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Form zu, solange es nicht als Arzneimittel zugelassen ist. Denn es handelt sich um ein Funktionsarzneimittel. 1. Im Streitfall ist abzugrenzen, ob das Produkt als Arz- neimittel oder als kosmetisches Produkt einzustufen ist. Zu den kosmetischen Mitteln gehören nach der Richtlinie 76/768/EWG (in der durch die Richtlinie 2005/42/EG geänderten Fassung) Stoffe und Zubereitungen, die dazu bestimmt sind, mit den Zähnen und den Schleimhäuten der Mundhöhle in Berührung zu kommen, um sie zu reinigen und/oder zu schützen oder in gutem Zustand zu halten. Für die Einordnung eines Produkts als Funktionsarznei- mittel i. S. von § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG, der im Lichte von Art. 1 Nr. 2 lit. b der Richtlinie 2001/83/EG (in der durch die Richtlinie 2004/27/EG geänderten Fassung) ausgelegt werden muss, ist hingegen maßgeblich, ob es am menschli- chen Körper angewendet werden kann, um die physiologi- schen Funktionen durch eine pharmakologische, immuno- logische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. 2. Eine immunologische oder metabolische Wirkung kommt im Falle von Chlorhexidin nicht in Betracht. Inso- weit kann auf den Senatsbeschluss v. 14. 6. 2011 verwiesen werden (GRUR-RR 2011, 383). Eine pharmakologische Wirkung ist hingegen auf Grundlage der Vorgaben des EuGH und des darauf bezogenen weiteren (unstreitigen) Sachvortrags der Parteien zu bejahen. a) Für die Auslegung des Begriffs der pharmakologischen Wirkung kann die Leitlinie der Kommission zur Abgren- zung der Kosmetikrichtlinie von der Arzneimittelricht- linie („Guidance Document an the demarcation between the Cosmetic Products Directive 76/768 and the Medicinal Products Directive 2001/83 as agreed between the Com- mission Services and the competent authorities of Member States“) berücksichtigt werden (EuGH, Urt. v. 6. 9. 2012 – C-308/11 –, Tz. 25, 26). Auf die Leitlinien der Kommission zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Medizinproduk- ten („Medical Devices: Guidance document“) kommt es hingegen nach Ansicht des EuGH nicht an. Die Leitlinien zur Abgrenzung der Kosmetikrichtlinie von der Arznei- mittelrichtlinie gehören zwar nicht zu den Rechtsakten der Union und sind deshalb nicht rechtlich bindend. Das nationale Gericht kann ihnen jedoch Anhaltspunkte ent- nehmen. Es muss allerdings selbst überprüfen, ob die ihnen entnommene Auslegung im Einklang mit der Richtlinie steht, die anhand der Kriterien zur Auslegung der Rechts- akte der Union zu interpretieren ist. b) Eine pharmakologische Wirkung setzt nach der Leit- linie eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen der in- frage stehenden Substanz und einem zellulären Bestandteil, gewöhnlich als Rezeptor bezeichnet, voraus, die entweder in einer direkten Reaktion resultiert oder die Reaktion ei- nes anderen Agens blockiert. Mit „zellulärem Bestandteil“ ist nicht notwendig ein zellulärer Bestandteil des Menschen gemeint. Vielmehr kann die Wechselwirkung mit anderen im Organismus des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteilen wie Bakterien, Viren oder Parasiten genü- gen. Diese Auslegung steht im Einklang mit der Richtlinie (EuGH, a. a. O., Tz. 29, 31). c) Im Streitfall ist eine Wechselwirkung des Wirkstoffs Chlorhexidin mit Gingivitis auslösenden Bakterien in der Mundhöhle gegeben. Eine pharmakologische Eigenschaft liegt damit vor. Entgegen der Ansicht der Bekl. fehlt es auch nicht an einer „direkten Reaktion“, weil der Körper von der Unschädlichmachung der Bakterien zunächst un- beeinflusst bleibt. Die Voraussetzung der „direkten Reakti- on“ bezieht sich auf den zellulären Bestandteil, hier also auf die Bakterien. Außerdem hat die Bekl. in der mündlichen Verhandlung v. 7. 