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Anna Karenina ist eine wundervolle junge Frau. Siescheint alles zu besitzen, was glücklich macht, lebt aberseit Jahren in einer unerfüllten, monotonen Ehe. Alsder glanzvolle Offizier Graf Wronski in ihr Leben tritt,begegnet sie in ihm ihrer großen Liebe. Dafür ist sie be-reit, alles zu opfern. Doch ihre Leidenschaft wird aufeine harte Probe gestellt, und das erträumte Leben mitdem Geliebten rückt in immer weitere Ferne.Die Tragödie einer Frau zwischen gesellschaftlichemAnsehen und glühender Leidenschaft zeichnet ein un-erbittliches Gesellschaftsporträt und zugleich ein Cha-rakterbild von unerreichter psychologischer Feinheit.Der Roman zählt neben ›Effi Briest‹ und ›MadameBovary‹ zu den großen Schicksalsromanen der Weltlite-ratur.

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, geboren am . Sep-tember in Jasnaja Poljana, verwaltete nach seinemStudium das heimatliche Gut, heiratete und widmetesich ganz der schriftstellerischen Tätigkeit sowie prak-tisch-humanitärer Arbeit. Mit seinen beiden Haupt-werken ›Krieg und Frieden‹ und ›Anna Karenina‹ gilter als einer der bedeutendsten russischen Autoren des. Jahrhunderts. Er starb am . November inAstapowo.

Rosemarie Tietze übersetzt und präsentiert russischeLiteratur. Sie ist Initiatorin des Deutschen Übersetzer-fonds und wurde für ihre Arbeit bereits mehrfach aus-gezeichnet.

Die Rache ist mein, und Ich will vergelten

I

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jedeunglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.

Drunter und drüber ging es bei den Oblonskis. DieFrau des Hauses hatte erfahren, dass ihr Mann eineLiaison hatte mit einer Französin, die als Gouvernanteim Haus gewesen war, und hatte ihrem Mann verkün-det, dass sie nicht mehr im selben Haus mit ihm lebenkönne. Diese Situation dauerte schon den dritten Tagund wurde sowohl von den Eheleuten wie von allenFamilienmitgliedern und Hausgenossen als qualvollempfunden. Alle Familienmitglieder und Hausgenos-sen hatten das Gefühl, dass ihr Zusammenleben keinenSinn habe und dass in jedem Absteigequartier die zu-sammengewürfelten Gäste mehr miteinander verbindeals sie, die Familienmitglieder und Hausgenossen derOblonskis. Die Frau des Hauses kam nicht aus ihrenRäumen, ihr Mann war den dritten Tag nie daheim.Die Kinder rannten wie verloren im Haus herum; dieEngländerin hatte sich mit der Wirtschafterin zerstrit-ten und schrieb einer Freundin ein Billett, sie möge sichnach einer neuen Stelle für sie umtun; der Koch hattegestern das Weite gesucht, noch während des Diners;Küchenmagd und Kutscher baten um Auszahlung.

Am dritten Tag nach dem Streit erwachte Fürst Ste-pan Arkadjitsch Oblonski – Stiwa, wie er in der vor-nehmen Welt genannt wurde – zur gewohnten Stunde,also um acht Uhr morgens, nicht im Schlafzimmer sei-ner Frau, sondern im Kabinett auf dem Saffiansofa. Er

drehte seinen fülligen, wohlgepflegten Leib auf denSprungfedern des Sofas zur anderen Seite, als wollte ernoch einmal richtig einschlafen, umfing das Kissen festmit den Armen und drückte die Wange hinein; dochplötzlich fuhr er hoch, setzte sich auf und öffnete dieAugen.

›Ja, ja, wie war das noch mal?‹ Er suchte sich einesTraums zu entsinnen. ›Ja, wie war das? Ah ja! Alabingab ein Diner in Darmstadt; nein, nicht in Darmstadt,es war etwas Amerikanisches. Doch, nur war Darmstadtdort in Amerika. Ja, Alabin gab ein Diner auf Glas-tischen, ja, und die Tische sangen Il mio tesoro, odernicht Il mio tesoro, sondern etwas Besseres, und solchekleinen Karaffinen, die waren zugleich Frauen‹, ent-sann er sich.

