unsmit zusätzlichen Kriterien für Konvergenz versorgen. Anfangen werden wir mit dem sogenannten„Quetschlemma“.

Satz 5.2.12 (Einschließungskriterium): Seien ann∈N, bnn∈N zwei Folgen mit

limn→∞

an = a = limn→∞

bn.

und znn∈N eine weitere Folge mit an ≤ zn ≤ bn ∀ n ∈ N, so gilt

limn→∞

zn = a.

Beweis. Sei ε > 0 beliebig. Dann existieren na, nb ∈ N, so dass

∀ n > na : |an − a| < ε und ∀ n > nb : |bn − b| < ε.

Wählen wir nun für n0 den größeren der beiden Werte na und nb, also n0 = maxna, nb, so folgtfür alle n > n0

−ε < −|an − a| ≤ −(a− an) = an − a ≤ zn − a ≤ bn − a ≤ |bn − a| < ε,

also|zn − a| < ε.

Beispiel 5.2.13:

(a) Betrachten wir die Folge ann∈N mit an = n√

3n + 4n, so folgt

4n→∞←−−−− n

√4n ≤ n

√3n + 4n ≤ n

√4n + 4n = 4 · n

√2

n→∞−−−−→ 4.

(b) Es gilt:1

2n

(n

k

)−→ 0 für n→∞,

denn für n > k ist

0 ≤ 1

2n

(n

k

)=

1

2nn!

k!(n− k)!

=1

2n·

n · (n− 1) · (n− 2) · . . . · (n− k + 2) · (n− k + 1)︸ ︷︷ ︸k Terme

≤ 1

2n·

n · n · n · . . . · n · n︸ ︷︷ ︸k Terme

=nk

2nn→∞−−−−→ 0.

Definition 5.2.14: Wir nennen eine reelle Zahlenfolge ann∈N

(1) „nach oben beschränkt“, falls ein M ∈ R existiert, so dass an ≤M ∀ n ∈ N.

(2) „nach unten beschränkt“, falls ein m ∈ R existiert, so dass an ≥ m ∀ n ∈ N.

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(3) „beschränkt“, falls sie nach oben und nach unten beschränkt ist.

Beispiel 5.2.15:

(a) Die Folge ann∈N mit an := 2n − 1 ist nach unten aber nicht nach oben beschränkt. ZumBeispiel ist nämlich

2n− 1 ≥ −2 ∀ n ∈ N,

aber für jedes M ∈ R existiert (da die natürlichen Zahlen nach oben unbeschränkt sind) einn0 ∈ N mit

n0 >M + 1

2,

also ein Folgenglied an0 mitan0 = 2n0 − 1 > M.

(b) Sei bnn∈N die Folge definiert durch

bn :=2n− 3

4n+ 1.

Dann gilt−1 ≤ bn ≤ 1 ∀ n ∈ N,

denn für n ∈ N ist

2n− 3

4n+ 1=−(4n+ 1) + (6n− 2)

4n+ 1= −1 +

6n− 2

4n+ 1︸ ︷︷ ︸≥0

≥ −1

und2n− 3

4n+ 1=

4n+ 1− (2n+ 4)

4n+ 1= 1− 2n+ 4

4n+ 1︸ ︷︷ ︸≥0

≤ 1.

Also ist die Folge bnn∈N beschränkt.

Satz 5.2.16: Konvergente Folgen sind beschränkt.

Beweis. Sei ann∈N eine konvergente Folge mit an −→ a für n → ∞. Dann gibt es nachDefinition zu ε = 1 ein n0 ∈ N so dass |an − a| < 1 für alle n > n0 und nach der inversenDreiecksungleichung

|an| − |a| ≤ ||an| − |a|| ≤ |an − a| < 1 ≡ −1− |a| < an < 1 + |a| ∀ n ≥ n0.

Sind nun aM der größte und am der kleinste Wert aus der Menge

a1, a2, . . . , an0 , an0+1, 1 + |a|,−1− |a|

gilt offensichtlich∀ n ∈ N : am < an < aM .

Merke: Uneigentlich konvergente Folgen sind per Definition unbeschränktund somit divergent.

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Definition 5.2.17: Wir nennen eine reelle Zahlenfolge ann∈N

(1) „monoton steigend“, falls an ≤ an+1 ∀ n ∈ N.

(2) „streng monoton steigend“, falls an < an+1 ∀ n ∈ N.

(3) „monoton fallend“, falls an ≥ an+1 ∀ n ∈ N.

(4) „streng monoton fallend“, falls an > an+1 ∀ n ∈ N.

Satz 5.2.18 (Konvergenzkriterium von Bolzano-Weierstraß): Sei ann∈N monoton (wachsendoder fallend) und beschränkt. Dann ist ann∈N konvergent.

Beweis. Der Beweis übersteigt unsere Möglichkeiten und wir überlassen ihn daher der Mathematik-Vorlesung im ersten Semester.

Beispiel 5.2.19:

(a) Wie man mit einigem Aufwand nachrechnet ist ann∈N mit

an :=

(1 +

1

n

)nbeschränkt und monoton (siehe Knobelaufgabe, Übung 7), also konvergent. Ihr Grenzwertist die „Euler’sche Zahl“

e = 2, 71828182846 . . . .

(b) Wir untersuchen die Folge bnn∈N mit

b1 := 4 und bn+1 :=bn2.

Berechnen wir die ersten Glieder

b1 = 4 =⇒ b2 = 2 =⇒ b3 = 1 =⇒ b4 =1

2=⇒ . . .

fällt auf das die Folgenglieder kleiner werden, aber stets positiv bleiben. Daher vermuten wir,dass bnn∈N monoton fallend und

∀ n ∈ N : 0 ≤ bn ≤ 4

ist. Für den Beweis nutzen wir die vollständige Induktion:

Induktionsanfang n = 1:

0 ≤ b1 = 4 ≤ 4 stimmt!

Induktionsannahme: Gelte 0 ≤ bn ≤ 4 für ein beliebiges n ∈ N.Induktionschluss n→ n+ 1: Es ist

bn+1 =an2≤ 4

2= 2 ≤ 4,

bn+1 =bn2≥ 0

2= 0,

und daher 0 ≤ bn+1 ≤ 4.

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Also ist bnn∈N beschränkt. Zudem ist für n ∈ N

an+1

an=an2· 1

an=

1

2< 1 ⇐⇒ an+1 < an,

und somit ann∈N eine monotone und (da sie zusätzlich beschränkt ist) auch konvergenteFolge. Setzen wir

b := limn→∞

bn,

so konvergiert auch bn+1n∈N gegen b und wir erhalten

bn+1 =bn2

n→∞−−−−→ b =b

2⇐⇒ b = 0.

5.3 Stetige Funktionen

Schon Aristoteles (384 v. Chr. - 322 v. Chr.) erkannte „natura non facit“ (lat: Die Natur machtkeine Sprünge). Dieses für die Naturwissenschaften fundamentale Prinzip wurde jedoch erst 1821von Augustin-Louis Cauchy (1789 - 1857) aufgegriffen und in dem Konzept der „stetigen“ Funk-tionen mathematisch präzisiert.

Definition 5.3.1: Sei f : D −→ W eine Funktion und a ∈ D. Dann heißt f „stetig in a“, fallsfür jede Folge ann∈N ⊆ D mit an −→ a für n→∞ gilt:

f(an) −→ f(a) für n→∞.

f heißt stetig, falls f in jedem Punkt a ∈ D stetig ist.

Anschaulich gesprochen bedeutet Stetigkeit einer Funktion f , dass hinreichend kleine Änderungendes Argumentes zu beliebig kleinen Änderungen des Funktionswertes führen; eine stetige Funktionmacht also keine „Sprünge“. Daher sind stetige Funktionen von besonderem Interesse für dieNaturwissenschaften; stellen Sie sich einfach einmal vor die Funktion, die den Zustand ihrerniegel-nagel neuen Schuhe, wäre unstetig. Dann könnten Sie 100 Schritte in den Schuhen machenohne auch nur das kleinste Anzeichen von Abnutzung festzustellen, aber beim 101 Schritt könntenihre Schuhe zu Staub zerfallen.

Beispiel 5.3.2:

(a) Offensichtlich ist jede konstante Funktion f : R −→ R, x 7−→ c (c ∈ R) stetig. Ist nämlicha ∈ R und ann∈N ⊂ R eine Folge mit an −→ a für n→∞, so folgt

limn→∞

f(an) = limn→∞

c = c = f(a).

(b) Die Funktionf : R −→ R, x 7−→ x2

ist stetig, denn ist a ∈ R und ann∈N ⊂ R eine Folge mit an −→ a für n → ∞, so folgtaus den Rechenregeln für konvergente Folgen

limn→∞

f(an) = limn→∞

a2n = a2 = f(a).

(c) Sei f : R −→ 0, 1 die sogenannte „Heavyside-Funktion“ gegeben durch

f(x) =

0 für x < 0 ,

1 für x ≥ 0 ..

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Dann ist H im Punkt 0 ∈ R unstetig, da zwar

− 1

n−→ 0 für n→∞,

aberlimn→∞

f

(− 1

n

)= lim

n→∞0 = 0 6= 1 = f(0).

Satz 5.3.3: Sind f : D −→ R und g : D −→ R stetige Funktionen, so sind auch

f + g : D −→ R, f · g : D −→ R undf

g: D −→ R

stetig, wobei wir im letzten Punkt g(x) 6= 0 für alle x ∈ D voraussetzen müssen.

Beweis. Sei a ∈ D und ann∈N ⊆ D mit an −→ a für n→∞. Dann folgt mit den Rechenregelnfür konvergente Zahlenfolgen

limn→∞

(f + g)(an) = limn→∞

f(an) + g(an) = f(a) + g(a) = (f + g)(a)

undlimn→∞

(f · g)(an) = limn→∞

f(an) · g(an) = f(a) · g(a) = (f · g)(a).

Ist zusätzlich g(x) 6= 0 für alle x ∈ D, so ist

limn→∞

(f

g

)(an) = lim

n→∞

f(an)

g(an)=f(a)

g(a)=

(f

g

)(a).

Satz 5.3.4: Sind f : X −→ R und g : Y −→ R stetige Funktionen mit

g(X) := g(x) | x ∈ X ⊆ Y,

so ist auch die Komposition f g : X −→ R stetig.

5.4 Grenzwerte von Funktionen

Die Definition der Stetigkeit motiviert eine Erweiterung des Grenzwertbegriffs für Folgen aufFunktionen. Wie sich schon im nächsten Abschnitt herausstellen wird

Definition 5.4.1: Sei f : D −→ W eine Funktion und a ∈ D oder an −→ a für eine Folgeann∈N ⊆ D mit an 6= a für alle n ∈ N. Dann heißt b ∈ R „Grenzwert der Funktion f bei a“ undwir schreiben

limx→a

f(x) = b,

falls für jede Folge xnn∈N mit xn −→ a für n→∞ gilt:

f(xn) −→ b für n→∞.

Bemerkung 5.4.2:

• Wir verwenden die Schreibweiselimx→a

f(x) = b

auch für b = ±∞, wenn f(an) −→ ±∞ im Sinne der uneigentlichen Konvergenz aus 5.2.6.

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• Beschränken wir uns in obiger Definition auf Folgen ann∈N mit an > a bzw. an < a, sonennen wir b den „rechtsseitigen“ bzw. „linksseitigen“ Grenzwert und schreiben

limxa

f(x) = b bzw. limxa

f(x) = b.

Dann existiert der Grenzwert der Funktion f bei a genau dann wenn der linksseitige undder rechtsseitige Grenzwert existieren und übereinstimmen

limxa

f(x) = b = limxa

f(x).

• Mit dem Grenzwertbegriff für Funktionen können wir eine alternative Charakterisierung derStetigkeit angeben: f : D −→ R ist genau dann stetig in a ∈ D, wenn

limx→a

f(x) = f(a)

ist.

Beispiel 5.4.3:

(a) Wir berechnen den Grenzwert der Funktion

f : R \ 1 −→ R

x 7−→ x2 − 1

x− 1

an der Stelle x = 1. Ist ann∈N eine Folge in R \ 1 mit an −→ 1 für n→∞. Dann gilt:

limn→∞

a2n − 1

an − 1= lim

n→∞

(an − 1)(an + 1)

an − 1= lim

n→∞an + 1 = 1 + 1 = 2.

(b) Betrachten wirf : R \ −1, 1 −→ R

x 7−→ x2 + 2x− 3

x2 − 1

,

so ist

f(x) =x2 + 2x− 3

x2 − 1=x2 − 1 + 2x− 2

x2 − 1=x2 − 1

x2 − 1+ 2 · x+ 1

x2 − 1= 1 +

2

x− 1

und somit

limx−1

f(x) = limx−1

1 +2

x− 1= 0, lim

x1f(x) = lim

x−11 +

2

x− 1= −∞,

limx−1

f(x) = limx−1

1 +2

x− 1= 0, lim

x1f(x) = lim

x−11 +

2

x− 1=∞.

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Kapitel 6

Differentialrechnung

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6.1 Die Ableitung einer Funktion

Die zugrundeliegende Idee der Differentialrechnung ist eine möglichst gute „lineare Approximati-on“ einer gegebenen Funktion f : [a, b] −→ R. Das bedeutet wir suchen eine lineare Funktion

g : [a, b] −→ R, x 7−→ m · x+ b,

deren Graph Γg sich in einem Punkt (ξ, f(ξ)) möglichst gut an den Graphen von f „anschmiegt“.Diese Funktion g nennen wir die „Tangente“ der Funktion f an der Stelle ξ.