4. 2011 unstreitig gestellt, dass durch die Reduzierung bakteriellen Zahnbelags die Entstehung von Gingivitis wirksam vorgebeugt wird. Insoweit wird auch der Körper beeinflusst. 3. Die Frage, ob ein Funktionsarzneimittel vorliegt, ist damit allerdings noch nicht beantwortet. Hierfür muss das Produkt aufgrund seiner Zusammenset- zung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – bei bestimmungsgemäßem Gebrauch physiologische Funktio- nen des Menschen in signifikanter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen. Hierbei sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen, insbesondere seine Zusammensetzung, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Ver- brauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (EuGH, a. a. O., Tz. 34, 35). a) Bei dem streitgegenständlichen Produkt führt die phar- makologische Wirkung zu einer nennenswerten Beeinflus- sung der physiologischen Funktionen des Körpers. Es fehlt nicht deshalb an der Signifikanz der Beeinflussung, weil die Wirkstoffkonzentration nur 0,12 % beträgt. Nach der eige- nen Werbung der Bekl. bietet ihre 0,12 % CHX-Mundspül- lösung den gleichen klinischen Nutzen wie eine 0,2 %ige. Die Wirkung („wie eine 0,2 %ige“) entspricht somit der Mo- nographie des Bundesgesundheitsamts aus dem Jahr 1994, die von einer therapeutischen Wirkung 0,2 %iger Chlorhexidin- Lösungen ausgeht. Die vom BGH für aufklärungsbedürftig gehaltene Frage, ob die Konzentration von 0,12 % hinter der monographierten Dosierung zurückbleibt, hat sich damit er- ledigt. Die Lösung kann nach der Werbung der Bekl. zur besonderen Pflege bei Zahnfleischentzündungen und bei vermehrter Plaque-Ansammlung vor und nach chirurgi- schen Eingriffen eingesetzt werden. Ihre Wirkung geht also über die antibakterielle Reinigungswirkung herkömmlicher kosmetischer Produkte wie etwa Zahnpasten hinaus. b) Gegen eine Einordnung als Funktionsarzneimittel spricht – entgegen der Ansicht der Bekl. – nicht, dass in kosmetischen Mitteln Chlorhexidin in einer Konzentra- tion von 0,3 % als Konservierungsstoff enthalten sein darf (vgl. Anhang VI der Richtlinie 76/768). In dem streitge- genständlichen Produkt wird Chlorhexidin nicht als Kon- servierungsstoff beigefügt, also zu dem Zweck, die Ent- wicklung von Mikroorganismen in dem Erzeugnis selbst zu hemmen. Es sollen vielmehr bestimmungsgemäß Mi- kroorganismen in der Mundhöhle gehemmt werden. Zu einer solchen Verwendung des Stoffes Chlorhexidin verhält sich die Kosmetikrichtlinie nicht. Als Konservierungsstoff enthält das Produkt nach dem unwidersprochenen Vortrag der Kl. Methylparaben und Propylparaben. 3. Das in § 21 AMG enthaltene Verbot, Fertigarzneimit- tel ohne Zulassung durch die zuständige Bundesoberbehör- de in den Verkehr zu bringen, sowie das in § 3 a HWG ent- haltene Werbeverbot sind Marktverhaltensregelungen i. S. des § 4 Nr. 11 UWG. Sie dienen der Gesundheit und dem Schutz der mit Arzneimitteln in Kontakt kommenden Per- sonen. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften ist geeignet, die Interessen der Mitbewerber und Verbraucher spürbar zu beeinträchtigen. DOI: 10.1007/s00350-014-3621-7 Anmerkung zu OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 20. 6. 2013 – 6 U 109/07 (LG Frankfurt a. M.) Adem Koyuncu Der Entscheidung ist im Ergebnis zuzustimmen. Das Urteil ist bedeutsam zur Auslegung des Begriffs der pharmakolo- gischen Wirkung und enthält Klarstellungen zur prakti- Rechtsanwalt und Arzt Dr. iur. Dr. med. Adem Koyuncu, Partner der Kanzlei Covington & Burling LLP, Kunstlaan 44, 1040 Brüssel, Belgien Rechtsprechung MedR (2014) 32: 101–103 101