Stepan Arkadjitschs Augen begannen vergnügt zufunkeln, und er dachte lächelnd nach. ›Ja, gut war das,sehr gut. Noch vielerlei gab es da an Vorzüglichem, aberdas lässt sich nicht in Worte fassen und nicht einmalim Wachen in Gedanken ausdrücken.‹ Und als er denLichtstreifen bemerkte, der sich an einem der Tuch-vorhänge vorbei hereindrängte, warf er vergnügt dieBeine vom Sofa, seine Füße suchten nach den Pantof-feln, besetzt mit goldschimmerndem Saffian und be-stickt von seiner Frau (ein Geburtstagsgeschenk im vo-rigen Jahr), und nach alter, neunjähriger Gewohnheitstreckte er, ohne aufzustehen, die Hand nach der Stelleaus, wo im Schlafzimmer sein Morgenrock hing. Da fielihm plötzlich ein, wie und warum er nicht im Schlaf-zimmer seiner Frau schlief, sondern im Kabinett; dasLächeln verschwand aus seinem Gesicht, er runzeltedie Stirn.

›Ach, ach, ach! Aaah!‹ stöhnte er, da ihm in denSinn kam, was geschehen war. Und vor seinem geisti-gen Auge sah er noch einmal in allen Einzelheiten denStreit mit seiner Frau, die ganze Ausweglosigkeit seiner

Lage und, was am qualvollsten war, seine eigeneSchuld.

›Ja! das wird sie nicht verzeihen, kann sie nichtverzeihen. Und am entsetzlichsten ist, dass es meineSchuld ist, meine Schuld, dabei bin ich gar nicht schul-dig. Das ist ja die Tragödie‹, dachte er. ›Ach, ach, ach!‹murmelte er verzweifelt, da ihm die bedrückendstenMomente aus dem Streit in den Sinn kamen.

Am unangenehmsten war jener erste Augenblick ge-wesen, als er aus dem Theater zurückkehrte, vergnügtund zufrieden, eine riesige Birne für seine Frau in derHand, und seine Frau nicht im Salon fand; zu seinerVerwunderung fand er sie auch nicht im Kabinett, undschließlich erblickte er sie im Schlafzimmer, in derHand das Unglücksbillett, das alles entdeckt hatte.

Sie, diese ewig besorgte, rührige und, wie er sie ein-schätzte, ein wenig beschränkte Dolly, saß unbeweg-lich, in der Hand das Billett, und mit Entsetzen, Ver-zweiflung und Zorn im Gesicht sah sie ihn an.

»Was ist das? das da?« fragte sie und deutete auf dasBillett.

Und bei dieser Erinnerung peinigte Stepan Arkad-jitsch, wie das häufig so ist, weniger das Ereignis selbstals vielmehr, wie er auf die Worte seiner Frau geant-wortet hatte.

Ihm erging es in diesem Augenblick, wie es Men-schen ergeht, wenn sie urplötzlich bei etwas allzuSchmachvollem ertappt werden. Er schaffte es nicht,sein Gesicht der Situation anzupassen, in die er nachEntdeckung seiner Schuld vor seiner Frau geraten war.Statt verletzt zu sein, alles abzustreiten, sich zu recht-fertigen, um Verzeihung zu bitten oder gar gleichgültigzu bleiben – alles wäre besser gewesen als das, was ertat! –, hatte sich sein Gesicht ganz unwillkürlich (›Re-flexe des Gehirns‹, dachte Stepan Arkadjitsch, der vielfür Physiologie übrig hatte) – ganz unwillkürlich hatte

es sich mit einemmal zu seinem üblichen, gutmütigenund deshalb dummen Lächeln verzogen.

Dieses dumme Lächeln konnte er sich nicht verzei-hen. Als Dolly dieses Lächeln erblickte, zuckte sie zu-sammen wie vor körperlichem Schmerz, brach mit derihr eigenen Hitzigkeit in einen Schwall harter Worteaus und rannte aus dem Zimmer. Seither wollte sie ih-ren Mann nicht sehen.

›Schuld an allem ist dieses dumme Lächeln‹, dachteStepan Arkadjitsch.

›Aber was tun? was nur tun?‹ fragte er sich verzwei-felt und fand keine Antwort.