Da wir mit (ξ, f(ξ)) bereits einen Punkt der Tangente gegeben haben, benötigen wir zur Festle-gung der Funktionsgleichung nur noch die Steigung der Tangente. Anschaulich gesprochen erhal-ten wir sie, indem wir die Steigungm der Geraden durch die Punkte (x, f(ξ)) und (ξ+h, f(ξ+h))bestimmen

m =∆y

∆x=f(ξ + h)− f(ξ)

ξ + h− ξ=f(ξ + h)− f(ξ)

h

und anschließend den Abstand h „gegen null laufen lassen“.

Tangente

∆x

∆y

ξ

f(ξ)

ξ + h

f(ξ + h)

Tangente

∆x

∆y

ξ

f(ξ)

ξ + h

f(ξ + h)

Abb. 6.1: In der Differentialrechnung versuchen wir eine gegebene Funktion in der Umgebungeines Punktes (ξ, f(ξ)) möglichst exakt durch eine lineare Funktion zu approximieren. Dazu be-trachten wir die Gerade durch die Punkte (x, f(ξ)) und (ξ + h, f(ξ + h)) und untersuchen, wasbeim Grenzübergang h −→ 0 passiert.

Mathematisch exakt formuliert müssen wir den Grenzwert

limh→0

f(ξ + h)− f(ξ

h

bestimmen.

Definition 6.1.1: Eine Funktion f : (a, b) −→ R heißt differenzierbar bei ξ ∈ (a, b), falls derGrenzwert

f ′(ξ) := limx→ξ

f(x)− f(ξ)

x− ξ= lim

h→0

f(ξ + h)− f(ξ)

h

existiert. In diesem Fall heißt f ′(ξ) die erste Ableitung der Funktion f in ξ und entspricht derSteigung der Tangente an die Funktion f im Punkt ξ. Ist f in allen ξ ∈ (a, b) differenzierbar, sonennen wir f differenzierbar und die Funktion

f ′ : (a, b) −→ R, x 7−→ f ′(x)

die Ableitung von f .

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Häufig wird für die Ableitung auch die von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) stammendeSchreibweise

d

dxf(ξ) := f ′(ξ)

benutzt. Dies ist insbesondere dann zweckmässig, wenn f von mehreren Variablen abhängt, weildann klargestellt ist, nach welcher Variablen abgeleitet wird.

Beispiel 6.1.2:

1. Jede konstante Funktion ist differenzierbar mit Ableitung f ′ = 0. Ist nämlich

f : (a, b) −→ R, x 7−→ c

für ein festes c ∈ R, so folgt für beliebige ξ ∈ (a, b)

limh→0

f(ξ + h)− f(ξ)

h= lim

h→0

c− ch

= limh→0

0

h= 0.

2. Auch die Funktionf : R −→ R

x 7−→ x

ist differenzierbar, denn

limh→0

f(ξ + h)− f(ξ)

h= lim

h→0

(ξ + h)− ξh

= limh→0

h

h= 1

und somit ist ihre Ableitungsfunktion gegeben durch

f ′ : R −→ R , x 7−→ 1.

3. Die Betragsfunktion| · | : (a, b) −→ R, x 7−→ |x|,

dagegen ist in ξ = 0 nicht differenzierbar. Ist nämlich (hn)n∈N ⊆ (a, b) mit hn > 0 für allen ∈ N und hn −→ 0, so gilt

limh0

f(h)− f(0)

h= lim

n→∞

|hn|hn

= limn→∞

hnhn

= limn→∞

1 = 1.

Betrachten wir dagegen Folgen (hn)n∈N ⊆ (a, b) mit hn < 0 für alle n ∈ N und hn −→ 0,so folgt

limh0

f(h)− f(0)

h= lim

n→∞

|hn|hn

= limn→∞

−hnhn

= limn→∞

−1 = −1.

Zusammengenommen haben wir also gezeigt, dass

limn→∞

f(0 + hn)− f(0)

hn

nicht für jede gegen null konvergente Folge gegen denselben Wert konvergiert und damit derGrenzwert des Differentialquotienten nicht existiert.

4. Die Wurzelfunktion √: (0,∞) −→ R

x 7−→√x

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ist differenzierbar. Für ξ ∈ (0,∞) folgt nämlich

limh→0

f(ξ + h)− f(ξ)

h= lim

h→0

√ξ + h−

√ξ

h

= limh→0

(√ξ + h−

√ξ)(√ξ + h+

√ξ)

h(√ξ + h+

√ξ)

= limh→0

ξ + h− ξh(√ξ + h+

√ξ)

= limh→0

1√ξ + h+

√ξ

=1

2√ξ

und somitf ′(ξ) =

1

2√ξ∀ ξ ∈ (0,∞).

Wie das letzte Beispiel bereits andeutet, sind differenzierbare Funktionen anschaulich gesprochen„glatte“ Funktionen. Ihr Graph Γf besitzt keine „Ecken“.

−2 2

−2

2

Γf

(a) Graph einer differenzierbaren Funk-tion. Es gibt keine „Ecken“ oder „Kni-cke“

−2 2

−2

2

Γf

(b) Graph einer Funktion, die an denmarkierten Stellen nicht differenzierbarist

Satz 6.1.3: Sei f : D −→ R eine in ξ ∈ D differenzierbare Funktion. Dann ist f in ξ stetig.

Beweis. Sei ann∈N ⊆ D eine Folge mit an −→ ξ für n→∞. Dann gilt:

limn→∞

f(an) = limn→∞

f(an)− f(ξ) + f(ξ)

= limn→∞

f(an)− f(ξ)

an − ξ· (an − ξ) + f(ξ)

= limn→∞

f(an)− f(ξ)

an − ξ· limn→∞

(an − ξ) + f(ξ) = f ′(ξ) · 0 + f(ξ) = f(ξ),

alsof(an) −→ f(ξ) für n→∞.

Umgekehrt ist eine stetige Funktion nicht zwangsläufig differenzierbar, wie das obige Beispielder Betragsfunktion deutlich zeigt. Allerdings vererbt sich wie die Stetigkeit auch die Differen-zierbarkeit auf Verknüpfungen von Funktionen, für die wir nun die aus der Schule bekanntenAbleitungsregeln zusammenstellen wollen.

Satz 6.1.4: Seien f, g : (a, b) −→ R differenzierbare Funktionen und λ ∈ R. Dann sind auch dieFunktionen f + g, λ · f , f · g und für g 6= 0 auch f/g differenzierbar mit

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∗ (f + g)′(x) = f ′(x) + g′(x), (Summenregel)

∗ (λ · f)′(x) = λ · f ′(x), (Faktorregel)

∗ (f · g)′(x) = f ′(x) · g(x) + f(x) · g′(x), (Produktregel)

∗(f

g

)′(x) =

f ′(x) · g(x)− f(x) · g′(x)

(g(x))2, (Quotientenregel)

für x ∈ R.

Beweis. Wir beschränken uns auf den Beweis der Produktregel; die anderen folgen dann aufähnliche Weise. Sei also ξ ∈ (a, b) und h > 0 so klein, dass ξ + h ∈ (a, b). Dann folgt

(f · g)′(ξ) = limh→0

(f · g)(ξ + h)− (f · g)(ξ)

h

= limh→0

f(ξ + h) · g(ξ + h)− f(ξ) · g(ξ)

h

= limh→0

f(ξ + h) · g(ξ + h)− f(ξ) · g(ξ + h) + f(ξ) · g(ξ + h)− f(ξ) · g(ξ)

h

= limh→0

(f(ξ + h)− f(ξ)) · g(ξ + h) + f(ξ) · (g(ξ + h)− g(ξ))

h

= limh→0

[g(ξ + h)

f(ξ + h)− f(ξ)

h+ f(ξ) · g(ξ + h)− g(ξ)

h

]= g(ξ) · f ′(ξ) + f(ξ)g′(ξ).

Beispiel 6.1.5:

(a) Für n ∈ N ist die Funktionf : R −→ R

x 7−→ xn

differenzierbar mitf ′(x) = n · xn−1 ∀ x ∈ R.

(b) Sei f : D −→ R eine ganzrationale Funktion, also

f(x) = anxn + an−1x

n−1 + . . .+ a1x1 + a0 =

n∑k=0

akxk,

mit ai ∈ R für i = 1, 2, . . . , n. Dann ist f nach obigem Satz und Beispiel (a) differenzierbarmit

f ′(x) = nanxn−1 + (n− 1)an−1x

n−2 + . . .+ a1

Die mit Abstand wichtigste Ableitungsregel ist die sogenannte Kettenregel.

Satz 6.1.6 (Kettenregel): Sind f : (a, b) −→ R und g : (c, d) −→ (a, b) differenzierbar. Dann istauch die Komposition f g differenzierbar mit Ableitung

(f g)′(x) = f ′(g(x)) · g′(x) ∀ x ∈ (c, d).

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Beweis. Da g differenzierbar ist und daher insbesondere stetig, folgt für ξ ∈ (c, d)

g(ξ + h)− g(ξ) −→ 0 für h −→ 0

und somit

limh→0

(f g)(ξ + h)− (f g)(ξ)

h= lim

h→0

f(g(ξ + h))− f(g(ξ))

h

= limh→0

f(g(ξ + h))− f(g(ξ))

g(ξ + h)− g(ξ)· g(ξ + h)− g(ξ)

h

= limh→0

f(g(ξ + h))− f(g(ξ))

g(ξ + h)− g(ξ)· limh→0

g(ξ + h)− g(ξ)

h

= f ′(g(ξ)) · g′(ξ).

Bevor wir uns nun einer wichtigen Anwendung der Kettenregel, der Ableitung der Umkehrfunk-tion, widmen, stellen wir kurz die Ableitungen einiger elementarer Funktionen in einer Tabellezusammen.

f(x) xn√x exp(x) sin(x) cos(x)

f ′(x) nxn−11

2√x

exp(x) cos(x) − sin(x)

Satz 6.1.7 (Ableitung der Umkehrfunktion): Sei f : (a, b) −→ (c, d) bijektiv und differenzierbar.Ist ξ ∈ (a, b) mit η = f ′(ξ) 6= 0, so ist die Umkehrfunktion f−1 differenzierbar in η mit derAbleitung

f−1(η) =1

f ′(ξ)=

1

f ′(f−1(η)).

Beweis. Für y ∈ (c, d) ist:

limy→η

f−1(y)− f−1(η)

y − η= lim

y→η

f−1(y)− ξf(f−1(y))− f(ξ)

= limy→η

1y − η

f−1(y)− f−1(η)

=1

f ′(ξ)

Beispiel 6.1.8:

(a) Der Logarithmuslog : (0,∞) −→ R

x 7−→ log(x)

ist differenzierbar mit Ableitung

log′(x) =1

exp′(log(x))=

1

exp(log(x))=

1

x.

(b) Für a > 0 ist die Exponentialfunktion

expa : R −→ (0,∞)

x 7−→ ax

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differenzierbar, denn für x ∈ R ist

ax = exp(log(ax)) = exp(x log(a)),

also

(ax)′ = exp′(x log(a)) · (x log(a))′ = exp(x log(a)) · log(a) = ax · log(a) ∀ x ∈ R.

(c) Die n-te Wurzelf : (0,∞) −→ R

x 7−→ n√x

ist differenzierbar mit Ableitung

f ′(x) =1

n · n√xn−1 ∀ x ∈ (0,∞).

Eine zentrale Anwendung findet die Differentialrechnung in der Berechnung bisher unbestimm-barer Grenzwerte über die Regel von l’Hospital“.

Satz 6.1.9 (Regel von l’Hospital): Sind f, g : (a, b) −→ R differenzierbar mit −∞ ≤ a < b ≤ ∞und g′ 6= 0. Existiert der Grenzwert

limx→a

f ′(x)

g′(x),

zumindest als uneigentlicher Grenzwert, so gilt für

(i) limx→a

f(x) = limx→a

g(x) = 0 oder (ii) limx→a

g(x) =∞,

dasslimx→a

f(x)

g(x)= lim

x→a

f ′(x)

g′(x).

Beweis. Der Beweis erfordert tiefere Einblicke in die Differentialrechnung und wir überlassenihn daher der Mathematik Vorlesung im ersten Semester.

Die Regel von l’Hospital gilt auch wenn wir die Grenzwerte durch die einseitigen Grenzwertex a und x a ersetzen.

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Beispiel 6.1.10:

(a) Es ist:

limt0

t · log(t) = limt0

log(t)

t−1= lim

t0

t−1

−t−2= lim

t0−t = 0.

(b) Die Regel von l’Hospital kann auch mehrfach angewendet werden:

limx→0

x− sin(x)

x · sin(x)= lim

x→0

1− cos(x)

1 · sin(x) + x · cos(x)

= limx→0

sin(x)

cos(x) + 1 · cos(x)− x · sin(x)=

0

1 + 1− 0= 0.

(c) Aus der Stetigkeit der Exponentialfunktion und Beispiel (a) folgt;

limx0

xx = limx0

exp (log (xx)) = limx0

exp (x · log (x)) = exp

(limx0

x · log (x)

)= exp(0) = 1.

Definition 6.1.11: Sei f : D −→ R eine differenzierbare Funktion. Ist ihre Ableitung f ′ erneutdifferenzierbar, so heißt f ′′ := (f ′)′, die „zweite Ableitung von f “. Allgemein definiert man die„k-te Ableitung von f “ durch

f (k+1) :=d

dxf (k).

Falls f k-mal differenzierbar ist, so sind nach Satz 6.1.3 die Ableitungen f, f (1), f (2), . . . , f (k+1)

stetig. Falls auch noch f (k) stetig ist, nennen wir f „k-mal stetig differenzierbar“.

6.2 Taylorentwicklung und lokale Extrema

Die „Taylorentwicklung“ einer Funktion ermöglicht es, eine große Zahl der in den Natur- undIngenieurwissenschaften gebräuchlichen Funktionen in der Umgebung eines gegebenen Punktesdurch ganzrationale Funktionen beliebig genau zu approximieren.