Anmerkung zu OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 20.6.2013 – 6 U 109/07 (LG Frankfurt a.M.)

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Page 1: Anmerkung zu OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 20.6.2013 – 6 U 109/07 (LG Frankfurt a.M.)

Form zu, solange es nicht als Arzneimittel zugelassen ist. Denn es handelt sich um ein Funktionsarzneimittel.

1. Im Streitfall ist abzugrenzen, ob das Produkt als Arz-neimittel oder als kosmetisches Produkt einzustufen ist. Zu den kosmetischen Mitteln gehören nach der Richtlinie 76/768/EWG (in der durch die Richtlinie 2005/42/EG geänderten Fassung) Stoffe und Zubereitungen, die dazu bestimmt sind, mit den Zähnen und den Schleimhäuten der Mundhöhle in Berührung zu kommen, um sie zu reinigen und/oder zu schützen oder in gutem Zustand zu halten. Für die Einordnung eines Produkts als Funktionsarznei-mittel i. S. von § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG, der im Lichte von Art. 1 Nr. 2 lit. b der Richtlinie 2001/83/EG (in der durch die Richtlinie 2004/27/EG geänderten Fassung) ausgelegt werden muss, ist hingegen maßgeblich, ob es am menschli-chen Körper angewendet werden kann, um die physiologi-schen Funktionen durch eine pharmakologische, immuno-logische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.

2. Eine immunologische oder metabolische Wirkung kommt im Falle von Chlorhexidin nicht in Betracht. Inso-weit kann auf den Senatsbeschluss v. 14. 6. 2011 verwiesen werden (GRUR-RR 2011, 383). Eine pharmakologische Wirkung ist hingegen auf Grundlage der Vorgaben des EuGH und des darauf bezogenen weiteren (unstreitigen) Sachvortrags der Parteien zu bejahen.

a) Für die Auslegung des Begriffs der pharmakologischen Wirkung kann die Leitlinie der Kommission zur Abgren-zung der Kosmetikrichtlinie von der Arzneimittelricht-linie („Guidance Document an the demarcation between the Cosmetic Products Directive 76/768 and the Medicinal Products Directive 2001/83 as agreed between the Com-mission Services and the competent authorities of Member States“) berücksichtigt werden (EuGH, Urt. v. 6. 9. 2012 – C-308/11 –, Tz. 25, 26). Auf die Leitlinien der Kommission zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Medizinproduk-ten („Medical Devices: Guidance document“) kommt es hingegen nach Ansicht des EuGH nicht an. Die Leitlinien zur Abgrenzung der Kosmetikrichtlinie von der Arznei-mittelrichtlinie gehören zwar nicht zu den Rechtsakten der Union und sind deshalb nicht rechtlich bindend. Das nationale Gericht kann ihnen jedoch Anhaltspunkte ent-nehmen. Es muss allerdings selbst überprüfen, ob die ihnen entnommene Auslegung im Einklang mit der Richtlinie steht, die anhand der Kriterien zur Auslegung der Rechts-akte der Union zu interpretieren ist.

b) Eine pharmakologische Wirkung setzt nach der Leit-linie eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen der in-frage stehenden Substanz und einem zellulären Bestandteil, gewöhnlich als Rezeptor bezeichnet, voraus, die entweder in einer direkten Reaktion resultiert oder die Reaktion ei-nes anderen Agens blockiert. Mit „zellulärem Bestandteil“ ist nicht notwendig ein zellulärer Bestandteil des Menschen gemeint. Vielmehr kann die Wechselwirkung mit anderen im Organismus des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteilen wie Bakterien, Viren oder Parasiten genü-gen. Diese Auslegung steht im Einklang mit der Richtlinie (EuGH, a. a. O., Tz. 29, 31).

c) Im Streitfall ist eine Wechselwirkung des Wirkstoffs Chlorhexidin mit Gingivitis auslösenden Bakterien in der Mundhöhle gegeben. Eine pharmakologische Eigenschaft liegt damit vor. Entgegen der Ansicht der Bekl. fehlt es auch nicht an einer „direkten Reaktion“, weil der Körper von der Unschädlichmachung der Bakterien zunächst un-beeinflusst bleibt. Die Voraussetzung der „direkten Reakti-on“ bezieht sich auf den zellulären Bestandteil, hier also auf die Bakterien. Außerdem hat die Bekl. in der mündlichen Verhandlung v. 7. 4. 2011 unstreitig gestellt, dass durch die Reduzierung bakteriellen Zahnbelags die Entstehung von Gingivitis wirksam vorgebeugt wird. Insoweit wird auch der Körper beeinflusst.