II

Stepan Arkadjitsch war ein Mensch, der aufrichtig warzu sich selbst. Er konnte sich nichts vormachen und sicheinreden, dass er seine Tat bereute. Er konnte jetzt nichtbereuen, was er vor sechs Jahren einst bereut hatte, alser die erste Untreue an seiner Frau beging. Er konntenicht bereuen, dass er, ein vierunddreißigjähriger, schö-ner, sich leicht verliebender Mann, nicht mehr verliebtwar in seine Frau, die Mutter von fünf lebenden undzwei gestorbenen Kindern, die nur ein Jahr jünger warals er. Er bereute lediglich, dass er es vor seiner Fraunicht besser zu verbergen gewusst hatte. Aber er emp-fand sehr wohl das Bedrückende seiner Lage und be-dauerte seine Frau, die Kinder und sich selbst. Vielleichthätte er seine Sünden vor seiner Frau besser zu verber-gen gewusst, wenn er erwartet hätte, dass diese Nach-richt derart auf sie wirken würde. Klar durchdacht hatteer das Problem nie, aber vage sich vorgestellt, seine Frauahnte längst, dass er ihr nicht treu war, würde jedochein Auge zudrücken. Ihm war sogar, als müsste sie, eineabgezehrte, gealterte, nicht mehr schöne Frau, gänzlich

unauffällig und schlicht, nur gute Mutter und Haus-frau, aus einem Gefühl der Gerechtigkeit heraus nach-sichtig sein. Das Gegenteil war der Fall.

›Oh, entsetzlich! o weh, o weh! entsetzlich!‹ sagtesich Stepan Arkadjitsch ein ums andre Mal und hattedoch keine einzige Idee. ›Und wie gut alles war bisher,wie gut wir gelebt haben! Sie war zufrieden, glücklichmit den Kindern, ich stand ihr nicht im Weg, habe esihr überlassen, sich mit Kindern und Haushalt abzu-geben, wie sie das wollte. Freilich gehört es sich nicht,dass s ie in unserem Haus Gouvernante war. Gehörtsich nicht! Es hat etwas Triviales, Abgeschmacktes,der eigenen Gouvernante den Hof zu machen. Aber wasfür eine Gouvernante! (Er erinnerte sich lebhaft andie schelmischen schwarzen Augen von m-lle Rolandund an ihr Lächeln.) Aber solange sie bei uns im Hauswar, habe ich mir ja nichts herausgenommen. Und amschlimmsten ist, dass sie schon bald … So was aberauch, wie mit Fleiß! O weh, o weh! Oooh! Aber was tun,was denn nur tun?‹

Eine Antwort gab es nicht, außer der allgemeinen,die das Leben auf die kompliziertesten und unlösbars-ten Fragen immer bereithält. Diese Antwort war: denErfordernissen des Tages leben, also vergessen. Verges-sen im Traum war nicht mehr möglich, zumindest biszur Nacht, es war nicht möglich, zu jener Musik zurück-zukehren, die die Karaffinen-Damen gesungen hat-ten; so musste er im Tagtraum des Lebens Vergessensuchen.

›Wird sich schon weisen‹, sagte sich Stepan Arkad-jitsch, stand auf, schlüpfte in den grauen Morgenrockmit dem himmelblauen Seidenfutter, band den Quas-tengürtel zur Schleife, sog tief die Luft in seinen brei-ten Brustkasten, und auf den ausgestellten Füßen, die soleicht seinen fülligen Leib trugen, ging er gewohnten,munteren Schrittes zum Fenster, zog den Vorhang auf

und läutete laut. Auf das Läuten kam sogleich sein al-ter Freund herein, Kammerdiener Matwej, und brach-te Kleider, Stiefel und ein Telegramm. Hinter Matwejkam auch der Barbier mit den Rasierutensilien herein.

»Sind Schriftstücke aus dem Amt gekommen?« frag-te Stepan Arkadjitsch, nahm das Telegramm und setztesich vor den Spiegel.

»Liegen auf dem Tisch«, antwortete Matwej, schautefragend und teilnahmsvoll auf seinen Herrn, und nacheinem Weilchen fügte er mit schlauem Lächeln hinzu:»Vom Chef des Droschkenstalls war jemand da.«

Stepan Arkadjitsch antwortete nichts und blickte nurim Spiegel auf Matwej; dem Blick, mit dem sie sichim Spiegel trafen, war anzusehen, wie sie einander ver-standen. Stepan Arkadjitschs Blick schien zu fragen:›Weshalb sagst du das? weißt du denn nicht?‹

Matwej steckte die Finger in die Taschen seiner Ja-quette, stellte ein Bein vor und schaute seinen Herrnschweigend, gutmütig und mit leichtem Lächeln an.

