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n ngiyaw eBooks Anna Katherina Green Engel und Teufel

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Anna Kathe rina Green

Engel und Teu fel

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n

Nach der Ausgabe:Anna Katherina Green

Engel und TeufelAutorisierte Bearbeitung von Dr. Berthold A. Baer

Verlag Rheinische Union, Bonn, 1905

Ill.: Albert Joseph Penot - Abandon (bearbeitet)

nngiyaw eBooks

Anna Katherina Green

Engel und Teufel

I. Teil.Die pur pur ro te Or chi dee.

I.

Ein Mord.

Der Tanz war vor über. Die Gä ste des gro ßen Hau -

ses auf dem Hü gel hat ten sich schon ent fernt;

nur die Mu si ker wa ren noch da. Als die se durch die

wei te Türe ins Freie tra ten, däm mer te im Osten der

neue Tag.

»Seht nur«, rief ei ner der Mu si ker, ein ma ge rer,

auf ge schos se ner jun ger Mann mit blas sen Zü gen

und gro ßen, aus drucks vol len Au gen, »dort wirds

schon Tag. Das war eine ver gnüg te Nacht für Su -

ther land town«.

»Fast zu ver gnügt«, mur mel te ein an de rer.

Kaum hat te er been det, als ein jun ger Mann

schnell aus dem Hau se lief und an den Mu si kern

vor bei eil te. Der Spre cher trat zur Sei te.

»Wer war das?« rief er.

In zwi schen war der jun ge Mann aus dem Tore

ge lau fen und in dem Wald, auf der an dern Sei te der

Stra ße, ver schwun den.

»Mr. Fre de rick!« rie fen alle, wie aus ei nem

Munde.

»Der scheints ja höl lisch ei lig zu ha ben!«

»Mir hat er fast die Ze hen ab ge tre ten«.

»Habt Ihr ge hört, was er im Vor bei lau fen sag -

te?«

»Nein. Was wars?«

»Ich hab wohl was ge hört, habs aber nicht ver -

stan den«.

»Ich glau be, er hat auch nicht zu Dir ge spro -

chen — ne ben bei be merkt: zu mir auch nicht. Doch

ich hab Oh ren: ich kann fast hö ren, wenn Ihr mit

den Au gen li dern winkt. Er sag te: »Gott sei Dank,

daß die se Schrec kensnacht vor über ist!« Denkt

Euch, solch herr li cher Ball, ein so präch ti ges Mahl

und das nennt er »Schrec kensnacht« und dankt

Gott, daß sie vor über ist. Ich glaub te im mer, er

wäre ge ra de ei ner von de nen, de nen es nie toll ge -

nug her ge hen könn te«.

»Das dach te ich auch«.

»Ich auch«.

Die fünf Mu si ker steck ten die Köp fe zu sam men.

»Wahr schein lich hat er mit sei nem Schatz

Streit ge habt«, be merk te der eine.

»Das wun dert mich nicht«, sag te ein an de rer.

»Ich glau be über haupt nicht, daß die bei de mal hei -

ra ten«.

»Wär auch ne Schan de, wenn sie’s tä ten«, rief

der ma ge re jun ge Mann, der zu erst ge spro chen.

Da der jun ge Mann, über den die Mu si ker spra -

chen der Sohn des Hau ses war, aus dem sie eben ge -

kom men dämpf ten sie ihre Stim men. Doch das In -

ter es se war er regt und flü sternd spra chen sie wei -

ter.

»Ich habe ihn be merkt«, sag te ein an de rer, der

bis jetzt still zu ge hört hat te, »als er mit Miß Page

zum er sten Tanz an trat und auch, als er in der letz -

ten Qua dril le ihr ge gen über tanz te und ich kann

Euch sa gen: es war ein gro ßer Un ter schied in sei -

nem Be neh men ge gen Miß Page in sei nem er sten

und dem letz ten Tanz! Man hät te kaum glau ben sol -

len, daß er der sel be Mann war. Jun ge Leu te, wie Mr.

Fre de rick, las sen sich nicht durch schö ne Grüb -

chen al lein fan gen; die wol len auch Baar geld ha -

ben«.

»Oder we nig stens ein Mäd chen aus fei ner Fa mi -

lie. Sie hat kei nes von bei den. Aber wie schön sie

ist! Ich ken ne man che rei che und vor neh me jun ge

Leu te, die froh wä ren, sie zu neh men, wie sie ist«.

»Schön!« rief der ma ge re Mu si ker und rümpf te

die Nase, »ich möch te wis sen, wo sie schön ist? Im

Ge gen teil ich fin de, sie hat ein sehr all täg li ches Ge -

sicht«.

»Oho!« rie fen die an dern, pro te stie rend und der

Vio lin spie ler füg te hin zu: »Wes halb rei ßen sich

dann alle jun gen Leu te um sie?«

»Sie hat kei nen ein zi gen re gel mä ßi gen Zug im

Ge sicht«.

»Was hat das mit dem Ein druck zu tun, den ihre

Per son macht?«

»Ich kann sie nicht lei den«.

Ein Ge läch ter folgte die sen Wor ten.

»Das wird sie wohl un ge heu er grä men, Sweet wa -

ter. Der jun ge Mr. Sut her land kann sie umso bes ser

lei den und dar an ist ihr je den falls mehr ge le gen.

Und ich be haup te, er wird sie auch hei ra ten! Er

kann gar nicht an ders. Sie ist im stan de, den Teu fel

zu be he xen, daß er sie hei ra te, wenn sie es sich in

den Kopf setz te, ihn zum Mann zu ha ben«.

»Der wür de je den falls bes ser zu ihr pas sen«,

brumm te Sweet wa ter. »Was in des Mr. Fre de rick be -

trifft . . . . .«

»Ssssst! Es kommt je mand aus dem Haus . . . . das

ist sie!«

Alle schau ten nach der Haus tü re, un ter der eine

gra ziö se, weiß ge klei de te Fi gur er schie nen war, die

nach der Stel le schau te, wo die Mu si ker stan den.

Hin ter ihr brann ten noch die Lich ter in der Hal le

und scharf hob sich ihre rei zen de Ge stalt von dem

hel len Hin ter grun de ab.

»Wer ist dort?« frag te sie in flü stern dem Tone.

Die Fra ge blieb un be ant wor tet, denn im sel ben

Augen blic ke wur den ei li ge Schrit te ver nehm bar

und lau te, un ver ständ li che Rufe dran gen her auf

zum Hü gel. Im mer nä her ka men die Schrei er. Die

Mu si ker gin gen zu rück, dem Hau se zu, ei ner der sel -

ben so gar bis zur Türe, wo noch im mer die wei ße

Ge stalt stand.

»Mord! Mord!« klang es nun deut lich in al ler Oh -

ren.

Kaum hat te die jun ge Dame dies ge hört, als sie

schnell die Türe schloß und sich zurück zog, zum

gro ßen Er stau nen des Mu si kers, der wu ß te, daß sie

die neu gie rig ste jun ge Dame im gan zen Städt chen

war.

»Mord! Mord!«

Ein schreck licher und in die sem got tes fürch ti -

gen Städt chen nie zu vor ge hör ter Schrei.

Im mer mehr Men schen ka men den Hü gel her -

auf.

»Mrs. Webb ist er mor det wor den! Mit ei nem

Mes ser! Er sto chen! Wo ist Mr. Sut her land?«

Mrs. Webb!

Als die Mu si ker den Na men die ser all sei tig ge -

lieb ten und ver ehr ten Frau hör ten, fuh ren sie zu -

sam men! Un mög lich! Mrs. Webb! Un glaub lich!

Sie gin gen zum Hau se zu rück und rie fen nach

Mr. Sut her land.

»Es kann nicht sein! Nicht Mrs. Webb! Wer wäre

so ver rucht oder herz los, sie zu er mor den?!«

»Das weiß Gott al lein«, rief eine Stim me von der

Stra ße her. »Aber daß sie tot ist, ha ben wir ge se -

hen«.

»Dann hats der alte Mann ge tan«, rief ei ner.

»Ich hab schon im mer ge sagt, daß er ei nes Ta ges

sei nen be sten Freund um bringt. Ein Mensch, wie

der, ge hört ins Nar ren haus und nicht . . . . . . . .«

Das Ueb ri ge ver lor sich in un ver ständ li chem Ge -

mur mel. Eine Hand hat te sich dem Spre cher auf

den Mund ge legt, in dem sel ben Augen blic ke, als

Mr. Sut her land auf der Ve ran da er schien.

Der dort stand, war ein schö ner Mann, mit aus -

drucks vol len Zü gen, aus de nen Freund lich keit und

Wür de gleich mäch tig spra chen. Kein Mann in wei -

tem Um krei se — ich hät te fast ge sagt: kei ne Frau —

ward mehr ge liebt und mehr ge ach tet, als er. Nur

auf Ei nen ver moch te er kei nen Ein fluß aus zu -

üben — was je der mann weit und breit wu ß te — auf

sei nen ein zi gen Sohn Fre de rick.

Schmerz und Be stür zung la gen auf des Man nes

Zü gen.

»Was schreit Ihr da?« frag te er. »Agat ha Webb?

Ist Agat ha Webb et was zu ge sto ßen?«

»Sie ward er mor det!« rie fen meh re re Stim men

zu gleich. »Wir kom men eben von ih rem Haus. Die

gan ze Stadt ist auf den Bei nen. Man sagt, ihr Mann

habe es ge tan«.

»Nein, nein!« sag te Mr. Sut her land, mehr zu

sich selbst als zu den Um ste hen den. »Phi le mon

Webb mag sich viel leicht selbst um brin gen, aber

nicht Agat ha. Es war ihr Geld . . . . . . . .«

Er rich te te sich auf und rief den Er reg ten zu:

»War tet! Ich gehe mit Euch! Wo ist Fre de rick?«

frag te er die Die ner, die ihn um stan den.

Nie mand wu ß te es.

»Bringt ihn hier her. Er soll mit mir in die Stadt

ge hen«.

»Er ist dort drü ben im Wald«, rief eine Stim me

von der Stra ße her.

»Im Wald?« wie der hol te der Va ter, aufs höch ste

er staunt.

»Ja wohl. Wir ha ben ihn hin ge hen se hen. Sol len

wir ihn ru fen?«

»Nein, dan ke. Ich kann schon ohne ihn fer tig

wer den«. Dann er griff er sei nen Hut und woll te

eben ge hen, als sich eine Hand auf sei nen Arm leg te

und eine wohl be kann te Stim me ihm zu flü ster te:

»Darf ich mit ge hen? Ich wer de Ih nen nicht be -

schwer lich fal len«.

Es war die jun ge Dame, die wir vor hin be ob ach -

tet hat ten.

Der alte Mann zog die Stir ne in Fal ten und ant -

wor te te ernst:

»Eine Mords tät te ist kein Platz für jun ge Da -

men«.

Die so An ge re de te blieb un be wegt.

»Ich den ke, ich gehe doch«, sag te sie. »Ich kann

mich ganz un be merkt un ter die Leu te mi schen«.

Er ant wor te te nicht mehr. Miß Page war zwar

eine An ge stell te in sei nem Hau se und ward für ihre

Lei stun gen be zahlt, doch seit lan gem ver such te nie -

mand, ihr zu wi der spre chen. Sie hat te seit ih rem er -

sten Er schei nen un ter der Türe das wei ße Ball kleid

mit ei nem ein fa chen, dunk le ren ver tauscht und

schloß sich so dem al ten Herrn an, der wort los der

Men ge folgte.

Nach und nach ver lie ßen auch die Dienst bo ten

das Haus, als letz ter Jer ry, der die Lich ter aus blies

und, nach dem er die Front tü re ge schlos sen, sich

den Neu gie ri gen an schloß. Den Ne ben ein gang aber

hat te er of fen ste hen las sen und durch die sen trat,

so bald die Trit te der Fort ge hen den in der Fer ne ver -

hallt wa ren, ein blei cher jun ger Mann: es war

Sweet wa ter, der Mu si ker, der die Schön heit Miß Pa -

ges in Fra ge ge stellt hat te.

II.

Im Dun kel der Nacht.

Sut her land town ist eine klei ne Ha fen stadt, die

aus nur ei ner Haupt stra ße und, da von ab zwei -

gend, vie len Ne ben stra ßen be steht. Die Haupt stra -

ße zieht sich ge ra des wegs vom Hü gel bis zur Werft.

Oben, an der Ecke der »Hill si de Lane« steht das

Webb-Haus, des sen Vor der ein gang nach der Haupt -

stra ße zu liegt. Das Haus war leicht zu fin den; war

es doch das ein zi ge, in dem noch Licht brann te,

ganz ab ge se hen von den Grup pen auf ge reg ter Men -

schen, die es um stan den.

Als Mr. Sut her land an kam, grü ß te ihn ein bei fäl -

li ges Ge mur mel. Die Men ge trat zur Sei te und gab

den Ein gang des Hau ses frei. Eben woll te er ein tre -

ten, als ihn je mand am Arme zupf te und sag te:

»Schau en Sie in die Höhe!«

Er tat so und sah den leb lo sen Kör per ei ner Frau

halb aus dem Fen ster des zwei ten Stoc kes hän gen.

»Wer ist das?« rief er. »Das ist nicht Agat ha

Webb!«

»Nein, das ist Bat sy, die Kö chin. Sie ist auch tot.

Wir lie ßen sie so lie gen, wie wir sie fan den, bis der

Un ter su chungs rich ter hier ist«.

»Das ist schreck lich!« mur mel te Mr. Sut her -

land.

Wie er so sprach, fühl te er sich wie der am Arm

be rührt. Er schau te sich um und be merk te die Ge -

stalt ei ner jun gen Dame. Ehe er sie in des an re den

konn te, war sie schon zwi schen der Men ge ver -

schwun den. Es war Miß Page.

»Der Kör per, der aus dem Fen ster hängt, zog zu -

erst die Auf merk sam keit auf das Haus«, sag te ein

Mann, der am Haupt ein gang des Hau ses stand und

die Men ge zurück hielt. »Die Frau en der Ma tro sen,

die heu te früh aus fuh ren, be merk ten, als sie von

der Werft zurück kamen, die Tote und schlu gen

Alarm. Hät ten die sie nicht be merkt, wü ß ten wir

viel leicht jetzt noch nicht, was pas siert ist«.

»Aber Mrs. Webb?«

»Tre ten Sie ein und se hen Sie selbst«.

Hin ter ei nem Holz zau ne, um ge ben von ei nem

Gärt chen, lag das klei ne Haus, in dem sich das

schreck lichste Dra ma ab ge spielt, das Sut her land -

town je ge se hen. In die sem Holz zau ne be fand sich

ein Tor, durch das nun mehr Mr. Sut her land schritt,

be glei tet von Miß Page, die sich ihm un be merkt an -

ge schlos sen. Ein Gar ten weg, auf bei den Sei ten von

Flie der um säumt, führ te zu der, jetzt of fen ste hen -

den Türe des klei nen Hau ses, aus der ihm Amos Fen -

ton, der Poli zist des Städt chens, ent ge gen trat.

»Ah, Mr. Sut her land«, sag te er, »ein trau ri ger

Fall, ein sehr trau ri ger Fall. Doch — wer ist die jun -

ge Dame bei Ih nen?«

»Das ist Miß Page«, ent geg ne te Mr. Sut her land,

sich um schau end und die Stir ne in Fal ten zie hend,

»die Nich te mei ner Haus häl te rin. Sie woll te ab so lut

mit kom men. Neu gier de na tür lich. Ge gen mei nen

Wil len«.

»Miß Page muß un ten blei ben. Wir ge stat ten

Nie man den Zu tritt — au ßer Ih nen na tür lich«, setz -

te er re spekt voll hin zu, ein ge denk der Tat sa che,

daß in Sut her land town nichts ohne Mr. Sut her land

un ter nom men wur de.

Miß Page, die schön er schien wie die Mor gen son -

ne und frisch wie das jun ge Gras im Gärt chen, warf

dem al ten Poli zi sten bit ten de Blic ke zu, die die sen

ver an la ß ten, sein stach li ges Kinn zu strei chen;

doch sei nen Be fehl än der te er nicht.

Als sie be merk te, daß er sich nicht er wei chen

ließ, trat sie, lie bens wür dig lä chelnd, zur Sei te, hin -

ter Bü sche, die sie den übri gen Neu gie ri gen ver -

barg.

Mr. Sut her land trat ins Haus.

Er kam in ei nen schma len Gang, aus des sen lin -

ker Sei te eine of fe ne Tür zu se hen war, wäh rend

hin ten eine Trep pe nach oben führ te. Un ter der er -

wähn ten of fe nen Türe stand ein Mann, der den An -

ge kom me nen höf lich grü ß te. Mr. Sut her land ging

still an ihm vor über und trat in das näch ste Zim -

mer, wo selbst an ei nem, mit Spei sen bedeck ten Ti -

sche, Phi le mon Webb saß, der Herr des Hau ses.

Er staunt, sei nen al ten Freund in die sem Zim mer

und in solch auf fal len der Stel lung zu fin den, woll te

er die sen eben an spre chen, als Mr. Fen ton da zwi -

schen trat.

»Ei nen Au gen blick, bit te! Be trach ten Sie den ar -

men Phi le mon erst nä her, ehe Sie ihn stö ren. Als

wir vor etwa ei ner hal ben Stun de ins Haus tra ten,

fan den wir ihn ganz in der sel ben Stel lung und, aus

be greif li chen Grün den, lie ßen ihn un be lä stigt. Be -

ob ach ten Sie ihn ge nau, Mr. Sut her land; er wird es

nicht mer ken«.

»Was fehlt ihm? Wes halb lehnt er sich so ge gen

den Tisch? Ist er auch ver wun det?«

»Nein. Se hen Sie sei ne Au gen an«.

Mr. Sut her land beug te sich nie der, bog die lan -

gen, wei ßen Loc ken zu rück und rief er regt:

»Die Au gen sind ge schlos sen! Er ist doch nicht

tot?«

»Nein, er schläft«.

»Schläft?«

»Ja. Er schlief, als wir her ein ka men und schläft

noch. Die Nach barn woll ten ihn auf wec ken, doch

gab ich das nicht zu. Sein Ge hirn wür de den plötz li -

chen Schreck nicht aus hal ten«.

»Nein, nein! . . . . . . Ar mer Phi le mon! Daß er

schla fen kann, wäh rend sie . . . . . . Doch was sol len

die se Fla schen hier be deu ten und der gedeck te

Tisch, in ei nem Zim mer, in dem sie sonst nie zu es -

sen pfleg ten?«

»Das wis sen wir nicht. Wie Sie se hen, wur den

die Spei sen hier nicht be rührt. Er trank ein Glas

Port wein, das war al les. In den an dern Glä sern war

kein Wein«.

»Stüh le für drei und nur ei ner be setzt«, mur mel -

te Mr. Sut her land. »Son der bar! Soll te er Gä ste er -

war tet ha ben?«

»Es scheint so. Ich wu ß te nicht, daß sei ne Frau

dies er laubt. Sie war im mer zu gut ge gen ihn und

ich fürch te, sie hat die se Güte mit ih rem Le ben be -

zahlt«.

»Un sinn! Er hat sie nicht ge tö tet! Hät te er sie

nicht ge ra de zu ab göt tisch ver ehrt — was er tat säch -

lich tat — so hät te er doch, selbst in sei nen dun kel -

sten Augen blic ken, nie Hand an sie ge legt!«

»Ich traue kei nem Gei stes kran ken«, ent geg ne te

der an de re. »Sie ha ben noch nicht al les ge se hen,

was merk wür dig ist in die sem Zim mer«.

Mrs. Sut her land blick te schnell um her. Au ßer

dem Tisch und was dar auf stand, konn te er nichts

auf fal len des be mer ken. Er schau te da her wie der

auf Phi le mon Webb.

»Ich sehe nichts — au ßer dem ar men Schlä fer

hier«.

»Be trach ten Sie sei nen Aer mel«.

Schnell beug te sich Mr. Sut her land nie der. Der

Arm des al ten Man nes lag auf dem Ti sche; am Aer -

mel der blau en Jac ke konn te man deut li che Flec ken

se hen, die zwar von Rot wein her stam men konn ten,

die aber in Wirk lich keit — Blut wa ren.

Als Mr. Sut her land die se Ge wiß heit er langt, er -

bla ß te er und schau te fra gend auf den Mann ne ben

ihm, der ihn auf merk sam be trach te te.

»Schlimm!« sag te er. »Noch an de re Blut spu ren

hier un ten?«

»Nein, dies sind die ein zi gen«.

»O, Phi le mon!« ent fuhr es Mr. Sut her land

schmerz lich. Dann be trach te te er wie der sei nen al -

ten Freund und setz te lang sam hin zu:

»Er be fand sich of fen bar in dem Zim mer, in dem

sei ne Frau ge tö tet ward, doch glau be ich nicht, daß

er weiß, was dort ge schah, sonst wür de er hier

nicht so ru hig schla fen. Las sen Sie uns nach oben

ge hen!«

Fen ton nick te sei nem Un ter ge be nen zu, auf zu -

pas sen und wand te sich so dann zur Trep pe, wo hin

ihm Mr. Sut her land folgte. Sie gin gen di rekt durch

den obe ren Gang nach dem gro ßen Vor der zim mer,

das der Schau platz des Dra mas war. Ein ein fa cher

Tep pich bedeck te den Fuß bo den, alte, an spruch lo -

se Mö bel stan den an den Wän den.

Auf ei nem alt mo di schen So pha lag die tote Her -

rin des Hau ses. Ob wohl sie ei nen ge walt sa men Tod

ge fun den, ging von ih rer Ge stalt und ih ren Zü -

gen — bei de von sel te nem Eben maß — eine sol che

Ruhe aus, daß Mr. Sut her land, der an ihre vor neh -

me Er schei nung und ihre ma je stä ti sche Wür de ge -

wohnt war, er staunt aus rief:

»Er mor det?! Sie?! Sie ir ren, mein Herr! Se hen

Sie ihr Ge sicht an!«

Doch da fiel sein Blick auf das Blut, das an ih rem

Klei de kleb te und er frag te schau ernd:

»Wo ward sie ge trof fen? Wo ist die Waf fe?«

»Sie ward of fen bar ge trof fen, wäh rend sie an

die sem Ti sche stand oder saß«, ent geg ne te Fen ton

und deu te te auf zwei oder drei Trop fen Blut, die auf

der po lier ten Tisch plat te zu se hen wa ren. »Die Waf -

fe konn ten wir nicht fin den, doch zeigt die Wun de,

daß es ein drei schnei di ger Dolch ge we sen sein

muß«.

»Ein drei schnei di ger Dolch?«

»Ja wohl«.

»Ich wu ß te nicht, daß ein sol cher sich in der

Stadt be fand. Phi le mon kann un mög lich ei nen sol -

chen Dolch ge habt ha ben«.

»Schein bar nicht; doch man kann nie si cher

sein. Solch alte Häu ser, wie die ses, ent hal ten oft die

merk wür dig sten Ar ti kel«.

»Ich glau be kaum, daß je ein sol cher Dolch in die -

sem Hau se war«, er klär te Mr. Sut her land. »Wo fan -

den Sie Mrs. Webb, als Sie ins Haus ka men?«

»An der sel ben Stel le, wo Sie sie jetzt se hen. Es

ward nichts im Zim mer be rührt oder von der Stel le

be wegt«.

»Sie fan den sie hier, auf die sem So pha, in der sel -

ben Lage, wie ich sie jetzt sehe?«

»Ge wiß«.

»Das ist kaum glaub lich! Se hen Sie, wie sie da -

liegt: die Hän de ge fal tet, die Au gen ge schlos sen, ge -

ra de als ob sie zur Beer di gung ge tra gen wer den soll -

te . . . . Nur lie ben de Hän de kön nen dies ge tan ha -

ben! Was hat dies zu be deu ten?«

»Das deu tet auf Phi le mon, klar und deut lich«.

Mr. Sut her land er schau er te, doch er sag te

nichts. Er war starr, die sen Be wei sen des Wer kes ei -

nes Gei stes schwa chen ge gen über. Phi le mon Webb

schien stets so harm los, voll kom men, harm los, ob -

wohl sein Geist sich seit zehn Jah ren im mer mehr

um nach te te.

»Aber«, fuhr Mr. Sut her land plötz lich auf, »es

ist noch ein an de res Op fer im Hau se! Ich sah die

alte Bat sy aus dem Fen ster hän gen, tot!«

»Ja, sie ist im näch sten Zim mer. Es ist aber kei ne

Wun de an Bat sy zu fin den«.

»Wie ward sie dann ge tö tet?«

»Das müs sen uns die Dok to ren sa gen«.

Mr. Sut her land ging mit Fen ton in das klei ne, an -

sto ßen de Zim mer und sah auf den er sten Blick die

leb lo se Ge stalt der al ten Bat sy aus dem Fen ster hän -

gen, wie er sie schon von der Stra ße aus be merkt

hat te. Daß sie tot war, un ter lag kei nem Zwei fel.

Doch, wie Fen ton ge sagt hat te, es war kei ne Wun de

an ihr zu fin den, kei ne Blut spur, nichts, das auf die

Art und Wei se ih res To des hät te hin wei sen kön nen.

»Das ist schreck lich!« jam mer te Mr. Sut her land,

»das schreck lichste, was ich je ge se hen! Hel fen Sie

mir, den Leich nam her ein zu brin gen. Sie lag lan ge

ge nug zur Schau der Neu gie ri gen aus dem Fen -

ster.«

Es be fand sich ein Bett in die sem Zim mer — in

der Tat war es Mrs. Webbs Schlaf zim mer — und auf

die ses leg ten sie die Tote. Als ihr Ge sicht zu se hen

war, schau ten sich die bei den Män ner er staunt an:

der Aus druck von Schreck und Angst, den sie hier

sa hen, stand in auf fal len dem Ge gen satz zu der

Ruhe und Ma je stät, die auf den Zü gen der to ten Her -

rin la gen!

III.

Die lee re Schub la de.

Als die bei den Män ner in das er ste Zim mer

zurück traten, wa ren sie nicht we nig er staunt,

Miß Page zu se hen, die un ter der Türe stand. Sie

starr te die Tote an und schien die bei den Män ner

nicht zu be mer ken.

»Wie kom men Sie hier her? Wer hat Sie, ent ge -

gen mei nem aus drück lichen Be fehl, ein tre ten las -

sen?« frag te Fen ton, är ger lich und er regt.

Sie ließ ihre Ka pu ze vom Kop fe fal len und sah

den Fra ger lä chelnd an, mit dem sel ben ge win nen -

den Lä cheln, mit dem sie ver sucht hat te, ihn vor

dem Hau se ih ren Wün schen ge fü gig zu ma chen. Da -

mals hat te er wi der stan den, doch dem aber ma li gen

Ver such konn te er nicht stand hal ten.

»Ich be stand dar auf, ein ge las sen zu wer den«,

sag te sie. »Ma chen Sie den Män nern drau ßen kei -

nen Vor wurf; sie woll ten ei ner Dame ge gen über kei -

ne Ge walt an wen den«.

Ihre Stim me war nicht wohl klin gend und sie wu -

ß te das; sie schlug da her den Ton an, der ihre Wor -

te zu Her zen trug und sie sieg te auch über den al -

ten, wet ter har ten Amos Fen ton.

»Na, na«, mur mel te er, »das ist schlim me Neu -

gier de, die Sie hier her führ te. Le gen Sie die bes ser

ab; eh ren wer te Per so nen miß ver ste hen der glei -

chen sehr leicht«.

»Dan ke«, ent geg ne te sie mit schel mi schem Lä -

cheln, das Fal ten auf Mr. Sut her lands Stir ne brach -

te. Er schau te von ihr nach der To ten und sag te in

vor wurfs vol lem Tone:

»Ich ver ste he Sie nicht, Miß Page. Wenn die ser

An blick Ih rer Ko ket te rie kei nen Zwang auf er le gen

kann, dann weiß ich nicht, was über haupt die se in

Schran ken zu hal ten ver mag! Was Ihre Neu gier de

be trifft, so ist sel bi ge eben so un pas send als un weib -

lich. Ver las sen Sie dies Haus so fort, Miß Page! Und

soll ten Sie in den paar Stun den, die noch bis zum

Früh stück da hin ge hen, Zeit fin den, Ihre Kof fer zu

packen, wür den Sie mich noch be son ders ver pflich -

ten«.

»Schic ken Sie mich nicht fort, ich bit te Sie!«

Es war dies ein Schrei aus in ner stem Her zen,

den sie je den falls gleich be dau er te, denn sie ver -

such te so fort die sen un vor sich ti gen Selbst ver rat

durch Beu gen ih res schö nen Kop fes und durch

Zurück treten zu ver wi schen. We der Mr. Sut her -

land noch Amos Fen ton schien das eine oder das an -

de re be merkt zu ha ben; hat ten sie doch ihre Auf -

merk sam keit wich ti ge ren Sa chen zu ge wandt.

»Ih rer Klei dung nach zu ur tei len«, sag te Mr. Sut -

her land, der die Tote wie der ein ge hend be trach te -

te, »scheint mei ne unglück liche Freun din vor dem

Schla fen ge hen er mor det wor den zu sein. Wenn Phi -

le mon — —«

»Ent schul di gen Sie, mei ne Her ren«, rief da der

jun ge Mann, der in der Hal le zurück gelassen wor -

den war, »die jun ge Dame horcht, was Sie sa gen. Sie

steht noch oben auf der Trep pe«.

»So ist es! So ist es!« rief Fen ton, des sen Ga lan te -

rie bei der Zu recht wei sung von sei ten sei nes Ka mer -

aden ver schwun den war. »Ich will ihr aber zei -

gen . . . .«

Als er zur Türe ge kom men, war die jun ge Dame

ver schwun den und nur ein fei nes Par füm er in ner te

dar an, daß sie kurz zu vor hier ge stan den.

»Eine merk wür di ge Per son«, mur mel te der Poli -

zist beim Zurück gehen. Er kehr te in des so fort wie -

der um, da er in der un te ren Hal le Stim men hör te.

»Der alte Mann ist wach!« rief eine Stim me hin -

auf. So fort stie gen Fen ton und Mr. Sut her land die

Trep pe hin ab.

Miß Page stand un ter der Türe des Zim mers, in

dem Phi le mon Webb saß. Als die bei den Män ner nä -

her ka men, mach te sie eine halb iro ni sche, halb ab -

bit ten de Ver beu gung und ver ließ das Haus.

Wie von ei nem Bann er löst, at me ten die bei den

Män ner auf und be son ders Mr. Sut her land war

durch das Fort ge hen der jun gen Dame sicht bar er -

leich tert.

»Ich wünsch te, der Dok tor wäre hier«, sag te Fen -

ton. »Ich sand te un sern be sten Rei ter nach ihm,

doch er ist ir gend wo da drau ßen am Port che ster

Weg und es kann eine Stun de dau ern, ehe er

kommt«.

»Phi le mon!« rief Mr. Sut her land, in dem er die

Hand sei nem al ten Freund auf die Schul ter leg te,

»Phi le mon! Wo sind Dei ne Gä ste? Du hast bis zum

Mor gen auf sie ge war tet!«

Phi le mon schau te er staunt auf die bei den Gedek -

ke ne ben ihm und sag te, in dem er mit dem Kop fe

schüt tel te: »James und John wer den stolz — oder

sie ha bens ver ges sen, sie ha bens ver ges sen«.

James und John. Er mein te wohl die Za bels. Es

gibt aber so vie le Leu te in der Stadt, die die se Vor na -

men tra gen.

Wie der frug Mr. Sut her land:

»Phi le mon, wo ist Dei ne Frau? Ich sehe, es ist

hier nicht für sie ge deckt«.

»Agat ha ist nicht wohl, Agat ha ist är ger lich. Sie

küm mert sich nicht um ei nen al ten, kran ken

Mann, wie ich«.

»Agat ha ist tot und Du weißt es!« schrie der Poli -

zist un über leg ter Wei se. »Wer hat sie er mor det?

Sag, wer hat sie er mor det?«

Der plötz li che Schreck nahm dem Kran ken den

letz ten Rest von kla rer Be sin nung. Mit dem gur -

geln den La chen, das Gei stes schwa chen ei gen ist, er -

wi der te er:

»Die Mie ze-Kat ze, es war die Mie ze-Kat ze. Wer

ist er mor det? Ich bin nicht er mor det. Laßt uns

nach Je ri cho ge hen«.

Mr. Sut her land nahm ihn un ter dem Arm und ge -

lei te te ihn nach oben. Viel leicht wür de der An blick

sei ner to ten Gat tin ihn zur Be sin nung brin gen.

Doch er schau te sie an, mit dem sel ben star ren Blick

des Nicht er ken nens, mit dem er al les an de re be -

trach te te.

»Ich kann dies Ka li ko-Kleid nicht lei den«, sag te

er nach ei ner Wei le. »Sie kann er for dern, sich in Sei -

de zu klei den, doch sie will nicht. Agat ha, wirst Du

zu mei nem Be gräb nis dein Sei den kleid an zie hen?«

Er schüt tert, zog Mr. Sut her land den al ten Mann

hin weg und über gab ihn der Ob hut ei nes Poli zi -

sten.

Fen tons Neu gier de war er regt wor den. Er nahm

Mr. Sut her land bei Sei te und flü ster te:

»Was woll te der alte Mann da mit sa gen: sie

kann er for dern, sich in Sei de zu klei den? Sind die

Leu te etwa nicht so arm, als sie schei nen?«

Ehe Mr. Sut her land ant wor te te, schloß er die

Türe.

»Sie sind reich«, er klär te er so dann dem er staun -

ten Fra ger, »das heißt, sie wa ren reich; viel leicht

wur den sie be raubt. Wenn dem so ist, dann war es

si cher nicht Phi le mon, der sie tö te te. Wie ich hör te,

be wahr te Agat ha ihr Geld in ei nem alt mo di schen

Wand schrank auf — wie etwa die ser hier«, setz te er

hin zu, auf eine Dop pel tü re in der Wand über dem

Ka min feu er zei gend.

Fen ton, der ei nen Schlüs sel im Schloß be merk -

te, ging so fort hin und öff ne te die Tü ren. Erst sah er

nichts, als ei ni ge Rei hen Bü cher. Als er die se je doch

her ab ge nom men, be merk te er da hin ter zwei

Schub la den.

»Sind sie ver schlos sen?« frag te Mr. Sut her land.

»Eine ist, die an de re nicht«.

»Oeff nen Sie die un ver schlos se ne«.

Fen ton tat so.

»Sie ist leer«, sag te er.

Mr. Sut her land warf wie der um ei nen Blick nach

der To ten. Die eben mä ßi gen Züge, die see li sche

Ruhe, die auf ih nen lag, be rühr ten ihn son der bar.

»Ich weiß nicht, ward sie das Op fer ih res gei stes -

schwa chen Gat ten oder ei nes ruch lo sen Räu bers.

Se hen Sie doch, ob Sie den Schlüs sel zu der an dern

Schub la de fin den kön nen«.

»Ich will’s ver su chen«.

»Viel leicht fan gen Sie mit Su chen am be sten bei

der To ten an; der Schlüs sel soll te sich in ih rer Ta -

sche fin den, wenn kein Dieb ihn weg ge nom men

hat«.

»Er ist nicht in der Ta sche«.

»Viel leicht hängt er an ei ner Schnur an ih rem

Hal se?«

»Nein. Da hängt wohl ein Me dail lon, aber kein

Schlüs sel. Ein pracht vol les Me dail lon, Mr. Sut her -

land, mit ei ner gol de nen Haar loc ke ei nes Kin des

dar in — — —«

Wir kön nen das spä ter be trach ten; jetzt wol len

wir erst den Schlüs sel su chen«.

»Herr des Him mels!«

»Was ist’s?«

»Sie hat den Schlüs sel in der Hand — in der

Hand, auf der sie liegt!«

»Ah! Das ist wich tig, Fen ton!«

»Sehr wich tig!«

»Blei ben Sie hier, Fen ton. Las sen Sie kei nen

Men schen die sen Schlüs sel weg neh men, bis der Un -

ter su chungs rich ter hier war und dies selbst ge se -

hen!«

»Ich wer de hier blei ben«.

»In zwi schen will ich die se Bü cher wie der an ih -

ren Platz stel len«.

Er war kaum da mit fer tig, als eine an de re Per -

son im Hau se er schien: Pa stor Cra ne.

IV.

Die vol le Schub la de.

Der Neu an ge kom me ne hat te wich ti ges zu er zäh -

len. Zu frü her Mor gen stun de, vom Kran ken -

bet te ei nes sei ner Pfarr kin der kom mend, war er an

die sem Hau se vor über ge gan gen. Als er eben die

Türe pas sier te, lief ein Mann in höch ster Er re gung

aus dem Hau se; in der Hand hielt er et was glän zen -

des und ob gleich er ihn — den Pa stor — fast um ge -

rannt, blieb er doch nicht ste hen, sich zu en schul di -

gen, son dern eil te mit un si che ren Schrit ten da hin.

Dar aus schloß der Pa stor, daß der Frem de alt war.

Au ßer dem sah er auch die Spit zen ei nes wei ßen lan -

gen Voll bar tes über die Schul tern flat tern; das Ge -

sicht konn te er nicht se hen.

Phi le mons Ge sicht ist glatt ra siert.

Um ge naue re Zeit an ga be ge fragt, sag te der Pa -

stor, daß es un ge fähr um Mit ter nacht ge we sen sein

muß, denn halb ein Uhr be fand er sich wie der in sei -

nem Hau se.

»Ha ben Sie im Vor über ge hen nach den Fen stern

ge se hen?« frag te Fen ton.

»Ich er in ne re mich, daß bei de be leuch tet wa -

ren«.

»Wa ren die Ja lu sien her ab ge las sen?«

»Ich glau be nicht, sonst wäre mir das auf ge fal -

len«.

»Wie wa ren die Ja lu sien, als Sie heu te Mor gen

ins Haus ka men?« frag te Mr. Sut her land den Poli zi -

sten.

»Ge nau so, wie Sie sie jetzt se hen; es ward nichts

im Hau se be rührt. Bei de Ja lu sien wa ren her ab ge las -

sen, die eine über ein of fe nes Fen ster«.

»Die se Be geg nung mit dem Un be kann ten ist

von grö ß ter Wich tig keit, Herr Pa stor«.

»Ich wün sche, ich hät te sein Ge sicht ge se hen«.

»Was mag wohl der glit zern de Ge gen stand ge we -

sen sein, den Sie in sei ner Hand sa hen?«

»Ich möch te kei ne Mei nung dar über äu ßern;

ich sah den Mann nur eine flüch ti ge Se kun de«.

»Kann es ein Mes ser oder ein alt mo di scher

Dolch ge we sen sein?«

»Mög lich«.

»Arme, arme Agat ha! Daß ge ra de sie, die das

Geld so ver ach te te, das Op fer ei nes hab gie ri gen

Mör ders wer den mu ß te! Ein glück loses Le ben und

ein glück loses Ende . . . . Fen ton, ich wer de mein Le -

ben lang um Agat ha Webb trau ern«.

»Und doch scheint es, als ob sie end lich Ruhe ge -

fun den habe«, sag te der Pa stor. »Ich sah sie im Le -

ben nie so see lisch zu frie den«. Dann, Mr. Sut her -

land bei Sei te zie hend, frag te er: »Was sag ten Sie

eben von Geld? Hat sie wirk lich, ent ge gen al lem An -

schein, über ein grö ße res Ver mö gen ver fügt? Ich

fra ge des halb, weil sie, trotz ih rer ein fa chen Klei -

dung und ih rer ein fa chen Le bens wei se, stets mehr

für die Kir che gab, als ir gend ei ner ih rer Nach barn.

Au ßer dem be kam ich von Zeit zu Zeit an onym grö -

ße re Be trä ge zu ge sandt, stets für arme, kran ke Kin -

der be stimmt, die . . . . .«

»Ja, ja, die ka men von ihr, ohne Zwei fel von ihr.

Sie wa ren nicht arm, ob wohl ich nie wu ß te, wie

reich sie war, bis in letz ter Zeit. Sie zo gen of fen bar

vor, ein fach zu le ben und da sie kei ne Kin der am Le -

ben ha ben — —«

»Man sag te mir, sie be gru ben sechs«.

»So sa gen die Leu te von Port che ster. Je den falls

hat ten sie kein Ver lan gen nach welt li chen Ge nüs -

sen und ga ben sich auch nie sol chen hin«.

»Phi le mon hat wohl seit Jah ren nach nichts

mehr ver langt?«

»O, er lebt ger ne gut und hat te auch im mer, was

sein Herz ver lang te. Agat ha schlug ihm nie et was

ab«.

»Wes halb den ken Sie, daß Geld die Ur sa che ih -

res ge walt sa men To des ge we sen?«

»Sie hat te eine grö ße re Sum me im Hau se und es

gibt vie le hier her um, die das wu ß ten«.

»Ist das Geld nicht mehr im Hau se?«

»Das wer den wir spä ter er fah ren«.

In die sem Augen blic ke kam der Un ter su chungs -

rich ter an. Er war ein Mann von we nig Wor ten und

noch we ni ger Füh len. Um so mehr über rasch ten sei -

ne er sten Wor te:

»Wer ist die jun ge Dame, die da drau ßen steht,

die ein zi ge Frau ens per son un ter den Neu gie ri -

gen?«

Mr. Sut her land ging schnell ans Fen ster, bog die

Ja lu sie zur Sei te und er wi der te dann:

»Das ist Miß Page, die Nich te mei ner Haus häl te -

rin. Sie folgte mir hier her und wir konn ten sie

kaum aus dem Zim mer hier brin gen, wo hin sie mir,

ent ge gen mei nem aus drück lichen Wun sche, ge -

folgt war. Ich be grei fe nicht, was sie an dem Mord

in ter es sie ren kann«.

»Se hen Sie nur, wie sie da steht!« rief Fen ton.

»Sie scheint noch ver rück ter als Phi le mon zu sein«.

Ihr Be neh men gab viel leicht Ver an las sung zu

die ser Be mer kung. In mit ten des klei nen Gar tens,

von der er reg ten Men ge durch den ho hen Bret ter -

zaun ge trennt, stand sie, hoch auf ge rich tet, un be -

weg lich, ge spannt hor chend. Ihre Ka pu ze hat te sie

wie der über den Kopf ge zo gen und so glich sie eher

ei ner grau en Sta tue, als ei nem le ben den, at men den

We sen. Ihr Blick, den Be ob ach tern zu ge rich tet,

mach te die se er schau ern.

»Ein merk wür di ges Mäd chen«, sag te der Pa stor.

»Und eine, die ich we der in Schutz neh me, noch

be grei fe«, setz te Mr. Sut her land hin zu. »Ich zeig te

ihr so eben mei nen Un mut über ihr Ein drin gen, in -

dem ich sie aus mei nen Dien sten ent ließ«.

Der Un ter su chungs rich ter warf ihm ei nen

schnel len Blick zu, öff ne te den Mund zum Spre -

chen, schien sei ne Ab sicht je doch so fort zu än dern

und wand te sich der To ten zu.

»Wir ha ben eine trau ri ge Pflicht vor uns«, sag te

er.

Die Un ter su chung, die er nun mehr vor nahm,

brach te zwei Tat sa chen zu Tage. Er stens: daß alle

Tü ren des Hau ses un ver schlos sen ge we sen und

zwei tens: daß der Poli zist mit den Er sten ins Haus

ge tre ten und so ver si chern konn te, daß, au ßer

Batsy’s Ent fer nung vom Fen ster nach dem Bet te,

nichts im Hau se be rührt wor den war. Als er dann

die Tote be sich tig te, fand er den Schlüs sel in ih rer

Hand.

»Wozu ge hört die ser Schlüs sel?« frag te er.

Man zeig te ihm die Schub la den im Wand -

schrank.

»Die eine ist leer«, sag te Mr. Sut her land. »Wenn

die an de re eben falls leer ist, dann liegt ein Raub -

mord vor. Der Schlüs sel, den sie in der Hand hält,

soll te bei de Schub la den öff nen«.

»Dann wol len wir so fort nach se hen. Es ist von

höch ster Wich tig keit, zu wis sen, ob nur ein Mord

vor liegt oder ein Raub mord«.

Dar auf nahm er den Schlüs sel aus der To ten

Hand und gab ihn Fen ton, der so fort die Schub la de

auf schloß und sie, mit ih rem gan zen In halt, auf den

Tisch stell te.

»Hier drin ist kein Geld«, sag te er.

»Aber Pa pie re, die so gut sind, als Geld«, be merk -

te der Rich ter. »Se hen Sie hier: Hy po the ken brie fe

und vie le gute Staats pa pie re. Es scheint, sie war rei -

cher, als Je mand von uns wu ß te«.

Mr. Sut her land schau te mit ent täusch ter Mie ne

in die nun lee re Schub la de.

»Wie ich fürch te te«, sag te er. »Man hat sie ih res

Baar gel des be raubt. Es be fand sich dies zwei fel los

in der an dern Schub la de«.

»Wie kann sie dann den Schlüs sel in der Hand

hal ten?«

»Das ist ei nes der Ge heim nis se die ses Fal les. Die -

ser Mord ist nicht so ein fach; es dünkt mir viel -

mehr, als ob wir vie le Ue ber ra schun gen zu ge wär ti -

gen hät ten«.

»So zum Bei spiel: Bat sys Tod«.

»O ja, Bat sy! Ich ver gaß ganz, daß sie auch tot

auf ge fun den ward«.

»Und ohne jede Wun de, Herr Rich ter«.

»Sie war herz krank; der Schreck hat sie wohl ge -

tö tet«.

»Ihr Ge sichts aus druck scheint die se An nah me

zu be stä ti gen«.

»Las sen Sie mal se hen. So scheint es in der Tat!

Es muß je doch eine Sek tion vor ge nom men wer den,

dies zu be stä ti gen«.

»Ehe wir wei ter ge hen, möch te ich er klä ren, wie -

so ich weiß, daß Agat ha Baar geld im Hau se hat te«,

sag te Mr. Sut her land, als sie ins an de re Zim mer zu -

rück gin gen. »Vor ge stern, als ich mit mei ner Fa mi -

lie zu Ti sche saß, kam Judy, die alte Klatsch ba se, ins

Zim mer. Wäre Mrs. Sut her land am Le ben, hät te sie

es nicht ge wagt, zur Ess ens zeit ein zu drin gen; doch

so, da Nie mand die Hon neurs des Hau ses ver tritt,

kam sie ein fach ins Zim mer ge lau fen und kram te

ihre Neuig kei ten aus. Sie kam eben von Mrs. Webb.

Mrs. Webb habe Geld, viel Geld im Hau se; sie habe

es ge se hen; sie sei, wie ge wöhn lich, ohne an zu klop -

fen ins Haus ge gan gen; da sie Agat ha oben hör te,

ging sie hin auf; die Türe stand of fen und sie schau -

te hin ein; Agat ha ging eben durchs Zim mer, Pa pier -

geld in der Hand, viel Geld; sie leg te die Schei ne in

eine Schub la de hin ter den Bü chern im Wand -

schrank und sag te: »Ein tau send Dol lars! Das ist zu -

viel Geld, im Hau se zu be hal ten«; sie — Judy — sei

der sel ben Mei nung; sie habe Angst be kom men und

sei ge räusch los da von ge rannt, den Nach barn zu er -

zäh len, was sie ge hört und ge se hen. Glück -

licherweise war ich der Er ste, den sie an je nem Mor -

gen traf, doch bin ich über zeugt, daß sie, trotz mei -

ner aus drück lichen Ver war nung, ihre Neuig keit

noch bei min de stens ei nem hal ben Dut zend An de -

rer aus ge kramt hat«.

»War die jun ge Dame dort un ten zu ge gen, als

Judy dies er zähl te?« frag te der Un ter su chungs rich -

ter.

Mr. Sut her land sann nach. »Viel leicht — ich er -

in ne re mich nicht mehr ge nau . . . Fre de rick saß mit

mir am Ti sche, wäh rend mei ne Haus häl te rin den

Kaf fee ein goß. Ich glau be kaum, daß Miß Page zu ge -

gen war; sie steht nicht so früh auf — sie ist in letz -

ter Zeit ziem lich »vor nehm« ge wor den«.

»Soll te es mög lich sein, daß er so blind ist und

nicht sieht, daß sein Sohn Fre de rick die ses Mäd -

chen hei ra ten will?« flü ster te Pa stor Cra ne dem

Poli zi sten ins Ohr.

Die ser zog als Ant wort die Schul tern in die

Höhe. Mr. Sut her land war ein Mann, freund lich ge -

gen Je der mann, aber de sto un er gründ li cher.

V.

Eine Spur im Gra se.

Als der Un ter su chungs rich ter, ge folgt von Mr.

Sut her land, aus der Türe trat, bot sich den bei -

den ein merk wür di ger An blick dar. Miß Page stand

noch im mer un be weg lich auf der sel ben Stel le und

schau te die Kom men den un ver wandt an. Als sie in

ih rer Nähe wa ren, zog sie die rech te Hand aus dem

Um han ge her vor, deu te te auf das Gras zu ih ren Fü -

ßen und sag te ru hig:

»Se hen Sie dies?«

Die bei den Män ner bee il ten ihre Schrit te, beug -

ten sich nie der und be trach te ten an ge le gent lich

die be zeich ne te Stel le.

»Was se hen Sie da?« frag te Mr. Sut her land, der

ohne Glä ser in der Nähe nicht mehr gut se hen konn -

te.

»Blut«, ent geg ne te der Rich ter, ei nen Gras halm

abpflüc kend und ihn ge nau be trach tend.

»Blut!« wie der hol te Miß Page, mit ei nem so be -

zeich nen den Blick, daß Mr. Sut her land sie ver wirrt

an schau te, eine Emp fin dung, die er sich nicht er klä -

ren konn te.

»Wie konn ten Sie die se kaum sicht ba ren Flek -

ken be mer ken?« frag te der Rich ter.

»Kaum sicht bar? Es ist das ein zi ge, was ich in

dem gan zen Gar ten sehe!« Und mit ei ner Ver beu -

gung, die nicht ohne Spott war, ging sie dem Tore

zu.

»Ein un be greif li ches Mäd chen«, sag te der Un ter -

su chungs rich ter. »Aber sie hat recht, was die se Flek -

ken an be trifft. Abel«, rief er den Mann an, der an

der Türe stand, »brin gen Sie eine lee re Ki ste oder

ein Faß und dec ken Sie die se Stel le hier zu. Ich will

nicht, daß Je mand das Gras hier zer tritt«.

Abel ging, den Auf trag aus zu füh ren und kam

eben an das Tor, als Miß Page dies zu öff nen im Be -

grif fe war.

»Wol len Sie mir, bit te, hel fen«, sag te sie. »Ich

kann nicht durch die se Men schen men ge kom -

men«.

»Nicht?« rief eine Stim me von au ßen. »Ge hen

Sie her aus, wäh rend ich hin ein ge he und Sie fin den

ei nen Weg of fen«.

Da sie die Stim me des Spre chers nicht er kann te,

zö ger te sie; doch da das Tor sich eben be weg te, pre -

ß te sie ge gen das sel be und stand im näch sten

Augen blic ke dem Ein tre ten den ge gen über.

»Ah, Sie sind es«, mur mel te der, sie durch drin -

gend an schau end.

»Ich ken ne Sie nicht!« ent geg ne te sie na ser ümp -

fend und schlüpf te aus dem Tore, ehe er Zeit zum

Er wi dern fand. Er schnalz te mit den Fin gern der

rech ten Hand und wink te lä chelnd Abel zu, der er -

staunt die sem Zwie ge spräch zu ge hört hat te.

»Schmieg sam, wie ’ne Wei de, he?« sag te der An -

ge kom me ne. »Nun, ich habe schon oft Pfei fen aus

Wei den ge schnit ten und —. Wie kommst Du zu

dem?« brach er plötz lich ab und deu te te auf eine

sel te ne Blu me, die halb welk aus Abels Knopf loch

hing.

»Das? Oh, ich hab sie im Haus ge fun den; sie lag

auf dem Bo den, fast un ter Batsy’s Röc ken. Merk wür -

di ge Blu me, was? Wun der, wo her sie sie hat te«.

Der An de re ward so fort äu ßerst er regt. Sei ne

grü nen Au gen leuch te ten son der bar.

»War das, ehe die jun ge Hexe, die Du eben hin -

aus ge las sen, ins Haus kam?« frag te er.

»Oh ja, ehe über haupt Je mand auf den Hü gel

kam. Was soll die jun ge Dame mit ei ner Blu me zu

tun ha ben, die Bat sy fal len ließ?«

»Sie? Nichts. Nur möch te ich Dir ra ten — und Du

weißt, ich habe Dir noch im mer gut ge ra ten —

nimm das Ding aus Dei nem Knopf loch. Stec ke die

Blu me in ein Ku vert und be wah re sie gut auf und

wenn sie Dir nicht ei nes Ta ges ab ver langt wird, um

eine wich ti ge Rol le zu spie len, dann darfst Du mich

ei nen Esel hei ßen und ver ges sen, daß wir Spiel ka -

mer aden ge we sen«.

Abel lä chel te, nahm aber die Blu me aus dem

Knopf loch und schick te sich an, das Gras zu bedek -

ken, wie Dr. Tal bot ihm auf ge tra gen.

Der An de re stell te sich ans Tor, dem der Un ter -

su chungs rich ter und Mr. Sut her land sich eben nä -

her ten und mach te Mie ne, sie an zu re den. Es war

der Mu si ker, den wir Mr. Sut her lands Haus be tre -

ten sa hen, als der letz te der Die ner es ver las sen hat -

te.

»Dr. Tal bot«, re de te er den Un ter su chungs rich -

ter an, der nun vor ihm stand. »Sie ha ben oft ver -

spro chen, mir zu er lau ben, mei ne Fä hig keit als De -

tek tiv zu be wei sen, so bald sich ein mal Ge le gen heit

hier zu böte. Den ken Sie nicht, daß die Zeit hier zu

nun mehr ge kom men?«

»Ah, Sweet wa ter! Ich glau be, der Fall ist zu ver -

wic kelt für den er sten Ver such ei nes un er fah re nen

Man nes. Ich muß je den falls ei nen Ex per ten von Bo -

ston kom men las sen. Ein an der Mal, Sweet wa ter,

wenn die Kom pli ka tio nen nicht so ern ster Na tur

sind«.

Der jun ge Mann er bla ß te und wand te sich zum

Ge hen.

»Darf ich we nig stens hier her um blei ben?« frag -

te er, mit bit ten der Ge bär de.

»Ge wiß. Fen ton fin det schon Ar beit für Sie —

und für sechs an de re«, setz te er hin zu. »Ge hen Sie

ins Haus und sa gen Sie ihm, ich hät te Sie ge -

schickt«.

»Be sten Dank«, rief Sweet wa ter und sein be trüb -

tes Ge sicht klär te sich auf. »Jetzt wer de ich zu erst

aus fin dig ma chen, wie die Blu me ins Haus ge kom -

men«, mur mel te er.

VI.

»Früh stück ist ser viert, mei ne Herrn!«

Mr. Sut her land kehr te nach Hau se zu rück. Als

er die wei te Vor hal le be trat, stand er vor sei -

nem Soh ne Fre de rick.

»Va ter«, stam mel te der jun ge Mann »kann ich

ei ni ge Wor te mit Dir spre chen?«

Mr. Sut her land, über rascht über sei nes Soh nes

Er regt heit, nick te zu stim mend und folgte dem Vor -

an ge hen den in ein klei nes Zim mer, das noch den

Blu men schmuck der gest ri gen Fest lich keit trug.

»Ich will Ab bit te lei sten«, be gann Fre de rick,

»oder viel mehr, ich will Dei ne Ver zei hung er bit -

ten. Seit Jah ren han del te ich Dei nen Wün schen ent -

ge gen, ver ur sach te der Mut ter Her ze leid und Dir

sol chen Gram, daß Du oft wünsch test, ich wäre nie

ge bo ren«.

Er hat te das Wort »Mut ter« merk wür dig be tont

und sprach in der Tat aus in ner stem Her zen. Mr.

Sut her land hör te ihm er staunt zu. Sprach dies der

Jun ge, an dem er längst ver zwei felt?

»Ich« — fuhr Fre de rick fort »ich will mich än -

dern. Ich will ver su chen, Dir so viel Ehre zu ma -

chen, als ich Dir Schan de ge bracht. Es mag im An -

fang viel leicht nicht Al les so leicht ge hen, doch ich

will mei ne gan ze Kraft dar an set zen und wenn Du

mir Dei ne Hand rei chen willst . . . . . . .«

Im Au gen blick hat te der alte Mann sei ne Arme

um den jun gen ge schlun gen.

»Fre de rick«, rief er un ter Trä nen, »mein Fre de -

rick!«

»Be schä me mich nicht zu sehr«, mur mel te die -

ser, to ten blaß und wun der bar ge faßt. »Es gibt kei -

ne Ent schul di gung für mei ne Ver gan gen heit und

ich ban ge um mei ne Zu kunft — daß mir die Kraft

viel leicht fehlt, mei ne gu ten Vor sät ze aus zu füh -

ren. Doch das Be wußt sein, daß Du die se Vor sät ze

kennst und Dei ne un ge teil te Lie be sol len ge nü gen,

mich stark zu er hal ten und ich mü ß te in der Tat die

elen de ste Krea tur sein, wür de ich Dich zum zwei -

ten Male ent täu schen«.

Er hielt inne, ent wand sich sei nes Va ters Ar men

und, aus dem Fen ster ge gen Him mel schau end,

fuhr er fort:

»Ich schwö re, daß ich mich künf tig so be tra gen

wer de, als sei sie noch am Le ben und wür de über

mich wa chen!«

Mr. Sut her land schau te ihn er staunt an. Er hat -

te Fre de rick schon in je der Stim mung ge se hen,

aber noch nie so ernst, so ge faßt und so ent schlos -

sen.

»Ja«, fuhr der jun ge Mann fort, un ver wandt die

Au gen in die Fer ne ge rich tet, »ich schwö re, daß ich

künf tig nichts tun wer de, das ihr An den ken ent eh -

ren könn te! Mein Den ken und mein Han deln sol len

so sein, als ob ihre Au gen mich noch se hen, als ob

sie noch Schmerz emp fin den kön ne über mein Feh -

len und Freu de über mei ne Er fol ge«.

Ein Bild Mrs. Sut her lands, ge malt, als Fre de rick

kaum zehn Jah re alt war, hing nicht weit von dem

Spre chen den. Er schau te nicht da hin, aber Mr. Sut -

her land schau te hin, mit ei nem Blic ke, als ob er son -

ni ge Strah len aus den Au gen schei nen zu se hen er -

war te te.

»Sie hat Dich sehr lieb ge habt«, sag te er dann

lang sam und ernst. »Wir bei de hat ten Dich lie ber,

als Du je ge ahnt, Fre de rick«.

»Ich glau be es«, ent geg ne te die ser, den Au gen

des Va ters be geg nend. »Und um Dir zu zei gen, daß

ich künf tig Dei nen Wor ten fol gen will, habe ich be -

schlos sen, Dir zu Lie be mei nem in nig sten Her zens -

wunsch zu ent sa gen. Va ter — —«, er zö ger te, doch

nur ei nen Au gen blick; dann fuhr er mit fe ster Stim -

me fort — »ich glau be be merkt zu ha ben, daß es Dir

nicht an ge nehm wäre, Miß Page als Toch ter zu se -

hen . . . . . . . .«

»Ob ich wün sche, daß die Nich te mei ner Haus -

häl te rin den Platz in die sem Hau se ein neh me, den

einst Ma riet ta Sut her land inne hat te? Fre de rick,

ich hat te im mer eine zu hohe Mei nung von Dir, um

zu glau ben, daß Du dich so weit ver ges sen wür dest,

selbst als ich sah, daß Du dich von ih ren Rei zen be -

ein flus sen lie ßest«.

»Du hat test mich zu hoch ein ge schätzt, Va ter.

Es war in der Tat mei ne Ab sicht, sie zu hei ra ten! Ich

habe es in des auf ge ge ben, für mich al lein zu le ben

und sie könn te mir nie hel fen, für An de re zu le ben!

Va ter, Ama bel Page darf nicht in die sem Hau se blei -

ben, soll Frie de zwi schen Dir und mir sein!«

»Ich gab ihr be reits zu ver ste hen, daß ihre An we -

sen heit in die sem Hau se nicht län ger mehr wün -

schens wert ist«, ent geg ne te der alte Mann. »Sie

fährt zehn Uhr fünf und vier zig. Ihr Be tra gen heu te

Mor gen in Mrs. Webbs Hau se — die, wie Du viel -

leicht noch nicht weißt, in der letz ten Nacht

schmäh lich er mor det wur de — war der art, daß es

zu un lieb sa men Be mer kun gen An laß gab und ihr

Ver blei ben in ei ner gu ten Fa mi lie un mög lich mach -

te«.

Fre de rick er bla ß te. Et was in sei nes Va ters Wor -

ten hat te ihn tief er schüt tert. Mr. Sut her land glaub -

te, daß es der Tod der ed len Frau wäre, doch schon

aus den er sten Wor ten sei nes Soh nes merk te er,

daß des sen Ge dan ken bei Ama bel wa ren, die er un -

mög lich mit ei nem Ver bre chen in Ver bin dung brin -

gen konn te.

»Sie war in Mrs. Webbs Hau se? Wie ist das mög -

lich? Wer wür de eine jun ge Dame da hin mit neh -

men?«

»Sie ging al lein, Nie mand nahm sie mit. Kein

Mensch, ich selbst ver moch te sie nicht zurück -

zuhalten, nach dem sie ge hört, daß ein Mord be gan -

gen wor den war. Sie drang so gar ins Haus! Als sie

aus dem To ten zim mer ge wie sen wur de, ging sie in

den Gar ten und blieb dort so lan ge ste hen, bis sie Ge -

le gen heit hat te, uns eine Blut spur zu zei gen, die

uns sonst si cher ent gan gen wäre.«

»Un mög lich!« Fre de rick blick te sei nen Va ter

an, als ob Er stau nen oder Schreck ihn starr ge -

macht hät te. »Ama bel hät te das ge tan? Ent we der

Du scher zest oder ich träu me — — was Gott ge ben

möge . . . . . . .!«

Der Va ter, der solch tie fes Ge fühl in sei nem Soh -

ne nie ver mu tet hät te, schau te ihn er staunt an.

Doch so fort ging dies Er stau nen in Schreck über,

als er ihn wan ken und ge gen die Wand fal len sah.

»Du bist krank, Fre de rick, Du bist wirk lich

krank. Laß mich Mrs. Har court ru fen. Aber nein,

die kann ich nicht ru fen, sie ist ja die Tan te des Mäd -

chens — — —«

Fre de rick rich te te sich ge walt sam auf.

»Rufe Nie man den, bit te«, sag te er. »Es wird

mich noch man chen Schmerz ko sten, sie aus mei -

nem Her zen zu rei ßen — doch ich wer de zu letzt sie -

gen — ich will sie gen! Was ihr In ter es se an Mrs.

Webbs Tod be trifft«, — wie lei se er sprach und wie

sei ne Stim me zit ter te — »so mö gen die Bei den bes -

ser be freun det ge we sen sein, als wir wis sen; eine an -

de re Er klä rung für ihr Be tra gen kann ich nicht fin -

den. Be wun de rung für Mrs. Webb und der Schrek -

ken — — — — — —«

»Früh stück ist ser viert, mei ne Her ren!« rief

eine durch drin gen de Stim me hin ter ih nen. Ama bel

Page stand lä chelnd un ter der Türe.

VII.

»Hei ra te mich!«

Ich möch te ei nen Au gen blick mit Dir spre chen!«

Ama bel hielt Fre de rick am Arm, als er eben im

Be grif fe war, sei nem Va ter zu fol gen, der das Zim -

mer be reits ver las sen.

»Ich fah re heu te nach Spring field«, fuhr sie fort,

ihn ins Zim mer zie hend und die Türe lang sam

schlie ßend. »Es wohnt dort eine Tan te von mir, im

Ar ling ton Hou se. Wann wer de ich das Ver gnü gen

ha ben, Dich dort be grü ßen zu kön nen?«

»Nie!« Es lag eben so viel Be dau ern als Fe stig keit

in sei ner Stim me. »So schwer es mir an kommt,

Ama bel, muß ich Dir doch sa gen, daß wir, nach Dei -

nem Weg gan ge von hier, uns Frem de sein müs sen.

Freund schaft zwi schen uns wäre Heu che lei und

eine en ge re Ver bin dung ist nun mehr eine Un mög -

lich keit«.

Es ko stet ihn gro ße Ue ber win dung, ihr das zu sa -

gen und er er war te te — ich muß sa gen: hoff te aus

tief stem Her zen — sie er blei chen zu se hen, viel -

leicht gar zu sam men bre chen. Doch sie schau te ihm

ei nen Au gen blick fest in die Au gen, schob dann

ihre klei ne zar te Hand in sei nen Arm, bis sie sei ne

Hand er reich te, drück te die se lie bend fest und zog

ihn tie fer ins Zim mer. Er war macht los. Sie hat te

nie so schön, so fas zi nie rend aus ge se hen. Statt nie -

der ge drückt zu sein, ver nich tet, lä chel te sie ihm

zu, mit ei nem Lä cheln, das ge fähr li cher war, als Trä -

nen, denn es zeig te Be wun de rung und tie fe, lei den -

schaft li che Lie be.

»Ich küs se Dei ne Hand, wie die Spa nier sa gen«.

Da bei beug te sie sich nie der, ge ra de tief ge nug,

um ihn zwei nec kische Grüb chen und ei nen wei ßen

Nac ken se hen zu las sen.

Er wu ß te nicht, was er aus ih rem Be neh men ma -

chen soll te. Er glaub te, all ihre Lau nen zu ken nen

und stand nun über rascht vor die sem Rät sel von

Weib lich keit.

»Ich wür di ge die Ehre«, ent geg ne te er, »ohne zu

wis sen, durch was ich sie ver dient habe«.

Sie schau te ihn im mer noch mit dem sel ben Aus -

druck von Be wun de rung an.

»Ich dach te nicht, daß ich Dir so gut sein könn -

te«, sag te sie. »Wenn Du Dich nicht vor siehst, wer -

de ich Dich ei nes Ta ges wirk lich lieb ha ben!«

»Ah!« rief er und sei ne Züge zo gen sich schmerz -

haft zu sam men, »dem nach ist Dei ne Lie be nur eine

Mög lich keit. Sehr gut, Ama bel, las se sie so blei ben;

das wird Dir man chen Schmerz er spa ren. Ich, der

ich nicht so klug war, wie Du . . . . . .«

»Fre de rick!« Sie war ihm so nahe ge kom men,

daß er nicht die Kraft hat te, zu been den. Sie wand te

ihm ihr glü hen des Ge sicht zu, ihre gro ßen, spre -

chen den Au gen und sag te lang sam, Wort für Wort:

»Fre de rick — hast Du mich wirk lich so lieb?«

Er war är ger lich — viel leicht weil er sei ne Vor -

sät ze wan ken fühl te.

»Du weißt es!« schrie er und trat zu rück. Dann,

mit plötz lich aus bre chen der Lei den schaft, fast bit -

tend, fuhr er fort: »Füh re mich nicht in Ver su -

chung, Ama bel! Ich habe ge nug zu lei den, auch

ohne daß ich mei nem erst ge fa ß ten Grund satz un -

treu wer de!«

»Ah!« rief sie, ihn mit al len Kün sten der Ko ket te -

rie an sich loc kend, »Dei ne Ge füh le ha ben sich be -

reits in ei nen Grund satz ver wan delt! Ich bin so vie -

ler Lie be gar nicht wert, Fre de rick«.

Er ver stand sie we ni ger denn je. Er fühl te nur,

daß, ge gen über so viel Rei zen, er nicht Stand zu hal -

ten ver moch te und wand te sich ab.

Sie sah die se Be we gung, wu ß te, daß sie ge siegt

und stieß ein kur zes La chen aus, ein La chen, fas zi -

nie rend, wie ein stür zen der Bach, wie fal len de Per -

len.

»Du kommst nach Spring field«, sag te sie dann,

bei Sei te ge hend, um ihn zur Türe ge hen zu las sen,

»und recht bald!«

»Ama bel«, zisch te er, mit hei se rer Stim me, »sag

mir das Eine: liebst Du mich?« Sei ne Hän de öff ne -

ten und schlos sen sich ner vös. »Du hast es mir oft

ge sagt, doch stets im Spaß, im Spott. Nun sag test

Du, Du könn test mich ei nes Ta ges lie ben — und dies -

mal schien es Dir ernst ge we sen zu sein! Wo liegt

die Wahr heit? Sag mir’s ohne Aus flüch te, ohne Ko -

ket te rie, denn es ist mir — —«

Er ver stumm te. Ein un ver ständ li ches Gur geln —

ein kon vul si vi sches Zuc ken all sei ner Ge sichts mus -

keln — er stand dem Fen ster ge gen über, durch das

er vor we ni gen Mi nu ten ge schaut, als er ei nen hei li -

gen, fei er li chen Eid ge schwo ren!

»Nein, nein!« fuhr er auf, »sage nichts! Wenn Du

auch schwörst, Du liebst mich nicht — ich glau be es

nicht! Und sag test Du, Du liebst mich, dann wäre es

umso schlim mer, denn ich sage Dir wie der, es muß

aus zwi schen uns sein, al les aus! Ein hei li ges Ver -

spre chen, das ich mei nem — — —«

»Nun? War um voll en dest Du nicht? Wird es Dir

so schwer, mit mir zu spre chen, daß Du kei ne Wor -

te fin dest?«

»Ich habe mei nem Va ter ver spro chen, Dich nie

zu hei ra ten. Er hat Grün de dies zu wün schen und

da ich ihm Al les dan ke — — —«

Er stock te. Sie schau te ihn durch drin gend an,

im mer noch das spöt ti sche Lä cheln auf den Lip pen.

»Sprich die Wahr heit«, flü ster te sie. »Ich weiß

ja, wie weit Du Dei nes Va ters Wün sche be rücks ich -

tigst! Du glaubst, nach dem, was in letz ter Nacht ge -

schah, dürf test Du mich nicht hei ra ten. Fre de rick,

ich lie be Dich die ser rück sichtsvollen Scho nung hal -

ber. Doch dies soll Dein Ge wis sen nicht drüc ken.

Ich ver ge be Dir viel mehr, als Du ahnst und wenn

Du mich wirk lich lieb hast — — —«

»Halt ein! Daß wir uns auch recht ver ste hen!« Er

war to ten bleich ge wor den und schau te sie voll

Angst an. »Was soll die se An spie lung auf letz te

Nacht? Ich er in ne re mich nicht, daß in un se rem Ge -

spräch . . . . . .«

»Ich mein te nicht un ser Ge spräch«.

»Oder bei den Tän zen . . . . . . . .«

»Fre de rick, ein Tanz ist ein un schul di ges Ver -

gnü gen«.

»Un schul dig«, wie der hol te er und ward noch

blei cher, als er die Be deu tung ih rer Wor te ver -

stand, »un schul dig?«

»Ich schlich Dir nach, als Du in die Stadt gingst«,

flü ster te sie, nä her kom mend und ihm ins Ohr zi -

schend; »doch was ich dort sah, soll mich nicht dar -

an hin dern, Dir zu fol gen, wenn Du sagst: komm

mit mir, Ama bel, von nun an soll un ser Le ben eins

sein!«

»Mein Gott!«

Das war Al les, was er sa gen konn te. Doch die se

bei den Wor te brach ten eine wei te Kluft zwi schen

ihm und ihr. Wäh rend auf ih ren Lip pen noch im -

mer ein Lä cheln lag — nicht mehr je nes fas zi nie ren -

de, pac kende, nein ein tüc kisches, teuf li sches —

zeig te sich auf sei nen Zü gen, nach dem die er ste Be -

stür zung erst vor über war, ein Ernst, ein Ent -

schluß, wie er ihn nie im Le ben be ses sen.

»Ich weiß nicht, was Du ge se hen hast«, sag te er

und schob sie lang sam aber fest zu rück, »doch was

es auch ge we sen sein mag: es wird nichts än dern in

dem Ver hält nis zwi schen Dir und mir!«

Ihre Stim me, die vor hin flü sternd ge we sen, war

jetzt kaum ver nehm bar.

»Ich blieb nicht an der Türe ste hen, durch die

Du ein tratst — — ich folgte Dir ins Haus! Es dau er te

lan ge, ehe Du wie der her aus kamst — — — doch vor -

her ward die Ja lou sie ei nes ge wis sen Fen sters bei

Sei te ge scho ben und — — — —«

»Sssst!« zisch te er lei den schaft lich und pre ß te

sei ne Hand auf ih ren Mund, »kein Wort mehr da -

von oder ich ver ges se, daß Du ein Weib bist und

daß ich Dich je ge liebt!«

In ih ren Au gen blitz te es auf, wie Sie ges flam -

men. Er sah dies, ließ sei ne Hand fal len und schau te

sie an — zum er sten Male mit se hen den Au gen,

nicht mit lie ben den . . . . . . .