3. Die Frage, ob ein Funktionsarzneimittel vorliegt, ist damit allerdings noch nicht beantwortet.

Hierfür muss das Produkt aufgrund seiner Zusammenset-zung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – bei bestimmungsgemäßem Gebrauch physiologische Funktio-nen des Menschen in signifikanter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen. Hierbei sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen, insbesondere seine Zusammensetzung, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Ver-brauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (EuGH, a. a. O., Tz. 34, 35).

a) Bei dem streitgegenständlichen Produkt führt die phar-makologische Wirkung zu einer nennenswerten Beeinflus-sung der physiologischen Funktionen des Körpers. Es fehlt nicht deshalb an der Signifikanz der Beeinflussung, weil die Wirkstoffkonzentration nur 0,12 % beträgt. Nach der eige-nen Werbung der Bekl. bietet ihre 0,12 % CHX-Mundspül-lösung den gleichen klinischen Nutzen wie eine 0,2 %ige. Die Wirkung („wie eine 0,2 %ige“) entspricht somit der Mo-nographie des Bundesgesundheitsamts aus dem Jahr 1994, die von einer therapeutischen Wirkung 0,2 %iger Chlorhexidin-Lösungen ausgeht. Die vom BGH für aufklärungsbedürftig gehaltene Frage, ob die Konzentration von 0,12 % hinter der monographierten Dosierung zurückbleibt, hat sich damit er-ledigt. Die Lösung kann nach der Werbung der Bekl. zur besonderen Pflege bei Zahnfleischentzündungen und bei vermehrter Plaque-Ansammlung vor und nach chirurgi-schen Eingriffen eingesetzt werden. Ihre Wirkung geht also über die antibakterielle Reinigungswirkung herkömmlicher kosmetischer Produkte wie etwa Zahnpasten hinaus.

b) Gegen eine Einordnung als Funktionsarzneimittel spricht – entgegen der Ansicht der Bekl. – nicht, dass in kosmetischen Mitteln Chlorhexidin in einer Konzentra-tion von 0,3 % als Konservierungsstoff enthalten sein darf (vgl. Anhang VI der Richtlinie 76/768). In dem streitge-genständlichen Produkt wird Chlorhexidin nicht als Kon-servierungsstoff beigefügt, also zu dem Zweck, die Ent-wicklung von Mikroorganismen in dem Erzeugnis selbst zu hemmen. Es sollen vielmehr bestimmungsgemäß Mi-kroorganismen in der Mundhöhle gehemmt werden. Zu einer solchen Verwendung des Stoffes Chlorhexidin verhält sich die Kosmetikrichtlinie nicht. Als Konservierungsstoff enthält das Produkt nach dem unwidersprochenen Vortrag der Kl. Methylparaben und Propylparaben.

3. Das in § 21 AMG enthaltene Verbot, Fertigarzneimit-tel ohne Zulassung durch die zuständige Bundesoberbehör-de in den Verkehr zu bringen, sowie das in § 3 a HWG ent-haltene Werbeverbot sind Marktverhaltensregelungen i. S. des § 4 Nr. 11 UWG. Sie dienen der Gesundheit und dem Schutz der mit Arzneimitteln in Kontakt kommenden Per-sonen. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften ist geeignet, die Interessen der Mitbewerber und Verbraucher spürbar zu beeinträchtigen.

DOI: 10.1007/s00350-014-3621-7

Anmerkung zu OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 20. 6. 2013 – 6 U 109/07 (LG Frankfurt a. M.)

Adem Koyuncu

Der Entscheidung ist im Ergebnis zuzustimmen. Das Urteil ist bedeutsam zur Auslegung des Begriffs der pharmakolo-gischen Wirkung und enthält Klarstellungen zur prakti-

Rechtsanwalt und Arzt Dr. iur. Dr. med. Adem Koyuncu, Partner der Kanzlei Covington & Burling LLP, Kunstlaan 44, 1040 Brüssel, Belgien

Rechtsprechung MedR (2014) 32: 101–103 101

Page 2: Anmerkung zu OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 20.6.2013 – 6 U 109/07 (LG Frankfurt a.M.)

schen Bedeutung der von der EU-Kommission veröffent-lichten Abgrenzungsleitlinien. Der Fall weist nicht zuletzt einen ungewöhnlichen Verfahrensverlauf auf.