»Ich habe geheißen, am übernächsten Sonntag wie-derzukommen, aber bis dahin Sie und sich selber nichtunnötig zu bemühen«, sagte er einen offenbar vorbe-reiteten Satz.

Stepan Arkadjitsch begriff, dass Matwej einen Spaßmachen und sich ein wenig aufspielen wollte. Er rissdas Telegramm auf und las es, legte sich die wie immerverdrehten Wörter zurecht, und sein Gesicht erstrahlte.

Für einen Moment hielt er das glänzende, pum-melige Händchen des Barbiers auf, das zwischen sei-nen langen, lockigen Koteletten bereits einen rosa Pfadfreigelegt hatte, und sagte: »Matwej, morgen kommtmeine Schwester Anna Arkadjewna!«

»Gott sei Dank«, sagte Matwej, und mit dieser Ant-wort zeigte er, dass er die Bedeutung dieses Besuchsgenauso verstand wie sein Herr, das heißt, dass Ste-pan Arkadjitschs geliebte Schwester Anna Arkadjewna

zur Versöhnung zwischen Mann und Frau beitragenkönnte.

»Allein oder mit dem Herrn Gemahl?« fragte Mat-wej.

Stepan Arkadjitsch konnte nicht reden, da der Bar-bier mit der Oberlippe beschäftigt war, so hob er einenFinger. Matwej nickte dem Spiegel zu.

»Allein. Soll das Zimmer oben gerichtet werden?«»Sag Darja Alexandrowna Bescheid, wo die gnädige

Frau möchte.«»Darja Alexandrowna?« wiederholte Matwej quasi

zweifelnd.»Ja, sag ihr Bescheid. Hier, nimm das Telegramm

mit und berichte dann, was die gnädige Frau gesagthat.«

›So, Sie wollen es versuchen‹, dachte sich Matwej,sagte aber nur:

»Zu Befehl!«Stepan Arkadjitsch war bereits gewaschen und ge-

kämmt und wollte sich ankleiden, als Matwej, mit sei-nen knarrenden Stiefeln langsam über den weichenTeppich schreitend, ins Zimmer zurückkehrte, das Te-legramm in der Hand. Der Barbier war nicht mehr da.

»Darja Alexandrowna lassen Bescheid sagen, dass sieverreisen. Ganz wie der Herr, wie Sie also, wünschen«,sagte er, und nur seine Augen lachten, während er, dieFinger in den Taschen und den Kopf zur Seite gelegt,den Blick auf seinen Herrn richtete.

Stepan Arkadjitsch schwieg. Dann zeigte sich eingutmütiges und ein wenig klägliches Lächeln auf sei-nem schönen Gesicht.

»Und? Matwej?« Er wiegte den Kopf.»Wird schon, gnädiger Herr, das renkt sich ein«,

sagte Matwej.»Renkt sich ein?«»Aber ja, mit Verlaub.«

»Meinst du? Wer da?« fragte Stepan Arkadjitsch,denn er hörte vor der Tür ein Frauenkleid rascheln.

»Ich, mit Verlaub«, sagte eine entschiedene und an-genehme Frauenstimme, und Matrjona Filimonowna,die Kinderfrau, streckte das strenge pockennarbige Ge-sicht zur Tür herein.

»Nun, was ist, Matrjona?« fragte Stepan Arkadjitschund trat zu ihr an die Tür.

Obwohl Stepan Arkadjitsch rundherum schuldig warvor seiner Frau und das auch selbst spürte, waren fastalle im Haus, sogar die Kinderfrau, Darja Alexandrow-nas wichtigste Vertraute, auf seiner Seite.

»Nun, was ist?« fragte er verzagt.»Geht rüber, Herr, bekennt Euch noch mal schul-

dig. Vielleicht hilft der Herrgott. Quälen sich sehr, dieGnädige, ein Jammer, es mit anzuschauen, und imHaus läuft alles holterdipolter. Die Kinder, Herr, müs-sen einen dauern. Bekennt Euch schuldig, Herr. Wastun! Wer gern rodelt, muss auch gern den Schlitten zie-hen …«

»Aber sie wird mich nicht empfangen …«»Tut das Eure. Gott ist barmherzig, betet zu Gott,

Herr, betet zu Gott.«»Na schön, geh jetzt«, sagte Stepan Arkadjitsch,

plötzlich rot geworden. »Na, komm, ankleiden«, sagteer zu Matwej und warf entschlossen den Morgenrockab.