»Ich war die ein zi ge Per son, die sich in der Nähe

be fand«, fuhr sie fort. »Du hast also von nie man den

et was zu fürch ten — — —«

»Fürch ten?«

Das Echo warf das Wort zu rück — sie brauch te es

nicht zu wie der ho len. Sie sah ihn an — sie merk te,

wie er er schau er te — wie er all sei ner Kraft be durf -

te, sich auf recht zu hal ten — sie sah sei nen Blick,

den kal ten, ei si gen — sie wu ß te, daß sei ne Lie be tot

war — — da wech sel te sie die Far be — das Lä cheln

ver schwand von ih ren Lip pen — ihre Pul se flo gen

und in wil der Lei den schaft schrie sie auf:

»Hei ra te mich oder ich zei ge Dich an, als den

Mör der von Agat ha Webb!«

VIII.

Ein Teu fel.

Nach dem Fre de rick Sut her land sich von sei ner

er sten Ue ber ra schung er holt, frag te er bit ter:

»Was er war test Du von ei ner Ver bin dung mit mir,

der Du den letz ten Rest von weib li cher Wür de op -

fern willst?«

Die se Fra ge hat te sie am we nig sten er war tet.

Wild fuhr sie auf:

»Was ich er war te? Fra ge die Hyä ne, wes halb sie

frei sein will! Was ich er war te? Wie kannst Du ein

ar mes Mäd chen, wie ich es war und bin, fra gen? Ich

bin ge bo ren in ei ner klei nen, en gen Stu be, mit dem

Ehr geiz und der Lei den schaft ei ner Kö ni gin! Ich

will die Toch ter des rei chen Mr. Sut her land wer -

den, die — ob wil lig oder un wil lig — Zu tritt zu den

er sten Fa mi lien in Bo ston hat! Ich will hin auf auf

die höch ste Stu fe der ge sell schaft li chen Macht —

ich kann! — ich will!«

»Und da für — — —«

»Und da für« un ter brach sie ihn, will ich das Blut

über se hen, das an Dei nen Hän den klebt. Ich bin

über zeugt, Du wirst die gest ri ge Tat nicht wie der ho -

len und ich bin be reit, Dein Ge heim nis durchs gan -

ze Le ben mit Dir zu tra gen. Wenn Du mich gut be -

han delst, wer de ich Dir die Last leicht ma chen«.

Da stieg ihm das Blut in den Kopf — er rich te te

sich auf — warf den Kopf zu rück — wie schön er

war, wenn erst das bes se re Selbst in ihm er wach -

te! — und

»Weib!« schrie er, »sie ha ben recht: Du bist ein

Teu fel!«

Sie lä chel te, als ob sie das Ge sag te als Kom pli -

ment be trach te te.

»Ein Teu fel, der sich auf Män ner ver steht«, ant -

wor te te sie, sar ka stisch lä chelnd, mit sprü hen den

Au gen. »Du wirst nicht gar lan ge zum Ue ber le gen

brau chen — viel leicht eine Wo che . . . . . . .«

»Nicht eine Se kun de! Ein Ent schluß wird mir

um so leich ter, als ich Dich nun ge se hen, wie Du

wirk lich bist! Du wirst nie eine Last als mei ne Gat -

tin mit mir tra gen!«

»Scha de«, flü ster te sie, »ich hät te Dir so ger ne

un nö ti ge Auf re gun gen er spart . . . . Eine Wo che ist

ja nicht lan ge — — —. Ich hal te Dich fest, Fre de rick!

Heu te über eine Wo che, pünkt lich um zwölf

Uhr — — —«

Zum Aeu ßer sten ge trie ben, in höch ster Wut er -

griff er ih ren Arm und schüt tel te sie wild. Ein

Schrec ken er fa ß te ihn, den er nicht be mei stern

konn te, so sehr er sich auch zu be zwin gen such te.

»Ist das Dein Ernst?« schrie er.

»Mein bit te rer Ernst! Weißt Du, wo ich eben her -

kom me? Von den Bü schen, bei de nen wir oft ge ses -

sen. Ein hoh ler Baum, den wir bei de nur zu gut ken -

nen, birgt ein Pa ket, das über ein tau send Dol lars

enthält . . . . . Fre de rick, ich hal te Dein Le ben in mei -

nen Hän den!«

Kraft los fiel sei ne Hand her nie der. Er gab es auf,

dem Ein druck wi der ste hen zu wol len, den ihre Wor -

te auf ihn mach ten. Er sank in ei nen Stuhl, pre ß te

die Hän de vors Ge sicht und senk te lang sam den

Kopf.

Ein tri um phie ren des Lä cheln flog über ihre

Züge.

»Wenn Du nach Spring field kom men willst, ehe

die Wo che vor über ist«, sag te sie, »umso bes ser. Je

eher ich Dich habe, de sto lie ber; nur län ger als eine

Wo che darf es nicht dau ern, kei ne Stun de län ger!

Und nun, wenn Du mich gü tigst ent schul di gen

willst, wer de ich ge hen und mei ne Kof fer packen«.

Er schau er te; ihre Stim me zer fleisch te ihm Ohr

und Herz, doch er be weg te sich nicht.

»Du brauchst wäh rend die ser Wo che kei ne

Angst zu ha ben«, fuhr sie fort; »nicht mit glü hen -

den Zan gen kön nen sie mir die Wahr heit ent rei -

ßen, so lan ge ich noch ei nen Schim mer von Hoff -

nung sehe, daß Du tun wirst, was ich ver lan ge«.

Er saß im mer noch un be wegt.

»Fre de rick!«

War sie es, die so viel Lie be in das eine Wort leg -

te? Woh nen Teu fel und En gel in ei ner Brust?

»Fre de rick, ich will Dir nur noch ein Wort sa gen,

ein letz tes Wort: bis zu die ser Stun de ließ ich Dei ne

Auf merk sam kei ten wil lig über mich er ge hen — sa -

gen wir, ich nahm sie an, denn ich fand Dich stets

lieb und nett und ge stat te te Dir ger ne die Herr -

schaft über mein Herz. Doch jetzt ist es Lie be, was

ich füh le, wahn sin ni ge Lie be und Lie be ist bei mir

kein Spiel, nein, eine hei ße, tie fe Lei den schaft —

hörst Du? eine Lei den schaft, die dem Man ne, der

sie ge weckt, das Le ben zum Him mel oder zur Höl le

ma chen kann!«

Und mit ei nem Blic ke, in dem sich Lie be mit Haß

strit ten, beug te sie sich nie der und drück te ei nen

bren nen den Kuß auf sei ne kal te Stir ne. Dann ging

sie.

— — — so glaub te er. Doch als er nach ei ni gen Mi -

nu ten see li scher Qua len sich er hob und das Zim -

mer ver ließ, fand er, daß sie in der Hal le von zwei

oder drei Män nern an ge hal ten wor den war, die so -

eben ins Haus ge tre ten.

»Sind Sie Miß Page?« frag ten sie.

»Ja, ich bin Miß Page — Ama bel Page. Wenn sie

mich spre chen wol len, ma chen Sie es, bit te kurz.

Ich habe nicht viel Zeit, da ich in ei ner Stun de die

Stadt ver las se«.

»Eben des halb sind wir hier«, er klär te ein

schlan ker, blei cher jun ger Mann. »Dr. Tal bot läßt

Ih nen sa gen, daß Sie sich für die Un ter su chung

über die To des ur sa che von Agat ha Webb als Zeu gin

be reit zu hal ten ha ben und vor Been di gung der Ver -

hand lun gen die Stadt nicht ver las sen dür fen«.

»Ich als Zeu gin?« rief sie mit wohl ge spiel tem Er -

stau nen, in dem sie ihre gro ßen brau nen Au gen

weit öff ne te, »was habe ich da bei zu tun?«

»Sie mach ten die Her ren auf eine Spur im Gra se

auf merk sam und — — den Wün schen des Un ter su -

chungs rich ters muß eben Fol ge ge lei stet wer den,

Miß Page. Wenn Sie den noch ver su chen soll ten, die

Stadt zu ver las sen, set zen Sie sich der Ge fahr aus,

ver haf tet zu wer den.«

»Da blei be ich lie ber hier«, sag te sie lä chelnd,

und Fre de rick an schau end, setz te sie hin zu: »denn

ich möch te nicht gern ar re tiert wer den. Mr. Sut her -

land«, sprach sie den al ten Mann an, der eben un ter

der Türe des Spei se saals er schien, »ich bin lei der ge -

zwun gen, Ihre Gast freund schaft noch ei ni ge Tage

län ger in An spruch neh men zu müs sen. Die se

Herrn hier sag ten mir so eben, daß das un schul di ge

In ter es se, das ich heu te früh ge zeigt, in dem ich sie

auf eine Blut spur in Mrs. Webbs Gar ten auf merk -

sam mach te, je man des Neu gier de er regt habe und

der Un ter su chungs rich ter mich als Zeu gin

wünscht«.

»Des Rich ters Wün sche sind in sol chem Fal le Be -

fehl«, ent geg ne te Mr. Sut her land, nä her tre tend.

Zu sei nem Soh ne sprach er nicht. Der Blick aber,

den er ihm zu warf, wur de von den An we sen den

nicht so schnell ver ges sen.

IX.

Ein En gel.

An die sem Tage sprach man in Sut her land town

über nichts an de res, als über Agat ha Webb.

Ihr Le ben war kein son ni ges ge we sen. Sie und

Phi le mon ka men vor etwa zwan zig Jah ren von Port -

che ster, um dem trau ri gen An den ken zu ent flie -

hen, das sie mit je nem Plat ze ver band. In dem Kirch -

ho fe zu Port che ster stan den sechs klei ne Hü gel,

dar un ter der Bei den Kin der la gen. Trotz die ser

erdrüc kenden Ver lu ste — wie deut lich sie in der ar -

men El tern Zü gen zu se hen wa ren! — be tei lig ten sie

sich eif rig am öf fent li chen Le ben des klei nen Städt -

chens und zähl ten zu den her vor ra gend sten Bür -

gern, bis Phi le mons Ge sund heit zu sam men brach

und Agat ha sich ihm al lein wid me te.

Nur Gu tes ward über Agat ha Webb ge spro chen,

vom Port che ster Green bis zu der Werft in Sut her -

land town.

Bei Pa stor Brai nerd hör te man Agat has Be schei -

den heit und Ein fach heit lo ben — sel te ne Tu gen den

un ter Frau en ei nes See plat zes.

»Für eine Frau von sol cher Schön heit« sag te der

Pa stor, »und ich glau be, ich darf ru hig be haup ten,

daß kei ne Frau ed le re Züge hat te, zeig te sie eine

merk wür di ge Ein fach heit in ih rer Klei dung. Ka li ko

zu Hau se und Ka li ko in der Kir che; und doch sah sie

in die sen ein fa chen, dun keln Klei dern vor neh mer

aus, als Mrs. Web ster in Sei de oder Mr. Par sons in

ih rem Tau send-Dol lars-See hund-Pelz«.

»Ich mei ne«, warf die äl te ste Toch ter ein, »sie

hät te sich wohl et was fei ner klei den kön nen, statt

mit ih rer Ar mut zu brü sten. Wenn ei ner wirk lich

zu arm ist, sich bes se re Klei der zu kau fen — gut;

man sagt aber, sie be sä ßen mehr Geld, als je mand

in der Stadt. Wer das vie le Geld wohl er ben wird?«

»Phi le mon na tür lich. Er hat es auch je den falls

ver die nen hel fen«.

»Ist es wahr, daß er seit ih rem Tode ganz den

Ver stand ver lo ren hat?« frag te ein Nach bar, der zu

Be such da war.

»So sagt man. Ich glau be, die Wit we Jones hat

ihn zu sich ge nom men«.

»Glaubst Du«, frag te eine an de re Toch ter, »daß

er Schuld an ih rem Tode hat? Ei ni ge sa gen, er hät te

sie er mor det, wäh rend an de re er klä ren, es sei ein

Frem der ge we sen, ein al ter Mann mit ei nem lan gen

Bar te«.

»Dar über wol len wir nicht spre chen«, un ter -

brach sie der Va ter. »Die Zeit wird es leh ren, wer

uns die gut her zig ste und edel ste Frau in die sem

Teil des Lan des raub te«.

»Wird die Zeit auch leh ren, wer Bat sy tö te te?«

frag te die Jüng ste. »Mir tut sie herz lich leid. Sie war

im mer so freund lich, wenn sie mich sah«.

»Bat sy war eine gute See le«, sag te die Mut ter.

»Ich er in ne re mich noch wie heu te: als sie da mals

mit dem Wrack des schwe di schen Schif fes ein ge -

bracht wur de, stritt Agat ha und ich, wer sie ha ben

soll te. Ich hat te nicht die Ge duld, sie die eng li schen

Na men al ler Töp fe und Pfan nen zu leh ren und so

über ließ ich sie Agat ha und bin froh, daß ich es tat;

ich konn te ihr Ge schwätz nie ver ste hen«.

»Ich ver stand sie aus ge zeich net«, warf die Jüng -

ste ein. »Sie ge brauch te schwe di sche Aus drüc ke

nur dann, wenn sie er regt war und ich reg te sie nie

auf«.

»Ob sie wohl auch den Bo den un ter Dei nen Fü -

ßen an ge be tet hät te, wie sie es bei Agat ha tat?«

frag te der Pa stor sei ne Frau mit schel mi schem Au -

gen blin zeln.

»Da für bin ich auch nicht die gut her zig ste und

edel ste Frau in die sem Tei le des Lan des«, ent geg ne -

te die se und klap per te mit den Strick nadeln.

* * *

In Mr. Spra gues Haus, auf der an dern Sei te des We -

ges, er zähl te der Amt mann Fi scher alte Ge schich -

ten aus Port che sters frü hen Ta gen.

»Ich kann te Agat ha, als sie noch ein jun ges Mäd -

chen war«, sag te er. »Sie war die ge bil det ste und lie -

bens wür dig ste al ler jun gen Da men zwi schen der

Kü ste und Spring field. Da mals klei de te sie sich

nicht in Ka li ko. Sie trug die be sten Klei der, die ihr

Va ter kau fen konn te und der alte Ja kob hat te Geld

ge nug, sie her aus zu put zen, wie kei ne an de re der

Stadt. Wie wir jun gen Leu te sie ver ehr ten und wie

weit wir gin gen, um ein Lä cheln von ihr zu er ha -

schen! Zwei von uns, John und James Za bel, sind ih -

ret hal ben noch heu te le dig. Ich war nicht so mu tig;

ich hei ra te te und . . . . . . .«

Et was, das man eben so gut als La chen, wie als

Seuf zen auf neh men konn te, voll en de te den Satz.

»Wie so trug Phi le mon den Preis da von? Durch

sei ne Schön heit?«

»Viel leicht — viel leicht wars Glück. Sein Mut

wars nicht, das kann ich ge trost be haup ten. James

Za bel hat te Mut und er hat te auch die be sten Chan -

cen; dann aber kam et was vor — ich weiß heu te

noch nicht, was es war, doch soll es sehr ern ster Na -

tur ge we sen sein — und das Ver hält nis wur de ab ge -

bro chen. Spä ter hei ra te te sie Phi le mon. Du siehst,

ich kam gar nicht in Fra ge, trotz dem ich drei Jah re

lang an nichts dach te, als an Agat ha. Ich be wun der -

te ih ren Geist; der war noch ge win nen der, als ihre

Schön heit und die war ge wiß ein neh mend. Sie re -

gier te uns mit ei ser ner Faust und doch be te ten wir

sie alle an. Ich war über rascht, sie in den letz ten Jah -

ren so be schei den zu se hen. Ich hät te nie ge glaubt,

daß sie sich mit ei nem Back steinhaus be gnü gen

könn te und mit ei nem Man ne, der halb ver rückt

ist. Und doch hat kein Mensch sie je kla gen hö ren.

Die Art, wie sie ihr Un glück trug, mach te sie noch

ver eh rungs wer ter als da mals die Schön heit, die

alle jun gen Leu te von Port che ster zu ih ren Fü ßen

brach te«.

»Viel leicht war es der Ver lust ih rer Kin der, der

sie solch ein fa chem Le ben zu führ te. Eine Mut ter

kann nicht sechs Kin dern nach ein an der die Au gen

schlie ßen, ohne des Le bens Ernst in sich auf zu neh -

men«.

»Ge wiß, sie und Phi le mon hat ten viel Un glück.

Aber, wie ge sagt, sie war das schön ste Mäd chen

weit und breit. So schö ne sieht man heu te gar nicht

mehr«.

* * *

In ei nem klei nen Häus chen am Hü gel nähr te eine

Mut ter ihr Kind, wäh rend sie von Agat ha Webb

sprach. »Ich wer de im Le ben die Nacht nicht ver ges -

sen, in der mein er stes Kind krank ward«, er zähl te

sie. »Ich war eben erst vom Bett auf ge stan den und

hat te da mals auch kei ne nä he ren Nach barn, als

jetzt; ich war ganz al lein am Hü gel — Alec war auf

See. Ich war da mals noch zu jung, um et was von Kin -

der krank hei ten zu ver ste hen, doch emp fand ich,

daß ich Hil fe ha ben mü ß te, ehe es Mor gen ward,

sonst wür de mein Kind ster ben. Ich konn te kaum

durchs Zim mer ge hen, doch ich schlang mein Kopf -

tuch um, nahm mein Kind chen in die Arme und öff -

ne te die Türe. Klat schen der Re gen schlug mir ins

Ge sicht. Drau ßen feg te ein Sturm — und ich hat te

es nicht be merkt; die Sor gen um mein Kind nah -

men mich ganz ge fan gen. Ich konn te un mög lich

durch den Re gen ge hen. Ich war so schwach, ich

sank in die Knie und war völ lig durch näßt, ehe ich

mich auf raf fen und ins Zim mer zu rück wan ken

konn te. Das Kind fing an zu jam mern — mir wards

dun kel vor den Au gen — da hör te ich eine star ke,

wohl klin gen de Stim me drau ßen ru fen: »Kann ich

im Hau se hier blei ben, bis sich der Sturm ge legt

hat? Ich kann in der Dun kel heit mei nen Weg nicht

fin den«.

Ich blick te auf und sah un ter der Türe eine Frau

ste hen, die mich mit En gel sau gen an schau te. Ich

kann te sie da mals noch nicht, doch war ihr Ge sicht

ein sol ches, das Trost selbst dem be dräng te sten

Her zen brin gen mu ß te. Ich hielt ihr mein Kind ent -

ge gen und schrie: »Mein Kind stirbt! Ich woll te zum

Dok tor lau fen, doch mei ne Knie tra gen mich nicht.

Hel fen Sie mir! Sie sind selbst Mut ter und ich —«

»Ich mu ß te ohn mäch tig ge wor den sein. Als ich

er wach te, lag ich am war men Ofen und als ich die

Au gen auf schlug, sah ich ihr en gel glei ches Ge sicht

über mich ge beugt. Sie war so bleich, wie das Lin -

nen, das ich um mei nes Kin des Hals ge bun den und

ihr Bu sen hob und senk te sich schnell — wars aus

Schreck oder Mit leid, dach te ich.

»Ich wünsch te, Sie hät ten eine An de re, die Ih -

nen hel fen könn te«, sag te sie. »Kin der ster ben in

mei nen Ar men und wel ken an mei ner Brust. Ich

darf Ihr Kind nicht an rüh ren, so ger ne ich auch

möch te! Doch zei gen Sie mir sein Ge sicht; viel leicht

kann ich Ih nen sa gen, was Sie tun sol len«.

»Ich zeig te ihr des Kin des Ge sicht. Sie beug te

sich über das Klei ne, zit ternd, bleich, so zit ternd

und so bleich, wie ich selbst«.

»Das Kind ist sehr krank«, sag te sie; »doch wenn

Sie tun wol len, was ich Ih nen sage, kön nen Sie es

viel leicht ret ten«.

»Dann gab sie mir An wei sun gen, was ich tun soll -

te und half mir, so viel sie konn te. Doch sie leg te kei -

nen Fin ger an das Kind, ob wohl — ich konn te es

deut lich mer ken — sie ihr Herz blut dar um ge ge ben

hät te, es ge sun den zu se hen. Und es ward ge sund!

Nach etwa ei ner Stun de schlief es ru hig und fried -

lich und die schreck liche Sor ge war von mei nem

Her zen ge nom men — und von dem ih ren. Als der

Sturm auf hör te und sie ge hen konn te, kü ß te sie

mich; doch der Blick, mit dem sie mich an schau te,

sprach in ni ger, als Küs se . . . . Der lie be Gott hat si -

cher das Gute ver ges sen, das sie an mir ge tan, als er

sie so schreck lich mor den ließ«.

* * *

Bei Pa stor Cra ne sprach man von dem Aus druck see -

li scher Ruhe, der auf der To ten Zü gen lag.

»Ich kann te sie seit drei ßig Jah ren«, er klär te

der Pa stor, »und sah nie zu vor solch voll kom me -

nen Frie den auf ih ren Zü gen. Es ist dies er staun -

lich, wenn man die nä he ren Um stän de in Be tracht

zieht. Glau ben Sie, daß sie des Le bens Kampf so

über drüs sig ge we sen sein kann, daß sie den Tod als

Er lö sung be trach te te, selbst ei nen ge walt sa men

Tod?«

Ein jun ger Rechts an walt, der ge ra de von New

York an ge kom men war, ant wor te te: »Ich sah die

Frau nie, von der Sie re den und weiß auch über die

nä he ren Um stän de ih res To des nur das, was ich

von Ih nen hör te. Doch aus den sich so auf fal lend wi -

der spre chen den Tat sa chen: ihr Aus druck und der

ge walt sa me Tod, schlie ße ich, daß et was mehr hin -

ter dem Ver bre chen steckt, als bis jetzt ge fun den

wur de«.

»Mehr? Es liegt ein ganz ein fa cher Raub mord

vor. Na tür lich weiß man noch nicht, wer der Mör -

der ist, doch man kennt un zwei fel haft das Mo tiv

und das war: ihr Geld. Das ist voll kom men klar!«

»Wol len Sie eine Wet te ein ge hen, daß dies nicht

al les ist?«

»Sie ver ges sen den Rock, den ich tra ge«, ent geg -

ne te der Pa stor.

»Das ist wahr«, sag te der an de re lä chelnd. »Ich

woll te auch nur da mit an deu ten, wie stark mei ne

Ueb er zeu gung ist, daß es sich hier um mehr han -

delt, als um ein ein fa ches Ver bre chen«.

* * *

In Port che ster sa ßen zwei Frau en zu sam men.

»Agat ha war bei mir zum Tee«, er zähl te die eine,

»als ihre Schwe ster Sai rey ge rannt kam, mit der

Nach richt, ihr Kind sei krank. Das war Agat has er -

stes Kind, weißt Du«.

»Ge wiß, war ich doch da bei, als das Kind ge bo -

ren ward«, ent geg ne te die an de re. »Ich sah nie sol -

che Freu de, als da ihr der Dok tor sag te, das Kind

lebe. Ich weiß ei gent lich nicht, wes halb sie er war te -

te, daß das Kind tot wäre, doch sie dach te so und

ihre Freu de war umso grö ßer, als sie es le ben sah«.

»Nun, lan ge hat sie nicht Freu de dran ge habt.

Der arme Jun ge starb bald. Doch ich woll te ja von

dem Abend er zäh len, als sie zu erst hör te, der Jun ge

sei krank. Phi le mon hat te ge ra de ei nen gu ten Witz

er zählt und wir alle lach ten. Da trat Sai rey her ein.

Ich sehe Agat ha noch. »Mein Baby!« schrie sie und

sprang auf, noch ehe ihre Schwe ster ein Wort ge -

spro chen hat te, »mein Baby ist krank!« Und ob -

wohl die Schwe ster ihr sag te, der Jun ge kräch ze

nur et was, sei aber nicht krank, warf sie Phi le mon

ei nen Blick zu, un ter dem die ser eben so er bla ß te,

als Agat ha beim Ein tre ten ih rer Schwe ster. Eine Wo -

che dar auf starb das Kind chen und nie kehr te der

alte Froh sinn, das alte Glück wie der bei ih nen ein.

Ein zwei tes Kind kam — und starb; ein drit tes, vier -

tes und so fort, bis sechs klei ne, un schul di ge Kin der

ne ben ein an der be gra ben la gen«.

»Ich weiß es; und es war trau rig ge nug, wo sie

doch Bei de Kin der so herz lich gern ha ben. Ja, des

Herrn Wege sind dun kel. Jetzt ist auch sie da hin ge -

gan gen, und Phi le mon —«

»Wird ihr auch bald fol gen«, voll en de te die an -

de re. »Der kann nicht ohne Agat ha le ben«.

* * *

Der alte To ten grä ber von Sut her land town, der

eben die sechs klei nen Grä ber im Kirch hof zu Port -

che ster ge se hen hat te, wo hin er ge sandt wor den

war, um eine Stel le für die arme Mut ter aus zu su -

chen, sprach mit sei ner Frau über das Ge se he ne.

»Ich habe fast mein gan zes Le ben in Kirch hö fen

ver bracht«, sag te er; als ich aber die sechs klei nen

Hü gel sah und die Grab schrif ten dar über las, tra ten

mir doch die Trä nen in die Au gen. Den ke Dir nur,

auf dem er sten klei nen Stein stan den die se Wor te:

Ste phen

Sohn von Phi le mon und Agat ha Webb,

starb im Al ter von sechs Wo chen.

gh

Gott sei mir Sün der gnä dig!

Was soll das nun be deu ten? Hast Du im Le ben so

eine Grab schrift ge se hen?«

»Nein«, ent geg ne te die alte Frau. »Viel leicht

war sie eine von den Cal vi ni sten, die glau ben, Kin -

der, die nicht ge tauft sind, kom men nicht in den

Him mel«.

»Ihre Kin der wa ren aber ge tauft, ei ni ge so gar,

ehe sie selbst noch au ßer Bett war, sag te man mir.

»Gott sei mir Sün der gnä dig«. Ist das eine Grab -

schrift für ein klei nes, un schul di ges We sen? Merk -

wür dig, höchst merk wür dig«.

»Was stand über dem Grab des Kin des, das der

Blitz in ih ren Ar men er schlug?«

». . . Und er war nicht für die se Welt und Gott

nahm ihn zu sich«.

* * *

Far mer Wai te hat te nur We ni ges zu sa gen:

»Sie kam zu mir, als Sis sy die Blat tern hat te. Sie

war die ein zi ge Per son, die sich zu mir ins Haus ge -

trau te. Mehr als das: als Sis sy ge sund ge wor den

und ich den Dok tor zah len woll te, sag te der mir, die

Rech nung wäre schon be gli chen. Da mals wu ß te ich

nicht, wer so viel Lie be für sei ne Ne ben men schen

und so viel Geld be saß; heu te weiß ich es«.

* * *

Vie le edle Ta ten der letz ten zwan zig Jah re, de ren

Ur he ber man bis heu te nicht ge kannt, ka men an

die sem Tage ans Licht. Un ter an derm die Er zie -

hung ei nes ge wis sen jun gen Man nes, der heu te Pa -

stor ist. Auch Her zens an ge le gen hei ten spiel ten

eine Rol le. Ein jun ges Mäd chen, das äu ßerst fein füh -

lend war und ihre El tern mehr fürch te te, als lieb te,

war ei nem jun gen Man ne ver lobt wor den, den sie

nicht lei den moch te. Ob wohl Je der mann ihr Elend

sah, wag te es doch Nie mand, für sie ein Wort zu den

El tern zu spre chen. Da hör te Agat ha die Ge schich -

te. Sie riet dem Mäd chen — ob wohl es kaum vier -

zehn Tage vor der Hoch zeit war — den jun gen

Mann auf zu ge ben und als die se ihr er klär te, es feh -

le ihr hier zu der Mut, sprach Agat ha selbst mit dem

jun gen Mann. Die Hoch zeit fand nicht statt, der jun -

ge Mann ver ließ die Stadt . . . des Mäd chens Dank -

bar keit aber kann te kei ne Gren zen.

Man er zähl te sich zahl lo se Ge schich ten von ih -

rem Mut, mit dem sie für die Schwa chen ein trat

und für alle, auf de ren Sei te das Recht war. Die Frau -

en spra chen von ih rem Takt, ih rem Mit ge fühl und

der lie ben den Sorg falt, mit der sie Ver irr te auf den

rech ten Weg zurück wies.

* * *

Mr. Hal li day und Mr. Sut her land spra chen über

Agat ha Webbs gei sti ge Fä hig kei ten. Sie be saß solch

aus ge präg ten Cha rak ter und solch ein fa ches We -

sen, daß We ni ge den ed len Geist be rücks ich tig ten,

der all ih rem Tun zu Grun de lag. Die bei den Her ren

in des wu ß ten die sen Geist voll zu wür di gen und es

war im Ver lauf de ren Ge spräch, daß eine Stim me

Fre de rick, der still zu ge hört hat te, also an re de te:

»Du scheinst die ein zi ge Per son in der gan zen

Stadt zu sein, die nichts über Agat ha Webb zu sa gen

weiß. Hast Du nie mit ihr ge spro chen? Es wäre doch

kaum denk bar, daß Du Aug in Aug ihr ge gen über ge -

stan den und nichts von ih rem Ein fluß zu sa gen

wüß test«.

Es war Ag nes Hal li day, wel che so ge spro chen.

Sie war mit ih rem Va ter her über ge kom men, um

mit Mr. Sut her land zu plau dern. Sie war eine von

Fre de ricks Spiel ka mer adin nen ge we sen, doch eine,

der er sich nie an ge schlos sen und die ihn nicht lei -

den konn te. Er wu ß te dies eben so gut, als je der An -

de re in der Stadt und wand te er sich ihr da her nur

zö gernd zu, als er ant wor te te:

»Ich er in ne re mich nur ei ner ein zi gen Be geg -

nung . . .«

Er stock te; sein Blick wan der te aus dem Fen ster

in den Gar ten, wo Ama bel stand und Blu men pflück -

te. Sie hat te je den falls Miß Hal li days Be mer kung ge -

hört und warf Fre de rick ei nen be zeich nen den Blick

zu.

»Ich er in ne re mich nur ei ner ein zi gen Be geg -

nung mit Mrs. Webb«, wie der hol te die ser, in dem er

sich ge walt sam fa ß te, »von der ich er zäh len kann.

Vor vie len Jah ren, als ich noch ein Jun ge war, spiel -

te ich mit an dern Kna ben auf der Wie se. Wir hat ten

Streit über ei nen Ball be kom men, ich war är ger lich

und fluch te gotts träf lich. Plötz lich sah ich Mrs.

Webb vor mir ste hen. Sie trug ein ein fa ches Kleid,

wie ge wöhn lich und ei nen Korb am Arme. Doch ihr

Ge sicht strahl te sol che Ho heit aus, daß ich nicht wu -

ß te, soll te ich mei nen Kopf in den Fal ten ih res Klei -

des ber gen oder mei ner er sten Ein ge bung fol gen

und da von lau fen. Sie be merk te mei ne Scham und,

mich am Kinn fas send, hob sie mei nen Kopf zu sich

em por und sag te: »Klei ner Jun ge, ich habe schon

sechs Kin der be gra ben, alle jün ger als Du, und lebe

nun mit mei nem Man ne ganz mut ter see len al lein.

Wie oft, wie oft habe ich ge wünscht, daß nur eins

der lie ben Klei nen am Le ben wäre. Doch hät te mich

der lie be Gott vor die Wahl ge stellt, sie jung und un -

schul dig ster ben zu se hen oder, auf ge wach sen, sie

so flu chen zu hö ren, wie Du es eben ge tan, ich hät te

Gott ge be ten, sie von mir zu neh men — — wie er es

ge tan. Du hast eine Mut ter! Bre che ihr nicht das

Herz, in dem Du den Na men Got tes mi ß brauchst,

den sie ver ehrt . . . .« Dann kü ß te sie mich auf die

Stir ne und — so merk wür dig es auch schei nen

mag — so viel Tor hei ten, so viel Un recht ich auch

seit her be gan gen, von je nem Tage an bis zu die -

ser Stun de kam kein Fluch mehr über mei ne Lip -

pen — — — und ich dan ke dem Schöp fer da für«.

Es lag so viel Wahr heit, so viel tie fes, ehr li ches

Emp fin den in sei ner Stim me, daß ihn alle er staunt

an sa hen; hat te doch nie mand sol ches Füh len in

ihm er war tet. Selbst Miß Hal li day ver gaß ihre üb li -

chen Spöt ter ei en und so herrsch te tie fe, ern ste Stil -

le — — — — die plötz lich durch ein schril les, spöt ti -

sches La chen un ter bro chen ward . . . . .

Es kam von Ama bel, die drau ßen im Gar ten sich

ei nen Strauß fri scher Blu men ge pflückt hat te.

X.

De tek tiv Knapp kommt an.

In ei nem klei nen Zim mer des Ge richts ho fes sa -

ßen in zwi schen drei Män ner zu sam men: Dr. Tal -

bot, Mr. Fen ton und ein Rechts an walt Na mens Har -

vey. Es war der letz te re, der sprach und von Mrs.

Webb er zähl te.

Har vey war be kannt als ein über aus tüch ti ger

An walt, von ta del lo sem Rufe. Wenn er sprach,

sprach er gut, doch zog er es meist vor, zu zu hö ren.

Er wu ß te Ge heim nis se zu be wah ren, wie kein an de -

rer. Er war drei mal ver hei ra tet ge we sen; böse Zun -

gen be haup te ten, daß er so das Schwei gen ge lernt

habe. Um sei nen Tisch sa ßen noch heu te drei zehn

Kin der.

»Vor etwa fünf zehn Jah ren«, er zähl te Har vey,

»kam Phi le mon zu mir und über gab mir eine Sum -

me Gel des, die er für sei ne Frau an ge legt wis sen

woll te. Er hat te das Geld bei ei ner klei nen Spe ku la -

tion ver dient und woll te es für sei ne Frau an le gen,

ohne daß die se oder die Nach barn et was da von er -

füh ren. Ich fer tig te die nö ti gen Pa pie re aus, die er

voll Freu de un ter zeich ne te und leg te das Geld nach

reif li cher Ueb er le gung in ei nem Un ter neh men in

Bo ston an, das mir gut er schien. Es war dies der be -

ste Zug, den ich je im Le ben mach te. Nach ei nem

Jah re hat te sich das Ka pi tal ver dop pelt und nach

fünf Jah ren war es — mit den Zin sen — so an ge lau -

fen, daß wir — Phi le mon und ich — be schlos sen, ihr

zu sa gen, wie reich sie sei und ihre Dis po si tio nen zu

er war ten, was mit dem Gel de ge sche hen soll te. Ich

hoff te, sie wür de nun ihre Le bens wei se än dern, die

mir nicht im Ein klang schien mit ih rem Ein kom -

men und ih ren gei sti gen Fä hig kei ten; es ward mir

in des bald klar, daß ich Agat ha falsch be ur teil te.

Als sie hör te, wie reich sie war, schau te sie uns erst

erschroc ken an; dann warf sie sich in Phi le mons

Arme und wein te bit ter lich, wäh rend der arme

Mensch so ver wirrt da stand, als habe er ihr Nach -

richt von ei nem gro ßen Ver lust statt von ei nem gro -

ßen Ge winn ge bracht. Sie dach te wohl an ihre to -

ten Kin der und was sie nun für die sel ben tun könn -

te, wä ren die sel ben am Le ben. Doch sie sprach

nicht da von. Nach dem die er ste Er re gung vor über,

sag te sie zu Phi le mon: »Du woll test mich glück lich

ma chen, Phi le mon, und Du sollst Dich nicht ge -

täuscht ha ben. Wir wol len das Geld be nut zen, den

Ar men der Stadt zu hel fen«. Er sah auf ihr ein fa -

ches kar di nal far be nes Ka li ko kleid und sag te be -

schei den: »Denkst Du nicht, wir soll ten uns nun et -

was bes ser klei den und daß Du viel leicht ein sei de -

nes Band an Dei nem schö nen Hals tra gen könn -

test?« Sie ant wor te te nicht, son dern schau te ihn

nur an, mit ei nem Blic ke, aus dem ihre gan ze See le

sprach. »Agat ha hat recht«, sag te dar auf hin Phi le -

mon zu mir, »wir brau chen kei nen Lu xus. Ich kann

wirk lich nicht be grei fen, wie ich so was sa gen konn -

te«. Das war vor zehn Jah ren und ihr Ver mö gen

wuchs im mer mehr an. Ich wu ß te da mals nicht —

und weiß es heu te noch nicht — wes halb sie ihr

Glück so ge heim ge hal ten wis sen woll te. Doch da es

ihr aus drück licher Wunsch war, habe ich den sel -

ben na tür lich re spek tiert. Das Geld, das of fen bar

die in di rek te Ur sa che ih res To des ge we sen, wa ren

die Zin sen, die ich ihr vor ge stern über bracht hat te.

Es wa ren ein tau send Dol lars in na gel neu en Schei -

nen, teils fünf, teils zehn, auch ei ni ge Zwan zig-Dol -

lars-Schei ne da bei und ich darf wohl be haup ten,

daß kein an de res neu es Geld in sol chem Be tra ge in

der Stadt war«.

»Zei gen Sie al len Ge schäfts leu ten der Stadt an,

ge nau auf zu pas sen, wer mit neu em Gel de be zahlt«,

sag te Dr. Tal bot zu Fen ton. »Neue zehn oder zwan -

zig Dol lars-No ten zir ku lie ren hier nicht je den Tag.

Was nun ihr Te sta ment be trifft, hast Du das auch

auf ge setzt, Har vey?«

Nein, ich wu ß te nicht ein mal, daß sie ein sol -

ches ge macht hat te. Ich mach te sie oft auf eine sol -

che Not wen dig keit auf merk sam, doch hat sie es im -

mer zu ver schie ben ge wußt. Nun, scheint es, hat sie

doch ein Te sta ment ge macht und zwar in Bo ston.

Sie dach te ver mut lich, sie könn te ih rem al ten

Freun de nicht zu vie le Ge heim nis se an ver trau en«.

»Dann weißt Du nicht, wem sie ihr Geld hin ter -

las sen?«

»So we nig als Du«.

Der Ein tritt ei nes jun gen Man nes, ei nen Zwic ker

auf der Nase, un ter brach das Ge spräch.

So fort stan den alle er war tungs voll auf.

»Nun? frag te Dr. Tal bot.

»Nichts Neu es«, er wi der te der An ge kom me ne.

Die äl te re Frau starb an Blut ver lust, in fol ge ei ner

Wun de, die ihr ver mit telst ei nes klei nen, drei -

schnei di gen Dol ches bei ge bracht wor den war, wäh -

rend die jün ge re an Apo ple xie starb, ver an laßt

durch plötz li chen gro ßen Schrec ken.«

»Gut. Ich freue mich, daß mei ne An nah me sich

als rich tig er wie sen. Blut ver lust? Was? Dem nach

war der Tod kein plötz li cher?«

»Nein«.

»Son der bar!« sag ten die bei den an dern. »Sie leb -

te und rief doch nicht um Hil fe!«

»Wahr schein lich hat nie mand sie ge hört«, warf

der Arzt ein, der aus ei ner an dern Stadt war.

»Oder wenn je mand sie hör te, so war dies nur

Phi le mon«, be merk te der Poli zist. »Je den falls ver -

an la ß te ihn et was, nach oben zu ge hen«.

»Ich bin noch nicht so fest über zeugt, daß Phi le -

mon nicht der Mör der ist«, sag te der Un ter su -

chungs rich ter, trotz dem das Geld nir gend wo im

Hau se ge fun den ward. Wie an ders läßt sich sonst

sei ne Ruhe er klä ren, mit der er die Nach richt ih res

To des an hör te? Hät te ein Frem der sie ge tö tet, Agat -

ha Webb hät te sich si cher ge wehrt. Man merkt im

Zim mer aber nichts von ei nem Kamp fe«.

»Sie hät te sich je den falls auch ge gen Phi le mon

ge wehrt, hät te sie die Kraft und die Mög lich keit be -

ses sen. Mir scheint, sie ward im Schlaf über fal len«.

»Ah. Und nicht am Ti sche ste hend? Wie ka men

dann die Blut strop fen da hin?«

»Viel leicht von den Fin gern des Mör ders«.

»Phi le mons Hän de wa ren nicht blu tig«.

»Nein, er wisch te sie an sei nem Aer mel ab«.

»Wenn er es war, der den Dolch ge gen sie zück -

te, wo ist der Dolch? Er mü ß te doch ir gend wo im

Hau se ge fun den wer den«.

»Viel leicht hat er ihn im Gar ten ver gra ben. Gei -

stes kran ke kom men oft auf merk wür dig ver schla -

ge ne Ge dan ken«.

»Wenn Sie den Dolch in ner halb des Zau nes fin -

den kön nen, will ich Ih nen recht ge ben. Einst wei -

len glau be ich nicht an Ihre Theo rie. Mei ne An sicht

viel mehr ist — —«

»Wür den Sie die Güte ha ben, mit Ih rer An sicht

zurück zuhalten, bis ich die mei ni ge for mu liert

habe«, un ter brach den Spre cher eine Stim me von

au ßen. Alle wand ten sich um. Un ter der Türe stand

ein Mann mit glatt ge stri che nen schwar zen Haa ren

und aus drucks lo sen Zü gen. Hin ter ihm kam Abel,

Schirm und Rei se ta sche in der Hand.

»Der De tek tiv von Bo ston«, rief Abel.

Dr. Tal bot be grü ß te ihn.

»Knapp ist mein Name«, be gann der De tek tiv.

»Ich habe be reits mein Abend es sen ein ge nom men

und bin be reit, mei ne Ar beit so fort zu be gin nen.

Ich habe die Zei tun gen ge le sen und bin über al les

orien tiert, was bis jetzt of fi ziell be kannt ist. Ich

möch te nur noch die Tat sa chen wis sen, die seit her

fest ge stellt wur den — Tat sa chen, ver ste hen Sie, kei -

ne Theo rien. Ich las se mich nie durch an de rer Leu -

te Theo rien be ein flus sen«.

Dr. Tal bot, dem die Art und Wei se die ses Man -

nes, sei ne Wich tig tue rei und Selbst über he bung

nicht zu sag te, wies ihn an Mrs. Fen ton, der ihm al -

les mit teil te, was er und sei ne Leu te bis her fest ge -

stellt hat ten. Als er ge en det, nahm Mr. Knapp sei -

nen Hut und wand te sich der Türe zu.

»Ich wer de zu erst nach dem Hau se ge hen und se -

hen, was ich selbst fest stel len kann. Darf ich bit ten,

al lein ge hen zu dür fen?« setz te er hin zu, als er Fen -

ton sich er he ben sah. »Abel kann ja se hen, daß mir

der Zu tritt ge stat tet wird«.

»Zei gen Sie mir Ihre Aus weis-Pa pie re«, sag te

der Un ter su chungs rich ter. Dies ge schah. »Die

schei nen in Ord nung zu sein und ich neh me an, Sie

sind ein Mann, der sein Ge schäft ver steht. Sie kön -

nen al lein ge hen, wenn Sie es vor zie hen, brin gen

Sie aber Ihre Fol ge run gen, die Sie aus Ih rer Un ter su -

chung zie hen, hier her, da mit wir sie even tu ell — —

kor ri gie ren kön nen«.

»Ge wiß wer de ich zurück kommen«, ent geg ne te

Knapp ru hig. Dann ging er, ei nen nichts we ni ger

als gu ten Ein druck hin ter las send.

»Ich be grei fe Car son nicht«, rief der An walt,

»daß er uns sol chen Men schen her schickt! Konn te

er nicht mer ken, daß der Fall ei nes Man nes von un -

ge wöhn li cher Tüch tig keit und Ur teils kraft be -

darf?«

»Oh, der Mann ist viel leicht sehr tüch tig; er hat

nur solch unan ge neh mes We sen. Ich kann der ar ti -

ge Fisch na tu ren nicht lei den. Wer ist das?« un ter -

brach er sich plötz lich, als er ein Klop fen an der

Türe hör te. »Ah, Lo ton! Was will der hier?«

Der An kömm ling fuhr bei Dr. Tal bots Stim me

merk lich zu sam men. Er war schwäch lich, ner vös

und aufs äu ßer te er regt.

»Ich bit te tau send mal um Ent schul di gung«, be -

gann er, »daß ich mir die Frei heit neh me, hier her

zu kom men. Ich un ter bre che eine Ge sell schaft

nicht ger ne, doch ich habe Ih nen et was zu sa gen,

das viel leicht wich tig für Sie ist, ob wohl es nicht

sehr be deu tend ist . . . . .«

»Be trifft es den Mord?« frag te der Un ter su -

chungs rich ter, wo bei er sei ne Stim me dämpf te; er

kann te Lo ton und wu ß te, daß er ihn freund lich be -

han deln müs se, soll te er nicht gänz lich ver schüch -

tert wer den.

»Den Mord? Be wah re mich der Him mel! Ich wür -

de nie wa gen, et was über den Mord zu sa gen! Es be -

trifft das Geld, wel ches — — das heißt, es be trifft

Geld im all ge mei nen. Es ist — es ist et was merk wür -

dig und — — die Sa che ging mir schon den gan zen

Tag im Kopf her um — — soll ichs Ih nen er zäh len,

mei ne Her ren? Es pas sier te ge stern Abend, das

heißt, spät in der Nacht, so spät, daß ich schon lan -

ge im Bet te lag und be reits vier Stun den schnarch -

te, wie »mei ne Frau sagt — — —«

»Was für Geld? Neu es Geld? Na gel neue Bank no -

ten?« frag te Fen ton er regt.

Lo ton, der an der Stra ße, die nach dem Hü gel

führt, ein klei nes Spe zer ei ge schäft hat, trip pel te

ner vös von ei nem Fuße auf den an dern und fuhr

dann fort:

»Es war neu es Geld — ich dach te gleich so, als

ich es im Dun keln an fa ß te — na gel neu es Geld, mei -

ne Her ren und zwar eine — —. Doch das merk wür -

dig ste kommt noch: ich hat te fest ge schla fen und

träum te von mei ner Sal ly, als sie sel ber mich auf -

weck te und sag te, es klopf te Je mand an der Türe.

»Geh hin aus«, flü ster te Sal ly und sieh, was der

Mann will«. Ich war zwar är ger lich über die se Stö -

rung — ich träum te so schön von Sal ly — aber

Pflicht ist Pflicht und so ging ich hin ab — — es war

stock finster.

»Drau ßen klopf te es im mer noch.

»Was ist los?« schrie ich. »Wer ist drau ßen und

was wol len Sie?«

»Ma chen Sie auf!« rief eine schwa che zit tern de

Stim me, »ich will et was zu Es sen kau fen! Um Got tes

Wil len, ma chen Sie auf!«

»Die Stim me klang so kläg lich — — und ich öff ne -

te die Türe.

»Sie müs sen recht hung rig sein«, be gann ich,

doch er ließ mich nicht aus re den.

»Brot!« keuch te er atem los, wie ein Mann, der

weit und schnell ge lau fen ist, »ge ben Sie mir was zu

Es sen, ei ner lei, was es ist! Schnell, nur schnell! Hier

ist Geld!« Da bei schob er mir eine Note in die Hand,

die so steif war, daß sie knit ter te. »Schnell, um Got -

tes Wil len, schnell! Das Geld zahlt für al les! Ich kom -

me am Mor gen und hole mir, was ich her aus zu be -

kom men habe«.

»Wer sind Sie?« rief ich. »Sind Sie der blin de Wil -

ly? Oder — — —«

»Brot — Brot!« war sei ne ein zi ge Ant wort.

»Ich konn te dies Wim mern nach Brot nicht län -

ger mit an hö ren, griff im Dun keln nach ei nem Laib

und gab ihm den sel ben.

»Da!« rief ich. »Jetzt sa gen Sie mir, wer Sie sind,

oder wie Sie hei ßen«.

»Er mur mel te et was Un ver ständ li ches — es mag

wohl ein Dank ge we sen sein — ging aus der Türe

und lief schnell dem Hü gel zu«.

»Und das Geld? Wie ists mit dem Geld?« frag te

der Un ter su chungs rich ter. »Kam er am Mor gen für

sein Geld?«

»Nein. Ich leg te das Geld in der Nacht in den

Zahl tisch; ich dach te, es wäre eine Dol lar-Note. Als

ich aber heu te Mor gen nach schau te, wars ein Zwan -

zi ger, ja, mei ne Her ren, ein na gel neu er Zwan zi -

ger!«

Der Un ter su chungs rich ter und der Poli zist sa -

hen sich er staunt an.

»Wo ist das Geld? Ha ben Sie es mit ge bracht?«

frag te der er ste re.

»Ich habe. Ich will nie man den Un recht tun —

doch als ich hör te, daß Mrs. Webb — Gott hab sie se -

lig — letz te Nacht um Gel des Wil len er mor det wor -

den war, brann te mir die Note wie Feu er in der Ta -

sche. Hier ist sie. Ich woll te, ich hät te die Türe nicht

ge öff net und den al ten Mann ste hen las sen, bis es

Mor gen war«.

Es war wirk lich eine na gel neue Note, die Dr. Tal -

bot ent ge gen nahm.

»Wes halb nen nen Sie den Kun den alt?« frag te

Fen ton. »Ich dach te, es war so dun kel, daß Sie ihn

nicht se hen konn ten?«

»Nein, ich konn te sein Ge sicht nicht se hen.

Trotz dem bin ich si cher, daß er alt war — es kann

gar nicht an ders mög lich sein«.

»Das wird sich fin den. Ist das al les, was Sie uns

sa gen kön nen?«

Das war al les und so ward Lo ton ent las sen.

Etwa eine Stun de spä ter kehr te De tek tiv Knapp

zu rück.

»Nun?« frag te der Un ter su chungs rich ter, als je -

ner die Türe hin ter sich ge schlos sen hat te, was ist

Ihre An sicht über den Fall?«

»Ein fa cher Raub mord durch ei nen Mann mit ei -

nem lan gen wei ßen Bart«.

XI.

Der Mann mit dem Bart.

Es wohn ten nur we ni ge Män ner in der Stadt, die

lan ge wei ße Bär te tru gen. Es ward eine Li ste

der sel ben an ge fer tigt und dem Un ter su chungs rich -

ter un ter brei tet, der sie lä chelnd durch las.

»Kein ein zi ger von die sen wür de ein Un recht be -

ge hen, viel we ni ger ein Ver bre chen«, sag te er. »Sie

müs sen wo an ders nach dem Mör der Agat ha Webbs

su chen, nicht in un se rer Stadt«.

»Mög lich«, ent geg ne te Knapp, »in des sa gen Sie

mir ge fäl ligst erst, wer die se Leu te hier sind. Wer

ist Ed ward Hope?«

»Ein Uhr ma cher; ta del lo ser Cha rak ter«.

»Und Syl ve ster Chubb?« —

»Ein Far mer, der von früh Mor gens bis Son nen -

un ter gang auf sei ner Farm ar bei tet, um Mut ter,

Frau und sie ben Kin der zu ver sor gen und von

Abends bis elf Uhr des Nachts Holz ar bei ten

schnitzt, die er in Bo ston ver kauft«.

»John Bar ker, Tho mas El der, Ti mot hy Sinn?«

»Alle bra ve Leu te; ich bür ge für je den ein zel nen

von die sen«.

»Und John Za bel, James Za bel?«

»Bei de un an tast bar. Wa ren einst be rühm te

Schiffs bau er, bis der Wech sel von Holz zu Ei sen sie

aus dem Ge schäft brach te. War wirk lich Scha de,

denn sie wa ren Ex per ten in ih rem Fach. Apro pos,

Fen ton, man sieht die Bei den we der in der Kir che,

noch an der Werft mehr«.

»Nein; sie blei ben am lieb sten zu Hau se und al -

lein; wer den alt, wie wir«.

»Bra ve Jun gens, einst. Wir müs sen sie ein mal

auf su chen, Fen ton. Ich kann nicht se hen, wenn alte

Freun de sich so ganz zurück ziehen. Doch zum Ge -

schäft zu rück zu kom men: Sie kön nen ru hig wei ter

ge hen, Knapp«.

Knapp in des hat te das Zim mer ver las sen.

Er ging die Stra ße hin ab, bis zu ei nem ge wis sen

Hau se und zog dort die Klin gel.

»Sind Sie Pa stor Cra ne« frag te er den Mann, der

die Türe öff ne te, »der Herr, der ge stern Nacht ge -

gen ei nen Mann rann te, wel cher aus Mrs. Webbs

Haus kam?«

»Ich bin Pa stor Cra ne«’, ant wor te te der über -

rascht, »und rann te ge gen ei nen Mann al ler dings«.

»Gut — mein Name ist Knapp. Ich bin der De tek -

tiv, der von Bo ston hier her ge sandt ward, den Fall

zu un ter su chen und ich glau be, Sie kön nen mir da -

bei mehr be hilf lich sein als ir gend ein an de rer in

Sut her land town. Wer war der Mann, ge gen den Sie

rann ten? Sie ken nen ihn, wenn Sie auch vor sich tig

ge nug wa ren, sei nen Na men nicht zu nen nen«.

»Sie ir ren. Ich ken ne ihn nicht. Er trug ei nen lan -

gen Bart und lief wie ein Mann, der nicht mehr jung

ist. Wei ter kann ich . . . . .«

»Ent schul di gen Sie, bit te, Herr Pa stor. Ich ver -

ste he mich et was auf Phy sio gno mien. Wenn Sie

nicht zum min de sten je man den in Ver dacht hät -

ten, wür den Sie nicht so ver le gen da ste hen. War es

ei ner der bei den Her ren, de ren Na men Sie hier se -

hen?«

Pa stor Cra ne schau te das Pa pier an, das ihm je -

ner ein hän dig te und er bla ß te.

»Sie ha ben mich«, sag te er. »Sie müs sen ein un -

ge mein scharf sich ti ger Mensch sein«.

Der De tek tiv lä chel te und steck te die Kar te in

die Ta sche zu rück. Die bei den Na men, die er dar auf

ge schrie ben, wa ren die von John und James Za bel.

»Sie sag ten noch nicht, wel cher von Bei den es

war«, be merk te Knapp ru hig.

»Nein«, ent geg ne te der Pa stor, »weil ich selbst

noch nicht dar über nach ge dacht habe. Ich weiß

über haupt nicht, ob ich nicht ei nen un ver zeih li -

chen Feh ler be ging, an zu neh men, daß es ei ner der

bei den ge we sen. Ein schnel ler Blick kann gar leicht

täu schen und die Za bels sind bei de Män ner von ta -

del lo sem Ruf — —«

»Ge wiß. Sie ha ben sich ge irrt, Herr Pa stor, zwei -

fel los ge irrt. Ich muß schon selbst aus fin dig ma -

chen, wer es ge we sen. Ma chen Sie sich wei ter kei ne

Ge dan ken dar über«.

Dar auf ver beug te er sich un merk lich und ging

schnell die Stra ße hin ab, di rekt in das Spe zer ei ge -

schäft des Herrn Lo ton.

Hier hat te er es nicht so leicht. Sal ly Lo ton stand

mit ih rem Gat ten hin ter dem La den ti sche. Die bei -

den hat ten of fen bar so eben über das ge spro chen,

was Knapp ger ne wis sen woll te. Auch merk te er so -

fort, daß die klei ne Frau viel we ni ger zum Plau dern

auf ge legt war, als der Mann. Er wand te sich da her

der er ste ren zu, von den äl te sten und be währ te -

sten Waf fen dem schö nen Ge schlech te ge gen über

Ge brauch ma chend: der Schmei che lei.

»Mei ne lie be Frau«, be gann er, »Ihre Her zens gü -

te kann man ih nen von der Stir ne le sen. Ihr Mann

hat Ih nen so eben ei nen Na men an ver traut, den Sie,

aus Näch sten lie be und um kei nen Irr tum zu be ge -

hen, nicht nen nen wol len. Das nen ne ich wah res

Chri sten tum in der Tat! Doch Ihre Her zens gü te soll -

te dem Rade der Ge rech tig keit nicht in die Spei -

chen grei fen. Wenn Sie uns we nig stens sa gen woll -

ten, wem der Mann gleich sah, könn ten wir die rich -

ti ge Spur al lein fin den«.

»Er sah kei nem gleich, den ich ken ne«, sag te Lo -

ton. »Es war übri gens viel zu dun kel, um sein Ge -

sicht er ken nen zu kön nen«.

»Aber sei ne Stim me — man er kennt oft Leu te an

ih rer Stim me«.

»Sei ne Stim me war mir ganz un be kannt.«

Knapp lä chel te und schau te noch im mer die klei -

ne Frau an.

»Er hat Sie aber an Je man den er in nert, den Sie

ken nen. Dazu müs sen Sie ei nen Grund ha ben! Kein

Mensch denkt an ei nen gu ten Nach barn von ta del -

lo sem Ruf in Ver bin dung mit ei nem Man ne, der um

Mit ter nacht Brot kauft und da für mit ei ner Zwan -

zig-Dol lars-Note be zahlt, — kein Mensch, sage ich,

denkt an ei nen sol chen Mann ohne trif ti gen

Grund!«

»Der Mann trug ei nen lan gen Bart; die ser streif -

te mei ne Hand, als ich ihm das Brot gab — — —«

»Gut; das ist we nig stens ein Punkt«.

»— — und so dach te ich an die Leu te hier, wel che

auch lan ge Bär te tra gen — —«

»Wie zum Bei spiel . . . . . . .«

Wäh rend Knapp dies sag te, nahm er die Kar te,

die er mit so gro ßem Er fol ge bei Pa stor Cra ne be -

nutzt hat te und hielt sie der neu gie ri gen Frau un -

ter die Au gen. Das über rasch te Ge sicht der sel ben

sag te ihm, was er wis sen woll te.

»Wer sag te Ih nen, daß es ei ner der Bei den

war?« frag te sie.

»Sie!« ent geg ne te er und steck te die Kar te lä -

chelnd in die Ta sche.

»Hast Du je so was ge hört, Samu el?« rief sie.

»Hab ich ein Wort ge spro chen?«

Der De tek tiv in des war längst aus dem La den ver -

schwun den.

XII.

Watt les kommt.

Die Fa mi lie Hal li day wohn te zwar nur we ni ge

Häu ser von Sut her lands ent fernt, in des bot

Fre de rick an stands hal ber sei ne Be glei tung an, als

Miß Hal li day sich zum Heim ge hen anschick te. Sie

nahm die se er rö tend an — ein Um stand, der Fre de -

rick zum Nach den ken ver an la ß te, so daß er ganz

der An we sen heit Ama bels ver gaß, bis sie die ser im

Gar ten ge gen über stan den.

»Ein schö ner Abend«, be merk te Ama bel mit ih -

rer un sym pa thi schen, schar fen Stim me.

»Sehr«, ent geg ne te Miß Hal li day kurz.

Zum er sten Male ver glich Fre de rick die bei den

Mäd chen mit ein an der. Hat ten ihn frü her die fas zi -

nie ren den Au gen Ama bels so ein ge nom men, daß er

für kei ne An de re Aug und Ohr hat te, so fiel ihm nun -

mehr die ru hi ge Schön heit und Rein heit auf, die

von Miß Hal li days Zü gen aus ging und un will kür -

lich zog er sie ha stig wei ter, um sie aus dem Be rei -

che Ama bels zu brin gen.

Ama bel hat te die se Be we gung be merkt und lä -

chel te ge ring schät zig: Ag nes Hal li day fürch te te sie

nicht als Ri va lin!

Die Bei den schrit ten wort los da hin; er, in stil ler

Ver wun de rung, wie sehr sich ein Mann durch eine

Lei den schaft ver blen den las sen kann, sie in Ge dan -

ken, die die alte Spott lust nicht auf kom men lie ßen.

So ka men sie am Hal li day schen Hau se an, ohne sich

auch nur ein ein zi ges Mal an ge schaut zu ha ben.

Miß Hal li day öff ne te die ei ser ne Türe des Git -

ters und stand nun Fre de rick ge gen über.

»Ag nes«, be gann Fre de rick, »was wür dest Du

von ei nem Men schen den ken, der, nach dem er sein

gan zes Le ben lang nichts als dum me Strei che ver üb -

te, plötz lich den Ent schluß faßt, von nun an un ter

al len Um stän den das Rech te zu tun und ein or dent -

li cher Mensch zu wer den, ganz gleich gil tig, wel che

Hin der nis se und Ent täu schun gen er zu über win -

den hat«.

»Ich wür de den ken«, er wi der te sie, die Au gen

zu ihm auf schla gend, »daß er das Edel ste un ter nom -

men, des sen ein Mann fä hig ist und auch — das

Schwer ste. Ein sol cher Mann hät te mei ne vol le Sym -

pa thie, Fre de rick«.

»Hät te er?« frag te er bit ter; er dach te an Ama bel

und ihr teuf li sches La chen, als sie von sei nem Ent -

schlus se hör te. »Dies war das er ste freund li che

Wort, das Du mir je ge ge ben, Ag nes — viel leicht das

er ste, das ich je ver dien te«, setz te er lei se hin zu.

Dann hob er zum Ab schied den Hut und ging

schnell von dan nen.

Ag nes blieb ste hen — blieb so lan ge ste hen, daß

es fast neun Uhr war, als sie ins Haus trat.

»Was ist Dir, Ag nes?« rief die Mut ter, als sie das

blei che Ge sicht der Ein tre ten den sah.

Was ihr war? Sie wu ß te es selbst nicht — woll te

es nicht wis sen — sie woll te sich nicht ein mal selbst

fra gen —.

In zwi schen war Fre de rick den Bü schen zu ge gan -

gen, die sei nem Hau se ge gen über stan den. Der

Mond schien voll auf ei nen hoh len Baum stamm zwi -

schen den dich ten Bü schen. Da hin ging Fre de rick,

un be ach tet von den bei den Mäd chen, de ren Ge dan -

ken in die sem Augen blic ke bei ihm weil ten.

Fre de rick beug te sich nie der, griff in die Höh -

lung — fuhr plötz lich zu rück, such te wie der und

wie der, in ner vö ser, fie ber haf ter Auf re gung —

durch such te die Zwei ge und Bü sche, hier, dort —

bis er sich ge ste hen mu ß te: was er such te, war

nicht da!

Er drückt von die ser Er kennt nis, zit ternd vor

den mög li chen Fol gen, stand er auf. Kal ter Angst -

schweiß floß ihm von der Stir ne.

»Sie war hier!« schrie er, »sie hat es ge nom -

men!« Und sich zum er sten Male der Ver schla gen -

heit und Kraft sei ner Geg ne rin ganz be wußt, ver -

gaß er sei ne neu en Ent schlüs se und das Ver spre -

chen, das er einst Agat ha Webb ge ge ben und fluch -

te und ver wünsch te sich selbst und das Mäd chen,

das dies ge tan und Gott und die Men schen — bis er

zu fäl lig das ru hi ge Mond licht sah und den Him mel

und die Ster ne . . . . Da schäm te er sich.

Lang sam, mit ge senk tem Kop fe ging er dem Hau -

se zu, das ihm um so ver ha ß ter war, da es das Weib

barg, das ihm den Un ter gang ge schwo ren.

Jetzt erst ver stand er sie, ihre Kraft und ihre Ver -

schla gen heit und er dank te Gott, daß sie nicht in

der Nähe war, sonst hät te er sie zer malmt.

Als er dem Hau se zu ging, be merk te er Licht in

sei nes Va ters Stu dier zim mer. Er stock te und schau -

te nach dem be leuch te ten Fen ster — da kam Ruhe

und Fe stig keit über ihn und eben woll te er ins Haus

tre ten, als er Je man den keu chend und ru fend den

Hü gel her auf kom men sah.

»Du!« schrie Fre de rick, als der An de re vor ihm

stand und mach te eine Ge bär de, als ob er ihn nie -

der strec ken woll te, »Du!«

»Ich hät te ei nen an dern Will komm er war tet«,

ent geg ne te der An de re, spöt tisch lä chelnd, »habe

ich Dir doch eine Rei se nach Bo ston er spart. Wes -

halb also so är ger lich? Du hast das Geld, ich bin deß

si cher. . . .«

»Ssssst! »Wir kön nen hier nicht re den«, flü ster -

te Fre de rick. »Komm in den Gar ten oder bes ser

dort in die Bü sche«.

»Ich gehe mit Dir in kei ne Bü sche, mein

Freund«, sag te der An de re höh nisch, »nicht nach

dem, was ge stern Nacht hier pas sier te. Doch ich

will lei se re den, ich will Dir kei ne Unan nehm lich -

kei ten be rei ten, be son ders nicht, wenn Du das Geld

hast«.

»Was willst Du da mit sa gen, Watt les: »nicht

nach dem, was ge stern Nacht hier pas sier te«?

Wagst Du etwa, mich mit dem Ver bre chen in Ver -

bin dung zu brin gen, wel ches — — — —«

»Ta, ta, ta«, un ter brach ihn Watt les, »laß uns kei -

ne Zeit ver lie ren mit Wort klau be rei en. Es liegt mir

nichts dar an, was ge stern Nacht pas sier te, noch

wer den Streich ver üb te; das ist nicht mei ne Sa che.

Was ich will, ist Geld, und zwar schnell. Wenn ichs

nicht nö tig brauch te, wäre ich nicht ex tra von Bo -

ston hier her ge kom men, son dern wäre zu Hau se ge -

blie ben und hät te eine Fünf zi ger von ei nem Far mer

ge macht, den Le wis ge stern Nacht von Ca na da mit

brach te«.

»Ich schwö re Dir, Watt les — — — —«

»Un sinn«, un ter brach ihn der An de re, »nur kei -

ne thea tra li schen Pos sen mit mir! Geld will ich se -

hen! Neun hun dert fünf und fünf zig sind es, doch da

wir Freun de sind, will ich die fünf strei chen. Nun

aber schnell, ich will mit dem El fuhr-Zug wie der zu -

rück«.

»Ich bring Dir das Geld mor gen, Watt les, oder

über mor gen. — — Ich kann es Dir heu te nicht ge -

ben, ich kann wirk lich nicht, aber — — — — Halt, wo -

hin willst Du ge hen?«

»Zu Dei nem Va ter. Ich will ihm sa gen, daß sein

Sohn mir Geld schul det und daß er dies Geld auf

eine Wei se er hielt, die ihn we gen Fäl schung ins Ge -

fäng nis brin gen kann; ich will ihm sa gen, daß er in

Bo ston Ge schich ten er fah ren kann, die das fer ne re

Ver blei ben Fre de rick Sut her lands un ter dem vä ter -

li chen Da che für der hin un mög lich macht; daß sein

Sohn viel schlech ter ist, als er denkt, nein, ein ganz

ge wöhn li cher Gau ner, den nur mei ne Freund schaft

bis jetzt vor dem Ge fäng nis be wahr te. Wird das

nicht eine schö ne Ge schich te wer den, he?«

»Watt les — mein Gott — nur eine Mi nu te, Watt -

les! Ich habe jetzt kein Geld — ich hat te es heu te

Mor gen — hat te es auf ehr li che Wei se be kom men —

es ist mir aber ge stoh len wor den und — — —«

»Auch wer de ich ihm sa gen«, fuhr der An de re

fort, als ob Fre de rick gar nicht ge spro chen hät te,

»daß Du in Bo ston fünf hun dert Dol lars auf eine Kar -

te ver lo ren hast, aber nicht ei nen Cent in der Ta -

sche, um da mit zu zah len; um Skan dal zu ver mei -

den, bürg te ich für Dich, un ter der Be din gung, daß

mir das Geld in ner halb zehn Ta gen zurück bezahlt

wür de; daß Du gleich wei ter spiel test und noch vier -

hun dert und ei ni ge Dol lars mehr ver lorst, so daß

Dei ne Schuld neun hun dert fünf und fünf zig Dol lars

be trug; daß die zehn Tage vor bei gin gen, Du das

Geld aber nicht zurück gezahlt hast; daß ich Dich

dräng te, weil ich selbst Geld brauch te und Du dar -

auf schwurst, mich in fünf Ta gen zu be zah len; daß

Du von Bo ston hier her kamst, das Geld zu ho len;

daß Du heu te Vor mit tag ein Te le gramm ge sandt

hast, Du hät test das Geld und wür dest es mor gen

brin gen — und will es dann dem al ten Man ne über -

las sen, sei ne ei ge nen Schlüs se zu zie hen. Viel leicht

denkt er dann selbst, daß — — — — Ah, Du möch test

wohl!«

Fre de rick hat te in tol ler Wut den An dern an der

Keh le ge packt, um ihm die Wor te im Hal se zu erstik -

ken, die er aus spre chen woll te. Doch der Kampf dau -

er te nur kur ze Zeit. In ei ner Mi nu te stan den sich

die Geg ner keu chend ge gen über.

»Watt les«, sag te Fre de rick, be schämt den Kopf

hän gen las send, »ich bit te Dich um Ver zei hung. Du

mußt mich aber nicht zum Aeu ßer sten trei ben mit

Dei nen ver steck ten An spie lun gen . . . . . . . . Ichhabe das Geld jetzt nicht, doch ich will ver su -chen, es zu be kom men. War te hier.«

»Zehn Mi nu ten, Sut her land, nicht län ger! Der

Mond scheint ziem lich hell und ich kann mei ne

Uhr deut lich se hen. Um drei vier tel zehn Uhr bist

Du hier mit dem Geld oder ich ver lan ge es von Dei -

nem Va ter per sön lich.«

Fre de rick eil te fort und stand in der näch sten

Mi nu te an der Türe sei nes Va ters Stu dier zim mer.

XIII.

Watt les geht.

Mr. Sut her land war ge ra de mit dem Durch se -

hen von Ge richts ak ten be schäf tigt, als Fre de -

rick ein trat.

»Va ter«, be gann die ser, ohne Um schwei fe, »ich

brau che sehr nö tig und so fort neun hun dert fünf -

und fünf zig Dol lars. Ich brau che sie so nö tig, daß

ich Dich bit te, mir so fort ei nen Check in die ser

Höhe aus zu schrei ben, ob wohl ich weiß und mir völ -

lig be wußt bin, daß Du mir mit vol lem Rech te die se

Bit te ab schla gen kannst, denn ich habe die Gren zen

Dei ner Güte und Lang mut schon viel zu weit über -

schrit ten. Ich kann Dir nicht sa gen, wo für ich das

Geld brau che; das ge hört mei ner Ver gan gen heit

an, de ren Fol gen ich noch zu tra gen habe. Ich kann

Dir in des ver si chern, daß Du nichts ver lie ren wirst

durch die sen ma ter iel len Be weis Dei nes Ver trau -

ens in mich, da ich bald in der Lage sein wer de, alle

mei ne Schul den zu zah len, un ter de nen die se in er -

ster Rei he ste hen soll«.

Der alte Mann schau te den Spre cher über rascht

an und spiel te ner vös mit den Ak ten in sei nen Hän -

den.

»Du sagst, Du wirst bald in der Lage sein, mir das

Geld zurück zuzahlen? Was meinst Du da mit?«

Fre de rick er bla ß te.

»Ich will ar bei ten«, mur mel te er, »will ei nen

Mann aus mir ma chen und das so bald als mög lich«.

Mr. Sut her land schau te ihn durch drin gend an.

»Und dazu brauchst Du das Geld?«

Fre de rick nick te stumm; er war un fä hig, zu spre -

chen. Sein Blick war auf die Uhr ge fal len, die an der

Wand hing und er sah, daß fünf kost ba re Mi nu ten

ver gan gen wa ren.

»Ich wer de Dir das Geld ge ben«, sag te der Va ter

und zog sein Check buch aus der Ta sche; doch er öff -

ne te es nicht, er schau te Fre de rick noch im mer an.

»Ich will das Geld mit dem näch sten Zuge fort -

schic ken«, mur mel te Fre de rick, und der Zug geht

bald . . .«

»Wes halb ver traust Du mir nicht, Fre de rick?«

frag te der Va ter.

Fre de rick ant wor te te nicht. Die Zei ger der Uhr

gin gen ste tig vor wärts.

»Ich wer de Dir das Geld ge ben, doch möch te ich

wis sen, wo für es ist«.

»Ich kann Dir es nicht sa gen«, seufzte der jun ge

Mann.

»Hat etwa Miß Page — — —«

Fre de rick trat ei nen Schritt vor und leg te sei ne

Hand auf des Va ters Arm.

»Das Geld ist nicht für sie; es kommt in an de re

Hän de — — — —«

Mr. Sut her land at me te er leich tert auf. Er tauch -

te die Fe der in die Tin te — — Fre de ricks Ge sicht

ward to ten bleich . . . . er hör te Schrit te an der Haus -

tü re — —

»Neun hun dert fünf zig?« frag te der Va ter.

»Neun hun dert fünf zig«, ant wor te te der Sohn.

Der Rich ter schau te sei nen Sohn noch ein mal

an, dann un ter schrieb er den Check und reich te ihn

Fre de rick.

»Va ter«, rief er, den Check er grei fend, »ich

habe mein gan zes Le ben vor mir, Dir dank bar zu

sein. Ich sehe Dich wie der, ehe es Mit ter nacht ist.«

Dann eil te er hin aus, die Trep pe hin ab und kam

eben an der Haus tü re an, als die se auf ging und

Watt les her ein trat.

»Ah«, rief die ser, als er den Check sah, »ich habe

Geld er war tet, kein Pa pier«.