I. Zum Verfahrensverlauf

Die Einstufung der Mundspüllösung als Arzneimittel lag hier von Anfang an nahe. Im Gegensatz zu den beteilig-ten Frankfurter Gerichten haben dies auch der BGH 1 und der EuGH 2 so gesehen, weshalb ihre Entscheidungen auch recht kurz ausfielen. Insofern erstaunt die sehr lange Dauer dieses Verfahrens.

Dem OLG Frankfurt a. M. ist es trotz der klaren Revi-sionsentscheidung des BGH offensichtlich schwergefallen, seine Auffassung von der pharmakologischen Wirkung „im engeren Sinne“ 3 aufzugeben. Daher und „auf Anregung beider Parteien“ erfolgte die EuGH-Vorlage. Dieses Vor-gehen des OLG, nach dem klaren BGH-Urteil nun mit derselben Sache auch den EuGH zu befassen, wurde in der Literatur auch als „bemerkenswert“ und „verwunderlich“ 4 bewertet. Bemerkenswert erscheint im Übrigen auch, dass hier auch die Klägerin trotz der zu ihren Gunsten ausge-fallen Revisionsentscheidung des BGH die EuGH-Vorlage „angeregt“ hat.

II. Zur Feststellung der „pharmakologischen Wirkung“

Streitentscheidend war die Auslegung des Begriffs der phar-makologischen Wirkung, deren Feststellung wiederum für die Einstufung der Mundspüllösung als Arzneimittel maß-geblich ist.

Im ersten Berufungsrechtszug ging das OLG Frankfurt a. M. noch davon aus, dass eine pharmakologische Wirkung nur dann vorliege, wenn sich Wechselwirkungen zwischen den Molekülen der fraglichen Substanz und einem zellu-lären Bestandteil des Anwenders vollziehen. Das Gericht nahm dabei Bezug auf die von der EU-Kommission veröf-fentlichte Leitlinie zur Abgrenzung zwischen Medizinpro-dukten und Arzneimitteln 5.

Das OLG Frankfurt a. M. hat aber die „pharmakologi-sche Wirkung“ enger ausgelegt als sie in dieser Leitlinie definiert war. Anders als das OLG engt die Leitlinie die „pharmakologische Wirkung“ nämlich nicht darauf ein, dass eine Interaktion mit zellulären Bestandteilen des An-wenders vorliegen muss. Vielmehr lässt sie die Auslegung zu, dass eine pharmakologische Wirkung auch dann vor-liegt, wenn es zu einer Interaktion mit einem beliebigen zellulären Bestandteil im Körper des Anwenders kommt. Das hat der EuGH nun bestätigt.

Dass die enge Auslegung des OLG Frankfurt a. M. be-züglich der pharmakologischen Wirkung nicht überzeugen konnte, ergibt sich schon daraus, dass nach dieser Ausle-gung fast alle Antibiotika nicht mehr als Arzneimittel ein-zustufen gewesen wären, da sie ja auch – wie die Mund-spüllösung – nur auf zelluläre Bestandteile von Bakterien und nicht auf solche des Anwenders einwirken. Es ist daher zu begrüßen, dass diese „Frankfurter Auslegung“ nunmehr korrigiert wurde.

Die Auslegung des EuGH ist allerdings dahingehend zu präzisieren, dass auch eine Interaktion mit einem zellulä-ren Bestandteil am oder auf dem Körper des Anwenders ebenfalls ausreicht, um eine pharmakologische Wirkung anzunehmen 6. Durch diese Präzisierung, die gut mit dem o. g. Revisionsurteil des BGH vom 5. 10. 2010 vereinbar ist, werden auch auf der Haut wirkende Produkte (z. B. anti-biotische Salben) vom Arzneimittelbegriff erfasst.

III. Funktions- und Präsentationsarzneimittel gem. § 2 Abs. 1 AMG

Am Rande sei darauf hingewiesen, dass ein Produkt un-abhängig von seiner Wirkungsweise und Funktion auch durch seine bloße Darbietung und Präsentation als ein

Arzneimittel i. S. des AMG und der Richtlinie 2001/83/EG eingestuft werden kann. Dann liegt ein Präsentations-arzneimittel gem. § 2 Abs.  1 Nr.  1 AMG vor. Die dafür geltenden Kriterien sind in der einschlägigen Literatur an-erkannt 7. Es ist möglich, dass ein Produkt als Präsentati-onsarzneimittel unter das AMG fällt, obwohl es funktional keine pharmakologische Wirkung entfaltet.