Matwej hielt das vorbereitete Hemd schon wie einKummet, blies ein unsichtbares Stäubchen weg undlegte das Hemd mit sichtlichem Vergnügen um denwohlgepflegten Leib seines gnädigen Herrn.

III

Nach dem Ankleiden bestäubte Stepan Arkadjitsch sichmit Parfüm, zog die Hemdsärmel lang, verstaute routi-niert Papirossy, Brieftasche, Zündhölzer und die Uhrmit den zwei Ketten und den Berlocken in den Taschen,schüttelte das Taschentuch auf, und da er sich trotz sei-nes Unglücks nun rein, wohlriechend, gesund und kör-perlich vergnügt fühlte, ging er, auf jedem Bein leichtwippend, ins Esszimmer, wo ihn bereits der Kaffee er-wartete und neben dem Kaffee Briefe und Schriftstü-cke aus dem Amt.

Stepan Arkadjitsch setzte sich, las die Briefe. Einerwar sehr unangenehm – von dem Kaufmann, der aufdem Gut seiner Frau einen Wald kaufen wollte. DerWald musste dringend verkauft werden; doch jetzt,vor einer Versöhnung mit seiner Frau, konnte davonnicht die Rede sein. Am unangenehmsten war, dassder bevorstehenden Versöhnung mit seiner Frau damitfinanzielle Interessen untergemengt wurden. Und derGedanke, er könnte sich von diesen Interessen leitenlassen, er würde zum Zweck des Waldverkaufs die Ver-söhnung mit seiner Frau suchen – dieser Gedanke be-leidigte ihn.

Nach der Lektüre der Briefe zog Stepan Arkadjitschdie Schriftstücke aus dem Amt her und blätterte raschzwei Vorgänge durch, machte mit einem großen Blei-stift ein paar Merkzeichen, schob die Akten dann bei-seite und ging an den Kaffee; beim Kaffeetrinkenschlug er die noch feuchte Morgenzeitung auf und be-gann zu lesen.

Stepan Arkadjitsch bezog und las eine liberale Zei-tung, keine radikale, sondern von jener Richtung, derdie Mehrheit anhing. Und obwohl ihn eigentlich wederWissenschaft noch Kunst, noch Politik interessierten,hing er bei all diesen Gegenständen unbeirrbar den An-

sichten an, denen die Mehrheit und seine Zeitung an-hingen, und änderte sie nur, wenn die Mehrheit sieänderte, oder besser gesagt, änderte sie nicht, denn sieänderten sich unmerklich von allein.

Stepan Arkadjitsch suchte sich Richtungen oder An-sichten niemals aus, die Richtungen und Ansichten ka-men von allein zu ihm, genauso wie er den Zuschnittvon Hut oder Rock nicht auswählte, sondern nahm, wasman trug. Ansichten zu haben war für ihn, der in einerbestimmten Gesellschaft lebte und einer gewissen, sichgewöhnlich in reiferen Jahren entwickelnden Geis-testätigkeit bedurfte, genauso eine Notwendigkeit, wieeinen Hut zu haben. Falls es überhaupt einen Grundgab, weshalb er der liberalen Richtung gegenüber derkonservativen, der ebenfalls viele aus seinem Kreis an-hingen, den Vorzug gab, so geschah das nicht, weil er dieliberale Richtung für vernünftiger gehalten hätte, son-dern weil sie mehr seiner Lebensweise entsprach. Dieliberale Partei sagte, in Russland sei alles von Übel, undtatsächlich hatte Stepan Arkadjitsch viele Schulden,das Geld reichte einfach nie aus. Die liberale Parteisagte, die Ehe sei eine überholte Institution und müsseumgestaltet werden, und tatsächlich bereitete das Fa-milienleben Stepan Arkadjitsch wenig Vergnügen undzwang ihn, zu lügen und sich zu verstellen, was seinerNatur widerstrebte. Die liberale Partei sagte, oder bes-ser, legte den Gedanken nahe, die Religion sei nur dasZaumzeug für den barbarischen Teil der Bevölkerung,und tatsächlich konnte Stepan Arkadjitsch sogar einenkurzen Gottesdienst nicht ohne Schmerzen in den Bei-nen überstehen und konnte nicht begreifen, wozu dieseschrecklichen und hochtrabenden Worte über das Jen-seits, da es sich doch auch im Diesseits sehr vergnügtleben lasse. Zugleich gefiel sich Stepan Arkadjitsch,einem heiteren Scherz nie abgeneigt, bisweilen darin,einen friedlichen Zeitgenossen dadurch zu verblüffen,