»Der Check ist so gut wie Geld«, flü ster te Fre de -

rick, Watt les aus dem Hau se zie hend, »er trägt mei -

nes Va ters Un ter schrift«.

»Dei nes Va ters Un ter schrift?«

»Ja«.

Watt les schau te den Check an, dann schüt tel te

er den Kopf.

»Ist sie so gut nach ge macht, wie auf dem Check,

den Du Bra dy auf hän gen woll test?«

Fre de rick knirsch te mit den Zäh nen. Ei nen Au -

gen blick schien es, als ob er sich nicht be herr schen

kön ne — dann sag te er ru hig:

»Du hast ein Recht, mir zu mi ß trau en. Was ich

aber ein mal ge tan, tue ich nie wie der! Ich hof fe, ich

blei be am Le ben, um zu be wei sen, daß ich mich ge -

än dert habe . . . . . . Was den Check be trifft: kom me

mit mir zu mei nem Va ter und er wird Dir sa gen,

daß die Un ter schrift gut ist«.

Die se Wor te blie ben nicht ohne Ein druck auf

Watt les.

»Da kannst eben so gut gleich ge ste hen, daß er

ge fälscht ist; Dein Va ter braucht dies nicht zu be stä -

ti gen«.

»Komm’ mit!«

»Du willst dies ris kie ren?«

»Willst Du, bit te, kom men?«

Watt les zog die Schul tern in die Höhe.

»Ich habe nichts ge gen Dich«, sag te er. »Wenn

der Check gut ist, bin ich’s zu frie den und es scheint

wirk lich, als ob er gut wäre. Aber höre, Sut her land:

et was ist mit Dir vor ge gan gen. Vor ei ner Wo che hät -

test Du mir eine Ku gel durch den Kopf ge jagt, wenn

ich so zu Dir ge spro chen hät te. Ich glau be, ich

durch schaue Dich: um den Ver dacht ei nes grö ße -

ren Ver bre chens ab zu len ken, bist Du wil lens, ein

klei ne res auf Dich zu neh men. Klu ger Ge dan ke,

mein Jun ge, zieht aber nicht bei mir. Wenn der

Check nicht gut ist, hat’s mit mei ner Freund schaft

ein Ende. Ver stan den? Wer de übri gens den Check

Mor gen ein kas sie ren«.

Und eine be kann te Me lo die pfei fend, ging er

schnell den Hü gel hin ab.

XIV.

Die letz te Ver su chung.

Als der Schall der sich ent fer nen den Schrit te

ver hallt war, ließ Fre de rick er schöpft den

Kopf hän gen. Die se letz ten vier und zwan zig Stun -

den hat ten zu viel Auf re gun gen mit sich ge bracht

und er war bei na he am Ende sei ner Kräf te an ge -

langt. Aber noch soll te er kei ne Ruhe fin den.

Zer schmet tert von all dem Ge sche he nen, vor

sich nur Elend und Schan de — — was blieb ihm zu

tun übrig? Hier der Mann, der eben ge gan gen —

dort Ama bel . . . Es blieb nur ein ein zi ger Aus weg,

wenn auch ein fei ger: die Flucht.

Schnell pack te er das Nö tig ste zu sam men,

schrieb ei nen Brief, ein letz tes Le be wohl an sei nen

Va ter, schlich sich dann lei se die Trep pe hin un ter,

aus der Tür, die nach dem Gar ten führ te und die er

(wie selt sam!) un ver schlos sen fand, um durch den

Gar ten und über Fel der den Weg nach Port che ster

ein zu schla gen, wo selbst er den drei Uhr drei ßig

Min.-Zug be nut zen woll te, nach — — weiß Gott, wo -

hin. Er hat te nur den ei nen Ge dan ken: fort, weit

fort!

Eben hat te er den Zaun er reicht, der sei nes Va -

ters Be sitz tum von dem des Nach bars trenn te und

war im Be griff, dar über zu sprin gen, als er ein Mäd -

chen mit er ho be ner Hand vor sich ste hen sah.

Es war Ama bel!

Er schreckt — dann er staunt, dann är ger lich,

voll Wut und Haß fuhr er sie an:

»Was tust Du hier? Weißt Du nicht, daß es ein

Uhr ist und mein Va ter das Haus um die se Stun de

ver schlos sen ha ben will?«

»Und Du?« ent geg ne te sie, »was tust Du hier?

Suchst Du etwa Blu men und soll die Hand ta sche,

die Du trägst, gar die Fun de Dei ner bo ta ni schen Ex -

kur sion auf neh men?«

Aufs höch ste er regt, warf er die Hand ta sche zu

Bo den und fa ß te Ama bel an den Schul tern.

»Wo hast Du mein Geld ver steckt«, zisch te er.

»Sag’ mir’s oder — — —«

»Oder was?« frag te sie, ru hig lä chelnd.

»Oder ich bin nicht ver ant wort lich für das, was

ich mit Dir tue! Denkst Du, ich er trü ge al les von Dir,

weil Du ein Weib bist? Nein! Ich will das Geld ha ben,

je den Cent oder ich zei ge Dir, wer der Mei ster ist!

Wo hast Du das Geld, Du tüc kischer Teu fel?«

»Ah«, sag te sie, als ob sie sei ne letz ten Wor te gar

nicht ge hört habe und er sie lieb ko se, statt quä le,

»ich dach te nicht, daß Du den Ver lust so bald ent -

dec ken wür dest. Wann warst Du in den Bü schen,

Fre de rick? War viel leicht gar Miß Hal li day mit

Dir?«

Fast hät te er ihr ei nen Schlag ins Ge sicht ver -

setzt — doch er be zwang sich bei Zei ten. Mit bru ta -

ler Ge walt konn te er die ser herz lo sen Schlan ge ge -

gen über nichts aus rich ten, das sah er ein. Es be durf -

te ei nes Wil lens, so stark wie des ih ren, und den

woll te er ihr zei gen! Er setz te Al les auf eine Kar te,

wäh rend sie nichts zu ver lie ren hat te, als viel leicht

ei nen trü ge ri schen Traum — denn er war fest ent -

schlos sen, sie nicht zu hei ra ten.

»Ein Mann braucht nicht lan ge«, sag te er ru hig,

»sein Ei gen tum zu ver mis sen. Wenn Du das Geld ge -

nom men — was Du zu gibst — dann hast Du sehr un -

vor sich tig ge han delt, denn das Geld birgt mehr Ge -

fahr für die Per son, die es be sitzt, als für die, der Du

es ge nom men. Das wirst Du aus fin den, Ama bel, so -

bald Du von der Waf fe Ge brauch ma chen willst, die

Du zu ha ben glaubst«.

»Tut, tut«, mach te sie ver ächt lich.

»Denkst Du, ich sei ein Kind? Sehe ich aus, wie

ein ein fäl ti ges Mäd chen, Fre de rick?«

Da bei wand te sie ihm ihr ver füh rer isches Ge -

sicht zu und schau te ihn ko kett an. Das hel le Mond -

licht spie gel te sich in ih ren Au gen und er be durf te

sei ner gan zen Man nes kraft, an je nes rei ne, edle Ge -

schöpf zu den ken, bei dem er die sen Abend ge stan -

den, um sich nicht von die sem hier ins Ver der ben

zie hen zu las sen.

Sie sah den Ein druck, den sie auf ihn mach te

und fuhr fort:

»Oder wie ein Weib, ein Weib, das sich selbst ver -

steht und Dich und alle die ge hei men Ge fah ren des

Spiels, das wir bei de spie len? Bin ich nur ein Kind,

be hand le mich doch wie ein Kind! Doch ich bin ein

Weib — — —«

»Geh’ mir aus dem Wege!« schrie er, sei ne Hand -

ta sche er grei fend. »Weib oder Kind, mir ei ner lei!

Nur das Eine sollst Du wis sen: Du kannst mich nicht

län ger mehr als Spiel zeug Dei ner Lau nen be nüt zen.

»Willst Du dich etwa selbst zer stö ren?« frag te

sie la chend, ohne von der Stel le zu wei chen. »Du

bist dann al ler dings auf dem rich ti gen Wege und

brauchst Dich nur et was zu ei len . . . . . . Blei be bes -

ser hier, in Dei nes Va ters Haus, selbst wenn Du dort

qua si Ge fan ge ner bist, wie mei ne We nig keit. Das Re -

sul tat wird ein be frie di gen de res sein — selbst wenn

Du Dei ne Zu kunft mit mir tei len mußt — — —«

»Und was wirst Du tun, wenn ich ei nen Un ter -

gang ohne Dich ei ner Ver dam mung mit Dir vor zie -

he?«

»Was ich tun wer de? Ich wür de Dr. Tal bot ge ra -

de ge nug sa gen, um ihm zu ver ste hen zu ge ben,

daß Dei ne An we sen heit als Zeu ge eben so wün -

schens wert wäre, als die mei ne. Das Re sul tat

kannst Du Dir ja selbst aus ma len. Doch Du wirst es

nicht da hin kom men las sen; Du wirst um keh ren

und — — —«

»Ich wer de nicht um keh ren! Ob ich Dir in ei -

ner Wo che zei ge, wer Mei ster ist, oder heu te,

ich — — —«

Doch er sprang nicht über den Zaun, wie er be ab -

sich tigt hat te, denn es ka men so eben vier Män ner

den Hü gel her auf und schlu gen den Weg nach dem

Hau se ein, dar in nen John und James Za bel wohn -

ten.

»Ich wet te mei nen Kopf«, hör ten sie den ei nen

sa gen, »daß wir heu te Nacht Hand an den Mör der

Agat ha Webbs le gen! Ein Mann, der so un vor sich tig

mit Zwan zig-Dol lar-No ten her um wirft, soll te kei -

nen lan gen wei ßen Bart tra gen«.

Es wa ren der Un ter su chungs rich ter, Fen ton, De -

tek tiv Knapp und Abel.

Fre de rick und Ama bel schau ten sich stumm an;

dann wand ten sie sich und gin gen zu sam men dem

Hau se zu.

XV.

Ein Be such bei Za bels.

An ei ner klei nen Sei ten stra ße, fast im Wal de,

stand das klei ne Häus chen, in dem die Za bels

wohn ten, seit dem sie sich vom Ge schäft zurück -

gezogen. Ob wohl es nicht weit vom Städt chen ent -

fernt war, stand doch kein an der Haus in der Nähe.

Schwei gend gin gen die vier Män ner die Stra ße

ent lang; es wa ren Jah re ver flos sen, seit sie zu letzt

hier ge we sen und fast Al len schien der Gang ein

unan ge neh mer, schwe rer. Dr. Tal bot ging es be son -

ders nahe, sei ne al ten Freun de in die ser Wei se auf -

su chen zu müs sen.

»Mei ne Her ren«, sag te er, plötz lich an hal tend,

»daß wir uns auch recht ver ste hen: wir sind im Be -

grif fe, bei zwei en un se rer äl te sten und ge ach tet -

sten Mit bür gern ei nen Be such zu ma chen. Soll te

ich es im Lau fe der Un ter hal tung für not wen dig be -

fin den, der Zwan zig-Dol lar-Note Er wäh nung zu

tun, wohl und gut. Wenn nicht, dann ha ben Sie das

mei ner Ueb er zeu gung zu zu schrei ben, daß die Brü -

der nichts mit der sel ben zu tun ha ben!«

Zwei der Her ren nick ten zu stim mend; Knapp al -

lein mach te kei ner lei Zei chen.

»Ich sehe kein Licht am Fen ster«, sag te Abel.

Was tun wir, wenn sie be reits zu Bett ge gan gen

sind?«

»Wir wec ken sie auf«, ent geg ne te Fen ton. »Ich

kann nicht von hier fort ge hen, ohne mich über -

zeugt zu ha ben, daß keins von dem Gel de im Hau se

ist, das bei Lo ton ab ge ge ben wur de«.

»Gut«, be merk te Knapp und ging zur Haus tü re,

an die er mit sei nem Stoc ke star ke Schlä ge führ te.

Al les blieb still; nicht ein mal die bei den, vom Mond -

licht hell be leuch te ten Fen ster be weg ten sich.

»Za bel! John Za bel!« rief Fen ton, der um das

Haus her um ge gan gen war, »mach auf und las se ei -

nen al ten Freund ein! James! John! Macht nur auf!

Braucht Euch nicht erst an zu klei den! Wir ha ben

mit Euch zu spre chen!«

Auch die se Rufe blie ben un be ant wor tet. Fen ton

klopf te an die Fen ster und Türe und, da sei ne An -

stren gun gen er folg los blie ben, kam er wie der nach

vorn, zu den An dern.

So ver nach läs sigt hat ten sich die Freun de das

Haus nicht vor ge stellt! Nicht nur, daß Gras auf Stu -

fen und Fen ster ge sim sen wuchs, das Ka min war

halb zer fal len, die Fen ster lä den hin gen kaum noch

an we ni gen Schrau ben und hin ter den dü stern

Schei ben deck ten halb zer ris se ne Pa pier ja lou sien

kaum noch die Fen ster.

Welch ein Kon trast zwi schen dem Jetzt und der

Zeit, da die Brü der noch im Mit tel punk te des Le -

bens stan den!

»Was tun wir jetzt?« frag te Fen ton den De tek tiv,

der, sein Ohr an die Tür ge legt, lau schend da stand.

»Wir bre chen die Türe ein!« ant wor te te der

kurz. »Oder halt! Auf dem Lan de sind die Fen ster

höchst sel ten ver schlos sen. Ich will ver su chen, ob

ich durch ein Fen ster ins Haus kann«.

»Un ter las sen Sie das bes ser«, sag te der Un ter su -

chungs rich ter. »Wir wol len erst an de re Mit tel ver -

su chen, ehe wir so ins Haus bre chen«. Da bei er griff

er die Tür klin ke, um dar an zu rüt teln, als sie sich

dreh te und die Türe zu sei nem Er stau nen auf ging:

sie war nicht ver schlos sen ge we sen.

Wäh rend der Un ter su chungs rich ter noch zö ger -

te, trat Knapp schnell ins Haus und di rekt in das

Zim mer, des sen Türe of fen stand. Abel war eben im

Be griff, ihm zu fol gen, als der De tek tiv mit dem Aus -

druck des Ent set zens zurück kam.

»Teu fels werk!« mur mel te er und be deu te te die

An de ren, ihm zu fol gen.

Was sie sa hen, mach te ih nen das Blut er star ren.

Auf dem Bo den, nahe des Ein gan ges, be schie nen

vom hel len Lich te des Mon des, bei des sen Schein

man je den Zug die ses leb lo sen, gram durch furch ten

Ge sich tes se hen konn te, lag der eine Bru der, wäh -

rend der an de re an ei nem Ti sche in mit ten des kah -

len Zim mers saß, ein Buch in der Hand, starr, tot.

Knapp, den na tur ge mäß die ser An blick am we -

nig sten er reg te, fand zu erst Wor te.

»Sie müs sen schon län ge re Zeit tot sein. Sie tra -

gen bei de lan ge Bär te, doch es war zwei fel los der

am Bo den lie gen de, der Lo ton das Geld gab. Ah!«

rief er, »auf den Tisch deu tend, »hier ist das Brot

und — — —

Er schwieg. Der An blick er schüt ter te selbst ihn:

das Brot war an ei ner Sei te an ge bis sen . . . . . .

»Licht! Macht Licht!« schrie Fen ton, »dies Mond -

licht ist grau en haft!«

»Kann Hun ger die Ur sa che ge we sen sein?« frag -

te Abel den De tek tiv, der eine La ter ne aus sei ner Ta -

sche zog und sie an zün de te.

»Der Herr ver ge be uns, wenn dem so ist!« sag te

Fen ton in ei nem Tone, der dem Un ter su chungs rich -

ter tief zu Her zen ging. »Wer hät te an so et was den -

ken kön nen, dazu von Leu ten, die einst so reich wa -

ren! Sind Sie si cher, daß der Eine am Brot nag te?

Kön nen es nicht — —«

»Hier ha ben Men schen zäh ne ge nagt«, ent geg ne -

te Knapp, das Brot ein ge hend be sich ti gend. »Ich

muß sa gen, daß mir die Sa che selbst na he geht, ob -

wohl so was täg lich vor kommt«. Dann leg te er das

Brot schnell nie der.

Fen ton, der in zwi schen die an de re Sei te des Ti -

sches un ter sucht hat te, mur mel te: »Ich bin froh,

daß sie tot sind. Sie tei len we nig stens das Schick sal

ih res Op fers. Schau en Sie ein mal un ter das Ta schen -

tuch, das ne ben der Zei tung liegt, Knapp«.

Der De tek tiv tat so und sah ei nen drei schnei di -

gen Dolch, an dem troc kenes Blut kleb te. Es war

zwei fel los der Dolch, mit dem Agat ha Webb er mor -

det wor den war.

XVI.

Lo ka les Ta lent bei der Ar beit.

Mei ne Her ren«, er klär te Knapp, »wir ha ben

das, was wir su chen, schnel ler ge fun den, als

wir hof fen durf ten. Ge ben Sie mir noch zehn Mi nu -

ten Zeit, ich wer de Ih nen auch das feh len de Geld

her bei schaf fen, das je den falls ir gend wo im Hau se

ver bor gen ist«.

»Eine Mi nu te«, un ter brach ihn der Un ter su -

chungs rich ter. »Las sen Sie mich erst ein mal se hen,

was das für ein Buch ist, das John so fest hält. Ei«,

rief er, als er in das Buch ge schaut hat te, »das ist

eine Bi bel!«

Wäh rend er sie lang sam nie der leg te, traf er den

er staun ten Blick des De tek tivs.

»Welch ein Wi der spruch zwi schen die sem Bu -

che und der Tat, die er — wie wir an neh men — dort

un ten ver brach te«.

»Ganz und gar nicht«, er wi der te Knapp. »Nicht

der Mann im Stuh le, nein, der auf dem Bo den zück -

te den Dolch. Ueb ri gens wünsch te ich, daß Sie mich

das Buch hät ten weg neh men las sen«.

»Sie? Wes halb? Was wäre der Un ter schied?«

»Ich hät te be ach tet, wel che Sei te auf ge schla gen

war. Man kann nie zu vor sich tig sein, be son ders in

ei nem Fal le, wie dem vor lie gen den«.

Dr. Tal bot schau te nach denk lich auf das Buch;

er hät te nun selbst gern ge wußt, wel che Sei te sein

Freund ge le sen hat te.

»Fah ren Sie fort«, sag te er zu Knapp; »ich wer de

Sie un be hin dert vor ge hen las sen und nach her an -

hö ren, was Sie ge fun den«.

Der De tek tiv be gann sei ne Un ter su chung.

»Hier sehe ich ei nen Blut flec ken«, sag te er, »am

rech ten Bein des Man nes, den Sie James nen nen.

Die ser ver bin det ihn un zwei fel haft mit dem Ver bre -

chen, bei dem von die sem Dolch Ge brauch ge macht

wur de. Kein Zei chen von Ge walt an ihm — sie hat

sich also nicht ge wehrt. Sein Tod ist eine ge rech te

Stra fe Got tes«.

»Oder Ver nach läs si gung von Mit men schen«,

mur mel te Fen ton. »Geld ist kei nes in sei nen Ta -

schen zu fin den; es muß also ir gend wo im Zim mer

ver bor gen sein oder — se hen Sie ein mal in der Bi bel

nach«.

Der Un ter su chungs rich ter nahm die Bi bel auf,

durch blät ter te sie, schüt tel te sie — nichts fiel her -

aus.

»Das Mo bi li ar sieht sehr ärm lich aus«, be merk te

Knapp.

»Sehr ärm lich«, stimm te Fen ton in bit te rem

Tone bei.

»Nichts im Wand schrank, als ein al tes Por zel lan -

ser vi ce, das ziem lich ge lit ten hat«, fuhr Knapp fort.

Abel fuhr zu sam men. Er er in ner te sich plötz -

lich, daß er vor ei ni gen Wo chen sich in War ners Ge -

schäft be fand, als James Za bel her ein trat und mit ih -

nen ein Ge spräch be gann. Ge le gent lich sag te er:

»Ich habe noch ein al tes Por zel lan ser vi ce zu Hau se,

das sei ner Zeit mit der »May flo wer« her über ge -

bracht wur de. John meint zwar, es sei sehr wert -

voll, doch ich kann es nicht lei den. Wenn Ihr zu fäl -

lig Je man den wißt, der an so was In ter es se hat,

schickt ihn zu uns hin aus. Ich ver kau fe das Ser vi ce

spott bil lig«. Nie mand ant wor te te dar auf und James

ging. Das war das letz te Mal, daß ihn Abel in der

Stadt ge se hen.

»Das ist zu viel!« schrie er auf, »das ist zu viel! Ich

muß wis sen, ob sie ver hun gert sind! Wo ist die Spei -

se kam mer?« Und ehe ihn Je mand dar an hin dern

konn te, war er nach der Kü che ge eilt.

Fen ton schau te im Zim mer um her. John und

James wa ren Ge mäl de lieb ha ber und hat ten einst

das Haus vol ler wert vol ler Bil der. Doch kein ein zi -

ges war an den Wän den zu se hen, noch be fand sich

sonst ein Schmuck im Zim mer. Nur ein wert lo ses

Deck chen, aus troc kenen Nel ken und Per len ge fer -

tigt — si cher ein Ge schenk aus der Ju gend zeit, von

ei nem Mäd chen auf dem Lan de ge fer tigt — lag in

der Ecke.

Jetzt ver stand Fen ton, wes halb die Brü der so oft

nach Bo ston fuh ren und im mer ohne die Pa ke te

zurück kamen, die sie da hin mit nah men! Er dach te

eben noch dar über nach, wie es mög lich sei, daß ge -

ach te te, ehr ba re Bür ger so tief sin ken kön nen,

ohne daß selbst die näch sten Nach barn et was da -

von wis sen, als Abel, aufs höch ste er regt, zurück -

kam.

»Das Trau rig ste, was ich je ge se hen!« rief er.

»Die Ar men müs sen lang sam ver hun gert sein! Da

hin ten siehts noch ärm li cher aus, wie hier und in

der Kü che fin det eine Maus nicht ein mal eine Kru -

me! Der Mehl ka sten sieht aus, als ob er tat säch lich

aus ge leckt wor den wäre — —! Der An blick ist gräß -

lich ge nug, ei nen Mann krank zu ma chen!«

Fen ton ging zur Türe.

»Die Luft hier er stickt mich!« sag te er. »Ich muß

hin aus und Atem schöp fen«.

Eben woll te er zur Türe hin aus tre ten, als ein

Mann vor ihm stand und ihm den Aus weg ver wehr -

te.

»Ah Mr. Fen ton! Sind Sie hier? Ich habe Sie über -

all ge sucht«.

Es war Sweet wa ter, der jun ge Mann, der den Un -

ter su chungs rich ter ge be ten hat te, sich mit dem

Fall be schäf ti gen zu dür fen.

»Wie kom men Sie hier her?« frag te Fen ton är ger -

lich.

»Leu te sa hen Sie die Stra ße her auf ge hen und

das Wei te re habe ich selbst er ra ten«.

»So? Sehr gut! Und was wol len Sie, Sweet wa -

ter?«

»Ich habe eine Ent dec kung ge macht«, flü ster te

der Ge frag te er regt. »Ich weiß, Sie neh men es mir

nicht übel, daß ich auf ei ge ne Faust vor ging und

nicht dem . . . An dern da drin nen folgte. Ich woll te

zei gen, was ich selbst tun kann und — — ich habe Er -

folg ge habt. Ich weiß, wer Agat ha Webb er mor det

hat!«

Fen ton, dem es leid tat, die Idea le die ses be gei -

ster ten jun gen Man nes von der Höhe stür zen zu

müs sen, schüt tel te be dau ernd den Kopf und sag te:

»Sie kom men zu spät, Sweet wa ter. Wir selbst ha -

ben den Mör der ge fun den; da drin nen liegt er, tot«.

Die Dun kel heit ver hin der te Fen ton, das er staun -

te Ge sicht des jun gen Man nes zu se hen. Doch daß

sei ne Ue ber ra schung groß war, ging dar aus her vor,

daß er sich mit der Hand ge gen die Wand stütz te,

als er stam melnd frag te:

»Tot? Er?! Wen mei nen Sie mit »er«, Mr. Fen -

ton?«

»Der Mann, in des sen Haus wir uns be fin den. Ha -

ben Sie etwa ei nen An dern im Ver dacht, der die ses

Ver bre chen be gan gen ha ben soll te?«

Sweet wa ter ent schlüpf te ein Seuf zer der Er leich -

te rung.

»So viel ich weiß, woh nen hier zwei Män ner,

zwei hoch acht ba re Män ner. Wel chen von bei den

mei nen Sie und wes halb glau ben Sie, daß John oder

James Za bel der Mör der von Agat ha Webb sei?«

»Schau en Sie ins Zim mer«, ent geg ne te Fen ton,

den jun gen Mann vor sich her schie bend, »und se -

hen Sie, was in ei nem christ li chen Lan de, mit ten un -

ter gu ten Chri sten pas sie ren kann! Die bei den Män -

ner hier sind tot, Sweet wa ter, ver hun gert! Das

Brot, das Sie dort se hen, kam zu spät — —. Es ward

ge kauft mit ei ner Zwan zig-Dol lar-Note, die aus

Agat ha Webbs Wand schrank ge nom men wor den

war!«

Sweet wa ter schau te sich ver wun dert um; es

schien ihm dies Al les wie ein Traum — der Mann,

der hier tot am Ti sche saß und der An de re, der leb -

los am Bo den lag.

»Tot«, mur mel te er, »John und James Za bel tot!

Was wer den wir wei ter er le ben? Ist die gan ze Stadt

des Teu fels? . . . . . . Sag ten Sie nicht, der gute Mann

hier habe Agat ha Webb er mor det?« wand te er sich

fra gend an Fen ton. »Ich glau be, ich war zu er regt,

um Sie recht zu ver ste hen«.

Mr. Fen ton war gut her zig ge nug, dem jun gen

Man ne die Grün de aus ein an der zu set zen, wes halb

die se ver hun ger ten Ar men mit dem Dieb stahl in

Ver bin dung ge bracht wür den. Sweet wa ter hör te er -

regt zu, schüt tel te un gläu big den Kopf und fa ß te

sich erst, als sein Blick auf den De tek tiv fiel, der ge -

schäf tig durch das Haus ging.

»Wes halb soll te der Mann ei nen Mord be ge -

hen«, frag te Sweet wa ter, »wenn er nur hät te zu fra -

gen brau chen und Je der mann ihm das Brot mit tau -

send Freu den ge ge ben hät te? Agat ha Webb wäre lie -

ber selbst ohne Es sen ge blie ben, als ei nen ar men

Wan der bur schen hun gern zu las sen; wie viel mehr

hät te sie ge tan für zwei ih rer äl te sten und be sten

Freun de?«

»Ge wiß. Sie ver ges sen aber oder ha ben es nie ge -

wußt, daß die Za bels dazu viel zu stolz wa ren!

James Za bel um Brot bet teln? Da be grei fe ich eher,

daß er stahl oder daß er die Au gen für im mer

schloß, die ihn sol ches tun sa hen«.

»Das glau ben Sie ja selbst nicht, Mr. Fen ton!«

sag te Sweet wa ter fast fei er lich und leg te sei ne

Hand auf die Brust des To ten. »Wie kön nen Sie

auch? Sie müs sen nicht ver ges sen, daß nicht alle

Weis heit aus Bo ston al lein kommt«, setz te er, mit

den Au gen zwin kernd, hin zu. »Wir, hier in Sut her -

land town, ha ben auch ei ni ge Körn chen da von, nur

wur den sie noch nicht aner kannt . . . . Sind Sie voll -

kom men da von über zeugt«, wand te er sich dar auf

an Knapp, »daß die ser ehr wür di ge alte Mann wirk -

lich der Mör der Agat ha Webbs war?«

Knapp lä chel te, als ob ein Kind ihn et was ge fragt

habe. Den noch ant wor te te er:

»Se hen Sie den Dolch hier, mit dem die Tat ver -

übt wur de und se hen Sie das Brot, das mit dem Gel -

de ge kauft ward, das Agat ha Webb ge hör te? Die se

wer den Ih nen die Ant wort ge ben«.

»Gute Be wei se«, sag te Sweet wa ter, »recht gute

Be wei se, be son ders wenn man be denkt, daß Mr.

Cra ne ei nen al ten Mann aus dem Hau se lau fen sah,

der et was Blin ken des in der Hand hielt. Und doch,

wenn Sie mir nur ei ni ge Mi nu ten Zeit zum Nach den -

ken ge ben, wer de ich Ih nen zei gen, daß es Din ge

gibt, die Sie nicht wis sen. Ich kann Ih nen mei ne Be -

wei se noch nicht ge ben; erst muß ich über le gen,

wie die Zwan zig-Dol lar-Note in die Hän de die ser

Män ner ge kom men sein kann — — — —«

»Wer ist die ser Mensch?« frag te Knapp.

»Ein Gei ger, ein Nie mand«, flü ster te Mr. Fen ton

ihm ins Ohr.

Sweet wa ter, der dies ge hört hat te, rich te te sich

plötz lich auf. »Ja wohl, ich bin ein Mu si ker«, sag te

er »und spie le die Vio li ne da, wo mir da für be zahlt

wird und ich glau be, Sie kön nen sich zu die sem Um -

stan de gra tu lie ren, das heißt, wenn Sie dem Ver bre -

chen, dem Sie nach spü ren, auf den Grund kom men

wol len. Daß ich aber ein »Nie mand« bin, be strei te

ich ent schie den und ich bin über zeugt, Sie stim -

men mir dar in bei, noch ehe die Nacht vor über ist.

Ge ben Sie mir nur Ge le gen heit, über die Sa che hier

nach zu den ken und ei ni ge Mi nu ten un ge hin dert

durch das Haus ge hen zu kön nen«.

»Das ist mei ne Sa che«, ent geg ne te Knapp. »Ich

bin dazu da, das Haus zu durch su chen und zu er -

grün den, wel che Be wei se von Schuld es ent hal ten

mag«.

»Ha ben Sie Al les be merkt, was in die sem Zim -

mer zu fin den ist?« frag te Sweet wa ter ru hig.

Knapp zog die Schul tern in die Höhe; er war voll -

kom men zu frie den mit dem, was er ge tan.

»Dann ge ben Sie mir jetzt Ge le gen heit dazu. Ich

bin nicht der Mann, für den Sie mich hal ten! Ich

spie le al ler dings jetzt nur Vio li ne, doch ich habe

Lust und Lie be für die ser Art Ar beit und ich schwö -

re, daß es Tie fen in die ser Mords ache gibt, die Sie

noch nicht er grün det ha ben! Wo sind die neun hun -

dert acht zig Dol lars, mei ne Her ren, die an den tau -

send feh len, wel che von Agat ha Webb ge stoh len

wur den?«

»Die lie gen ir gend wo hier im Hau se ver gra ben

und wir wer den sie gar bald fin den«, ent geg ne te

Knapp.

»Aus ge zeich net!« spot te te Sweet wa ter. »Dann

möch te ich Ih nen doch ra ten, so bald als mög lich

Hand dar an zu le gen. Ich will mich wäh rend des sen

da mit be gnü gen, das nach zu se hen, was Sie be reits

durch sucht ha ben«. Und ohne sich um die An we -

sen heit der An dern zu küm mern, be gann er das

Zim mer zu durch su chen, mit ei ner Gründ lich keit,

wel che die Ar beit des An dern tief in den Schat ten

stell te.

Knapp pre ß te är ger lich die Lip pen zu sam men,

er griff sei nen Hut, ver beug te sich ge gen Fen ton

und sag te:

»Ich sehe, daß die Sym pa thie der An we sen den

dem lo ka len Ta lent zu ge wandt ist. Las sen Sie das lo -

ka le Ta lent ar bei ten, mei ne Her ren, bis Sie ein se -

hen, daß Sie ei nen er fah re nen Mann be nö ti gen;

dann kön nen Sie nach dem Werft-Ho tel schic ken,

wo selbst ich blei ben wer de, bis man mich be nach -

rich tigt, daß man mei ner Dien ste nicht mehr be nö -

tigt«.

»Nein, nein«, pro te stier te Fen ton. »Der En thu si -

as mus die ses jun gen Man nes wird bald ver flo gen

sein. Las sen Sie ihn doch ru hig kra men; das

braucht uns nicht zu ge nie ren«.

»Er kramt nicht«, flü ster te Knapp; »er geht so sy -

ste ma tisch vor, als wäre er Jah re lang ei ner der Un -

sern ge we sen«.

»Umso mehr müs sen wir se hen, was er vor hat.

Blei ben Sie, wenn auch nur, um un se re Neu gier de

zu be frie di gen. Lan ge las se ich ihn so nicht wirt -

schaf ten«.

Knapp blieb und schau te dem jun gen Man ne auf -

merk sam zu.

»Wun der bar«, hör te Fen ton ihn mur meln, »er

be wegt sich mehr wie ein Aal, statt wie ein

Mensch«.

Und es war wirk lich des Be ob ach tens wert, wie

Sweet wa ter in jede Ecke kroch, auf dem Bo den such -

te und nichts un be ach tet ließ.

»Ha!« rief er plötz lich, mit der La ter ne das blas -

se Ge sicht des To ten am Bo den be leuch tend, »hier

im Bart ist eine Kru me von je nem Brot dort. Ha ben

Sie das ge se hen, Mr. Knapp?«

Die Fra ge kam so un er war tet und so scharf, daß

Mr. Knapp schon den Mund zu ei ner Ant wort öff ne -

te. Er be sann sich je doch schnell und schwieg.

»Das er le digt, wer von den Bei den das Brot ben -

ag te«, fuhr Sweet wa ter un be irrt fort. In der näch -

sten Mi nu te war er bei dem an dern To ten.

»Trau rig, sehr trau rig!« mur mel te er. Plötz lich

er fa ß te er des To ten We ste.

»Sie ha ben dies na tür lich be merkt«, sag te er,

dem De tek tiv über die Schul ter ei nen schnel len

Blick zu wer fend.

Kei ne Ant wort, wie zu vor.

»Ein ganz neu er Riß«, sag te Sweet wa ter, »und —

ja wohl — Blut an den Kan ten. Hal ten Sie doch, bit -

te, die La ter ne, Mr. Fen ton; ich muß se hen, wie die

Haut dar un ter aus schaut. Oh, mei ne Her ren, nicht

ein mal ein Hemd! Der ärm ste Schiffs knecht trägt

ein Hemd! Eine gestick te We ste und kein Hemd!

Trau rig, sehr trau rig — — —. Ah, nur eine Schram -

me über dem Her zen — — —. Wie er klä ren Sie sich

das, mei ne Her ren?«

Da Nie mand zu vor die Schram me be merkt hat -

te, schwie gen alle.

»Soll ich Ih nen sa gen, wie ich mir dies er klä re?«

frag te Sweet wa ter, vom Bo den auf ste hend, den er

be sich tigt hat te. »Der alte Mann ver such te, sich

mit dem Dolch das Le ben zu neh men, an dem schon

das Blut von Agat ha Webb kleb te; er war aber zu

schwach dazu. Die Spit ze durch bohr te nur die We -

ste, be schmier te die Stel le, wo sie traf, mit Blut, die

Waf fe ent fiel dar auf sei ner Hand und fiel auf den Bo -

den an der Stel le, wo die se fri sche Ker be ge macht

ist, die Sie ne ben mei nem rech ten Fuße se hen. Hat

Je mand ge gen die se ein fa che Theo rie et was ein zu -

wen den?«

Der De tek tiv öff ne te wie der um sei ne Lip pen

und hät te dies mal viel leicht ge spro chen, hät te ihm

Sweet wa ter Ge le gen heit ge ge ben.

»Wo ist der Brief, den der alte Mann ge schrie -

ben?« rief Sweet wa ter. »Sah Je mand von Ih nen ein

Pa pier her um lie gen?«

»Er hat nicht ge schrie ben«, sag te Knapp, »er hat

in der al ten Bi bel ge le sen, die Sie dort se hen«.

Sweet wa ter er griff das Buch, schau te es durch

und leg te es wie der nie der.

»Er hat ge schrie ben«, sag te er dann »und zwar

mit die sem Blei stift«. Da bei zeig te er auf ein kur zes

Stück chen Blei stift, das auf dem Ran de des Stuh les

lag, dar auf der Tote saß.

»Er hat al ler dings ein mal ge schrie ben«, be merk -

te Knapp troc ken.

»Er schrieb kurz vor der Tat«, be harr te Sweet wa -

ter. »Se hen Sie doch die Fin ger der rech ten Hand

an; die be weg ten sich nicht, seit ih nen der Blei stift

ent fiel«.

»Nach dem Brief oder was es ist, soll ge sucht

wer den«, sag te Fen ton.

Sweet wa ter nick te und durch such te dann je den

Win kel des Zim mers.

»James war der stär ke re der Brü der«, be gann er

wie der, »doch er mach te of fen bar kei nen Selbst -

mord ver such«.

»Wo her wol len Sie wis sen, daß John Selbst mord

be ge hen woll te?« frag te Je mand.

»War um kann der Dolch nicht James Hän den

ent fal len sein, als er den Bru der tö ten woll te?«

»Weil dann die Ker be am Bo den auf der rech ten

Sei te des Stuh les wäre und nicht auf der lin ken«,

ent geg ne te der Ge frag te. »Au ßer dem wür de James

auch bes ser ge trof fen ha ben; hat te er doch spä ter

noch Kraft ge nug, den Dolch auf zu he ben und an

den Platz zu le gen, wo Sie ihn ge fun den«.

»Das ist wahr; wir fan den den Dolch auf dem Ti -

sche lie gen«, sag te Abel und kratz te sich den Kopf;

er fing an, sei nen Freund zu be wun dern.

»Das ist Al les sehr ein fach«, sag te Sweet wa ter,

der Al ler Au gen in Er stau nen auf sich ge rich tet sah.

»Sol che Sa chen kann je des Kind er klä ren. Was aber

nicht so ein fach ist und was ich noch nicht ver ste -

he, ist: wie die Zwan zig-Dol lar-Note in die Hän -

de des al ten Man nes kam. Er fand sie hier, aber

wie — — —«

»Fand sie hier? Wo her wis sen Sie das?«

»Das, mei ne Her ren, wer de ich Ih nen spä ter er -

klä ren, wenn ich mei ne Hand erst auf ei nen Be weis

ge legt, den ich eif rig su che. Sie wis sen, die se Ar beit

ist neu für mich und ich muß schritt wei se vor ge -

hen . . . . Hat viel leicht ei ner der Her ren beim Ein tre -

ten ei nen Ge ruch von Par füm be merkt?«

»Par füm?« wie der hol te Abel, sich ver wun dert

um schau end, »eher Rat ten«.

Sweet wa ter schüt tel te den Kopf. Plötz lich leuch -

te ten sei ne Au gen — er ging schnell durchs Zim mer

nach dem Fen ster, des sen Ja lou sie halb zer ris sen

war und schau te die se an.

»Sie müs sen mich eine Mi nu te ent schul di gen,

mei ne Her ren«, sag te er; »ich habe hier nicht ge fun -

den, was ich su che und muß jetzt drau ßen dar nach

su chen. Will mir Je mand leuch ten?«

»Ich wer de«, sag te Knapp gut mü tig; er be trach -

te te das Gan ze fast als Scherz.

»Dann kom men Sie mit der La ter ne ums Haus

her um, di rekt un ter die ses Fen ster«, be fahl Sweet -

wa ter, als ob er des An dern Sar kas mus gar nicht be -

merkt hät te. »Und Sie, mei ne Her ren, blei ben Sie,

bit te hier. Ich su che näm lich Fu ß spu ren und je we -

ni ger wir selbst ma chen, de sto leich ter ist es, die zu

fin den, die ich su che.«

Mr. Fen ton schau te ihn ver wun dert an: was hat

der Mensch nur vor?

Als Sweet wa ter und Knapp aus dem Zim mer ge -

gan gen wa ren, flü ster te Abel dem Un ter su chungs -

rich ter zu:

»Ich glau be, wir hät ten den Mann aus Bo ston

nicht ge braucht«.

»Viel leicht — viel leicht nicht. Sweet wa ter hat

noch nichts be wie sen; war ten wir ab«. Dann wand -

te er sich Fen ton zu und zeig te ihm ein al tes Mi nia -

tur por trät, das er bei der er sten Un ter su chung an

James Brust ge fun den. Es war ein wert vol les Bild,

auf El fen bein ge malt und in Gold ge faßt und vie le

Mahl zei ten wert, nach de nen die Za bels so ver langt

hat ten.

»Agat ha Webbs Bild«, er klär te Dr. Tal bot, »oder

viel mehr Agat ha Gil christs, denn dies Bild war of -

fen bar ge malt, als er und Agat ha noch Lie bes leu te

wa ren«.

»Sie war wirk lich eine Schön heit«, sag te Fen -

ton, das Bild be trach tend; »kein Wun der, daß der

gan ze Kreis sie wie eine Kö ni gin ver ehr te«.

»Es scheint fast, als habe er dies Bild die letz ten

vier zig Jah re auf sei nem Her zen ge tra gen«, fuhr Dr.

Tal bot fort. »Und da sagt man: Lie be sei ver gäng -

lich! Nach die sem Be weis von An häng lich keit glau -

be ich nicht mehr, daß James die Frau ge tö tet hat,

der er so auf rich tig zu ge tan war. Sweet wa ters In -

stinkt war rich ti ger, als der Knapps«.

»Oder der un se re«.

»Se hen Sie die ses Loch, mei ne Her ren!« un ter -

brach Abel die Spre chen den und deu te te auf eine

klei ne Oeff nung in der Ja lou sie, durch die von au -

ßen her Licht drang. »Die se Na del öff nung ver an la ß -

te Sweet wa ter hin aus zu ge hen und nach Fu ß spu ren

zu su chen. Pas sen Sie auf: jetzt schaut er durch die

Oeff nung ins Zim mer hier — er be ob ach tet uns und

das näch ste wird sein, daß er uns sagt, daß er nicht

die er ste Per son ist, wel che durch die se Oeff nung

ins Zim mer schau te!«

Dar in hat te Abel Recht.

»Al les in Ord nung, mei ne Her ren«, wa ren Sweet -

wa ters er ste Wor te, als er ins Zim mer trat. »Ich

habe mei nen Be weis ge fun den. James Za bel war

nicht die ein zi ge Per son, die ge stern Nacht aus

Webbs Hau se hier her ging«. Und sich an Knapp

wen dend, der sei ne selbst ge fäl li ge Mie ne voll stän -

dig ver lo ren hat te, frag te er: »Wenn Sie von dem Be -

trag, der Agat ha Webb ge stoh len wur de, zwan zig

Dol lars im Be sit ze ei ner Per son fän den und die übri -

gen neun hun dert acht zig im Be sit ze ei ner an dern:

wel che von den Bei den wür den Sie als den wahr -

schein li chen Mör der der gu ten Frau an se hen?«

»Die, wel che den Lö wen an teil hält, na tür lich«.

»Der Mei nung bin ich auch. Dann dür fen Sie

aber nicht hier nach dem Mör der su chen, son -

dern — — —. Doch halt! Erst will ich Sie das Geld se -

hen las sen. Will je mand von Ih nen mit mir ge hen,

es zu ho len? Wir ha ben al ler dings noch etwa eine

vier tel Mei le den Berg hin auf zu ge hen — — —«

»Sie ha ben das Geld ge se hen? Sie wis sen, wo das

Geld ist?« frag ten Dr. Tal bot und Fen ton wie aus ei -

nem Munde.

»Ich kann in zehn Mi nu ten Hand dar an le gen,

mei ne Her ren!«

Auf die se un er war te te und über ra schen de Er klä -

rung schau te Knapp auf Dr. Tal bot, die ser auf Fen -

ton, doch nur der letz te re sprach:

»Das ist viel be haup tet, Sweet wa ter! Doch ich

bin be reit, Ih ren Wor ten zu glau ben. Ge hen Sie vor -

an, Sweet wa ter, ich fol ge Ih nen!«

Sweet wa ter schien zu se hends zu wach sen.

»Und Dr. Tal bot?« frag te er. Die ser lehn te es ab,

da sei ne Pflicht ihn noch an das Haus hier bin de. Da -

ge gen schlos sen sich Knapp und Abel an und all so -

gleich tra ten die vier Män ner ihre Wan de rung auf

den Hü gel an. Sweet wa ter ging vor aus. Er er mahn -

te sei ne Be glei ter, voll kom men still zu sein, wel -

chem Ver lan gen die se auch nach ka men.

Schwei gend gin gen sie da hin, bis sie auf die

Haupt stra ße ka men, wor auf Abel er staunt aus rief:

»Wir ge hen ja zu Sut her lands!«

»Nein«, ent geg ne te Sweet wa ter, »nur in das

Wäld chen ge gen über«.

Fen ton blieb ste hen.

»Sind Sie si cher?« frag te er. »Ha ben Sie das Geld

ge se hen und hier, in die sen Bü schen?«

»Ich habe es ge se hen und es ist hier, in die sem

Ge hölz«.

Dann gin gen sie wei ter, bis sie an ei nen Baum -

stumpf ka men, der am Wege lag.

»Halt! Wir sind an Ort und Stel le«.

Knapp brach te die La ter ne und leuch te te.

»Was se hen Sie?« frag te Sweet wa ter.

»Ei nen al ten Stumpf«.

»Und dar un ter?«

»Ein Loch oder viel mehr den Ein gang zu ei nem

sol chen«.

»Gut. In die sem Lo che be fin det sich das Geld.

Neh men Sie es her aus, Fen ton«.

Die Fe stig keit, mit der Sweet wa ter sprach, ver -

an la ß te Fen ton, nie der zu knie en und in die Höh -

lung zu grei fen. Nach dem er in des über all her um ge -

grif fen, zog er die Hand wie der her aus — leer!

Sweet wa ter schau te Fen ton ent setzt an:

»Fin den Sie es nicht? Sind nicht zwei Rol len Pa -

pier geld dar in?«

»Nein«, war die kur ze Ant wort nach er neu tem

Su chen. »Es ist nichts hier drin nen. Sie müs sen an

Hal lu zi na tio nen lei den, Sweet wa ter«.

»Das ist un mög lich! Ich sah das Geld! Ich sah es

in der Hand der Per son, die es hin ein steck te! Las -

sen Sie mich selbst nach se hen! Ich gebe es nicht

auf, bis ich al les hier um ge dreht habe! Dann knie te

er nie der und steck te die Hand in die Höh le, wäh -

rend Knapp und Fen ton ihn auf merk sam be ob ach te -

ten. (Abel war fort ge gan gen, nach dem Sweet wa ter

ihm et was ins Ohr ge flü stert hat te.) Die bei den Män -

ner schie nen eben so er regt, als Sweet wa ter selbst,

des sen Ge sicht eine Stu die von Hoff nung und Ent -

täu schung war. Plötz lich warf er sich zu Bo den und

kratz te wie ein Tier in der Höh lung des Bau mes.

»Ich kann mich nicht ir ren! Es muß hier sein!

Es liegt ein fach tie fer ver gra ben, als ich dach -

te! — — — Ah! Was sag te ich? Se hen Sie hier! Und

hier!«

Da bei zog er sei ne Hän de her aus und zeig te zwei

Rol len na gel neu en Pa pier gel des.

»Sie la gen un ter ei nem hal ben Fuß Erde. Aber

selbst wenn sie so tief ge le gen hät ten, als Groß mut -

ter Ful lers Brun nen, ich hät te sie her aus ge gra -

ben!«

In zwi schen hat te Knapp die eine Rol le ge zählt,

Fen ton die an de re und die Sum me er gab ge nau den

Be trag, den Sweet wa ter zu zei gen ver spro chen:

neun hun der tun dacht zig Dol lars.

»Sehr gut, Sweet wa ter! Sehr gut! rief Fen ton.

»Jetzt sa gen Sie uns, wer den Schatz hier ver gra -

ben hat. Nach die sen Be wei sen ist es un nö tig, län -

ger zu zö gern«.

Sweet wa ters Züge ver fin ster ten sich. Er schau te

sich ängst lich um; als ob er fürch te, der Wald kön ne

sein Ge heim nis hö ren und sag te dann ru hig:

»Die Hand, wel che das Geld hier ver gra ben, ist

die sel be, wel che auf die Blut spur in Agat ha Webbs

Haus auf merk sam mach te«.

»Sie mei nen doch nicht Ama bel Page!« schrie

Fen ton.

»Die sel be, und ich bin froh, daß Sie den Na men

nann ten«.

XVII.

Ball schu he, eine Blu me und was Sweet wa ter dar aus fol ger te.

Eine hal be Stun de dar auf sa ßen die vier Män ner

wie der mit Dr. Tal bot zu sam men in der Kü che

des Za bel schen Hau ses, wo selbst Sweet wa ter mit

ge rech tem Stol ze von sei nen Ent dec kungen er zähl -

te.

»Mei ne Her ren,« sag te er, »wenn ich eine jun ge

Dame von gu tem Ruf und in hoch acht ba rem Hau se

ei nes Ver bre chens wie die ses zei he, so tue ich dies

nicht ohne trif ti ge Grün de, wie ich Ih nen bald be -

wei sen wer de«.

»Am Abend und zu der Stun de, da Agat ha Webb

er mor det wur de, spiel te ich zu sam men mit noch

vier an dern Mu si kern bei Mr. Sut her land. Vom Plat -

ze, wo ich saß, konn te ich al les se hen, was im Saa le

vor ging und eben so die Hal le, die nach der Gar ten -

tü re führt. Wäh rend im Sa lon ge tanzt ward, schau -

te ich na tur ge mäß meist da hin und da bei be merk te

ich, wie Fre de rick Sut her land und Ama bel Page

wäh rend der er sten Hälf te des Abends jede Ge le gen -

heit such ten, zu sam men zu sein und in al len Qua -

dril len sich ge gen über zu ste hen. Oft sprach sie ihn

im Vor über ge hen an; man ches Mal ant wor te te er,

oft mals auch nicht, doch ver fehl te er nie, ihr zu zei -

gen, wie ihre An we sen heit ihn freu te. Trotz dem

schien es mir, als ob zu sei ner wah ren Freu de et was

man gle und ich frag te mich, ob er ihr nicht ganz

ver traue. Auch das Mäd chen schien zu be mer ken,

daß er ihr nicht je des mal ant wor te te und sprach

ihn da her we ni ger oft an; sie ließ ihn aber nicht aus

den Au gen. So auf merk sam sie ihn aber be ob ach te -

te, es war nicht auf merk sa mer, als ich dies selbst

tat, ob wohl ich da mals noch kei ne Ah nung hat te,

wel che Fol gen dies zei ti gen wür de. Sie trug ein wei -

ßes Kleid und wei ße Schu he und war so ko kett und

ver füh re risch, wie nur eine Teu fe lin sein kann.

Plötz lich ver mi ß te ich sie! In die ser Mi nu te hat te

ich sie noch tan zen se hen — in der näch sten war sie

ver schwun den! Ich dach te na tür lich zu erst, sie sei

mit Fre de rick Sut her land aus dem Saa le ge gan gen;

doch er war noch da. Al ler dings sah er so bleich aus

und schien so gei stes ab we send, daß ich gleich dach -

te, die klei ne Hexe habe et was vor. Aber was?«

»Plötz lich sah ich sie den vor hin er wähn ten

Gang hin ab schlei chen, in der Hand ei nen lan gen,

dün nen Man tel, den sie zu sam men roll te und hin -

ter die Tür warf. Dar auf kam sie wie der in den Saal,

ein Lied chen tril lernd und tat so un ge zwun gen, als

sei sie nie fort ge we sen. »Aha«, dach te ich, »sie

wird den Man tel wohl bald ge brau chen!« Und so

war es in der Tat. Wir spiel ten eben die »Ha re -

bell-Ma zur ka«, als ich sie wie der an der Türe sah.

Sie nahm den Man tel, schlug ihn um, warf ei nen

schnel len Blick hin ter sich, den — ich bin des sen si -

cher — au ßer mir Nie mand sah und ver schwand

dann durch die Türe in den Gar ten. »Jetzt pas se auf,

wer ihr nach geht!« dach te ich. Es folgte ihr in des

Nie mand. Dies kam mir höchst son der bar vor und

da ich stets für De tek tiv-Ar beit eine gro ße Vor lie be

hat te, schau te ich auf die gro ße Wand uhr in der Hal -

le, sah, daß es halb zwölf Uhr war und schrieb die

Stun de auf mei ne No ten vor mir, um zu se hen, wie

lan ge die jun ge Dame sich wohl al lein im Gar ten er -

ge he. Es ver gin gen zwei vol le Stun den, mei ne Her -

ren, ehe ich sie wie der sah. Durch wel che Türe sie

her ein ge kom men, weiß ich nicht; das Eine aber

weiß ich be stimmt, daß sie nicht durch die Gar ten tü -

re kam, denn ich hat te die se nicht aus den Au gen ge -

las sen. Un ge fähr halb zwei Uhr hör te ich ihre Stim -

me plötz lich auf der Trep pe über mir. Sie kam her -

ab, misch te sich un ter die Ge sell schaft im Saa le und

tat, als ob sie kei ne fünf Mi nu ten fort ge we sen

wäre. Bald dar auf sah ich sie wie der mit Fre de rick

tan zen, doch nur für kur ze Zeit. Er schien mi ß -

stimmt und sie trenn ten sich, als ich sie noch be ob -

ach te te. Nun, mei ne Her ren, wo war Miß Page wäh -

rend die ser zwei Stun den? Ich glau be, ich kann die

Fra ge be ant wor ten«.

»Doch ehe ich dies tue, muß ich Ih nen von ei ner

klei nen Ent dec kung be rich ten, die ich mach te, als

der Ball noch im Gan ge war. Miß Page kam die Trep -

pe her ab — wie ich be reits sag te — und zwar aus ih -

rem ei ge nen Zim mer. Ihr An zug war noch ge nau

der sel be, mit ei ner klei nen Aen de rung: statt der

wei ßen Tanz schu he trug sie nun blaue. Dies be wies

mir deut lich, daß die er ste ren durch den Spa zier -

gang, den sie ge macht, für wei te ren Ge brauch — we -

nig stens an dem Abend — un dien lich wa ren. Die ser

an und für sich un be deu ten de Vor fall hät te viel -

leicht kei nen blei ben den Ein druck auf mich ge -

macht, hät te sie nicht gleich dar auf in mei ner Ge -

gen wart ein, für eine jun ge und Mrs. Agat ha Webb

völ lig frem de Dame, solch un ge wöhn li ches In ter es -

se an dem Mord ge zeigt, der sich wäh rend ih rer Ab -

we sen heit er eig net hat te. Kaum wa ren da her die Fa -

mi lien mit glie der und Dienst bo ten aus dem Hau se

ge gan gen — die Sei ten tü re war un ver schlos sen ge -

blie ben — als ich ins Haus ging und Miß Pa ges Zim -

mer auf such te. Da in den Hal len noch Licht brann -

te, ward mir das nicht schwer. Wäre mein — wie ich

ger ne aner ken ne — un be rech tig tes Ein drin gen in

das Haus ohne Er folg ge blie ben, ich hät te stil le ge -

schwie gen und nie mals dar über ge spro chen; so

aber mach te ich eine Ent dec kung von grö ß ter Wich -

tig keit und ich hof fe da her, daß mir mei ne Ei gen -

mäch tig keit ver ge ben wird. Selbst re dend such te

ich zu erst nach den wei ßen Ball schu hen und fand

sie auch in ei ner dun keln Ecke, hin ter ei nem al ten

Bil de ver steckt. Ich zog sie her vor, nahm sie her un -

ter und un ter such te sie aufs ge naue ste. Sie wa ren

nicht nur schmut zig, son dern auch zer ris sen und

ab ge wetzt — mit an de ren Wor ten: to tal rui niert,

und da ich an neh men durf te, daß die jun ge Dame

die Schu he doch weg wer fen wür de, steck te ich sie

in die Ta sche und nahm sie mit nach Hau se. Abel

hat sie eben hier her ge bracht; wenn Sie sie ge nau

un ter su chen, wer den sie noch an de res dar an fin -

den, als Schmutz«.

Dr. Tal bot, der den Spre cher im mer er staun ter

an ge se hen, nahm die Schu he aus Abels Hän den und

un ter zog sie ei ner ge nau en Prü fung. Sie wa ren, wie

Sweet wa ter ge sagt hat te, nicht nur mit Schmutz be -

deckt, son dern auch to tal zer ris sen und zeig ten

rote Flec ken von un zwei fel haf tem Cha rak ter.

»Blut!« rief der Un ter su chungs rich ter aus.

»Kein Zwei fel: Miß Page be fand sich ge stern Nacht

an ei nem Plat ze, wo selbst Blut ver gos sen ward!«

»Ich habe noch ei nen an dern Be weis ge gen sie

in Hän den«, fuhr Sweet wa ter fort, wo bei er die

Män ner, die ihn vor hin so ge ring schät zig an ge se -

hen, mit sicht ba rer Ge nug tu ung be trach te te.

»Nach dem ich erst Ver dacht ge schöpft, daß Miß

Page ihre Hän de bei dem Mor de im Spie le hat te,

wenn sie nicht gar selbst die Mör de rin war, ging ich

schnell nach Mrs. Webbs Hau se und kam ge ra de an,

als die jun ge Dame aus der Gar ten tü re trat. Sie hat -

te sich eben auf fal lend ge macht, in dem sie die Her -

ren auf die Blut spu ren im Gra se auf merk sam mach -

te. Dr. Tal bot wird sich wohl noch er in nern, wie sie

da bei aus sah«.

Dr. Tal bot nick te.

»Ich zweif le aber, ob er auch be merk te, wie Abel

aus sah — oder viel mehr die halb ver trock nete Blu -

me, die sich die ser ins Knopf loch ge steckt hat te«.

»Der Teu fel soll mich ho len, wenn ich sie be -

merk te!« rief der Un ter su chungs rich ter, den jun -

gen Mann be wun dernd, aus.

»Und doch ist die se Blu me von höch ster Wich tig -

keit in die sem Fall! Abel fand sie, wie er be stä ti gen

wird, auf dem Bo den in Mrs. Webbs Hau se, fast un -

ter Batsy’s Röc ken. Kaum be merk te ich die Blu me

in sei nem Knopf loch, als ich ihm riet, er sol le sie

her aus neh men und gut auf be wah ren. Es war eine

sel te ne Blu me, mei ne Her ren, eine Blu me, wie man

sie nur in Mr. Sut her lands Treib haus fin det! Eine

sol che Blu me sah ich an je nem Abend in Miß Pa ges

Haar. Hast Du die Blu me hier, Abel?«

Abel hat te sie und zeig te sie Dr. Tal bot und Mr.

Fen ton. Die Blu me war zwar welk und ver trock net,

doch man er kann te eine Or chi dee von sel te ner

Schön heit.

»Sie lag ne ben Bat sy«, er klär te Abel. »Ich mach -

te Mr. Fen ton dar auf auf merk sam, doch leg te er der

Blu me kei nen Wert bei«.

»Um so auf merk sa mer will ich sie jetzt be trach -

ten«, be merk te Fen ton.

»Man hät te mir die Blu me zei gen sol len«, warf

Knapp ein.

»Das ist wahr«, ent geg ne te Sweet wa ter; »doch

er stens war ich an der wei tig be schäf tigt — ich hat te

Miß Page zu be ob ach ten — und zwei tens: wes halb

hät te ich mei nem Kon kur ren ten die Waf fen in die

Hän de spie len sol len? Ich hat te lan ge ge nug auf

eine Ge le gen heit ge war tet, mei ne Fä hig keit als De -

tek tiv zu be wei sen — —. Glück licherweise ver bo ten

sie Miß Page, die Stadt zu ver las sen. Ich trieb mich

den gan zen Tag in der Nähe von Mr. Sut her lands

Haus her um und hat te end lich, beim Her ein bre -

chen der Nacht, die Ge nug tu ung, die jun ge Dame

nach ei nem län ge ren Spa zier gan ge plötz lich in den

Bü schen ge gen über des Hau ses ver schwin den zu se -

hen. Ich folgte be hut sam und be ob ach te te ge nau,

was sie tat. Da sie kurz zu vor Fre de rick Sut her land

mit Miß Hal li day die Stra ße hin ab ge hen ge se hen,

glaub te sie sich je den falls un ge stört; sie ging di rekt

auf den Baum stamm zu, von dem wir eben kom men

und zog dar aus zwei Pa ke te, die knit ter ten, wie stei -

fes Pa pier. Ich schlich so nahe her an, als ich konn -

te. Sie blieb noch län ge re Zeit in knie en der Stel -

lung — ich konn te mir nicht den ken, was sie tat —

dann stand sie auf, lach te höh nisch, klatsch te wie -

der holt in die Hän de — wo bei ich be merk te — daß

sie die Pa ke te nicht mit ge nom men — und ging

dann schnell dem Hau se zu«.

»Kaum sah ich sie das Haus be tre ten, als ich

mich auf mach te, den Un ter su chungs rich ter zu be -

nach rich ti gen. Im Ge richts ge bäu de fand ich Sie

nicht und da mir ein Mann an Brigt hons Ecke sag te,

er habe vier Män ner nach Za bels Haus ge hen se -

hen, lief ich schnell hier her, um nach zu se hen, ob

Sie viel leicht ei ner der vier Män ner wä ren. Den

Schreck und die Ent täu schung kön nen Sie sich vor -

stel len, als Sie mir sag ten, Sie hät ten den Mör der

von Agat ha Webb ent deckt! Doch nur ei nen Au gen -

blick war ich über rascht, denn ich war mei ner Sa -

che zu si cher und ich hof fe, Sie Alle stim men mir

nun bei, daß die ser arme Mann un mög lich der Mör -

der ge we sen sein kann, trotz dem die Zwan zig-Dol -

lar-Note in sei nem Be sitz ge fun den ward. Denn —

und dies ist mein Haupt trumpf — ich kann be wei -

sen, daß Miß Page wäh rend ih rer Ab we sen heit

nicht nur in Agat ha Webbs Haus ge we sen, son dern

auch in die sem oder zum min de sten un ter dem Fen -

ster stand, das ich vor hin un ter such te. Eine Fu ß -

spur ist da selbst zu fin den, mei ne Her ren, eine äu -

ßerst deut li che Spur und wenn Dr. Tal bot sich die

Mühe neh men will, die se Spur mit dem Schuh zu

ver glei chen, den er in der Hand hält, wird er fin -

den, daß sie von dem Fuße her stammt, der die sen

Schuh ge tra gen«.

Ehe Dr. Tal bot sich er he ben konn te, frag te Mr.

Fen ton, dem das Schick sal der bei den Brü der so

sehr zu Her zen ge gan gen war:

»Wie er klä ren Sie aber mit Ih rer An nah me die

Tat sa che, daß James Za bel eine Note aus gab, die

von Agat ha Webb ge stoh len wur de? Hal ten Sie Miß

Page für so frei ge big, daß sie ihm das Geld ge ge ben

ha ben soll te?«

»Und das fra gen Sie mich, Mr. Fen ton? Wol len

Sie wirk lich wis sen, was ich über die Ver bin dung

zwi schen die sen bei den schreck lichen Dra men den -

ke? »

»Ge wiß! Sie ha ben es ver dient, ge fragt zu wer -

den, Sweet wa ter«.

»Nun denn: ich glau be, Miß Page ver such te, den

Ver dacht, die Tat be gan gen zu ha ben, auf ei nen der

bei den Brü der ab zu wäl zen; sie ist be rech nend und

kalt blü tig ge nug da für. Au ßer dem wa ren ihr die

Ver hält nis se gün stig; soll ich zei gen, wie so?«

Mr. Fen ton schau te fra gend auf Knapp, wel cher

stumm nick te; er war selbst be gie rig, zu er fah ren,

wie Sweet wa ter sei ne An nah me be grün de.

»Der alte James Za bel sah sei nen Bru der lang -

sam Hun gers ster ben — Be weis liegt vor. Er selbst

war schwach, doch John war noch schwä cher. In ei -

nem An fall von Ver zweif lung rann te er aus dem

Hau se, um von Agat ha Webb ein Stück chen Brot zu

bet teln oder — was noch wahr schein li cher ist — an

Phi le mons jähr li chem Ge burts tags schmaus teil zu -

neh men und so auf un auf fäl li ge Wei se das zu er hal -

ten, nach dem zu fra gen er doch of fen bar sich

schäm te. Doch der Tod hat te vor ihm Ein zug in

Agat ha Webbs Haus ge hal ten. Die se Er kennt nis

mach te auf den be reits gei stig Ge schwäch ten ei nen

sol chen Ein druck, daß er, halb wahn sin nig, für eine

hal be Stun de durch die Stra ßen wan der te, ehe er

wie der in sei ner Be hau sung an kam. Wo her ich das

weiß? Sehr ein fach: ich frag te Pa stor Cra ne, ob er

sich noch er in ne re, was wir spiel ten, als er vom

Hau se der kran ken Wit we Wal ker kam und an Sut -

her lands vor über ging. Da es sei ne Lieb lings me lo -

die war, hat te er sie, glück licherweise, nicht ver ges -

sen. Es war ein Wal zer, den wir ein Vier tel nach

zwölf Uhr spiel ten. Um die se Zeit trat Za bel aus

Mrs. Webbs Haus; es war aber zehn Mi nu ten vor ein

Uhr, als er an Lo tons Türe klopf te! Wo her ich das

weiß? Auf die sel be Wei se, wie ich aus fand, wann

Mr. Cra ne am Hau se vor über kam. Mrs. Lo ton lag

wa chend im Bet te und hör te der Mu sik zu. Sie sag -

te, wir spiel ten eben »Mo ney Musk«, als sie klop fen

hör te und ih ren Gat ten weck te. Nun, mei ne Her -

ren, wir spiel ten »Mo ney Musk«, ehe wir zum Es sen

ge ru fen wur den und da das Es sen Punkt ein Uhr ser -

viert ward, stimmt mei ne Kal ku la tion wohl ziem -

lich ge nau. Es ver gin gen also fünf und drei ßig Mi nu -

ten zwi schen der Be geg nung mit Mr. Cra ne und der

An kunft bei Lo ton, wo selbst Za bel Brot ver lang te

und die ge stoh le ne Note in Zah lung gab. Fünf und -

drei ßig Mi nu ten! Und er und sein Bru der star ben

Hun gers! Glau ben Sie wirk lich, daß er das Geld

schon hat te, als er Mrs. Webbs Haus ver ließ? Wür de

ein Mensch, der sei nen Bru der Hun gers ster ben

sieht oder selbst dem Hun ger to de nahe ist, fünf und -

drei ßig Mi nu ten war ten, ehe er von dem Gel de Ge -

brauch macht, das er — sei es recht mä ßig, sei es un -

recht mä ßig — im Be sitz hat? Nein! Des halb be haup -

te ich, daß er das Geld nicht hat te, als er Mr. Cra ne

be geg ne te; daß er nach Hau se stürm te, sei nem Bru -

der das Schreck liche, was er in Agat ha Webbs Haus

ge se hen, mit zu tei len und daß er das Geld dort auf

dem Ti sche fand. Wie aber kam es da hin, wer den

Sie fra gen? Be trach ten Sie die Fu ß spu ren: Ama bel

Page brach te das Geld! Viel leicht sah sie den al ten

Mann in Agat ha Webbs Haus, wäh rend sie selbst

dort war und be schloß, den Ver dacht auf ihn zu len -

ken. Schnell, wie ein Fuchs, schlich sie nach sei nem

Hau se, bohr te ein Loch in die Ja lou sie, schau te ins

Zim mer, sah John schla fen, trat lei se ein, leg te die

Zwan zig-Dol lar-Note und den blu ti gen Dolch, mit

dem sie eben Agat ha Webb er mor det, auf den

Tisch, schlich eben so lei se hin aus und tanz te zwan -

zig Mi nu ten spä ter wie der im Saal des Mr. Sut her -

land«.

»Aus ge zeich net!« rief Abel und schau te die An -

dern an, als ob er er war te te, daß sie ihm bei stimm -

ten. Die se in des sa ßen schwei gend da.

Sweet wa ter ver barg sei ne Ent täu schung hin ter

ei ner lä cheln den Mie ne und fuhr fort:

»In zwi schen wach te John auf, sah den Dolch

und be schloß, sein elen des Da sein zu en den, doch

merk te er bald, daß er hier zu zu schwach war. Der

Riß in sei ner We ste, die Schar te im Fuß bo den be wei -

sen dies. Wol len Sie in des noch ei nen wei te ren Be -

weis, so will ich den auch er brin gen und zei gen,

daß we nig stens die se, mei ne letz te An nah me, rich -

tig ist . . . . ich mei ne das Ge schrie be ne, das Sie Alle

über se hen ha ben. Oeff ne die Bi bel, Abel — schüt -

teln hat kei nen Wert — blät te re und Du wirst in der

Bi bel selbst die Zei len fin den, die — wie ich be haup -

te — der Ster ben de mit zit tern der Hand schrieb.

Hast Du sie ge fun den?«

»Nein«, ent geg ne te Abel. »Ich sehe nichts, we -

der auf der er sten noch auf der letz ten Sei te«.

»Sind dies die ein zi gen lee ren Blät ter in der Bi -

bel? Sieh nach, wo die Fa mi lien-Chro nik steht. Hast

Du sie ge fun den?«

Knapp selbst nahm nun die Bi bel in die Hand

und fand auch bald kaum les ba re Zei chen, die er zu

ent zif fern ver such te.

»Ver gib James«, las Knapp, »woll te Dolch be nut -

zen ge fun den — Hand zu schwach — ster be ohne —

trau re nicht — — treue Män ner — uns nicht ent -

ehrt — — Gott seg ne — —«

»Das ist Al les«, sag te Knapp.

»Die An stren gung war zu viel für den al ten,

schwa chen Mann«, fuhr Sweet wa ter fort, dem die

ge rech te Freu de über sei nen Sieg aus den Au gen

leuch te te, »und er sank in Ohn macht. James

kommt zu rück, sieht den Dolch, hebt ihn auf, legt

ihn auf den Tisch und be merkt da bei das Geld. Ein

Hoff nungs strahl! Schnell er faßt er es, eilt zu Lo ton,

kauft ei nen Laib Brot, den er auf dem Nach hau se we -

ge selbst an beißt, denn sein Hun ger ist zu groß, eilt

ins Haus zu rück — doch zu spät: John ist be reits tot!

Schwin del er faßt ihn, er tau melt, fällt und der Tod

er löst auch ihn von sei nem Er den leid. — — — Ha ben

die Her ren nun auf mei ne Theo rien et was zu er wi -

dern?«

Ei nen Au gen blick schwie gen Alle still. Dann sag -

te Mr. Knapp mit merk wür di ger Ruhe:

»Al les dies ist sehr ge ni al aus ge dacht, nur wer -

den Ihre Theo rien durch eine klei ne Tat sa che, die

Sie wohl über se hen ha ben, über den Hau fen ge wor -

fen. Ha ben Sie den Dolch, von dem Sie so oft spra -

chen, ge nau un ter sucht, Mr. Sweet wa ter?«

»Nicht so ge nau, als ich gern möch te. Ich be mer -

ke in des, daß die Kan ten blu tig sind und daß er ge -

nau die Form hat, wie der Dolch, der Mrs. Webbs

Tod ver an la ß te«.

»Sehr rich tig. Doch es be fin det sich noch et was

an de res In ter es san tes an dem Dolch. Brin gen Sie

ihn ein mal her, Abel«.

Abel eil te hin aus und brach te gleich dar auf das

Ver lang te. Sweet wa ter be sich tig te den Dolch ge -

nau, konn te in des nichts Auf fal len des dar an fin den

und schüt tel te ent täuscht den Kopf.

»Neh men Sie ihn mehr aus Licht«, sag te Knapp,

»und se hen Sie die klei ne Plat te am Heft an«.

Sweet wa ter tat so und er bla ß te: er sah zwei klei -

ne, aber deut li che Buch sta ben: J. Z.

»Wie kam Ama bel Page in den Be sitz ei nes Dol -

ches, der die In itia le der Za bels trägt?« frag te

Knapp.

»Glau ben Sie, ihre Vor sicht ging so weit, sich

von den Brü dern ei nen Dolch zu ver schaf fen, ehe

sie die Tat be ging? Auch schei nen Sie ver ges sen zu

ha ben, daß Za bel et was Blin ken des in der Hand

trug, als Mr. Cra ne ihn aus Agat ha Webbs Haus tre -

ten sah. Was kann dies ge we sen sein, wenn nicht

die ser Dolch?«

Sweet wa ter war ent täusch ter, als er mer ken las -

sen woll te.

»Daß ich die se Fra ge nicht so ein fach be ant wor -

ten kann«, ent geg ne te er, »liegt ein zig und al lein

an mei ner Un er fah ren heit in sol chen Din gen. Ich

dach te, ich hät te Al les so klar ge legt, daß ein Ein -

wand un mög lich wäre«.