Satz 6.2.1: Sei f : D −→ R eine (n + 1)-mal stetig differenzierbar. Für a, x ∈ D existiert einδ = δ(x, a) zwischen a und x, so dass

f(x) =

n∑k=0

f (k)(a)

k!(x− a)k +

f (n+1)(δ)

(n+ 1)!(x− a)n+1. (6.1)

Man nennt a den Entwicklungspunkt und

Tf,n,a(x) =

n∑k=0

f (k)(a)

k!(x− a)k

das n-te Taylorpolynom von f in a.

Beweis. Der Beweis ist sehr technisch, so dass wir ihn hier nicht bringen sondern auf dieMathematik-Vorlesung im ersten Semester verweisen.

In einer Umgebung des Entwicklungspunktes a können wir also den Wert der Funktion f(x)näherungsweise durch den Wert des Taylorpolynoms Tf,n,a(x) berechnen und weichen dabei um

Rf,n,a :=f (n+1)(δ)

(n+ 1)!(x− a)n+1

vom exakten Wert ab. Je weiter wir uns dabei vom Entwicklungspunkt a entfernen, desto größerwird der Fehler den wir bei der Näherung machen.

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Beispiel 6.2.2:

Gesucht ist eine Näherung für den Wert 4√

2. Dazu berechnen wir das Taylorpolynom zweitenGrades der Funktion

f : (−1,∞) −→ R

x 7−→ 4√

1 + x

am Entwicklungspunkt a = 0 und werten dieses an der Stelle x = 1 aus. Da

Tf,2,0 =

2∑k=0

f (k)(0)

k!(x− 0)k = f(0) + f ′(0) · x+

1

2f ′′(0) · x2,

benötigen wir also die erste und die zweite Ableitung der Funktion f :

f(x) = 4√

1 + x =⇒ f(0) =4√

1 = 1,

f ′(x) =1

4(

4√

1 + x)3 =⇒ f ′(0) =

1

4(

4√

1)3 =

1

4,

f ′′(x) = − 3

16(

4√

1 + x)7 =⇒ f ′′(0) = − 3

16(

4√

1)7 = − 3

16.

Somit istTf,2,0 = f(0) + f ′(0) · x+

1

2f ′′(0) · x2 = 1 +

1

4x− 3

32x2,

also4√

2 = 4√

1 + 1 ≈ 1 +1

4· 1− 3

32· (1)2 =

37

32= 1, 15625.

−1 2ξ = 1

1

f

Tf,1,0

Tf,2,0

Tf,3,0

Rf,1,0(1)

Rf,1,0(2)

Abb. 6.2: Taylorapproximation der Funktion 4√

1 + x im Entwicklungspunkt a = 0; je weiter wiruns vom Entwicklungspunkt entfernen desto schlechter wird die Näherung, aber je höher wir dieOrdnung des Taylorpolynoms wählen desto besser wird sie.

Nach Definition der Taylorformel gilt für den Fehler |Tf,2,0(ξ)− f(ξ)|, den wir dabei machen:

|Tf,2,0 (1)− f (1)| = |Rf,2,0 (1)| = f (3)(δ)

3!|1|3 , für δ ∈ (0, 1) .

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Daf (3)(x) =

7

1024(

4√

1 + x)11 ≤ 7

1024, für x ∈ (0, 1) ,

folgt

|Tf,2,0 (1)− f (1)| = f (3)(δ)

3!|1|3 ≤ 1

3!· 7

1024=

7

1024≈ 0, 0068359375.

Der errechnete Wert 1, 15625 weicht also um weniger als 10−2 von 4√

1 ab, ist also bis auf diezweite Nachkommastelle exakt.

Definition 6.2.3: Sei f : D −→ R eine Funktion. Dann besitzt f bei ξ ∈ D

(a) ein „lokales Minimum“, falls es eine Umgebung (ξ − ε, ξ + ε) ⊆ D gibt, so dass

f(x) ≥ f(ξ) ∀ x ∈ (ξ − ε, ξ + ε).

(b) ein „lokales Maximum“, falls es eine Umgebung (ξ − ε, ξ + ε) ⊆ D gibt, so dass

f(x) ≤ f(ξ) ∀ x ∈ (ξ − ε, ξ + ε).

(c) ein „(globales) Minimum“, falls

f(x) ≥ f(ξ) ∀ x ∈ D.

(d) ein „(globales) Maximum“, falls

f(x) ≤ f(ξ) ∀ x ∈ D.

(e) ein „lokales Extremum“, falls die Funktion dort ein lokales Minimum oder ein lokales Ma-ximum hat.

(f) ein „globales Extremum“, falls die Funktion dort ein globales Minimum oder ein globalesMaximum hat.

Konstante Funktionen besitzen offenbar in jedem Punkt ihres Definitionsbereichs ein globalesMaximum und ein globales Minimum. Diese sind natürlich insbesondere auch lokale Extrema.

Satz 6.2.4: Sei f : (a, b) −→ R differenzierbar. Hat f in ξ ∈ (a, b) ein lokales Extremum, so giltf ′(ξ) = 0.

Beweis. Ohne Einschränkung habe f in ξ ∈ (a, b) ein lokales Minimum (andernfalls verwendestatt f , −f). Nach Definition gibt es dann eine Umgebung (ξ − ε, ξ + ε) ⊆ (a, b) so dass

f(x) ≥ f(ξ) ∀ x ∈ (ξ − ε, ξ + ε).

Sind dann ann∈N, bnn∈N ⊆ (ξ − ε, ξ + ε) zwei Folgen mit an < ξ und bn > ξ für alle n ∈ Nsowie

limn→∞

an = ξ = limn→∞

bn,

so folgt einerseits

0 ≥ f(an)− f(ξ)

an − ξ−→ f ′(ξ) =⇒ f ′(ξ) ≤ 0

und andererseits

0 ≤ f(an)− f(ξ)

an − ξ−→ f ′(ξ) =⇒ f ′(ξ) ≥ 0,

also f ′(ξ) = 0.

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Satz 6.2.5: Sei f : (a, b) −→ R eine differenzierbare Funktion. Dann ist f auf (a, b)

(a) streng monoton wachsend, falls f ′(x) > 0 für alle x ∈ (a, b).

(b) monoton wachsend, falls f ′(x) ≥ 0 für alle x ∈ (a, b).

(c) streng monoton fallend, falls f ′(x) < 0 für alle x ∈ (a, b).

(d) monoton fallend, falls f ′(x) ≤ 0 für alle x ∈ (a, b).

Daraus erhalten wir sofort ein hinreichendes Kriterium für Extrema.

Satz 6.2.6: Sei f : (a, b) −→ R differenzierbar und f ′(ξ) = 0 für ein ξ ∈ (a, b). Gilt dann f ′ ≤ 0auf (a, ξ) und f ′ ≥ 0 auf (ξ, b), so hat f bei ξ ein lokales Minimum. Ist dagegen f ′ ≥ 0 auf (a, ξ)und f ′ ≤ 0 auf (ξ, b), so hat f bei ξ ein lokales Maximum.

Beispiel 6.2.7: noch zu machen...

Ist eine Funktion f sogar mehr als einmal differenzierbar, kann man auch das folgende hinrei-chende Kriterium verwenden.

Satz 6.2.8: Sei f : (a, b) −→ R n-mal stetig differenzierbar und

f ′(ξ) = f ′′(ξ) = . . . = fn−1(ξ)0,

aber fn(ξ) 6= 0 für ξ ∈ (a, b). Ist n ungerade, so ist ξ keine Extremstelle von f . Ist n gerade, sohat f bei ξ ein lokales Maximum, falls fn(ξ) < 0 und ein lokales Minimum, falls fn(a) > 0.

Beweis. Der Beweis basiert auf der Taylorformel und ist etwas aufwendig. Daher überlassen wirihn der Mathematik-Vorlesung im ersten Semester.

Beispiel 6.2.9: Gesucht werden die Extrema der Funktion

f : R −→ R

x 7−→ (x− 3)2(x+ 1)2.

Da per Definition jedes globale Extremum auch ein lokales Extremum ist, suchen wir zunächst dielokalen Extremstellen der Funktion f . Als Produkt ganzrationaler Funktionen ist f differenzierbarmit Ableitung (Produktregel)

f ′(x) = 2 · (x− 3)(x+ 1)2 + (x− 3)2 · 2(x+ 1)

= 2(x− 3)(x+ 1)(x+ 1 + x− 3)

= 4(x− 3)(x+ 1)(x− 1) = 4(x− 3)(x2 − 1) = 4x3 − 12x2 − 4x+ 12

Die Ableitung ist also selbst wieder eine ganzrationale Funktion und somit f sogar zweimal diffe-renzierbar. Für die zweite Ableitung erhalten wir

f ′′(x) = 12x2 − 24x− 4.

Setzen wir die Argumentation so fort, folgt dass f viermal differenzierbar ist und die Ableitungendurch

f ′(x) = 4(x− 3)(x+ 1)(x− 1)

93

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f ′′(x) = 4(3x2 − 6x− 1)

f (3)(x) = 24(x− 1)

f (4)(x) = 24

gegeben sind. Nach Satz 6.2.4 muss jede lokale Extremstelle ξ die Bedingung f ′(ξ) = 0 erfüllen.Suchen wir also lokale Extrema genügt es die Nullstellen der ersten Ableitung zu untersuchen.Wegen

f ′(x) = 0 ⇐⇒ 4(x− 3)(x+ 1)(x− 1) = 0 ⇐⇒ x = 3 ∨ x = −1 ∨ x = 1

sind also ξ = −1, ξ = 1 und ξ = 3 unsere einzigen Kandidaten. Nun folgt mit Satz 6.2.8

ξ = −1 : f ′(ξ) = 0 ∧ f ′′(ξ) > 0 =⇒ f hat bei ξ = −1 ein lokales Minimum.ξ = 1 : f ′(ξ) = 0 ∧ f ′′(ξ) < 0 =⇒ f hat bei ξ = 1 ein lokales Maximum.ξ = 3 : f ′(ξ) = 0 ∧ f ′′(ξ) > 0 =⇒ f hat bei ξ = 3 ein lokales Minimum.

Ferner istlim

x−→∞f(x) =∞ und lim

x−→−∞f(x) =∞

und somit f nach oben unbeschränkt. Daher existiert kein globales Maximum, aber ein globalesMinimum, das nach unserer anfänglichen Bemerkung dem kleineren der beiden lokalen Minimaentspricht. Wegen f(−1) = f(3) = 0 ist das globale Minimum der Funktion f also null.

x−2 −1 1 2 3 4

y

8

16

24

Γf

lokalesMaximum

globales

Minimum

globales

Minimum

Definition 6.2.10: Sei f : (a, b) −→ R differenzierbar und ξ ∈ (a.b). Besitzt f bei x0 kein lokalesExtremum, obwohl f ′(ξ) = 0 ist, so nennen wir (ξ, f(ξ)) ∈ Γf einen „Sattelpunkt“ von f .

Beispiel 6.2.11: Die Funktion

f : R −→ R

x 7−→ −23x

3 + 4x2 − 4x+ 13

hat nach Satz ?? bei x = 2 einen Sattelpunkt, da

f ′(x) = −2x2 + 8x− 4

f ′′(x) = −4x+ 8

f (3)(x) = −4

und somitf ′(2) = f ′′(2) = 0 aber f (3)(2) = −4 6= 0.

94

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x−1 1 2 3 4 5

y

2

4

6

8

Sattelpunkt Γf

Vorgehensweise zur Bestimmung von lokalen und globalen Extrema:

1) Bestimme die Menge Kf der Punkte ξ mit f ′(ξ) = 0 und die Menge Nf der Punkte andenen f nicht differenzierbar ist.

2) Überprüfe ob die Punkte in Kf eines der gegebenen hinreichenden Kriterien erfüllt undbestimme gegebenefalls die Art des lokalen Extremums. Für die Punkte in Nf überprüfeob die Definition für lokale Exrema erfüllt ist.

3) Für globale Extrema kläre zunächst ob f überhaupt globale Maxima bzw. Minima besitzt.Zur Beantwortung dieser Frage nutze den Satz vom Maximum oder den folgenden Satz.

Satz 6.2.12: Seien a, b ∈ R ∪ −∞,∞ mit a < b und f : (a, b) −→ R stetig. Existierendie Grenzwerte

α := limxa

f(x) und β := limxb

f(x)

zumindest uneigentlich, so hat f ein globales Maximum bzw. ein lokales Miniimum, falls

f(ξ) ≥ α ∧ f(ξ) ≥ β bzw. f(ξ) ≤ α ∧ f(ξ) ≤ β

4) Hat f ein globales Maximum bzw. Minimum, so ist dieses der größte bzw. kleinste Funkti-onswert der Punkte in Kf und Nf .

95

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Kapitel 7

Integralrechnung

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7.1 Die Fläche unter einer Funktion

Seien a und b zwei reelle Zahlen mit a < b und f : [a, b] −→ R eine stetige Funktion. Ziel diesesKapitels ist die Berechnung der Fläche A zwischen dem Graphen dieser Funktion und der x-Achse, welche uns auf den von dem deutschen Mathematiker Bernhard Riemann (1862-1866) inseiner Habilitation eingeführten Integralbegriff führen wird.