Die Begriffe „Funktionsarzneimittel“ und „Präsenta-tionsarzneimittel“ sind im Arzneimittelrecht zwar dog-matisch gleichwertig und können konstitutiv die Arz-neimitteleigenschaft eines Produktes begründen. Das Präsentationsarzneimittel kann dennoch als die rechtlich schwächere Variante des Arzneimittelbegriffs qualifiziert werden. Das ergibt sich u. a. aus den Heilungsmöglichkei-ten bei Rechtsverstößen sowie bei einem Querblick auf die strafrechtlichen Konsequenzen. Auf das Verhältnis zwi-schen Funktions- und Präsentationsarzneimittel kann hier indes aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden 8.

In dem Fall der Mundspüllösung lag jedenfalls die Kon-stellation vor, dass ein Funktionsarzneimittel so präsentiert und dargeboten wurde, dass es trotz seiner pharmakolo-gischen Wirkung nicht auch als Präsentationsarzneimittel eingeordnet wurde. Es wurde mithin ein „echtes Arznei-mittel“ so präsentiert, dass es der Durchschnittsverbraucher nur für ein Kosmetikum halten durfte.

IV. Zu den Abgrenzungsleitlinien der EU-Kommission

Auf die Vorlage des OLG Frankfurt a. M. hat der EuGH nun auch Stellung zu der rechtlichen Bedeutung und Ver-wendbarkeit der von der EU-Kommission herausgegebe-nen Abgrenzungsleitfäden genommen. Diese Ausführun-gen haben allerdings eher klarstellenden Charakter und sind inhaltlich wenig überraschend.

Die Leitlinien werden von einer europäischen Experten-gruppe aus Behörden- und Industrievertretern für die EU-Kommission entwickelt. Die Leitlinien sind somit Resultat eines Beratungsprozesses durch eine Expertengruppe und haben daher objektives fachliches Gewicht.

Dem Urteil des EuGH lässt sich entnehmen, dass zur Prüfung, ob eine Substanz eine pharmakologische Wir-kung hat, die „Leitlinie zur Abgrenzung der Kosmetikmit-telrichtlinie von der Arzneimittelrichtlinie“ 9 oder die o. g. Leitlinie zur Abgrenzung von Medizinprodukten von Arz-neimitteln „berücksichtigt werden kann“. Der BGH hatte dies zuvor auch schon bestätigt 10.

Der EuGH stellt klar, dass die Leitlinien nicht zu den Rechtsakten der EU gehören und deshalb rechtlich nicht bindend sind. Die nationalen Gerichte können ihnen aber

Rechtsprechung102 MedR (2014) 32: 101–103

1) BGH, Urt. v. 5. 10. 2010 – I ZR 90/08 –, PharmR 2010, 641 ff.2) EuGH, Urt. v. 6. 9. 2012 – C-308/11 –, PharmR 2012, 442 ff.3) OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 29. 4. 2008 – 6 U 109/07 –, juris,

Rdnr. 28.4) Müller, PharmR 2011, 381, 382.5) Die amtliche Bezeichnung lautet: „Medical Devices: Guidance

Document. Borderline products, drug-delivery products and medical devices incorporating, as an integral part, an ancillary medicinal substance or an ancillary human blood derivative“.

6) So auch Müller, NVwZ 2012, 1461, 1462.7) Vgl. Koyuncu, in: Deutsch/Lippert (Hrsg.), AMG-Kommentar,

3. Aufl. 2011, § 2, Rdnrn. 7 ff. m. w. N.8) Dazu näher Koyuncu, in: Deutsch/Lippert (Hrsg.), AMG-Kom-

mentar, 3. Aufl. 2011, § 2, Rdnrn. 39 ff. 9) Guidance Document on the demarcation between the Cosmetic

Products Directive 76/768 and the Medicinal Products Directive 2001/83 as agreed between the Commission Services and the competent authorities of Member States.

10) BGH, Urt. v. 5. 10. 2010 – I ZR 90/08 –, PharmR 2010, 641 ff.; zuvor schon BGH, Urt. 24. 6. 2010 – I ZR 166/08 – (Photody-namische Therapie), m. Anm. Koyuncu, juris-PraxisReport Me-dizinrecht 1/2011, Anm. 2.