Knapp schüt tel te den Kopf und sag te, höh nisch

lä chelnd:

»Jun ge En thu sia sten, wie Sie, sind schnell fer tig,

gro ß ar ti ge Theo rien auf zu stel len, die von al ten, er -

fah re nen Leu ten, wie ich, als Phan ta sie ge bil de be -

trach tet wer den. Es be steht kein Zwei fel, daß Miß

Page mit dem Mor de in Ver bin dung steht, selbst

wenn sie kei nen ak ti ven An teil dar an hat te. Mit die -

sem Be weis von Za bels Schuld in des in der Hand,

möch te ich vo rerst nicht emp feh len, Miß Page zu

ver haf ten«.

»Sie soll te je doch un ter Po li zei auf sicht ste hen«,

be merk te der Un ter su chungs rich ter.

»Zwei fel los«, stimm te Knapp bei.

Sweet wa ter schwieg. Erst als er Ge le gen heit hat -

te, mit Dr. Tal bot al lein zu spre chen, sag te er:

»Trotz des kla ren Be wei ses, von dem Mr. Knapp

spricht — die Buch sta ben am Dol che und die Mög -

lich keit, daß der alte Za bel ihn in der Hand trug, als

er aus Agat ha Webbs Haus trat — blei be ich da bei,

daß die ser alte, schwäch li che Mann Agat ha Webb

nicht ge tö tet hat. Er hät te nicht die Kraft zu ei nem

sol chen Un ter neh men be ses sen, selbst wenn sei ne

jah re lan ge Ver eh rung für sie ihn nicht von der Tat

ab ge hal ten hät te«.

Der Un ter su chungs rich ter saß nach denk lich.

»Sie ha ben Recht«, sag te er end lich, »er hat te

nicht die Kraft dazu. Spre chen Sie vor läu fig nicht

wei ter über den Fall und war ten Sie erst ab, was ei -

ni ge di rek te Fra gen an Miß Page zu Tage för dern

wer den«.

XVIII.

Wich ti ge Fra gen.

Fre de rick hat te eine schlaf lo se Nacht ver bracht

und er hob sich früh mor gens. Die Wor te, die er

vor dem Nach hau se ge hen ge hört, klan gen ihm

noch im mer in den Oh ren.

Als er die Hin ter trep pe hin ab kam — er wähl te

die sen Weg, um Ama bel nicht zu be geg nen — traf

er den Kut scher.

»Warst Du schon in der Stadt?« frag te Fre de -

rick. »Nein, Herr, aber Lem war da. Das sind ja

schreck liche Din ge! Ob Mr. Sut her land es schon

weiß?«

»Was für Din ge, Jake? Ich glau be nicht, daß

mein Va ter sich schon er ho ben hat«.

»Es wur den ge stern Nacht noch zwei Tote in der

Stadt ge fun den: die Brü der Za bel! Und die Leu te sa -

gen, daß ei ner von bei den der Mör der Agat ha

Webbs sei. Der Dolch ist in Za bels Haus ge fun den

wor den und das Geld auch. Was ist Ih nen, Herr?

sind Sie krank?«

Nur mit An span nung al ler Kräf te ver moch te Fre -

de rick sich auf recht zu er hal ten; fast wäre er um ge -

sun ken.

»Nein — das heißt, mir ist nicht so recht gut — —

die se vie len schreck lichen Er eig nis se — — — Wor an

sind die Za bels ge stor ben? Sie sind bei de tot, sag -

test Du?«

»Ja, Herr, und das schreck lichste ist: sie sind ver -

hun gert! Das Brot kam zu spät. Die Brü der se hen

aus, wie Ske let te. Sie hat ten sich die letz ten fünf

Wo chen nicht se hen las sen und kein Mensch wu ß -

te, wie es um sie be stellt war. Ich kanns wohl ver ste -

hen, daß es Sie so auf regt; wir alle sind so erschrok -

ken. Ich habe kaum das Herz, es Mr. Sut her land zu

sa gen«.

Fre de rick ging tau melnd da von. Er war nie im

Le ben dem Zu sam men bre chen — gei stig und kör -

per lich — so nahe ge we sen.

An der Schwel le des Wohn zim mers be geg ne te

er sei nem Va ter, der äu ßerst er regt schien, fast

noch er reg ter als in der Nacht, da er den Check un -

ter schrieb.

»Das ist ja eine schreck liche Neuig keit«, be gann

Fre de rick, der sich zu erst ge faßt hat te. Sein Va ter

ließ ihn in des nicht been den; er war zu sehr mit sei -

nen ei ge nen Ge dan ken be schäf tigt und fuhr Fre de -

rick er regt an:

»Du sag test mir ge stern, daß zwi schen Dir und

Miß Page al les aus wäre. Und doch sah ich Dich ge -

stern Nacht zu sam men mit ihr ins Haus tre ten und

zwar kurz, nach dem ich Dir das Geld ge ge ben, um

das Du mich ge be ten.«

»Das ist wahr und ich kann mir vor stel len, daß

dies kei nen gu ten Ein druck auf Dich mach te. Ich

ver si che re Dich in des, daß je nes Zu sam men tref fen

völ lig ge gen mei nen Wil len ge schah und daß mein

Ver hält nis zu Miß Page durch das sel be in kei ner

Wei se be rührt wur de«.

»Es freut mich, dies zu hö ren, mein Sohn. Du

könn test Dir selbst nichts schlim me res an tun, als

zu Dei ner al ten Le bens wei se zurück zukehren«.

»Das weiß ich«.

Dar auf frag te Fre de rick wie der, ob der Va ter das

Neue ste ge hört habe und als die ser ihn ver ständ nis -

los an schau te, sag te Fre de rick:

»Ich mei ne die Za bels; sie sind bei de tot — ver -

hun gert! Wie kann das nur mög lich sein?«

Dies war so ver schie den von dem, was der alte

Mann zu hö ren er war te te, daß ihn die Nach richt

fast erdrück te. Als ihm Fre de rick mit teil te, daß

man den al ten Za bel im Ver dacht habe, der Mör der

Agat ha Webbs zu sein, fand er schnell sei ne Fas -

sung wie der. In den schärf sten Aus drüc ken trat er

sol cher An nah me ent ge gen und bald über zeug te

sich Fre de rick daß es weit mehr be dür fe, als blo ßer

In di zien be wei se, um den Va ter an die Schuld ei nes

der Brü der glau ben zu las sen.

Fre de rick dem die ses eine gro ße Er leich te rung

zu sein schien, er war te te nun ein Kreuz feu er von

Fra gen, die na tür li cher wei se ei ner sol chen Mit tei -

lung fol gen soll ten, als Bei der Auf merk sam keit

plötz lich durch her an na hen de Schrit te ei ner An -

zahl Män ner in An spruch ge nom men ward.

Un ter den An kom men den be fand sich auch der

Staats an walt, Mr. Court ney. Kaum er kann te Mr.

Sut her land ihn, als er ihm ent ge gen eil te und rief:

»Da ist Court ney; der wird al les er klä ren«.

Gleich dar auf be tra ten vier Män ner mit Mr. Sut -

her land des sen Stu dier zim mer.

Fre de rick über leg te eben, ob er den Män nern fol -

gen oder war ten sol le, bis man ihn ru fen wür de, als

er den Druck ei nes Fin gers auf sei ner Schul ter fühl -

te. Um schau end, ge wahr te er Ama bel Page, die auf

der Trep pe stand und sich zu ihm nie der beug te. Sie

war bleich und er regt und ob schon die Auf re gung

der ver gan ge nen Stun den sich deut lich auf ih ren

Zü gen aus präg te, schau te sie ihn doch mit ei nem Lä -

cheln an, das ihm vor vier und zwan zig Stun den

noch ver häng nis voll ge wor den wäre, das ihn aber

jetzt sicht bar ab stieß.

Ama bel be merk te die se Be we gung und zog die

Stir ne in Fal ten. Doch nur für ei nen Au gen blick;

dann sag te sie, ge zwun gen la chend;

»Ist Dir mei ne Be rüh rung so unan ge nehm?

Wenn ein ein zel ner Fin ger Dei ne emp find li chen

Ner ven so zu drüc ken scheint, wie wirst Du erst das

Ge wicht mei ner gan zen Hand er tra gen?«

Der Ton ih rer Stim me mach te ihn er schau ern

und un will kür lich er hob er sei ne Hand zur Ab wehr.

Sie sah auch die se Be we gung, er bla ß te, beug te sich

tie fer zu ihm nie der und flü ster te, wäh rend sie

nach der Türe deu te te, hin ter der die fünf Män ner

eben ver schwun den wa ren:

»Viel leicht ist dies un se re letz te Ge le gen heit,

ohne Zeu gen zu sam men zu spre chen. Ich will Dich

des halb nur das Eine wis sen las sen: Du brauchst

mir nicht mit Wor ten zu sa gen, daß Du be reit bist,

mich zu hei ra ten; wenn Du in mei ner Ge gen wart

den Ring, den Du trägst, lang sam vom Fin ger ziehst

und wie der an steckst, dann soll mir dies ein Zei -

chen sein, daß Du Dir den Fall über legt hast und

daß Du mein Schwei gen wün schest und — — mich

selbst«.

Fre de rick konn te ein Zusam men zuc ken nicht

ver mei den. Ei nen Au gen blick fühl te er, als ob er

nach ge ben müs se und so die gan ze Qual auf ein mal

en den. Dann aber über mann te ihn der Ab scheu vor

die sem Mäd chen, er wand te den Kopf, stieß ei nen

dump fen Schrei aus und rann te durch die Gar ten tü -

re, wo bei er — ge gen sei nen Wil len — un zäh li ge

Male den Ring von sei nem Fin ger zog und wie der

ansteck te und mit bit te ren Wor ten ge gen ei nen Ein -

fluß pro te stier te, dem er un be wußt un ter lag.

»Ich wer de den Ring nicht tra gen!« rief er, als er

vor dem Wei her stand, aus dem sein Bild wie der -

spie gel te. »Ich setz te mich nicht der Ge fahr aus, un -

ter ih rem Ein flus se, be wußt oder un be wußt, ihr

Skla ve zu wer den! Ich wer fe ihn ins Was ser und der

Bann ist ge bro chen«.

Der Ge dan ke je doch, daß das Feh len des Rin ges

ihn nicht ver hin dern wür de, die Be we gung, die sie

ein zig zu se hen wünsch te und vor der ihm so bang -

te, mit den Fin gern zu ma chen, ver an la ß te ihn, die -

ses wert vol le Fa mi lien stück nicht zu op fern. Wut er -

füllt über die Schwä che, der er sich ent zie hen konn -

te, ging er dem Hau se zu.

Kaum hat te er die Hal le be tre ten, als ihn ein Ge -

fühl be schlich, als ob er vor ei ner ent schei den den

Kri sis ste he. Er hör te deut lich Stim men in der obe -

ren Hal le und als er nä her trat, sah er auf der Trep -

pe Ama bel ste hen, sich mit bei den Hän den am Ge -

län der fest hal tend. Vor ihr stan den die fünf Män -

ner, die je den falls eben aus dem Zim mer ge tre ten

wa ren, um mit ihr zu spre chen.

Da sie ihm den Rüc ken zu kehr te, konn te er ihr

Ge sicht nicht se hen. Aus den Zü gen der fünf Män -

ner in des konn te er deut lich er ken nen, daß sie in ei -

ner teuf li schen Lau ne war, wel che den Män nern

vor ihr et was zu ra ten gab.

Als sie sei ne Schrit te hör te, schien eine plötz li -

che Aen de rung in ihr vor zu ge hen.

»Ich bin be reit, jede Fra ge, die sie an mich stel -

len, zu be ant wor ten«, hör te er sie sa gen, »aber

nicht da drin nen in je nem en gen Zim mer; ich wür -

de dar in erstic ken«.

Fre de rick sah, wie die fünf Män ner sich an schau -

ten und war er staunt, den un schein ba ren Men -

schen, den sie Sweet wa ter nann ten, ant wor ten zu

hö ren.

»Gut«, sag te der, »wenn Sie die of fe nen Hal len

nicht scheu en, wir ha ben nichts da ge gen ein zu wen -

den. Nicht wahr, mei ne Her ren?«

Die bei den klei nen Fin ger, die Fre de rick zu ge -

wandt wa ren, mach ten ein merk wür dig klap pern -

des Ge räusch, das ein zi ge, was für ei ni ge Mi nu ten

hör bar war. Dann frag te Mr. Court ney:

»Wie ka men Sie zu dem Geld, das aus Mrs.

Webbs Schub la de ge stoh len wor den war?«

Es war dies eine Fra ge, die Fre de rick zu sam men -

fah ren ließ, Ama bel in des kaum zu be rüh ren

schien. Sie wand te lä chelnd ihr Ant litz zur Sei te, so

daß Fre de rick sie deut lich se hen konn te und er wi -

der te dann:

»Wäre es nicht bes ser, Sie be gän nen mit ei ner

we ni ger poin tier ten Fra ge? Dem An fan ge nach zu

ur tei len, scheint es mir, als ob Sie däch ten, ich

könn te Ih nen wich ti ge Auf schlüs se über den Tod

Agat ha Webbs ge ben . . . . . . . Fra gen Sie mich zu erst

dar über — — die an de re Fra ge wer de ich spä ter be -

ant wor ten«.

Die se Kalt blü tig keit mach te auf die fünf Män ner

sehr ver schie de nen Ein druck. Mr. Sut her land zog

är ger lich die Stir ne in Fal ten, Dr. Tal bot schau te die

Spre che rin über rascht an — nur Mr. Court ney

schien von ih ren Wor ten gänz lich un be rührt.

»Gut«, sag te er. »Es liegt mir we nig dar an, was

Sie zu erst be ant wor ten. Fast un ter den Röc ken der

Magd Bat sy ward eine Blu me ge fun den, die Sie am

Abend des Balles im Haar ge tra gen hat ten. Kön nen

Sie er klä ren, wie die se Blu me da hin kam oder viel -

mehr: wol len Sie dies er klä ren?«

»Sie brau chen näm lich nicht zu ant wor ten, falls

Sie nicht wol len«, be merk te Mr. Sut her land in sei -

nem stren gen Ge rech tig keits sinn. »Es wäre in des

sehr gut, wenn Sie die Er klä rung ab ge ben wür den;

Sie könn ten so ei nen Ver dacht be sei ti gen, den Sie

je den falls nicht auf sich ru hen wis sen wol len«.

»Was ich Ih nen auch sage«, be gann Ama bel

nach drück lich, ist so wahr, als ob ich die se Aus sa -

gen un ter Eid mach te. Ich kann wohl er klä ren, wie

die Blu me aus mei nem Haar in Mrs. Webbs Haus,

aber nicht, wie sie un ter Bat sys Füße kam. Dies letz -

te re muß Ih nen ein an de rer er klä ren«. Ihr klei ner

Fin ger, der auf dem Ge län der lag, deu te te auf Fre de -

rick, in des konn te dies Nie mand be mer ken, wenn

nicht Fre de rick selbst. »Ich trug an je nem Abend

eine pur pur ro te Or chi dee im Haar und die se kann

mög li cher wei se von Je man den auf ge ho ben und in

je nes Zim mer ge tra gen wor den sein, wäh rend sie

mir aus dem Haa re ge fal len war; ich war näm lich

un ge fähr um die sel be Zeit in Agat ha Webbs Haus,

da sie er mor det wur de«.

»Sie wa ren im Haus?!«

»Ja, aber nur im un tern Stock, nicht im obe ren.

Ich hät te Ih nen dies schon frü her sa gen kön nen,

doch hielt ich es nicht für nö tig. Ihre An we sen heit

und Ihre Fra gen be wei sen mir in des, daß Sie Wert

dar auf le gen, es zu wis sen«.

Sie sprach mit Ernst und — es schien fast — mit

Auf rich tig keit. Sweet wa ter in des trip pel te un ru hig

hin und her: soll te er dies Mäd chen wirk lich so we -

nig ken nen!

»Wir war ten«, be merk te Dr. Tal bot.

Sie wand te ihr Ge sicht dem Spre cher zu, wo -

durch Fre de rick von ih rem Anblic ke be freit ward.

»Ich wer de al les so ein fach und klar als mög lich

er zäh len, mit dem ein zi gen Vor schla ge, daß Sie mir

völ li gen Glau ben schen ken — an dern falls be ge hen

Sie ei nen gro ßen Irr tum . . . . . . Wäh rend ich mich

am Ball abend vom Tan zen aus ruh te, hör te ich zwei

jun ge Leu te von den Za bels spre chen. Der Herr lach -

te über den al ten Mann, wäh rend die jun ge Dame

eine alte halb ver ges se ne Lie bes ge schich te er zähl -

te: wes halb die bei den Brü der Jung ge sel len ge blie -

ben wä ren. Ich hör te ohne son der li ches In ter es se

zu, bis ich eine er zürn te Stim me hin ter mir fra gen

hör te: »Sie la chen? Ich wun de re mich, ob Sie auch

lach ten, wenn Sie wü ß ten, daß die se ar men Men -

schen seit vier zehn Ta gen kei ne or dent li che Mahl -

zeit ge nos sen?« Ich kann te den Spre cher nicht, sei -

ne Wor te aber tra fen mich mit ten ins Herz. Es leb -

ten Men schen un ter uns, die seit vier zehn Ta gen

nichts or dent li ches zu Es sen hat ten! Ich emp fand

plötz lich das Ge fühl, als ob ich selbst an de ren Lei -

den mit Schuld sei und als ich zu fäl lig die Au gen er -

hob und im Ne ben zim mer die reich gedeck ten Ta -

feln sah, drück te mich die Schuld noch mehr. Da fa -

ß te ich ei nen Ent schluß — al ler dings ei nen son der -

ba ren, doch ganz mei ner Na tur ent spre chend. Ob -

wohl ich zum näch sten Tanz en ga giert war und ob -

wohl ich nur ein duf ti ges Ball kleid an hat te, be -

schloß ich den noch, den ar men Men schen so fort et -

was zu Es sen zu brin gen. Ich hol te ein Stück Pa pier,

mach te ein Pa ket zu recht und stahl mich aus dem

Hau se, ohne ei nem Men schen et was da von zu sa -

gen. Um nicht ge se hen zu wer den, ging ich aus der

Türe, die nach dem Gar ten führt, am Ende der Hal le

dort — — —«

»Ge ra de als die Mu sik die »Ha re bell Ma zur ka«

spiel te«, warf Sweet wa ter ein.

Die se Wor te, de ren Mei nung und Zweck sie

nicht gleich zu er fas sen ver moch te, über rasch ten

sie der art, daß sie ver gaß, mit den Fin gern auf dem

Trep pen ge län der zu spie len. Sie schau te den Spre -

cher an, als ob sie ihn mit ih ren Blic ken durch boh -

ren woll te. Da sie aber als Ant wort nur den kal ten

Haß aus sei nen Au gen leuch ten sah, fuhr sie fort,

als habe nie mand sie un ter bro chen:

»Ich rann te so schnell ich konn te den Hü gel hin -

ab; ich dach te nur an mein Vor ha ben und nicht an

die Dun kel heit. Als ich un ten an den Kr eu zw eg

kam, hör te ich vor mir Fu ß trit te. Ich mä ßig te mei -

ne Schrit te, um die Per son, die ich in stink tiv als

Mann er kann te, nicht zu über ho len und folgte ihm,

bis wir an ei nen ho hen Zaun ka men. Es war dies

Agat ha Webbs Haus. Un will kür lich fiel mir ein, was

ich kürz lich ge hört hat te: daß sie eine gro ße Sum -

me Gel des im Hau se habe und ich be schloß, den

Mann zu be ob ach ten. Statt dem nach auf mei nem

Wege zu den Za bels wei ter zu ge hen, lief ich, so

schnell ich konn te, die High Street hin ab und kam

ge ra de recht, um den Mann durch die Vor der tür in

Mrs. Webbs Haus tre ten zu se hen. Es war zwar et -

was spät, Be su che zu ma chen, doch da ich das Haus

durch weg be leuch tet sah, nahm ich an, der Be su -

cher wür de er war tet. Nun hät te ich al ler dings mei -

nen Weg zu den Za bels fort set zen sol len, ich tat es

aber nicht. Die schlei chen de Art und Wei se, mit wel -

cher der Frem de den Gar ten be trat, sein Zö gern, als

er an der Haus tü re an ge kom men, er reg te mei nen

Ver dacht, daß er zu kei nem gu ten Zweck hier her

ge kom men sei und wäh rend er vor sich tig ins Haus

schlich, trat ich in den Gar ten und stell te mich in

den Schat ten des al ten Birn bau mes, zur Rech ten

des We ges. Sag ten Sie et was?«

Die fünf Her ren schüt tel ten ver nei nend die

Köp fe.

»Ich dach te, Sie hät ten eine Be mer kung ge -

macht«, wie der hol te sie und schau te die Her ren

der Rei he nach lä chelnd an. Nur nach rück wärts

schau te sie nicht, wo selbst Fre de rick, auf merk sam

lau schend, in höch ster Er re gung stand.

»Wir hö ren zu«, sag te Mr. Court ney. »Fah ren

Sie fort.

Sie hob ihre lin ke Hand vom Ge län der und schau -

te mit ei nem schnel len Blic ke nach rück wärts —

nach dem klei nen Fin ger. Dann fuhr sie in kal tem,

dro hen dem Tone fort:

»Es ver gin gen etwa fünf Mi nu ten — si cher nicht

mehr — da mach te mich ein durch drin gen der,

schreck licher Schrei zu sam men fah ren. Als ich den

Blick er hob, be merk te ich die Ge stalt ei ner Frau,

schein bar leb los aus ei nem Fen ster des zwei ten

Stoc kes hän gen. Un fä hig, mich zu be we gen, hielt

ich mich zit ternd an dem Bau me fest, wäh rend zur

sel ben Zeit das Ge läch ter meh re rer Ma tro sen an

mein Ohr klang, die eben am Haus vor bei nach der

Werft gin gen. Ich mein te zu erstic ken; ich fühl te

mei ne Glie der er star ren und kam erst wie der zu

mir, als spä ter — ich kann nicht sa gen, um wie viel

spä ter — ein neu er Schrec ken mich aus die sem Zu -

stan de auf rüt tel te. Die Frau, die ich eben fast aus

dem Fen ster fal len sah, war eine Dienst bo te; der

Schrei in des, den ich jetzt hör te, kam aus dem

Munde der Her rin, die zwei fel los in die sem Augen -

blic ke über fal len wor den war. Ich starr te nach den

obe ren Fen stern und be merk te, wie die Ja lou sie des

ei nen auf ge ho ben ward und eine Hand et was aus

dem Fen ster warf, das un weit von mir nie der fiel.

Ich such te das Ob jekt und fand ei nen alt mo di schen

Dolch, von dem noch war mes Blut nie der tropf te.

Aufs höch ste ent setzt, warf ich den Dolch nie der

und trat wie der zu rück in den Schat ten des gro ßen

Bau mes.

Doch ich woll te den Mann se hen, der die se

schreck liche Tat be gan gen und der wohl in die sem

Augen blic ke den Raub in Si cher heit brach te, um

dess ent wil len er Men schen blut ver gos sen. Die nur

an ge lehn te Türe zog mich ma gne tisch an und ehe

ich es selbst wu ß te, stand ich in der Hal le die ses

unglück seligen Hau ses.«

Die fünf Män ner, die bis her laut los zu ge hört hat -

ten, lie ßen nun ih rer Er regt heit frei en Lauf und Mr.

Sut her land, der wie aus ei nem schwe ren Traum er -

wach te, frag te drän gend:

»Dem nach kön nen Sie uns sa gen, ob Phi le mon

in dem klei nen Zim mer saß, als Sie ein tra ten?«

Da alle die Wich tig keit die ser Fra ge be grif fen,

hin gen al ler Au gen an ih rem Munde, als sie ant wor -

te te:

»Ja. Mr. Webb saß schla fend in ei nem Stuh le. Er

war die ein zi ge Per son, die ich ge se hen«.

»Ich wu ß te, daß er das Ver bre chen nicht be gan -

gen ha ben konn te«, rief Sut her land mit ei nem Seuf -

zer der Er leich te rung, die auch die übri gen zu emp -

fin den schie nen. »Jetzt kann ich das Wei te re ru hig

an hö ren. Fah ren Sie fort, Miß Page«.

Ehe die se in des fort fuhr, warf sie wie der um den

Kopf zu rück und warf ei nen schnel len Blick nach

dem Man ne, mit dem sie eine ge hei me Ab ma chung

ver band.

»Als ich die Lich ter auf dem Ti sche bren nen und

den Gat ten der Frau, die viel leicht eben dort oben

ih ren letz ten Atem zug aus hauch te, ru hig schla fen

sah, pre ß te sich mir die Keh le zu sam men, daß ich

fast um sank. Ich trat ins Zim mer und woll te den

Schlä fer wec ken, als ich an mei nen Fin gern Blut be -

merk te, das von dem Dolch kam, den ich auf ge ho -

ben hat te. Dies gab mei nen Ge dan ken eine an de re

Rich tung und ich wisch te mei nen Fin ger an sei nem

Aer mel ab«.

»Scha de, daß Sie nicht auch Ihre Schu he ab ge -

wischt ha ben«, mur mel te Sweet wa ter.

Wie der schau te sie den Spre cher an und wie der

er fa ß te sie eine un er klär li che Angst vor dem Man -

ne, der ihr einst so un be deu tend und un be ach tens -

wert ge schie nen.

»Schu he?« mur mel te sie.

»Ha ben nicht Ihre Füße eben falls das Blut im

Gra se be rührt?«

Sie zö ger te mit der Ant wort.

»Ich habe er klärt, wie das Blut an mei ne Hän de

kam«, sag te sie, nicht Sweet wa ter an schau end, son -

dern Mr. Court ney, »und falls sich Blut an mei nen

Schu hen be fand, kann dies eben falls er klärt wer -

den«. Dann fuhr sie in ih rer Er zäh lung wei ter.

»Kaum hat te ich mei ne Fin ger von Blut ge rei nigt —

ich dach te nie dar an, daß ein Ver dacht auf den al -

ten Mann fal len könn te — als ich Schrit te auf der

Trep pe hör te, die mir sag ten, daß der Mör der im Be -

grif fe sei her ab zu kom men und nun bald an der of fe -

nen Türe vor bei ge hen wür de.

So tap fer ich seit her ge we sen, ich hat te nicht

den Mut, dem Mör der, des sen Hän de viel leicht

noch von Blut trief ten, ge gen über zu tre ten. Er

wäre viel leicht im Stan de ge we sen, ein zwei tes Op -

fer dem er sten hin zu zu fü gen und ich woll te noch

nicht ster ben; ich bin noch zu jung, mei ne Her ren,

und nicht ohne Aus sicht auf künf ti ges Le bens glück.

Ich trat da her zu rück und da ich in dem fast lee ren

Zim mer kei nen Platz sah, wo ich mich ver ber gen

konn te, kau er te ich ne ben den Mann, den Sie Phi le -

mon nen nen. Eine oder zwei Mi nu ten saß ich in To -

des angst. Die Schrit te nä her ten sich der Türe —

hiel ten an — ka men wie der nä her — zö ger ten aber -

mals — wand ten sich und ver hall ten end lich im

Gan ge. Der Mann hat te das Haus ver las sen . . . . .

»Ei nen Au gen blick, Miß Page«, un ter brach sie

der Un ter su chungs rich ter. »Sie sa hen den Mann!

Sie kön nen uns also sa gen, wer es ge we sen«.

Die ser Ein wurf schien sie zu er re gen. Das Blut

schoß ihr ins Ge sicht, sie trat ei nen Schritt vor -

wärts und öff ne te eben den Mund zum Re den, als

sie ei nen dump fen, unter drück ten Schrei aus stieß

und schnell wie der an das Ge län der zu rück trat.

Fre de rick war so eben oben auf der Trep pe an ge -

kom men.

»Gu ten Mor gen, mei ne Her ren«, sag te er, mit

von Er regt heit zit tern der Stim me. Die we ni gen

Wor te, die ich so eben aus Miß Pa ges Munde ge hört,

ver an la ß ten mich, in Ih ren Kreis zu tre ten«.

Ama bel sah den Her an tre ten den erst er staunt

an. Dann senk te sie die Au gen und schau te be deu -

tungs voll auf sei ne Hän de, was ihn so unan ge nehm

zu be rüh ren schien, daß er die se auf dem Rüc ken

barg, ohne in des sei ne Kalt blü tig keit zu ver lie ren.

»Ist mei ne An we sen heit viel leicht nicht er -

wünscht?« frag te er, sei nen Va ter an schau end.

Sweet wa ter hät te ihm ger ne ge sagt, es wäre bes -

ser für ihn, nicht zu blei ben, doch da die an dern

Her ren nicht op po nier ten, schwieg auch er still. So

blieb Fre de rick, zur sicht ba ren Ge nug tu ung von

Miß Page.

»Ha ben Sie das Ge sicht des Man nes ge se hen?«

nahm Mr. Court ney das Ver hör wie der auf.

Ehe sie ant wor te te, schau te sie lan ge nach der

Rich tung, wo Fre de rick stand.

»Nein«, sag te sie lang sam. »Ich wag te nicht, auf -

zu schau en. Ich kau er te ganz nahe am Bo den. Ich

hör te nur sei ne Schrit te«.

»Sie setzt sich selbst das Mes ser an den Hals«,

flü ster te Sweet wa ter, al ler dings so lei se, daß sie

ihn nicht hö ren konn te. »Es gibt auf der gan zen wei -

ten Welt kei ne Frau, die un ter sol chen Um stän den

nicht auf ge schaut hät te, selbst wenn sie da bei ihr

Le ben ris kie ren mü ß te?«

Knapp schien glei cher Mei nung zu sein. Mr.

Court ney in des folgte sei ner ei ge nen Ein ge bung.

»Wa ren es die Schrit te ei nes al ten Man nes?«

frag te er.

»Sie wa ren nicht sehr leb haft«.

»Und sie sa hen nicht das Ge ring ste von des Man -

nes Ge sicht oder Aus se hen?«

»Nicht das Ge ring ste«.

»Sie könn ten ihn dem nach nicht iden ti fi zie -

ren«.

»Wenn ich zu fäl lig die sel ben Schrit te jene Trep -

pe her ab kom men hör te, könn te ich die se wohl iden -

ti fi zie ren«, ent geg ne te sie mit sü ßem Lä cheln.

»Sie weiß, sie kann die Schrit te des to ten Za bel

nicht mehr hö ren«, brumm te Knapp.

»So sind wir also der Lö sung die ses Mor des um

nichts nä her, als wir am An fang wa ren«, be merk te

der Un ter su chungs rich ter.

»Ich bin noch nicht zu Ende, mei ne Her ren«, sag -

te Ama bel. »Viel leicht gibt Ih nen das, was ich noch

zu sa gen habe, ei nen An halt«.

»Ge wiß, ge wiß — — fah ren Sie fort! Sie ha ben

auch noch nicht er klärt, wie sie in den Be sitz von

Agat ha Webbs Geld ka men«.

»Sehr rich tig«, er wi der te sie und schau te mit ei -

nem schnel len Blick auf Fre de rick — der letz te, den

sie ihm für län ge re Zeit zu warf. »So bald ich es für si -

cher hielt, rann te ich aus dem Hau se, in den Gar ten.

Der Mond, der vor her hin ter Wol ken ver bor gen

war, ließ nun sein Licht voll auf die Erde schei nen

und ich sah, daß die Stra ße leer war und ich un be -

sorgt fort ge hen konn te. Ehe ich in des ging, schau te

ich nach dem Dolch, den ich vor her in der Hand ge -

habt hat te — — er war ver schwun den! Der Flie hen -

de hat te ihn je den falls auf ge ho ben und mit ge nom -

men. Aer ger lich, daß ich die ses wich ti ge Bewe is -

stück nicht be hal ten hat te, woll te ich eben ge hen,

als ich das Pa ket be merk te, das ich beim er sten

Schrei un ter den Baum ge wor fen. Das Pa pier war

ge bor sten und zwei oder drei be leg te Bröd chen la -

gen zer tre ten um her. Ich nahm die un ver sehr ten

auf, rann te die Stra ße hin ab, um das We ni ge, das

ich noch hat te, den Za bels zu brin gen, wo ich es auf

die Trep pe le gen woll te, da mit sie es am an dern

Mor gen dor ten fän den«.

»In zwi schen war es spät ge wor den, sehr spät

und bee il te ich mich da her, zu mal ich an der Werft,

wo selbst ein Schiff zur Aus fahrt fer tig lag, laut la -

chen de Stim men hör te.

»Ich war in die Nähe des Za bel schen Hau ses ge -

kom men und trat eben aus dem Schat ten der Bäu -

me, als ich plötz lich zurück prallte: auf der Trep pe,

die ich leer zu fin den er war te te, kau er te ein al ter

Mann, der sich müh sam er hob und die Türe zu öff -

nen ver such te. Gleich zei tig hör te ich das Auf schla -

gen ei nes me tal li schen Ge gen stan des auf der Stein -

trep pe und — Sie kön nen sich mei nen Schrec ken

den ken — be merk te zu Fü ßen des al ten Man nes ei -

nen Dolch, der ge nau dem ähn lich war, den ich

kurz zu vor in Mrs. Webbs Haus in mei nen Hän den

ge hal ten! Er beug te sich nie der, such te den Dolch

und als er ihn end lich ge fun den, ver schwand er so

schnell hin ter der Türe, daß ich mich über rascht

frag te, ob er mich be merkt ha ben könn te oder

nicht.

Ich war so er staunt, ei nen al ten Mann im Be sit -

ze des Dol ches zu fin den, der ihn so of fen bar mit je -

nem Ver bre chen ver knüpf te, daß ich ganz ver gaß,

was mich hier her ge führt und nur von dem ei nem

Wun sche be seelt war: mehr zu se hen und zu hö ren.

Ich schlich mich die Bü sche ent lang und kam so un -

ter ei nes der Fen ster. Die Ja lou sie war her ab ge zo -

gen. Ich woll te sie eben bei Sei te schie ben, als ich

im Zim mer Schrit te hör te und mei ne Hand zurück -

zog. Die Neu gier de in deß be sieg te mei ne Furcht;

ich nahm eine Haar na del vom Kopf, bohr te da mit

ein klei nes Loch in die Ja lou sie und schau te so in

das, vom Mond licht hell er leuch te te Zim mer. Und

was sah ich da?«

Sie schau te auf Fre de rick, des sen rech te Hand

sich lang sam nach der lin ken hin stahl. Kaum be -

merk te er je doch ih ren Blick, als er in ne hielt und

be we gungs los da stand.

»Ei nen al ten Mann, der am Ti sche saß und — —«

Wes halb hielt sie plötz lich inne? Fre de rick hät te

die se Fra ge viel leicht be ant wor ten kön nen, er, des -

sen Hand nun schlaff an sei ner Sei te hing. Doch er

mach te kei ner lei Be we gung und kein Ein zi ger,

nicht ein mal Sweet wa ter ahn te, was hin ter dem

»und« lag und wann der Satz been det wer den wür -

de — — — hat te sie doch selbst den Tag und die Stun -

de hier für fest ge setzt.

»Es war nicht der sel be alte Mann, den ich auf

der Trep pe ge se hen hat te«, fuhr sie end lich fort.

»Wäh rend ich ihn be ob ach te te, ging Je mand an mir

vor über und den Weg zum Hü gel hin auf. Ich wand -

te mich um und folgte dem Schat ten, den ich in den

Bü schen ver schwin den sah . . . . . . ich woll te se hen,

wie das Aben teu er ende.

Da der Mond schien, konn te ich der Per son

nicht so nahe auf den Fer sen fol gen, als ich ger ne

ge wollt hät te, aus Furcht, ich könn te ent deckt wer -

den. Ich mu ß te des halb mehr mei nen Oh ren ver -

trau en, als mei nen Au gen und lausch te auf merk -

sam den Schrit ten des Vor an ge hen den. Plötz lich

hör te ich die se nicht mehr! Ich eil te nä her und be -

merk te, daß die Per son in den Wald ge gan gen war.

Da ich je den Weg und Steg dar in gut ken ne — liegt

er doch dem Hau se ge gen über, dar in ich woh ne —

fand ich mei nen Weg sehr leicht zu ei ner klei nen

Lich tung, wel che die Her ren ja, wie ich an zu neh -

men al len Grund habe, in zwi schen auch ken nen ge -

lernt ha ben. Ich ging je doch nicht ganz so weit,

denn ich ge trau te mich nicht, der Per son, die of fen -

bar in zwi schen ihr Vor ha ben been det hat te, ge gen -

über zu tre ten. Und wirk lich hör te ich gleich dar -

auf die sel ben Trit te auf mich zu kom men. Zum zwei -

ten Male kau er te ich nie der und ließ die ge heim nis -

vol le Per son an mir vor über ge hen. Als er gänz lich

au ßer Seh- und Hör wei te war, ging ich schnell nach

Hau se; es war in zwi schen spät ge wor den und man

konn te mei ne Ab we sen heit vom Bal le be mer ken.

Am näch sten Mor gen ging ich wie der nach dem

Wal de, um nach dem Gel de zu su chen, das — wie ich

si cher glaub te, — ir gend wo ver gra ben wor den war.

Ich fand es auch und als der Mann hier, der, obzwar

nur ein ob sku rer Mu si ker, den noch glaub te, den De -

tek tiv spie len zu sol len, mich mit dem Gel de in mei -

ner Hand sah, war ich eben da mit be schäf tigt, den

Raub tie fer zu ver gra ben«.

»Um ihn spä ter selbst be nut zen zu kön nen«,

warf Sweet wa ter ein, den Miß Pa ges Be mer kung ge -

är gert hat te.

Sie warf ihm ei nen zurück weisenden Blick zu

und sag te dann ernst:

»Hät te ich das Geld für mich ver wen den wol len,

hät te ich nicht ris kiert, es an dem Platz zu las sen,

wo hin der Mör der es ge legt. Nein, mein Mo tiv war

ein an de res und zwar wer den Sie es mir nicht glau -

ben, selbst wenn ich Ih nen die Wahr heit sage: ich

woll te den Mör der, den ich zu er ken nen glaub te,

vor den Fol gen sei ner Tat ret ten«.

Mr. Court ney, Dr. Tal bot und selbst Mr. Sut her -

land, die na tür lich glaub ten, sie mei ne den al ten Za -

bel und die alle selbst ein freund schaft li ches Ge fühl

für den ar men unglück lichen Mann heg ten, wel -

ches selbst der in ei nen An fall von Wahn sinn be gan -

ge ne Mord nicht zu er lö schen ver moch te, be gan -

nen, die jun ge Dame in an de rem Lich te zu be trach -

ten. Sweet wa ter al lein schien ner vös und Zwei fel

an ih ren Aus sa gen zu he gen, wäh rend Knapp voll -

stän dig aus drucks los da stand. Fre de rick glich ei -

ner Sta tue und be weg te we der Hand noch Fuß.

»Ein Ver bre chen, das al lein die Hab sucht zum

Mo tiv hat«, fuhr sie kalt fort, »ist ver ab scheu ungs -

wür dig. Ein Ver bre chen da ge gen, das ei ner un be -

ding ten, über wäl ti gen den Not wen dig keit ent -

springt, kann un ter Um stän den Sym pa thie er re gen

und ich schä me mich nicht, mit die sem lei den den,

fast wahn sin ni gen Man ne Be dau ern emp fun den zu

ha ben. Ich woll te nicht, daß er für den Au gen blick

über kom me nen Wahn sinns lei den soll te — wie es je -

den falls ge sche hen wäre, hät te man das von Agat -

ha Webb ge stoh le ne Geld in sei nem Be sit ze ge fun -

den. Ich grub das Geld da her tie fer ein und ver trau -

te der Auf re gung, die selbst den stärk sten Cha rak -

ter über kommt, daß er das Geld nicht fin den wür -

de, bis die er ste Ge fahr vor über wäre«.

»Ha! Gro ß ar tig! Teuf lisch er dacht, he? Klug, fast

zu klug!« und An de res wur de laut.

Nur Sweet wa ter zeig te deut lich, daß er von dem

Ge sag ten kein Wort glau be und konn te sich nicht

ent hal ten, zu be mer ken:

»Wahr heit klingt oft merk wür di ger, als ein Mär -

chen. Ich hät te sol che Mo ti ve, als sie eben er wähn -

te, dem Mäd chen si cher nicht zu ge traut, das ich

den Platz ver las sen sah, an dem sie eine solch gro -

ße Sum me Gel des ver gra ben hat te. Wie gie rig sie

oft zurück schaute! Doch selbst wenn das tie fer gra -

ben ein zig und al lein aus Rück sicht auf den al ten

Mann ge sche hen wäre, wie Sie sa gen, wis sen Sie

nicht, daß Sie als Heh le rin eben so straf bar sind, als

der Dieb und Mör der?«

Sie zog die Au gen brau en in die Höhe, warf ver -

ächt lich die Lip pen auf und ent geg ne te:

»Sie has sen mich, Mr. Sweet wa ter! Wün schen

Sie, daß ich den Her ren sage, wes halb?«

Die Röte, wel che das Ge sicht des sonst so ru hi -

gen Man nes über flog, über rasch te Fre de rick nicht

we ni ger, als die an de ren Her ren, die sei nen Ei fer

bis jetzt nur pro fes sio nel len Grün den zu ge schrie -

ben hat ten. Konn te die ser unan sehn li che jun ge

Mann einst sei ne Au gen zu die sem Mäd chen er ho -

ben ha ben und ab ge wie sen wor den sein? Es war

dies wohl an zu neh men, ob wohl das Er rö ten die ein -

zi ge Ant wort war, die Sweet wa ter auf die Fra ge ge -

ge ben, welch letz te re in des ih ren Zweck er reicht

zu ha ben schien.

Um über die Ver le gen heits pau se, die ein ge tre -

ten war, hin weg zu kom men, rich te te Mr. Sut her -

land das Wort an Miß Page.

»Ihr Be tra gen in die ser Sa che war nicht das ei -

ner eh ren haf ten Per son. Wes halb be nach rich tig -

ten Sie mich nicht von dem, was Sie ge se hen, als Sie

in mein Haus zurück kamen?«

»Ich habe so eben er klärt«, ent geg ne te sie, un be -

rührt von sei nen Wor ten, »daß ich Sym pa thie für

den Ver bre cher emp fun den«.

»Wir alle sym pa thi sie ren mit James Za bel; und

den noch — — — —«

»Ich glau be kein ein zi ges Wort von der gan zen

Ge schich te«, platz te Sweet wa ter her aus. »Ein hung -

ri ger, schwa cher Mann, wie Za bel, konn te nie mals

sei nen Weg in je nen Wald fin den! Sie brach ten das

Geld da hin, Miß Page! Sie sind die — — — —«

»Ssssst!« un ter brach ihn der Un ter su chungs -

rich ter. »Nicht zu schnell — einst wei len. Miß Page

scheint die Wahr heit zu spre chen, so un glaub lich

sie auch klingt. Za bel war einst ein wun der ba rer

Mann und wenn er wirk lich den Mord und den

Raub be gan gen ha ben soll te, so ge schah dies nur,

nach dem er durch die Lei den sei nes über al les ge -

lieb ten Bru ders und sei ne ei ge nen der art in Ver -

zweif lung ge bracht wor den war, daß die se ihm un -

ge wöhn li che Kräf te ver lieh«.

»Dan ke«, ant wor te te sie ein fach und zum er sten

Male schie nen Alle von ih rer Stim me an ge nehm be -

rührt. Sie be merk te dies und brach te alle ihre Kün -

ste und Ko ket te rie zu Hil fe, als sie fort fuhr:

»Ich gebe zu, es war un klug, mei ne Sym pa thie

mit mei nem Ur teil durch ge hen zu las sen — doch

das ist wei bisch. Män ner wer fen uns dies Ge fühl

manch mal vor, bis sie selbst in die Lage kom men,

solch blin der Hin ge bung zu be dür fen . . . . . . Es tut

mir jetzt al ler dings leid, mich dazu ha ben hin rei -

ßen zu las sen, denn ich ver lor an Ach tung, wäh -

rend er — — — —«

Mit ei ner leich ten Hand be we gung schien sie

den Ge dan ken von sich zu wei sen.

Dr. Tal bot, der sie bis jetzt mi ß trau isch be trach -

tet hat te, schien nun mehr vol les Ver trau en in die -

ses lau ni sche, fast kin di sche We sen ge setzt zu ha -

ben und be wun der te sie fast ob die ser ed len An -

wand lung.

Mr. Sut her land hin ge gen war we der er freut

über ihre Tat noch über zeugt von dem, was sie er -

zählt hat te. Es gab et was, was sie nicht er klärt hat te

und wenn er im Au gen blick auch nicht zu sa gen ver -

moch te, was die ses war, so fühl te er doch, daß sein

Sohn, des sen Ge sicht er oft und scharf be ob ach tet

hat te, sein Emp fin den teil te. Er woll te in des jetzt

nicht wei ter in sie drin gen, denn er sah, wie sein

Sohn, der die ses Mäd chen lieb te, litt und er woll te

des sen Selbst be herr schung nicht auf eine zu har te

Pro be stel len.

Auch Sweet wa ter hat te wie der völ lig Ge walt

über sich ge won nen, als Dr. Tal bot sag te:

»Nun, mei ne Her ren, wir ha ben je den falls mehr

er fah ren, als wir beim Her kom men er war te ten. Es

bleibt in des noch ein Punkt zu er klä ren, Miß Page:

wie kam es, daß die Or chi dee, die Sie im Haa re ge -

tra gen, fast un ter Bat sys Fü ßen lag? Sie er klär ten

doch aus drück lich, daß Sie nicht nach oben gin gen,

als Sie in Mr. Webbs Haus wa ren«.

»Ja, ja«, rief Knapp. »Wie kam die Blu me an den

Schau platz des Mor des?«

Sie lä chel te.

»Das ist ein Ge heim nis, das wir erst lö sen müs -

sen«, ent geg ne te sie non cha lan ter Wei se.

»Ein Ge heim nis, das Sie lö sen müs sen«, be rich -

tig te der Staats an walt. »Al les, was Sie uns bis jetzt

zur Ver tei di gung Ih rer Un schuld mit ge teilt ha ben,

ist völ lig wert los die sem ein zi gen, greif ba ren In di -

zien be weis ge gen über«.

Ihr Lä cheln ver flog schnell.

»Ich weiß das«, sag te sie. Dann wand te sie sich

an Sweet wa ter, der sie aus sei nen nie der ge schla ge -

nen Au gen be trach te te und rief er regt: »Sie, Herr,

der Sie sich et was an ma ß ten, das Sie ganz und gar

nichts an geht, zei gen Sie doch Ihre Schlau heit und

fin den Sie aus, wer die Blu me da hin ge bracht! Man

kann es aus fin den. Ich habe sie nicht da hin ge -

bracht, das kann ich be schwö ren vor Gott und den

Men schen!«

Sie hat te ihre Hand er ho ben und schau te ihn

her aus for dernd an. So schwer es ihm auch wur de,

er mu ß te sich ge ste hen, daß sie dies mal die Wahr -

heit ge spro chen. Er schau te auf Knapp, der als Ant -

wort leicht die Schul tern in die Höhe zog, dreh te

sich dann um und stell te sich ne ben Dr. Tal bot.

Ama bel ließ ihre Hand sin ken.

»Darf ich jetzt ge hen?« frag te sie Mr. Court ney.

»Ich weiß wirk lich nichts mehr zu sa gen und ich

bin müde«.

»Ha ben Sie den Mann ge se hen, der im Wald an

Ih nen vor über ging? War es der sel be alte Mann,

den Sie auf Za bels Trep pe sa hen?«

Die se di rek te Fra ge mach te Fre de rick er zit tern,

wäh rend sie, den Fra gen den ru hig an schau end, ru -

hig ent geg ne te:

»Wes halb stel len Sie die se Fra ge? Be steht viel -

leicht ein Zwei fel, daß es viel leicht der sel be Mann

war?«

Welch eine Schau spie le rin, dach te Fre de rick er -

staunt. Er hat te sie schon be wun dert, als sie ihre Ge -

schich te er zähl te und Al les so zu dre hen ver stand,

daß auch nicht der lei se ste Ver dacht auf ihn fiel, ge -

nau wie sie ver spro chen hat te. Gleich zei tig hat te

sie es so ein zu rich ten ge wußt, daß sie die gan ze An -

kla ge spä ter ge gen ihn rich ten konn te, wo bei es

ihm fast un mög lich schien, ihr ent ge gen zu tre ten.

Er er kann te im mer mehr, mit welch grim mi gem

Feind er zu kämp fen hat te und dies raub te ihm fast

den Mut.

»Ich dach te nicht, daß Je mand noch zwei feln

könn te«, setz te sie in solch über rasch tem Tone hin -

zu, daß Mr. Court ney die Fra ge fal len ließ und Dr.

Tal bot sich Sweet wa ter zu wand te, mit der lei sen

Fra ge:

»Wol len wir sie jetzt ge hen las sen! Sie sieht wirk -

lich müde aus, das arme Mäd chen«.

Die Her aus for de rung, die sie ihm zu ge wor fen,

mach te Sweet wa ter vor sich tig.

»Ich traue ih ren Wor ten nicht«, ent geg ne te er,

»ob wohl ich man ches in ih rer Ge schich te be stä ti -

gen könn te: so zum Bei spiel die be leg ten Bröd chen.

Sie sag te, sie ließ sie un ter dem Bau me in Mr.

Webbs Gar ten fal len und da bei wäre das Pa pier ge -

platzt. Das ist wahr. Ich be merk te un ter dem Baum

so vie le Vö gel, daß es mir auf fiel, ob wohl mei ne Ge -

dan ken mit wich ti ge ren Sa chen be schäf tigt wa ren.

Ich wun der te mich, was die Vö gel so em sig auf pick -

ten. Aber wie stehts mit der Blu me, de ren Er klä -

rung sie von mir ver langt? Und wie mit dem Geld,

das sie ver grub? Kann es etwa an ders, als Bei hil fe

aus ge legt wer den? Nein, mei ne Her ren! Ich wer de

sie nicht aus den Au gen las sen, selbst wenn ich ei -

nen Haft be fehl ge gen sie er wir ken mü ß te, um mein

Vor ha ben aus zu füh ren«.

»Sie ha ben Recht«, stimm te der Un ter su chungs -

rich ter bei und sich an Miß Page wen dend, sag te er:

ihr Zeug nis sei zu wich tig, als daß er sie jetzt schon

ent las sen kön ne; sie möge sich ge fäl ligst be reit ma -

chen, ihn zu be glei ten.

Sie mach te kei ne Ein wen dung. Im Ge gen teil; ihr

ge wohn tes Lä cheln leg te sich auf ihre Züge und sie

eil te schnell da von. Doch ehe sie die Türe ih res Zim -

mers zu zog, wand te sie sich um und er klär te, daß

sie be reits Al les ge sagt habe, was sie wis se oder was

ihr mo men tan ein fal le; wenn sie in des sen nach den -

ke, könn te sie sich viel leicht noch ei ni ger Punk te er -

in nern, die un ter Um stän den et was mehr Licht auf

ein zel ne Mo men te wer fen könn ten . . . . .

»Ru fen Sie sie!« rief Mr. Court ney. »Sie hält et -

was zu rück! Wir wol len Al les hö ren!«

Mr. Sut her land in des, der sei nen Sohn be ob ach -

te te und be merk te, daß die ser dem Zu sam men bre -

chen nahe war, schlug vor, die wei te re Un ter su -

chung zu ver schie ben, bis sie al lein wä ren. Der be -

sorg te Va ter sah, daß sein Sohn un mög lich län ger

Zeu ge sein kön ne, wie das Mäd chen ge de mü tigt

wür de, von dem er sich erst kürz lich los ge sagt.

XIX.

Ar mer Phi le mon!

Am näch sten Tage be grub man Agat ha Webb.

Sie soll te in Port che ster be stat tet wer den, zur

Sei te ih rer sechs Kin der und wie auf Ver ab re dung

hat ten sich die Be woh ner der bei den Städ te längs

der Stra ße auf ge stellt, durch die der Lei chen zug

sich be weg te. Es war die letz te Ehre, die man der be -

sten al ler Bür ge rin nen er wei sen konn te.

Vor ei nem Hau se, etwa eine Mei le au ßer halb

Sut her land town, hielt der Zug an. Auf ein Zei chen

des Pa stors nah men alle ihre Hüte ab — — Schwei -

gen herrsch te rings um, nur das Zwit schern der Vö -

gel klang in die wei he vol le Stil le: man war vor dem

Hau se der Wit we Jones an ge kom men, bei der Phi le -

mon seit Agat has Tod wohn te.

Die Fen ster la den wa ren ge schlos sen.

Im näch sten Augen blic ke öff ne te sich die Türe

und her aus tra ten ein Mann und eine Frau, die den

unglück lichen Phi le mon am Arme führ ten. Die

Frau schien ihm et was zu er klä ren; sie deu te te auf

den Sarg. Da rich te te sich Phi le mon auf, sei ne Lok -

ken flat ter ten im Win de, er streck te sehn suchts voll

die Arme aus und rief, wäh rend ein glück seliges Lä -

cheln über sei ne Züge flog:

»Agat ha!«

Doch wie ein Blitz strahl durch zuck te ihn die

Wahr heit. Er merk te zum er sten Male, daß er auf

eine Tote schau te, daß die se Men schen men ge sei -

ner Agat ha das letz te Ge leit gab und mit ei nem ein -

zi gen herz bre chen den Schrei fiel er in die Arme der

ihn Stüt zen den.

Doch noch ein an de rer Schrei hat te die Luft er -

füllt!

Von wes sen Lip pen war er ge kom men!

Sweet wa ter ver such te ver ge bens, dies Rät sel zu

lö sen. Nie mand konn te ihm Aus kunft ge ben, höch -

stens viel leicht Mr. Sut her land und den wag te er

jetzt nicht an zu spre chen.

Der alte Herr, der wie die An dern zu Fuß der To -

ten folgte, hat te sei nen Arm fest auf den sei nes Soh -

nes Fre de rick ge legt. Er fürch te te um sei nen

Sohn — er wu ß te selbst nicht wo für — und woll te

an sei ner Sei te sein. Und als die Ze re mo nie vor über

und Agat ha zur letz ten Ruhe ge bet tet war, da hat te

er sei nen Sohn so lieb ge won nen, wie nie zu vor. Er

schau te ihn an, als habe er dies Ge sicht nie recht ge -

kannt — — — es ward ihm schwer, sich von dem Soh -

ne zu tren nen.

Als da her die Zeit ge kom men, nach Hau se zu ge -

hen — die mei sten hat ten den Fried hof be reits ver -

las sen — und er sei nen Sohn frag te, ob er mit ihm

zu sam men nach Hau se fah ren wol le, war er sehr er -

staunt, als ihm die ser ent geg ne te, daß er einst wei -

len nicht nach Sut her land town zurück zukehren be -

ab sich ti ge, er habe Ge schäf te in Port che ster zu er le -

di gen und kön ne noch nicht be stim men, wann er

heim keh re.

Der Va ter, der Fre de rick nicht mit Fra gen be -

stür men woll te, ant wor te te nicht. Kaum war sein

Sohn in des die Stra ße hin ab ge gan gen, als er sei nen

Wa gen nach Hau se sand te mit dem Be mer ken, daß

er ge schäft lich in Port che ster sich auf zu hal ten ge -

zwun gen sei und daß er in ei ner Miet kut sche nach

Hau se kom men wer de, so bald sei ne Ge schäf te er le -

digt sei en. Mög li cher wei se könn ten die se den gan -

zen Tag in An spruch neh men.

Dann ging er in ein klei nes Ho tel, nahm ein Zim -

mer, des sen Fen ster die Stra ße über sah, wel che Fre -

de rick ein ge schla gen und war te te dort den gan zen

Tag. Doch Fre de rick kam nicht zu rück und von dü -

ste ren Ah nun gen er füllt, mach te er sich des

Abends auf den Weg, um zu Fuß nach Hau se zu ge -

hen.

Der Mond war noch hin ter Wol ken ver bor gen

und die Stra ße lag in däm mern dem Dun kel.

Lang sam, ge dan ken voll schritt er da hin.

Der Fried hof, dar in sie heu te Agat ha Webb zur

ewi gen Ruhe ge bet tet, lag am Wege. Noch ei nen

letz ten Blick woll te er auf die Stät te wer fen, dar un -

ter die edel ste der Frau en lag. Wes halb er dies tun

woll te — er wu ß te es nicht, es zog ihn hin, mit un -

sicht ba ren Ban den.

Nä her kom mend, hör te er Wei nen und Schluch -

zen. Ein Trau ern der, dem sein Lieb stes ge nom men,

wein te an des sen Gra be.

Um den Ar men nicht zu stö ren, ging er lei se wei -

ter, im Schat ten der Bäu me. Im mer nä her kam er

an das frisch auf ge wor fe ne Grab — da stockt sein

Fuß — — sei ne Zun ge klebt am Gau men — — er wagt

kaum zu at men: über ein fri sches Grab hin ge -

streckt lag eine Man nes ge stalt, in maß lo sem

Schmer ze — — — —. Mr. Sut her land zog sich lei se,

un hör bar zu rück. Er hat te das Grab er kannt und

den Trau ern den: das Grab war das von Agat ha

Webb und der Mann, der dar über lag . . . . . . sein

Sohn Fre de rick.

Als Mr. Sut her land bald dar auf wie der im Ho tel

an kam, sah er bleich und ge bro chen aus, so bleich,

daß ihn der Be sit zer frag te, ob er krank sei. Er ent -

geg ne te, er füh le sich zu er schöpft, den Weg zu Fuß

zurück zulegen, er habe sei ne Kräf te über schätzt

und bat um ei nen Wa gen, um nach Hau se zu fah -

ren.

Die er ste hal be Mei le saß er stil le, in sich ge -

kehrt. Der Mond kam aus den Wol ken her vor und

über flu te te die Stra ße mit sei nem Licht. So lan ge er

da hin fuhr und Nie mand in der Nähe war, saß er auf -

recht, nach vorn ge beugt, auf merk sam lau schend.

Doch kam er an ei nem Wan de rer vor über, dann leg -

te er sich in die Pol ster zu rück, so daß ihn Nie mand

se hen konn te. Dies hat te er wie der holt ge tan. Plötz -

lich än der te sich sein gan zes We sen: er war eben an

Fre de rick vor über ge fah ren, der mit ge senk tem

Haup te gen Sut her land town ging.

Doch noch eine an de re Per son hat te er kurz zu -

vor über holt, ei nen Mann, der nicht gar weit hin ter

sei nem Soh ne her ging und des sen Ge stalt er gar

wohl er kannt hat te. Er dreh te sich um, schau te

durch das klei ne Fen ster hin ten im Wa gen und sah

dort Fre de ricks wan ken de Ge stalt und ganz in sei -

ner Nähe je nen An de ren, des sen Na men aus zu spre -

chen er sich fast fürch te te.

Plötz lich fa ß te er den Kut scher am Arme. Se hen

Sie die Türe dort?« rief er, auf ein Haus deu tend, an

dem sie eben vor über fuh ren. »Et was Schreck liches

muß seit die sem Mor gen dort drin nen pas siert

sein! Das ist ein Trau er flor, der am Tür griff hängt!«

»Ja, das ist ein Trau er flor«, ant wor te te der Kut -

scher, sprang vom Wa gen und lief der Tür zu. »Phi -

le mon muß ge stor ben sein — der arme Phi le mon!«

Im Nu war Mr. Sut her land aus dem Wa gen.

»Stei gen Sie auf und fah ren eine hal be Mei le die

Stra ße hin ab und keh ren Sie wie der zu rück. Ich

muß die Wit we Jones spre chen«.

Der Kut scher stieg ein und fuhr da von, wäh rend

Mr. Sut her land schnell ei nen Blick zurück warf auf

den Weg, den er ge kom men und dann an Mrs. Jones

Türe klopf te.

Der Kut scher hat te recht ver mu tet: Phi le mon

war ge stor ben. Der Schreck hat te ihn nie der ge wor -

fen und nun war er mit sei ner ge lieb ten Agat ha ver -

eint.

»Es ist scha de, daß sie kei nen Er ben hin ter las -

sen«, sag te Mrs. Jones. Mr. Sut her land nick te

stumm; er schau te ängst lich die Stra ße hin ab, auf

der er eben ge kom men. Plötz lich trat er ha stig ins

Haus.

»Wol len Sie mich, bit te, ei ni ge Mi nu ten in Ih -

rem Sa lon nie der sit zen las sen? Ich möch te ein paar

Augen blic ke al lein sein. Die ser Schlag hat mich zu

sehr an ge grif fen«.

Mrs. Jones führ te ihn ins Zim mer, mach te es

ihm be quem und zog sich dann zu rück; er woll te ja

al lein sein, wie er be son ders be ton te.

Kaum hat te die gute Frau das Zim mer ver las sen,

als Mr. Sut her land sich aus dem Lehn stuhl er hob,

in den sie ihn ge bet tet, das Licht aus blies und

schnell aus Fen ster trat, durch das er auf merk sam

die Stra ße über schau te.

Ein Mann kam den Weg ent lang, ein jun ger

Mann — Fre de rick. Mr. Sut her land pre ß te sei ne

Stir ne an das Fen ster und starr te auf sei nen Sohn,

als ob er ihm ins Herz schau en woll te. War es der

ma gne ti sche Ein fluß die ser Blic ke, war es et was An -

de res — Fre de rick schau te um, sah den Trau er flor,

fuhr erschroc ken auf, kam lang sam nä her und nä -

her, bis er den Flor be rühr te, pre ß te ihn ent setzt

zwi schen sei nen Hän den und eil te im näch sten Au -

gen blick die Stra ße hin ab, als sei der Tod hin ter

ihm.

Mr. Sut her land hat te ge se hen, was er im Ge hei -

men fürch te te . . . .

Eine hal be Stun de spä ter kam er zu Hau se an. Er

hat te Fre de rick nicht wie der über holt.

Als man ihm sag te, sein Sohn sei wohl vor über -

ge gan gen, aber nicht ins Haus ge tre ten, schlug er

den sel ben Weg ein und folgte ihm den Hü gel hin -

auf.

Nach kur zem Wan dern kam er an Mr. Hal li days

Haus. Im Schat ten der mit Geis blatt bedeck ten Ve -

ran da sah er eine Ge stalt, die er erst für Fre de rick

hielt. Doch bald er kann te er den Mann, der sei nem

Soh ne von Port che ster ge folgt war. Er trat lang sam

nä her und sag te ru hig:

»Sind Sie das, Sweet wa ter?«

Der jun ge Mann fuhr zu sam men, schien sehr er -

regt, fa ß te sich aber schnell.

»Ja, Mr. Sut her land, ich bin es. Wis sen Sie, wes -

halb ich hier ste he?«

»Ich fürch te, ja. Sie wa ren in Port che ster und ha -

ben mei nen Sohn dort ge se hen — — — —«

»Ich woll te, Sie wür den nicht da von re den, Mr.

Sut her land«, un ter brach ihn Sweet wa ter schnell.

»Ich bin durch das Ge se he ne eben so er regt, als Sie.

Ich dach te nie, daß er selbst et was mit dem Mor de

zu tun ge habt habe; ich glaub te, das Mäd chen, in

das er sich unglück licherweise so ver liebt hat te,

wäre die al lei ni ge Schul di ge. Doch was soll ich den -

ken, nach dem, was ich heu te sah? Was soll ich tun?

Sie wis sen, ich ver eh re Sie und wür de Ih nen un -

ter kei nen Um stän den Kum mer be rei ten, aber —

aber — — Oh, Mr. Sut her land, hel fen Sie mir aus die -

sem Di lem ma! Viel leicht kön nen Sie mir ver si -

chern, daß Fre de rick an je nem Abend den Ball

nicht zu gleich mit »ihr« ver las sen hat — — ich habe

ihn ver mißt — — ich sah ihn nicht zwi schen zwölf

und drei, doch viel leicht ha ben Sie ihn ge se hen

und — — —«

Sei ne Stim me ver sag te; er war eben so er regt, als

Mr. Sut her land, der sich auch er in ner te, den Sohn

wäh rend je ner Stun den nicht im Saa le ge se hen zu

ha ben. Der alte Mann stand sprach los. Ein un er -

meß li cher Ab grund hat te sich vor ihm auf ge tan,

ein Ab grund, des sen Tie fen und Schrec ken nur der

Va ter ver ste hen konn te.

Sweet wa ter, der den Schmerz des al ten Man nes

deut lich auf sei nen Zü gen las, stand stumm; end -

lich brach er in die Wor te aus:

»Wäre ich doch lie ber tot, als daß ich die Ur sa -

che Ih rer Scham und Ih res Kum mers sein muß! Sa -

gen Sie mir, was ich tun soll! Wenn Sie wol len, bin

ich stumm, blind und — — — —«

Die se Wor te ga ben Mr. Sut her land sei ne Ruhe

wie der.

»Sie le gen dem Ge se he nen zu viel Be deu tung

bei«, sag te er. »Mein Sohn hat sei ne Feh ler und hat

ein wil des Le ben ge führt. Doch so schlecht ist er

nicht, als Sie an deu ten möch ten. Er hat den Mord

nicht be gan gen! Das wäre un glaub lich, ganz un na -

tür lich von ei nem, der so auf ge bracht wur de, wie

er! Aber selbst wenn er so ver derbt wäre, um selbst

ein Ver bre chen zu be ge hen, so fehl te je des Mo tiv

zu ei nem sol chen. We gen je ner paar hun dert Dol -

lars? Die hät te er ein fach von mir ha ben kön nen —

er hat sie so gar be kom men — — aber — — —«

Wes halb brach er plötz lich ab? Er in ner te er

sich, un ter welch merk wür di gen Um stän den Fre de -

rick das letz te Geld von ihm er hal ten? Es wa ren au -

ßer ge wöhn li che Um stän de und sein Sohn be fand

sich in au ßer ge wöhn li cher Er regt heit! . . . . . Al les

dies flog ihm jetzt durch den Sinn und da er sich

selbst nicht völ lig von sei nes Soh nes Un schuld über -

zeu gen konn te, ver such te er in sei ner Ge rad heit

auch nicht, ei nen An de ren über zeu gen zu wol len.

»Das Mäd chen hat ihn rui niert, Sweet wa ter«,

fuhr er fort.« Er liebt sie, glaubt ihr aber nicht —

und wer könn te dies, nach dem, was sie uns ge stern

sag te? Ich glau be, er hat sie seit je ner unglück -

lichen Nacht im Ver dacht und das hat ihm das Herz

ge bro chen und nicht — nicht — —«

Wie der hielt er inne und wie der fa ß te er sich

schnell.

»Las sen Sie mich al lein!« rief er. Al les, was Sie ge -

se hen, habe ich auch be merkt, nur sind un se re Fol -

ge run gen gänz lich ver schie de ne. Ich wer de von

nun an über mei nen Sohn wa chen und Sie kön nen

mei ner Wach sam keit ver trau en«.

Sweet wa ter ver beug te sich.

»Ihr Wunsch ist mir Be fehl. Ich habe nicht ver -

ges sen, daß ich Ih nen mein Le ben dan ke, wenn Sie

sich des sen auch viel leicht nicht mehr er in nern. Es

war vor Jah ren, drau ßen am »schwar zen Teich« —

er in nern Sie sich jetzt? — ich sank eben zum drit -

ten Male, wäh rend mei ne Mut ter hil fer ufend am

Ufer stand; da spran gen Sie ins Was ser und — —. Sol -

che Din ge ver gißt man nicht und, wie ich vor hin

schon sag te, Sie ha ben nur zu wün schen — — — —«

Er wand te sich zum Ge hen, kehr te in des schnell

wie der um und fuhr mit zit tern der Stim me fort:

»Mr. Sut her land, ich kann schwei gen, schwei gen

wie das Grab. So wie ich Ih rer Wach sam keit ver -

traue, kön nen Sie mei ner Dis kre tion ver trau en.

Nur das Eine müs sen Sie mir ver spre chen: war nen

Sie Ih ren Sohn nicht!«

Mr. Sut her land mach te eine un wil li ge Be we -

gung und Sweet wa ter ging, dies mal ohne wie der zu -

keh ren.

Mr. Sut her land stand nach denk lich vor Mr. Hal -

li days Türe. Was hat te Sweet wa ter da mit sa gen wol -

len: »er wer de schwei gen und mit Nie mand über

das Ge se he ne spre chen?« Wenn dem so war, wes -

halb soll te er selbst — — — —. Doch nein, er hat te

eine Pflicht zu er fül len und da gab es kein Zö gern!

Mit fe stem Schrit te ging er vor an, öff ne te die Türe

und trat ein. Da Nie mand sich in der Hal le be fand

und die Sa lon tü re of fen stand, ging er da hin; er be -

durf te kei ner An mel dung im Halliday’schen Hau se.

Was er hier sah, ver gaß er im Le ben nim mer!

Ag nes, sei ne klei ne Ag nes, die er stets lieb ge -

habt und die er sich im mer zur Schwie ger toch ter

ge wünscht, saß ihm zu ge wandt und schau te zu Fre -

de rick auf, der vor ihr stand. Er mu ß te eben zu ihr

ge spro chen oder ihr et was ge ge ben ha ben, denn sie

schau te ihn an, mit Blic ken voll Dank und Zu nei -

gung, wie der alte Mann es oft ge wünscht, aber nie

zu se hen ge hofft hat te. Was soll te das be deu ten?

Wes halb zeig te sie jetzt In ter es se, Zu nei gung, ja

fast Lei den schaft, jetzt, da er so ge sun ken, und für

ihn, den sie im mer ver spot tet, ja ge ra de zu von sich

ge wie sen hat te!

Im näch sten Augen blic ke er hob sich Ag nes und

die Bei den stan den Mr. Sut her land ge gen über.

»Gu ten Abend, Ag nes«, sag te Mr. Sut her land

und ver such te ei nen leich ten Ton an zu schla gen.

»Ah, Fre de rick, fin de ich Dich hier?«

Fre de rick lä chel te; er schien er leich tert, fast

glück lich.

»Ich woll te eben ge hen«, er wi der te er. »Ich hat -

te Miß Hal li day nur et was zu sa gen«.

Frü her hat te er im mer Ag nes zu ihr ge sagt.

Mr. Sut her land, der sich noch nicht ganz von

dem Ein druck er holt hat te, den Agnes’ Aus se hen

vor hin auf ihn ge macht, sag te dar auf:

»Und ich habe Dir et was zu sa gen, Fre de rick. Er -

war te mich drau ßen auf der Ve ran da, bit te; ich will

nur ei ni ge Wor te mit mei ner klei nen Freun din hier

spre chen«.

Ag nes leg te et was, das sie in der Hand ge hal ten,

in ei nen Ka sten, der ne ben ihr auf dem Ti sche stand

und wand te sich dann dem al tem Man ne zu, er rö -

tend und ver wirrt.

Mr. Sut her land war te te, bis Fre de rick das Zim -

mer ver las sen hat te. Dann nahm er Ag nes bei Sei te,

hob ihr Ge sicht zu sich em por, so daß sie sei nen

trau ri gen, for schen den Blick se hen mu ß te und frag -

te in ei nem Tone, der scherz haft klin gen soll te,

aber so bit ter, so schmerz lich bit ter klang:

»Weißt Du, wie we ni ge Tage ver flos sen sind,

daß der unglück liche Jun ge sei ne Lie be ei nem jun -

gen Mäd chen ge stand, de ren Na men ich in Dei ner

Ge gen wart nicht über mei ne Lip pen brin gen

kann?«

Die Ab sicht war gut, der Er folg je doch erschrek -

kend. Sie trat ei nen Schritt zu rück, ließ ih ren Kopf

sin ken und ein Schmer zens laut ent rang sich ih ren

Lip pen.

Er merk te, daß er ei nen Irr tum be gan gen und

sag te:

»Nicht doch, Ag nes. Ich wu ß te nicht, daß es Dir

so weh tun wür de, dies zu hö ren. Du schienst im -

mer so gleich gil tig, so hart ge gen mei nen irre ge lei -

te ten Sohn, und Du ta test recht dar an, denn —

denn — —«.

Was konn te er sa gen, wie nur ei nen Teil des sen

aus drüc ken, was sein ge quäl tes Herz emp fand? Er

konn te, ver moch te es nicht über sei ne Lip pen zu

brin gen und so en de te er in un be hol fe nem Stam -

meln.

Ag nes, die ih ren vä ter li chen Freund, der ihr

stets das Ideal ei nes Eh ren man nes ge we sen, nie so

be wegt ge se hen, emp fand tie fe Reue, daß sie es ge -

we sen sein soll te, die ihm Schmerz be rei te te.

»Glau ben Sie«, flü ster te sie, »daß ich ei ner sol -

chen War nung be durf te, ich, die Fre de rick nie mit

den Auf merk sam kei ten beehr te, die er auf die jun -

ge Dame häuf te, de ren Na men aus zu spre chen Ih -

nen wi der strebt? Ich glau be, Sie ken nen mich

nicht, Mr. Sut her land, trotz dem Sie mich auf den

Knien ge schau kelt und ich Ih ren Bart zer zaust,

wenn Sie mir nicht vol le Auf merk sam keit schenk -

ten«.

»Es scheint mir auch, als ob ich Dich nicht ken -

ne«, sag te er bit ter. »Ich schei ne über haupt Nie -

man den mehr zu ken nen — nicht ein mal mei nen ei -

ge nen Sohn — — — —«

Er hat te er war tet, daß sie zu ihm auf schau en

wer de, doch sie tat es nicht.