A

x

y

a b

Γf

Im einfachsten Fall können wir dabei eine konstante Funktion f mit f(x) = c (c eine feste reelleZahl) für alle x ∈ [a, b] betrachten. Dann ist die Fläche zwischen der x-Achse und dem Graphender Funktion f ein Rechteck, dessen Flächeninhalt bekannt und durch

A = c · (b− a)

gegeben ist1.

x

y

a b

Γfc

x

y

a a1 a2 b

Γf

c1

c2

c3

Abb. 7.1: Flächeninhalte für spezielle Funktionen - links: konstante Funktionen, rechts: stück-weise konstante Funktionen oder auch Treppenfunktonen

Ausgehend von diesem Spezialfall wollen wir uns nun schrittweise an kompliziertere Fälle heran-tasten und betrachten als ersten Schritt eine auf [a, b] stückweise konstante Funktion

f : [a, b] −→ R, f(x) =

c1 : für x ∈ [a, a1)

c2 : für x ∈ [a1, a2)

c3 : für x ∈ [a2, b]

1Man beachte, dass auch c < 0 zugelassen ist und somit der Flächeninhalt A negativ sein kann.

97

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Solche Funktionen nennt man wegen ihrer Form auch Treppenfunktion. Die Gesamtfläche unterdem Graphen erhält man nun ganz leicht indem man jeweils die Länge der Teilintervalle mit demjeweilgen Funktionswert multipliziert:

A = c1(a1 − a) + c2(a2 − a1) + c3(a3 − a2).

Die Idee zur Berechnung des Flächeninhalts für allgemeine Funktionen f auf dem Intervall [a, b]besteht nun darin, ihren Graphen durch geeignete Treppenfunktionen, also vereinfacht gesagt,geeignete Rechtecke zu überdecken bzw. auszuschöpfen. Bei Verfeinerung der Unterteilung wirddiese Näherung gegen den Flächeninhalt unter dem Graphen von f konvergieren.

7.2 (Riemann-)Integrierbare Funktionen

Zur Approximation der Fläche unter einer Funktion f : [a, b] −→ R, zerlegen wir das Intervall[a, b] in n (n ∈ N) gleich lange Teilintervalle

Ij :=

[a+

j − 1

n(b− a), a+

j

n(b− a)

], j = 1, 2, . . . , n

und bestimmen für jedes Teilintervall Ij das Supremum Mj sowie das Infimum mj

Mj := supx∈Ij

f(x) := sup f(x) |x ∈ Ij , mj := infx∈Ij

f(x) := inf f(x) |x ∈ Ij

von f auf diesem Intervall.Konstruieren wir nun auf jedem Intervall Ij ein Rechteck mit der HöheMj bzw. mj , erhalten wir durch

On(f) :=b− an

n∑j=1

Mj und Un(f) :=b− an

n∑j=1

mj . (7.1)

(die „Ober-“ und die „Untersumme“ der Funktion f) eine obere bzw. untere Schranke für dengesuchten Flächeninhalt.

x︸︷︷︸I1

︸︷︷︸I2

︸︷︷︸I3

︸︷︷︸I4

︸︷︷︸I5 b−a

n

. . .

y

a b

Γf

x︸︷︷︸I1

︸︷︷︸I2

︸︷︷︸I3

︸︷︷︸I4

︸︷︷︸I5 b−a

n

. . .

y

a b

Γf

Abb. 7.2: Approximation des Flächeninhalts - links: Obersumme, rechts: Untersumme

Bei hinreichend feiner Unterteilung sollten die Ober und Untersumme einer Funktion mit derFläche unter dem Graphen der Funktion f übereinstimmen, was uns zu folgender Definitionführt.

98

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Definition 7.2.1: Seien −∞ < a < b < ∞ und f : [a, b] → R eine Funktion. Dann heißt f„integrierbar“, falls

limn→∞

On(f) = limn→∞

Un(f).

In diesem Fall nennen wir den gemeinsamen Grenzwert von Ober- und Untersumme das „Integralvon f in den Grenzen von a bis b“ und schreiben∫ b

af(x) dx = lim

n→∞On(f) = lim

n→∞Un(f).

Diese Definition des Integralbegriffs ist weder die genaueste noch die allgemeinste. Es gibt sehr vielallgemeinere Integralbegriffe, wie das „Lebesgue-Integral“ oder das „Riemann-Stieltjes-Integral“.Der hier präsentierte, sehr spezielle Integralbegriff ist eine spezielle Variante des Riemann-Integralsund wird aber für nahezu alle praktischen Zwecke ausreichen.

Die Schreibweise ∫ b

af(x) dx

ist historisch begründet: Bevor man den Grenzwertbegriff explizit definiert hatte, stellte mansich das Integral immer als Summe über Rechtecksflächen mit Höhe f(x) und „unendlich klei-ner“ Breite dx vor. Das Integrationssymbol ist dann im Laufe der Zeit aus einem S für „Sum-me“ entstanden. Als nützlicher Nebeneffekt gibt das x in dx die Integrationsvariable an.

Bemerkung 7.2.2:

(a) Die Definition des (Riemann-)Integrals erlaubt auch negative Funktionen, also Funktionenf : [a, b] −→ R mit f(x) < 0 für x ∈ [a, b]. Die Konsequenz ist, dass das Integral einen „ori-entierten “ Flächeninhalt liefert, also Flächen unterhalb der x-Achse negativ gezählt werden.Möchten wir also den Flächeninhalt zwischen dem Graphen einer Funktion mit wechselndenVorzeichen und der x-Achse im Intervall [a, b] bestimmen, so müssen wir

A =

∫ b

a

∣∣f(x)∣∣ dx

berechnen.

(b) Man setzt ∫ a

af(x) dx = 0 und

∫ b

af(x) dx := −

∫ a

bf(x) dx.

Nach all diesen Vorbemerkungen ist es nun an der Zeit, ein Integral zu berechnen.

Beispiel 7.2.3: Gesucht ist die Fläche unter dem Graphen der Funktion

f : [0, 1] −→ R, x 7−→ x3,

das heißt (sofern es existiert) das Integral ∫ 1

0x3 dx.

Dazu müssen wir nach Definition zunächst die Ober- und Untersumme der Funktion f berechnenund auf Konvergenz untersuchen. Für n ∈ N zerlegen wir das Intervall [0, 1] in n gleich großeIntervalle

Ij =

[j − 1

n,j

n

], j = 1, 2, . . . , n.

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Daf(x) = x3 > x2 · y > x · y2 > y3 = f(y) für x > y > 0

ist f streng monoton wachsend und es gilt

infx∈Ij

f(x) = f

(j − 1

n

)=

(j − 1

n

)3

und supx∈Ij

f(x) = f

(j

n

)=

(j

n

)3

.

Es folgt

On(f) =b− an

n∑j=1

supx∈Ij

f(x) =1

n

n∑j=1

(j

n

)3

=1

n4

n∑j=1

j3

und mit Aufgabe vom Übungsblatt

On(f) =1

n4

n∑j=1

j3 =1

n4

(n(n+ 1)

2

)2

=n2 + 2n+ 1

4n2−→ 1

4für n→∞,

sowie analog für die Untersumme

Un(f) =1

n4

n∑j=1

(j − 1)3 =1

n4

(n(n− 1)

2

)2

=n2 − 2n+ 1

4n2−→ 1

4für n→∞.

Also ist f tatsächlich integrierbar und es gilt∫ 1

0x3 dx =

1

4.

Das Beispiel zeigt bereits deutlich, dass die Berechnung von Integralen nur mittels der Definitionmühsam, wenn nicht gar unmöglich ist. Wir müssen uns daher nach besseren Kriterien undBerechnungsmethoden für Integrale umsehen. Als elementares Hilfsmittel wird sich dabei derBegriff der Stammfunktion erweisen.

Definition 7.2.4 (Stammfunktionen): Sei f : [a, b] −→ R eine Funktion. Eine differenzierbareFunktion F : [a, b] −→ R heißt „Stammfunktion der Funktion f “, falls F ′(x) = f(x) für x ∈ [a, b].

Da Konstanten beim Differenzieren wegfallen, ist für c ∈ R mit F auch F +c eine Stammfunktionzu f . Folglich ist die Stammfunktionen F einer Funktion f nur bis auf Addition einer Konstanteneindeutig bestimmt.

Satz 7.2.5 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung): Sei f : [a, b] −→ R stetig. Dannist f integrierbar und besitzt eine Stammfunktion F : [a, b] −→ R. Ferner gilt:∫ b

af(x) dx = F (b)− F (a) =: F (x)

∣∣∣ba.

Beweis. Der Beweis übersteigt unsere Möglichkeiten und wir überlassen ihn daher der Mathematik-Vorlesung im ersten Semester.

Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung liefert uns also zumindest für stetige Funk-tionen f eine effizientere Methode um Integrale zu berechnen. Dazu müssen wir lediglich dieStammfunktion F der Funktion f berechnen, also im Wesentlichen den Prozess der Differentiati-on umkehren. Da wir die Ableitung einiger Funktionen bereits kennen, liefert uns die Ableitungs-tabelle aus Kapitel 7 bereits eine Liste einiger Stammfunktionen.

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Beispiel 7.2.6: Kehren wir zu unserem Beispiel 7.2.3 zurück. Die Funktion f : [0, 1] −→R, x 7−→ x3 ist stetig und somit auch integrierbar. Darüber hinaus ist

F : [0, 1] −→ R, x 7−→ 1

4x4

ist in (0, 1) differenzierbar mit F ′(x) = x3 und daher

A =

∫ 1

0

∣∣f(x)| dx =

∫ 1

0x3 dx =

1

4x4∣∣∣10

= F (1)− f(0) =1

4· 14 − 1

4· 04 =

1

4.

Definition 7.2.7 (Das unbestimmte Integral): Ist F : [a, b] −→ R eine Stammfunktion zu f :[a, b] −→ R, so schreiben wir

F (x) =

∫f(x) dx

und behalten ihre Uneindeutigkeit bezüglich der Addition von Konstanten stets im Hinterkopf.Wir nennen den Ausdruck auf der rechten Seite der Gleichung auch „unbestimmtes Integral“.

Satz 7.2.8: Die lange Liste bereits bekannter Ableitungen liefert:

(1) für n ∈ N und x ∈ R: ∫xn dx =

1

n+ 1xn+1,

(2) für x 6= 0: ∫1

xdx = log(|x|),

(3) für a ∈ (0,∞) mit a 6= 1 und x ∈ R:∫ax dx =

1

log(a)ax,

(4) für x ∈ R: ∫sin(x) dx = − cos(x) und

∫cos(x) dx = sin(x).

Beweis.

Zu (1): Die Funktion F : R −→ R definiert durch

F (x) =1

n+ 1xn+1

ist differenzierbar mit

F ′(x) =1

n+ 1· (n+ 1)xn+1−1 = xn.

Zu (2): Sei F : R \ 0 −→ R, x 7−→ log(|x|). Dann ist F differenzierbar mit

x > 0 : F ′(x) =(

log(|x|))′

=(

log(x))′

=1

x

x < 0 : F ′(x) =(

log(|x|))′

=(

log(−x))′

=1

−x· (−1) =

1

x.

101

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Zu (3): F : (0,∞) \ 1 −→ R definiert durch

F (x) =1

log(a)ax

ist differenzierbar mit

F ′(x) =1

ln(a)· ax · log(a) = ax.

Zu (4): F : (0,∞) \ 1 −→ R definiert durch

F (x) =1

log(a)ax

ist differenzierbar mit

F ′(x) =1

log(a)· ax · log(a) = ax.

Zu (5): F : R −→ R, x 7−→ sin(x) und G : R −→ R, x 7−→ − cos(x) sind differenzierbar mit

F ′(x) = cos(x) und G′(x) = −(− sin(x)

)= sin(x).

7.3 Integrationsregeln

Satz 7.3.1 (Linearität): Sind f, g : [a, b] −→ R stetig und λ ∈ R, so sind λ · f und f + gintegrierbar und es gilt: ∫ b

aλ · f(x) dx = λ ·

∫ b

af(x) dx,∫ b

af(x) + g(x) dx =

∫ b

af(x) dx+

∫ b

ag(x) dx.

Beispiel 7.3.2: Jede ganzrationale Funktion f : [a, b] −→ R mit

f(x) = anxn + an−1x

n−1 + . . .+ a2x2 + a1x+ a0 =

n∑j=1

ajxj , aj ∈ R

ist nach Kapitel ?? stetig und damit integrierbar. Für die Stammfunktion folgt aus der Linearitätdes Integrals∫

f(x) dx =

∫ n∑j=1

ajxj dx =

n∑j=1

∫ajx

j dx =

n∑j=1

aj

∫xj dx =

n∑j=1

ajj + 1

xj+1.

Satz 7.3.3 (Partielle Integration): Seien f, g : [a, b] −→ R stetig, F : [a, b] −→ R eine zugehörigeStammfunktion und g : [a, b] −→ R stetig differenzierbar. Dann ist f · g integrierbar und es gilt:∫ b

af(x) · g(x) dx = F (x) · g(x)

∣∣∣ba−∫ b

aF (x) · g′(x) dx.

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Beweis. Nach Voraussetzung ist F · g differenzierbar mit

(F · g)′(x) = F ′(x) · g(x) + F (x) · g(x)′ ⇐⇒ F (x) · g(x) = (F · g)′(x)− F (x) · g′(x).

Integration dieser Identität liefert:∫ b

af(x) · g(x) dx =

∫ b

a(F · g)′(x) dx−

∫ b

aF (x) · g′(x) dx

= F (x) · g(x)∣∣∣ba−∫ b

aF (x) · g′(x) dx.

Beispiel 7.3.4: Wir berechnen das Integral∫ π/2

0ex cos(x) dx.

Wählen wir dazu f = exp und g = cos, folgt∫ π/2

0ex cos(x) dx = ex cos(x)

∣∣∣π/20−∫ π/2

0ex(− sin(x)

)dx

= eπ/2 cos(π/2)− e0 cos(0) +

∫ π/2

0ex sin(x) dx

= −1 +

∫ π/2

0ex sin(x) dx.