Page 3: Anmerkung zu OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 20.6.2013 – 6 U 109/07 (LG Frankfurt a.M.)

Anhaltspunkte für die Einstufung eines Produktes entneh-men. Sie müssen aber weiterhin stets selbst überprüfen, ob die einer Leitlinie entnommene Auslegung tatsächlich auch im Einklang mit der jeweiligen EU-Richtlinie steht. In dem entschiedenen Fall standen die herangezogenen Leit-linien im Einklang mit der EU-Richtlinie, ihre ursprüng-liche Auslegung durch das OLG Frankfurt a. M. hingegen nicht.

Als weiteres Ergebnis dieses Rechtsstreits wurde somit die praktische und rechtliche Bedeutung der Abgrenzungs-leitlinien der EU-Kommission klargestellt. Dieses Ergebnis war aber, wie angesprochen, durchaus vorhersehbar. Es be-stätigt auch die zuvor schon dazu vertretenen Auffassungen in der pharmarechtlichen Literatur 11.

V. Fazit

Für die Praxis ist festzuhalten, dass eine pharmakologische Wirkung einer Substanz i. S. des Arzneimittelrechts schon dann vorliegt, wenn es zu einer Wechselwirkung zwischen den Molekülen dieser Substanz und einem beliebigen zel-lulären Bestandteil im, am oder auf dem Körper des An-wenders kommt.

Wenn basierend auf der pharmakologischen Wirkung auch die anderen – in dem vorstehenden Urteil genannten – Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels vorliegen, unterliegt das Produkt als Arzneimittel den Regelungen des AMG sowie den werberechtlichen Beschränkungen des HWG.

 

Arzthaftung wegen verspäteter Brustkrebserkennung

BGB §§ 280, 611, 823; ZPO §§ 286, 287

1. Ein niedergelassener Gynäkologe, der seiner 61-jährigen Patientin, bei der im Jahre 2010 Brustkrebs diagnostiziert wurde, nicht bereits bei der im Jahre 2008 durchgeführten Krebsvorsorgeuntersuchung zur Teilnahme an einem Mammographiescreening geraten hat, haftet.

2. Ein unterbliebener Rat zur Teilnahme an einem Mammographiescreening führt zu einer Beweislast-umkehr nach den Grundsätzen des groben Behand-lungsfehlers, wenn es der Patientin während ihrer Be-handlung erkennbar auf die Minimierung jedweden Brustkrebsrisikos ankommt und ihr ein Medikament verordnet wurde, das jedenfalls mit der Erhöhung des Brustkrebsrisikos in Zusammenhang gebracht wird. (Leitsätze des Bearbeiters)OLG Hamm, Urt. v. 12. 8. 2013 – 3 U 57/13 (LG Essen)

Problemstellung: Das Urteil beschäftigt sich mit der Frage, ob der unterbliebene Rat zur Teilnahme am Mammographiescreening einen (groben) Behand-lungsfehler darstellt. Bis in das Jahr 2000 hinein galt der fehlende Rat zur Durchführung einer Mammographie noch nicht als Standardverletzung und demzufolge auch noch nicht als Behandlungsfehler. Zu dieser Zeit hatten die gesetzlichen Krankenversicherungen die Kosten für die Mammographie noch nicht übernommen und die

Fachgesellschaften haben erst nach 2002 Leitlinien ent-wickelt, die eine Empfehlung zu Gunsten einer Mam-mographie vorsahen. Vor diesem Hintergrund wertete das OLG Hamm mit Urt. v. 31. 8. 2005 – 3 U 277/04 –, MedR 2006, 111, den unterbliebenen Rat zur Durch-führung einer Mammographie an eine 57-jährige Pati-entin ohne besondere Risikofaktoren im Jahre 2000 ent-gegen der Aussage des Sachverständigen noch als nicht behandlungsfehlerhaft. Durch die nach § 25 Abs. 4 S. 2 SGB V i. V. mit § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, Abs. 4 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossene „Richt-linie über die Früherkennung von Krebserkrankun-gen“ (Brustkrebsfrüherkennungs-Richtlinie) gehören mittlerweile Maßnahmen bei Frauen zur Früherken-nung von Krebserkrankungen der Brust (Mammogra-phiescreening) ab dem Alter von 50 Jahren bis zum Ende des 70. Lebensjahres zum Leistungskatalog der Gesetz-lichen Krankenversicherung. Auch die Interdisziplinäre S3-Leitlinie für die Diagnostik, Therapie und Nach-sorge des Mammakarzinoms der AWMF, Deutschen Krebsgesellschaft e. V. und Deutschen Krebshilfe e. V. hält das qualitätsgesicherte Mammographiescreening in 2-jährigen Abständen bei Frauen zwischen 50 und 70  Jahren zur Früherkennung des Mammakarzinoms für geeignet, da die Mammographie zurzeit die einzige für die Erkennung von Brustkrebsvorstufen oder frühen Tumorstadien allgemein als wirksam anerkannte Me-thode ist. Somit ist es nur konsequent, wenn das OLG Hamm den unterbliebenen Rat zur Teilnahme an einem Mammographiescreening nun als Unterschreiten des ge-botenen Facharztstandards wertet.