»Wür de mein klei nes Mäd chen mich für sehr

neu gie rig und . . . . un ver schämt hal ten, wenn ich

sie frag te, was mein Sohn Fre de rick ihr sag te, be vor

ich ins Zim mer trat?«

Sie schau te ihm jetzt frei ins Ge sicht und er wi -

der te:

»Fre de rick be fin det sich in ei ner unan ge neh -

men, schwie ri gen Lage, Mr. Sut her land; er emp -

fand, daß er ei nen Freund be nö tig te, auf den er sich

ver las sen kann und bat mich, ihm die ser Freund zu

sein. Au ßer dem brach te er mir ein Bün del Brie fe,

die ich für ihn auf be wah ren sol le. Ich nahm sie an,

Mr. Sut her land, und wer de sie ver wah ren, wie er es

wünsch te und kei nes Men schen Au gen sol len sie se -

hen, nicht ein mal die mei nen«.

Ah, wes halb hat te er sie ge fragt! Er woll te von

die sen Brie fen nichts wis sen! Er woll te nicht wis -

sen, daß Fre de rick et was be saß, das er sich fürch te -

te, in sei nem Be sitz zu ha ben . . . . . .

»Es war Un recht von mei nem Soh ne«, sag te er,

»Dei ner Für sor ge et was an zu ver trau en, das er sich

nicht ge traut, in sei nem ei ge nen Hau se zu be wah -

ren. Ich glau be, ich soll te die se Brie fe se hen, denn

wenn mein Sohn sich in Schwie rig kei ten be fin det,

wie Du sag test, soll te ich, sein Va ter, die se ken -

nen«.

»Ich bin des sen nicht so ge wiß,« ent geg ne te sie

lä chelnd. »Sei ne Schwie rig kei ten sind viel leicht an -

de rer Na tur, als Sie den ken. Fre de rick führ te ein Le -

ben, das er jetzt tief be dau ert. Ich glau be, sein grö ß -

ter Kum mer ist der, daß er die Men schen nicht glau -

ben ma chen kann, daß er sich än dern will«.

»Will er sich än dern?«

Sie er rö te te.

»Er sagt so, Mr. Sut her land, und ich, für mein

Teil, glau be ihm. Be mer ken Sie nicht, daß er ganz

an ders aus sieht, als frü her?«

Ob er es be merkt hat te! Doch er hat te es an dern

Mo ti ven zu ge schrie ben. Um in des zu se hen, was

die ses Mäd chen dar über dach te, frag te er:

»Es ist wahr, er ist ver än dert, gänz lich ver än -

dert. Was brach te die se Ver än de rung? Wel chem

Ein fluß schreibst Du sie zu, Ag nes?«

Wie ge spannt er auf ihre Ant wort war te te! Ob

sie wohl ahn te, wel che Zwei fel ihm seit letz ter

Nacht die Brust zer ris sen? Of fen bar nicht.

»Wenn ich zö ge re, eine An sicht aus zu spre -

chen«, ent geg ne te sie lang sam, »so liegt dies nicht

dar an, daß ich an Fre de rick zweif le. Ich glau be viel -

mehr, daß Miß Page — Sie se hen, ich kann den Na -

men aus spre chen, wenn Sie es auch nicht kön -

nen — sich sei ner so un wert ge zeigt hat, daß die Er -

kennt nis sei nes Irr tums ihn der art er schüt ter te,

daß sei ne ei ge nen Feh ler ihm deut lich zum Be wußt -

sein ka men. Eine an de re Er klä rung ver mag ich

nicht zu ge ben. Sie etwa?«

Die se di rek te Fra ge, ob wohl sie von zar ten Lip -

pen und un schul di gen Her zens ge stellt war,

krampf te ihm das Herz zu sam men. Er schau te

ängst lich nach der Türe und er wi der te dann mit ge -

zwun ge ner Ruhe:

»Wenn Du, die sei nem Al ter nä her steht, als ich

und — wie ich hof fe — sei nem Emp fin den, sei ner

wah ren Ge füh le nicht si cher bist, wie soll te ich es

sein, sein Va ter, der sein Ver trau en nie be ses sen?«

»Oh«, rief sie und streck te ihm bei de Hän de ent -

ge gen »und solch ein gu ter Va ter! Ei nes Ta ges wird

er dies eben so ein se hen wie alle An dern es schon

ein se hen; glau ben sie das, Mr. Sut her land, glau ben

Sie das!«

Und, fast be schämt, daß sie so tie fes In ter es se

für ei nen Mann zei ge, der zu ge stan de ner ma ßen

eine An de re lieb te, schau te sie dem vä ter li chen

Freund er rö tend in die Au gen und setz te ernst hin -

zu: »Ich ver traue auf sein gu tes Herz«.

»Woll te Gott, ich könn te das auch!« ent geg ne te

er und ehe sie sich von dem Ein druck die ser Wor te

er ho len konn te, hat te er das Zim mer ver las sen.

Ag nes be gab sich in ihr Zim mer. Sie schritt auf -

ge regt hin und her. Sie konn te kei nen Schlaf fin -

den; Mr. Sut her lands Wor te klan gen ihr im mer

noch in den Oh ren.

»Kann es wahr sein?« frag te sie sich. »Be durf te

ich die ser War nung, ich, die die sen Mann im mer ha -

ß te und die ich dach te, es sei die ser Haß, der mich

seit dem gest ri gen Schei den an nichts An de res als

an ihn den ken ließ? Weh mir, wenn dem so wäre?«

Und drau ßen, die stil le Nacht, die blin ken den

Ster ne und das zit tern de Mond licht flü ster ten und

raun ten:

»Weh Dir, Ag nes, wenn dem so wäre!«

XX.

Eine Ue ber ra schung für Mr. Sut her land.

Schwei gend wa ren Va ter und Sohn nach Hau se

ge gan gen und sa ßen sich nun in des Er ste ren

Ar beits zim mer ge gen über. Ver ge bens war te te Mr.

Sut her land, daß Fre de rick das un heim li che Schwei -

gen bre che und ihm frei wil lig das er zäh le, was er

ihn nicht zu fra gen wag te. Doch da die ser be harr -

lich schwieg, be gann Mr. Sut her land, ernst, aus tief

ge quäl tem Her zen:

»Was ent hal ten die Pa pie re, die Du Ag nes Hal li -

day zum Ver wah ren ge ge ben? Konn ten sie nicht si -

che rer und dis kre ter in Dei nem ei ge nen Heim ver -

wahrt wer den?«

Fre de rick fuhr zu sam men; er hat te nicht er war -

tet, daß sein Va ter jene Pa pie re be merkt habe.

Doch er fa ß te sich schnell und er wi der te:

»Es wa ren Brie fe, alte Brie fe, die ich si che rer au -

ßer dem Hau se auf ge ho ben glau be, als in ihm. Ich

woll te sie nicht zer stö ren und gab sie da her der ver -

trau ens wür dig sten Per son, die ich ken ne. Ich hof -

fe, Du ver langst nicht, die se Brie fe zu se hen. Sie

sind nicht für Dei ne Au gen be rech net und ich wür -

de eher Dei nen Zorn er tra gen, als die se Brie fe auf ir -

gend eine Art be kannt wis sen«.

Er sprach voll Ernst und ohne Furcht.

»Wann wa ren die se Brie fe ge schrie ben?« frag te

der Va ter. »In letz ter Zeit oder ehe — — —. Du sagst,

sie sei en alt. Wie alt?«

Fre de rick at me te er leich tert auf.

»Ei ni ge der sel ben wur den vor Jah ren ge schrie -

ben, in der Tat die mei sten. Sie sind streng per sön li -

cher Na tur — — von der Art, wie fast je der Mann

wel che be sitzt. Ich woll te, ich hät te sie ver nich ten

kön nen! Du läßt sie in Ag nes Hän den, nicht wahr?«

»Du er staunst mich!« ent geg ne te Mr. Sut her -

land, froh, daß die se Brie fe we nig stens nichts mit

den Ge dan ken zu tun hat ten, die ihn so er reg ten.

»Ein jun ges Mäd chen, das Du vor ei ner Wo che

kaum be ach te test, machst Du zum Hü ter von Brie -

fen, die Du selbst dem Va ter vor ent hältst!«

»Ich weiß es« war Fre de ricks ein zi ge Ant wort.

»Dei ne Ge heim nis se, falls Du sol che hast, wür -

dest Du bes ser Dei nem Va ter an ver trau en. Du hast

kei nen bes se ren Freund — — —«

Er schwieg. Sei ne Ge füh le hat ten ihn über kom -

men. Wie, wenn Fre de rick wirk lich das Ver bre chen

be gan gen hät te — — —. Und er soll te sein Mit wis ser

sein! — — — Lie ber woll te er nichts wis sen! . . . . . Ner -

vös spiel te er mit den Pa pie ren, die auf sei nem

Schreib ti sche la gen, nahm ein gro ßes Ku vert zur

Hand, öff ne te es me cha nisch, zog ein Do ku ment

her aus und las es.

»Ich weiß«, sag te Fre de rick, »daß ich kei nen bes -

se ren Freund habe. Du warst im mer zu gut ge gen

mich, zu nach sich tig . . . . . Was ist Dir, Va ter? Du

bist plötz lich so blaß ge wor den! Bist Du krank? Was

steht in dem Do ku ment?«

Mr. Sut her land rich te te sich auf. Er schau te Fre -

de rick durch drin gend an, tie fer als er dies je ge tan,

nahm das Do ku ment in die Hand, leg te die se auf

den Rüc ken und frag te:

»Als Du neu lich Geld von mir borg test, sprachst

Du, wie ein Mann, des es zurück zuzahlen er war tet.

Wes halb? Wo her hoff test Du Geld zu er hal ten, mit

dem Du die Schuld ab tra gen konn test? Ant wor te

Fre de rick! Jetzt ist die Stun de zur Beich te ge kom -

men!«

Fre de rick ward so bleich, daß sein Va ter mit lei -

dig die Au gen senk te.

»Beich ten?« frag te Fre de rick, »was soll ich

beich ten? Etwa mei ne Sün den? De ren sind zu vie le!

Was das Geld be trifft, so hoff te ich, es Dir zurück -

zuzahlen, wie je der Sohn hofft, sei nem Va ter das

Geld zurück zuzahlen, das ihm zur Zah lung von

Spiel schul den ge lie hen wird. Ich sag te, ich woll te

ar bei ten. Das er ste Geld, das ich ver dien te, be ab -

sich tig te ich, Dir zu ge ben. Ich — — —«

»Nun?« Der Va ter hat te das Do ku ment, das er

vor hin ge le sen, vor ihm aus ge brei tet. »Hast Du

etwa dies er war tet? Hast Du nicht ge wußt, daß die

arme Frau, die so elend er mor det ward, de ren Tod

die gan ze Stadt be trau ert, Dich zum Er ben ein setz -

te? Hast Du nicht ge wußt, daß nach den Be stim -

mun gen die ses Do ku men tes, das ich eben zum er -

sten Male sehe, ich zum Testa ments voll strec ker

und Du zum al lei ni gen Er ben ih res mehr als hun -

dert tau send Dol lars be tra gen den Ver mö gens er -

nannt bist?

»Nein!« schrie Fre de rick, das Do ku ment an star -

rend, mit Blic ken, aus de nen eher Schrec ken als Ue -

ber ra schung zu le sen war. »Hat sie das wirk lich ge -

tan? Wes halb? Ich kann te sie ja kaum«.

»Nein, Du kann test sie kaum und sie, sie kann te

kaum Dich. Fre de rick, ich wür de Dich lie ber tot vor

mir se hen, als der Erbe des hart er wor be nen Ver mö -

gens von Phi le mon und Agat ha Webb!«

»Du hast recht, es wäre bes ser«, mur mel te Fre -

de rick, der kaum wu ß te, was er sag te. »Wes halb

soll te sie mir ihr Ver mö gen hin ter las sen?« frag te er

wie der. »Was war ich ihr, daß sie mir all das Geld ge -

ben soll te?«

Des Va ters Fin ger zit ter ten, als sie an eine Stel le

des Te sta ments ka men, die nä he ren Auf schluß zu

ge ben schien. Fre de rick be merk te dies nicht; er

dach te im mer noch über eine Ant wort auf des Va -

ters vor he ri ger Fra ge nach.

»Wann wuß test Du um das Te sta ment?« wie der -

hol te Mr. Sut her land. Ich bin ge wiß, Du wuß test da -

von, ehe Du das Geld von mir ver lang test!«

Fre de rick rich te te sich auf und schau te sei nem

Va ter fest in die Au gen.

»Nein«, sag te er, »ich wu ß te nichts von die sem

Te sta ment! Es über rascht mich eben so sehr, als

Dich!«

Er log! Mr. Sut her land wu ß te, daß er log und Fre -

de rick emp fand, daß sein Va ter es wu ß te. Ein Schat -

ten leg te sich zwi schen Va ter und Sohn, den der Er -

ste re, ein ge denk der Wor te, die Sweet wa ter ihm zu -

ge flü stert, nicht zu lüf ten ver such te.

Nach ei ni gen Mi nu ten, in de nen Fre de rick sei -

nen Va ter um Jah re al tern sah, sag te Mr. Sut her -

land kalt:

»Dr. Tal bot muß von die sem Te sta ment er fah -

ren. Es ward mir heu te von ei nem An walt in Bo ston

zu ge sandt, der es vor zwei Jah ren auf setz te. Der Un -

ter su chungs rich ter hat viel leicht noch nichts da -

von ge hört. Willst Du mich mor gen da hin be glei -

ten? Ich will ihm zei gen, daß wir ganz of fen mit

ihm sind in die ser unglück lichen Af fä re.«

»Ge wiß be glei te ich Dich«, ent geg ne te Fre de -

rick und da er merk te, daß sein Va ter we der fä hig

war, mehr zu sa gen, noch et was wei te res zu hö ren

wünsch te, ver beug te er sich, wie ge gen ei nen Frem -

den und zog sich still zu rück. Doch kaum hat te er

die Türe ge schlos sen, da kam ihm des Va ters ver än -

der tes We sen zum Be wußt sein und in An wal lung in -

ni ge ren Füh lens leg te er sei ne Hand auf die Klin ke,

um ins Zim mer zu rück zu ge hen. Er trat in des nicht

ein. Am Ende der Hal le hielt er noch mals inne und

schau te sehn süch tig nach der Türe, da hin ter sein

Va ter weil te — — — dann ging er nach sei nem Zim -

mer.

Als er die Schwel le über schritt, sag te er halb laut

vor sich hin:

»Jetzt kannst Du mich ver nich ten, Ama bel! Ein

Wort und ich bin ver lo ren!«

II. Teil.Der Mann ohne Re pu ta tion.

XXI.

Sweet wa ter über legt.

Als Sweet wa ter Mr. Sut her land ver las sen,

schloß er sich in sein Zim mer ein, mit Ge füh -

len, die Nie mand be grei fen, er selbst nicht ver ste -

hen konn te. Und doch wa ren sie nur der na tür li che

Aus fluß tief in ner sten Emp fin dens: er lieb te Mr. Sut -

her land, lieb te ihn mit je der Fa ser sei nes Her zens!

Und des sen Sohn soll te er als Mör der an kla gen?

Denn daß die ser ak ti ven An teil an dem Ver bre chen

hat te, stand bei ihm nun mehr au ßer Zwei fel. In der

See len qual, mit der sich Fre de rick über das fri sche

Grab ge wor fen, konn te er des sen gan ze Schuld so

klar le sen, als sei sie mit feu ri gen Buch sta ben am

dun keln Him mel ge schrie ben. Sol che Qua len, un ter

sol chen Um stän den und von ei nem sol chen Man ne,

lie ßen nur eine Deu tung zu: Reue! Und Reue in der

Brust ei nes so ge fühl lo sen und ver derb ten Men -

schen über den Tod ei ner Frau, die ihm we der

Freun din noch Ver wand te ge we sen, ließ nur auf ei -

nes schlie ßen: Schuld! Eine an de re Deu tung gab es

nicht. Hät te man ihm eine an de re ge zeigt, wie ger -

ne hät te er sie er grif fen! Er woll te Fre de rick un -

schul dig se hen! Er hät te selbst sein Le ben dar um ge -

ge ben, ihn nicht schul dig fin den zu kön nen! Nicht

aus In ter es se oder Freund schaft für Fre de rick, son -

dern weil er Char les Sut her lands Sohn war und der

Mit tel punkt al les Hof fens und Glüc kes die ses ed len

Man nes. Doch er fand lei der nichts, was ihn be ru hi -

gen konn te.

Wenn er Ama bels Aus sa gen Glau ben schenk te —

et was, das er ge stern nicht ge tan, das er jetzt aber

mu ß te, soll te er sich nicht selbst täu schen wol len —

und die Tat sa chen, die er in sei ner Rol le als De tek -

tiv er grün de te, da mit ver glich, mu ß te er sich ge ste -

hen, daß bei de un be dingt zu sam men hin gen und

Fre de ricks Schuld be wie sen.

Wel ches wa ren sei ne Grün de ge we sen, Ama bel

ei nes Ver bre chens zu zei hen, an dem sie, wie sie

selbst ge stand, teil wei se Zeu gin ge we sen?

1. Die un glaub wür di ge Er klä rung der Mo ti ve,

wes halb sie um Mit ter nacht, in Ball kleid und Tanz -

schu hen, den Saal ver las sen und die Stra ßen durch -

lief. Eine so ge fühl lo se jun ge Dame, wie sie, kann

wohl das Elend der Za bels als Aus re de vor schüt zen,

aber nie mals als Mo tiv gel tend ma chen.

2. Die glei cher wei se un glaub li che Er klä rung,

wes halb sie von dem be ab sich tig ten Gan ge Ab stand

ge nom men und ei nem frem den Man ne in ein Haus

folgte, an dem sie kei ner lei per sön li ches In ter es se

hat te und aus dem sie eben ei nen blu ti gen Dolch

hat te wer fen se hen. Selbst die ab ge här tet ste Dame

wäre da vor zurück geschreckt und hät te sich von ih -

rer Neu gier de nie so weit trei ben las sen!

3. Die arm se li ge Aus re de, daß sie — nach dem sie

so weit ge gan gen, den Schul di gen zu se hen — bei

des sen Her an na hen den Kopf nicht ge ho ben habe,

um ihre Neu gier de zu stil len.

4. Ihre an geb li che Un wis sen heit, wie die Or chi -

dee aus ih rem Haar in Bat sys Zim mer ge kom men.

5. Ihr Ver such, die Schuld an dem Ver bre chen

auf ei nen al ten schwa chen Mann zu wäl zen, der of -

fen bar un fä hig war, sol ches zu be ge hen.

6. Die Un wahr schein lich keit, daß die ser alte

Mann das Geld nicht hin ter sei nem ei ge nen Hau se

ver steck te, son dern den wei ten Weg bis zu Sut her -

lands Haus zurück legte und es dort ver barg.

7. Die zu durch sich ti ge Aus re de, sie habe Sym pa -

thie mit dem al ten Man ne emp fun den und ihn vor

den Fol gen sei nes Ver bre chens be wah ren wol len,

die se Aus re de, die sie als Ent schul di gung da für er -

brach te, daß sie selbst das Geld tie fer ver grub. Sol -

ches konn te viel leicht ein lei den schaft lich lie ben -

des Weib tun oder eine zu gut her zi ge Dame, aber

nicht sie, bei der nichts ohne per sön li ches In ter es -

se oder ei gen süch ti ge Ab sicht ge schieht.

8. Die schwa che Ent schul di gung da für, daß sie

an Za bels Haus ein Loch in die Ja lou sie ge bohrt, um

ins Zim mer schau en zu kön nen. Selbst weib li che

Neu gier de hat ihre Gren zen. Ent we der hoff te sie,

mehr zu se hen, als ihre Wor te an deu te ten, oder ihre

Hand lung war nur der Vor läu fer ih res Ein trit tes in

das Zim mer, in dem die Zwan zig-Dol lar-Note

zurück gelassen wor den war.

Al les dies reih te sich zu ei ner schwe ren Ket te

von Schuld be wei sen. Die sen in des stan den wie der

an de re Tat sa chen ge gen über, die an ih rer Schuld

zwei feln lie ßen, selbst ehe es klar ge wor den, daß

sie Fre de rick — als dem un be kann ten Man ne — ge -

folgt war. Und zwar:

a. Hat te sie das Ver bre chen be gan gen, dann war

es mit Vor be dacht ge sche hen und das Ver las sen

des Balles be ab sich tigt ge we sen. Die Tat sa che je -

doch, daß sie in Ball schu hen und Ball kleid ging, wi -

der spricht dem; eine solch kalt blü ti ge und über le -

gen de Na tur hät te dies nicht ge tan.

b. Schuld er weckt Schlau heit, selbst bei den

Dümm sten. Sie aber, die ver schla ge ner ist, als vie le

Män ner und die selbst durch stun den lan ge Kreuz-

und Quer fra gen nicht aus der Fas sung zu brin gen

war, hat die se Ball schu he an ei nen Platz ge legt, wo

sie selbst bei ober fläch li cher Un ter su chung leicht

ge fun den wer den konn ten. Hät te sie sich schul dig

ge wußt, sie hät te die se blut be fleck ten Ball schu he

zu ver nich ten ver sucht und sie nicht hin ter ein Bild

ver steckt und gänz lich dar an ver ges sen.

c. Wäre sie so nach läs sig mit ei ner Blu me um ge -

gan gen, de ren An we sen heit sie ver ra ten mu ß te?

Eine Frau, die solch Ver bre chen plant, hät te die se

Blu me nicht über se hen! Auf der an dern Sei te: hät te

sie selbst die Blu me an je nen Platz ge bracht, hät te

sie auf Be fra gen si cher eine Ent schul di gung vor zu -

brin gen ver sucht und nicht ge ant wor tet: »Das müs -

sen Sie er klä ren, mei ne Her ren; ich kann nur ver si -

chern, daß ich die Blu me nicht in je nes Zim mer

brach te«.

d. Hät te sie die Schuld von sich ab und auf James

Za bel wäl zen wol len, hät te sie den Mann, der das

Geld im Wald ver grub, nicht als Schat ten be zeich -

net, dem sie von wei tem folgte, son dern hät te ihn

als den al ten, schwa chen Mann be schrie ben, der

kurz zu vor in das Za bel sche Haus ge tre ten war. Auf

eine Lüge mehr oder we ni ger wäre es ihr si cher

nicht an ge kom men, hät te sie da durch ihr Ziel er rei -

chen kön nen.

e. Ihr Be neh men wäh rend der Un ter su chung

war nicht das ei ner Per son, die sich wirk lich schul -

dig fühlt. Sie war al len ein Rät sel ge we sen, mit ih -

ren her aus for dern den, zwei deu ti gen Er klä run gen,

die noch my ster iö ser und zwei fel haf ter wur den, als

Fre de rick sich dem Krei se der vier Män ner an ge -

schlos sen hat te.

Las sen wir nun al len Ver dacht bei Sei te, als sei

sie die wirk lich Schul di ge, neh men wir an, Fre de -

rick sei der Mör der und sie nur die Heh le rin und se -

hen wir, wie alle Wi der sprü che wei chen und wie na -

tür lich sich ihr gan zes Be neh men er klärt.

Ama bel ver ließ um Mit ter nacht den Ball und

ging in Ball kleid und Ball schu hen in den Gar ten.

Wes halb? Nicht, um ei nem Hung ri gen Nah rung zu

brin gen — et was, das ih rer kal ten Na tur, ih rem Cha -

rak ter und ih rem Füh len so gänz lich fer ne lag —

son dern um zu se hen, ob ihr Ge lieb ter, des sen Cha -

rak ter, Schwie rig kei ten und be dräng te Lage sie gut

kann te, wirk lich den Ent schluß aus führ te, den er

ge faßt und nach dem Hau se gehe, das — wie das Sut -

her land sche — selbst bei Nacht of fen stand, um das

Geld zu ho len, wel ches sie dor ten wu ß ten.

Sie folgte zu je ner Stun de und nach sol chem

Plat ze nicht ei nem Frem den, dem sie zu fäl lig be geg -

ne te, son dern ih rem Ge lieb ten, dem sie im Gar ten

sei nes Va ters Haus auf ge lau ert. Es be durf te al ler -

dings Mut, dies aus zu füh ren. Doch ihr Schick sal

war mit dem sei nen zu eng ver knüpft und sie woll te

den Mann, den sie lieb te, vor den Fol gen des Ver bre -

chens ret ten, wenn nicht vor dem Ver bre chen

selbst. Und was die viel be spro che ne Blu me be trifft:

was war na tür li cher, als daß sie im Lau fe des

Abends die Blu me vom Kop fe nahm und sie Fre de -

rick ins Knopf loch steck te, von wo sie dann spä -

ter — viel leicht im Rin gen mit Bat sy — zu Bo den

fiel? Und wie na tür lich klingt dann ihre Er klä rung,

sie habe den Kopf nicht er ho ben, als der Mann, den

sie in Mr. Webbs Haus ge hen sah und den sie sehr

gut kann te, die Trep pe her ab kam. Sie woll te ih ren

Ge lieb ten nicht mit blut be fleck ten Hän den se hen,

fürch te te sich viel leicht, ihm ge ra de in je nem

Augen blic ke ge gen über zu tre ten, denn gar leicht

hät te er sie selbst ver nich ten kön nen — aus ge nom -

men, sie war sei ne Mit hel fe rin, und dar an glaub te

Sweet wa ter nicht.

Auch ihr Gang nach dem Za bel schen Hau se,

nach ei nem Ge scheh nis, das den mei sten Frau en

die Be sin nung ge raubt hät te, war jetzt zu ver ste -

hen. Sie folgte wie der um ih rem Ge lieb ten. Der

Plan, den Ver dacht des Mor des auf Agat has al ten

Freund zu wäl zen, ging von Fre de rick aus und nicht

von Ama bel. Er ging zu erst nach Za bels Haus, sie

folgte nur. Er ließ das Geld dor ten. Das war Sweet -

wa ter nun al les klar und selbst die Tat sa che, daß

der Dolch in Za bels Haus ge fun den ward, ver wirr te

ihn nicht mehr. Der Dolch, den der Mör der aus dem

Fen ster ge schleu dert, viel leicht weil er um Za bels

Be such wu ß te, war von Ama bel auf ge ho ben und an

eine lich te Stel le im Gar ten ge wor fen wor den. Dort

lag er, als ei ni ge Mi nu ten dar auf, noch ehe Fre de -

rick oder Ama bel das Haus ver las sen hat ten, der

alte Mann in ei nem höchst er reg ten Zu stand den

Gar ten be trat. Er und sein Bru der wa ren dem Ver -

hun gern nahe, hat ten viel leicht ta ge lang nichts zu

es sen ge habt. Er war zu stolz, für sich selbst et was

zu ver lan gen und zu loy al ge gen sei nen Bru der, um

ihn ei ner fest li chen Mahl zeit we gen zu ver las sen,

die in Agat has Haus für bei de be rei tet wor den war.

Erst in spä ter Stun de, als sein ei ge ner Hun ger ihn

trieb oder viel leicht die Hoff nung, des Bru ders Le -

ben zu ret ten, mach te er sich nach dem Hau se auf,

das ihm stets in gast freund lich ster Wei se of fen ge -

stan den. Er fand Licht im Hau se, hielt dies zu sei -

nem Will komm er leuch tet und ging, un kun dig der

grau sen Tat, die eben dort be gan gen wor den war,

durchs Tor. Halb wegs im Gar ten hält er an. »Was

wird Agat ha den ken?« fragt er sich. Ver zwei felt

schlägt er die Hän de vors Ge sicht und läßt be -

schämt den Kopf sin ken. Da sieht er den Dolch, sei -

nen Dolch. Er denkt nicht dar über nach, wie er da -

hin ge kom men, er sieht in ihm nur ei nen Aus weg

aus die sem elen den Jam mer tal, hält den Tod für eh -

ren vol ler, als solch ein Le ben und stürzt da von, wo -

bei er fast Pa stor Cra ne um rann te, der eben am

Tore vor über ging.

Kur ze Zeit dar auf fin det Ama bel ihn auf der

Trep pe sei nes Hau ses; er hat te ver sucht, ins Haus

zu ge hen, doch er schöpft von dem lan gen Wege

und der Auf re gung der letz ten Stun de, sank er er -

mat tet nie der. Wäh rend sie da steht, hat er sich et -

was er holt und er hebt sich. Sie sieht mit Ent set zen

den Dolch, den sie selbst kurz zu vor in der Hand ge -

hal ten und fürch tend, daß der alte Mann und ihr Ge -

lieb ter dort im Hau se auf ein an der sto ßen könn ten,

geht sie ei ligst ums Haus her um, bohrt eine Oeff -

nung in die Ja lou sie und schaut ins Zim mer. Was

hat te sie dort zu se hen er war tet? Fre de rick, An ge -

sicht zu An ge sicht mit dem ver zwei fel ten al ten

Man ne! Doch statt des sen sieht sie ei nen an dern al -

ten Mann, an ei nem Ti sche sit zend und — — —

Ama bel hat te inne ge hal ten, als sie an die ses

»und« ge kom men war. Da mals hat te Sweet wa ter

die Stoc kung nicht ver stan den; doch jetzt be griff er

al les! Jetzt wu ß te er, daß, wenn sie die Wahr heit

hät te sa gen wol len, an statt den Ver bre cher durch

fal sche In si nua tio nen zu schüt zen, sie hät te fort fah -

ren müs sen: »— — und Fre de rick Sut her land über

ihn ge beugt«. Denn daß Fre de rick zu je ner Zeit im

Zim mer war, stand bei Sweet wa ter fest. Ob sie fer -

ner die bei den Män ner zu sam men tref fen ge se hen

oder ob Fre de rick, durch ein Ge räusch ver an laßt,

un be merkt das Haus ver las sen, ist von ne ben säch li -

cher Be deu tung. Von Wich tig keit ist die Tat sa che,

daß er das Haus ver ließ und daß Ama bel, die wohl

wu ß te, daß die ser Mann Fre de rick war, die Un ter su -

chungs-Kom mis sion glau ben ma chen woll te, es

wäre der alte Za bel ge we sen, der das Geld ver gra -

ben. Wenn Sweet wa ter in des eif ri ger nach dach te,

mu ß te er sich ge ste hen, daß sie das ei gent lich

nicht be haup tet habe und daß im mer hin die An nah -

me of fen blieb, es sei Fre de rick ge we sen, dem sie

folgte und nicht ein al ter Mann, der dem Gra be nä -

her war, als dem Le ben.

Nun war auch Ama bels Aus sa ge er klär lich, wes -

halb sie das Geld tie fer ver gra ben habe. Sie woll te

ih ren Ge lieb ten nicht nur vor dem so for ti gen Ge -

brauch des Gel des be wah ren, son dern hoff te auch,

die se gro ße Sum me einst mit ihm zu tei len.

Es war jetzt auch ganz na tür lich, daß sie nicht

über rascht oder gar er schreckt schien, als der Ruf

»Mör der« durch die stil le Nacht klang; eben so na -

tür lich war es, daß eine jun ge Dame, die so herz los

je dem Zuge die ses teuf li schen Ver bre chens folgte,

die Stät te des Ver bre chens wie der um be trat und,

in der Ab sicht, die Schuld auf den Ei gen tü mer des

Dol ches zu wäl zen, auf die Stel le auf merk sam mach -

te, wo hin der Dolch ge fal len war. Jetzt ver stand er

auch ihr Be neh men vor dem Un ter su chungs rich -

ter. Aus all ih ren bi zar ren und oft un glaub li chen Er -

klä run gen konn te man doch ei nen ro ten Fa den ent -

dec ken, der der Wahr heit sehr nahe kam; nur woll -

te sie eben den Mann schüt zen, den sie mit ei nem

ein zi gen Wor te ver nich ten konn te. Sie spiel te mit

ei nem Le ben, das sie lieb te, aber nicht tief und auf -

rich tig ge nug, um ih rem Spiel die Wür ze ei ner ihm,

Sweet wa ter, un ver ständ li chen Scha den freu de zu

rau ben.

Wie wohl Sweet wa ter fol ger te!

Und Fre de rick? Gab es et was in sei nem Vor le -

ben, das der An nah me, er habe den Mord be gan -

gen, wi der spre chen könn te? Im Ge gen teil! Ob wohl

Sweet wa ter we nig von Fre de ricks Ver ir run gen wu -

ß te, die ihn zum Aus wurf der Fa mi lie mach ten, das

We ni ge, das er tat säch lich wu ß te, war ge nug, ihm

klar zu ma chen, wie we nig es be durf te, um die Brük -

ke von maß lo ser Ver schwen dung zum Ver bre chen

zu be tre ten, wenn Geld schwie rig kei ten dräng ten.

Be fand sich Fre de rick in sol chen Schwie rig kei ten?

Sweet wa ter konn te dies nicht glau ben. Und Fre de -

ricks Be neh men? War es das ei nes Eh ren man nes,

der über den Ver dacht ent setzt ist, un ter dem das

Mäd chen, das er liebt, lei det? Hat te er, Sweet wa ter,

nicht selbst Tat sa chen be merkt, die eine sol che An -

nah me nicht zu las sen? Der Schrei, zum Bei spiel,

mit dem er aus dem Ball saal in den Wald ge gen über

sei nes Hau ses stürz te: »Gott sei Dank, daß die se

Schrec kensnacht vor über ist!« Merk wür di ge Wor -

te im Munde die ses jun gen Man nes, zu sol cher Zeit

und an sol cher Stät te, wenn er nicht schon da mals

ge wußt hät te, was im Dun kel die ser schreck lichen

Nacht ge sche hen! Aber er wu ß te es! Die ser Schrei

war Sweet wa ter gleich auf ge fal len und noch mehr

jetzt, da ihm al les so klar ge wor den und nach dem

er den jun gen Mann in qual vol ler Reue über das

Grab der ed len Frau wei nen ge se hen.

Man che mö gen die sen Kum mer viel leicht als Be -

weis da für an se hen, daß er nur für den wah ren Mör -

der wein te, den er lieb te. Sweet wa ter in des war

über zeugt, daß ein Ego ist wie Fre de rick Sut her land

nicht der art tief für eine an de re emp fin den kön ne

und daß die se Reue ei ner nä he ren Er klä rung be -

durf te, selbst wenn die se Er klä rung der Mord war,

den er be gan gen.

So weit war Sweet wa ter mit sei nem Ue ber le gen

ge kom men, als er Fre de rick in Mr. Hal li days Haus

ver schwin den sah und Mr. Sut her land auf ihn zu -

kam.

Bei der kur zen Un ter hal tung, die er mit dem

Letz te ren hat te, sah er zu sei nem gro ßen Schrek -

ken sei ne ei ge nen Zwei fel aus den Zü gen des al ten

Man nes wi der spie geln.

Er eil te ent setzt nach Hau se — — — — der Kampf

sei nes ei ge nen Le bens hat te be gon nen.

XXII.

Sweet wa ter han delt.

Sweet wa ter hat te Mr. Sut her land ver spro chen,

daß er mit Nie man den über den Ver dacht spre -

chen wer de, den er ge gen des sen Sohn hege. Er wu -

ß te in des, daß, woll te er dies Ver spre chen hal ten,

er nicht in Sut her land town blei ben dür fe und nicht

un ter den Au gen Mr. Court neys, des scharf sich ti -

gen und tüch ti gen Staats an wal tes. Sweet wa ter war

zu jung und zu ehr lich, und hat te sich in der An ge le -

gen heit be reits zu sehr be tä tigt, um sich auf ein mal

auf fal len der Wei se zurück zuziehen oder gar Falsch -

heit zu heu cheln. Es schien ihm in der Tat fast un -

mög lich, den Na men Fre de ricks er wähnt zu hö ren,

ohne er rö ten zu müs sen und so die gan ze Schan de

an den Tag zu brin gen, die für der hin an dem Na -

men Sut her land haf ten wür de.

Was soll te er also tun? Wie den Fol gen ent ge -

hen, de nen er sich nicht ge wach sen sah? Die se Fra -

gen mu ß ten noch in heu ti ger Nacht ent schie den

wer den. Aber wie?

Sweet wa ters Dank bar keit war so groß als sein

Ehr geiz. Da ihm Mut ter Na tur jene äu ße ren Ga ben

ver sagt, die ei nen Mann zum Freund, ein Mäd chen

zum Ge lieb ten zie hen — eine Tat sa che, die ihm

längst be kannt, aber erst neu lich durch eine rau he

Zurück weisung wie der so recht zum Emp fin den ge -

bracht wor den war — so woll te er et was Be deu ten -

des lei sten, das ihn in den Au gen der Men schen ben -

ei dens wert er schei nen ließ. Er, der gute Mu si ker,

woll te der be ste De tek tiv wer den! Daß aber sein er -

ster Ver such schon der art ein schla gen wür de, daß

ein wei te res Vor drin gen sei ner Dank bar keit den To -

des stoß ver setz te, hät te er sich selbst nie träu men

las sen. Und nun stand er vor dem schwie rig sten

Pro blem sei nes bis her so ru hi gen Le bens: das Aufge -

ben all sei ner Hoff nun gen oder die schnö de ste Un -

dank bar keit ge gen den, dem er sein Le ben ver dank -

te.

Wenn wir ihn in sei ne stil le Hüt te be glei ten, von

der er in den zwei und zwan zig Jah ren sei nes Le bens

kaum mehr als zwölf Mei len ent fernt war, wer den

wir den in ne ren Zwie spalt die ses ehr gei zi gen, ehr -

lie ben den Jun gen bes ser ver ste hen.

Es war ein wei ßes, un be mal tes Häus chen, oben

auf ei nem Fel sen, dar in er und sei ne Mut ter wohn -

ten, un ter sich und über sich nichts, als Was ser und

Him mel.

Die Wel len schie nen sei ne Lei den zu ver ste hen,

denn sie san gen heu te so schwer mü tig, so trau rig,

wie es Sweet wa ter schien.

»Ich bin es, Mutt chen«, rief er in sei ner ge wohn -

ten Stim me — wie er glaub te — als er die Türe des

klei nen Hau ses auf stieß. Doch der fei ne In stinkt

der Mut ter fühl te ein lei ses Zit tern in der Stim me

und be sorgt klang es ihm ent ge gen:

»Ist et was vor ge fal len?«

Die Fra ge ließ ihn zusam men zuc ken. Er fa ß te

sich in des schnell und sei ne Stim me zur Mo du la -

tion zwin gend, ent geg ne te er:

»Nichts, Mutt chen. Geh nur schla fen. Ich bin

müde, das ist al les«.

Als er sich über zeugt hat te, daß die Mut ter

schlief, ging er in die Kü che, steck te die Lam pe an

und setz te sich nie der. Drau ßen schlug es eben Mit -

ter nacht.

Da la gen sie alle vor ihm, die Zeu gen sei ner

glück lichen Ju gend. Je des Stück im Zim mer kann te

er, je der Na gel schien ihm zuzu nic ken. Selbst der

alte Hut sei nes Va ters hing dort an dem Pfo sten, ge -

nau so, wie er ihn auf ge hängt, an je nem er eig nis vol -

len Mor gen, da er sich fie bernd hin leg te, um nie

wie der auf zu ste hen. Und gleich da ne ben hing die

Schür ze der Mut ter, die Schür ze, die sie trug, als sie

ihm das Abend es sen brach te und die sie wie der tra -

gen wird, wenn sie ihm das Früh stück be rei tet.

Er konn te sie nicht län ger an se hen, die se Schür -

ze; woll te er doch fort von hier ge hen und die Mut -

ter al lein las sen . . . . . . .

Es hielt ihn nicht mehr auf dem Plat ze; er

sprang auf und setz te sich wo an ders hin. Doch da

sah er der Mut ter Näh ka sten, dar in nen eine für ihn

be stimm te Ar beit lag; da sah er den Tisch, ge deckt

für zwei und ne ben der Mut ter Tel ler die Bril le, die

ihn dar an er in ner te, wie alt die Mut ter war, wie

schwach und wie sehr sie sei ner ge ra de jetzt be durf -

te. Und wie der sprang er auf und such te eine an de -

re Ecke: da hing sei ne Vio li ne, sei ne be ste und treue -

ste Freun din, die er auch zurück lassen mu ß te, soll -

te er . . . .

Die Ein drüc ke über wäl ti gen ihn fast. Er stand

auf, ver ließ die Kü che und ging nach oben.

Kein Schlaf.

Er schloß die Türe — et was, das er im Le ben nie

ge tan — nahm ei nen An zug aus dem Ka sten, leg te

ihn aufs Bett und öff ne te dann die Spar büch se, um

das Er spar te mit zu neh men. Doch er ließ das Geld

un be rührt; nur ei ni ge klei ne Sil ber stüc ke nahm er

und steck te sie in die Ta sche des An zu ges, den er

aus ge wählt. Dann nahm er die Bi bel, wel che ihm

die Mut ter einst ge ge ben und woll te sie eben in die

an de re Ta sche des An zu ges stec ken, als er sich ei -

nes an de ren be sann, die Bi bel zurück legte und von

der Schür ze in der Kü che eine klei ne Ecke ab riß, die

er dann sorg fäl tig hin ter den Uhr dec kel leg te, als

wäre es das Bild nis ei nes ge lieb ten Mäd chens. Dar -

auf ent klei de te er sich und ging zu Bet te.

Mrs. Sweet wa ter sag te spä ter, daß Ca leb nie so

viel ge spro chen und so we nig ge ges sen habe, als

wie am näch sten Mor gen. Die Plä ne, die er ent wor -

fen, um den Mör der Mrs. Webbs zu ent lar ven! Die se

wich ti gen Ge schäf te, die er zu er le di gen habe! So -

vie le Leu te zu be su chen! Es ward ihr ganz schwin de -

lig, wenn sie dach te, welch her vor ra gen de Rol le ihr

Sohn jetzt spiel te. Und als er dann der lä cheln den

Frau »Gu ten Mor gen, Mutt chen«, zu ge ru fen und

die Türe ge schlos sen hat te, da brach ihm fast das

Herz. Wann wür de er dies Zim mer wie der se hen

und wann die Mut ter, die ge lieb te Mut ter?

Er ging ge ra des wegs zur Stadt.

An der Werft herrsch te re ges Le ben; ein Se gel -

schiff mach te sich zur Aus fahrt nach Bra si lien be -

reit. Er stock te ei ni ge Mi nu ten, schau te das gro ße

Schif fe sin nend an und ging dann wei ter, dem Ge -

bäu de zu, wo selbst er Dr. Tal bot und Mr. Knapp zu

fin den er war te te. Er woll te er fah ren, ob be reits ein

Ver dacht auf Fre de rick ge fal len; war dies der Fall,

dann brauch te er nicht zu rei sen und all sei ne Plä -

ne fie len zu sam men. Nur um Fre de rick vor ei nem

sol chen Ver dacht zu schüt zen, war er wil lens, alle

Ban de, die ihn an die Hei mat knüpf ten, zu lö sen

und nur die Aus sicht auf vol les Ge lin gen konn te ihn

ver an las sen, ein sol ches Op fer zu brin gen.

»Nun, Sweet wa ter, was Neu es?« be grü ß te ihn

der Un ter su chungs rich ter.

Sweet wa ter, der un ter den for schen den Au gen

Dr. Tal bots sei ne vol le Selbst be herr schung be wahr -

te, wand te sich an Mr. Knapp mit der Ge gen fra ge:

»Wis sen Sie was Neu es?«

Knapp, der viel leicht nicht ge ant wor tet hät te,

selbst wenn er et was ge wußt hät te, lä chel te über le -

gen und er ging sich in ei ni gen all ge mei nen Phra -

sen, die Sweet wa ter är ger lich mach ten. Er hielt

sich in des zu rück und sag te zu Dr. Tal bot in ge heim -

nis vol lem Tone:

»Ich glau be, ich kann Ih nen bald et was sa gen,

was der An ge le gen heit eine ganz be stimm te Wen -

dung ge ben dürf te. Mor gen spä te stens weiß ich, ob

ich Recht habe oder nicht. Doch, ob Recht oder Un -

recht, je den falls habe ich ei nen wich ti gen Zeu gen

ent deckt und zwar in gänz lich un er war te tem La -

ger«.

Sweet wa ter kann te kei nen sol chen Zeu gen; es

war dies nur ein Vor wand, sei ne Ab sicht um so si -

che rer aus füh ren zu kön nen und Bei de glau ben zu

las sen, sein In ter es se in der An ge le gen heit sei ein

un ge schwäch tes, so daß sein plötz li ches Ver schwin -

den nicht als fei ge Flucht auf ge faßt wer den konn te.

Es soll te aus se hen, als wäre er ein Op fer des Zu fal -

les. Dies war auch der Grund, wes halb er nichts von

zu Hau se mit nahm, das ihn im ge ring sten hät te ver -

ra ten kön nen.

»Ha! Wirk lich!« rief Dr. Tal bot mit wach sen dem

In ter es se. »Darf ich fra gen — — —«

»Bit te sehr«, un ter brach ihn Sweet wa ter mit ei -

nem be zeich nen den Sei ten blick auf Knapp, »mich

vo rerst nichts zu fra gen. Heu te Nach mit tag viel -

leicht, nach dem ich ein In ter view mit — — —. Was

ist das? Zie hen die jetzt schon die Se gel der »Hes -

per« auf?« rief er, sich un ter bre chend, als er vom

Fen ster aus das Schiff in Be we gung sah. »Auf dem

Schiff be fin det sich ein Mann, den ich spre chen

muß! Ent schul di gen Sie — — oh, Mr. Sut her land!«

Sweet wa ter trat ver wirrt zu rück. Mr. Sut her -

land war eben in Be glei tung Fre de ricks ins Zim mer

ge tre ten.

XXIII.

Ein ver däch ti ges Paar.

Bit te um Ent schul di gung«, stam mel te Sweet wa -

ter, zur Sei te tre tend.

Er schien sei ne Ab sicht, das Zim mer zu ver las -

sen, gänz lich ver ges sen zu ha ben. Der Ein tritt der

bei den Män ner zu solch un ge wohn ter Stun de, war

für ihn viel zu wich tig, als daß er fort ge hen soll te.

Hat te zwi schen den Bei den eine Un ter re dung statt -

ge fun den und Mr. Sut her lands Ehr lich keit ge siegt

und war er nun ge kom men, um Fre de rick sei nem

Schick sal zu über lie fern?

In zwi schen hat te sich Dr. Tal bot er ho ben und

Mr. Sut her land herz lich be grüßt, wo durch es

Sweet wa ter klar ward, daß trotz Mr. Knapps

schwei gen der An deu tung, noch kein Ver dacht auf

den unglück lichen Fre de rick ge fal len war. Dann

war te te Dr. Tal bot, was Mr. Sut her land zu sa gen

habe, denn es war zwei fel los, daß er ge kom men

war, um et was Neu es zu brin gen. Sweet wa ter war te -

te gleich falls, je doch mit an de ren Ge füh len. Er be -

merk te mit Schrec ken, wie der alte Mann sich in

den letz ten zwölf Stun den ver än dert hat te; auch

ent ging sei nen schar fen Blic ken die ei si ge Käl te

nicht, die zwi schen Va ter und Sohn lag und die es

den Bei den fast un mög lich mach te, in der al ten ver -

trau li chen Wei se zu sam men zu ver keh ren. Knapp,

der sie nur ober fläch lich kann te, fiel dies nicht auf;

doch Dr. Tal bot schien es zu be mer ken, wie sein fra -

gen der Blick aus drück te, mit dem er die Bei den be -

trach te te.

End lich be gann Mr. Sut her land.

»Ver zei hen Sie, daß ich Sie so früh zei tig stö re«,

sag te er, mit ei nem lei sen Zit tern in sei ner Stim me,

das Sweet wa ter er blei chen mach te. »Aus be stimm -

ten Grün den möch te ich ger ne wis sen, möch ten

wir ger ne wis sen, ob Sie bei Ih ren Un ter su chun gen

über die Art und Wei se, wie Agat ha Webb zu ih rem

Tode kam, eine Ko pie ih res Te sta ments ge fun den

ha ben?«

»Nein«.

Dr. Tal bots In ter es se war so fort er regt, eben so

Mr. Knapps, wäh rend Sweet wa ter sich tie fer in die

Ecke drück te, um sei ne blei chen Züge nicht se hen

zu las sen.

»Wir ha ben nichts ge fun den. Wir wis sen nicht

ein mal, ob sie ein Te sta ment hin ter las sen hat«.

»Ich fra ge des halb«, fuhr Mr. Sut her land fort, in -

dem er ei nen schnel len Blick auf Fre de rick warf,

der — wie es Sweet wa ter schien — äu ßerst ge faßt

dem Kom men den ent ge gen sah, »weil ich nicht nur

Mit tei lung ei nes sol chen er hielt, son dern so gar

zum Voll strec ker die ses, ih res letz ten Wil lens ein -

ge setzt wur de. Ich er hielt dies Te sta ment ge stern

in ei nem Brie fe aus Bo ston. Der In halt über rasch te

mich — — Fre de rick, brin ge mir ei nen Stuhl, bit te.

Die se Schreck nisse — wir alle lei den ja mehr oder

we ni ger un ter dem Un glück, das un se re Stadt be fal -

len — las sen mich mei ne Jah re füh len . . . . . . .«

Sweet wa ter at me te auf. Die se letz ten Wor te sag -

ten ihm deut lich, daß Mr. Sut her land sei ne Be fürch -

tun gen nicht wahr ma chen wür de.

Fre de rick konn te sei ne Auf re gung kaum ver ber -

gen. Er brach te den ver lang ten Stuhl und woll te

sich eben zurück ziehen, als Mr. Sut her land ihm

durch eine Hand be we gung zu ver ste hen gab, das

Pa pier, das er mit ge bracht, dem Un ter su chungs -

rich ter zu über ge ben.

»Wie ich be reits sag te«, be gann Mr. Sut her land

wie der, wäh rend Dr. Tal bot und Mr. Knapp die Köp -

fe zusam men steck ten, um zu se hen, was das Te sta -

ment ent hal te, »der In halt die ses Do ku men tes über -

rasch te mich aufs höch ste. Eben so er staunt war

mein Sohn, von dem man nicht ein mal sa gen kann,

daß er ein Freund oder be son ders gu ter Be kann ter

Agat ha Webbs ge we sen sei«.

»Ich habe nur zwei mal mit ihr ge spro chen«, sag -

te Fre de rick mit ge zwun ge ner Gleich gil tig keit, die

so deut lich die in ne re Er re gung be män tel te, daß

Sweet wa ter um den Er folg be sorgt war. Fre de rick

der Erbe von Agat ha Webbs Ver mö gen! Fre de rick,

von dem sein Va ter erst in der vo ri gen Nacht er -

klärt hat te, es gä ben für die sen kei ne Grün de, den

Tod der gu ten Frau zu wün schen! War es die Ent dek -

kung, daß sol che Grün de tat säch lich be stan den,

was die sen Mann in den letz ten zwölf Stun den so al -

tern ließ? Sweet wa ter wag te nicht, ihn noch mals

an zu schau en; sein ei ge nes Ge sicht hät te viel leicht

mehr ver ra ten, als er ge wünscht hät te. Er sah mit

Span nung auf Dr. Tal bot, der Fre de rick mit grö ße -

rem In ter es se be trach te te, als er bis her ge tan und

dann in die Wor te aus brach:

»Ein schö nes Ver mö gen! Ein sehr schö nes Ver -

mö gen!« Und sich zu Mr. Sut her land wen dend, frag -

te er in sei nem na tür lich sten Tone: »Wäre es in dis -

kret, zu fra gen, was un se re lie be Freun din Agat ha

mit dem Pas sus meint, der sich auf Ihre se li ge Frau

be zieht?« Er deu te te mit dem Fin ger auf den be tref -

fen den Pas sus und las:

»Aus Dank bar keit für Dien ste, die Ma riet ta Sut -

her land, Gat tin des Char les Sut her land, mir in frü -

he ren Jah ren ge lei stet, hin ter las se ich Fre de rick,

dem ein zi gen Kin de ih rer Lie be, all mein Ei gen tum,

be weg li ches und un be weg li ches, das ich zur Zeit

mei nes To des be sit zen wer de« — — »Aus Dank bar -

keit für ge lei ste te Dien ste! Dies müs sen sehr wich ti -

ge Dien ste ge we sen sein«, setz te Dr. Tal bot hin zu.

Mr. Sut her lands Züge zeig ten deut lich sei ne

Zwei fel und sei ne Un wis sen heit über die sen Punkt.

»Ich er in ne re mich nicht, daß mei ne Frau je be -

son de rer Dien ste er wähn te, die sie Agat ha Webb ge -

lei stet. Sie wa ren im mer be freun det, doch nie in tim

zu sam men. In des zweif le ich nicht, daß Agat ha ihre

be son de ren Grün de hat te, als sie die se Wor te nie -

der schrieb; Mrs. Sut her land war eine Frau, die oft

im Ge hei men Gu tes tat«.

Trotz al len Re spekts vor dem Spre chen den,

schien Dr. Tal bot von die ser Er klä rung nicht ganz

be frie digt. Er schau te auf Fre de rick und dreh te die

Ak ten ner vös in sei nen Hän den.

»Viel leicht kön nen Sie uns Auf schluß ge ben

über die Grün de die ser Hin ter las sen schaft — die ser

gro ßen Hin ter las sen schaft«, be ton te er.

Fre de rick, der die se di rek te Auf for de rung nicht

un be ach tet las sen konn te, rich te te sich auf und er -

wi der te mit ei nem Ernst, der al len auf fiel:

»Mein bis he ri ges Le ben spricht so ge gen mich,

daß ich mich nicht wun de re, daß Sie über rascht

sind über das mir von Mrs. Webb hin ter las se ne Ver -

mö gen. Viel leicht wu ß te sie nicht, in welch — wohl -

ver dien tem — schlech ten Rufe ich ste he oder aber,

und das ent sprä che eher ih rem Cha rak ter, glaub te

sie, daß das Be wußt sein, mei ne Un ab hän gig keit ei -

ner so unglück lichen und so ed len Frau zu ver dan -

ken, mich zum Man ne ma che«.

Er sprach wirk lich mit ei ner Männ lich keit, die

alle über rasch te. Mr. Sut her land schien ein Stein

vom Her zen zu fal len, als Fre de rick been det hat te;

Mr. Knapps Ge sicht war voll kom men ru hig und

gleich gil tig, wäh rend Dr. Tal bot, der fest an Ama -

bels Schuld glaub te, mit et was wie Be dau ern auf

den Spre cher schau te.

»Ich fürch te«, sag te er, »daß an de re nicht so un -

kun dig des gro ßen Ver mö gens wa ren, das Ih nen zu -

fiel, als Sie selbst ge we sen«, Wor te die Fre de rick

das Blut in den Kopf trie ben. Er ant wor te te je doch

nicht und so wäre eine unan ge neh me Pau se ein ge -

tre ten, wäre Sweet wa ter nicht plötz lich aus dem

Zim mer ge stürzt, mit dem Rufe:

»Dort ist er! Ich habe ihn eben ge se hen! Er ging

aufs Schiff! War ten Sie auf mich, Dr. Tal bot! Ich bin

in fünf zehn Mi nu ten wie der hier und mit ei nem

Zeu gen, wie Sie — — — —«

Da schlug die Türe ins Schloß und mach te das

Wei te re un ver ständ lich. So en de te eine Un ter re -

dung, die den bei den Sut her lands fast un er träg lich

er schie nen. Doch nie mand, nicht ein mal der alte

Herr selbst, ahn te, welch un er meß li chen Dienst

ihm Sweet wa ter eben ge lei stet. Er war je doch äu -

ßerst er regt und wie ein Blitz fuh ren ihm Sweet wa -

ters Wor te durch den Sinn, wel che die ser ihm an

Mr. Hal li days Tor zu ge ru fen. Fürch tend, daß er

sich ver ra te, frag te er mit sicht ba rer Be stür zung:

»Was ist los? Was ist plötz lich in den Jun gen ge -

fah ren?«

»Oh«, ent geg ne te Dr. Tal bot, »er hat das Schiff

dort schon eine Stun de be ob ach tet. Er ist hin ter ei -

nem Man ne her, den er eben aufs Schiff ge hen sah.

Er sagt, dies wäre ein neu er und wich ti ger Zeu ge.

Viel leicht hat er recht. Sweet wa ter ist ein äu ßerst

tüch ti ger Mensch! Wol len Sie Be weis da für, dann

war ten Sie, bis er zurück kommt. Ich bin si cher, er

hat uns dann et was zu sa gen«.

In zwi schen hat ten sich alle ans Fen ster ge -

drängt. Fre de rick, der sei ne Züge vor sich tig vor

dem Va ter ver barg, beug te sich über die Fen ster leh -

ne und ver folg te ängst lich den Da hin ei len den, der

di rekt der Werft zu lief, wäh rend Knapp sich auf sei -

ne Schul tern lehn te und auf die Ma tro sen deu te te,

wel che eben die An ker lich te ten.

»Er kommt zu spät! Sie las sen ihn nicht mehr an

Bord! Welch ein Narr, hier her um zu hän gen, bis er

sei nen Mann sieht, statt an die Werft zu ge hen und

ihn ab zu fas sen! Das kommt da von, wenn man sich

auf ei nen Bau ern jun gen ver läßt. Die se Auch-De tek -

ti ve wis sen alle nichts! Se hen Sie! Der Steu er mann

weist ihn zu rück! ’s ist al les Es sig, wenn er kei nen

Haft be fehl hat! Hat er ei nen Haft be fehl, Dr. Tal -

bot?«

»Nein; er hat kei nen ver langt. Er sag te mir nicht

ein mal, hin ter wem er her ist. Kann es viel leicht ei -

ner der bei den Pas sa gie re sein, die dort am Vor der -

deck ste hen?«

Das war wohl mög lich, denn selbst aus der Fer ne

sa hen die Bei den, wel che sich so ab seits von den Ma -

tro sen und den übri gen Pas sa gie ren hiel ten, sehr

ver däch tig aus.

»Der Eine schaut sehr ängst lich auf Sweet wa ter,

der un ge dul dig hin- und her springt. Se hen Sie nur,

er ge bär det sich wie ein Affe und — — Teu fel auch!

Sie las sen ihn an Bord!«

Mr. Sut her land, der sich müde ge gen den Fen -

ster po sten ge lehnt und Sweet wa ter ängst lich ver -

folgt hat te, ging nun auf die an de re Sei te und schau -

te ver stoh len auf Fre de rick. War sein Sohn eben so

in ter es siert an Sweet wa ter, wie er selbst? Wu ß te

er, wen je ner such te und ahn te er die fürch ter li -

chen Mög lich kei ten, wel che — — — Doch Fre de -

ricks Züge ga ben ihm kei nen Auf schluß.

»Er klet tert, wie ein Eich hörn chen«, rief Dr. Tal -

bot be gei stert. »Se hen Sie nur, jetzt ist er auf Deck

und ich wet te, er ist un ten in den Ka bi nen, ehe Sie

»Jack Ro bin son« sa gen kön nen! Sie sag ten ihm

wohl, er sol le sich ei len. Ka pi tän Dun lap ist nicht

der Mann, der fünf Mi nu ten war tet, wenn ein mal

die An ker ge lich tet sind«.

»Die bei den Män ner ha ben sich hin ter ei nen

Mast oder sonst wo hin ge drückt«, rief Knapp. »Das

sind die Bei den, die er sucht! Aber was kön nen die

mit dem Mord zu tun ha ben? Ha ben Sie die je vor -

her in der Stadt ge se hen, Dr. Tal bot?«

»Nicht, daß ich mich er in ne re. Sie se hen wie

Aus län der aus, wie Süd-Ame ri ka ner«.

»Da ge hen sie auch hin und Sweet wa ter kann

sie nicht zurück halten. Er hat selbst kaum Zeit, das

Schiff zu ver las sen. Da fällt das Seil! Ha ben sie

Sweet wa ter ver ges sen? Sie zie hen die Brüc ke

auf — — —«

»Nein der Ka pi tän läßt sie hal ten. Ich kann so -

gar sei ne Stim me hö ren, Sie nicht? Sweet wa ter

kann nichts mehr aus rich ten; er muß jetzt das

Schiff ver las sen und das schnell! Was ist jetzt wie -

der los?«

»Nichts. Sie ge hen eben her um, ihn zu su chen.

Der Fuchs ist un ten in den Ka bi nen und lacht sich

wohl ins Fäust chen, wie er das Schiff auf hält, wäh -

rend er sei nen Mann sucht«.

»Wenn er ei nem je ner bei den Män ner eine Fal le

stellt, fängt er ihn nicht so bald; die se bei den sind

Schlan gen und — — — . Die Ma tro sen kom men zu -

rück und schüt teln die Köp fe. Ich kann den Ka pi tän

bei na he flu chen hö ren — — —«

»Da bei ein solch fei ner Wind zur Aus fahrt.

Sweet wa ter, mein Jun ge, Du bist zwei fel los ein Ge -

nie! Wenn Dein Zeu ge nichts wert ist, dann sollst

Du die sen Streich nicht so bald ver ges sen!«

»Es scheint, als ob sie los se geln, ohne ihm Zeit

zu ge ben, ans Land zu kom men«, sag te Fre de rick

mit lei ser Stim me, die sei nem Va ter höchst ge zwun -

gen vor kam.

»So ist es!« rief Knapp. »Hier ge hen die Se gel

auf! Der Steu er mann dreht das Rad und — — — Dr.

Tal bot, wol len Sie Ih ren schlau en Ama teur-De tek -

tiv und sei nen wich ti gen Zeu gen so ent schlüp fen

las sen?«

»Was kann ich ma chen?« ent geg ne te die ser,

selbst über rascht von dem Ge sche he nen. »Ich kann

von hier aus nicht ru fen und au ßer dem wür den sie

auch nicht auf mich hö ren. Das Schiff ist be reits un -

ter wegs. Wir müs sen eben war ten, bis der Loot se zu -

rück kommt, der je den falls Sweet wa ter mit bringt«.

Mr. Sut her land ging vom Fen ster zur Türe, wie

im Traum. Fre de rick, der ihn ge hen sah, woll te ihm

fol gen; er be sann sich in des an ders, wand te sich

zum er sten Male an Knapp und sag te ru hig:

»Eine sehr auf re gen de Ge schich te, ohne Zwei -

fel. Ich glau be in des, daß Ihr Ur teil über die sen

Sweet wa ter rich tig ist: er möch te ger ne von sich re -

den ma chen. Ich glau be nicht, daß er ei nen Zeu gen

an Bord such te und wenn er es tat, so war dies ein

sol cher, der nur in sei ner Ein bil dung be steht. Sie

wer den ihn klein laut zurück kommen se hen, mit ei -

ner schwul sti gen Aus re de von ver wechs el ter Iden -

ti tät oder der glei chen«.

»Ich den ke, ich kann von jetzt ab die An ge le gen -

heit als aus schließ lich in mei nen Hän den lie gend

be trach ten«, ent geg ne te Knapp mit ei nem Ach sel -

zuc ken, das Sweet wa ter so völ lig aus sei ner Be rech -

nung ent ließ, als sei er nie ge we sen. Dann ent fern -

te er sich, wäh rend Fre de rick sich höf lich ge gen Dr.

Tal bot ver beu gend, zu die sem sag te:

»Falls Sie mich als Zeu gen wün schen, Dr. Tal bot,

um bei der Un ter su chung über das Te sta ment aus -

zu sa gen, ver fü gen Sie über mich. Mei ne Aus sa ge

kann al ler dings in den ei nen Satz zu sam men ge faßt

wer den: »Ich habe die se Erb schaft nicht er war tet

und kann kei ne Er klä rung dar über ge ben, wes halb

mir das Geld hin ter las sen ward«. Durch die se Hin -

ter las sen schaft in des füh le ich mich so li da risch mit

Mrs. Webb und wer de mit gro ßem In ter es se dem

Ver hör fol gen, das Sie, wie ich höre, mor gen be gin -

nen. Falls es ei nen Schul di gen gibt, wer de ich der

Ge rech tig keit nicht im Wege ste hen«.

Wäh rend Dr. Tal bots Ge sicht noch im mer die

Ver le gen heit se hen ließ, wel che die ser letz te Satz

in ihm er regt hat te — dach te er doch noch im mer

an Ama bel als die Schul di ge — reich te Fre de rick sei -

nem Va ter den Arm und ver ließ mit ihm das Zim -

mer.

Sie spra chen kein Wort; je der hing sei nen ei ge -

nen Ge dan ken nach. Erst als die See frei vor Ih nen

lag und sie weit drau ßen am Ho ri zont das stol ze,

nach Bra si lien se geln de Schiff sa hen, sag te Mr. Sut -

her land, mit ei nem be zeich nen den Blick nach dem

Seg ler:

»Der jun ge Mann, wel cher so un er war tet da von -

fuhr, wird nicht mit dem Loot sen zurück kommen!«

War der Seuf zer, der Fre de rick ent schlüpf te und

der sei ne ein zi ge Ant wort bil de te, ein Aus druck der

Er leich te rung? Fast schien es so.

XXIV.

Im Schat ten des Ma stes.

Mr. Sut her land hat te recht: Sweet wa ter kehr te

nicht mit dem Loot sen zu rück. Wie der letz te -

re be haup te te, be fand sich Sweet wa ter über haupt

nicht an Bord des Schif fes, ob wohl nie mand ihn das

Schiff ver las sen ge se hen hat te. Doch das Schiff war

von un ten bis oben durch sucht wor den und man

nahm an Bord all ge mein an, daß Sweet wa ter das

Land er reicht habe, ehe das Schiff un ter Se gel ging.

Der Loot se war sehr über rascht, als er hör te, dies

sei nicht der Fall und glei cher wei se wa ren es Sweet -

wa ters Freun de, mit Aus nah me ei nes ge wis sen al -

ten Man nes und des De tek ti ven Knapp, der hoch -

mü tig er klär te:

»Sweet wa ter ist ein Wind beu tel. Er dach te, er

kön ne ei nen De tek tiv von Be ruf er set zen und als er

merk te, daß man ihn durch schau te, drück te er sich

lang sam um die Ecke. Pas sen Sie auf, man wird aus

Bra si lien von ihm hö ren«.

Die se An sicht fand all ge mein Glau ben und in ner -

halb we ni ger Stun den war Sweet wa ter voll stän dig

ver ges sen, aus ge nom men bei sei ner Mut ter, de ren

Herz vol ler Sor gen war, und Mr. Sut her land, des -

sen Dank bar keit kei ne Gren zen kann te.

Wo war in des Sweet wa ter, daß er we der an Land

noch an Bord des Schif fes ge fun den wer den konn -

te?

Von Ju gend her ge wohnt, auf den Schif fen im Ha -

fen her um zu klet tern, kann te er ge ra de die Hes per

so gut, als das Haus sei ner Mut ter. Um so über rasch -

ter wa ren die Ma tro sen, als sie spä ter — der Loot se

hat te längst das Schiff ver las sen — den jun gen

Mann im Fracht raum un ter ei ner Ki ste fan den, die

halb über ihm lag. Er war be wußt los oder schien we -

nig stens so und zeig te, nach oben ge bracht, alle An -

zei chen in ne rer Ver let zung.

Doch sei ne Au gen glänz ten und er schien äu -

ßerst ru hig für ei nen Mann, der so un er war tet und

mit kaum ei ni gen Dol lars in der Ta sche ei nem frem -

den, fer nen Lan de zu ge führt wird und der wohl gar

ar bei ten muß, sich die täg li che Kost zu ver die nen.

So gar dem Ka pi tän fiel dies auf und er schau te den

jun gen Mann ver däch tig an. Die ser in des fand sich

schnell in sei ne neue Rol le, zeig te sol che Ent täu -

schung und Ent mu ti gung, sol che Sehn sucht nach

Hau se und Be dau ern über sein Ver häng nis, daß der

alte See mann bald sei nen Ver dacht ver gaß, ihm

eine Hän ge mat te gab und ihm Es sen rei chen ließ.

Gleich zei tig ließ er ihm sa gen, daß er Hand an le gen

müs se, so bald sei ne Ge sund heit dies er lau beund daß er dann die sel be Be hand lung er fah re,wie an de re Ue ber läu fer und blin de Pas sa gie re.

Dies konn te viel leicht an de re schrec ken, aber

nicht Sweet wa ter. Er hat te selbst das kaum er war -

tet, als er all sei ne Er spar nis se zu Hau se ließ und

nur mit we ni gem Geld in der Ta sche sei nen Vor satz

aus führ te. Er hat te aus Lie be und Dank bar keit für

Mr. Sut her land es un ter nom men, Fre de rick von ei -

nem ge fähr li chen Zeu gen zu be frei en und er fühl te

sich stark ge nug, sei nen Vor satz aus zu füh ren, ja

mehr als das, er war glück lich, sei ne Sa che so gut ge -

macht zu ha ben.

Dann dach te er an sei ne Mut ter. Wie wür de sie

sei ne Ab we sen heit er tra gen? Wür de sie nicht um

ihn be sorgt sein und wie lan ge wür de es wohl dau -

ern, ehe er ihr ein Le bens zei chen zu kom men las sen

konn te? Soll te er sein Vor ha ben ganz aus füh ren

und Mr. Sut her land von wirk li chem Nut zen sein

wol len, so mu ß te er min de stens so lan ge ver bor gen

blei ben, bis die öf fent li che Mei nung über den Fall

Webb sich be ru higt und man sei ne Be tei li gung dar -

an ver ges sen habe. Dar über konn ten viel leicht Jah -

re hin ge hen! Und sei ne Mut ter — — — — —

An sich selbst dach te er nicht.

Bei Son nen un ter gang ging er auf Deck. Es war

ein ru hi ger Abend. Die Wel len bra chen sich in lan -

gen Zü gen; von Sü den her blies ein sanf ter Wind,

wäh rend sich im We sten ein Un wet ter an zu sam -

meln schien. Die fri sche Luft stärk te ihn und mach -

te sei ne Brust sich he ben. Er such te eine ein sa me

Stel le und setz te sich nie der, sei nen Ge dan ken

nach zu hän gen.

War er wirk lich so un be deu tend, daß sei ne Mit -

bür ger ihn so bald ver ges sen soll ten? Wür den sie,

trotz sei nes wohl an ge leg ten Pla nes, sei ne Flucht ah -

nen und sei ne Rück kehr ver lan gen? Oder durf te er

ent wei chen, wie der wei ße Schaum auf dem Kam -

me der Wel len? Er hat te ge sagt, er wür de ei nen Zeu -

gen brin gen! Wür den sie sei nen Wor ten Glau ben

schen ken und ei nen De tek tiv nach schic ken, oder

wür den sie sei ne Aus sa ge als das an se hen, was sie

in Wirk lich keit nur war und ihre Un ter su chung

fort set zen, froh, ei nes auf dring li chen Hel fers le dig

zu sein?

Dann wan der ten sei ne Ge dan ken zu Ama bel und

ih rer of fe nen Ver ach tung für ihn, zu Fre de rick, der

nie wis sen wür de, wel ches Op fer er für ihn ge -

bracht und was dies Op fer ihn ko ste te, der nun ein

neu es Le ben be gin nen kön ne, frei und le dig von al -

lem Ver dacht.

Es ward dunk ler und dunk ler. Sweet wa ter ließ

sei nen Kopf auf das Ge län der sin ken, an das er sich

lehn te und bald glich er nur ei nem un be weg li chen

Schat ten im Krei se an de rer Schat ten, die ihn deck -

ten.

Plötz lich rich te te er sich auf; zwei Män ner nä -

her ten sich ihm, von de nen der eine nur Spa nisch

sprach, der an de re Eng lisch. Das letz te re konn te

Sweet wa ter wohl ver ste hen, doch nicht das er ste -

re. In des war die se hal be Un ter hal tung in ter es sant

ge nug, um ihn auf merk sam lau schen zu las sen. Der

eng lisch Spre chen de be gann zu erst:

»Soll es heu te Nacht sein?«

Die Ant wort kam in Spa nisch.

»Er ist hier«, sag te die eng li sche Stim me; ich sah

ihn deut lich am zwei ten Mast vor über ge hen«.

Wie der spa nisch, dann eng lisch.

»Du kannst, wenn Du willst. Mir ists aber nicht

ge heu er, so lan ge er an Bord ist. Bist Du si cher, es ist

der Mann, der uns auf lau ert?«

Eine Flut von spa ni schen Wor ten, von de nen

Sweet wa ter nichts ver stand, dann wie der die eng li -

sche Stim me, lang sam und zi schend:

»Gut! Die R. F. A. soll te aber für sol che Ar beit ei -

nen ho hen Preis zah len — — —«

Ha sti ges Flü stern und die Stim me fuhr fort:

»Das ge nügt! Ich schic ke ein Dut zend Män ner

für den hal ben Be trag zum Mee res grund! Was ist

das? Dort paßt uns Ei ner auf! Wenn er uns ge hört

hät te — — —«

Sweet wa ter sah zwei ver zwei fel te Ge sel len auf

sich zu kom men. Er woll te ru fen, doch sei ne Stim -

me ver sag te. Im näch sten Augen blic ke durch sau ste

er die Luft und flog in wei tem Bo gen hin ab in die

kal te See.

Die bei den Män ner hat ten ihn über Bord ge wor -

fen.

XXV.