Das Integral auf der rechten Seite ist allerdings nun nicht wesentlich einfacher, als das auf derlinken. Daher integrieren wir noch einmal partiell mit f = exp und g = sin:∫ π/2

0ex cos(x) dx = −1 +

∫ π/2

0ex sin(x) dx

= −1 +

[ex sin(x)

∣∣∣π/20−∫ π/2

0ex cos(x) dx

]

= −1 + eπ/2 sin(π/2)− e0 sin(0)−∫ π/2

0ex cos(x) dx

= eπ/2 − 1−∫ π/2

0ex cos(x) dx.

Das gesuchte Integral taucht also auf der rechten Seite wieder auf. Stellen wir nun die Gleichungum, ergibt sich für das gesuchte Integral

2

∫ π/2

0ex cos(x) dx = eπ/2 − 1 ⇐⇒

∫ π/2

0ex cos(x) dx =

eπ/2 − 1

2.

Satz 7.3.5 (Substitution): Ist f : [a, b] −→ R stetig und g : [c, d] −→ [a, b] bijektiv und differen-zierbar, so gilt ∫ b

af(g(x)

)· g′(x) dx =

∫ g(b)

g(a)f(t) dt.

Beweis. Sei F : [a, b] −→ R eine Stammfunktion von f . Dann folgt aus der Kettenregel

(F g)′(x) = (F ′ g)(x) · g′(x) = F ′(g(x)

)· g′(x) = f

(g(x)

)· g′(x)

103

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und daher∫ b

af(g(x)

)· g′(x) dx =

∫ b

a(F g)′(x) dx = F

(g(b)

)− F

(g(a)

)=

∫ g(b)

g(a)f(t) dt,

was zu zeigen war.

Beispiel 7.3.6: Gesucht ist der Wert des Integrals∫ 1

0

√1− x2 dx.

Dazu setzen wir

f : [0, 1] −→ R

x 7−→√

1− x2und

g :[0, π2

]−→ [0, 1]

x 7−→ sin(x)

und benutzen die Substitution von rechts nach links:∫ 1

0

√1− x2 dx =

∫ 1

0f(x) dx

=

∫ g−1(1)

g−1(0)f(g(t)

)· g′(t) dt

=

∫ arcsin(1)

arcsin(0)

√1−

(sin(t)

)2· cos(t) dt =

∫ π/2

0

(cos(t)

)2dt.

Nun folgt aus den Additionstheoremen für trigonometrische Funktionen

cos(2t) =(

cos(t))2−(

sin(t))2

=(

cos(t))2−[1−

(cos(t)

)2]= 2(

cos(t))2− 1,

also (cos(t)

)2=

1

2

(1 + cos(2t)

).

Folglich gilt: ∫ 1

0

√1− x2 dx =

∫ π/2

0

(cos(x)

)2dx

=1

2

∫ π/2

01 + cos(2t) dt =

1

2

(t− 1

2sin(2t)

)∣∣∣∣π/20

4.

Bemerkung 7.3.7: In der Praxis nutzt man die Substitutionsregel meistens in der „Physiker -Version“. Dabei ersetzt man im Integral einen komplizierten Ausdruck in x durch t. Dann berech-net man die Ableitung von t nach x und erinnert sich daran, dass man für die Ableitung t′ auchdx/dt schreiben kann. Die so entstehende Gleichung löst man formal nach dx auf und erhält soeine formale Regel zum Ersetzen von dx. Ein einfaches Beispiel soll das Vorgehen noch einmalverdeutlichen: Gesucht ist der Wert des Integrals∫ 1

0xex

2−2 dx.

Wir substituieren t = x2 − 2, bilden die Ableitung t′ und lösen formal nach dx auf

dt

dx= t′ = (x2 − 2)′ = 2x =⇒ dx =

1

2xdt.

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Dann ist ∫ 1

0xex

2−2 dx =

∫ t2

t1

xet · 1

2xdt =

1

2

∫ t2

t1

et dt.

und wir müssen nur noch die neuen Grenzen t1 und t2 bestimmen. Dazu setzen wir die altenGrenzen in den Term für t ein und folgern∫ 1

0xex

2−2 dx =1

2

∫ t2

t1

et dt =1

2

∫ 12−2

02−2et dt =

1

2

∫ −1−2

et dt =1

2· et∣∣∣−1−2

=1

2

(1

e− 1

e2

).

105

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Kapitel 8

Lineare Algebra und AnalytischeGeometrie

8.1 Lineare Gleichungssysteme

Hinter der Lösung vieler alltäglicher Probleme steckt im Kern die Suche nach der Lösung ei-nes linearen Gleichungssystems. Elektrische Netzwerke zum Beispiel gehören inzwischen zu denelementarsten Bausteinen der modernen Welt und sind eng mit der Lösbarkeit linearer Glei-chungssysteme verknüpft. Betrachten wir etwa das folgende einfache elektrische Netzwerk,

IA IB

IC

R1

R3

Uq

R1

I1 I1

I3

I3I2

I2

N H

Gegeben ist eine dreieckige Netzmasche mit den ohm-schen Widerständen

R1 = 1 Ω, R2 = 2 Ω, R3 = 5 Ω

und der Quellspannung Uq = 19V . Die in den Kno-tenpunkten A und C zufließenden Ströme betragen

IA = 2A und IC = 1A

Gesucht sind der im Knotenpunkt B abfließendeStrom IB und die Zweigströme I1, I2, und I3.

so folgt unter Beachtung des

• Kirchhoffschen Stromgesetzes: Die Summe der zufließenden Ströme in einem elektri-schen Knotenpunkt ist gleich der Summe der abfließenden Ströme.

• Kirchhoffschen Spannungsgesetzes: Alle Teilspannungen einer Schleife in einem elek-trischen Netzwerk addieren sich zu Null.

• Ohmschen Gesetzes: Die an einem elektrischen Leiter angelegte Spannung entspricht demhindurchfließenden elektrischen Strom multipliziert mit dem Widerstand des Leiters.

U = I ·R

für die gesamte Netzmache

IA + IC = IB und U1 − U2 − U3 = Uq

und für die beiden unabhängigen Knotenpunkte A und B

I1 + I3 = IA und I1 + I2 = IB.

106

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Mit dem ohmschen Gesetz erhalten wir daraus das lineare Gleichungssystem

I1 + I3 = IAI1 + I2 − IB = 0

IB = −IC − IAR1I1 −R2I2 −R3I3 = Uq

Natürlich sind viel allgemeinere Gleichungssysteme denkbar, die mehr Variablen und mehr Glei-chungen enthalten. Zudem können auch mehr Gleichungen als Unbekannte oder aber wenigerGleichungen als Unbekannte auftreten. Im folgenden geht es darum solche Gleichungssystememöglichst effektiv zu lösen.

Definition 8.1.1: Ein „lineares Gleichungssystem“ (LGS) mit m Gleichungen und n Unbekann-ten ist ein System von Gleichungen der Form

a11x1 + a12x2 + . . . + a1nxn = b1a21x1 + a22x2 + . . . + a2nxn = b2

......

. . ....

...am1x1 + am2x2 + . . . + amnxn = bm

(8.1)

wobei aij , bi ∈ R gegeben sind. Sind alle bi = 0, so heißt das lineare Gleichungssystem homogen,andernfalls inhomogen. Unter einer Lösung eines linearen Gleichungssystems verstehen wir einn-Tupel (x1, x2, . . . , xn) von Zahlen, die simultan alle Gleichungen in (8.1) erfüllen.

Betreffend die Lösungen eines solchen Gleichungssystems machen wir sofort die folgenden Beob-achtungen:

Proposition 8.1.2: Gegeben sei ein lineares Gleichungssystem. Dann gilt:

1. Ist dieses LGS homogen und sind (x1, x2 . . . , xn) und (y1, y2, . . . , yn) zwei Lösungen, so sindauch

(x1 + y1, x2 + y2, . . . , xn + yn) und (λ · x1, λ · x2, . . . , λ · xn), λ ∈ R beliebig

Lösungen des LGS.

2. Die Differenz zweier Lösungen des inhomogenen LGS löst das zugehörige homogene LGS.

Beweis. Seien zunächst (x1, x2 . . . , xn) und (y1, y2, . . . , yn) zwei Lösungen eines homogenen li-nearen Gleichungssystems mitm Gleichungen und n Unbekannten (vgl. (8.1)). Dann gilt für jedesi ∈ 1, 2, . . . ,m (also jede Zeile) und λ ∈ R beliebig

ai1x1 + ai2x2 + . . . ainxn = 0 bzw. ai1y1 + ai2y2 + . . . ainyn = 0.

Somit folgt

ai1(x1 + y1) + ai2(x2 + y2) + . . . ain(xn + yn)

= ai1x1 + ai1y1 + ai2x2 + ai2y2 + . . .+ ainxn + ainyn

=(ai1x1 + ai2x2 + . . . ainxn

)+(ai1y1 + ai2y2 + . . .+ ainyn

)= 0 + 0 = 0,

sowie

ai1(λ · x1) + ai2(λ · x2) + . . . ain(λ · xn)

= λ · ai1x1 + λ · ai2x2 + . . .+ λ · ainxn= λ ·

(ai1x1 + ai2x2 + . . . ainxn

)= λ · 0 = 0.

107

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Also sind auch (x1 + y1, x2 + y2, . . . , xn + yn) bzw. (λ · x1, λ · x2, . . . , λ · xn) Lösungen. Sindnun andererseits (x1, x2, . . . , xn) und (y1, y2, . . . , yn) Lösungen eines inhomogenen linearen Glei-chungssystems mit m Gleichungen und n Unbekannten, so gilt:

ai1x1 + ai2x2 + . . . ainxn = bi bzw. ai1y1 + ai2y2 + . . . ainyn = bi

und es folgt

ai1(x1 − y1) + ai2(x2 − y2) + . . . ain(xn − yn)

= ai1x1 − ai1y1 + ai2x2 − ai2y2 + . . .+ ainxn − ainyn=(ai1x1 + ai2x2 + . . . ainxn

)−(ai1y1 + ai2y2 + . . .+ ainyn

)= bi − bi = 0.

Also löst die Differenz (x1−y1, x2−y2, . . . , xn−yn) das zugehörige homogene lineare Gleichungs-system.

Nehmen wir nun an, das (x1, x2 . . . , xn) eine Lösung eines inhomogenen linearen Gleichungs-systems ist Die allgemeine Lösung eines inhomogenen LGS ergibt sich also aus der Summe derallgemeinen Lösung des zugehörigen homogenen LGS und einer speziellen Lösung des inhomoge-nen LGS.

Beispiel 8.1.3: Suchen wir etwa die Lösungen des linearen Gleichungssystems

3x1 + x2 + x3 = 1−x1 + 2x2 − x3 = 2

,

so können wir leicht nachrechnen, dass (0, 1, 0) eine spezielle Lösung des inhomogenen LGS ist.Betrachten wir nun das zugehörige homogene LGS

3x1 + x2 + x3 = 0−x1 + 2x2 − x3 = 0

stellen die zweite Gleichung nach x1 um

3x1 + x2 + x3 = 0+ x1 = 2x2 − x3

und setzen diese in die erste Gleichung ein, erhalten wir

3 · (2x2 − x3) + x2 + x3 = 0 ⇐⇒ 7x2 − 2x3 = 0 ⇐⇒ x3 =7

2x2.

Folglich gibt es keine eindeutige Lösung, da eine Variable unbestimmt bleibt. Setzen wir etwax2 = t ∈ R, so sind

x3 =7

2t und x1 = 2x2 − x3 = 2t− 7

2t = −1

2t

und somi jede Lösung des homogenen LGS gegeben durch:

(−0.5t, t, 3.5t), t ∈ R

Gemäß Proposition 8.1.2 ist die Lösungsmenge des inhomogenen LGS also gegeben durch

L =

(0, 1, 0) + (−0, 5t, t, 3.5t)∣∣ t ∈ R

=

(−0, 5t, 1 + t, 3.5t)∣∣ t ∈ R

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Das Beispiel zeigt bereits, dass wir lineare Gleichungssysteme durch sukzessives Auflösen nachxi und anschließendes Einsetzen lösen könen. Leider ist diese Methode jedoch sehr aufwendigund unübersichtlich, so dass wir an effektiveren Lösungsstrategien interessiert sind. die folgendezentrale Beobachtung spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Satz 8.1.4: Die Lösungsmenge eines linearen Gleichungssystems bleibt unter den folgenden Ope-rationen unverändert:

(1) Vertauschung von zwei Gleichungen

(2) Multiplikation einer Gleichung mit einer von Null verschiedenen Zahl.

(3) Addition einer Gleichung zu einer anderen.

Unser Ziel ist nun, mittels solcher Umformungen ein systematisches Lösungsschema für lineareGleichungssysteme abzuleiten. Dazu müssen wir uns jedoch zunächst um eine übersichtlichereNotation für lineare Gleichungssysteme kümmern. Dazu schauen wir uns das lineare Gleichungs-system

2x1 − 3x2 + x3 = 2−x2 + 2x3 = 1

−x1 + x2 + x3 = 4

einmal genauer an. Natürlich sind die Namen der Unbekannten in einem solchen System nichtentscheidend. Haben wir uns einmal auf eine bestimmte Reihenfolge der Unbekannten festgelegt,wird die Lösungsmenge dieses Systems durch die insgesamt 12 Zahlen vor den Unbekannten undhinter dem Gleichheitszeichen, also den Zahlen 2 −3 1 2

0 −1 2 1−1 1 1 4

bestimmt. Ein solches Zahlenschema nennen wir Matrix und diese spezielle Matrix nennen wirerweiterte Koeffizientenmatrix des linearen Gleichungssystems.