dass jedermann, der auf edle Abkunft stolz sei, nicht beiRjurik haltmachen und den allerersten Urahnen ver-leugnen dürfe – den Affen. So war die liberale RichtungStepan Arkadjitsch zur Gewohnheit geworden, und ermochte seine Zeitung wie die Zigarre nach dem Di-ner, um des leichten Nebels willen, den sie in seinemKopf verbreitete. Er las den Leitartikel, in dem erklärtwurde, heutigentags erhebe sich völlig zu Unrecht einGeschrei darüber, dass der Radikalismus angeblich allekonservativen Elemente zu verschlingen drohe unddass die Regierung angeblich Maßnahmen ergreifenmüsse, um die revolutionäre Hydra zu ersticken, viel-mehr liege »unserer Meinung nach die Gefahr nichtin einer angeblichen revolutionären Hydra, sondernin halsstarriger Traditionalität, die den Fortschritthemmt« usw. Er las auch einen anderen Artikel, überFinanzen, in dem Bentham und Mill erwähnt wur-den und subtile Sticheleien gegen das Ministerium ver-packt waren. Mit seiner raschen Auffassungsgabe be-griff er die Bedeutung jeder Stichelei, von wem undgegen wen sie aus welchem Anlass gerichtet war, unddas bereitete ihm wie immer ein gewisses Vergnügen.Heute aber war dieses Vergnügen vergällt durch die Er-innerung an Matrjona Filimonownas Ratschläge unddaran, dass der Haussegen so schief hing. Er las außer-dem, dass Graf Beust, wie man höre, in Wiesbaden Sta-tion mache und dass es nun keine grauen Haare mehrgebe, las vom Verkauf einer leichten Kutsche und vomStellengesuch einer jungen Person; doch alle dieseNachrichten verschafften ihm nicht das stille ironischeVergnügen wie sonst.

Als er mit der Zeitung, einer zweiten Tasse Kaffeeund seinem Kalatsch mit Butter fertig war, stand er auf,schüttelte die Kalatschkrümel von der Weste, reckte diebreite Brust und lächelte freudig – nicht, weil ihm be-sonders angenehm zu Gemüt gewesen wäre, das freu-

dige Lächeln war vielmehr von der guten Verdauungbewirkt.

Aber dieses freudige Lächeln rief ihm gleich wiederalles ins Gedächtnis, und er dachte nach.

Zwei Kinderstimmen (Stepan Arkadjitsch erkanntedie Stimme von Grischa, dem kleineren Jungen, undTanja, dem ältesten Mädchen) waren vor der Tür zuhören. Sie zogen etwas und ließen etwas fallen.

»Ich habe doch gesagt, dass man Passagiere nichtaufs Dach setzen darf«, rief das Mädchen auf Englisch,»jetzt kannst du sie einsammeln!«

›Drunter und drüber geht es‹, dachte Stepan Arkad-jitsch, ›da rennen die Kinder allein herum.‹ Er ging zurTür und rief die beiden. Sie ließen die Schatulle stehen,mit der sie Eisenbahn spielten, und kamen zum Vater.

Das Mädchen, Vaters Liebling, kam keck hereinge-laufen, umarmte ihn und hing ihm wie immer lachendam Hals, freute sich über den vertrauten Parfümduft,der von den Koteletten ausging. Als sie ihm endlich dasvon der gebeugten Haltung rot gewordene und vorZärtlichkeit strahlende Gesicht geküsst hatte, löste siedie Hände und wollte davonlaufen; aber der Vater hieltsie auf.

»Was ist mit Mama?« fragte der Vater und fuhr mitder Hand über das glatte, zarte Hälschen der Tochter.»Guten Morgen«, sagte er und lächelte dem Jungen zu,der ihn begrüßt hatte.