Das Mammographiescreening gerät jedoch auch im-mer wieder in die Kritik. Dem Nutzen stünden Risiken gegenüber. Als mögliche Risiken werden von Kritikern neben der Strahlenbelastung u. a. falschpositive Befun-de und die Entdeckung „ungefährlicher Karzinome“ genannt, die zu unnötigen weiteren Untersuchungen, Operationen und Ängsten bei Patientinnen führten. Zudem werde der Nutzen überschätzt, denn Hinwei-se auf die Senkung der Brustkrebssterblichkeit durch Mammographiescreenings würden aus veralteten nicht aussagekräftigen Studien stammen und ihre Ursache in verbesserten Therapien haben. Somit bleibt der Nutzen des Mammographiescreenings kontrovers.

Zum Sachverhalt: Die 1947 geborene heute 66-jährige Kl. ver-langte von dem Bekl. Schadensersatz mit dem Vorwurf, bei ihr un-zureichende Krebsfrüherkennungsmaßnahmen durchgeführt und da-durch ein Mammakarzinom zu spät erkannt zu haben. Die Kl. befand sich seit 1985 bis 2010 in regelmäßiger frauenärztlicher Behandlung beim Bekl., der jährlich Krebsvorsorgeuntersuchungen mit Abtasten und Sonographie der Brust vornahm. Seit 1988 wurde bei der Kl. eine Hormonbehandlung durchgeführt. Ab 2000 stellte der Bekl. die Hor-monersatztherapie auf das Medikament Liviella um. Im Jahre 2001 fand eine einmalige Mammographie mit unauffälligem Befund statt. In den Folgejahren fanden am 14. 7. 2008 und 6. 8. 2009 Krebsvorsor-geuntersuchungen durch den Bekl. mit Abtasten und Sonographie der Brust ohne verdächtigen Befund statt. Nachdem auch am 22. 7. 2010 eine derartige Untersuchung seitens des Bekl. durchgeführt wor-den war, riet er trotz erneut unverändertem Befund der Kl. zu einer Mammographie. Die dann durchgeführte Mammographie ergab den Verdacht eines Mammakarzinoms der linken Brust. Der Brustkrebs wurde in der Folgezeit diagnostiziert und operativ behandelt, wobei befallene Lymphknoten und Teile der Brust während eines stationären Aufenthaltes entfernt werden mussten. Im Verlauf kam es zu weiteren stationären Aufenthalten, bei denen die Restbrust bestrahlt und drei weitere Lymphknotenmetastasen festgestellt und entfernt wurden. Im Anschluss folgten eine Chemotherapie sowie eine weitere antihor-monelle Therapie mit Aromatasehemmern. Im Rahmen der Chemo-therapie bildete sich beim Anlegen des Ports ein Paravasat, welches anschließend plastisch chirurgisch versorgt werden musste.

Die Kl. wirft dem Bekl. vor, ihr jedenfalls ab 2002 im Rahmen der Brustkrebsvorsorge nicht zu einer ergänzenden Mammographie ge-

Bearbeitet von Rechtsanwalt Torben Bartels, RICHTERRECHTSANWÄLTE, Mönckebergstraße 17, 20095 Hamburg, Deutschland

Rechtsprechung MedR (2014) 32: 103–105 103

11) Koyuncu, in: Deutsch/Lippert (Hrsg.), AMG-Kommentar, 3. Aufl. 2011, § 2, Rdnrn. 30 ff., 90 ff., m. w. N.