8.1.5 Matrizen zur Lösung linearer Gleichungssysteme

Eine m× n-Matrix A über R ist ein Zahlenschema der Form

A = (aij) :=

a11 a12 . . . a1na21 a22 . . . a2n...

......

am1 am2 . . . amn

mit aij ∈ R. Die Menge aller m×n-Matrizen über R bezeichnen wir mitM(m×n,R). Ist n = mso nennen wir die Matrix quadratisch.

Beispiel 8.1.6:

A =

(1 −20 −1

)∈M(2× 2,R), B =

1 −2−2 −1−1 0

∈M(3× 2,R)

Eine Matrix lässt sich natürlich auch über anderen Zahlenbereichen bilden. Zum Beispiel sind(1 00 −2

)∈M(2× 2,Z), und

(i −1 2 + i0 −1− 3i 1

)∈M(2× 3,C).

109

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Definition 8.1.7: Sind A = (aij), B = (bij) ∈ M(m × n,R) und C = (cij) ∈ M(n × r,R), sodefinieren wir die transponierte Matrix AT ∈M(n×m,R) durch:

AT = (aji) =

a11 a21 . . . am1

a12 a22 . . . am2...

... . . ....

a1n a2n . . . amn

,

die Summe A+B ∈M(m× n,R) zweier Matrizen durch:

A+B := (aij + bij) =

a11 + b11 . . . a1n + b1na21 + b21 . . . a2n + b2n

......

am1 + bm1 . . . amn + bmn

,

das Produkt λ ·A ∈M(m× n,R) einer Matrix mit einer Zahl λ ∈ R durch

λ ·A := (λ · aij) =

λ · a11 . . . λ · a1nλ · a21 . . . λ · a2n

......

λ · am1 . . . λ · amn

,

und das Produkt A · C ∈M(m× r,R) zweier Matrizen durch

A · C : =

n∑j=1

aijcjk

=

a11b11 + . . .+ a1nbn1 . . . a11b1r + . . .+ a1nbnra21b11 + . . .+ a2nbn1 . . . a21b1r + . . .+ a2nbnr

......

am1b11 + . . .+ amnbn1 . . . am1b1r + . . .+ amnbnr

.

Das Produkt ist also nur definiert, falls die erste Matrix so viele Spalten hat, wie die zweite MatrixZeilen. Das Element in der i-ten Zeile und j-ten Spalte des Produktes ist dann das Produkt deri-ten Zeile der ersten Matrix mit der j-ten Zeile der zweiten Matrix.

Beispiel 8.1.8: Gegeben seien die Matrizen

A =

(1 −22 0

), B =

(−1 20 1

)und C =

1 12 −20 1

Dann ist

A+B =

(1 + (−1) −2 + (−2)

2 + 0 0 + 1

)=

(0 −42 1

)und

A ·B =

(1 · (−1) + (−2) · 0 1 · 2 + (−2) · 1

2 · (−1) + 0 · 0 2 · 2 + 0 · 1

)=

(−1 0−2 4

),

sowie

C ·B =

1 · (−1) + 1 · 0 1 · 2 + 1 · 12 · (−1) + (−2) · 0 2 · 2 + (−2) · 1

0 · (−1) + 1 · 0 0 · 2 + 1 · 1

=

−1 3−2 20 1

,

aber A · C ist nicht definiert.

110

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Das Beispiel deutet bereits an, dass nicht alle unserer bekannten Rechenregeln auch für Matrizengelten. Es ist nämlich

B ·A =

(−1 · 1 + 2 · 2 −1 · (−2) + 2 · 00 · 1 + 1 · 2 0 · (−2) + 1 · 0

)=

(3 22 0

)und somit B ·A 6= A ·B.

Merke: Die Matrizenmultiplikation ist nicht kommutativ,d. h. im Allgemeinen ist

A ·B 6= B ·A

Satz 8.1.9: Für Matrizen gilt:

(1) Die Addition von Matrizen ist assoziativ und kommutativ, d. h. für A, B, C ∈M(m×n,R)gilt:

(A+B) + C = A+ (B + C) und A+B = B +A.

(2) Die Multiplikation von Matrizen ist assoziativ und distributiv, d. h. für A ∈ M(m × n,R),B ∈M(n× r,R) und C ∈M(r × s,R) gilt:

(A ·B) · C = A · (B · C),

sowie für A ∈M(m× n,R), B, C ∈M(n× r,R)

A · (B + C) = A ·B +A · C

und A, B ∈M(m× n,R) und C ∈M(n× r,R)

(A+B) · C = A · C +B · C.

(3) Die Skalarmultiplikation kommutiert mit der Matrizenmultiplikation, d. h. für A ∈M(m×n,R), B ∈M(n× r,R) und λ ∈ R gilt:

A · (λ ·B) = λ · (A ·B).

Beweis. Die Eigenschaften folgen direkt aus den entsprechenden Eigenschaften der reellen Zah-len und lassen sich einfach nachrechnen. Wir überlassen ihn daher dem interessierten Leser zurÜbung.

Ist nun ein lineares Gleichungssystem der Form

a11x1 + a12x2 + . . . + a1nxn = b1a21x1 + a22x2 + . . . + a2nxn = b2

......

. . ....

...am1x1 + am2x2 + . . . + amnxn = bm

gegeben, so entspricht die Lösungsmenge dieses Systems der Lösungsmenge der Matrizengleichung

A · x =

a11 a12 . . . a1na21 a22 . . . a2n...

......

am1 am2 . . . amn

·

x1x2...xn

=

b1b2...bn

= b,

111

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wobei A = (aij) die sogenannte Koeffizientenmatrix ist und b = (bi) die rechten Seiten sowiex = (xj) die Variablen zusammenfasst. Darüber hinaus nennt man

(A|b) :=

a11 a12 . . . a1n b1a21 a22 . . . a2n b2...

......

...am1 am2 . . . amn bm

die erweiterte Koeffizientenmatrix.

Das Ziel ist nun ein systematisches Verfahren, einen sogenannten Algorithmus zu entwickeln, umlineare Gleichungssystem möglichst einfach zu lösen. Zur Motivation betrachten wir das Glei-chungssystem

2x1 + x2 = 2−x2 + 2x3 = 0

x3 = 1⇐⇒

2 1 00 −1 20 0 1

· x1

x2x3

=

201

Wir sehen sofort, dass x3 = 1 und wir erhalten durch sukzessives Einsetzen:

x2 = 2x3 = 2 · 1 = 2 und x1 =1

2· (2− x2) =

1

2· (2− 2) = 0.

Es scheint also das ein LGS, in dem unter der Diagonalen nur Nullen auftreten besonders einfachzu lösen ist. Tatsächlich können wir aber jedes LGS in eine sogar noch günstigere Form bringen,in die sogenannte reduzierte Zeilenstufenform.

Satz 8.1.10: Die erweiterte Koeffizientenmatrix (A|b) eines lineare Gleichungssystem A · x = blässt sich mit den elementaren Umformungen aus Satz 8.1.4 auf die reduzierte Zeilenstufenform

1 0 0 . . . 0 a1k+1 . . . a1n b1

0 1 0 . . . 0 a2k+1 . . . a2n b2

0 0 1... a3k+1 . . . a3n b3

......

. . . 0...

......

0 0 . . . 0 1 a1k+1 . . . akn bk

0 . . . 0 . . . 0 0 . . . 0 bk+1

......

......

...0 . . . 0 . . . 0 0 . . . 0 bm

bringen. Die Zahl rk(A|b) := k heißt der Rang des linearen Gleichungssystems und ist unabhängigvon den verwendeten elementaren Umformungen.

Beweis. Der Beweis ist etwas aufwendiger und basiert im Wesentlichen auf der Anwendungdes weiter unten angegebenen Gauß-Algorithmus. Wir überlassen ihn daher der Mathematik-Vorlesung im ersten Semester.

Korollar 8.1.11: Ist die erweitere Koeffizientenmatrix des linearen Gleichungssystems A · x =b in reduzierter Zeilenstufenform und k = rk(A|b) < m und eines der bi 6= 0 für i ∈ k +1, . . . , n, so besitzt das Gleichungssystem keine Lösung. Andernfalls ist das LGS lösbar. Für jededer Gleichungen „0=“ können wir dann eine Unbekannte frei wählen, erhalten also unendlichviele Lösungen. Ist k = m = n, so besitzt das Gleichungssystem genau eine Lösung.

112

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Beispiel 8.1.12: Das lineare Gleichungssystem

x1 − 5x2 + 2x3 = −22x1 + x2 − 4x3 = 1

3x1 − 4x2 − 2x3 = 3

hat keine Lösung, denn nach Umschreiben in die erweiterte Koeffizientenmatrix und Anwendungder elementaren Zeilenumformungen aus 8.1.4 erhalten wir: 1 −5 2 −2

2 1 −4 13 −4 −2 3

(II)−2·(I)−−−−−−→(III)−3·(I)

1 −5 2 −20 11 −8 50 11 −8 9

−−−−−−→(III)−(II)

1 −5 2 −20 11 −8 50 0 0 4

Das lineare Gleichungssystem

x1 − 5x2 + 2x3 = −22x1 + x2 − 4x3 = 1

3x1 − 4x2 − 2x3 = −1

dagegen hat sogar unendlich viele Lösungen, da wir nach Umschreiben in die erweiterte Koeffizi-entenmatrix und Anwendung der elementaren Zeilenumformungen 1 −5 2 −2

2 1 −4 13 −4 −2 −1

(II)−2·(I)−−−−−−→(III)−3·(I)

1 −5 2 −20 11 −8 50 11 −8 5

−−−−−−→(III)−(II)

1 −5 2 −20 11 −8 50 0 0 0

erhalten. Daher dürfen wir eine Unbekannte frei wählen. Setzen wir etwa x3 = t, so folgt aus derzweiten Zeile:

11x2 − 8x3 = 5 ⇐⇒ 11x2 = 5 + 8t ⇐⇒ x2 =5

11+

8

11t.

Aus Zeile eins folgt dann:

x1 − 5x2 + 2x3 = −2 ⇐⇒ x1 = −2 + 5x2 − 2x3 = −2 + 5 ·(

5

11+

8

11

)t− 2t =

3

11+

18

11t.

Für jedes t ∈ R ist daher (3

11+

18

11t,

5

11+

8

11t, t

)eine Lösung des linearen Gleichungssystems.

Schließlich wollen wir mit dem sogenannten „Gauß-Algorithmus“ noch ein Verfahren angeben, mitdem jedes lineare Gleichungssystem der Form A ·x = b effektiv gelöst werden kann. Dazu wendenwir sukzessive die folgenden Schritte auf die Koeffizientenmatrix (A|b) an:

(1) Vertausche die Zeilen der Koeffizientenmatrix (A|b) bis das Element α oben links von Nullverschieden ist.

(2) Ziehe von allen Zeilen unterhalb der ersten das βi/α-fache der ersten Zeile ab, wobei βi daserste von Null verschiedene Element der i-ten Zeile ist.

(3) Ignoriere die erste Zeile und erste Spalte und wiederhole Schritt (1) - (2) auf den Rest derMatrix an.

Ist dieses Verfahren vollständig durchgeführt, sind die Elemente der unterhalb der Diagonalenalle Null. Nun führen wir analoge Schritte durch um die oberen Nullen zu erzeugen.

113

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Beispiel 8.1.13: Wir lösen das lineare Gleichungssystem

x1 − 2x2 + 3x3 = −12x1 + x2 − 4x3 = 3

3x1 + 2x2 − 5x3 = 7⇐⇒

1 −2 3 −12 1 −4 33 2 −5 7

Wie der Gauß-Algorithmus vorgibt erzeugen wir zunächst die Nullen in der ersten Spalte. 1 −2 3 −1

2 1 −4 33 2 −5 7

(II)−2·(I)−−−−−−→(III)−3·(I)

1 −2 3 −10 5 −10 50 8 −14 10

(II):5−−−−→(III):2

1 −2 3 −10 1 −2 10 4 −7 5

Nun ignorieren wir die erste Zeile und Spalte und erzeugen die Nullen in der zweiten Spalte. 1 −2 3 −1

0 1 −2 10 4 −7 5

(III)−4·(II)−−−−−−−→

1 −2 3 −10 1 −2 10 0 1 1

Jetzt erzeugen wir die Nullen über der Diagonalen und starten analog zu unserem bisherigenVorgehen in der dritten Spalte. 1 −2 3 −1

0 1 −2 10 0 1 1

(I)−3·(III)−−−−−−−→(II)+2·(III)

1 −2 0 −40 1 0 30 0 1 1

Schließlich konstruieren wir die Nullen in Spalte zwei und erhalten die reduzierte Zeilenstufenform 1 −2 0 −4

0 1 0 30 0 1 1

(I)+2·(II)−−−−−−→

1 0 0 20 1 0 30 0 1 1

.

Somit ist der Rang des linearen Gleichungssystems rk(A|b) = 3, das LGS also eindeutig lösbarund die Lösungsmenge

L = (2, 3, 1).

8.1.14 Determinanten und die Inverse Matrix

Der Gauß-Algorithmus ist nicht das einzige Verfahren um lineare Gleichungssysteme zu lösen.In dem Spezialfall, dass A ∈ M(n × n,R) eine quadratische Matrix ist können wir zur Lösungvon A · x = b auch versuchen die sogenannte inverse Matrix A−1 zu nutzen. Angenommen es istn = 1, dann ist A ∈ M(n × n,R) = R einfach eine Zahl und unser Gleichungssystem A · x = bwird zu einer linearen Gleichung mit Zahlen A, b und x. Wäre A 6= 0, so würden wir dann einfachdurch A teilen und bekämen:

A · x = b ⇐⇒ x =b

A= A−1 · b.