Er war sich bewusst, dass er den Jungen wenigerliebte, und bemühte sich stets, ihn gleich zu behandeln;aber der Junge spürte das, er lächelte nicht auf das kalteLächeln des Vaters.

»Mama? Sie ist aufgestanden«, antwortete das Mäd-chen.

Stepan Arkadjitsch seufzte. ›Also hat sie wieder dieganze Nacht nicht geschlafen‹, dachte er.

»Und, ist sie fröhlich?«

Das Mädchen wusste, dass zwischen Vater und Mut-ter Streit herrschte und dass die Mutter nicht fröhlichsein konnte, dass der Vater das wissen musste und dasser sich verstellte, wenn er so leichthin fragte. Und sieerrötete für den Vater. Er begriff das sofort und erröteteebenfalls.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Sie hat uns nicht lernengeheißen, sondern geheißen, wir sollen mit Miss Hulleinen Spaziergang machen zur Großmama.«

»Na, dann geh, meine Tanja. Ah ja, warte«, sagte er,hielt sie doch fest und streichelte ihr das zarte Händ-chen.

Er nahm vom Kamin, wo er sie gestern hingestellthatte, eine Schachtel Konfekt und gab ihr zwei Stück,suchte ihr Lieblingskonfekt aus, eines mit Schokoladeund eines mit Pomade.

»Für Grischa?« fragte das Mädchen und deutete aufdas mit Schokolade.

»Ja, ja.« Noch einmal streichelte er ihr die Schulter,küsste sie auf den Haaransatz und den Hals und entließsie.

»Der Wagen steht bereit«, sagte Matwej. »Und eineBittstellerin ist da«, fügte er hinzu.

»Schon lange?« fragte Stepan Arkadjitsch.»So ein halbes Stündchen.«»Wie oft wurde dir schon befohlen, gleich Meldung

zu machen!«»Man muss Sie doch erst mal Kaffee trinken lassen«,

sagte Matwej in dem freundschaftlich ruppigen Ton-fall, bei dem man nicht böse werden konnte.

»Dann bitte sie sofort herein«, sagte Oblonski undzog die Stirn in Falten vor Verdruss.

Die Bittstellerin, eine Stabskapitänin Kalinina, batum Unmögliches und Ungereimtes; aber Stepan Arkad-jitsch ließ sie nach seiner Gewohnheit Platz nehmen,hörte sie aufmerksam an, ohne zu unterbrechen, und

gab ihr einen ausführlichen Rat, an wen sie sich wen-den solle und wie, er schrieb ihr sogar, beherzt undwohlformuliert, in seiner großen, ausgreifenden, schö-nen und klaren Handschrift ein Billett an eine Persön-lichkeit, die ihr behilflich sein könnte. Als er die Stabs-kapitänin entlassen hatte, griff Stepan Arkadjitsch nachseinem Hut und blieb stehen, um sich zu vergewissern,ob er nichts vergessen hatte. Wie sich zeigte, hatte ernichts vergessen, außer dem, was er vergessen wollte –seine Frau.

›Ah ja!‹ Er senkte den Kopf, und sein schönes Gesichtnahm eine betrübte Miene an. ›Gehen oder nicht ge-hen?‹ fragte er sich. Und eine innere Stimme sagte ihm,dass er nicht zu gehen brauche, dass außer Unaufrich-tigkeit nichts sein könne, dass ihr Verhältnis unmöglichzu korrigieren und zu reparieren sei, weil sie unmöglichwieder attraktiv werden und Liebe erwecken oder erein liebesunfähiger Greis werden könne. Außer Unauf-richtigkeit und Lüge konnte jetzt nichts dabei heraus-kommen; doch Unaufrichtigkeit und Lüge widerstreb-ten seiner Natur.

›Allerdings, irgendwann muss es sein; so kann dasja nicht bleiben‹, sagte er sich und suchte sich Mut zuverleihen. Er reckte die Brust gerade, zog eine Papirossahervor, steckte sie an, paffte zweimal und warf sie inden perlmuttenen Muschelaschenbecher, durchmaßraschen Schrittes den düsteren Salon und öffnete dienächste Tür, die zum Schlafzimmer seiner Frau.

IV

Darja Alexandrowna stand im Nachtjäckchen, das be-reits schüttere, einst dichte und wunderschöne Haar inZöpfen am Hinterkopf hochgesteckt, mit hohlwangi-gem, hagerem Gesicht und großen, durch die Hagerkeit