In höch ster Not.

Sweet wa ters ein zi ger Ge dan ke, als er un ter sank,

war: »Jetzt braucht Mr. Sut her land nichts mehr

zu fürch ten«. Doch kaum hat te ihn das Was ser wie -

der an die Ober flä che ge bracht, als der Wunsch zu

le ben sich in ihm reg te. Er hol te mit sei nen Ar men

aus und er fa ß te eine Plan ke, die vor ihm schwamm.

Ein Freu de schrei ent fuhr sei ner Brust, der aber im

Brau sen der Wel len und im Zi schen des her an na -

hen den Stur mes un ter ging.

Wo her kam die se Plan ke? Hat ten die Elen den be -

reits Reue emp fun den und ihm die se Hil fe an ge dei -

hen las sen? Hat te ein Zu fall sie ihm zu ge führt, um

ihn lang sam ei nem Tode nä her zu brin gen, ei nem

Tode, so schreck lich, so fürch ter lich — — — —. Soll -

te er nie wie der das lie be Ge sicht der Mut ter se hen,

nie wie der — — —.

Die kal te Nacht und die wo gen den Wel len mach -

ten ihn er schau ern und der Schrec ken ver wan del te

sei nen Atem zu hoh lem Gur geln. Er klam mer te sich

fest an die Plan ke und dach te der Ge schich ten, die

er ge le sen und ge hört, wie Schiff brü chi ge ta ge lang

bis zum Wahn sinn auf der See her um ge trie ben wur -

den, um zu letzt, viel leicht an ge sichts der na hen

Ret tung, elen dig un ter zu ge hen.

Zäh ne klap pernd hielt er fest. Er woll te le ben!

Jetzt, da er dem Tode so nahe war, emp fand er, wel -

chen Reiz die Erde hat te und wie er ar bei ten kön ne,

um sich an Got tes schö ner Welt zu freu en, dem blau -

en Him mel und der grü nen Erde.

Wo war die ser blaue Him mel jetzt? Nicht jene

schwar zen Wol ken, die ses schreck liche Ge wöl ke,

das in wuch ti gen Mas sen da hin flog, Dä mo nen

gleich und ihn zu erdrüc ken droh te, wäh rend un -

ten die Höl le zu to sen schien. Die Wo gen spiel ten

mit der leich ten Plan ke und war fen sie um her, wie

eine Was ser per le. Und rings um stür men de Mit ter -

nacht! Doch er hielt, hielt fest!

Plötz lich er hell ten Blit ze die Nacht. Das Meer

schien in Feu er ge taucht. Er konn te se hen! Wenn

auch nur flam men den Him mel und schäu men des

Was ser, er konn te se hen und Licht bringt Hoff nung

und Hoff nung kehr te bei ihm ein. Hat ten nicht An -

de re Schwe re res er lit ten und sie leb ten, um es zu

be rich ten? Konn te er selbst nicht auch le ben? Er

brauch te nur zu wol len und Wil le und Mut be saß

er. Wie hät te er sonst Haus und Heim ver las sen, be -

sä ße er nicht Wil len und Mut? Konn te er nur bis Ta -

ges an bruch fest hal ten, dann wür de auch Hil fe kom -

men. Er war ins Was ser ge wor fen wor den, als er

kaum zwan zig Stun den un ter wegs war; er mu ß te

also in der Nähe des Kap Cod um her trei ben und

zwar in di rek ter Li nie zwi schen New-York und Bo -

ston. Näs ser als er war, konn te er nicht wer den und

die Plan ke kann nicht un ter ge hen. Treibt der

Sturm sie wei ter, kommt sie nur nä her ans Land.

Nur fest hal ten! Wenn er nur hal ten kann! Und das

wird er, selbst im halb be wußt lo sen Zu stan de, in

den er ab und zu ver fiel. Doch wäre es nicht bes ser

für Mr. Sut her land, wenn das Cha os ihn ver schlän -

ge und hin ab trü ge in ein nas ses Grab? Manch mal

dach te er so und dann ver lor er fast sei nen Halt.

Doch nur ein mal hät te er bei na he wirk lich los ge las -

sen und das war, als er glaub te, er hör te La chen. La -

chen in mit ten des Oze ans! In mit ten des Stur mes

ein La chen! Gab es wirk lich Dä mo ne? Ja, aber nur

in sei ner Ein bil dung. Er sah ein bestric kendes Me -

du sen haupt und hör te aus des sen Munde ein La -

chen — — — nur Ama bel konn te so la chen, so

falsch, so teuf lisch, so tri um phie rend! Ama bel, die

viel leicht im Traum jetzt über ihn lacht und die si -

cher la chen wür de, wenn sie wü ß te, wie elend er

war und welch Un glück sein gu tes Herz über ihn ge -

bracht hat te. Ama bel! Der Ge dan ke an sie mach te

die Nacht dunk ler, das Meer dräu en der und die Zu -

kunft we ni ger ro sig. Und doch hielt er an der Plan -

ke, ihr zum Trot ze, weil sie ihn ha ß te und weil er

sie ha ß te, fast so tief, als er M. Sut her land lieb te.

Das war sein letz ter Ge dan ke für vie le Stun den.

Als der Mor gen an brach, hing er fast be wußt los an

der Plan ke. Er wu ß te, er mu ß te fest hal ten — wei ter

aber auch nichts.

XXVI.

Ein Pa ket.

Ein Mann! Holt ihn ein! Laßt ei nen ar men Men -

schen nicht so her um trei ben«.

Der Spre cher war ein al ter, rau her See fah rer,

des sen Mann schaft eben den schwer sten Sturm des

Jah res hin ter sich hat te. Er deu te te auf un sern

Freund Sweet wa ter, des sen Kopf noch über der

Plan ke sicht bar war, an die er sich krampf haft klam -

mer te. Gleich dar auf lang ten ein hal bes Dut zend

Hän de nach dem Be wußt lo sen und zo gen ihn an

Bord, das noch deut li che Spu ren des nächt li chen

Un wet ters zeig te.

»Der Aus bund der Häß lich keit«, rief ei ner der

Ma tro sen, dem Ge ret te ten ins Ge sicht schau end.

»Den hat si cher das Meer aus ge spuckt; hät ten wir

ihn in der See ge las sen, hät te er die Teu fels fi sche

ver gif tet«.

Ob wohl die An dern laut lach ten, ar bei te ten sie

doch mäch tig an dem Be wußt lo sen. Als die ser nach

ei ner Wei le zu sich kam, war mes Blut durch die

Adern rol len fühl te, statt der nächt li chen Fin ster -

niß den grau en Mor gen him mel und statt des Was -

sers fe sten Grund sah, da schau te er dank bar auf

den Kreis der wet ter fe sten Ma tro sen, die ihn um -

stan den.

»Ge nug«, rief ei ner aus, »er ist raus. Alle Hand

an Deck! Wenn der Wind an hält, sind wir in zwei Ta -

gen in New Bed ford. Nord west!« rief er dem Man ne

am Steu er zu. »In acht und vier zig Stun den sind wir

da heim bei Mut tern«.

New Bed ford! Das war das ein zi ge Wort, das

Sweet wa ter hör te. War er nicht wei ter von Sut her -

land town ent fernt, als das? Die Vor se hung woll te

of fen bar nicht, daß er ent kam. Oder soll te sein Mut

er probt wer den? Ein Mann, so un be deu tend, wie

er, konn te selbst an ei nem klei nen Ort, wie New

Bed ford, über se hen wer den. Und wenn er sich

nicht zu er ken nen gab, konn te er so gar ru hig in ei -

nem Städt chen ganz in der Nähe Sut her land towns

woh nen, ohne fürch ten zu müs sen, als Zeu ge ge gen

Fre de rick auf ge ru fen zu wer den. Konn te er aber un -

ent deckt blei ben? Je den falls woll te er es ver su -

chen.

»Wie heißt Du?« schrie ihm ei ner der Ma tro sen

ins Ohr. »Jo nat han Briggs«, mur mel te Sweet wa ter.

»Im Sturm ge stern Nacht ward ich über Bord ge -

spült«.

»Von wel chem Schiff?«

»Pro ser pi ne«. Er nann te den er sten Na men, der

ihm ein fiel.

»Oh, ich dach te, es wäre viel leicht die Hes per ge -

we sen; sie ist ge stern Nacht hier her um ge schei -

tert«.

»Ge schei tert? Die Hes per?« Das Blut schoß ihm

jetzt durch die Adern.

»Ja, wir ha ben eben die Na mens plan ke auf ge -

fischt, kurz ehe wir Dich lan de ten«.

Ge schei tert! Das Schiff, aus dem er so un mensch -

lich ins Meer ge wor fen wor den war, ge schei tert!

Und viel leicht kein Mann ge ret tet! Das war Got tes

Hand, die ihn ge schützt!

»Es war die Hes per, auf der ich ge se gelt bin.

Mein Kopf ist noch nicht recht klar — — — mei ne er -

ste Rei se mach te ich auf der Pro ser pi ne. Gott sei

Dank für die Wel le, die mich über Bord trug!«

Er schien un zu sam men hän gend zu re den und

lie ßen die Ma tro sen ihn da her eine Wei le al lein. Als

sie zurück kamen, hat te er sich eine Ge schich te zu -

recht ge legt, die er ih nen er zähl te.

Bald war Land ge sich tet und da ihr un ge setz li -

ches Ge schäft, das sie in die se Ge wäs ser führ te, ih -

nen nicht er laub te, Sweet wa ter län ger mit sich zu

füh ren, so be schlos sen die Ma tro sen, ihn ans Land

zu set zen. Sie be dau er ten nur, daß er so we nig Geld

bei sich hat te, nah men sei nen nas sen An zug, be klei -

de ten ihn da für mit al ten Lap pen und lie ßen ihn

dann al lein.

So er kann te ihn si cher Nie mand; so konn te er

wirk lich Jo nat han Briggs vor stel len. Wer war über -

haupt Jo nat han Briggs? Und wie soll te er sei nen Le -

bens un ter halt ver die nen?

Am Abend des zwei ten Ta ges lie ßen sie ihn auf

dem Wege zu ih rem ge hei men Lan dungs platz im

Vor über fah ren aufs Dock sprin gen.

Als er da stand und wie der fe stes Land un ter sich

fühl te, at me te er tief auf. Hier war er nun, al lein in

der Welt, ohne Freund, ohne Heim, ohne Geld. Soll -

te er sich nach rechts wen den oder zur Lin ken, zur

Stadt ge hen oder sein Glück in ei ner der rau chi gen

Mu sik hal len ver su chen, die er vor sich sah? Sei ne

Aus sich ten auf eine gute Mahl zeit wa ren sehr

schlim me, falls er nicht ei nes sei ner drei Ta len te in

An wen dung brin gen konn te, und dazu brauch te er

ent we der eine Vio li ne zum Spie len, eine Ho bel -

bank zum Ar bei ten oder ei nen Auf trag, De tek tiv-Ar -

beit zu ver rich ten. Das letz te re ver warf er so fort:

wür de es ihn doch mit der Po li zei in Be rüh rung

brin gen, et was, das er un ter al len Um stän den ver -

mei den woll te. Er mu ß te also als Gei ger oder Schrei -

ner sich et was ver die nen und das war ihm schwer

in sei nem ge gen wär ti gen Zu stand und An zug. Die -

se Schwie rig kei ten schreck ten ihn aber nicht. Aus

Lie be zu ei nem gu ten Man ne hat te er es über nom -

men, sei ne Iden ti tät zu ver lie ren; das war ihm ge -

lun gen und nun soll te er ha dern, daß er des we gen

ein oder zwei Tage hun gern mu ß te? Nein! Ama bel

mag über ihn la chen, wäh rend er mit ten im Mee re

mit den Flu ten kämpft. Ob sie aber auch jetzt la -

chen wür de? Kaum! Sie ge hör te zu de nen, die oft

selbst hun gern, wenn sie alt sind und sol che Ge dan -

ken ma chen sie viel leicht emp find sam für ihre Mit -

men schen . . .

Vor ei nem klei nen Mäd chen, das auf ei ner ver -

fal le nen Trep pe saß, hielt er an; er woll te se hen,

was un schul di ge Kin der au gen in sol chem Auf zu ge

von ihm den ken. Nichts Schlim mes, wie es schien;

lach te sie ihn doch an und ging nur zur Sei te, um

ihn vor über ge hen zu las sen, da der Steg für Bei de

zu eng war.

Et was be ru higt ging er wei ter und schau te hier -

hin und dort hin, ob er nicht Ar beit fin den könn te.

Plötz lich hielt er an. Eine Markt frau hat te ei nen

Wort wech sel mit ei nem Au stern händ ler be kom -

men, wo bei ihr Stand um ge wor fen wor den war und

ihre Waa ren weit hin am Bo den roll ten. Sweet wa ter

rich te te den Stand auf, las die Waa ren auf und er -

hielt als Dank zwei Äp fel und ei nen ro ten Hä ring,

den er zu Hau se kei nem Hun de zu ge wor fen hät te.

Doch er war hung rig und nie im Le ben hat te ihm

ein Mahl so gut ge mun det, als die se bei den Aep fel

und der rote Hä ring. Frisch ge stärkt ging er wei ter;

jetzt konn te er ar bei ten und sich ein Nacht la ger

ver die nen.

Als er durch eine enge Stra ße ging, blies der

Wind ihm ei nen Schlei er in die Hän de und als er auf -

schau te, be merk te er eine Dame, wel che hef tig ge -

sti ku lier te und in die Fer ne deu te te.

»Lau fen Sie dem Man ne dort nach«, rief sie,

»dem Man ne mit dem lan gen schwar zen Rock, der

eben die Stra ße dort hin auf geht! Sa gen Sie ihm, das

Te le gramm sei eben ge kom men. Lau fen Sie!

Schnell, ehe er um die Ecke biegt! Er wird Sie be zah -

len! Lau fen Sie!«

Froh, Aus sicht auf ei nen klei nen Ver dienst zu

ha ben, rann te Sweet wa ter die Stra ße hin ab, dem

be zeich ne ten Man ne nach.

»Eine Dame dort un ten sag te mir, ich sol le Sie ru -

fen und Ih nen sa gen, das Te le gramm sei eben an ge -

kom men. Sie sag te mir auch«, setz te er hin zu, als er

be merk te, wie der Frem de ha stig da von lau fen woll -

te, ohne ihn für sei nen Gang zu ent schä di gen, »daß

Sie mich für das Lau fen be zah len wür den. Ich bin

tüch tig ge lau fen und — brau che das Geld«.

In Ge dan ken ver sun ken, griff der Frem de in die

Ta sche, zog ein Geld stück her aus und gab es Sweet -

wa ter; dann ging er ei lig da von. Die Nach richt war

of fen bar wich tig. Er staunt starr te Sweet wa ter das

Geld an. Der Mann hat te ihm ein Fünf-Dol lar-Gold -

stück ge ge ben, statt ei nes Nic kels, den er er war tet

hat te! So nö tig er das Geld auch brauch te, so woll te

er doch ei nes An de ren Irr tum nicht aus beu ten. Er

lief dem Man ne da her schnell nach und hol te ihn

eben ein, als er die Haus tü re öff nen woll te.

»Ent schul di gen Sie, Sie müs sen sich ge irrt ha -

ben. Sie ga ben mir fünf Dol lar statt ei nes

Fünf-Cent-Stüc kes. Hier ist das Geld«.

Der Mann, der nicht aus sah, als ob Mit leid eine

sei ner Tu gen den wäre, schau te auf das Geld in der

of fe nen Hand, dann auf das Ge sicht, das so dürf tig

aus schau te, als ob ihm das Geld sehr nö tig wäre

und sag te dann, ohne das Geld stück zurück -

zunehmen:

»Du bist ein ehr li cher Kerl. Willst Du das Geld

ver die nen?«

»Ob ich will!« ent geg ne te Sweet wa ter, wo bei ein

Lä cheln sein Ge sicht ver klär te.

Der Frem de schau te ihn ei nen Au gen blick durch -

drin gend an und sag te dann:

»Komm mit!«

Sie gin gen ins Haus, stie gen eine oder zwei Trep -

pen em por und hiel ten vor ei ner Türe, die an ge -

lehnt stand.

»War te hier, bis ich Dich rufe«, sag te der Frem -

de. Ich will nur mit der Dame hier drin nen spre -

chen.

Sweet wa ter war te te, wo bei nichts sei nen schar -

fen Blic ken ent ging. Der Herr, der die Türe weit of -

fen ste hen ließ, trat zu der jun gen Dame — of fen bar

die sel be, wel che ihm vor hin zu ge ru fen — und

sprach ein dring lich mit ihr. Sie hielt ein Te le -

gramm in der Hand, das sie ihm zeig te. Sie flü ster -

ten und schau ten wie der holt nach Sweet wa ter hin.

End lich ging sie ins Ne ben zim mer und brach te ein

klei nes Pa ket, das sie dem Frem den ein hän dig te;

wie der Flü stern und be zeich nen de Blic ke, dann

kam der Mann auf Sweet wa ter zu und leg te das Pa -

ket in sei ne Hän de.

»Dies Pa ket bringst Du ins Rat haus«, sag te er.

»Im zwei ten Zim mer rechts, gleich wenn Du ein -

trittst, siehst Du ei nen Tisch, von Stüh len um ge -

ben, die um die se Stun de leer sein wer den. Am Kop -

fe die ses Ti sches steht ein Arm stuhl. Auf den Platz

vor dem Arm stuhl legst Du dies Pa ket. Wohl ver -

stan den: di rekt vor den Arm stuhl auf den Tisch und

nicht zu weit von der Kan te ent fernt. Dann ver läßt

Du das Zim mer. Soll te Dich je mand se hen, so sagst

Du, Du hät test Pa pie re für Mr. Gif ford ge bracht. Be -

sor ge das rich tig und die fünf Dol lars sol len Dein

sein und Dank dazu«.

Sweet wa ter zö ger te. Es war et was in dem Be neh -

men der Bei den, das ihm nicht ge fiel.

»Zö gern Sie nicht so lan ge«, rief die Dame un ge -

dul dig und schau te auf die Uhr.

»Mr. Gif ford war tet auf die Pa pie re«.

Sweet wa ter drück te mit den Fin gern auf das Pa -

ket; es fühl te sich nicht an wie Pa pie re.

»Willst Du’s be sor gen oder nicht?« frag te der

Mann.

Sweet wa ter schau te ihn an und lä chel te.

»Gute Be zah lung für solch leich te Ar beit«, sag te

er, das Pa ket hin und her dre hend.

»Da für soll sie so fort aus ge führt wer den und ge -

nau, nach In struk tion«, ent geg ne te der Mann. »Ich

zah le für Dei ne Zu ver läs sig keit. Gehe jetzt«.

Sweet wa ter wand te sich zum Ge hen. Viel leicht

wars doch recht und das Geld ehr lich ver dient.

Beim Be tre ten der Trep pe stol per te er; die Stie fel

pa ß ten ihm nicht.

»Sind Sie vor sich tig!« schrie die Dame er -

schreckt, wäh rend der Mann ei ligst ins Zim mer

sprang. Wenn Sie das Pa ket fal len las sen, be schä di -

gen Sie des sen In halt! Tra gen Sie es vor sich tig!«

So, so! Und eben sag ten sie, das Pa ket ent hal te

Pa pie re!

Sweet wa ter eil te die Trep pe hin ab, auf die Stra -

ße. Das Rat haus konn te er leicht fin den — doch sei -

ne Auf ga be war nicht so leicht zu lö sen. Konn te er

das Geld ver die nen, ohne das Pa ket, wie auf ge tra -

gen, ab zu lie fern? Oder konn te er es ab lie fern, ohne

Ri si ko für den Emp fän ger und doch auch dem Auf -

trag ge ber ge recht wer den, des sen Geld er red lich

ver die nen woll te?

Die er ste Fra ge be ant wor te te sein Ge wis sen so -

fort mit Nein. Die zwei te ließ sich nicht so leicht ab -

ma chen, denn es dräng te sich ihm eine an de re Fra -

ge auf: wes halb dach te er, daß der Auf trag ein au -

ßer ge wöhn li cher wäre?

Dies war leicht zu be ant wor ten:

1. Die Be zah lung war zu hoch im Ver hält nis zu

der leich ten Ar beit — wenn das Hin stel len des Pa ke -

tes auf Mr. Gif fords Platz und in ei ner be stimm ten

Lage wirk lich nicht von be son de rer Wich tig keit

war.

2. Die Dame, ob wohl ein fach ge klei det, sah mehr

ei ner Aben teue rin ähn lich, als ei ner acht ba ren

Frau und auch der Mann mach te auf den er sten

Blick den Ein druck ei nes Men schen, des sen Ge sell -

schaft man nicht sucht.

3. Sie schie nen nicht re gel mä ßi ge Be woh ner des

Hau ses oder der Zim mer zu sein, dar in nen sie stan -

den. Kein Kof fer da, kei ne Klei der, nichts im Zim -

mer, das von Frau en hän den zeugt, selbst zum kur -

zen Auf ent halt; nichts als das not wen dig ste Mö bel.

Sie wohn ten also of fen bar nur vor über ge hend dort

und viel leicht schon im Be griff, Haus und Stadt zu

ver las sen. War dem so, dann wür den sie ihm fol -

gen, deß war er si cher. Er selbst hat te oft schon Leu -

te »be schat tet« und er emp fand, daß er un ter Auf -

sicht stand! Er mu ß te also wei ter ge hen und tat so,

so gut sei ne Un kennt nis der Lo ka li tä ten es ihm ge -

stat te te. Er woll te sein Geld ver die nen — aber ohne

Je man den zu schä di gen. Und er glaub te, ei nen Aus -

weg ge fun den zu ha ben!

Am Ein gan ge des Rat hau ses hielt er an. Ein Poli -

zist stand un ter der Türe. Es wäre sehr ein fach ge -

we sen, die Auf merk sam keit die ses Man nes auf das

Pa ket zu len ken; doch das wür de ihn mit der Po li zei

in Be rüh rung brin gen, et was, das er un ter al len Um -

stän den ver mei den woll te. Die ser Plan war also un -

aus führ bar. Er misch te sich un ter die Men schen in

der Hal le, fand die be zeich ne te Türe und das Zim -

mer und sah, daß es, wie er war tet, leer war. Er trat

ein, leg te das Pa ket ge nau wie vor ge schrie ben auf

Mr. Gif fords Platz, schau te sich ha stig um und da er

Nie man den in der Nähe sah, er griff er ei nen da lie -

gen den Blei stift und schrieb mit gro ßen deut li chen

Buch sta ben auf das Pa ket: Ver däch tig! War das Pa -

ket wirk lich ge fähr lich, dien te das Wort Mr. Gif ford

als War nung; war es nicht, so konn te der Emp fän -

ger es als ei nen Witz be trach ten und der Sen der

glei cher wei se. So hat te er sein Geld red lich ver -

dient, den Auf trag pünkt lich aus ge führt und den

Emp fän ger ge warnt.

Dann zog er sich ha stig zu rück.

Wie der war die Hal le mit Men schen an ge füllt.

Doch nur zwei er reg ten sei ne Auf merk sam keit: der

eine groß, mit klu gen Au gen, der eben das Zim mer

be trat, aus dem er eben ge kom men, der an de re

klein, mit Zü gen, die er seit sei ner frü he sten Ju -

gend kann te. Mr. Sto ne von Sut her land town war

kei ne fünf Schrit te von ihm ent fernt und der Post -

mei ster kann te ihn eben so gut, als er den Post mei -

ster!

Schnell eil te er den Gang hin un ter, dem hin te -

ren Aus gan ge zu. Er schau te sich noch ein mal um —

Gott sei Dank, er war nicht er kannt wor den — und

rann te eben aus dem Tore, als er fast ei nen Mann

um stieß, der drau ßen an eine Säu le lehn te.

»Hal loh!« rief der Mann, wor auf Sweet wa ter stil -

le stand.

XXVII.

Ein Stück chen Pa pier und drei Wor te.

Was ma chen Sie hier? Wes halb wer fen Sie ei -

nen Men schen bei na he um? Sind Sie be trun -

ken?«

Sweet wa ter rich te te sich auf, mach te eine lin ki -

sche Ver beu gung und stam mel te ver le gen:

»Ent schul di gen Sie — ich bin in Eile — ich bin ein

Bo ten gän ger —«

Der an de re, der es nicht sehr ei lig hat te, schien

Sweet wa ter et was zurück halten zu wol len. Er war

sei nem Blick be geg net, der of fen bar Ein druck auf

ihn ge macht hat te.

»Ein Bo ten gän ger, was? Ha ben wohl jetzt ei nen

Gang zu be sor gen?«

Sweet wa ter, der ger ne aus dem Be reich von Mr.

Sto ne kom men woll te, zuck te ver nei nend die Schul -

tern und ver such te, an dem Frem den vor bei zu ge -

hen.

»Wis sen Sie«, sag te der, »daß mir Ihre Au gen ge -

fal len? Eine Schön heit sind Sie ge ra de nicht, doch

Sie se hen aus, wie ein Mann, der hält, was er ver -

spricht«.

Sweet wa ter konn te sei nen Stolz nicht ver ber -

gen. Er war stets ein Eh ren mann ge we sen, nur hat -

te man es nie so of fen aner kannt.

»Ich habe so eben fünf Dol lars er hal ten für ei nen

Auf trag, den ich nach der In struk tion aus führ te«,

er klär te Sweet wa ter, den Frem den of fen an schau -

end. »Se hen Sie, und es ist ehr lich ver dient«.

Der Frem de schau te fast ent täuscht auf das Geld

und sag te dann leicht hin:

»So, so, dann herrscht ja für eine zeit lang Flut

und Sie brau chen kei ne wei te re Ar beit«.

»Was das be trifft, ent geg ne te Sweet wa ter, lang -

sam die Stra ße hin ab ge hend, »bin ich im mer zu ha -

ben. Fünf Dol lars hal ten nicht ewig und ich brau che

ei nen neu en An zug«.

»Of fen bar«, sag te der Frem de, ne ben ihm her ge -

hend. »Wol len Sie nach Bo ston fah ren?«

Bo ston! Wie der ein Stück nä her der Hei mat!

»Nein«, ent geg ne te Sweet wa ter zö gernd, »und

si cher nicht, wenn nichts or dent li ches da bei her -

aus kommt. Soll die Rei se heu te ge macht wer den?«

»So fort, das heißt heu te Abend. Der Auf trag er -

for dert aber Ge duld und mehr oder we ni ger Schlau -

heit. Be sit zen sie die se Ei gen schaf ten, mein

Freund? Ih ren Klei dern nach zu ur tei len, soll te

man es nicht an neh men«.

»Mei nen Klei dern nach zu ur tei len!« lach te

Sweet wa ter. »Ich weiß, es nimmt Ge duld, sie zu tra -

gen und was die Schlau heit der Aus wahl an be trifft,

so will ich nur be mer ken, daß ich sie nicht selbst

aus wähl te. Sie sind mir ganz un ver hofft, qua si als

Erb schaft von Freun den zu ge fal len. Sie sol len ein -

mal se hen, wie schnell ich eine Aen de rung tref fe,

wenn Sie mir Ge le gen heit ge ben, ei nen Zeh ner zu

ver die nen«.

»Ah, also zehn Dol lar wol len Sie. Nun, kom men

Sie hier her ein, las sen Sie uns ein Glas Bier trin ken

und wir wol len se hen, was wir tun kön nen«.

Es war eine rau chi ge Spe lun ke, vor der sie eben

stan den. Sweet wa ter wun der te sich, daß ein so gut

ge klei de ter Herr ein sol ches Lo kal be tre te, doch sag -

te er nichts.

»Pas sen Sie auf«, be gann der Frem de, sich an ei -

nen schmut zi gen Tisch in ei ner dun keln Ecke set -

zend und Sweet wa ter ein la dend, Platz zu neh men.

»Ich habe den gan zen Tag nach ei nem Man ne um ge -

schaut, den ich nach Bo ston schic ken kann und ich

glau be, Sie sind der rich ti ge. Sie ken nen Bo ston?«

Trotz sei ner gro ßen Selbst be herr schung konn te

Sweet wa ter es nicht ver hin dern, daß ihm die Fra ge

das Blut in die Wan gen trieb. Da es aber in der Ecke,

wo sie sa ßen, fin ster war, be merk te der Frem de sei -

ne Ver le gen heit nicht.

»Ich war ein mal dort« ent geg ne te Sweet wa ter.

»Gut, dann wer den Sie heu te Abend wie der hin -

ge hen. Sie kom men etwa um sie ben Uhr an; dann

be su chen Sie meh re re Lo ka le, die ich Ih nen auf -

schrei be und wenn Sie ei nen ge wis sen Herrn tref -

fen, den ich Ih nen ge nau be schrei ben wer de, dann

ge ben Sie ihm — — —«

»Doch kein Pa ket?« rief Sweet wa ter, der er -

schreckt an sei nen er sten Auf trag dach te.

»Nein, nur ein Stück chen Pa pier, dar auf zwei

Wor te ste hen. Er wird Sie nach ei nem drit ten Wor -

te fra gen, doch das sa gen Sie ihm erst, wenn er Ih -

nen ihre zehn Dol lars ge ge ben hat. Er wird sie Ih -

nen ge ben«, setz te er auf ei nen fra gen den Blick

Sweet wa ters hin zu.

Sweet wa ter war über zeugt, daß er ei nen an de -

ren ver däch ti gen Auf trag aus füh ren soll te. »Sehe

ich wie ein Spitz bu be aus?« frag te er sich. Doch er

ließ sich nichts an mer ken, son dern be merk te nur:

»Zehn Dol lars ist ziem lich we nig für solch ein Ge -

schäft. Das ist min de stens fünf und zwan zig wert,

soll te ich mei nen«.

»Gut, er soll Ih nen fünf und zwan zig Dol lars ge -

ben. Ich über sah, daß zehn Dol lars wirk lich et was

we nig ist für solch eine Rei se«.

»Fünf und zwan zig Dol lars, wenn ich ihn fin de

und er zu fäl lig bei Kas se ist. Wenn ich ihn aber

nicht fin de?«

»Dann nichts«.

»Nichts?«

»Nur Ihr Bil let, das gebe ich Ih nen«.

Sweet wa ter wu ß te nicht gleich, was er ant wor -

ten soll te. Wie der vor her ge hen de Auf trag konn te

auch die ser un schul di ger Art sein, viel leicht auch

nicht. Au ßer dem lag ihm auch nicht dar an nach Bo -

ston zu fah ren, wo selbst er so vie le Freun de hat te.

»Der Auf trag hat wei ter gar nichts auf sich«, sag -

te der Frem de läs sig und schob Sweet wa ter ein Glas

Schnaps hin, das der Kell ner eben ge bracht hat te.

»Könn te ich ab kom men, wür de ich selbst rei sen;

ich kann aber New Bed ford heu te Abend nicht ver -

las sen. Kom men Sie! Die Sa che ist ein rei nes Kin der -

spiel«.

»Vor hin sag ten Sie an ders«, brumm te Sweet wa -

ter. »Doch ganz egal: ich rei se. Brau che ich an de re

Klei der?«

»Ich wür de mir neue Ho sen an schaf fen; das Ueb -

ri ge kön nen Sie ja in Bo ston kau fen. Je we ni ger Sie

auf fal len, de sto bes ser«.

Das pa ß te Sweet wa ter voll kom men und so frag -

te er:

»Wann geht der Zug?«

Der Frem de gab ihm die ge wünsch te Aus kunft.

»Gut, dann habe ich ge ra de Zeit, ei ni ge Klei nig -

kei ten zu kau fen. Und nun Ihre In struk tio nen«.

Der Frem de gab ihm ein Stück Pa pier, dar auf

vier Adres sen stan den.

»Sie fin den mei nen Mann an ei nem der vier Plät -

ze. Er ist ein schö ner, gro ßer Herr, mit ro tem Haar

und ei nem Schnur bart, wie der Teu fel. Er ist krank

und trägt die lin ke Hand in ei ner Schlin ge. Er kann

aber trotz dem Kar ten spie len und Sie wer den ihn

wahr schein lich beim Kar ten spiel fin den und dazu

in gu ter Ge sell schaft. Sie müs sen vor sich tig sein

und ihn al lein spre chen. Hat er erst die sen Zet tel ge -

le sen, dann ist das Wei te re leicht. Er weiß, was die -

se bei den Wor te be deu ten und das drit te, das fünf -

und zwan zig Dol lars für Sie wert ist, heißt Fre de -

rick«.

Sweet wa ter fuhr bei Nen nung die ses Na mens so

zu sam men, daß er sein Glas um warf.

»Ich hof fe, ich ver ges se den Na men nicht«, sag -

te er leicht hin, um sei ne Er re gung zu ver ber gen.

»Wenn Sie ihn ver ges sen, be kom men Sie das

Geld nicht«, ent geg ne te der an de re, sein Glas aus -

trin kend.

Sweet wa ter lach te, sag te, daß er sich auf sein Ge -

dächt nis ver las sen kön ne und stand auf.

Eine hal be Stun de nach her war er am Bahn hof

und fünf zehn Mi nu ten dar auf auf dem Wege nach

Bo ston.

Er fürch te te nur Ei nes: daß Mr. Sto ne viel leicht

mit dem sel ben Zuge nach Bo ston fah re. Als die se

Furcht erst ge schwun den, leg te er sich ge mäch lich

in sei nen Sitz zu rück und zum er sten Male in zwölf

Stun den frag te er sich, wer er ei gent lich war und

was er tat? Aben teu er folgte so schnell auf Aben teu -

er, daß er sich kaum recht er in nern konn te, wie Al -

les ge kom men und was Al les ge sche hen. Wür de er

je er fah ren, was das Pa ket, das er ab ge lie fert, ent -

hal ten und was die Fol gen wa ren? Und nun die ser

neue Auf trag! Hing er mit dem er sten zu sam men

oder war es nur ein Zu fall, daß er zur rech ten Zeit,

am rech ten Ort auf den rech ten Mann rann te? Fast

glaub te er so. Aber wie selt sam, daß in ei ner so klei -

nen Stadt wie New Bed ford ein ge hei mer Auf trag

dem an dern folgte und ihn von ei ner Stel le zur an -

dern brach te, im mer nä her dem Orte zu, den er am

we nig sten zu be tre ten er war te te und am mei sten

zu fürch ten hat te. Doch was hilft al les Nach den -

ken? War es das Schick sal, das so mit ihm spiel te,

dann gab es kein Ent rin nen und war es Zu fall, dann

konn te der sel be Zu fall ihn wie der an ders wo hin ver -

schla gen. Wie dem auch sei — — —

Sweet wa ter schlief ein und als er er wach te, be -

fand er sich in Bo ston.

Zu erst sah er sich nach den vier Adres sen um

und war er staunt, zu hö ren, daß alle im fein sten

Stadt vier tel la gen. Zwei da von wa ren die Na men

der er sten Club-Häu ser, die drit te ein erst klas si ges

Ho tel und die vier te ein Pri vat haus an Com mon -

wealth Ave nue. Und er selbst schau te aus wie ein

Bett ler oder doch bei na he so!

»Ein son der ba rer Bote für ei nen sol chen Auf -

trag«, dach te Sweet wa ter. »Wes halb der Mann ge ra -

de ei nen so schä bi gen Men schen aus such te? Muß

wohl ei nen be son de ren Grund ha ben! Ob er wohl

im Stil len hoff te, daß sein Auf trag miß lingt? Kaum.

Er sah ziem lich ru hig aus, als ich ab fuhr, voll stän -

dig gleich gil tig und kein bi schen ner vös. Ob ich

selbst am Ende der ge leim te bin? Wes halb hät te er

aber mei ne Fahrt be zah len sol len? Si cher nicht mei -

nes schö nen Ge sich tes we gen. Dann aus selbst süch -

ti gen Grün den. Wel ches kön nen die se Grün de sein?

Das wer de ich bald aus fin den, so bald ich erst den

rot haa ri gen Ado nis ge fun den, der Kar ten spielt

und ei nen Arm in der Schlin ge trägt«.

Im er sten Klub-Haus fand er ohne Schwie rig keit

Ein gang. Er trat in die Hal le, un ter hielt sich mit

dem Por tier und hat te bald er fah ren, daß der

Mann, den er such te, heu te Abend nicht er war tet

wer de. Er er fuhr auch sei nen Na men; er hieß Ka pi -

tän Watt les, ein Name, den je der mann gut zu ken -

nen schien und der of fen bar eine be deu ten de Rol le

in die sem ari sto kra ti schen Klub spiel te.

Nun ging er zum zwei ten Klub-Haus und frag te

kurz weg nach Ka pi tän Watt les. Ka pi tän Watt les

war noch nicht ge kom men. Jetzt ging Sweet wa ter

nach dem Re stau rant; doch auch dort war der Ge -

such te nicht. Als er fort ging, be geg ne te er zwei

Män nern, von de nen er den ei nen sa gen hör te:

»Krank, sagst Du? Ich dach te, Watt les wäre von

Ei sen?«

»Das war er auch, ehe er sei nen Arm ge bro chen.

Jetzt macht ihn jede Klei nig keit ner vös. Er ist un ten

bei Ha ber stows und — — — —«

Die Türe schlug zu und Sweet wa ter hör te das

Ende des Sat zes nicht. Ka pi tän Watt les bei Ha ber -

stows! Was ist Ha ber stow? Wo ist Ha ber stow?

Schnell ent schlos sen ging er den bei den Män nern

nach und sprach den ei nen an, den er über Watt les

spre chen hör te.

»Sie spra chen eben von Ka pi tän Watt les. Ich su -

che den Ka pi tän. Kön nen Sie mir sa gen, wo ich ihn

fin den kann?«

Er er hielt nicht nur kei ne Ant wort auf sei ne Fra -

ge, son dern auch die kur ze An wei sung, so schnell

als mög lich den Platz zu ver las sen. Das tat er auch

und mach te sich auf den Weg zur letz ten Adres se.

Es war schon spät, fast zu spät, um ein frem des

Haus zu be tre ten. Das Haus in des, das er such te,

war er leuch tet und ein Wa gen stand vor der Türe.

Sweet wa ter sprang die gro ße, brei te Trep pe hin -

auf, las den Na men auf dem blan ken Mes sing schild

und war nicht we nig er staunt, dar auf

Ha ber stow

zu le sen. Eben woll te er klin geln, als die Türe auf -

ging und ein äl te rer Herr er schien, der ei nen jün ge -

ren ver ab schie de te. Der letz te re trug sei nen Arm in

der Schlin ge und ging merk wür dig auf recht. Der äl -

te re Herr schien sehr er regt.

»Es be darf kei ner Ent schul di gun gen«, sag te der

jün ge re. »Die Nacht luft scha det mir nicht, dan ke.

Ich bin nicht so krank. Wenn ich erst wie der voll -

kom men her ge stellt bin, wer den wir wei ter dar -

über re den. Mei ne Emp feh lung an Ihre Fräu lein

Toch ter. Wün sche gu ten Abend, viel mehr gute

Nacht«.

Der alte Herr ver beug te sich. Wäh rend er dies

tat, sah Sweet wa ter für ei nen kur zen Au gen blick

ein hüb sches, ängst lich-er reg tes Mäd chen ge sicht

hin ten in der Hal le, das so fort ver schwand, noch

ehe der alte Herr sich auf ge rich tet hat te. Mit ei ni -

gen sar ka sti schen Wor ten schloß er dann die Türe.

Sweet wa ter lief dem jun gen Man ne nach und

hol te ihn ein, als er eben den Wa gen be stie gen hat -

te und der Kut scher die Zü gel er griff.

»Ver zei hen Sie«, sag te er, »Sie ha ben et was ver -

ges sen« und als Ka pi tän Watt les su chend um her -

schau te, setz te er hin zu: »Sie ha ben mich ver ges -

sen«.

Der Fluch, der durch den ro ten Schnurr bart

klang, ließ selbst Sweet wa ter zu sam men fah ren. Er

hielt in des am Fen ster fest und sag te lei se:

»Ich kom me von New Bed ford mit ei ner Bot -

schaft für Sie. Ich su che Sie seit zwei Stun den und

habe nicht viel län ger mehr Zeit. Wo kann ich Sie in

ei ner hal ben Stun de fin den?«

Ka pi tän Watt les, auf den der Name New Bed ford

ei nen son der ba ren Ein druck ge macht zu ha ben

schien, deu te te auf den Platz ne ben dem Kut scher

und lehn te sich dann in die Pol ster zu rück; er war

of fen bar nicht in best er Lau ne.

Sweet wa ter stieg auf, wor auf der Wa gen in

schnel lem Lau fe da hin fuhr. Er hat te kaum ein oder

zwei Fra gen an den Kut scher ne ben ihm stel len kön -

nen, als der Wa gen vor ei nem hell er leuch te ten

Hau se in ei ner schö nen, wei ten Stra ße an hielt. Ka -

pi tän Watt les stieg aus, ging an Sweet wa ter, der

schnell von sei nem Sit ze ge sprun gen war, vor über,

als ob er gar nicht exi stier te und schritt in das

Haus, in ei ner Hal tung, daß sich Sweet wa ter so

klein und un be deu tend vor kam, daß er sich fast

schäm te, dem Hü nen mit dem Teu fels kop fe zu fol -

gen. Au ßer dem schien die ser in schlech ter Lau ne

zu sein und in ei ner Stim mung, als ob er al les zer -

mal men wol le, was ihm in den Weg kom me. Sweet -

wa ter folgte ihm erst eine Trep pe hin auf, dann

noch eine, bis Ka pi tän Watt les vor ei ner klei nen

Türe Halt mach te und ver such te, sie mit ei nem

Schlüs sel zu öff nen. Als ihm dies nicht gleich ge -

lang, fluch te er und stieß dann die Türe zu rück,

daß Sweet wa ter fast den Mut ver lor, ihm wei ter zu

fol gen.

Im näch sten Au gen blick er hell te elek tri sches

Licht das Zim mer und ließ deut lich des Ka pi täns

mäch ti ge Ge stalt und dro hen de Züge se hen. Er

warf wü tend sei nen Hut in die Ecke, sei nen Man tel

auf ei nen Stuhl und hat te of fen bar ganz und gar ver -

ges sen, daß ein Frem der bei ihm im Zim mer war. Er

stieß kur ze Sät ze aus, scharf und schnei dend, die

Sweet wa ter ver an la ß ten, sich zur Türe zurück -

zuziehen.

»Der alte Geld protz! Will kom men als Freund,

aber nicht gut ge nug als Schwie ger sohn! Als ob ich

stun den lang sei nen Quatsch an hör te sei ner Freund -

schaft we gen! Er habe ge hört, daß ich Kar ten spie le

und — — —.

Wie schön sie aus sah! Ich glau be, ich könn te sie

halb wegs gern ha ben. Und wenn ich be den ke, daß

sie eine Mil lion im Ver mö gen hat — — —. Ver flucht!

Wenn ich sie nicht mit Zu stim mung ih res Va ters

hei ra ten kann, hei ra te ich sie ohne die sel be! Ich

brau che das Geld und — — — Ah! Wer bist Du?«

End lich hat te er Sweet wa ter be merkt.

»Was tust Du hier und wer hat Dich ein ge las sen?

Hin aus oder — — —«.

»Eine Mit tei lung, Ka pi tän Watt les, eine Mit tei -

lung aus New Bed ford. Sie ha ben wohl ver ges sen,

daß Sie mich her be stell ten?«

Es war merk wür dig, wie sich des Er reg ten Zorn

leg te, als er Sweet wa ters ru hi gen Blick be merk te

und den Zet tel, den er ihm ent ge gen hielt.

»New Bed ford? Ah, wohl von Camp bell. Laß se -

hen!« Dann nahm er den Zet tel, las und schau te auf

Sweet wa ter.

Sweet wa ter kann te den In halt des Zet tels; er hat -

te die bei den Wor te ge le sen, wäh rend der Frem de

in New Bed ford sie ge schrie ben. Sie lau te ten: »Er -

eig nis se Afgha ni stan« und die Zahl »2000« hin ter

dem letz ten Wor te.

Ka pi tän Watt les nahm ein klei nes Buch aus sei -

ner Brust ta sche, blät ter te dar in, wäh rend er halb -

laut die bei den Wor te vor sich hin mur mel te und

schrie dann Sweet wa ter an: »Ist das al les? Nennt er

das eine Mit tei lung?«

»Es ge hört noch ein Wort dazu«, sag te Sweet wa -

ter ru hig, »das ich Ih nen münd lich sa gen wer de, so -

bald Sie mir fünf und zwan zig Dol lars für mei ne

Dien ste be zahlt ha ben wer den. Ich kam ex tra von

New Bed ford hier her, Ih nen die se Mit tei lung zu

brin gen und ich glau be, ich habe das Geld red lich

ver dient«.

Er er war te te, ei nen Faust schlag zu er hal ten,

doch Ka pi tän Watt les starr te ihn nur an.

»Fünf und zwan zig Dol lars«, mur mel te er, in Ge -

dan ken ver sun ken, »gut, daß ich sie habe. Und wer

bist Du? Si cher kei ner von Camp bells Auf ge le se -

nen«.

»Ich bin ein ge hei mer Agent« ent geg ne te Sweet -

wa ter, lä chelnd, daß er solch schö nen Na men für

sich ge fun den. »Ich über brin ge Bot schaf ten und

füh re Auf trä ge aus, die au ßer ge wöhn li che Schlau -

heit er for dern. Ich wer de gut da für be zahlt. Die ser

Auf trag, zum Bei spiel, bringt mir fünf und zwan zig

Dol lars ein«.

»Das hast Du mir schon ein mal ge sagt!« schrie

der An de re. »Wie heißt das Wort?«

»Erst das Geld«, sag te Sweet wa ter, si cher, daß

der Schlag jetzt fal len wür de. Der Ka pi tän in des lä -

chel te, zog mit sei ner frei en Hand sein Ta schen -

buch her aus und leg te drei Schei ne auf den Tisch.

»Hier« sag te er, in dem er die Fin ger auf das Geld

leg te. »Jetzt das Wort«.

Sweet wa ter leg te sei ne Hand auf das Geld und

sag te dann:

»Fre de rick«.

»Ah!« rief der Ka pi tän, sei ne Hand weg neh -

mend und lang sam im Zim mer auf und ab ge hend,

»er ist hart! Was er sagt, tut er auch! Zweit au send

Dol lars! Und bald, wie ich glau be. Na, dies mal bin

ich ek lig in der Pat sche«.

Er hat te of fen bar wie der Sweet wa ter ver ges sen.

Plötz lich hielt er an.

»Ein Fre de rick muß dem an dern aus hel fen!«

rief er. »Das ist der ein zi ge Aus weg, den ich sehe!«

Dann warf er sich in ei nen Ses sel, aus dem er im

näch sten Augen blic ke schrei end wie der auf sprang,

da er sich an sei nen we hen Arm ge sto ßen hat te.

Sweet wa ter hielt es an der Zeit, sich zurück -

zuziehen und war eben im Be griff, die Türe zu öff -

nen, als ihm der Ka pi tän zu rief:

»Halt! Ich habe viel leicht was für Dich zu tun. Ge -

hei me Agen ten sind schwer zu be kom men und wer

für Camp bell gut ge nug ist, kann auch mei ne Ge -

schäf te be sor gen. Setz Dich! Ich wer de mit Dir re -

den, so wie ich fer tig bin«.

Sweet wa ter tat, wie ihm ge hei ßen. Das Ge schäft

blüh te; viel leicht noch ein Auf trag und wie der zu ei -

nem Fre de rick. Merk wür dig, wie vie le Fre de ricks

es doch auf der Welt gab!

Ka pi tän Watt les hat te sich in ei nen Ses sel ge legt

und schau te nach denk lich nach der Dec ke. End lich

nahm er ein Stück Pa pier und be gann zu schrei ben

und bald war er so in sei ne Ar beit ver tieft — be durf -

te es doch der grö ß ten An stren gung und Auf merk -

sam keit, um mit der ei nen frei en Hand al les zu be -

werk stel li gen — daß er für nichts an de res Aug und

Ohr hat te.

Die se Ge le gen heit mach te sich Sweet wa ter zu

Nut zen, das klei ne Buch, in dem der Ka pi tän vor hin

ge blät tert und das er in der Wut auf den Bo den ge -

wor fen hat te, mit dem Fuße an sich zu zie hen, was

ihm auch end lich ge lang. Doch wie dar in blät tern,

ohne daß je ner es merk te? Dem an ge hen den De tek -

tiv ge lang auch dies und bald las er: »Er eig nis se:

Spiel ent deckt. Spie le rich tig, bis ich Dir wei te ren

Wink gebe«. »Afgha ni stan: »Schwei ge geld«. Da

dem letz ten Wor te die Zahl 2000 folgte, be durf te

dies kei ner wei te ren Er klä rung, wohl aber das Wort

»Fre de rick«. Sweet wa ter such te, fand es aber

nicht. Dar aus fol ger te er, daß die se Per son den bei -

den Män nern hin läng lich be kannt war und daß die -

ser Fre de rick es war, der das Schwei ge geld ver lang -

te.

Sweet wa ter ließ das Buch vor sich tig zu Bo den

glei ten und gab ihm dann ei nen Stoß mit dem Fuße,

daß es weit ins Zim mer flog. Ka pi tän Watt les hat te

nichts be merkt; er war zu sehr in sei ne Ar beit ver -

tieft.

Das Brief schrei ben dau er te so lan ge, daß Sweet -

wa ter ein nick te oder we nig stens tat, als ob er

schlie fe und erst wie der die Au gen öff ne te, als der

Ka pi tän rief:

»Heda! Sind Sie be reit, eine an de re Rei se zu ma -

chen?«

»Das kommt ganz dar auf an«, er wi der te Sweet -

wa ter auf ste hend und sich schläf rig strec kend. Mir

liegt die letz te noch im Ma gen und ich möch te lie -

ber schla fen«.

»Wohl we gen der Be zah lung? Die wer den Sie

schnell ge nug be kom men, wenn Sie ih ren Auf trag

aus ge führt ha ben. Die ser Brief soll mir zweit au -

send fünf hun dert Dol lars brin gen oder ei nen Check

da für. Brin gen Sie mir das Geld in ner halb vier und -

zwan zig Stun den, sol len Sie ei nen run den Hun der -

ter ha ben, ein net tes Geld für eine fünf stün di ge Rei -

se, he? Bes ser, als schla fen, was? Au ßer dem kön -

nen Sie im Zuge schla fen«.

Sweet wa ter stimm te all dem bei, setz te sei ne

Müt ze auf und griff nach dem Brief. Er woll te sich

nicht zum Bo ten ei ner Schlech tig keit ma chen las -

sen, war in des be gie rig, zu se hen, an wen der Brief

adres siert war. Doch der Ka pi tän schien plötz lich

arg wöh nisch ge wor den zu sein.

»Die ser Brief ist nicht für den Brief ka sten be -

stimmt«, schrie er. »Sie brach ten mir eine Bot -

schaft, die mich da vor be wahr te, heu te Nacht ei nen

Nar ren aus mir zu ma chen. Sie müs sen die sen Brief

per sön lich an sei nen Be stim mungs ort brin gen, ge -

ben ihn ei gen hän dig der Per son, für die er be -

stimmt ist und brin gen die Ant wort ohne Ver zug.

Daß es Nacht ist, braucht Sie nicht zu ge nie ren; ehe

Sie am Plat ze sind, ist es Tag. Kön nen Sie nicht in

des Adres sa ten Haus kom men, dann pfei fen Sie

drei mal so, wie ich jetzt — pas sen Sie auf — und ein

Fen ster wird auf flie gen. Sie ha ben mich ge fun den,

Sie wer den auch den Adres sa ten die ses Brie fes fin -

den. Wenn sie zurück kommen, su chen Sie mich an

den sel ben Plät zen, wie heu te. Nur bei Ha ber stows

brau chen Sie nicht nach mir zu su chen — ich wer de

nicht dort sein«, setz te er sar ka stisch hin zu. »Und

jetzt marsch, marsch! Sie müs sen vor Ta ges an -

bruch ein hun dert Dol lars ver die nen und es ist be -

reits nach zwei Uhr«.

Sweet wa ter eil te hin aus. Drau ßen hielt er an

und schau te auf die Adres se. Der Brief war an ei nen

Fre de rick adres siert, wohl den zwei ten, von dem

Ka pi tän Watt les ge spro chen. Doch die ser zwei te

war kein Frem der für Sweet wa ter. Der Name auf

dem Kou vert lau te te: Fre de rick Sut her land und der

Be stim mungs ort: Sut her land town.

XXVIII.

Wer bist Du?

Der Kreis war ge schlos sen. Durch eine wun der -

ba re Ver ket tung von Zu fäl len soll te Sweet wa -

ter zu letzt dem Orte zu ge führt wer den, den er flie -

hen woll te. War dies Schick salsfügung? Fast glaub -

te er so und er gab es da her auf, sich län ger da ge gen

zu sträu ben.

Die Ge dan ken an das Miß lin gen sei ner Plä ne

wur den bald durch die freu di ge ren ver drängt, daß

er nun wie der Ca leb Sweet wa ter aus Sut her land -

town war und sei ne alte Mut ter se hen durf te.

Lang sam schlen der te er durch die lee ren Stra -

ßen dem Bahn ho fe zu.

Da dach te er an den Brief, den er bei sich trug.

Was ent hielt der sel be? Wie wür de sein In halt den

Emp fän ger be rüh ren? Wür de er ihm neue Ge fah ren

brin gen? Wür de er, statt Mr. Sut her land zu hel fen,

Un eh re über ihn brin gen, nicht nur durch sein

Zeug nis, son dern auch durch die sen Brief, der si -

cher nichts Gu tes für den Mann be deu te te, von

dem er fünf und zwan zig hun dert Dol lars er pres sen

soll te.

Die Angst, daß sol ches tat säch lich der Fall war,

nahm ihn so ge fan gen, daß er be schloß, den Brief

zu le sen und den In halt ken nen zu ler nen, ehe er

die Stadt ver ließ. Sei ne Ehr lich keit hat te zwar ei -

nen schwe ren Kampf mit ihm zu be ste hen, doch er

lieb te Mr. Sut her land viel zu sehr, als daß er ihn

blind lings ins Ver der ben ren nen soll te. Er ging da -

her in das er ste Ho tel, an dem er vor über kam, be -

stell te ein Zim mer und ko chend hei ßes Was ser.

Dann nahm er den Brief, hielt ihn über den hei ßen

Dampf und hat te das Kou vert bald of fen.

Der In halt ent täusch te ihn nur in so fern, als er

noch ge fähr li cher war als er er war tet. Ka pi tän

Watt les war ein in ti mer Freund Fre de ricks und

kann te des sen Vor le ben bes ser, als ir gend ein an de -

rer Mann. Aus die sem Grun de und der Tat sa che,

daß Fre de rick sich zur Zeit Agat ha Webbs Tod in

sehr be dräng ter Not la ge be fand, schloß der Schrei -

ber, daß Fre de rick der Mör der war. Un ter ge wöhn li -

chen Um stän den wür de er ihm sol che Klei nig keit

nicht vor wer fen, schrieb Ka pi tän Watt les; da er

aber mo men tan selbst in der Pat sche stec ke und

fünf und zwan zig hun dert Dol lars brau che, so mü ß te

er Fre de rick er su chen, ihm vor Ta ges an bruch das

Ver lang te zu sen den, soll te er nicht am an dern

Tage sei nen Na men in al len Zei tun gen Bo stons als

den Mör der der ar men Mrs. Webb se hen wol len.

Daß sein Name bis jetzt nicht dar in er schie nen sei,

be wei se, wie vor sich tig das Ver bre chen be gan gen

wor den war und es sei wohl die ge nann te Sum me

wert, das Ge heim nis auch für der hin zu be wah ren.

Der Brief trug kei ne Un ter schrift.

Sweet wa ter schloß das Ku vert wie der, zahl te sei -

ne Rech nung und ver ließ das Haus. Jetzt sah er ein,

wes halb die Vor se hung ihm nicht er laub te, das Op -

fer zu brin gen, das er be ab sich tigt hat te: ein an de -

rer wu ß te um das Ge heim nis und es be durf te nur ei -

nes Wor tes von ihm, das Haar zu durch schnei den,

an dem das Schwert über Fre de ricks Haup te hing.

Doch Sweet wa ter war be reit, auch die se Auf ga be zu

lö sen.

»Ge lingt mirs nicht«, sag te er, »kann ich we nig -

stens zurück reisen mit vol ler Kennt nis der neu en

Ge fahr, die Fre de rick be droht. Ge lingt es mir, dann

rei se ich erst recht. Es ist zweck los, mich län ger ge -

gen das Schick sal sträu ben zu wol len«.

Er ging in das Klub-Haus zu rück, in dem er zu -

erst nach Ka pi tän Watt les ge fragt hat te und fand

auch wirk lich den Ge such ten in ei nem Ne ben zim -

mer, Kar ten spie lend. Man sag te ihm, der Ka pi tän

lie ße sich nicht un ter bre chen.

»Er läßt sich von mir un ter bre chen«, ent geg ne -

te Sweet wa ter. »War ten Sie: ge ben Sie ihm die sen

Brief und sa gen Sie, der Bote leh ne es ab, ihn zu be -

sor gen«.

Kaum war der Kell ner hin ein ge gan gen, als Ka pi -

tän Watt les er schien.

»Was zum Teu fel — — —« be gann der Ka pi tän in

hel ler Wut.

Sweet wa ter leg te die Hand auf den kran ken

Arm, stell te sich auf die Fuß ze hen und flü ster te in

des Er reg ten Ohr:

»Sie sind ein Falsch spie ler und wenn ich will,

sind Sie rui niert! Dro hen Sie Fre de rick Sut her land

und in ner halb zwei Ta gen sit zen Sie hin ter Schloß

und Rie gel. Zweit au send fünf hun dert Dol lars ent -

schä digt Sie da für nicht!«

Der Ka pi tän stand starr! Dies al les sag te ihm ein

un schein ba rer Mensch, der we der dem Aus se hen

noch der Klei dung nach ein Gentle man schien.

Plötz lich schrie er:

»Wo her weißt Du das? Wo her willst Du wis sen,

was oder was nicht in die sem Brie fe steht?«

Sweet wa ter zog die Schul tern in die Höhe und

ant wor te te ru hig: »Ich weiß es, weil ich es ge le sen

habe. Ehe ich mei nen Kopf in des Lö wen Ra chen

stec ke, zäh le ich ge wöhn lich erst sei ne Zäh ne«.

»Wer bist Du? Wie heißt Du?« schrie Watt les, als

Sweet wa ter lang sam der Türe zu ging. Es war das

drit te Mal in ner halb vier und zwan zig Stun den, daß

man die sel be Fra ge an ihn stell te; doch nie zu vor

war dies mit sol chem Aus druck ge sche hen.

»Wer bist Du, fra ge ich und was kannst Du mir

tun?«

»Ich bin — — — doch das ist so ne ben säch lich

und Ih rer Neu gier de kaum wert. Was ich Ih nen tun

kann? War ten Sie es ab und Sie wer den es se hen!

Vo rerst aber ver bren nen Sie die sen Brief . . . . . .«

Dann ging Sweet wa ter hin aus, ge folgt von wil -

den Flü chen, die der Ka pi tän aus stieß, der zum er -

sten Male ei nen eben bür ti gen Geg ner ge fun den hat -

te.

XXIX.

Wie der da heim.

Auf sei nem Wege zur Bahn kauf te sich Sweet wa -

ter den »Mor ning-He rald«; am Bahn ho fe an ge -

kom men, öff ne te er die Zei tung. Die er ste Spal te

brach te ei nen Be richt über das Wrack der Hes per;

die an de re Hälf te der Sei te han del te von dem drit -

ten Tag des Ver hörs über den Tod Agat ha Webbs. Er

durch flog die er ste Spal te flüch tig, sah, daß sein

Name un ter den Ver mi ß ten ge nannt ward und las

dann auf merk sam die Ver hand lung, die ihn im

höch sten Gra de in ter es sier te.

Ka pi tän Watt les hat te recht in sei nem Brie fe: bis

jetzt war noch kein Ver dacht auf Fre de rick ge fal -

len. Als Lieb ha ber Ama bels ward sein Name na tür li -

cher wei se ge nannt; doch we der im re dak tio nel len

noch all ge mei nen Teil stand et was da von, daß das

Pu bli kum ver mu te te, daß Fre de rick der Mann ge -

we sen, dem Ama bel folgte. Dies war für Sweet wa ter

eine gro ße Er leich te rung und er las mit mehr Auf -

merk sam keit. Trotz dem die Un ter su chung schon

drei Tage währ te, war doch nicht viel mehr zu Tage

ge kom men, als er an dem Mor gen wu ß te, da er auf

der Hes per ent floh. Die mei sten Zeu gen hat ten ihre

Aus sa gen wie der holt und ob wohl kein di rek ter Ver -

dacht aus ge spro chen ward, konn te man doch deut -

lich er ken nen, daß man Ama bel als Mit schul di ge be -

trach te te und sie in sehr zwei deu ti gem Lich te

stand. Ihre Ant wor ten konn ten auch dies mal nicht

ge gen sie selbst ver wandt wer den; sie wa ren eben -

so dun kel und my ste ri ös, wie bei ih rem er sten Ver -

hör und, wie es Sweet wa ter schien, nur dar auf be -

rech net, sich selbst und ih ren Lieb ha ber zu ret ten

und den Ver dacht auf den to ten Za bel zu len ken.

Sweet wa ter wu ß te da mals nicht, und viel leicht

war es gut, daß er es nicht wu ß te, daß Ama bel nur

ihre Zeit ab war te te, die jetzt sehr nahe be vor stand

und daß sie Fre de rick nicht lieb te, son dern so gar

ha ß te und ihn un ter al len Um stän den ver nich ten

woll te, wür de er sich ih ren Wün schen nicht fü gen.

Der Schluß des Ar ti kels deu te te dar auf hin, daß

Mr. Sut her land bald den Zeu gen stand be tre ten wer -

de, um über sein Ver hält nis als Testa ments voll -

strec ker aus zu sa gen. Sweet wa ter ward beim Le sen

die ses Pas sus sehr ernst. Es stand bei ihm fest daß

er ver bor gen blei ben müs se, bis Mr. Sut her land die -

se sei ne Aus sa gen ge macht hat te, da mit nicht sein

un zei ti ges Er schei nen die sen un nö tig er reg te.

»Ein Blick, ein Zei chen, ein Wort, daß er weiß,

sein Sohn ist an dem Ver bre chen be tei ligt, durch

das er zum Er ben ei nes so gro ßen Ver mö gens ge -

wor den, ge nügt, um Fre de rick des Mor des zu zei -

hen und nichts kann ihn dann ret ten, we der

Knapps Tüch tig keit, mein Schwei gen, noch Ama -

bels Schlau heit. Fre de rick ist dann un rett bar ver lo -

ren!«

Er wu ß te nicht, daß Ama bels Schlau heit da hin

ziel te, ei nen Gat ten zu ge win nen und daß sie, soll te

ihre Ab sicht miß lin gen, ihn an dem sel ben Tage,

Schlag zwölf Uhr, ver nich ten wer de.

Eben grau te der Mor gen, als Sweet wa ter nach

Sut her land town kam. An Mr. Hal li days Haus vor -

über ge hend, be merk te er zu sei nem Er stau nen

Licht in ei nem Er ker fen ster. Er ahn te nicht, wie

rast los in je nen Ta gen ein lie ben des Herz schlug.

Das Sut her land-Haus lag in tie fem Dun kel. Er

schlich sich längs der Mau er hin und zuck te zu sam -

men, als er über sich ein Seuf zen hör te, das ihm

deut lich sag te, daß Ruhe kei ne Stät te in die sem

Haus ge fun den.

In zwi schen glüh te das er ste Mor gen rot über der

See. Wac ker schritt Sweet wa ter aus, der müt ter li -

chen Hüt te zu.

»Was? Sweet wa ter? Le ben dig und wohl?« rie fen

ihm ei ni ge Be kann te ent ge gen.

»Heda, Sweet wa ter! Wir dach ten, Du seist mit

der Hes per un ter ge gan gen«.

»Ei, Sweet wa ter! Du kommst ge ra de recht, die

schö ne Ama bel ar re tiert zu se hen«.

Sol ches und an de res wur de ihm zu ge ru fen,

doch er ant wor te te we nig. Ihn be schäf tig te jetzt

nur die eine Fra ge, der eine Ge dan ke: wie geht es

der al ten Mut ter? Und ei ligst lief er der hei mat li -

chen Türe zu.

III. Teil.Wäre Bat sy am Le ben.

XXX.

Was dem Gloc kenschlag zwölf folgte.

Es war der letz te Tag der Un ter su chung und so -

weit der un in ter es san te ste. Alle wich ti gen Aus -

sa gen wa ren be reits ge macht wor den und mit Aus -

nah me von zwei Per so nen schien nie mand den Ver -

hand lun gen mehr zu fol gen. Sweet wa ter, der in ei -

ner un auf fäl li gen Ecke in der Nähe des Un ter su -

chungs rich ters saß, be trach te te die se bei den Per so -

nen auf merk sam: es war Ag nes Hal li day und Ama -

bel Page. Fre de rick war nicht im Saa le; daß er sich

in der Nähe be fand, konn te Sweet wa ter leicht aus

dem plötz li chen Wech sel in Ama bels Zü gen er ken -

nen. Wäh rend sie frü her kalt lä chelnd den sie an -

star ren den Blic ken be geg ne te, rich te te sie sich

mehr und mehr auf, je wei ter sich die Zei ger der

mit täg li chen Stun de nä her ten und schau te mit

ängst li cher Er war tung und so er regt nach der Türe,

daß Sweet wa ter sie er staunt an sah.

Im näch sten Augen blic ke ging die Türe auf und

Fre de rick trat ein, in Be glei tung sei nes Va ters. Der

Aus druck des Tri um phes, mit dem sich Ama bel nun

in den Ses sel zurück legte, präg te sich eben so deut -

lich auf ih ren Zü gen aus, wie vor hin die ängst li che

Er war tung. Was hat te das zu be deu ten? Der Kon -

trast ih rer sieg rei chen Mie ne mit Fre de ricks ver -

zwei fel tem Aus druck gab Sweet wa ter zu den ken.

Mr. Sut her land sah äl ter und schwä cher aus,

denn je zu vor. Er nahm den ihm an ge bo te nen Stuhl

und sank so in sich zu sam men, daß alle im Saa le Be -

dau ern mit ihm emp fan den und vie le auf Fre de rick

schau ten, ob die dü ste re Wol ke, die den Va ter so

gänz lich ein ge hüllt, auch ihn bedrück te. Die ser je -

doch schau te auf Ama bel und be merk te die fra gen -

den Blic ke nicht, die auf ihn fie len. Ama bel, die sei -

nen Blick auf fing, lä chel te mit je nem teuf li schen Lä -

cheln, das den Un ter su chungs rich ter mehr als ein -

mal irre ge führt und das sie zur Be wun de rung und

zum Schrec ken zu gleich al ler de rer mach ten, die

sie be ob ach te ten.

Fre de rick, für den die ses Lä cheln eben so gut

eine letz te Hoff nung, als eine letz te Dro hung be deu -

ten konn te, be merk te, wie sie fra gend auf sei ne

Hand schau te, dar an der Ring fehl te, den er bis

jetzt im mer ge tra gen, und wand te sei nen Kopf zur

Sei te. Mit die sem Blic ke und sei ner Wen dung des

Kop fes be gann der Kampf, der die sen Tag zu ei nem

un ver geß li chen mach te.

Nach dem sich die Auf re gung, wel che der Ein -

tritt zwei er so wich ti ger Zeu gen ver ur sacht hat te,

ge legt, herrsch te die ge wohn te Stil le im Saa le.

Ein neu er Zeu ge ward jetzt auf ge ru fen; doch

auch er konn te nicht das ge ring ste Licht auf die blu -

ti ge Tat wer fen oder zur Auf klä rung der jen igen

Punk te bei tra gen, die Ama bel an ge deu tet hat te.

Wäh rend sich der Zeu ge setz te, be gann die Uhr

die zwölf te Stun de zu schla gen. Als die lang sa men,

schwe ren, dump fen Töne er klan gen, be merk te

Sweet wa ter eine plötz li che, kon vul si ve Er re gung

in Fre de rick. Die alte Furcht, die wir ken nen, die

Sweet wa ter aber nicht kann te, be mäch tig te sich

Fre de ricks und un will kür lich, un ter Ama bels Blik -

ken, stahl sich sei ne rech te Hand zur lin ken. Eher

nach ge ben, als in den Ab grund stür zen, den ein

Wort von ihr vor ihm auf tun konn te! Er hat te nicht

be ab sich tigt, nach zu ge ben. Aber jetzt, in der letz -

ten Stun de, wo er zu wäh len hat te zwi schen sei nem

ei ge nen Le bens glück und dem Elend und der Schan -

de al ler de rer, die ihm lieb wa ren, da fühl te er sei ne

Kräf te wei chen und er war be reit, jede Ret tung zu

er grei fen, die sich ihm dar bö te. Schlag um Schlag

fiel; er fühl te sei ne Wil lens kraft im mer mehr wei -

chen und hat te fast den Fin ger der lin ken Hand be -

rührt, eine Be we gung, auf die Ama bel ängst lich

war te te, als er den Schat ten und die bit ten den Ge -

bär den ei nes ge lieb ten Ant lit zes vor sich sah. »Mut -

ter!« rief es in ihm und schnell er griff er des Va ters

Arm, um den Bann zu bre chen, der ihn zu umstrik -

ken schien und um sich für im mer von dem Ein flus -

se zu be frei en, dem er fast un ter le gen wäre.

Da fiel der letz te Schlag und da mit war die Frist

ver flos sen, die Ama bel ihm ge stellt hat te.

Es herrsch te Stil le im Saa le. Der letz te Zeu ge

war eben ent las sen wor den, Ama bel hat te sich vor -

ge beugt, um Mr. Court ney et was ins Ohr zu flü -

stern, als Fre de rick auf sprang und mit lau ter Stim -

me in den Saal rief:

»Ich bit te, ver ei digt zu wer den! Ich habe Aus sa -

gen zu ma chen, die von höch ster Wich tig keit für

die Un ter su chung sind!«

Der Un ter su chungs rich ter war über rascht, je -

der im Saa le war über rascht. Nie mand hat te eine

Aus sa ge von ihm er war tet und al ler Au gen wand -

ten sich auf Ama bel, um zu se hen, wel chen Ein -

druck Fre de ricks Er klä rung auf sie mach te.

Sie saß un be weg lich da, wie ein Bild aus Stein,

ihre Züge starr, ei sig und nichts ver riet ihr wirk li -

ches Füh len.

»Wenn Sie Aus sa gen zu ma chen ha ben«, sag te

der Un ter su chungs rich ter end lich, nach ei ner lei -

sen, flüch ti gen Zwie spra che mit Mr. Court ney und

dem er staun ten Knapp, »kön nen Sie nichts bes se -

res tun, als die se so gleich zu ma chen. Mr. Fre de rick

Sut her land, wol len Sie den Zeu gen stand be tre -

ten?«

Mit fe sten Schrit ten ging Fre de rick auf die Her -

ren zu, doch noch ehe er halb im Saa le war, schau te

er zu rück auf sei nen Va ter, der völ lig ge bro chen im

Stuh le saß, ging zu ihm hin und sag te:

»Geh hin aus und er spa re mir den Schmerz, in

Dei ner An we sen heit sa gen zu müs sen, was ich vor -

zu brin gen habe. Ich könn te dies nicht er tra gen!

Auch Du könn test es nicht er tra gen! Spä ter, wenn

Du in ei nem der Zim mer hier war ten willst, wer de

ich Dir al les sa gen; jetzt aber geh. Dies ist mei ne

letz te Bit te«.

Je der mann im Saa le hat te die Wor te ge hört,

doch kei ner sprach. Lang sam stand Mr. Sut her land

auf, trat aus der Türe, die sich vor ihm öff ne te und

ging in ein Ne ben ge mach und erst als die Türe sich

hin ter ihm ge schlos sen, be trat Fre de rick den Zeu -

gen stand.

Die Auf re gung im Saa le hat te ih ren Hö he punkt

er reicht. Der Un ter su chungs rich ter schien eben so

er regt, wie die Zu schau er, denn er stell te gleich die

wich tig ste Fra ge, wel che die se Ant wort brach te:

»Ich habe mich als Zeu gen an ge bo ten und bit te

die Her ren Ge schwo re nen, mein Zeug nis ent ge gen

zu neh men, weil kein Mensch bes ser im stan de ist,

so ge naue An ga ben über Art und Wei se, wie Agat ha

Webb ih ren Tod fand, zu ma chen, als ich. Sie wer -

den mir dies glau ben, wenn ich Ih nen sage, daß ich

die Per son war, der Miß Page nach Mrs. Webbs

Haus folgte und die sie die Trep pe her ab kom men

hör te, als sie ne ben dem schla fen den Phi le mon nie -

der kau er te«.

Dies war mehr, un end lich mehr, als ir gend je -

mand im Saa le er war tet hat te. Das war nicht nur

eine Zu stim mung zu dem, was Ama bel Page ge sagt

hat te, das war ein Ge ständ nis, und der Schlag, der

Schreck, die Ue ber ra schung, die sich selbst de rer

be mäch tig ten, die Fre de rick nie et was Gu tes zu ge -

traut hat ten, war über wäl ti gend.