Die Idee der „inversen Matrix“ ist nun diese Rechnung auf quadratische Matrizen mit n > 1zu übertragen, also grob gesagt eine „Division“ für Matrizen einzuführen. Da es aber nun malGleichungssysteme mit unendlich vielen oder sogar gar keinen Lösungen gibt, können wir so eineDivision sicher nicht für jede Matirx A ∈M(m× n,R) definieren.

Definition 8.1.15: Eine quadratische Matrix A ∈ M(n × n,R) heißt invertierbar, falls es eineMatrix A−1 ∈M(n× n,R) gibt, so dass

A ·A−1 = A−1 ·A = En

114

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gilt. Dabei ist

En =

1 0 0 . . . 00 1 0 . . . 0

0 0. . . 0

......

. . . 00 0 . . . 0 1

∈M(n× n,R)

die sogenannte „n-dimensionale Einheitsmatrix“. Die Matrix A−1 nennen wir, sofern sie existiert,die zu A inverse Matrix.

Um die zu A inverse Matrix A−1 zu berechnen, müssen wir also die Matrizengleichung A ·X = Enin der Unbekannten X lösen. Setzen wir X = (xj) und En = (ej), wobei xj bzw. ej die j-te Spaltevon X bzw. En bezeichnen, müssen wir also die n linearen Gleichungssysteme:

A · x1 = e1, A · x2 = e2, A · x3 = e3, . . . , A · xn = en

lösen. Anstatt jedes dieser Gleichungssysteme einzeln zu lösen, tun wir dies simultan und überfüh-ren das Matrizenpaar (A|En) durch elementare Zeilenumformungen in (En| ∗ ). Dann ist X = ∗ .

Beispiel 8.1.16: Gesucht wird die zu

A =

−1 3 22 −1 13 −2 3

inverse Matrix. Wie bereits beschrieben, überführen wir dazu das Matrizenpaar (A|E3) durchelementare Zeilenumformungen in (E3| ∗ ). Dann ist A−1 = ∗ . −1 3 2 0 1 0

2 −1 1 1 0 03 −2 3 0 0 1

(III)+3·(I)−−−−−−−→(II)+2·(I)

−1 3 2 0 1 00 5 5 1 2 00 7 9 0 3 1

15·(II)

−−−−−−−→(III)− 7

5·(II)

−1 3 2 0 1 00 1 1 1/5 2/5 00 0 2 −7/5 1/5 1

(I)−(III)−−−−−−−→

(II)− 12·(III)

−1 3 0 7/5 4/5 −10 1 0 9/10 3/10 −1/20 0 2 −7/5 1/5 1

(I)−3·(II)−−−−−−−→1/2·(III)

−1 0 0 −13/10 −1/10 1/20 1 0 9/10 3/10 −1/20 0 1 −7/10 1/10 1/2

(−1)·(I)−−−−−−−−→

1 0 0 13/10 1/10 −1/20 1 0 9/10 3/10 −1/20 0 1 −7/10 1/10 1/2

Somit ist

A−1 =1

10·

13 1 −59 3 −5−7 1 5

.

Ist nun A ·x = b ein lineares Gleichungssystem und A ∈M(n×n,R) invertierbar, so können wirdie Lösung durch Multiplikation mit der inversen Matrix berechnen. Es ist

A · x = b ⇐⇒ A−1 ·A · x = A−1 · b ⇐⇒ En · x = A−1 · b ⇐⇒ x = A−1 · b.

115

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Beispiel 8.1.17: Gesucht ist die Lösung des linearen Gleichungssystems

−x1 + 3x2 + 2x3 = −102x1 − x2 + 1x3 = 10

3x1 − 2x2 + 3x3 = −20⇐⇒

−1 3 22 −1 13 −2 3

· x1

x2x3

=

−1010−20

.

Mit dem Ergebnis aus Beispiel 8.1.16 erhalten wir: x1x2x3

=1

10·

13 1 −59 3 −5−7 1 5

· −10

10−20

=

−24−2

und somit:

L = (−2, 4,−2)

Bei unseren bisherigen Überlegung haben wir allerdings noch so gut wie keinen Gedanken daraufverschwendet, wie wir herausfinden können ob eine gegebene quadratische Matrix überhauptinvertierbar ist. Eine schnelle und einfache Antwort liefert die Determinante.

Definition 8.1.18: Sei A = (aij) ∈M(n× n,R) eine gegebene Matrix. Dann definieren wir dieDeterminante det(A) der Matrix induktiv durch

• n = 1 :det(A) = det(a11) = a11.

• n = 2 :

det(A) = det

(a11 a12a21 a22

)= a11 · a22 − a21 · a12.

• n ≥ 3 :

det(A) =n∑j=1

(−1)i+jaij det(Aij), i ∈ 1, . . . , n beliebig

=

n∑i=1

(−1)i+jaij det(Aij), j ∈ 1, . . . , n beliebig

wobei Aij die Matrix ist, die durch Streichen der i-ten Zeile und j-ten Spalte von A entsteht.

Beispiel 8.1.19: Gegeben seien die Matrizen

A =

(2 −13 2

)und B =

2 1 −10 −2 23 1 5

.

Dann ist gemäß Definition 8.1.18 die Determinante von A leicht zu berechnen:

det(A) = 2 · 2− 3 · (−1) = 7.

Für die Determinante der Matrix B müssen wir dagegen schon etwas mehr leisten. Zunächstwählen wir eine Zeile i oder Spalte j entlang der wir die Determinante entwickeln wollen. Sagenwir zum Beispiel: j = 2. Dann gilt also nach obiger Definition:

det(B) =3∑i=1

(−1)i+2bi2 det(Bi2)

= −b12 det(A12) + b22 det(B22)− b32 det(B32)

116

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= −b12 · det

(0 23 5

)+ b22 · det

(2 −13 5

)− b32 · det

(2 −10 2

)= −1 · (0 · 5− 3 · 2)− 2 · (2 · 5− 3 · (−1))− 1 · (2 · 2− 0 · (−1) = −24

Satz 8.1.20: Die Determinante erfüllt die folgenden Rechenregeln:

(1) Vertauschen wir zwei Zeilen der Matrix, ändert die Determinante ihr Vorzeichen.

(2) A ∈M(n× n,R) ist genau dann invertierbar, wenn det(A) 6= 0.

(3) Sind A ∈M(n×m,R) und B ∈M(m× n,R), so ist

det(A ·B) = det(A) · det(B).

(4) Ist A eine quadratische Matrix, die unterhalb der Diagonalen nur Nullen enthält, so istdet(A) das Produkt der Diagonalelemente.

Beweis.

Beispiel 8.1.21: Invertierbar - Ja oder nein?

Zum Abschluß lernen wir noch eine dritte Methode zur Lösung linearer Gleichungssysteme ken-nen; die Cramersche Regel.

Satz 8.1.22: Ist A ∈ M(n × n,R) invertierbar, so gilt für die Lösung x = (x1, x2, . . . , xn) vonA · x = b:

xi =det(Ai)

det(A),

wobei Ai diejenige Matrix ist, die entsteht, wenn man die i-te Spalte von A durch b ersetzt.Beweis.

Beispiel 8.1.23:

Im Allgemeinen ist der Rechenaufwand für den Gauß-Algorithmus aber viel geringer als für dieCramersche Regel.

8.2 Vektoren und Vektorräume

In den Naturwissenschaften begegnen uns Größen, die durch Angabe eines reellen Wertes ein-deutig bestimmt sind. Beispiele dafür sind Durchmesser, Gewichte, Frequenzen, Konzentrationenoder die Temperatur. Solche Größen nennt man Skalare. Für andere Größen aber wie die Kraftoder Geschwindigkeit ist zusätzlich zur Angabe des Wertes die Angabe einer Richtung, in der siewirken erforderlich. Solche Größen nennt man Vektoren. Aber auch geometrische Sachverhaltelassen sich durch Vektoren beschreiben.Aus Sicht der Mathematik ist diese Charakterisierung allerdings eher unzureichend, da Begriffewie „Richtung“ oder “Wirkung„ ungenau und nicht präzise definiert sind. Daher erklären Mathe-matiker auch nicht den Begriff des „Vektors“selbst, sondern den Begriff der „Vektoräume“.

Definition 8.2.1: Ein (reeller) Vektorraum V ist ein Tripel (V,+, ·) bestehend aus einer MengeV , einer Addition

+ : V × V −→ V, (v, w) 7−→ v + w

117

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und einer skalaren Multiplikation

· : R× V −→ V (λ,w) 7−→ λw,

für die folgende Eigenschaften gelten:

(V 1) Für alle v ∈ V ist 1 · v = v.

(V 2) Es gibt ein Element 0 ∈ V so dass für alle v ∈ V v + 0 = 0 + v = v.

(V 3) Zu jedem v ∈ V gibt es ein −v ∈ V mit v + (−v) = 0.

(V 4) Kommutativgesetz: Für alle v, w ∈ V ist:

v + w = w + v.

(V 5) Assoziativgesetze: Für alle u, v, w ∈ V und λ, µ ∈ R gilt:

u+ (v + w) = (u+ v) + w,

λ · (µ · v) = (λ · µ) · v.

(V 6) Distributivgesetze: Für alle u, v ∈ V und λ, µ ∈ R ist

λ · (v + w) = λ · v + λ · w,(λ+ µ) · v = λ · v + µ · v.

Ein Vektor v ist aus mathematischer Sicht nun einfach ein Element v eines Vektorraums V .Somit ist er ein viel allgemeineres Objekt als es die Beschreibung „gerichtete Größe“, die in denNaturwissenschaften und auch im Ingenieurjargon üblich ist, vermuten lässt. Definieren wir etwadie Addition bzw. skalare Multiplikation zweier Funktionen f und g durch

(f + g)(x) := f(x) + g(x) bzw (λ · f)(x) := λ · f(x)

so ist auch der Raum aller Funktionen F := f | f ist eine Funktion zusammen mit dieser Addi-tion und Multiplikation ein Vektorraum und somit jede Funktion ein Vektor. Für eine Funktionf macht es allerdings keinen Sinn von einer „Richtung“ zu sprechen.

Dennoch ist die Beschreibung der Vektoren als Größe, deren Wert sowohl durch eine Zahl, alsauch eine Richtung festgelegt wird, nicht vollkommen falsch. Vielmehr bezieht sich diese natur-wissenschaftliche Beschreibung von Vektoren auf einen speziellen Vektorraum; den R3.

8.3 Der Vektorraum Rn

Für n ≥ 2 verstehen wir unter dem Rn die Menge aller reellen n-Tupel, d. h. die Menge

Rn :=

~x =

x1x2...xn

∣∣∣∣∣∣∣∣∣ xi ∈ R für i = 1, . . . , n

.

Zusammen mit der durch

~x+ ~y =

x1x2...xn

+

y1y2...yn

:=

x1 + y1x2 + y2

...xn + yn

und λ · ~x = λ ·

x1x2...xn

:=

λ · x1λ · x2

...λ · xn

118

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definierten Addition und und skalaren Multiplikation wird Rn zu einem Vektorraum. Der Spezial-fall n = 3 ist dabei von besonderer Bedeutung, da die Natur- und Ingenieurwissenschaften den R3

als mathematisches Modell für den uns vertrauten dreidimensionalen Anschauungsraum verwen-den1. Im Zuge dieser Interpretation werden Vektoren des R3 geometrisch auf zwei verschiedeneArten aufgefasst:

• als “Ortsvektor“, der die Lage von Punkten im Raum gegenüber einem festgelegten Koor-dinatenursprung O festlegt.

x1

x2

O

~a als Ortsvektor zum Punkt A

C

B

~b als Verschiebung−−→BC A

• als „Verschiebung“, die die Lage eines Punktes gegenüber eines anderen Punktes charakteri-siert. Sind etwa A und B zwei Punkte im Raum, so nennen wir den Vektor der von A nachB zeigt

−−→AB und den Vektor, der von B nach A zeigt

−−→BA.

In diesem Sinne entspricht dann die skalare Multiplikation eines Vektors ~a mit einer Zahl λeiner Streckung bzw. einer Stauchung von ~a um diesen Faktor λ. Ist λ negativ, so kehrt sichzusätzlich die Richtung des Vektors um, d. h. der Vektor −~a = −1 · ~a zeigt also genau in die zu~a entgegengesetzte Richtung.

~a−~a ~a

~a

2 · ~a~a

~a

~a

3 · ~a

~b

0.75 ·~b ~b

− 0.5 ·~b

Abb. 8.1: Skalare Multiplikation von Vektoren im Rn.

Die Addition zweier Vektoren ~a und ~b entspricht geometrisch dem Aneinanderhängen der Pfeileund die Subtraktion ~a−~b wird einfach als Addition der Vektoren ~a und −~b aufgefasst.An dieser Stelle sollten wir noch einmal daran erinnern, dass nach Definition eines Vektorraumsdie Vektoren im Rn die üblichen von den reellen Zahlen bekannten Rechengesetze erfüllen, d. h.:Für ~a, ~b, ~c ∈ Rn und λ, µ ∈ R gelten

• das Kommutativgesetz:~a+~b = ~b+ ~a,

• das Assoziativgesetz:~a+

(~b+ ~c

)=(~a+~b

)+ ~c,

1Aus streng mathematischer Sicht ist dieses Modell allerdings falsch. Genau genommen entspricht unser drei-dimensionaler Anschauungsraum einem sogennanten „affinen“ Raum.

119

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x1−4 −2 2 4 6 8

x2

−6

−4

−2

2

4

6

~a

~b

~b

~a+~b

(24

)+

(62

)=

(85

)

(a) Addition zweier Vektoren im R2

x1−4 −2 2 4 6 8

x2

−6

−4

−2

2

4

6

~a

~b

~b~a−~b

(55

)−(

82

)=

(−33

)

(b) Subtraktion zweier Vektoren im R2

• und das Distributivgesetz:

(λ+ µ) · ~a = λ · ~a+ µ ·~b, bzw. λ ·(~a+~b ) = λ · ~a+ λ ·~b.