Für Fre de rick selbst war es ein Au gen blick un -

sag ba ren Elends und Er nied ri gung. In je dem Ant -

litz, in je der Ge bär de, in je dem Auge, in lei sem Mur -

meln und in lau ten Wor ten sah und hör te er sein

Ver dam mungs ur teil. Und doch hat te er nie im Le -

ben der Men schen Rück sicht und Ach tung so ver -

dient, als ge ra de jetzt! Er fühl te dies al les und stand

den noch auf recht. Er hat te ge se hen, wie Ama bel er -

bla ß te und be ach tet, wie Ag nes er rö te te und um

den teuf li schen Tri umph der ei nen zu ent waff nen

und die ge schwun de nen Hoff nun gen der an dern zu

be le ben, hielt er vor dem dro hen den Ge mur mel der

Men ge stand und fuhr fort, noch ehe der Un ter su -

chungs rich ter sich von sei nem Er stau nen ganz er -

holt hat te.

»Ich bin mir der Emp fin dun gen wohl be wußt,

wel che die ses Be kennt nis in den Her zen der Ge -

schwo re nen und der Zu hö rer her vor brin gen muß.

Wenn in des ein ein zi ger un ter al len Men schen hier

mich als den schul di gen Teil an Agat ha Webbs Tod

be trach ten woll te, des sen un frei wil li ger und

unglück licher Zeu ge ich ge we sen, dann wür de er

ein Un recht an mir be ge hen, das Agat ha Webb als

die er ste ver dam men wür de! Dr. Tal bot und Sie mei -

ne Her ren Ge schwor nen: im An ge sicht von Gott

und den Men schen hier schwö re ich, daß Agat ha

Webb sich in mei ner Ge gen wart und vor mei nen Au -

gen den Stoß ver setz te, der uns alle der edel sten

Frau be raub te! Sie hat sich selbst ge tö tet und ward

nicht er mor det!«

Trotz des fei er li chen Schwu res glaub te ihm nie -

mand.

»Lüge! Nie! Sie war viel zu gut dazu! Ver leum -

dung!« und ähn li che Wor te flo gen durch den Saal

und ob wohl der Rich ter hef tig auf den Tisch schlug

und die Po li zei alle An stren gung mach te, die Ord -

nung her zu stel len, ließ sich die Men ge nicht be -

schwich ti gen. Erst als Ama bel mit teuf li schem Lä -

cheln, aus dem man deut lich er se hen konn te, daß

sie kein Wort von dem, was Fre de rick ge sagt, glaub -

te, die Fal ten ih res Klei des mit grö ß ter See len ru he

zu recht leg te und sich hoch auf rich te te, wand ten

sich al ler Au gen wie der Fre de rick zu, der so fort wei -

ter fuhr.

»Ich habe ge schwo ren bei Gott und den Men -

schen! Darf ich die gan ze Sach la ge er zäh len, Herr

Un ter su chungs rich ter? Von An fang bis zu Ende?«

»Sie dür fen!« war die fe ste Ant wort.

»Sie wis sen, mei ne Her ren«, be gann Fre de rick,

ohne Ama bel an zu schau en, de ren spöt ti sches Lä -

cheln wäh rend des fol gen den die Au gen der Ge -

schwo re nen mehr als ein mal auf sich zog, »und das

Pu bli kum im all ge mei nen weiß es auch, daß Agat ha

Webb mich zum Er ben ih res be deu ten den Ver mö -

gens ein ge setzt hat. Ich habe nie mals ei nem Men -

schen zu ge stan den, nicht ein mal dem al ten Man ne

dort drin nen, daß sie Grün de hier für hat te, trif ti ge

Grün de, Grün de, die ich bis zum Abend ih res To des

selbst nicht kann te, wie ich auch nie mals wu ß te,

daß sie mir ihre be son de re Auf merk sam keit zu ge -

wandt und daß wir uns ge gen sei tig nä her stan den.

Wes halb ich trotz dem an je nem Tage, an dem ich

mich in un sag ba rer Er re gung be fand, ge ra de zu ihr

ging, ver mag ich nicht zu sa gen. Ich wu ß te, sie hat -

te Geld im Hau se — dies hat te ich lei der zu fäl lig er -

fah ren; ich wu ß te auch, daß sie sehr gut her zig war

und be reit, ei nem Be dräng ten zu hel fen. Doch all

dies wäre kein Grund, des Nachts und zu so un ge -

wöhn li cher Stun de zu ei ner völ lig Frem den zu ge -

hen, um Geld zu lei hen, wäre ich nicht, wie ge sagt,

in ei ner gei sti gen Fas sung ge we sen, die al les glaub -

lich macht. Es war eine un eh ren haf te, drüc kende

Schuld, die die sen Zu stand her vor brach te. Ich

brauch te Geld, viel Geld und brauch te es so fort und

ob wohl ich weiß, daß die se Er klä rung den Ver -

dacht, den ich auf mich ge la den, nur er hö hen kann,

gibt es doch kei ne an de re Er klä rung da für, wes halb

ich des Nachts den Ball in mei nes Va ters Haus ver -

ließ und al lein und im ge hei men zu dem klei nen

Hau se schlich, dar in — wie ich hör te — Ge sell schaft

war, wor aus ich schloß, daß es zu die ser Stun de

noch of fen stand. Miß Page, die die Her ein zie hung

ih res Na mens wohl ver zei hen wird, er klär te Ih nen,

daß sie an je nem Abend den Fu ß trit ten ei nes Man -

nes folgte, der den Hü gel hin ab ging. Dies mag wohl

sein und die Schrit te wa ren zwei fel los die mei nen,

denn als ich durch den Gar ten ge gan gen war, lief

ich die Haupt stra ße hin ab, wel che an Mrs. Webbs

Haus vor über führ te. Da ich schon aus der Fer ne

Licht in den obe ren Räu men erblick te, lief ich

schnel ler, bis ich an die Türe an High Street kam.

Hier hielt ich an. Ge dan ken sto ben mir durchs Ge -

hirn, Ge dan ken, die den Au gen blick viel leicht zum

schwer sten mei nes gan zen Le bens mach ten! Doch

sie gin gen, Gott sei Dank, vor über und nur von dem

Wun sche durch drun gen, das Geld zu be kom men,

trat ich ins Haus.

»Ich hat te er war tet, im Sa lon eine klei ne Ge sell -

schaft zu se hen oder die Stim men der Ein ge la de -

nen in den obe ren Räu men zu hö ren; doch es war

ganz stil le im Hau se, so auf fal lend still für ein fest -

lich be leuch te tes Haus, daß ich er staunt die Türe

zu mei ner Lin ken öff ne te und ins Zim mer schau te.

Ein un er war te ter und trau ri ger An blick bot sich

mir dar: an ei nem Ti sche, be deckt mit herr li chen

Spei sen, saß der Herr des Hau ses, den Kopf auf sei -

nen Arm ge stützt, schla fend. Die er war te ten Gä ste

wa ren nicht er schie nen und er, des War tens müde,

war ein ge schla fen.

»Das hat te ich nicht er war tet. Mrs. Webb, die zu

se hen ich ge kom men, be fand sich wohl in den obe -

ren Räu men. Ich konn te klop fen, ein Ge räusch ma -

chen, ru fen und sie her un ter kom men las sen; ich

woll te aber ih ren Gat ten, des sen Gei stes zu stand ich

kann te, nicht wec ken und da ich kei ne an de re Mög -

lich keit sah, sie auf an de re Wei se zum Her ab kom -

men zu be we gen, so ging ich lang sam und lei se

nach oben, un be wußt — ich schwö re das! — wel che

Fol gen mein un er war te tes Er schei nen ha ben wür -

de. Sie hat te so eben Bat sy ge ru fen — sie saß an ei -

nem Ti sche und zähl te eine dic ke Geld rol le — als

ich plötz lich vor ihr stand!

»Mein Blick (es war si cher kein be ru hi gen der,

denn der An blick von so viel Geld, zu ei ner Zeit, als

Geld für mich Le ben be deu te te, ent fes sel te alle Dä -

mo nen in mei ner Brust) schien sie zu erschrec ken.

Sie sprang auf und mit ei nem Aus druck voll in ne rer

See len qual, den ich mir da mals nicht er klä ren

konn te, schrie sie:

»Nein, nein, Fre de rick! Du weißt nicht, was Du

tust! Wenn Du mein Geld willst, nimm es! Willst Du

mein Le ben, wer de ich es Dir mit ei ge ner Hand ge -

ben! Beflec ke aber nicht Dei ne Hän de, nicht die Dei -

nen!

»Ich ver stand sie nicht. Ich be griff es erst spä -

ter, als ich dar an dach te, wie ich vor ihr ge stan den:

mein Ant litz ver zerrt und mei ne rech te Hand un ter

mei ner Jac ke krampf haft auf mein wild po chen des

Herz ge preßt. Sie mu ß te wohl glau ben, ich woll te

ihr das Le ben neh men. Ich war blind und taub für al -

les, aus ge nom men für das Geld, das ich vor mir sah

und trun ken von dem An blick, der für mich Ret -

tung be deu te te — oh, wie schreck lich, wenn ich dar -

an den ke! — schrie ich halb wahn sin nig: »Gib es

her! Ich will Hun der te, Tau sen de, jetzt, jetzt, mich

zu ret ten! Schan de, Ent eh rung, Ge fäng nis droht

mir, wenn ich das Geld nicht habe!« Dann streck te

ich mei ne Hand nach dem Geld aus, nicht nach ihr.

Sie aber schien mei ne Be we gung miß zu ver ste hen

und mit ei nem herz bre chen den Schrei, um mich

vor ei nem Ver bre chen zu be wah ren, mich, vor dem

nied rig sten, feil sten Ver bre chen, des die Mensch -

heit fä hig ist, er griff sie ei nen Dolch, der in der of fe -

nen Schub la de vor ihr lag und in ei nem Augen blik -

ke des un er meß lich sten Elends, das wir, die wir sie

nur ober fläch lich ken nen, nicht zu er mes sen ver -

mö gen, rann te sie in den Dolch und — — — —. Wei -

ter er in ne re ich mich nichts. Ihr Blut und Bat sys

Schrei aus dem an lie gen den Zim mer raub ten mir

die Be sin nung; sie fiel wohl zu Bo den und ich, halb

wahn sin nig, fiel auch.

»Dies, so wahr ein Gott lebt, ist die Wahr heit,

was die Wun de be trifft, die in der Brust die ser un -

ver geß li chen Frau ge fun den ward«.

Der in ne re Schmerz, die zit tern de Stim me und

sei ne See len qual mach ten sei ne Er zäh lung, so fan -

ta stisch und un glaub lich sie auch schien, für den

Au gen blick glaub wür dig.

»Und Bat sy?« frag te der Un ter su chungs rich ter.

»Sie muß ge fal len sein, als wir fie len, denn ich

habe ihre Stim me nicht wie der ge hört. Ich wer de

aber noch auf sie zurück kommen. Was ich zu erst er -

klä ren will, ist, wie Mrs. Webbs Geld aus der Schub -

la de in mei nen Be sitz kam und wie so der Dolch, den

sie sich in die Brust ge sto ßen, im Gar ten ge fun den

ward. Als ich wie der zu mir ge kom men — und das

muß sehr bald ge we sen sein — sah ich, daß die Au -

gen, die ich für im mer ge schlos sen glaub te, of fen

stan den und mich mit ei nem Lä cheln an schau ten,

das ich nie im Le ben ver ges sen wer de! — — — — —

»Es klebt kein Blut an Dei nen Hän den«, mur mel -

te sie. »Du hast den Streich nicht ge führt. War es

nur Geld, was Du woll test, Fre de rick? Das hät test

Du auch ohne ein Ver bre chen ha ben kön nen. Auf

dem Ti sche lie gen fünf hun dert Dol lars; nimm sie

und mö gen sie Dir den Weg zu ei nem bes se ren Le -

ben bah nen. Mein Tod wird Dich dar an ge mah -

nen!« Scheint Ih nen dies glaub lich, mei ne Her ren?

Ah, es wird wohl, wenn ich Ih nen sage« — hier

schau te er ängst lich nach der Türe, hin ter der Mr.

Sut her land war te te — »daß, ohne daß ich es wu ß te,

ohne daß eine an de re le ben de Per son au ßer ihr es

wu ß te, ohne daß der gute Mann da drin nen es

weiß, dem es nicht mehr län ger vor ent hal ten wer -

den kann, wenn ich Ih nen sage, daß Agat ha Webb

mei ne Mut ter war! Ich bin Phi le mons Sohn und

nicht das Kind von Char les und Ma riet ta Sut her -

land!«

XXXI.

Ein stum mer Zeu ge.

Un mög lich! Un glaub lich!

Wie ein Sturm er ho ben sich plötz lich alle An -

we sen den von den Sit zen, doch kein Laut ward ge -

hört. Der Ein druck, den Fre de ricks Aus sa gen ge -

macht hat te, war so über wäl ti gend, daß nie mand

Wor te fand und lang sam und laut los setz te sich ei -

ner nach dem an dern wie der nie der.

»Die se Kennt nis wird den al ten Mann, der seit

frü he ster Kind heit für mich ge sorgt, erdrüc ken«,

fuhr Fre de rick fort. Sie ha ben ge hört, daß er mich

Sohn nennt. Wie soll ich ihm die Wahr heit sa gen,

ohne daß er den Glau ben an sei ne tote Gat tin ver -

liert? Wie soll ich ihm er klä ren, daß er all die se lan -

gen Jah re vol ler Sor gen und Lie be an ei nen ver -

schwen det, der nicht sei nes Flei sches und Blu tes

ist? Ihr Er stau nen, Ihr schwei gen der Un glau be zei -

gen mir, wie recht ich hat te, das Ge heim nis zu be -

wah ren, das die Ster ben de mir an ver trau te«.

Tie fes Schwei gen folgte die sen Wor ten. Ag nes

wein te still in sich hin ein, wäh rend Ama bels Lä -

cheln — — — nun, es war völ lig ver schwun den.

»Das Ge heim nis, das ich Ih nen eben ent hüll te«,

fuhr Fre de rick mit bre chen der Stim me fort, »flü -

ster te mir mei ne Mut ter zu, den Dolch in der Brust.

Sie woll te mir nicht er lau ben, ihn her aus zu zie hen;

sie wu ß te, daß der Tod kom men wür de, wenn das

war me Blut ent ström te und sie woll te kei ne Se kun -

de des Glüc kes mis sen, ihr ein zi ges le ben des Kind

bei sich zu ha ben. Die Lie be, die Lei den schaft, die

gren zen lo se Hin ge bung, die sie in die sen letz ten Mi -

nu ten zeig te, ver wan del ten mich im Au gen blick

aus der selbst süch ti gen Brut, die ich ge we sen, in ei -

nen reui gen, elen den Mann. Ich knie te ne ben ihr in

höch ster Ver zweif lung; ich sag te ihr, daß ich nicht

so schlecht wäre, als sie ge glaubt und daß sie mei ne

Be we gung miß ver stan den habe und als ich in ih ren

Au gen sah, daß sie mir glaub te, ließ ich sie re den

und lausch te dem Ge heim nis ih res Le bens.

Es ist mir ein hei li ges Ge heim nis. Müs sen Sie es

in des ken nen, dann er fah ren Sie es aus ih ren ei ge -

nen Wor ten, aus Brie fen, die sie mir hin ter las sen.

Sie sag te mir, daß sie, um mich vor dem Schick sal

zu ret ten, das ihre er sten fünf Kin der be fal len, die

ihr bald nach der Ge burt ent ris sen wor den wa ren,

mich in frü he ster Ju gend Mrs. Sut her land in die

Arme ge legt habe, die da mals den plötz li chen Tod

ih res ein zi gen Kin des be trau er te; daß dies im ge hei -

men und ohne Wis sen Mr. Sut her lands ge sche hen

sei, der bis zu die ser Stun de die Wahr heit nicht

kennt und sie bat mich, ihn nie die Wahr heit wis sen

zu las sen, wenn ich durch ein Op fer mei ner seits, sei

es auch noch so schwer, dies ver hin dern kön ne;

daß sie glück lich wäre, mir die Wahr heit sa gen zu

kön nen, ehe sie ster be; daß die se Freu de so groß

wäre, daß sie selbst die vor schnel le Tat nicht be -

reue, die ihr mein wah res Herz ge zeigt und die

mich in dem ih ri gen le sen ließ. Dann sprach sie von

mei nem Va ter — ich mei ne den, den Sie Phi le mon

nen nen und ich mu ß te ihr ver spre chen, bis zu sei -

nem letz ten Atem zu ge ge treu lich für ihn zu sor -

gen. Ich kön ne dies umso un auf fäl li ger, als sie in ih -

rem Te sta ment mir ihr Hab und Gut ver ma che. End -

lich gab sie mir ei nen Schlüs sel und zeig te mir, wo

das Geld lag. Sie sag te, ich sol le es als ihr letz tes Ge -

schenk an neh men, zu sam men mit ei nem Bün del

Brie fe, die da bei lä gen. Und als ich all dies ge tan,

sag te sie, daß sie nun ru hig ster ben könn te, wä ren

ihre Sor gen um die Za bels nicht, die — ent ge gen ih -

rer al ten Ge wohn heit — heu te nicht ge kom men wä -

ren, um den Jah res tag ih rer Hoch zeit zu fei ern und

nur der Tod oder schlim me Krank heit konn te sie

ver hin dert ha ben, dem Va ter die sen ein zi gen Ge fal -

len zu er wei sen. Sie bat mich, die Brü der auf zu su -

chen, noch ehe ich mich zur Ruhe be ge be, was ich

auch ver sprach und mit glück seligen Zü gen deu te -

te sie dann auf den Dolch in ih rer Brust.

Noch ehe ich das Haus ver las sen konn te, rief sie

Bat sy. »Ich will ihr sa gen, ehe ich ster be, daß ich

mir selbst den To des stoß ge ge ben«. Als ich mich er -

hob, die ge wünsch te zu ru fen, sah ich, daß der

Schreck sie ge tö tet und daß ihr to ter Kör per aus

dem Fen ster des Ne ben zim mers hing. Dies raub te

mir den ein zi gen Zeu gen, der mei ne Un schuld be -

wei sen konn te, soll te es je be kannt wer den, daß ich

zur Zeit mei ner Mut ter Tod in ih rem Haus ge we sen.

Ob wohl ich die Ge fahr er kann te, in die mich die ser

Um stand brach te, woll te ich doch der Mut ter letz -

ten Au gen blick nicht er schwe ren und sag te ihr da -

her, Bat sy habe sie ver stan den, sei aber zu er regt

zum spre chen oder selbst zu kom men. Da mit zu frie -

den, hauch te mei ne Mut ter ih ren letz ten Atem zug

in Frie den und glück seliger Lie be. Sie starb, als ich

den Dolch aus der Brust zog. Da er fa ß te mich ein

Grau en und wahn sin nig vor Schmerz, daß mir dies

In stru ment solch lie bes und wert vol les Le ben ge -

raubt, schleu der te ich den Dolch aus dem Fen ster.

Dann hob ich die Tote auf und leg te sie auf das So -

pha, auf dem Sie sie fan den. Ich wu ß te nicht, daß

der Dolch ein Ge schenk ih res ein sti gen Lieb ha bers,

James Za bel, war, noch daß des sen In itia le auf dem

Grif fe stan den«.

Fre de rick schwieg.

Der Ein druck, den sei ne Er zäh lung ge macht hat -

te, war so tief, daß die An we sen den kaum zu at men

wag ten, bis plötz lich eine un be kann te Stim me die

Wor te aus stieß:

»Oh, das Mär chen!«

Hat te Ama bel ge spro chen? Man che glaub ten so

und schau ten nach ihr hin; doch sie sa hen nichts

als ein trä nen feuch tes, sü ßes Ge sicht, das fle hent -

lich auf Fre de rick schau te, als ob sie ihn um Ver zei -

hung bit ten woll te für die Zwei fel, die ihn zu die sen

Er klä run gen ge trie ben hat ten.

Fre de rick be geg ne te die sen Blic ken mit ab wei -

sen der Käl te und fuhr in sei ner Er zäh lung fort:

»Ich will nun von den Brü dern Za bel spre chen

und wie es kam, daß der eine der sel ben, James, in

die An ge le gen heit ver wic kelt ward.

Als ich mei ne tote Mut ter ver las sen, war ich so

er regt, daß ich kaum ei nen Blick in das Zim mer

warf, wo selbst mein eben ge fun de ner Va ter saß.

Ich stürm te aus dem Hau se, zu den Za bels. Als ich

da selbst an kam, fand ich das Haus dun kel und still,

wie ein Grab. Ich dach te an mei ne Mut ter und wie

die Sor ge um die bei den Brü der ihr fast die letz ten

Augen blic ke ih res Le bens ver dü ster te, ging zur

Türe und woll te eben an klop fen, als die Klin ke

nach gab und die Türe auf ging. Er staunt trat ich ein

und ging beim leuch ten den Mond licht in das Zim -

mer zur Lin ken. Es war das zwei te Haus, das ich in

je ner Nacht unan ge mel det be trat und in die sem,

wie im er sten, fand ich ei nen Mann schla fend am Ti -

sche sit zen.

»Es war John, der äl te re der Brü der, und da ich

sah, daß er elend war und schwach, aus Man gel an

Nah rung, nahm ich eine Geld no te, die er ste, die mir

in die Hand kam, und leg te sie auf den Tisch vor

dem Schla fen den. Als ich dies tat, seufzte er im

Schla fe. Ich glaub te, al les ge tan zu ha ben, was ich

konn te, was selbst mei ne arme Mut ter un ter die sen

Um stän den ge wünscht hät te und ging ei ligst wie -

der da von, aus Furcht, er könn te er wa chen oder ich

möch te dem an dern Bru der be geg nen und lief auf

dem kür ze sten Weg nach Hau se. Wäre ich ein Mann

ge we sen oder wäre mein Mo tiv für den Be such im

Webbschen Hau se ein ed les ge we sen, so wäre ich so -

fort zu dem gu ten Man ne ge eilt, der mich als sein ei -

gen Fleisch und Blut be trach te te und hät te ihm er -

zählt, was mir mein Le ben und Den ken ge än dert

und hät te ihn um Rat ge be ten, was ich un ter den

schwie rig sten Um stän den, in die ich mich selbst ge -

bracht, tun soll te. Doch die Er in ne rung mei ner lang -

jäh ri gen Un dank bar keit und der Ge dan ke, daß die

Ent hül lung der Wahr heit un ter solch tra gi schen

und trau ri gen Um stän den, daß das Kind, das sei ne

tote ge lieb te Gat tin ihm einst in die Hän de ge legt,

nicht sein ei ge nes war, ihn nie der schmet tern mü ß -

te, ver an la ß te mich nicht nur, zu schwei gen, son -

dern auch das Geld, das ich er hal ten, im na hen Ge -

hölz zu ver gra ben, in der eit len Hoff nung, daß da -

mit jede Spur zwi schen mei ner to ten Mut ter und

mir ver wischt wäre. Sie se hen, ich habe al ler dings

nicht mit Miß Ama bel Page ge rech net!«

Der Blick, den die se hier auf dem Spre cher zu -

warf, mach te die, wel che es sa hen, zu sam men fah -

ren und gab Sweet wa ter, der von ei ner Ue ber ra -

schung in die an de re fiel, zu den ken und zeig te ihm

klar und deut lich, daß er das Ver hält nis der bei den

jun gen Leu te zu ein an der nie recht ver stan den und

daß et was an de res, als blo ße Rück sicht auf Fre de -

rick ihr bis he ri ges Leit mo tiv ge we sen. Doch auch

an de re be merk ten das sel be und so voll zog sich ein

Um schwung der Mei nun gen, der sich so gar auf den

Un ter su chungs rich ter und die Ge schwo re nen über -

trug. Fre de rick fühl te die se Wen dung und zeig te

dies deut lich in dem Blick voll Hoff nung und Ver -

trau en, mit dem er auf Ag nes Hal li day schau te.

Es ist un nö tig, die Fra gen und Ant wor ten zu ver -

zeich nen, die jetzt zwi schen den Ge schwo re nen

und Fre de rick ge wech selt wur den; sie brach ten

nichts Neu es zu Tage und be stä tig ten nur das schon

Be kann te.

Kaum hat te Fre de rick sei nen Sitz ein ge nom -

men, als der Name Ama bel Page auf ge ru fen ward.

Sie schnell te vom Sitz em por. Un er war te tes hat -

te sich er eig net. Er eig nis se, von de nen sie nichts

wu ß te und nichts wis sen konn te, hat ten die gan ze

Si tua tion ge än dert und mach ten Fre de rick für sie

so un er reich bar, daß sie wie im Trau me da saß, ge -

peitscht von den wi der spre chend sten Ge füh len ei -

nes Men schen, der al les auf eine ein zi ge Kar te ge -

setzt und ver lo ren hat. Sie wu ß te in die sem Augen -

blic ke nicht ein mal, ob sie sich freu en oder grä men

soll te, daß er sei ne zwei fel haf te Po si tion so glück -

lich er klä ren konn te. Sie hat te auch den Blick be -

merkt, den er auf Ag nes ge wor fen, und ob wohl sie

dies är ger te, gab sie doch die Hoff nung nicht auf,

daß er ihr an ge hö ren wer de und an ge hö ren müs se.

Was im mer die an dern Leu te den ken mö gen, sie

selbst glaub te kein Wort von dem, was Fre de rick er -

zähl te. Ihr Herz war nicht rein ge nug für sol chen

Glau ben; für sie gab es kein mensch li ches Op fer. Kei -

ne Frau mit den Cha rak ter ei gen schaf ten Agat ha

Webbs wür de ei nen Dolch in ihre ei ge ne Brust sto -

ßen, um eine an de re Per son an ei nem sol chen Ver -

bre chen zu ver hin dern, sei dies ihr Ge lieb ter, Gat te

oder Sohn. So we nig stens glaub te Ama bel und so

wür den wohl alle glau ben, so bald sie erst aus dem

Be reich des Ein flus ses die ses au ßer ge wöhn li chen

Zeu gen sich be fän den. Und doch, wie auf re gend es

war und wie gut er sprach! Sie ver gaß fast ihre ver -

fehl te Ra che und ver gaß fast den Blick vol ler Haß,

den er ihr zu ge wor fen; sie träum te, wie sie die sen

Blick spä ter wie der in den al ten, lie ben den wan -

deln würde . . . . . . Ja, ja, sie lieb te ihn jetzt! Nicht sei -

ner ge sell schaft li chen Stel lung hal ber — die war

nun da hin; nicht sei nes Gel des we gen — das reiz te

sie nicht mehr; sie lieb te ihn um sei ner selbst wil -

len, denn er hat te ge zeigt, daß er stär ker war, als

sie und daß er über sie tri um phie ren kön ne, wenn

er nur ein Mann sein woll te!

Von sol chen Ge füh len be herrscht, was soll te sie

jetzt aus sa gen? Was auf Fra gen ant wor ten, die si -

cher poin tier ter wa ren, als je zu vor? Sie konn te

sich nicht schlüs sig wer den; sie mu ß te es dem Au -

gen blick über las sen.

Glück licherweise wich ihr Zeug nis in nichts von

ih ren frü he ren Aus sa gen ab. Sie füg te nur hin zu,

daß ihr im Lau fe des Abends die viel be spro che ne

Or chi dee aus dem Haar ge fal len war und sie Fre de -

rick die sel be auf he ben sah. Wei ter konn te oder viel -

mehr woll te sie nichts aus sa gen, ob wohl es vie len

der An we sen den, un ter ih nen Fre de rick, von An -

fang an klar war, daß sie nicht um der Za bels wil len

den Ball ver las sen und nach Mrs. Webbs Haus ge -

gan gen war, son dern ein zig und al lein um Fre de -

rick zu fol gen.

XXXII.

Wes halb man Agat ha Webb in Sut her -land town nie ver ges sen wird.

In zwi schen hat te Sweet wa ter ei nen Vor gang be -

ach tet, der ihn weit mehr in ter es sier te, als Ama -

bels Aus sa gen. Fre de rick, der of fen bar et was ver lan -

gen woll te oder eine An wei sung zu ge ben hat te,

schrieb dem Un ter su chungs rich ter ei ni ge Zei len,

der sie, nach dem er sie ge le sen, an Knapp wei ter -

gab, wor auf die ser zu Ag nes Hal li day ging und sich

eif rig mit ihr un ter hielt. Das Re sul tat war, daß Miß

Hal li day den Saal ver ließ, ge folgt von Knapp.

Sie war etwa eine hal be Stun de fort ge we sen und

als sie wie der kam, er schien auch Knapp mit ei nem

Bün del Brie fe, die er dem Un ter su chungs rich ter

über reich te. Die ser such te ei ni ge aus und las sie

den Ge schwo re nen vor. Es wa ren die Brie fe, von de -

nen Fre de rick aus ge sagt hat te, daß sei ne Mut ter sie

ihm ge ge ben. Der er ste war von Agat ha vor etwa

fünf und drei ßig Jah ren ge schrie ben; er war an

James Za bel ge rich tet. Es herrsch te laut lo se Stil le,

als der Un ter su chungs rich ter las:

Lie ber James!

Du bist zu an ma ßend. Als ich Dir ge stern Nacht im

Tau mel der Freu de er laub te, mich John zu ent füh -

ren, dach te ich nicht, daß Du den Schluß dar aus zie -

hen wür dest, den Du Dir er laub test. Daß Du es ge -

tan, be weist, daß Du Dir zu viel ein bil dest. Du bist

nicht al lein auf dem Fel de, auf dem Du Dich Sie ger

glaubst. Jones, der min der ein ge bil det ist, als Du,

sieht man che gute Ei gen schaf ten in — — — nun, sa -

gen wir Fre de rick Snow. Ich sehe das sel be. Gute Ei -

gen schaf ten in des ge win nen nicht im mer, eben so -

we nig wie An ma ßung . . . . . Wenn wir uns wie der

tref fen, laß uns Freun de sein, aber auch nur Freu -

de. Ein Mäd chen läßt sich nicht zur Lie be zwin gen.

Es ge nügt mei nen zwan zig Jah ren, wenn Du mich

Dei nen Brau nen, die Ju dith, rei ten läßt; laß Dir

doch mei ne Freu de ge nü gen. Ich höre Dich sa gen:

das ge nügt mir auch. Ja, aber nur, wenn sie an ei -

nem ge wis sen Tor in Port che ster an hält! Tor heit!

Es gibt noch an de re Tore und an de re Wege . . . .

doch soll te ich Dich ei nen be tre ten se hen — — — —.

Da! Mei ne Fe der geht schnel ler mit mir da von, als

Ju dith je ge gan gen und es ist Zeit, die Zü gel an zu hal -

ten. Grü ße mir John — doch nein, dann weiß er ja,

daß ich Dir ge schrie ben und das könn te ihm weh

tun. Wie kann er ah nen, daß es nur ein Schel te brief

war, der wei ter nichts zu be deu ten hat? Wäre der

Brief an Fre de rick Snow ge rich tet, dann — — —. Ei,

ei! Man che Pfer de sind so schwer an zu hal ten und

so sind man che Fe dern . . . . . Ich will still hal ten —

aber nicht vor Dei nem Tore.

Dei ne Nach ba rin

Agat ha Gil christ.

* * *

Lie ber James!

Ich weiß, ich habe Lau nen, schreck liche Lau nen

und nun weißt Du es auch. Wenn ich schlech ter Lau -

ne bin, ver ges se ich al les, Lie be, Dank bar keit und al -

les an de re, das mich ver hin dern soll te, Wor te aus -

zu spre chen, die mich oft selbst über ra schen. Glück -

licherweise kommt das nicht oft vor und wenn es

vor über ist, ste he ich nicht an, mich zu ent schul di -

gen oder gar um Ver zei hung zu bit ten. Mein Va ter

sagt oft, mei ne Lau nen haf tig keit wäre mein Un -

glück. Ich habe aber mehr Angst vor mei nem Her -

zen als vor mei nen Lau nen. Hier, zum Bei spiel, sit -

ze ich und schrei be Dir wie der, nur weil ich mei ne

Reit peit sche er ho ben und ge sagt habe — — —. Doch

Du weißt, was ich sag te und ich möch te mich der

Wor te nicht mehr er in nern, denn sonst sähe ich

wie der Dei nen über rasch ten Blick, der so ganz an -

ders war, als der Phi le mons. In Dei nem Blick lag

mein Ur teil, in dem sei nen nur Nach sicht. Und

doch ge fiel mir der Dei ne bes ser oder hät te mir bes -

ser ge fal len, wäre nicht mein un beug sa mer Stolz.

Lau nen, wie die mei nen, müs sen Dich über ra schen.

Wäre ich aber Agat ha Gil christ ohne die se Lau nen?

Ich fürch te: nein. Und wäre ich nicht Agat ha Gil -

christ, wür dest Du mich dann lieb ha ben? Ich fürch -

te wie der um: nein. Ver gib mir, James! Wenn ich ru -

hi ger bin, wenn ich erst mein Herz bes ser ken ne,

wer de ich we ni ger ge reizt sein. Und wenn sich das

Herz Dir zu wen den soll te, dann wirst Du un end li -

che Lie be fin den, wo jetzt un end li che Lau nen woh -

nen. Phi le mon sag te ge stern Nacht, er wür de gern

alle mei ne Lau nen des Mor gens er tra gen, wenn ich

ihm des Abends, wenn die Son ne ge sun ken und das

Zwie licht der Lie be er wacht, ei nen Trop fen des Ho -

nig seims mei nes ei ge nen Selbst ko sten lie ße. Trotz

die ser schö nen Wor te kann ich ihn nicht bes ser lei -

den. Du wür dest Dich nicht mit dem hal ben Tag be -

gnü gen! Der Kelch, an dem Du Dich la ben soll test,

dürf te kei ne Bit ter keit ent hal ten! Muß er dann

aber nicht von an dern Hän den dar ge reicht wer -

den, als durch

Agat ha Gil christ.

* * *

Mr. Phi le mon Webb.

Ge ehr ter Herr!

Sie ha ben Aus dau er. Ich will Ih nen ger ne sa gen,

was ich ei nem An dern nie sa gen wür de: daß es ei -

nes fe ste ren Wil lens be darf und ei nes Her zens, das

mich we ni ger liebt, soll ich ein glück liches, treu es

und lie ben des Weib wer den und nicht ein Dä mon.

Ich will nicht, kann nicht ei nen Mann hei ra ten, der

mei nen Wil len nicht mei stern, mich nicht mich

selbst ver ges sen ma chen kann! Ich bin zu stolz, zu

emp find lich, zu we nig Her rin mei ner selbst, wenn

ich är ger lich oder lau nisch bin. Wenn ich, wie man -

cher star ke Frau en-Cha rak ter, ei nen Mann lie ben

könn te, der schwä cher ist, als ich selbst, wenn ich

durch Güte und un end li che Nach sicht in Schran -

ken ge hal ten wer den könn te, dann wür de ich es

wohl ris kie ren, an der Sei te des be sten und eh ren -

wer te sten al ler Män ner, die ich ken ne, zu le ben. Ich

kann es aber nicht! Nur Stär ke kann mei ne Be wun -

de rung her vor ru fen oder mei nen Trotz beu gen. Ich

muß den fürch ten, den ich lie be und nur der wird

mein Mei ster, der sich zu vor als sol cher ge zeigt!

Aer gern Sie sich also nicht mehr über mich,

denn Sie am al ler wen ig sten un ter al len Män nern,

die ich ken ne, wer den je mals mei nen Ge hor sam

oder mei ne Lie be er zwin gen. Nicht, daß ich Ih nen

nicht von Her zen gut sein könn te — ich will es

nicht! Und da ich weiß, daß ich nicht will, hal te ich

es für mei ne Pflicht, es Ih nen of fen zu sa gen, da mit

Sie nicht Ihre be sten Man nes jah re an mich weg wer -

fen. Ge hen Sie Ih ren ei ge nen Weg, Phi le mon, und

las sen Sie mich den rau hen Pfad wan deln, für den

mei ne Füße ge schaf fen sind. Ich bin Ih nen jetzt gut

und dan ke Ih nen für Ihre Auf merk sam kei ten.

Wenn Sie aber auf Ih rer Be wer bung be har ren —

eine Be wer bung, die nur mein Va ter mit gün sti gen

Au gen be trach tet — dann wer den Sie Lei den schaf -

ten wach ru fen, die zu kei nem gu ten Ende füh ren,

denn es woh nen Schlan gen in mei ner Brust, die gar

gif ti ge Zäh ne ha ben und die man wohl fürch ten

mag — wie Sie wis sen soll ten, denn Sie ha ben mich

mehr als ein mal im Zorn ge se hen.

Glau ben Sie nicht, daß John oder James Za bel

oder Fre de rick Snow oder gar Samu el Bar ten die Ur -

sa che die ser Zei len sind. Es wäre ge nau das sel be,

wenn kei ner der Ge nann ten exi stier te. Ich bin

nicht ge schaf fen, um über eine edle Na tur zu tri um -

phie ren, son dern mich dem stol ze sten Her zen zu er -

ge ben, das mit fe stem Grif fe mein na tür li cher Herr

und Ge bie ter ist. Wol len Sie wis sen, wer die ser Mei -

ster ist? Ich kanns nicht sa gen, denn ich ken ne ihn

selbst noch nicht.

* * *

Lie ber James!

Ich gehe fort. Ich ver las se Port che ster auf meh re re

Mo na te. Ich will die Welt se hen. Ich sag te Dir letz te

Nacht nichts da von, weil ich Dei ne Ein wän de fürch -

te te, oder soll ich sa gen: Be feh le? Ich habe mich in

letz ter Zeit Dir ge gen über oft schwach ge fühlt und

ich muß wis sen, was das be deu ten soll. Tren nung

wird mich es leh ren, Tren nung und frem de Ge sich -

ter. Bist Du des halb böse? Glaubst Du, ich soll te

mein Herz ken nen, ohne sol che Pro ben? Ach,

James, es ist kein so ein fa ches Herz und es über -

rascht mich oft selbst; las sen wir ihm Zeit. Wenn

der Glanz und das Le ben der Gro ß stadt mich ge wis -

se Wor te, die mir an un serm al ten Gar ten tor zu ge -

flü stert wur den, ver ges sen ma chen kön nen, oder

jene Nacht, in der Du mei ne Hand auf Dei nen Arm

leg test und mei ne Fin ger sanft küß test, dann kann

ich nicht die Dei ne wer den, ob wohl ich weiß, daß

Dei ne Lie be sich im mer gleich ge blie ben, Dei ne Lie -

be, die selbst im Zor ne das Stärk ste und Sü ße ste

mei nes gan zen wil den Le bens ge we sen. Des halb

gehe ich von Dir. Ent we der bin ich ganz und auf

ewig die Dei ne oder un se re Wege tren nen sich für

im mer. John wird mei ne Ab we sen heit nicht so

leicht er tra gen, als Du; er liebt mich nicht so, wie

Du. Für ihn bin ich ein über na tür li ches We sen, für

Dich nur ein lie bens wer tes Weib, das sei ne Feh ler

hat, das aber recht tun will und nur recht tun kann,

wenn star ke Hän de sie lei ten.

* * *

Lie ber John!

Ich füh le, daß ich Dir schrei ben muß, weil Du im -

mer so nach sich tig mit mir ge we sen bist. Du kannst

den Brief James zei gen, wenn Du willst; er ist je -

doch für Dich al lein be stimmt, mei nen al ten, treu -

en Freund, der einst an mei ner Hoch zeit mit mir

tan zen wird.

Ich lebe in ei nem Freu den tau mel; ich sehe und

ge nie ße, was ich bis jetzt nur im Trau me ge kannt.

Aus ei nem ein fa chen Land haus in die Sa lons der

Mrs. An drews, das ist ein Wech sel für ein Mäd chen,

das präch ti ge Klei der eben so liebt, als den Ver kehr

mit fei nen Her ren und geist rei chen Da men, der

kaum zu be schrei ben ist. Ich habe ei nen Ge -

schmack ent wic kelt, John, ei nen teu ern Ge -

schmack dazu, der mich un fä hig macht, für der hin

in dem klei nen un be deu ten den Port che ster zu le -

ben. Kannst Du Dir vor stel len: ich, in rei che Sei de

ge klei det, in mit ten Was hing tons aus er le sen ster Ge -

sell schaft, mei nen Witz mit Se na to ren und Rich -

tern mes send? Es mag Dir schwer wer den und doch

ist dem so und nie mand scheint zu den ken, daß ich

nicht am rech ten Plat ze wäre und ich erst recht

nicht. Nur manch mal — sage es James nicht — wenn

die Lich ter am hell sten und die Freu de am grö ß ten

ist, dann schlie ße ich die Au gen auf eine kur ze Se -

kun de und träu me, von ei nem Häus chen mit ei nem

al ten Gar ten tor, dar an ich so oft ge stan den, wo ein

ge wis ser Je mand mir »Gute Nacht« wünsch te (Du

weißt, wen ich mei ne, John, und ich will Dir nicht

wehe tun, da durch, daß ich sei nen Na men nen ne)

und Got tes Se gen auf ein Haupt fleh te, das des sen

so un wür dig war.

Be deu tet dies mei ne bal di ge Rück kehr? Viel -

leicht. Ich weiß es nicht. Es gibt auch hier lie ben de

Her zen, doch wür de das Le ben in die ser schön sten

al ler Städ te nur dann Reiz für mich ha ben, wenn

ich die Be rüh rung ei ner ge wis sen Hand ver ges sen

könn te, die eine ge wal ti ge Macht über mich hat,

selbst in der Er in ne rung. Soll ich um die ser Hand

wil len die Rei ze und Schön hei ten die ses wun der ba -

ren Le bens hier auf ge ben? Ant wor te mir, John. Du

kennst ihn und mich gut ge nug, mir zu ra ten.

* * *

Lie ber John!

Ich ver ste he Dei nen Brief nicht. Du sprichst von al -

len in lie be vol lem Tone und doch bit test Du mich,

nicht so bald zurück zukommen. Wes halb? Ahnst

Du nicht, daß sol che Wor te mei ne Sehn sucht nach

dem al ten Port che ster erst recht wach ru fen? Wenn

et was zu Hau se pas siert ist oder wenn James ge -

lernt hat, ohne mich fer tig zu wer den — — doch das

sagst Du nicht. Du deu test nur an, daß ich spä ter

leich ter ei nen fe sten Ent schluß fas sen kann und

daß et was Gro ßes sich er eig nen wer de, wenn ich

mei ne Lie be et was zü geln kön ne. Das ist zu dun kel

und be darf ei ner nä he ren Er klä rung. Schrei be mir

da her so fort und ein ge hend, John, oder ich las se al -

les hier im Stich und kom me so fort zu rück.

* * *

Lie ber John!

Dein heu ti ger Brief ist klar ge nug. James las, was

ich über die schö nen Tage hier schrieb und war

böse. Er denkt, ich wer de eine Stadt da me und ver -

lie re das Ein fa che, Na tür li che, das er stets am mei -

sten an mir be wun der te. So, so! Nun, James hat

recht; ich lege das Land mäd chen im mer mehr bei

Sei te und wer de täg lich mehr Welt da me — das

heißt, ich wer de sei ner täg lich un wür di ger. So! Al -

les wei te re, das ich über die sen Punkt zu sa gen

habe, muß ich ihm selbst schrei ben und Du, als gu -

ter, lie ber Bru der, wirst dies ent schul di gen. Er

steht mei nem Al ter nä her und au ßer dem: wir sind

für ein an der ge schaf fen.

* * *

Lie ber James!

Ich bin nicht ver gnü gungs süch tig! Ich ver ges se

mich nicht in die ser Welt der Freu de und vor al lem

ver ges se ich nicht, was mir das Lieb ste und Be ste

auf der Welt ist! Ich sah Wa shing ton, ich sah die Ge -

sell schaft und sie ge fal len mir aus ge zeich net; aber

ich lie be Port che ster. Da her keh re ich nach Port che -

ster zu rück und zwar recht bald.

Ich kann wirk lich nicht län ger mehr fort blei ben

und wenn Dich das freut und Du Dich über zeu gen

willst, daß ein Mäd chen, das Sei de und Dia man ten

ge tra gen, auch mit ein fa chem Ka li ko zu frie den

sein kann, dann kom me in ei ner Wo che von heu te

an das lie be alte Tor und Du kannst es selbst se hen.

Hast Du et was ge gen Blu men ein zu wen den? Ich tra -

ge viel leicht sol che im Haa re.

Dei ne lau ni sche, aber im mer ge treue

Agat ha.

* * *

Lie ber James!

Wes halb muß ich schrei ben? Wes halb bin ich nicht

zu frie den mit den Ge dan ken an letz ten Abend?

Wenn der Be cher der Freu de voll ist — ein Be cher,

der so lan ge leer ge blie ben — dann müs sen ein paar

Trop fen über ge hen, wenn auch nur, um zu zei gen,

daß ein Glück wie das mei ne sich nicht ru hig ge nie -

ßen läßt. Ich habe so lan ge un ter der Un ge wiß heit

ge lit ten, ich habe Dich ge prüft und habe mich

selbst ge prüft und kein an de rer Mann kann je mein

Herz so ganz er fül len, wie Du. Ich will Dir sa gen,

daß ich Dich lie be; daß ich nicht ein fach Dei ne Lie -

be an neh me, son dern daß ich sie Dir tau send fach

zurück gebe, zu sam men mit all der Güte und An -

häng lich keit, mit der Du mich über häufst, trotz

mei ner vie len Feh ler und Lau nen. Du hast mich ge -

stern Abend an Dei ne Brust ge zo gen und schienst

zu frie den; — doch ich bin nicht da mit zu frie den.

Ich muß Dir sa gen, wie glück lich ich bin, die Aus er -

wähl te Dei nes Her zens zu sein und als ich Dein Lä -

cheln sah und die heim li che Lei den schaft, die aus

Dei nen Au gen leuch te te, da emp fand ich, wie viel

schö ner ein stil les Glück an Dei ner Sei te ist, als all

der Glanz und die kal te Pracht des Le bens in ei ner

Gro ß stadt.

Als ich in mein Zim mer kam, ver mi ß te ich die

Blu me in mei nem Haar. Hast Du, Ge lieb ter, sie ge -

nom men? Wenn so, be hal te sie nicht. Ich will nicht,

daß et was an Dei ner Brust wel ke. Mei ne Lie be ist

un sterb lich, James, und hat kein Sym bol in der

Rose. Viel leicht denkst Du aber gar nicht an mei ne

Lie be, son dern an mei ne Feh ler. Wenn so, dann las -

se die Blu me, wo sie ist und den ke: »So sind die Feh -

ler mei ner Ge lieb ten; einst in vol ler Blü te und jetzt

nur ein Er in nern. Als ich sie pflück te, be gan nen sie

zu wel ken«. Oh, James, ich glau be, ich kann nie wie -

der lau nisch sein!

* * *

Lie ber James!

Ich will, ich kann es nicht glau ben! Ob wohl Du beim

Hin aus stür men sag test: »Dein Va ter wird al les er -

klä ren«, kann ich mich doch mit sei nen Er klä run -

gen nicht zu frie den ge hen. Ich will es von Dir selbst

hö ren! Wenn Du, nach dem ich Dir al les er klärt, was

zwi schen ihm und mir ge spro chen ward, mir die -

sen Brief zu sam men mit den übri gen, die ich Dir ge -

schrie ben, zu rücks en dest, dann erst will ich glau -

ben, daß ich mich an ei nen mor schen Stamm ge -

lehnt und daß ich fort an ohne Schutz und ohne

Trost in die ser Welt ste he.

Oh James, wa ren wir nicht glück lich? Ich glaub -

te an Dich und fühl te, daß Du an mich glaub test. Als

wir Brust an Brust un ter der Lin de sa ßen (war es

erst ge stern Nacht?) und Du schwurst, daß wenn es

in der Macht ei nes Sterb li chen läge, mich glück lich

zu ma chen, ich je den Trop fen je nes Glüc kes ge nie -

ßen soll te, da dach te ich, mein Him mel reich habe

sich be reits auf ge tan und ich brauch te nur mehr

Dir das Dei ne zu schaf fen.

In je nem Augen blic ke trat mein Va ter zu uns

und sag te:

»James, ich muß mit Dir re den, ehe ich zu ge be,

daß mei ne Toch ter sich noch wei ter ver gißt!« Ich

mich ver ges sen! Was war ge sche hen? So hat te

mein Va ter noch nie ge spro chen, wie ger ne er auch

ge se hen hät te, daß ich Phi le mon Webb mei ne

Gunst zu wand te, statt Dir. Ich mich ver ges sen! Ich

schau te Dich an und woll te se hen, wie Du die se be -

lei di gen den Wor te auf nahmst. Du er blaß test zwar,

schienst aber nicht so un vor be rei tet als ich und

statt Aer ger zu zei gen, folgtest Du mei nem Va ter in

das Haus und lie ßest mich schau ernd an dem Plat ze

zu rück, der vor ei ner Se kun de noch so vol ler Wär -

me ge we sen. Du bliebst — wie lan ge? Mir schien es

eine Stun de und viel leicht war es so lan ge, denn es

muß si cher so lan ge wäh ren, ei nen Mann so zu än -

dern, als Dich. Ein Blitz strahl aber zuckt schnell

und ich schien mich in ei ner Se kun de, da ich Dich

sah, eben so ver än dert zu ha ben, als Du. Wes halb

sonst hät test Du Dich schau ernd von mir ab ge -

wandt und hät test auf mei ne bit ten den, fle hen den

Wor te nur ent geg net: »Dein Va ter wird al les er klä -

ren«? So sehr ich mei nen Va ter lie be und ach te, so

kann ich doch nur glau ben, daß er zu ei ner un wür -

di gen Un wahr heit Zu flucht ge nom men, um uns zu

tren nen und sei nen Wunsch er füllt zu se hen, mich

mit Phi le mon zu ver ei ni gen. Aus die sem Grun de

schrei be ich Dir Wort für Wort, was zwi schen uns

ge spro chen ward. Möge es Dich eben so er grei fen,

als es mich er grif fen hat. Der Va ter be gann:

»Agat ha, Du kannst James Za bel nicht hei ra ten.

Er ist kein Eh ren mann. Er hat mich be stoh len,

mich, Dei nen Va ter, um meh re re tau send Dol lars

be stoh len. Er hat es schlau an ge fan gen, was ihn

eben so li stig als prin zi pien los zeigt. Soll ich Dir den

Her gang er zäh len? Er hat es mir über las sen, es zu

tun. Er sah so gut, wie ich, daß nach dem, was ich

heu te ent deck te, je der fer ne re Ver kehr zwi schen

Euch eine Be lei di gung wäre. Er ist we nig stens ein

Gentle man und das ist schon et was, wenn ich be -

den ke, wie nahe er dar an war, mein Schwie ger sohn

zu wer den«.

Ich hät te ant wor ten kön nen. Es gibt Men schen,

die auf schrei en, wenn man sie in die Brust stößt; es

gibt sol che, doch ich sag te kein Wort. Ich schau te

ihn nur voll Ver ach tung an, eine Ver ach tung, eben -

so ma ß los, wie mein Ver trau en in Dich! Du un ehr -

lich? Du — — —? Viel leicht lach te ich auch; das hät -

te eher mei nem Füh len ent spro chen. Ich glau be

fast, ich lach te.

Die näch sten Wor te mei nes Va ters lie ßen mich

er ken nen, daß ich et was der ar ti ges ge tan.

»Du scheinst nicht an sei ne Schuld zu glau ben«,

fuhr er fort, in ei nem Tone, bei dem ich den er sten

wirk li chen Schmerz emp fand. »Ich kann dies ver -

ste hen, Agat ha. Ar bei te te er doch so vie le Jah re in

mei ner Of fi ze, un ter mei nen ei ge nen Au gen und

hat te ich doch fast eben so gro ßes Ver trau en in ihn,

als Du, trotz der Tat sa che, daß er mir als ver trau ter

Buch hal ter weit will kom me ner war, wie als Schwie -

ger sohn. Er stand mei nem Her zen nie nahe; woll te

Gott, er wäre auch dem Dei nen nie nahe ge stan den.

Er war ein ehr li cher und ver trau ens wür di ger

Mann, we nig stens glaub te ich so und ließ ihn da her

Ar bei ten ver rich ten, die ich selbst hät te be sor gen

sol len, die mir aber zu schwer fie len, be son ders seit

mei ne Ge sund heit nach ge las sen. Die ses Ver trau en

hat er ge täuscht. Vor etwa ei nem Mo nat — Du er in -

nerst Dich, als ich krank da nie der lag — er hielt ich

ei nen Brief von ei nem Man ne, von dem ich nie

mehr zu hö ren er war tet hat te. Er schul de te mir et -

was über zehn tau send Dol lars und schrieb, daß er

so viel von die sem Be tra ge nach Sut her land town ge -

bracht habe, als er in den letz ten fünf Jah ren er spa -

ren konn te. Lei der hat te ihn Krank heit in der ge -

nann ten Stadt ans Bett ge fes selt und er kön ne

nicht hier her kom men. Ob ich nicht zu ihm rei sen

wür de, um das Geld in Emp fang zu neh men? Er sei

fremd und wol le sich nie man den an ver trau en. Er

habe das Geld und wol le es mir ein hän di gen. Da er

al lein auf der Welt ste he, ohne Ver wand te und

ohne Freun de, sei es ihm ein letz ter Trost, daß er

sei ne ein zi ge Schuld auf die ser Welt ab tra gen kön -

ne und hof fe zu ver sicht lich, daß ich mit dem, was

er habe, zu frie den sei und ihm Quit tung dar über er -

tei len wer de. Soll te sein Fie ber stei gen und er nicht

bei Be wußt sein sein, wenn ich kom me, dann soll te

ich die lin ke Ecke der Ma trat ze, auf der er lie ge, auf -

he ben und un ter sei nem Kop fe die schwar ze Brief ta -

sche her vor zie hen, in der ich dann das ver spro che -

ne Geld fin den wür de. Er habe sich ge nug Geld

zurück behalten, sei nen Un ter halt zu be strei ten

und ge hö re da her der gan ze In halt der Brief ta sche

mir.

»Ich er in ner te mich des Man nes und sei ner

Schuld und woll te das Geld ha ben und da ich nicht

selbst rei sen konn te, sand te ich James Za bel. Er

ging so fort nach Sut her land town und kam nach ei -

ni gen Stun den mit der ge nann ten Ta sche zu rück.

Ob wohl ich zu je ner Zeit schreck liche Schmer zen

litt, be merk te ich doch, wie auf ge regt er war, als er

mir die Ta sche ein hän dig te und wie er eine ge wis se

Er regt heit zu ver ber gen such te. »Mr. Orr leb te

noch und war bei vol lem Be wußt sein, doch glau be

ich kaum, daß er den Mor gen se hen wird. Er schien

mit Ih rem Ver tre ter zu frie den und gab die Ta sche

ohne Zö gern«. Ich rich te te mich auf und frag te:

»Was hat Sie so er regt?«, wor auf er nach ei ni gem

Zö gern ant wor te te: »Ich bin ziem lich scharf ge rit -

ten« und lang sam hin zu füg te: »Es greift ei nen an,

ei nen Mann al lein und un ter Frem den ster ben zu se -

hen«.

Wäh rend ich das Geld zähl te, — es war we ni ger,

als ich ei gent lich er war tet hat te — schau te ich auf

den Zet tel, der da bei lag; es war eine An er ken nung

der Schuld und nann te den ge nau en Be trag, den ich

fin den wür de: 2753,76 Dol lar. »Die Zif fern sind mit

an de rer Tin te ge schrie ben, als der Schuld schein«,

sag te ich zu James, ihm das Pa pier zei gend. »Wie er -

klä ren Sie das?« Es dau er te ziem lich lan ge, ehe er

eine Ant wort fand und als sie end lich kam, war sie

ge zwun gen, fast ein ge lernt: »Es scheint, daß der Be -

trag erst in Sut her land town ein ge schrie ben wor -

den war, nach dem Mr. Orr ge nau wu ß te, wie viel

Geld er ent beh ren konn te«. »Das ist wohl mög lich«,

stimm te ich bei und hielt die Sa che für er le digt.

»Heu te in des zwang sich die An ge le gen heit mir

wie der auf und zwar auf eine höchst merk wür di ge

Wei se. Ich war seit mei ner Krank heit zum er sten

Male wie der in Sut her land town, und neu gie rig,

über mei nen unglück lichen, ehr li chen Schuld ner

et was Nä he res zu er fah ren, ging ich in das Ho tel,

dar in er ge wohnt und ver lang te, das Zim mer zu se -

hen, in dem er ge stor ben. Da es leer stand, konn te

ich so fort hin auf ge hen. Ich sah, daß man mei nem

ar men Freun de die letz ten Stun den so com for ta bel

als mög lich ge macht hat te und war eben im Be grif -

fe, das Zim mer zu ver las sen, als ich in ei ner Ecke

des Ti sches ein Schreib zeug be merk te nebst ei nem

al ten Ta schen bu che. Be gie rig zu se hen, ob die Zah -

len, von de nen mir Za bel ge spro chen, mit die ser

Tin te ge schrie ben wor den wa ren, nahm ich aus

dem Ta schen bu che ein Stück chen Pa pier, tunk te

die schlech te Fe der in die dic ke Tin te und ver such -

te, ei ni ge Wor te zu schrei ben, was mir nach vie len

ver geb li chen Ver su chen auch end lich ge lang. Ich

ver glich die Tin te mit der auf Mr. Orrs Schuld -

schein, den ich in der Ta sche hat te und fand, daß

sie ge nau die sel be war und daß, wie James rich tig

ver mu tet hat te, der Be trag erst in die sem Zim mer

aus ge füllt wor den war, mit der sel ben Fe der, die ich

in der Hand hielt. Eben woll te ich mich ent fer nen,

als der Wind das Blatt, auf das ich ge schrie ben, vom

Ti sche blies. Ich bück te mich, hob es auf und sah,

daß die an de re Sei te mit Zah len be deckt war, je den -

falls von Mr. Orrs Hand her rüh rend, als er die Fe der

pro bier te, wie ich es auch ge tan. Wie der nahm ich

den Schuld schein aus der Ta sche und ver glich. Die

Zah len wa ren of fen bar von ein und der sel ben Hand

ge schrie ben, nur mit dem Un ter schie de, daß der Be -

trag auf die sem Stück chen Pa pier im mer mit ei ner

7 be gann, wäh rend der Be trag auf dem Schuld -

schein mit ei ner 2 an fing. Sieh hier, Agat ha, hier ist

das Stück chen Pa pier, ge nau so, wie ich es ge fun -

den. Du siehst hier, da, über all die sel ben Zah len:

7753,76; hier kaum les bar, hier vom Lösch blatt ver -

wischt, hier et was deut li cher und hier un zwei fel -

haft 7753,67. Auf dem Schuld schein aber steht

2753,76 Dol lar und die ser Be trag ward mir auch ein -

ge hän digt — run de fünf tau send Dol lars we ni ger!«

Hier, James, hielt mein Va ter inne, viel leicht,

um mir ei nen be dau ern den Blick zu zu wer fen, des -

sen ich nicht be durf te, viel leicht auch, um Mut zu

fas sen für das wei te re, das er zu sa gen hat te. Ich

brach das Schwei gen nicht. Ich war zu fest von Dei -

ner Un schuld über zeugt. Au ßer dem hät te auch

nicht spre chen kön nen, selbst wenn ich ge wollt hät -

te; all mein Den ken und füh len schien er starrt und

nur der eine Ge dan ke le ben dig: »Nein! James ist

nicht schlecht! Er hat kein Un recht be gan gen! Kei -

nem Men schen will ich Glau ben, nur ihm selbst,

daß er Je man den um et was be raub te, au ßer mich

ärm ste um mein Herz!« Doch sol che in ne re Schmer -

zens ru fe kön nen nicht ge hört wer den und so fuhr

mein Va ter fort:

»Fünf tau send Dol lars sind kei ne Klei nig keit und

brach te mich der Un ter schied der bei den Zah len

zum Nach den ken. Ueb er zeugt, daß Mr. Orr ge wiß

nicht so oft die sel be Sum me nie der ge schrie ben hät -

te, wäre es nicht die je ni ge ge we sen, die er im Sin ne

ge habt, ging ich zu Mr. For syth, lieh mir ein Ver grö -

ße rungs glas und un ter zog den Schuld schein aber -

mals ei ner ge nau en Prü fung. Das Er geb nis be wies

klar und deut lich, daß eine Aen de rung an den Zah -

len vor ge nom men wor den war, daß dem obe ren

Strich der 7 ein Häk chen an ge fügt wur de und dem

Ende eine ho ri zon ta le Li nie.

»Agat ha, ich war starr! Ich er in ner te mich, wie

auf ge regt James Za bel ge we sen, als er mir das Geld

ein hän dig te, ich er in ner te mich auch, daß Du ihn

lieb test oder zu lie ben glaub test und daß Du ihn zu

hei ra ten ver spro chen, mit oder ohne Lie be. Wäre

ich deß nicht ein ge denk ge we sen, wäre ich an ders

vor ge gan gen; so aber woll te ich James Za bel Ge le -

gen heit ge ben, die Sa che zu er klä ren und sprach

des halb ganz of fen mit ihm. Agat ha, er nahm die se

Ge le gen heit nicht wahr! Er hör te mei ne An schul di -

gung, er folgte mei nem Fin ger, als ich auf den Un -

ter schied der bei den Zah len wies, doch er sag te

kein Wort und gab kein Zei chen, als ich ihn frag te,

ob er mich glau ben ma chen wol le, daß die Brief ta -

sche, die er mir gab, wirk lich nur et was über zweit -

au send Dol lars ent hal ten habe, als Mr. Orr sie ihm

ein hän dig te. Im Ge gen teil: er sank zu sam men, wie

ei ner, der sei ne gan ze Zu kunft vor sich ver nich tet

sieht, sag te, daß ich nichts glau ben soll te, als sei ne

völ li ge Zer knir schung über den Ver trau ens bruch,

des sen er schul dig be fun den wor den war und bat

mich nur, bis zum Mor gen zu war ten, ehe ich wei te -

re Schrit te un ter neh men wür de.

Ich ver sprach ihm dies un ter der Be din gung,

daß er so fort al ler An sprü che auf Dei ne Hand ent sa -

ge. Dies schien ihm das schlimm ste; er ging in des,

wie Du sahst, mit der ein zi gen Er klä rung, Du mö -

gest das wei te re von mir er fah ren. Sieht das aus wie

Un schuld oder wie Schuld?« Jetzt erst fand ich Wor -

te und schrie: »James Za bel, wie ich ihn ken ne, ist

ein Eh ren mann! Wenn er wirk lich ge tan ha ben soll -

te, was Du mir sagst, Dir nur ei nen Teil des Gel des

gab, das ihm an ver traut wor den und die Zah len än -

der te, um sie mit dem Be tra ge gleich zu ma chen,

den er Dir brach te, dann ist die se Tat ein Wi der -

spruch mit al len an dern Ta ten sei nes Le bens, eine

Tat, die zu er klä ren mir weit schwe rer wird, als Dir

die Ver schie den heit der Zah len. Va ter, ich muß aus

sei nem ei ge nen Munde hö ren, daß das, was Du ge -

sagt, wahr ist, ehe ich es glau be!«

Und des halb schrei be ich Dir Wort für Wort, was

zwi schen mir und dem Va ter ge stern Nacht ge spro -

chen ward. Ist das, was er sag te, wahr und Du hast

kei ne wei te re Er klä rung zu ge ben, dann schic ke

mir die sen Brief zu rück und er soll mir zei gen, daß

sei ne An kla gen ge rech te sind und daß je des Band

zwi schen uns ge löst sein muß. Wenn aber — — oh,

James, wenn Du der treue Mann bist, für den ich

Dich hal te und wenn al les nur Lug und Trug ist,

dann kom me so fort zu mir! Zö ge re kei ne Se kun de,

kom me so fort und das lie be Ge sicht am Tore soll

mir Be weis ge nug sein, daß Du un schul dig bist!

Agat ha.

* * *

Der näch ste Brief war sehr kurz:

Lie ber James!

Das Pa ket mit mei nen Brie fen habe er hal ten. Gott

hel fe mir, die sen Schlag zu über win den. Er ist das

Grab all mei ner Hoff nun gen und der Tod all mei nes

Glau bens.

Ich zür ne Dir nicht; nur die, wel che noch et was

zu hof fen ha ben im Le ben, kön nen zür nen.

Mein Va ter sagt mir, er habe auch ein Pa ket er -

hal ten; es ent hielt fünf tau send Dol lars. James!

James!! War mei ne Lie be Dir nicht ge nug, daß Du

auch noch nach mei nes Va ters Geld ver lang test?

Ich bat mei nen Va ter — und er hat es mir ver -

spro chen — die Ur sa che Eu rer Ent frem dung ge -

heim zu hal ten. Kein Mensch soll je er fah ren, daß

James Za bel nicht voll kom men ist.

* * *

Der näch ste Brief war ei ni ge Mo na te nach her ge -

schrie ben. Er war an Phi le mon adres siert:

Lie ber Phi le mon!

Die Hand schu he sind zu klein; au ßer dem tra ge ich

nie Hand schu he. Ich has se den Zwang und sehe

auch kei nen Grund, wes halb ich mei ne Hän de in die -

ser klei nen Stadt, wo mich Je der mann kennt, ver -

ber gen soll. War um gibst Du sie nicht Hat tie Wel -

ler? Sie hat sol che Din ge gern. Ich hat te ge nug da -

von. Ein Mäd chen, das ei nen ster ben den Va ter zu

pfle gen hat, fin det kei ne Freu de an sol chen Din gen.

* * *

Lie ber Phi le mon!

Es ist un mög lich. Ich habe ein mal ge liebt und nun

ist mein Herz ge stor ben. Zei ge Dei ne Gro ß mut da -

durch, daß Du mich nicht län ger drängst, das ver -

gan ge ne zu ver ges sen Das ist al les, was Du tun

kannst für

Agat ha.

* * *

Lie ber Phi le mon!

Du be stehst auf mei ner Hand, ob wohl ich Dir sag te,

daß ich Dir mein Herz nicht dazu ge ben kann. Es ist

schwer, sol che Be harr lich keit zu ver ste hen. Wenn

Du aber zu frie den bist, ein Mäd chen mei nes Cha rak -

ters ge gen ih ren Wil len zu hei ra ten, dann sei Gott

Dir gnä dig — denn ich will Dei ne Gat tin wer den.

Ver lan ge aber nicht, daß ich in Sut her land town

woh ne. Ich will hier blei ben. Auch Dei nen Ver kehr

mit den Za bels mußt Du auf ge ben. Es be steht kei -

ner lei Band mehr zwi schen James Za bel und mir.

Wenn Du aber willst, daß ich den ein zi gen Son nen -

strahl, der mir ver blie ben, der al les ist, was ich Dir

ge ben kann und was Du zu er war ten hast, über Dein

Haus brei ten soll, dann hal te alle Ein flüs se von mir

fern, aus ge nom men die Dei nen.

Daß Dein Haus mir einst lieb und zur Hei mat

wer de, das ist mein auf rich ti ges Ge bet, denn Du

bist ei nes treu en Wei bes wert.

Agat ha.

* * *

Lie ber John!

Ich wer de mich ver hei ra ten. Mein Va ter wünscht

es und ich sehe kei nen Grund, wes halb ich ihm die -

sen letz ten Wunsch ver sa gen soll te. Ich sehe kei nen

Grund. Bist Du oder Dein Bru der in des an de rer Mei -

nung — — —

Sage James »Le be wohl« für mich. Ich bete, daß

sein Le ben ein fried vol les sein möge; ich weiß, es

wird ein ehr li ches sein.

Agat ha.

* * *

Lie ber Phi le mon!

Mein Va ter ist heu te schlim mer; er fürch tet, daß

es ihm nicht mög lich sein wird, uns ver eint zu se -

hen, wenn wir bis Diens tag war ten. Tue, was Du für

un se re Pflicht hältst; ich füge mich Dei nem Be -

schlus se. Agat ha.

Der fol gen de Brief ist von John Za bel an sei nen Bru -

der James ge schrie ben und zwar ei nen Tag nach Er -

halt des vor ste hen den.

Lie ber James!

Wenn Du die se Zei len liest, bin ich weit weg von

hier, um Dir nie wie der un ter die Au gen zu kom -

men, aus ge nom men Du ver langst es. Bru der, mein

Bru der! Ich woll te Dein Be stes, doch Gott war nicht

auf mei ner Sei te und so mach te ich vier Men schen

unglück lich, ohne auch nur ei nem ein zi gen zu hel -

fen!

Als ich Agat has Brief ge le sen — den letz ten, den

ich wohl je von ihr er hal te — da fühl te ich erst, wie

nichts wür dig elend ich zwei Her zen ge macht. Zum

er sten Male ward es mir klar, wie glück lich sie ge -

wor den wäre, wäre ich nicht ge we sen und wie Du

der Gat te der edel sten Frau sein könn test, die je in

Port che ster leb te. Es kam mir zum Be wußt sein, wie

lei den schaft lich ich selbst sie ge liebt und der Ge -

dan ke, daß sie viel leicht Dich ver däch ti gen könn te,

die Schlech tig keit be gan gen zu ha ben, reg te mich

der art auf, daß ich be schloß, zu ihr zu ge hen und

ihr al les zu sa gen, ehe sie Phi le mon die Hand reich -

te. Wes halb ich täg lich Dein Elend mit an sah und

dies nicht frü her tat, kann ich nicht sa gen; viel -

leicht aus Ei fer sucht; viel leicht hielt mich der gro -

ße Un ter schied, der zwi schen Dei ner auf op fern den

Bru der lie be und mei ner nichts wür di gen Schwä che

be stand, von dem ein zi gen eh ren haf ten Weg zu -

rück, der mir of fen stand. Wie dem auch sei, erst

heu te fa ß te ich den Ent schluß, al les zu ge ste hen

und, um ja nicht wie der schwach zu wer den, ging

ich so fort zu Mr. Gil christ.

Er lag im Wohn zim mer auf ei nem So pha,

schwach und er schöpft Agat ha stand auf der ei nen

Sei te, Phi le mon auf der an dern und schau ten ihn

be sorgt an. Ich hat te nicht er war tet, Phi le mon im

Hau se zu fin den und emp fand mehr als je die Tie fe

des Ab grun des, in den ich mich zu stür zen im Be -

grif fe war. Agat has zit tern de Ge stalt in des, die bei

mei nem plötz li chen Er schei nen äu ßerst er regt

schien, brach te mich schnell zum Be wußt sein mei -

ner Lage und gab mir die Fe stig keit, de ren ich so nö -

tig be durf te. Ich ver beug te mich und sag te dann

schnell das eine, um dess ent wil len ich ge kom men

war:

»Agat ha, ich habe ein gro ßes Un recht an Dir be -

gan gen und ich bin hier, es gut zu ma chen. Seit Mo -

na ten woll te ich kom men und al les ge ste hen, doch

erst heu te fand ich den Mut dazu und jetzt soll

mich nichts mehr dar an hin dern!« Ich mach te die -

sen letz ten Zu satz, weil ich sah, wie so wohl Mr. Gil -

christ als auch Phi le mon mir Ein halt zu ge bie ten

such ten. Mr. Gil christ hat te sich auf den Ell bo gen

ge stützt und Phi le mon mach te jene fle hen de Ge bär -

de, die Du gut kennst. Agat ha al lein ver an la ß te

mich zum Wei ter spre chen. »Was ists?« rief sie.

»Ich habe ein Recht, es zu wis sen!« Ich ging zur

Türe, schloß sie und lehn te mich mit dem Rüc ken

da ge gen, ein Bild der Scham und Ver zweif lung.

Plötz lich fand ich Wor te. »Agat ha«, sag te ich, »wes -

halb hast Du James auf ge ge ben? Weil Du ihn des

Dieb stahls schul dig glaub test, weil Du dach test, er

habe die fünf tau send Dol lars von dem Gel de be hal -

ten, das Mr. Orr ihm über ge ben hat te. Agat ha,

nicht James hat das ge tan, ich tat es! James nahm

die Schuld auf sich, weil er zu gut ist und mei ne

Schwä che kann te und weil er wu ß te, daß die Schan -

de mich tö ten wür de, soll te sie be kannt wer den«.