Definition 8.3.1: Für einen Vektor ~v ∈ Rn definieren wir seinen „Betrag“ ‖~v ‖ durch

‖~v ‖ =

∥∥∥∥

v1v2...vn

∥∥∥∥ :=

√√√√ n∑i=1

v2i =√v21 + v22 + v23 + . . .+ v2n

Mit dem Satz des Pythagoras sieht man sehr leicht, dass der Betrag eines Vektors im R2 oder R3

gerade seiner „Länge“ entspricht.

x1

x2

~v

v1

v2

x2

x3

x1

~v

v2

v1

v3

c 2=v 21 + v 2

2

Abb. 8.2: Der Betrag entspricht geometrisch der Länge des Vektors (Satz des Pythagoras).

Bisher können wir Vektoren lediglich mit Zahlen multiplizieren. Aber auch die Multiplikation vonVektoren untereinander ist möglich.

120

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Definition 8.3.2: Für ~a, ~b ∈ Rn definieren wir ihr „Skalarprodukt“ ~a ·~b durch

〈~a ,~b 〉 =⟨

a1a2...an

,

b1b2...bn

⟩ :=

n∑i=1

aibi = a1b1 + a2b2 + . . .+ an · bn.

Das Skalarprodukt liefert als Ergebnis also keinen Vektor, sondern (daher der Name) eine Zahl.

Beispiel 8.3.3: ⟨ 21−2

,

−123

⟩ = 2 · (−1) + 1 · 2 + (−2) · 3 = −6

Auch für das Skalarprodukt gelten ein paar nützliche Rechenregeln:

Satz 8.3.4: Für ~a, ~b, ~c ∈ Rn und λ ∈ R gelten

(i) 〈~a ,~b 〉 = 〈~b ,~a 〉, (ii) 〈~a ,~b+ ~c 〉 = 〈~a ,~b 〉+ 〈~a ,~c 〉, (iii) 〈λ~a ,~b 〉 = λ〈~a ,~b 〉.

Beweis. Für den Beweis dieser drei Beziehungen reicht es die entsprechenden Gleichungen gemäßder Definition des Skalarproduktes nachzurechnen und wir überlassen ihn daher dem Leser.

In dem Spezialfall, dass n = 2 oder n = 3 ist, können wir das Skalarprodukt auch geometrischinterpretieren. Ist nämlich α der Winkel zwischen zwei Vektoren ~a 6= ~0 und ~b 6= ~0, so gilt sofort0 ≤ α ≤ π und

〈~a ,~b 〉 = ‖~a ‖ · ‖~b ‖ · cos(α).

x1

x2

~a

~b

‖~b ‖ cos(α)

(a) Projektion von ~b in Richtung von ~a.

x1

x2

~a

‖~a‖ c

os(α

)

~b

(b) Projektion von ~a in Richtung von ~b

Abb. 8.3: Ist ‖~a ‖ = 1, so entspricht 〈~a ,~b 〉 der „Länge des senkrechten Schattens von ~b auf ~a“.

Tatsächlich definieren wir, motiviert durch diese Interpretation, auch für Vektoren ~a, ~b ∈ Rn mitn > 3 den Winkel α zwischen diesen Vektoren durch

α := arccos

(〈~a ,~b 〉‖~a ‖ · ‖~b ‖

)∈ [0, π).

Vektoren für die 〈~a ,~b 〉 = 0 gilt, stehen also anschaulich gesprochen „senkrecht“ aufeinander.Solche Vektoren nennen wir „orthogonal“.

121

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Beispiel 8.3.5: Gegeben sei das Dreieck ∆ABC mit

A = (2/− 3/4), B = (−1/1/4) und C = (4/− 1/3).

Dann erhalten wir für die Seitenlängen

a = ‖−−→BC ‖ =

∥∥∥∥ 4−13

− −1

14

∥∥∥∥ =

∥∥∥∥ 5−2−1

∥∥∥∥ =√

52 + (−2)2 + (−1)2 =√

30

b = ‖−→CA ‖ =

∥∥∥∥ 2−34

− 4−13

∥∥∥∥ =

∥∥∥∥ −2−21

∥∥∥∥ =√

(−2)2 + (−2)2 + 12 = 3

c = ‖−−→AB ‖ =

∥∥∥∥ −1

14

− 2−34

∥∥∥∥ =

∥∥∥∥ −3

40

∥∥∥∥ =√

(−3)2 + 42 + 02 = 5

und die Innenwinkel

α = arccos

(〈−−→AB ,

−→AC 〉

‖−−→AB ‖ · ‖

−→AC ‖

)= arccos

((−3) · 2 + 4 · 2 + 0 · (−1)

5 · 3

)≈ 0, 457π ≈ 82, 3,

β = arccos

(〈−−→BA ,

−−→BC 〉

‖−−→BA ‖ · ‖

−−→BC ‖

)= arccos

(3 · 5 + (−4) · (−2) + 0 · (−1)

5 ·√

30

)≈ 0, 183π = 32, 9,

γ = arccos

(〈−→CA ,

−−→CB 〉

‖−→CA ‖ · ‖

−−→CB ‖

)= arccos

((−2) · (−5) + (−2) · 2 + 1 · 1

3 ·√

30

)≈ 0, 36π ≈ 64, 8.

Im R3 führen wir zusätzlich zur Skalarmultiplikation noch eine weitere Art der Multiplikationzwischen Vektoren ein; das sogenannte „Vektorprodukt“.

Definition 8.3.6: Für ~a, ~b ∈ R3 definieren wir das „Vektorprodukt“ oder auch „Kreuzprodukt“durch

~a×~b =

a1a2a3

× b1

b2b3

=

a2b3 − a3b2a3b1 − a1b3a1b2 − a2b1

Beispiel 8.3.7:

Das Kreuzprodukt zweier Vektoren liefert also einen neuen, dritten Vektor. Dieser Vektor hatwichtige geometrische Eigenschaften. Für zwei Vektoren ~a, ~b ∈ Rn \ 0 ist nämlich

• der Vektor ~a×~b stets orthogonal zu ~a und zu ~b. Skizze

• der Betrag des Vektors ~a × ~b gleich dem Flächeninhalt des von ~a und ~b aufgespanntenParallelogramms, d. h.

‖ ~u× ~v ‖ = ‖ ~u ‖ · ‖~v ‖ · sin(]( ~u , ~v )

)Skizze

Zudem bilden die Vektoren u, v, u × v ∈ R3 (in dieser Reihenfolge) ein Rechtssystem, das heißtsie stehen so zueinander wie Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand.

Satz 8.3.8: Das Kreuzprodukt ist:

122

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(a) distributiv, d. h. für ~u, ~v, ~w ∈ R3 und λ ∈ R gilt:

~u×(~v + ~w

)= ~u× ~v + ~u× ~w,

(~u+ ~v

)× ~w = ~u× ~w + ~v × ~w,(

λ · ~u)× ~v = λ ·

(~u× ~v

)= u×

(λ · ~v

).

(b) antisymmetrisch, d. h. für ~u, ~v ∈ R3 gilt:

~u× ~v = −~v × ~u.

(c) nicht assoziativ, erfüllt aber die Grassmann-Identität

~u×(~v × ~w

)= 〈 ~u , ~w 〉 · ~v − 〈 ~u , ~v 〉 · ~w

sowie die Jacobi-Identität

~u×(~v × ~w

)+ ~v ×

(~q × ~u

)+ ~q ×

(~u× ~v

)= 0.

Beweis.

8.4 Lineare Unabhängigkeit und Basen

Sind ~v1, ~v2, . . . , ~vm beliebige Vektoren aus dem Rn, so nennen wir einen Ausdruck der Formm∑i=1

λi · ~vi = λ1 · ~v1 + λ2 · ~v2 + . . .+ λm · ~vm mit λ1, λ2, . . . , λm ∈ R

eine „Linearkombination“ der Vektoren ~v1, ~v2, . . . , ~vm und bezeichnen die Menge aller Linearkom-binationen dieser Vektoren

span(~v1, ~v2, . . . , ~vm ) =

m∑i=1

λi · ~vi |λ1, λ2, . . . , λm ∈ R

als die „lineare Hülle“ der Vektoren ~v1, ~v2, . . . , ~vm.

Beispiel 8.4.1:

Definition 8.4.2: ~v1, ~v2, . . . , ~vm ∈ Rn heißen „linear abhängig“, falls sich mindestens ein ~vi alsLinearkombination der übrigen Vektoren darstellen lässt, also Zahlen λ1, λ2, . . . , λm ∈ R existierenmit

λ1 · ~v1 + λ2 · ~v2 + . . .+ λm · ~vm =n∑i=1

λi · ~vi = 0

und mindestens einem λi 6= 0. Andernfalls nennen wir sie linear unabhängig“. Allgemeiner nen-nen wir eine Menge M von Vektoren als linear unabhängig wenn jede endliche Teilmenge von Maus linear unabhängigen Vektoren besteht.

Skizze!Linear abhängige Vektoren sind anschaulich gesprochen Vektoren, die sich durch geeigneteStreckungen zu einem geschlossenen Vektorzug zusammensetzen lassen.

Beispiel 8.4.3: =-Vektor

Definition 8.4.4: Sei V ein Vektorraum und B := ~v1, ~v2, . . . , ~vn ⊂ V . Dann heißt B „Er-zeugendensystem“ von V , falls

V = span(~v1, ~v2, . . . , ~vn ).

Ist B zusätzlich linear unabhängig, so nennen wir B eine „Basis“ von V. Die Anzahl n derBasiselemente ist immer gleich und heißt „Dimension“ von V .

123

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Aus den Eigenschaften einer Basis ergibt sich sofort, dass jeder Vektor ~v ∈ V eindeutig alsLinearkombination der Vektoren ~v1, ~v2, . . . , ~vn in der Basis dargestellt werden kann. Anschaulichentspricht daher die Wahl einer Basis der Wahl eines Koordinatensystems und die Vektoreninnerhalb der Basis geben die Richtung des Koordinatenachsen vor.

Satz 8.4.5: Sei V ein Vektorraum und ~v1, ~v2, . . . , ~vn ∈ V . Dann sind äquivalent:

(1) ~v1, ~v2, . . . , ~vn ist ein minimales Erzeugendensystem, d. h. fehlt einer der Vektoren, soerzeugen die restlichen V nicht.

(2) ~v1, ~v2, . . . , ~vn ist eine Basis.

(3) ~v1, ~v2, . . . , ~vn ist maximal linear unabhängig, d. h., nimmt man einen weiteren Vektorw ∈ V hinzu, so sind ~v1, ~v2, . . . , ~vn, w linear abhängig.

Beweis. Wir benutzen einen sogenannten Ringschluß, d. h. wir zeigen:

(1) =⇒ (2) =⇒ (3) =⇒ (1).

Beispiel 8.4.6:

8.5 Geraden und Ebenen im R3

Geraden treten sowohl im R2 als auch im R3 auf und ihr Konzept lässt sich problemlos auf denallgemeinen Fall des Rn übertragen. Geometrisch gesehen ist eine Gerade eine (unendlich lange)gerade Linie durch den Raum, während sie aus algebraischer Sicht einer besonderen Punktmengemit unendlich vielen Elementen entspricht.

Definition 8.5.1: Eine Gerade g in Rn ist ein eindimensionaler affiner Unterraum des Rn, dasheißt es ist:

g := ~v + span( ~w ) =~v + t · ~w

∣∣ t ∈ R

für Vektoren ~v ∈ Rn, ~w ∈ Rn \ 0. Wir nennen ~v den Stützvektor und ~w den Richtungsvektorvon g.

Diese sogenannte Punkt-Richtungs-Form einer Geraden kann man sich wie eine Wegbeschreibungvorstellen. Der Stützvektor ~v gibt als Ortsvektor an, wie wir vom Koordinatenursprung auf dieGerade g gelangen und der Richtungsvektor ~w gibt die Richtung vor, in die wir laufen dürfen,wenn wir nicht wieder von der Geraden herunterfallen wollen.

Beispiel 8.5.2: Gerade im R2 und im R3 mit Skizze.

Mit den bereits vorgestellten Werkzeugen können wir zudem auch die gegenseitige Lage zweierGeraden untersuchen und genauer charakterisieren.

Beispiel 8.5.3: Abstand und Winkel

Auch das Konzept einer Ebene als geometrisch gesehen (unendlich weite) Fläche lässt sich aufden Raum Rn verallgemeinern.

Definition 8.5.4: Eine Ebene E ist ein zweidimensionaler affiner Unterraum des Rn, das heißtes gibt ~u ∈ Rn beliebig und ~v, ~w ∈ R3 linear unabhängig, so dass

E = ~u+ span(~v, ~w ) =~u+ s · ~v + t · ~w

∣∣ s, t ∈ R.

~u heißt Stützvektor, ~v, ~w heißen Richtungsvektoren von E.

124

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Skizze

Beispiel 8.5.5:

Neben der Punkt-Richtungs-Form oder auch Normalform einer Ebene aus Definition 8.5.4, könnenwir Ebenen auch in der sogenannten Normalform darstellen.

Satz 8.5.6: Jede Ebene im Rn lässt sich eindeutig durch

E =~x ∈ Rn

∣∣ 〈~n , ~x− ~v 〉 = 0

mit ~n 6= 0 und ihrem Stützvektor ~v charakterisieren. Wir nennen ~n den Normalenvektor derEbene.

Skizze

Beweis. machen

Beispiel 8.5.7: Winkel zw. Ebene und Ebene, Winkel zwischen Gerade und Ebene.

125