Wie schwach war die se Ent schul di gung! Sie ver -

dien te kei ne Ant wort. Doch das Schwei gen, das

folgte, war so schreck lich und dau er te so lan ge,

daß ich ent setzt den Kopf hob und die Grup pe vor

mir an schau te, zu der ich vor her nicht mein Auge

zu er he ben ge wagt hat te. Nur eine Per son schau te

mich an: Agat ha. Die an dern blick ten zur Sei te, fast

eben so schul dig, wie mir schien, als ich selbst. Sie

aber! Wie kann ich Dir ih ren Blick be schrei ben oder

Dich mei ne Selbst-Er nied ri gung ver ste hen ma -

chen, in der ich vor ihr stand? Es war so schreck -

lich, daß ich ver mein te, ih ren Fluch zu hö ren, ob -

wohl ich si cher bin, daß sie kein Wort sag te. Und

um das Kom men de, Fürch ter li che fern zu hal ten,

schrie ich: »Ich habe es ein zig um mei ner selbst wil -

len ge tan, Agat ha. Ich lieb te Dich wild, lei den schaft -

lich, blind und — oh, der Elen de, der ich war! —

glaub te, Dich ihm ent frem den zu kön nen, wenn ich

Dir mehr der welt li chen Gü ter bot, als er Dir zu ge -

ben im stan de war. Du liebst Reich tum, Staat und äu -

ße re Pracht, das sah ich aus Dei nen Brie fen und

wenn James Dir all das nicht ge ben konn te, ich es

aber be saß, so hoff te ich — — — Oh, sieh mich nicht

so an! Ich weiß es ja, daß Mil lio nen Dein Herz nicht

kau fen kön nen!«

»Scheu sal!« war al les, was sie sag te. Das Wort

schnitt in die See le; ich such te die Klin ke und woll -

te mich hin aus schlei chen, doch sie ließ mich nicht

ge hen. Die Au gen weit of fen, mit stie rem Blic ke,

tief auf at mend, als ob ihr die Brust zu enge und die

Keh le zu ge schnürt sei, hob sie die rech te Hand und

stieß end lich die Wor te her vor: »Wie ge schah das?

Du sagst, Du nahmst das Geld! Es war aber James,

der zu dem Frem den ge sandt wor den war — so we -

nig stens sag te mir mein Va ter!« Da bei schau te sie

von mir nach je nem. Was sie sah, weiß ich nicht,

doch ihr Be neh men ver än der te sich sicht lich und

sie schau te fer ner hin eben so oft auf ihn, als auf

mich. »Ich war te, was Du zu sa gen hast«, sag te sie

und hielt ihre Hand auf die Türe über mei nem Kopf,

so daß ich nicht ent schlüp fen konn te. Ich senk te

mei ne Au gen und be gann:

»Du hast recht, Agat ha, der Auf trag war James

ge ge ben wor den und er ritt auch nach Sut her land -

town, um ihn aus zu füh ren. Es war an dem Tage, an

dem er ge wöhn lich zu Dir kam, was ihn auf reg te.

Au ßer dem fürch te te er auch, daß er kei ne Zeit

habe, Dir zu schrei ben, wie er es ge wohnt war. Als

er da her in das Ho tel kam und mich in Phi le mons

Zim mer sah — ich war oft dor ten, ohne daß Phi le -

mon es wu ß te — dach te er, er habe ei nen Aus weg

ge fun den und bat mich, statt sei ner zu Mr. Orr zu

ge hen und das Geld in Emp fang zu neh men, die weil

er den Brief an Dich schrie be. Da wir stets ein Herz

und eine See le wa ren — lei der nicht mehr seit je ner

Stun de und nie in dem ei nem Punk te, der Dei nen

Be sitz be traf — so sag te ich zu, trotz dem mei ne Ei -

fer sucht er regt war und ich es ihm ger ne un mög -

lich ge macht hät te, Dir den Brief zu schrei ben. Er

gab mir sei nen Ein füh rungs brief und ge naue An wei -

sung, was ich zu tun habe, wor auf ich den Gang hin -

ab, nach Mr. Orrs Zim mer ging, wäh rend er sich an

Phi le mons Tisch setz te, um an Dich zu schrei ben.

Es war nie mand im Gan ge, nie mand in Mr. Orrs Zim -

mer, der sah, daß ich statt James Dei nes Va ters Auf -

trag aus führ te. Da mals je doch dach te ich an nichts

un rech tes. Ich klopf te an, trat auf den schwa chen

Ruf des Kran ken ein und sah den Ar men ster bend

auf dem Bet te lie gen. Er war na tür lich er staunt,

statt Mr. Gil christ ei nen Frem den zu se hen; als er in -

des den Brief ge le sen, den ich ihm ge ge ben, zog er

selbst die Ta sche un ter sei nem Kis sen her vor und

hän dig te sie mir ein. »Sie fin den ein Me mo ran dum

über den Be trag in der Ta sche«, sag te er. »Es sind

7753,67 Dol lar. Ich hät te Mr. Gil christ ger ne al les

zurück bezahlt, doch das ist al les was ich habe, aus -

ge nom men hun dert Dol lars, die ich mir für mei ne

letz ten Aus ga ben zurück behielt«. »Mr. Gil christ

wird da mit zu frie den sein«, ver si cher te ich ihm.

»Soll ich Ih nen eine Quit tung aus stel len?« Er schüt -

tel te den Kopf und lä chel te bit ter. »In vier und zwan -

zig Stun den bin ich tot«, sag te er; »was soll mir

dann eine Quit tung? Dies schien mir un ge schäfts -

mä ßig; ich ging zum Ti sche, wo selbst ich Tin te und

Pa pier sah, um eine Quit tung aus zu stel len. Vor her

woll te ich in des den Be trag nach zäh len und fand,

meist in gro ßen No ten, den Be trag, den er mir ge -

nannt hat te. Dann schau te ich auf das Me mo ran -

dum. Es war zwei fel los vor län ge rer Zeit aus ge stellt

wor den, denn die Wor te wa ren mit fe ster Hand ge -

schrie ben und mit blau er Tin te, wäh rend der Be -

trag kaum le ser lich und mit schmut zig-schwar zer

Tin te ein ge fügt wor den war. Be son ders die 7 glich

kaum et was mehr als ei nem Stri che. Da flü ster te

mir der böse Geist ins Ohr, erst lei se, dann im mer

lau ter: Wie leicht lie ße sich aus die ser 7 eine 2 ma -

chen! Nur ein Häk chen oben und ein klei ner Strich

un ten und der Be trag ist 5000 Dol lar we ni ger! Die

Ver su chung war zu groß für mich. Ich schau te auf

Mr. Orr und sah, daß er ent we der schlief oder be -

wußt los war. Fünf tau send Dol lars! Ge ra de die Sum -

me der zehn Fünf hun dert Dol lars-No ten, die ich

vor hin in Hän den ge habt hat te! In ei ner klei nen

Stadt, wie der un sern, wür de eine sol che Sum me

mich zum rei chen Man ne ma chen! Ich konn te der

Ver su chung nicht län ger wi der ste hen. Ich er griff

die Fe der, mach te die klei nen Aen de run gen

und — — — als ich zu James kam, trug ich die Brief ta -

sche in mei ner Hand, die fünf tau send Dol lars aber

in mei ner Brust ta sche. . . . . . .«

Agat ha war so er regt, daß die Türe klap per te, an

die ich mich lehn te. Und als Du Dei nes Un rechts be -

wußt wardst, als Du sahst, daß man den Be trug ent -

deckt hat te und daß man Dei nen Bru der ver däch tig -

te — —«

»Nicht!« rief ich fle hend, »las se mich jene Stun -

de nicht zurück rufen!«

Doch sie war un er bitt lich.

»Jene und jede an de re Stun de sollst Du Dir

zurück rufen« rief sie. »Sage mir, wes halb je ner sich

op fer te, wes halb er mich op fer te, für ei nen Hund,

der — — —«

Sie hielt inne; sie fürch te te ihre Zun ge und ihre

Wut. Sie beb te am gan zen Kör per. »Sprich!« flü ster -

te sie — — — es war ein Flü stern, das mich schau ern

mach te.

James hielt die Ta sche in sei ner Hand. »Wie viel

glaubst Du, ist dar in nen? Er schul de te zehn tau send

Dol lars«. Ich wand te mich ab, schau te aus dem Fen -

ster und sag te: »Auf dem Memo in der Ta sche steht

et was über zweit au send. Er bat um Ent schul di -

gung, daß er nicht mehr ge ben konn te, doch er habe

es nicht«. Ich fühl te James Au gen auf mir ru hen.

Wes halb? Konn te er die ge stoh le nen No ten in mei -

ner Ta sche be mer ken? »Wie kamst Du dazu, das

Memo zu le sen?« frag te er. »Mr. Orr ver lang te es;

ich tat es auf sei nen aus drück lichen Wunsch«.

Dies war eine Lüge, die er ste Lüge, die ich je aus -

ge spro chen. James schau te mich im mer noch an.

»John«, sag te er wie der, »die ser Auf trag scheint

Dich au ßer ge wöhn lich er regt zu ha ben. Ich hät te

selbst ge hen sol len — ich bin si cher, ich hät te selbst

ge hen sol len«. »Der Mann liegt im Ster ben«, ent geg -

ne te ich; »es war ein schreck licher An blick. Sei

froh, daß Du das Geld hast . . . . Soll ich Dei nen Brief

zur Post brin gen?« Er steck te den Brief in sei ne Ta -

sche und schau te mich wie der um an, doch er sag te

nichts mehr zu mir. Er wie der hol te nur im mer die

Wor te: »Ich hät te selbst ge hen sol len. Agat ha konn -

te war ten«, und ver ließ das Zim mer. Ich blieb, bis

Phi le mon zu rück kam. Mein Bru der und ich wa ren

durch ein Ver bre chen für im mer von ein an der ge -

schie den, durch ein Ver bre chen, das er nicht kann -

te, das er aber ahn te und das ihn auf die Un ter re -

dung vor be rei te te, die er ei ni ge Wo chen dar auf mit

Mr. Gil christ hat te. In je ner Nacht kam er zu mir

nach Sut her land town und be gann ohne Um schwei -

fe: »John, wo sind die fünf tau send Dol lars, die Du

von Mr. Gil christs Geld zurück behalten hast? Auf

dem Me mo ran dum steht sie ben tau send Dol lars,

wäh rend Du mir nur zweit au send über ge ben hast«.

Ich brach zu sam men. »Da! Ich wu ß te, Du hast kein

Mark in Dir!« fuhr er fort. »Ich habe des halb auch

die Schuld auf mich ge nom men; ich bin ja auch tat -

säch lich der schul di ge, denn ich hät te selbst ge hen

sol len; jetzt brauchst Du Dich nur zu schä men,

James Za bel Dei nen Bru der nen nen zu müs sen. Da -

für gibst Du mir so fort das Geld — Du kannst es

noch nicht ver braucht ha ben — da mit ich es mor -

gen zurück erstatten kann und bist Du dann, oder

viel mehr ich, in den Au gen der Welt nur ein Spitz -

bu be, aber kein Dieb«. Hät te er nur ge schwie gen! Er

fuhr aber fort: »Agat ha ist für mich ver lo ren, John;

sei Du mir da für wie der Bru der, wie Du es stets ge -

we sen, bis die se Stun de zwi schen uns kam«.

»Du für ihn ver lo ren! Das war al les, was ich hör -

te, Du für ihn ver lo ren! Da er fa ß te mich eine sa ta ni -

sche Freu de. Ich gab ihm das Geld, aber ich

schwieg, denn wenn ich mei ne Schuld be kann te,

dann war ich nicht nur ver ach tet, nein, er wür de

auch das ein zi ge Weib ge win nen, das ich je im Le -

ben ge liebt! Das war zu viel für mei ne fei ge See -

le . . . . . .«

»Und dann?«

»Dann mu ß te ich se hen, wie Phi le mon all mäh -

lich den Platz ein nahm, den James einst inne ge -

habt — — —«

»John« frag te sie dar auf mit wun der ba rer Selbst -

be herr schung, »wes halb kommst Du heu te?«

Ich schau te auf Phi le mon; er stand mit ab ge -

wand ten Au gen, wie zu vor. Er schien ge kränkt, ent -

mu tigt und doch so vol ler Nach sicht und da ich

dach te, daß er stär ker ist, als Du oder ich, stär ker,

ei nen gro ßen Schmerz zu er tra gen, sag te ich mit

lau ter Stim me:

»Ich woll te Dir die Wahr heit sa gen, ehe Du Dein

Ja wort gibst, ehe es zu spät ist«.

Ihre Hand fiel schlaff da nie der, doch ihr Auge

blieb an mir haf ten. Nie im Le ben sah ich sol chen

Blick und ich hof fe nie im Le ben wie der ei nen sol -

chen zu se hen!

»Es ist zu spät!« mur mel te sie. »Der Prie ster, der

uns trau te, ist eben ge gan gen«.

Im näch sten Augen blic ke wand te sie sich um

und schau te ih ren Va ter und ih ren jun gen Ehe gat -

ten an.

»Va ter«, rief sie mit schar fer, schnei den der

Stim me, »Du hast das al les ge wußt! Ich sah es an

Dei nem Ge sicht, als der da zu spre chen be gann!«

Mr. Gil christ sank in das Kis sen; er war sehr

krank und die Si tua tion hat te ihn zu sehr auf ge -

regt.

»Ich er fuhr es erst neu lich«, flü ster te er »und da

warst Du be reits mit Phi le mon ver lobt. Wes halb

auch dies Ver spre chen bre chen?«

Sie schau te ihn an, als ob sie ih ren ei ge nen Oh -

ren nicht trau te. Sol che Gleich gül tig keit be lei dig -

ter Un schuld ge gen über schien ihr un fa ß bar. Sie

zit ter te und je der Blut strop fen wich aus ih rem Ant -

litz.

»Und Du, Phi le mon«, frag te sie mit ge zwun ge -

ner Ruhe, »Du hast es si cher nicht ge wußt. Da Du

das Ver bre chen nicht kann test, wuß test Du auch

nicht, wel che Lüge mich von James trenn te«.

Doch Phi le mon schien nicht so un schul dig als

sie glaub te.

»Agat ha«, be gann er. Doch ehe er ein an der

Wort spre chen konn te, ehe er die Hän de zu er fas -

sen ver moch te, die sie in ih rem Schmerz aus ge -

streckt, stieß sie ei nen lau ten Schrei aus, trat zu -

rück und schau te ih ren Va ter und Gat ten mit ei -

nem Blic ke tief ster Ver ach tung an, wo bei sie mit

der gan zen Wut zurück gehaltener Lei den schaft

rief:

»Auch Du! Auch Du!! Und erst eben habe ich ge -

schwo ren, Dich zu lie ben, zu ach ten und Dir zu ge -

hor chen! Lie ben, Dich! Ach ten, Dich!! Du ge wis sen -

lo ser Wicht, der Du — — —«

Da rich te te sich Mr. Gil christ auf. Schwach, zit -

ternd, er füllt mit tief ster Er re gung, er hob er sich,

ging auf sei ne Toch ter zu und leg te sei ne Hand auf

ih ren Mund.

»Schweig!« sag te er. »Phi le mon trifft kei ne

Schuld. Vor etwa ei nem Mo nat kam er zu mir und

frag te mich, wes halb ich Dich und James ge trennt

habe. Er hat te im mer ge glaubt, Ihr hät tet ir gend ei -

nen Streit ge habt, der sich wie der aus glei chen wür -

de; in letz ter Zeit in des habe es ihm ge schie nen, als

ob ein ern ste rer Grund vor lie ge, et was, das er wis -

sen soll te. Ich sag te ihm die Wahr heit. Doch sei es

nun, daß er James bes ser kann te, sei es, daß er die

bei den Brü der rich ti ger be ur teil te, er sag te so fort:

»Das kann von James nicht wahr sein; es liegt nicht

in sei ner Na tur, ei nem Men schen un recht zu tun.

Wenn es John wäre, wür de ich es eher glau ben.

Liegt da kei ne Ver wechs elung vor?« Ich hat te nie

an John ge dacht und konn te mir auch nicht den -

ken, wie John in eine Sa che ver wic kelt sein konn te,

die ein Ge heim nis war zwi schen James und mir. Bei

län ge rem Nach den ken ent sann sich Phi le mon, daß

er John an je nem Tage beim Nach hau se kom men in

sei nem Zim mer ge fun den und da Mr. Orrs Kran ken -

zim mer kei ne fünf Tü ren von dem sei nen ent fernt

war, ver mu te te er so fort, daß et was mehr hin ter

der Sa che steck te, als ich wu ß te. Er leg te die Fra ge

James vor, der denn auch Johns Schuld nicht leug -

ne te, aber die aus drück liche Be din gung stell te, daß

Dir vor Dei ner Hoch zeit kei ne Sil be des wah ren

Sach ver hal tes ge sagt wer den dürf te. Er wu ß te, daß

Du ei nem Eh ren man ne ver spro chen warst, ei nem

Man ne, der Dei nem Va ter will kom men ist, ei nem

Man ne, der Dich glück lich ma chen kann und wird.

Er woll te nicht die Ur sa che ei nes neu en Bru ches

Dei nes Ehe ver spre chens sein und vor al lem — und

das war je den falls sein Haupt grund, denn James Za -

bel war im mer der stol ze ste Mann, den ich ken ne —

woll te er Dei nen Na men nicht mit dem ei nes Man -

nes ver knüp fen, der nicht gänz lich ohne Ta del war;

das stän de sei nem Glüc ke im Wege und im Lau fe

der Jah re auch dem Dei nen, denn sei nes Bru ders

Schuld sei auch die sei ne. Ob wohl er Dich noch lie -

be, sei sei ne ein zi ge Bit te die, daß nach Jah ren,

wenn Du ver hei ra tet und glück lich seist, Phi le mon

Dir sa gen soll te, daß der Mann, dem Du einst gut ge -

we sen, nicht un eh ren haft war. Ihm zu ge hor chen,

hat Phi le mon ge schwie gen, wäh rend ich — — Agat -

ha, was ist Dir! Bist Du von Sin nen?«

Man hät te es glau ben kön nen. Sie zog den Ring

vom Fin ger, den sie kaum eine Stun de ge tra gen

und warf ihn zu Bo den. Dann hob sie bei de Hän de

gen Him mel und schrie in herz zer rei ßen dem Tone:

»Fluch, Dir, Va ter, Fluch, Dir, Gat te, die Ihr Euch

ver schwo ren, mich den Tag ver flu chen zu las sen,

an dem ich ge bo ren! Den Va ter kann ich nicht ver -

läug nen, aber den Gat ten — — —«

»Schweig!« rief Mr. Gil christ, wäh rend Phi le -

mon laut los da stand, »und flu che nicht! Er ist viel -

leicht einst der Va ter Dei ner Kin der!«

»Kin der!« schrie sie. »Soll te ich die sem Man ne

je mals Kin der ge bä ren, dann möge sie der Him mel

tref fen, wie er mich heu te ge trof fen! Mö gen sie ster -

ben, wie all mei ne Hoff nun gen star ben oder falls

sie le ben, sol len sie ein Herz zer flei schen, wie das

mei ni ge zer fleischt ist und ih rem Va ter flu chen,

wie ich — — —«

Von Fu rien ge peitscht, rann te ich da von. Doch

noch ehe ich die Türe hin ter mir ge schlos sen, hör te

ich ei nen an dern Schrei, der mich zurück rief. Mr.

Gil christ lag leb los am Bo den, wäh rend Phi le mon,

der duld sa me, edle Phi le mon Agat ha in sei nen Ar -

men hielt und sie mit sanf ten, lie ben den Wor ten zu

be schwich ti gen such te, als habe sie ihn eben ge seg -

net und nicht des Him mels Fluch auf ihn her ab ge ru -

fen, wie er fürch ter li cher nie ei nes Wei bes Lip pen

ver las sen.

* * *

Der näch ste Brief war von Agat ha ge schrie ben. Er

war ei ni ge Mo na te spä ter da tiert und mehr zer knit -

tert und ab ge grif fen, als ir gend ein an de rer des gan -

zen Pa ke tes. Hät te Phi le mon den Grund hier für an -

ge ben kön nen? Ka men jene Flec ken von Trä nen,

Trä nen, vor vier zig Jah ren ge weint, als sie Bei de

noch jung wa ren und Lie be zwi schen ih nen so

fremd? War das Pa pier so zer knit tert und die Kan -

ten so ab ge nutzt, weil er den Brief auf sei ner Brust

ge tra gen und ihn so oft ge öff net und wie der ge le -

sen hat te?

* * *

Lie ber Phi le mon!

Du bist erst ei nen Tag und eine Nacht von mir fort

und doch scheint es mir so lan ge, daß ich Dir schrei -

ben muß. Du warst so gut zu mir von An be ginn je -

ner schreck lichen Stun de, Phi le mon, die un se rer

Hoch zeit folgte, daß ich manch mal — ich wage

nicht »im mer« zu sa gen — füh le, als ob ich Dich zu

lie ben an fan ge und daß Gott doch mein Be stes woll -

te, als er mein Schick sal mit dem Dei nen ver band.

Ge stern woll te ich Dir dies sa gen, als Du beim Ab -

schied mich bei na he küß test. Doch ich fürch te te, es

wäre nur eine mo men ta ne Sen ti men ta li tät und

schwieg. Aber heu te ist es mir wie ein son ni ger

Früh lings tag, wenn ich dar an den ke, daß das Haus

mor gen wie der Dei ne Schrit te hört und daß ich auf

dem lee ren Plat ze vor mir wie der Dein gü ti ges,

nach sich ti ges Ant litz sehe und ich emp fin de, daß

das Herz, das ich ge stor ben glaub te, zu le ben be -

ginnt und daß die un er meß li che Güte und Lie be

von ei nem, der Grund zur Bit ter keit und zu Vor wür -

fen hat, das voll bringt, was ich noch vor ei ni gen Mo -

na ten für un mög lich ge hal ten hat te.

Oh, ich bin so glück lich, Phi le mon, so glück lich,

daß ich nun den Mann lie ben kann, den es mei ne

Pflicht ist, zu lie ben. Und wäre es nicht um den

schreck lichen Ge dan ken, ei nen Va ter ster ben ge se -

hen zu ha ben, wäh rend die fürch ter lich sten Wor te

an sein Ohr klan gen und ei nen Gat ten ne ben mir zu

wis sen, der mir noch nicht Gat te ist und der Ge dan -

ken im Her zen trägt, wel che die Lie be ei nes an dern

Man nes in Haß ver wan delt hät ten, ich könn te

glück lich sein und so gar sin gen, wäh rend ich durch

das Haus gehe und es für Dei ne Rück kehr hei misch

ma che. Wie es aber nun ist, kann ich nur mei ne Hän -

de auf mein heiß-po chen des Herz le gen und be ten:

»Gott seg ne mei nen ab we sen den Phi le mon und hel -

fe mir, daß er mir ver ge be. Ich ver ge be ihm und lie -

be ihn, wie ich es nie für mög lich ge hal ten hät te«.

Da mit Du siehst, daß dies nicht nur blo ße Wor te

ei ner ein sa men Frau sind, will ich Dir schrei ben,

daß ich heu te hör te, daß John und James Za bel zu -

sam men eine Schiffs bau werft be trei ben wol len

und zwar mit dem Gel de, das Johns On kel ihm hin -

ter las sen. Ich hof fe, sie re üs sie ren. James, sagt

man, ist ein tüch ti ger Ge schäfts mann und voll kom -

men zu frie den. Dies nimmt mir man che Sor ge um

ihn. Gott wu ß te si cher, wel cher Mann für mich der

be ste war. Mö gest Du Dich eben so ge seg net mit Dei -

ner Frau füh len.

* * *

Ein an de rer Brief an Phi le mon, ein Jahr spä ter.

Lie ber Phi le mon!

Eile nach Hau se, Phi le mon, ich kann die se Ab we sen -

heit nicht er tra gen. Ich bin eben zu schwach, zu

ängst lich. Seit ich weiß, wel ches gro ße Glück uns

be vor steht, habe ich oft in Dei nen lie ben Zü gen ge -

forscht, ob ich kein Zei chen des sen fin den wür de,

was die se Hoff nung in mei nem schau ern den Ge -

dächt nis wach ruft. Phi le mon, Phi le mon! War ich

wahn sin nig? Wenn ich dar an den ke, was ich in mei -

nem Zor ne sag te und dann an das Le ben den ke, das

ich un ter mei nem Her zen füh le, dann fra ge ich

mich, war um mich Gott nicht ster ben ließ, statt

mich mit dem Höch sten zu seg nen, das ei nem Wei -

be zu teil wer den kann. Phi le mon, Phi le mon! Wenn

dem Kin de et was pas sie ren soll te! Ich den ke dar an

Tag und Nacht! Ich weiß, Du denkst auch dar an,

trotz dem Du im mer so lieb zu mir bist und so schö -

ne Plä ne für die Zu kunft baust. Wird Gott sich mei -

ner Wor te er in nern oder wird er sie ver ges sen? Es

ist mir, als ob mein Ver stand da von ab hin ge!

* * *

Eine Ant wort auf ei nen Brief von John Za bel.

Lie ber John!

Dank für die Wor te, die von kei nem an dern kom -

men konn ten. Mein Kind ist tot. Durf te ich et was an -

de res er war ten? Wenn ich es tat, hat Gott mich da -

für ge straft.

Phi le mon denkt nur an mich. Wir ver ste hen ein -

an der so gut, daß un ser grö ß ter Schmerz der ist,

den an dern lei den zu se hen. Mei ne Last kann ich tra -

gen, aber die sei ne — — —. Komm und be su che

mich, John. Sage James, un ser Haus steht auch ihm

of fen. Wir ha ben alle ge fehlt und eine Schuld ver -

bin det uns alle. Laßt uns wie der Freun de sein.

* * *

Dar un ter stand in Phi le mons Hand schrift:

Mei ne Frau ist aber gläu big. So stark und got -tes fürch tig sie sonst ist, glaubt sie doch, daß der plötz li che Tod un se res Erst ge bo re nen ein Zei -chen ist, daß ge wis se Wor te, die sie an un se remHoch zeits ta ge ge spro chen und die Du und wieich an neh me auch James lei der kennst, vondem ge rech ten Gott über uns nicht ver ges senwor den sind. Dies ist eine Schwä che, ge gen dieich lei der nicht an kämp fen kann. Kannst Du,der Du al lein die Wor te und den Grund da fürkennst, durch Dei ne Freund schaft sie ver ges sen ma chen? Dann kommt zu uns, wie alte Nach -barn und speist mit uns an un se rem Hoch zeits -ta ge. Wenn Gott sieht, daß wir Ver gan ge nes ver -ges sen und uns un se re Ju gend feh ler ver zie henha ben, wird er viel leicht auch die sem ed len Wei -be ver ge ben. Ich hof fe, sie ist stark ge nug, denSchlag zu über win den. Sie ist tap fer und mu tig,aus ge nom men wenn ein jun ges Le be we sen inBe tracht kommt; das al lein kann ihr künf tigSchmerz be rei ten.

* * *

Nach die sem Brief ver ging ein Zeit raum von vie len

Jah ren. Zwei, drei, vier, fünf Kin der wur den im

Kirch ho fe von Port che ster be gra ben. Dann zo gen

Agat ha und Phi le mon nach Sut her land town, doch

erst, nach dem et was ge sche hen, das fol gen der

Brief an Phi le mon am be sten er klärt.

* * *

Lieb ster Gat te!

Un ser Kind ward ge bo ren, un ser sech stes und lieb -

stes und ich ganz al lein mu ß te sei nen er sten, an kla -

gen den Blick se hen. Oh, wes halb bin ich von Dir

fort nach dem gro ßen Bo ston, wo ich au ßer Mrs.

Sut her land kei nen Men schen zum Freund habe?

Dach te ich, ich könn te dem Schick sal ent rin nen, da -

durch, daß ich das lie be Ge schöpf un ter Frem den

ge bar? Ich mü ß te et was an de res tun, soll te ich das

Kind ret ten wol len. Es kam wie eine Of fen ba rung

über mich, daß kein Kind an mei ner Brust lie gen

und le ben, in mei nen Ar men ru hen und at men kön -

ne. Wenn es le ben soll, müs sen an de re es auf zie -

hen, eine Frau, die nicht gott los des Him mels Fluch

auf sich ge la den hat. We der ich noch Du kannst je

hof fen, un se res Kin des Lie be zu ge nie ßen; ehe es

uns lieb ko sen kann, wird es da hin wel ken wie eine

Blu me und uns ein sam zu rück las sen. Was sol len

wir also mit die sem un schul di gen Kin de tun? Wem

kön nen wir es an ver trau en? Kennst Du ei nen

Mann, der gut ge nug wäre oder eine Frau, edel ge -

nug? Ich ken ne kei ne. Doch wenn Gott will, daß un -

ser klei ner Fre de rick le ben soll, dann wird Er je man -

den fin den, und an dem Schmerz, der bei dem blo -

ßen Ge dan ken an Tren nung mei ne Brust zer reißt,

füh le ich, daß Er je man den fin den wird! In zwi -

schen wage ich nicht, das Kind zu küs sen, aus

Furcht, mein Atem könn te es tö ten. Das Kind ist so

stark, Phi le mon, so ver schie den von all den an -

dern.

Ich öff ne den Brief noch mals, um bei zu fü gen,

daß Mrs. Sut her land mir eben ihr fünf Wo chen al -

tes Kind chen zeig te. Sein Va ter ist eben falls ver -

reist und hat den Jun gen noch nicht ge se hen und

das ist ihr er stes Kind nach zehn jäh ri ger Ehe. Oh,

wäre mei ne Zu kunft so ro sig, wie die ihre!

* * *

Der näch ste Brief be ginnt mit ei nem Schrei.

Phi le mon! Kom me zu rück, Phi le mon! Ich habe

ge tan, was ich zu tun droh te! Ich habe das Op fer ge -

bracht! Un ser Kind ist nicht län ger un ser Kind und

bleibt nun viel leicht am Le ben. Aber ach, es bricht

mir das Herz! Mei ne lee ren Arme! Komm und hel fe

mir, mei ne Ein sam keit tra gen, denn sie dau ert

ewig — wir wer den nie wie der ein Kind ha ben.

Wo es ist? Das ist ja das wun der ba re! In Dei ner

Nähe, Phi le mon und doch so fer ne. Mr. Sut her land

hat es und wärst Du ge stern Nacht in Sut her land -

town ge we sen, als der Ex pre ß zug durch fuhr, Du

hät test sein sü ßes Ge sicht chen viel leicht am Fen -

ster se hen kön nen. Ach, sie hat auch ihre Last zu

tra gen, eine schreck liche ge hei me Last, wie die mei -

ne, nur hat sie da bei ei nen Trost: mein Kind, denn

sie, Phi le mon, hat es ge nom men und hat mir das

ihre ge las sen, das ich ge stern Nacht ster ben sah.

Mr. Sut her land weiß nicht, was sie ge tan und wird

es auch nie er fah ren, wenn Du das Ge heim nis be -

wahrst, wie ich es hü ten wer de, dem Le ben zu Lie -

be, das so un se rem Kin de ge ge ben ist.

Wie es ge kom men? Es war Got tes Werk, Phi le -

mon, Got tes Werk, aus ge nom men der Be trug und

der ge schah zum Be sten von uns Al len, um vier ge -

bro che ne Her zen zu hei len. Höre: ge stern, erst ge -

stern — es scheint mir schon ei nen Mo nat her —

kam Mrs. Sut her land, ihr Kind im Arm, mir »Le be -

wohl!« zu sa gen. Mr. Sut her land wird die se Wo che

zu Hau se er war tet und sie woll te nach Sut her land -

town rei sen, ihn dort zu be grü ßen. Das Kind schien

ge sund und sie war die glück lichste al ler Frau en,

denn ihr in nig ster Her zens wunsch war ihr ja er -

füllt wor den und sie konn te das Kind bald dem Va -

ter in die Arme le gen. Mein ei gen Kind lag schla -

fend in sei nem Bett chen und ich saß auf ei nem

Stuh le, so weit als mög lich von ihm ent fernt; nicht,

als ob ich es ha ß te, oh nein, son dern weil es ru hi ger

zu schla fen schien, wenn mei ne sehn süch tig ver lan -

gen den Blic ke es nicht tra fen. Mrs. Sut her land ging

hin und schau te un sern Jun gen an. »Er ist blond,

wie mein Jun ge«, sag te sie »und fast eben so dick, ob -

wohl der mei ni ge ei nen gan zen Mo nat äl ter ist«.

Dann beug te sie sich nie der und kü ß te ihn und er,

Phi le mon, er lä chel te sie an, wie er nie mals mir zu -

ge lä chelt hat te! Fast hät te ich laut auf ge schrien!

Wir sa ßen dann zu sam men und spra chen. Von

was? Ich kann mich deß nicht mehr er in nern. Zu

Hau se wa ren wir nie sehr be freun det ge we sen; sie

kommt von Sut her land town und ich von Port che -

ster und die Ent fer nung von neun Mei len ge nüg te,

daß wir uns fremd blie ben. Hier aber, bei de fern

vom Gat ten und bei de ei nen Säug ling in der Wie ge,

fan den wir uns schnell. Wir plau der ten von die sem

und je nem, als Mrs. Sut her land plötz lich auf -

sprang. Das Kind, das sie in den Ar men hielt, war

blau ge wor den. In der näch sten Mi nu te schau er te

es zu sam men und in der näch sten war es tot!

Ich höre noch den Schrei, mit dem sie zu Bo den

fiel, das tote Kind fest an die Brust ge drückt. Glück -

licherweise hör te es kein an der Ohr. Ich al lein sah

ihr Elend, ich al lein hör te ihre Lei dens ge schich te.

Sie hat te das Kind ver gif tet, Phi le mon, un wis sen -

der Wei se ver gif tet! Sie hat te ihm vor dem Ver las -

sen ih res Hau ses irr tüm li cher wei se ei ni ge Trop fen

Me di zin ge ge ben, an statt Was ser und erst jetzt er in -

ner te sie sich, wie gleich die bei den Be cher ge we -

sen, die ne ben ein an der stan den, erst jetzt fiel es

ihr auf. Oh, das un schul di ge Kind und oh, der arme

Gat te! Der letz te re Ge dan ke schien ihr fast die Sin -

ne zu rau ben. »Er wünsch te sich so sehr ein Kind«,

jam mer te sie. »Wir wa ren zehn Jah re ver hei ra tet,

als die ser En gel kam, wie vom Him mel ge sandt. Er

wird mir flu chen, er wird mich has sen, er wird mei -

nen An blick nicht mehr er tra gen wol len!« Das hät -

te Mr. Sut her land nie ge tan, doch es war nutz los,

sie be ru hi gen zu wol len. Statt dies da her zu ver su -

chen, schlug ich ei nen an dern Weg ein, ih rer Ra se -

rei Ein halt zu ge bie ten. Ich nahm das tote Kind aus

ih ren Ar men, leg te mein Ohr an sein Herz und

lausch te — ich habe zu vie le tote Kin der in mei nen

Ar men ge hal ten, Phi le mon, als daß ich mich täu -

schen könn te — und als ich sah, daß das Kind wirk -

lich tot war, be gann ich, es lang sam zu ent klei den.

»Was tun Sie?« schrie sie. »Mrs. Webb, Mrs. Webb,

was tun Sie?!« Statt je der Ant wort deu te te ich auf

das Bett, aus dem sich zwei klei ne Aerm chen streck -

ten. »Sie sol len mein Kind ha ben«, sag te ich. »Ich

habe schon zu vie le Kin der zu Gra be ge tra gen, als

daß ich es wa gen soll te, ein an de res auf zie hen zu

wol len«. Dann er zähl te ich ihr mein Elend, mein

gro ßes, un sag ba res Elend!

Phi le mon, ich ret te te die Frau. Noch ehe ich ge -

en det hat te, sah ich, daß ihre Sin ne zurück kamen

und wie die Hoff nung bei ihr ein kehr te. Sie schau te

auf das Kind in mei nem Ar men, dann auf das an de -

re im Bett chen und als sie sich nie der beug te, das

Kind kü ß te und dann wein te, bit ter lich wein te, da

sah ich, daß un ser Sieg ge won nen war. Das Ueb ri ge

war leicht. Die Klei der der Klei nen wur den ge wech -

selt und als al les been det, nahm sie un ser Kind und

woll te ge hen. Ich hielt sie je doch zu rück. »Schwö -

ren Sie«, rief ich, ih ren Arm mit der ei nen Hand hal -

tend, wäh rend ich die an de re gen Him mel hob,

»schwö ren Sie, daß Sie die sem Kin de eine wah re

Mut ter sein wol len! Schwö ren Sie, daß Sie es lie ben

wol len, wie ihr ei gen Blut und es er zie hen wer den

in Recht lich keit und Wahr heit!« Wie sie das Kind

an ihre Brust drück te, sprach zu mir lau ter, als ihre

Wor te. »Ich schwö re!« sag te sie und pre ß te ei nen

in ni gen Kuß auf un se res Kin des Stir ne. Da barg ich

mein Ge sicht in den Hän den — ich konn te nicht mit

an se hen, wie sie mein Kind von mir nahm, es war

schlim mer als der Tod, in je nem Augen blic ke war

es schlim mer, als der Tod! »Oh, Gott, las se ihn le -

ben!« be te te ich, »oh Gott, las se ihn in Eh ren auf -

wach sen und — — — »Da er fa ß te sie mei nen Arm,

ihre Zäh ne klap per ten hör bar, ihre Au gen glüh ten

un heim lich. »Nun schwö ren Sie!« rief sie. »Schwö -

ren Sie, daß wenn ich mei ne Mut ter pflicht ge gen

die sen Jun gen er fül le, Sie das Ge heim nis be wah ren

und es nie, nie mei nem Gat ten ent hül len wer den,

noch dem Jun gen, noch der Welt!« Es war, als ob ich

mir das ei ge ne Herz mit mei nen Hän den aus der

Brust ris se, als ich schwur. Doch ich schwur, Phi le -

mon, wor auf sie ging Plötz lich kam sie zu rück,

Schrec ken und Zwei fel im Auge. »Ihr Ge mahl!« flü -

ster te sie. »Kön nen Sie das Ge heim nis auch vor ihm

be wah ren? Sie wer den es aus schrei en in dunk ler

Nacht, es im Trau me aus plau dern und — —« »Ich

wer de es ihm sa gen«, ent geg ne te ich. »Ihm sa gen!«

Die Haa re schie nen ihr zu Ber ge zu ste hen und sie

zit ter te so, daß ich fürch te te, sie wür de das Kind fal -

len las sen. »Ge ben Sie acht!« rief ich. »Se hen Sie

nicht, daß Sie das Kind erschrec ken? Mein Gat te ist

ein Herz und eine See le mit mir; was ich ver spre -

che, wird er hal ten. Ha ben Sie kei ne Angst vor Phi le -

mon!« All mäh lig ward sie ru hi ger. Als ich be merk -

te, daß sie sich ge faßt hat te, be deu te te ich ihr, zu ge -

hen; mei ne fast über mensch li che Kraft schien mich

zu ver las sen. Und das Kind? Ich habe es nie ge küßt,

Phi le mon, als es mein war, ich kü ß te es auch nicht

beim Ab schied. Ich hör te ihre Fu ß trit te der Türe zu -

ge hen, ich hör te ihre Hand die Klin ke nie der drük -

ken, hör te die Türe auf ge hen, stieß ei nen fürch ter li -

chen Schrei aus und — — —.

Leu te fan den mich eine Stun de nach her auf dem

Bo den lie gend, das tote Kind in mei nen Ar men. Ich

war be wußt los und sie alle dach ten, daß ich mit

dem Kind in den Ar men ge fal len war und daß es

starb, wäh rend ich so da lag. Ob es un ser Kind war

oder nicht, schien nie mand zu be den ken. Die Wär te -

rin, die es pfleg te, ist ge gan gen und wer soll te sonst

das Kind ken nen au ßer mir? Alle sind sehr gut ge -

gen mich und ma chen sich nur Vor wür fe, daß sie

mich so lan ge al lein ge las sen ha ben. Trotz dem sie

jetzt auf mich auf pas sen und mich kaum al lein las -

sen, schrei be ich doch die sen Brief, den Du zu glei -

cher Zeit mit dem an dern be kom men wirst, der Dir

von dem Tode un se res Kin des Nach richt gibt und

von mei nem ge fähr li chen Zu stand. Ver nich te die -

sen Brief und dann: kom me! Nichts auf Er den ver -

mag mir sol chen Trost zu ge ben, als wenn Dei ne

Hand un ter mei nem Kop fe liegt und Dei ne treu en

Au gen in die mei nen schau en. Jetzt müs sen wir in

Ein sam keit le ben, nur für uns selbst. All mein Un -

glück kommt von mei ner frü he ren Gier nach Freu -

de und schö nen Din gen. Von heu te an will ich je -

dem Wun sche ent sa gen und Trost in Dei ner Lie be

al lein fin den und ich hof fe, daß der Him mel uns

Stär ke ge hen wird. Viel leicht wird un ser Kind jetzt

am Le ben blei ben und das Glück ge nie ßen, das uns

ver sagt ge blie ben; viel leicht wird er nun mehr auf -

wach sen zur Freu de un se res Her zens und zum Ent -

züc ken un se rer Au gen, wenn wir selbst sei ne Lie be

auch ent beh ren müs sen.

Mrs. Sut her land ward nicht ge se hen, we der als

sie kam, noch als sie ging. Sie muß jetzt zu Hau se

sein. Ihr Ge heim nis ist wohl ver wahrt; aber das un -

se re! Du wirst mir hel fen, es zu be wah ren! Hilf mir,

stark zu sein — sag ih nen, ich hät te schon fünf Kin -

der be gra ben — viel leicht hält man eine To ten -

schau ab und fragt mich — — Du mußt nichts von

ihr sa gen — — wäl ze alle Schuld auf mich, wenn

eine Schuld zu tra gen ist — ich bin ge fal len — es be -

fin det sich eine Nar be an der Stir ne des Kin des —

und — und — — ich weiß nicht mehr, was ich schrei -

be — — ich will ver su chen, die Adres se zu schrei ben

und dann — in Lie be — in treu er Lie be — oh Gott!

(Dar un ter ein kaum le ser li cher Name)

* * *

Un ter die sem Brief stand das Fol gen de:

Ob wohl Agat ha ver lang te, ich sol le den Brief ver -

nich ten, habe ich dies doch nie ge wagt. Viel leicht

ist er ei nes Ta ges von un schätz ba rem Wert für un se -

ren Jun gen.

Phi le mon Webb.

* * *

Dies war der letz te Brief im er sten Pa ket. Als der

Vor le ser ge en det, konn te man al lent hal ben im Saa -

le Wei nen und Schluch zen hö ren. Da schau te Fre de -

rick, der mit dem Kopf auf sei ne Hän de ge stützt da -

ge ses sen, auf und sag te:

»Wun dern Sie sich noch, daß ich ver such te, das

Ge heim nis, das mit sol chem Prei se be zahlt wor den

war, zu be wah ren? Mei ne Her ren! Mr. Sut her land

lieb te sei ne Gat tin und ehr te ihr An den ken. Ihm

jetzt zu sa gen — und was bleibt mir an de res

übrig? — daß das Kind, das sie ihm vor fünf und -

zwan zig Jah ren in die Arme leg te, ein frem des war

und daß all sei ne Lie be, sei ne Sor ge, sei ne Ent täu -

schun gen und sei ne Lei den an den Sohn ei nes Nach -

bars ver schwen det wor den wa ren, das ver langt

mehr Mut, als mei ne Ehre von mei nen Lands leu ten

an ge zwei felt zu se hen, aus ge nom men, als Mör der

an ge klagt zu wer den. Da her mein Schwei gen, da -

her mei ne Un ent schlos sen heit, bis die ses Weib« —

da bei deu te te er zor nent flammt auf Ama bel, die

jetzt in ih rem Stuh le zu sam men sank — »mir im Ge -

hei men droh te, Aus sa gen ma chen zu wol len, die

mich zum Mör der mei ner Mut ter stem peln soll ten

und zur ewi gen Schan de des gu ten Man nes, der an

al lem un schul dig ist, an al lem un schul dig. Sie woll -

te eben spre chen, als ich ihr zu vor kam. Mei ne Stra -

fe für mein Schwei gen, wenn ich eine Stra fe wirk -

lich ver die ne, soll die sein, daß ich hier, in der Oef -

fent lich keit, die übri gen Brie fe an hö ren muß, die

noch in Ih ren Hän den sind«. Die se Brie fe wa ren sol -

che, wel che Agat ha an ih ren, ihr so frem den, Sohn

schrieb. Sie wa ren nie ab ge sandt wor den. Der er ste,

in Fre de ricks Kind heit ge schrie ben, er griff alle Her -

zen durch sei ne Ein fach heit und hof fen de Zu ver -

sicht.

* * *

Du bist schon drei Jah re alt, mein Lieb ling und noch

er bla ß te nicht die Röte auf dei nen Wan gen, noch

das Gold in dei nen Haa ren.

Oh, wie ich Mrs. Sut her land da für seg ne, daß sie

Dei nem Va ter und mir er laub te, nach Sut her land -

town zu kom men, wo ich Dich we nig stens auf den

Stra ßen trip peln se hen kann, an der Hand der jen -

igen, die jetzt dei ne Lie be ge nießt. Mein Lieb ling,

mein Stolz, mein En gel, so nah und mir doch so

fern, wirst Du es je wis sen, wenn auch erst im Him -

mel, wo wir doch alle glück lich zu sein hof fen nach

die sem rau hen Er den wal len, wirst Du es je wis sen,

wie oft ich aus dem war men Bet te schlich und mich

lei se an zog, daß Dein Va ter es nicht hör te, dem es

sonst das Herz bre chen wür de, und den stei len Hü -

gel hin an stieg, nur um zu se hen, ob das Fen ster dei -

nes Zim mers er leuch tet war oder nicht, ob Du

schliefst oder wach test? Um nur den Duft der Blü -

ten zu at men, die sich um Dein Fen ster ran ken, wa -

che ich ger ne mit den Ster nen und er tra ge den kal -

ten, feuch ten Ne bel. Du wächst und wächst und

lebst, mein Lieb ling, Du lebst! Und das ist mein ein -

zi ger Trost, mein ein zi ges Glück!

* * *

Habe ich eine grö ße re Sün de be gan gen, da ich dein

Le ben ret te te, als wenn ich Dich ster ben ließ? Fre de -

rick mein Sohn, mein Sohn, ich hör te Dich heu te flu -

chen! Nicht arg los, wie Kin der oft tun, nein bit ter,

jäh zor nig, als ob die Saat schlim mer Lei den schaf -

ten be reits in der Brust wohn ten, die ich so un schul -

dig glaub te. Hast Du dich ge wun dert über die frem -

de Frau, die Dich zu recht wies? Hast Du ge ahnt, wel -

chen Schmerz mir dei ne Wor te be rei te ten? Nein,

nein, kein Mensch konn te dies ah nen — wie soll test

Du? Soll te ich nur des halb mein Mut ter glück ver -

scherzt ha ben, um Dich so auf wach sen zu se hen?

Wahr haf tig, der Him mel ist un ver söhn lich und mei -

ne letz te Sün de wird schwe rer ge ahn det, als mei ne

er ste.

* * *

Es gibt schlim me res, als der Tod! Das habe ich oft ge -

hört, jetzt aber weiß ich es. Gott war gut, als Er mei -

ne Kin der zu sich nahm und ich, kurz sich tig in mei -

nem Schmer ze, ver such te, sein Werk zu ver hin -

dern. Fre de rick, Du bist schwach, ent ar tet und ge -

wis sen los! Das lieb li che Kind, die un schul di ge Ju -

gend wuchs zu ei nem rück sichtslosen Bur schen,

des sen wil de Lei den schaf ten Mr. Sut her land

schwer lich zü geln kann und des sen Mut ter — nen -

ne ich sie Dei ne Mut ter? — kei nen Ein fluß über ihn

hat, ob wohl sie al les ver sucht, ih rer Mut ter pflicht

zu ge nü gen, um sich selbst und mir Kum mer zu er -

spa ren. Mein Sohn, mein Sohn! Emp fin dest Du das

Feh len des Ein flus ses dei ner ei ge nen Mut ter? Hät -

test Du un ter mei ner An lei tung ehr li che Ar beit ge -

lernt, un ter mei nen Hän den an dern Geist ent fal -

tet? Sol che Fra gen ma chen ei nen Men schen wahn -

sin nig! Wenn ich sie in Phi le mons Au gen sehe, ver -

su che ich, sie ihm aus zu re den mit der gan zen Kraft

mei nes Ein flus ses, den ich noch im mer über ihn aus -

übe. Doch wenn sie in mei ner ei ge nen Brust wach

wer den, dann fin de ich kei ne Hil fe, nicht ein mal im

Ge bet. Fre de rick wür de es Dich zum Man ne ma -

chen, wenn ich Dir dei ne wah re Her kunft ent hüll -

te? Ich war oft ver sucht, es zu pro bie ren. Tief aus in -

ner stem Her zen kam mir oft der Ge dan ke, daß ich

Dir und dem al ten Man ne, den Dei ne Zü gel lo sig keit

an den Rand des Gra bes bringt, kei nen grö ße ren

Dienst lei sten kann, als wenn ich Dir dei ne Ver gan -

gen heit ent hüll te und Dir den Ab grund vor Au gen

hielt, dem Du si cher ent ge gen gehst. Ich kann dies

aber nicht, so lan ge sie lebt. Der Blick, den sie mir zu -

warf, als ich an der Kir chen tü re neu lich in Dei ne

Nähe kam, zeig te mir deut lich, daß es ihr Tod wäre,

wür de ihr lang be wahr tes Ge heim nis jetzt ent hüllt

wer den. Ich muß ih ren Tod ab war ten, der nicht gar

weit ent fernt ist und dann — — —

* * *

Ich kann es nicht! Mr. Sut her land hat nur ei nen

Stab, dar an er sich leh nen kann und das bist Du. Es

ist zwar ein schwa cher, zer brech li cher Stab, aber

doch eine Stüt ze und ich wage es nicht, ihm die se

zu ent zie hen, ich wage es nicht . . . Ach, wenn Phi le -

mon der Mann wäre, der er ein stens ge we sen, er

wür de mir ra ten. Er ist aber jetzt nur ein Kind,

gleich als ob Gott mei nen Ruf nach ei nem Kin de

end lich er hört habe und mir — — ihn gab.

* * *

Geld und im mer mehr Geld! Und ich has se es so!

Wie selt sam sind doch die Wege der Vor se hung. Zu

uns, die wir nichts wün schen und nichts brau chen,

zu uns kommt Geld in Hül le und Fül le, wäh rend an -

de re, die hart ar bei ten und stre ben, dar ben müs -

sen. Sieh nur die Za bels! Einst be deu ten de Schiffs -

bau er mit gu tem Ge schäft und ei nem Haus, dar in -

nen die kost bar sten Sel ten hei ten, kön nen sie heu te

schein bar ih ren Le bens un ter halt nicht ver die nen.

Das sind die Lau nen des Glücks — oder soll ich sa -

gen, die Wer ke der un er forsch li chen Vor se hung?

Ich ver such te ein mal, den al ten Freun den et was

von mei nem Reich tum zu flie ßen zu las sen, doch

ihr al ter Stolz stand im Wege; mehr als das: als ob

das Schick sal mir zei gen woll te, daß ich ih nen

nichts, sie aber mir ge ben dürf ten, mach te mir

James ein Ge schenk, ein selt sa mes Ge schenk, ein

Kunst werk, das ich oft be wun der te, ei nen Flo ren ti -

ner Dolch von sel te ner Schön heit. War die ser Dolch

das letz te Gut, das er be saß? Fast fürch te ich so. Je -

den falls will ich das Ge schenk in die ser Schub la de

lie gen las sen, wo nur ich al lein es se hen kann; für

Phi le mon wäre dies kein An blick. Er muß Freu de ge -

nie ßen, glück liche Ge sich ter um sich se hen, so wie

ich zu sein um sei net wil len mich be stre be. Aber

ach — — — —

* * *

Gern gäbe ich auch mein Le ben dar um, könn te ich

Dich nur ein mal in mei nen Ar men hal ten, mein ge -

lieb ter, ver irr ter Sohn. Wird die ser Tag je kom -

men? Wirst Du dann Kraft ge nug ha ben, mich an zu -

hö ren und kann ich dann ins Grab sin ken, mit dem

Ge dan ken an ei nen Blick, ein Lä cheln für mich al -

lein? Manch mal glau be ich an eine sol che Stun de

und ich bin dann glück lich im Ge den ken. Gleich

aber geht eine an de re Ge schich te Dei ner Bö se ta ten

durch die Stadt und — — — —

Wes halb schrieb sie nicht wei ter? Wir wer den

dies wohl nie er fah ren. Mit die sem ab ge bro che nen

Sat ze en de ten Agat has Auf zeich nun gen, der Auf -

schrei ei nes über wal len den Her zens.

ef

Ehe der Ge richts hof das Ende der Sit zung an zeig te,

fäll ten die Ge schwo re nen das fol gen de Ur teil:

»Ge stor ben in fol ge ei ner Wun de, die sie sich selbst

bei ge bracht, im Augen blic ke ei nes plötz li chen,

über wäl ti gen den Schrec kens, ver an laßt durch fal -

sche Auf fas sung und über wal len de Mut ter lie be«.

Das war al les, was Fre de ricks Lands leu te für ihn

tun konn ten.

XXXIII.

Va ter und Sohn.

Da mit war Fre de ricks Lei dens tag noch nicht vor -

über. Es blieb noch eine Türe zu öff nen und ei -

nen Va ter zu se hen (er nann te in sei nem Her zen

Mr. Sut her land noch im mer Va ter); er mu ß te

Freun den be geg nen und Fein den stand hal ten, un -

ter Um stän den, die durch sein of fe nes Ge ständ nis

noch eher ver schlim mert, als ver bes sert wa ren,

wie er sich selbst ge ste hen mu ß te. Da war Ag nes

zum Bei spiel. Wie konn te er ih ren un schul di gen

Blic ken be geg nen? Doch vor al lem mu ß te er sei nen

Va ter se hen, sei nen Va ter, dem er un ter vier Au gen

all das sa gen mu ß te, was die an dern aus sei nem

Munde ge hört, dem er den schön sten Le bens traum

zer stö ren und ihm ei nen Sohn rau ben wür de, fast

eine Le bens ge fähr tin, und ihm kein An den ken las -

sen konn te, das ihn trö sten wür de.

Fre de rick drück ten die se Ge dan ken so nie der,

daß er die Hän de gar nicht be merk te, die sich ihm

mit leids voll ent ge gen streck ten. Er schritt lang sam

der Türe zu, hin ter der sein Va ter seit vie len Stun -

den war te te, als ein ein zig Wort ihn stoc ken ließ. Es

war ein »Nun?«, das Knapp aus sprach und Mr.

Court ney wie der hol te.

Fre de rick bee il te sei ne Schrit te, als ihm eine

kläg li che Ge stalt mit bit ten den Au gen und ängst li -

cher Mie ne den Weg ver trat. Es war Ama bel.

»Ver zeih«, sag te sie, mit ei nem Aus druck, wie

eine be ten de Hei li ge, »ich wu ß te nicht — ich hät te

nie ge dacht, daß Du solch ein Mann bist, Fre de rick,

daß Du solch gu tes Herz hast, sol chen Schmerz tra -

gen kannst und so der Lie be und der Be wun de rung

ei ner Frau wert bist. Hät te ich . . . . . .«

Ihr Aus druck sprach lau ter und deut li cher als

ihre Wor te, denn er zeig te wah res Füh len. Doch Fre -

de rick ent geg ne te kalt:

»Wenn mei nes Va ters graue Haa re wie der

schwarz wer den und die Ge schich te mei ner Scham

in die ser nie ver ges sen den Welt ver ges sen ist, dann

kom me zu rück, dann will ich Dir ver zei hen«.

Er ging an ihr vor über, der Türe zu, als eine an de -

re Hand ihn an hielt. Dies mal war es Sweet wa ter. Da

Fre de rick we nig über ihn wu ß te, aus ge nom men,

daß er ein Ama teur-De tek tiv war, der durch sei ne

ei ge ne Schuld von der Hes per fort ge tra gen wor den

und spä ter als der ein zi ge Ue ber le ben de wie der

zurück gekommen war, woll te er ihm mit ei ni gen

all täg li chen Wor ten Glück wün schen, als Sweet wa -

ter ihn un ter brach.

»Es wird Ih nen viel leicht leich ter«, sag te er,

»die Ge ständ nis se, die Sie Ih rem Va ter ab zu le gen

ha ben, zu ma chen, wenn Sie wis sen, daß ihn die

Angst und Sor ge um Ihre Schuld oder Nicht schuld

an dem Mor de mehr bedrüc ken, als ir gend eine Ent -

hül lung, die Sie be treffs Ih res ver wand schaft li chen

Ver hält nis ses ma chen kön nen. Seit zwei Wo chen

drückt der Glau be an Ihre Schuld den al ten Mann

nie der. Dies war sein Ge heim nis, das au ßer ihm nur

ich kann te«.

»Sie?«

»Ja, ich! Ich bin tie fer in die se An ge le gen heit ver -

wic kelt, als Sie den ken kön nen; ei nes Ta ges kann

ich Ih nen al les er klä ren, jetzt nicht. Er in nern Sie

sich, was ich Ih nen eben über Ih ren Va ter sag te —

par don, viel leicht soll te ich Mr. Sut her land sa -

gen — und han deln Sie dar nach. Viel leicht brach te

mich das Schick sal nur des halb hier her zu rück,

nach den aben teu er lich sten Irr fahr ten, die ei nem

Man ne be geg nen kön nen, um Ih nen die sen Wink

zu ge ben. Ich glau be je doch«, setz te er mit ei nem

Sei ten blick auf den Un ter su chungs rich ter hin zu,

»daß es zu wich ti ge rem ge schah. In des wird das die

Zu kunft leh ren . . .«

Fre de rick trat ins Zim mer zu sei nem Va ter.

Nie mand un ter brach die Bei den, ob wohl eine

gro ße Men schen men ge das Wie der er schei nen Fre -

de ricks ab war te te. Als nach lan gem War ten die

Türe sich end lich auf tat und Mr. Sut her land, auf

Fre de ricks Arm ge lehnt, her aus trat, konn ten alle

se hen, daß der alte Mann glück licher aus schau te,

daß die Ban de lan ger Jah re sich nicht so leicht ab -

schüt teln las sen und daß er Fre de rick im mer noch

als sei nen Sohn be trach te te. Doch die ses stum me

Zei chen ge nüg te dem al ten Man ne of fen bar nicht.

Als die Men ge ehr er bie tig zur Sei te trat, um Mr. Sut -

her land nach sei nem Wa gen ge hen zu las sen, schau -

te die ser nach rechts und nach links, nick te de nen

zu, die er kann te und de nen, die er nicht kann te

und sag te mit lau ter, fe ster Stim me:

»Mein Sohn be glei tet mich nach sei nem Heim.

Soll te man ihn spä ter wün schen, fin det man ihn an

sei nem ei ge nen Herd. Gu ten Abend, mei ne Freun -

de. Ich dan ke Euch al len für den gu ten Wil len, den

Ihr uns Bei den heu te ge zeigt habt«.

Dann be stieg er den Wa gen.

Die fei er li che Art, mit der Fre de rick sein Haupt

ent blö ß te, in An er ken nung der öf fent li chen Sym pa -

thie, ge wann ihm alle Her zen.

Der Wa gen roll te da hin und so schloß das auf re -

gend ste und ein drucks voll ste Er eig nis, das sich je

in die ser klei nen Stadt er eig ne te.

XXXIV.

»Nicht, wenn die se jun ge Da men sind«.

Jede Flut hat ihre Ebbe und ehe Mr. Sut her land

und Fre de rick zu Hau se wa ren, wur den sie ge -

wahr, daß es gar vie le Leu te in der Stadt gab, die of -

fen ih ren Un wil len dar über aus drück ten, daß man

den jun gen Mann — trotz des Aus spru ches der Ge -

schwo re nen — un be hel ligt und frei nach Hau se ge -

hen ließ. Es blieb man ches un auf ge klärt und man -

cher Zwei fel an der völ li gen Schuld lo sig keit Fre de -

ricks ward laut, und lang sam aber si cher be rei te te

sich ein Sturm vor, der die Ge mü ter der Stadt in Auf -

ruhr ver setz te.

Mr. Sut her land, den die Er eig nis se der ver gan ge -

nen Tage zu sehr in An spruch nah men, merk te

nichts von dem kom men den Sturm. Doch für Fre de -

rick, der den lei se sten Blick, das klein ste Wort da -

für, daß sei ne Dar le gung nicht ganz un be zwei felt

hin ge nom men wür de, wohl be merk te, wa ren dies

Tage des tief sten Elends. Er war sich be wußt, daß

die ser of fe ne Ver dacht nicht nur wei te re Miß hel lig -

kei ten für ihn brin gen konn ten, son dern daß er

auch vor der Welt nie als un schul dig da ste hen wür -

de, trotz dem ihn das Ge richt frei sprach; und was

ihn am mei sten schmerz te, daß er nie dem Tage ent -

ge gen se hen kön ne, an dem viel leicht Ag nes Lie be

ihn für all die Lei den ent schä dig te, die er er lit ten.

Er wür de nie mals ein so rei nes Mäd chen an sich bin -

den, so lan ge ihn die Mit men schen schul dig glau -

ben; ihr ei ge ner Glau be an sei ne Un schuld und an

die Wahr heit sei ner Aus sa gen (und er wu ß te, daß

sie ihm glaub te), konn te dar an nichts än dern. So -

lan ge auch nur ein Schat ten von Schuld an ihm haf -

te te, ga ben we der Mr. Sut her land, noch ihr Va ter,

noch sein ei ge nes Herz es zu, ihr mehr zu sein als

Freund und gu ter Nach bar, trotz dem er da mit sei -

ne schön sten Hoff nun gen be grub und sein Le bens -

glück ver nich tet sah. Er hat te durch Lei den lie ben

ge lernt, nur um zu er fah ren, daß er durch Lie be lei -

den müs se.

Er hat te auf rich tig und ehr lich ge sagt, was er wu -

ß te und man hat te ihm ge glaubt. Doch was gab es in

sei nem Le ben, was in den Aus sa gen an de rer, was in

den Brie fen sei ner Mut ter und der Ent hül lung sei -

ner Ver wandt schaft, das sei ne Be haup tung be stä ti -

gen konn te, daß ihre Hand und nicht die sei ne es

war, wel che den Dolch in ihre Brust ge sto ßen?

Nichts, nichts! Nichts, als sein Wort ge gen je den

mensch li chen Glau ben und je des na tür li che Den -

ken. Nichts, als sein Wort ge gen die edle Na tur der

edel sten Frau. Zwar hat ten zwölf Mit bür ger öf fent -

lich und un ter Eid ih ren Glau ben an sei ne Un schuld

pro kla miert, ihn frei ge spro chen und so sei ne Ehre

und viel leicht sein Le ben ge ret tet; doch so wohl er,

als auch sie wu ß ten, daß da mit der Zwei fel an sei ne

Schuld nicht aus der Welt ge schafft war und nicht

aus der Welt ge schafft wer den konn te bis ans Ende

sei ner Tage, denn sei ne Un schuld ließ sich nicht be -

wei sen! Bat sy war tot und so wu ß te nur sein ei gen

Ge wis sen und Gott, ob er die Wahr heit und nur die

Wahr heit ge spro chen, über das, was sich in je ner

Nacht und in je ner schreck lichen Stun de er eig net.

Mr. Sut her land war ins Haus ge gan gen, der Wa -

gen da von ge fah ren und Fre de rick schloß eben das

Gar ten tor, als er die Stra ße hin ab schau te und Ag -

nes am Arme ih res Va ters da her kom men sah. Erst

woll te er ins Haus ge hen, doch er be sann sich ei nes

an de ren und blieb. Mr. Hal li day, der sah, daß ein Ge -

spräch zwi schen den bei den jun gen Leu ten un ver -

meid lich war, und dies so schnell als mög lich been -

det se hen woll te, warf Ag nes ei nen be zeich nen den

Blick zu, den Fre de rick wohl be merk te, und hielt

an.

Fre de rick fand zu erst Wor te.

»Ag nes«, be gann er, »ich bin froh, die se Ge le gen -

heit zu ha ben, um Dir mei ne Dank bar keit aus zu -

drüc ken. Du hast wie ein wah rer Freund ge han delt

und ich bin Dir ewig da für zu Dank ver pflich tet,

selbst wenn wir nie wie der zu sam men spre chen

soll ten«.

Eine Mi nu te lang herrsch te Schwei gen. Ihr

Kopf, den sie bei sei nem Gru ße ge senkt hat te, hob

sich, sie schau te ihn mit trä nen feuch ten Au gen an

und sag te dann:

»Wes halb sprichst Du so? War um soll ten wir

nicht mehr zu sam men kom men? Weiß nicht Je der -

mann, daß Du un schul dig bist und wird nicht die

gan ze Welt bald se hen, wie ich es sehe, daß Du mit

Dei nem al ten Le ben ge bro chen hast und daß Du

nur Dein ei gen Selbst sein mußt, um Al ler Ach tung

zu ge win nen?«

»Ag nes« er wi der te Fre de rick mit bit te rem Lä -

cheln, als er die Er re gung be merk te, wel che ihre en -

thu sia sti schen Wor te auf Mr. Hal li days Züge brach -

ten, »Du kennst mich viel leicht bes ser, als an de re

und glaubst mir und mei nen Wor ten. Doch es gibt

we ni ge in der Welt, wie Du. Die gro ße Men ge glaubt

nicht an mei ne Un schuld und so lan ge es auch nur

ei nen ein zi gen Men schen gibt, der an mei nen Wor -

ten zwei felt, so lan ge wäre es ein schlech ter Be weis

ei nes neu be gon ne nen Le bens, soll te ich ge stat ten,

daß ein Schat tens die ses Zwei fels, un ter dem ich

lebe, auf Dich fal len wür de. Du und ich wa ren Freun -

de und wir wol len es blei ben, doch — so schwer es

mir auch wird — wir müs sen künf tig so we nigals mög lich zu sam men kom men. Ich glau be,Mr. Hal li day wird mir recht ge ben; als Dein Va -ter muß er wohl«.

Ag nes Au gen wand ten sich von Fre de rick ab

und ih rem Va ter zu. Ach, sie las sei ne Ant wort nur

zu deut lich. Sie er bla ß te, senk te den Kopf und mur -

mel te:

»Zu viel Rück sicht auf die öf fent li che Mei nung

und zu we nig auf das Be ste und Edel ste in uns

selbst. Ich glau be eben so we nig an die Not wen dig -

keit ei ner Tren nung, als ich dar an glau be, daß Je -

mand an Dei ner Un schuld zwei feln kann, nach

dem, was er heu te ge se hen und ge hört«.

»Aber die Vie len, die mich nicht ge hört oder ge -

se hen ha ben? Au ßer dem«, da bei deu te te er mit

dem Kop fe nach dem Gar ten hin ter ihm, »schleicht

seit ei ner Wo che ein Mann hier her um, der jede

mei ner Be we gun gen be ob ach tet und fast je den mei -

ner Seuf zer zählt. Ich brau che wohl nicht zu sa gen,

was je ner ist, noch un ter wes sen Au to ri tät er dies

tut. Ge stern war er nicht hier, doch heu te kam er

wie der. Was be weist dies, mei ne Freun din? All ge -

mein aner kann te Un schuld braucht kei nen Wäch -

ter«.

»Falls ein Auf pas ser dort ist und falls dies be -

weist, daß Du in Ge fahr bist, für ein Ver bre chen,

das Du nie be gan gen, ar re tiert zu wer den, dann ist

es erst recht die Pflicht Dei ner Freun de, ihre Stel -

lung in die ser An ge le gen heit klar zu ma chen und

ihre Sym pa thie zu be zei gen, um Dir Mut und Kraft

zu ver lei hen, das Schwe re zu er tra gen«.

»Nicht, wenn die se jun ge Da men sind«, mur mel -

te Fre de rick und, ei nen Blick auf Mr. Hal li day wer -

fend, trat er zur Sei te.

Ag nes er rö te te und folgte ih rem Va ter.

»Gu ten Abend mein Freund«, sag te sie mit zit -

tern der Stim me, die Fre de rick tief ins Her ze traf.

»Ei nes Ta ges wird es »Gu ten Mor gen« hei ßen«.

Sie war kaum ge gan gen, als ein Mann um die

Ecke des Hau ses auf Fre de rick zu kam — nicht der

Mann, der ihm im Gar ten auf lau er te, son dern Mr.

Fen ton, der Poli zist — und ihm ein Pa pier über -

reich te.

Es war ein Haft be fehl un ter der An kla ge als Mör -

der.

XXXV.

Sweet wa ter trägt end lich sei ne Schuld an

Mr. Sut her land ab.

Fre de ricks Ar re tie rung war so un auf fäl lig vor

sich ge gan gen, daß die Stadt erst am an dern

Mor gen da von er fuhr. So fort war al les in grö ß tem

Auf ruhr. Ge schäf te wur den ge schlos sen und bald

wa ren Werft und Stra ßen mit ge sti ku lie ren den

Män nern und schrei en den Frau en an ge füllt, die an

je der Ecke, auf je der Trep pe den De bat ten zu hör -

ten, die sich an das Vor ge hen der Po li zei knüpf ten.

Das er reg te ste Ge sicht aber und da bei die still -

ste Zun ge war an je nem Mor gen nicht in der Stadt

zu fin den, son dern in ei nem klei nen Häus chen auf

dem Fel sen am See. Dort saß Sweet wa ter und

lausch te dem Plau dern sei nes gro ßen Leh rers, der

See, und nur aus dem Blit zen sei ner Au gen und dem

Be ben der zu sam men ge pre ß ten Lip pen konn te sei -

ne Mut ter er se hen, daß eine Kri sis im Le ben ih res

Soh nes be vor stand und daß von dem Er fol ge sei nes

Sin nens nicht nur sei ne Selbst zu frie den heit ab hin -

ge, son dern auch das Glück ei nes Man nes, der sei -

nem Her zen am näch sten stand.

Plötz lich sprang er auf.

»Gib mir Geld, Mut ter«, rief er, »al les Geld, das

wir im Hau se ha ben! Ich habe eine Idee, die viel -

leicht mehr wert ist, als was ich je ver dien te, mehr,

als ich viel leicht je hof fen kann! Glückt sie, dann ret -

ten wir Fre de rick Sut her land; mi ß glückt sie, dann

muß ich eben noch mals die Ver ach tung Knapps

über mich er ge hen las sen. Sie wird aber nicht miß -

lin gen! Die Idee gab mir die See und die See ist, wie

Du weißt, mei ne zwei te Mut ter!«

Er sag te nicht, wel ches die Idee war, nahm das

Geld, eil te schnel len Schrit tes zur Stadt und lief

dem Te le gra phen am te zu.

* * *

Soll ich die Sze ne be schrei ben, als Fre de rick des

Nach mit tags un ter Po li zei-Auf sicht zur Stadt ge -

bracht ward? Mr. Sut her land hat te dar auf be stan -

den, sei nen Sohn zu be glei ten und als der all seits

ver ehr te Mann mit dem wei ßen Haa re ne ben ihm

her schritt, trat die Men ge schwei gend zur Sei te.

Fre de rick hat te nie bes ser aus ge se hen. Das Elend

schien ihn ge läu tert zu ha ben. Er ging er ho be nen

Haup tes, mit strah len den Au gen und zum er sten

Male konn te man be mer ken, wie sehr er Agat ha

ähn lich sah.

Plötz lich ging eine Be we gung durch die Men ge.

Fre de rick be merk te dies und drück te sei nes Va ters

Hand, die er heim lich in der sei nen hielt. Er woll te

eben spre chen, als ein Mann die Stra ße her ab rann -

te, der ein Stück Pa pier über sei nem Kop fe

schwang. Es war Sweet wa ter.

»Eine De pe sche!« schrie er. »Eine Neuig keit! Ein

Te le gramm von den Azo ren! Ein schwe di scher Ma -

tro se — —«

In dem sel ben Augen blic ke trat ein Mann zu Mr.

Sut her land, nahm höf lich sei nen Hut ab und sag te:

»Der Ge fan ge ne wird heu te nicht die Stadt ver -

las sen müs sen. Wir ha ben so eben eine wich ti ge

Nach richt er hal ten. Sie ent schul di gen mich«.

Mr. Sut her land, der ahn te, daß die se »wich ti ge

Nach richt« zu gun sten sei nes Soh nes war, sank ohn -

mäch tig in des sen Arme.

»Eine Neuig keit!« schrie die Men ge, »Fre de rick

Sut her land ist un schul dig! Seht! Den al ten Mann

hat die Freu de über kom men!«

Hüte flo gen in die Luft, Trä nen flos sen und die

Freu de war all ge mein, ohne daß auch nur ei ner wu -

ß te, wor in ei gent lich die gute Nach richt be stand.

Erst spä ter er fuhr man die Wahr heit. Sweet wa -

ter hat te sich der Ma tro sen er in nert, die an Agat -

has Haus vor über gin gen, als Bat sy aus dem Fen ster

fiel. Er te le gra phier te dem Ka pi tän des Schif fes an

den er sten See platz, an dem er vor aus sicht lich an le -

gen wür de und war so glück lich, eine Ant wort zu er -

hal ten, die ihm das sag te, was er so ge spannt er war -

te te. Ei ner der Ma tro sen, ein Schwe de, er in ner te

sich deut lich der Wor te, die Bat sy aus ge ru fen, ehe

sie tot aus dem Fen ster fiel; sie hat te in ih rer Mut -

ter spra che ge spro chen und dies wa ren ihre Wor te:

»Hjelp! Hjelp! Frun häl ler pä alb doda sig. Hon

har en knif. Hjelp! Hjelp!«

Auf Deutsch:

»Hil fe! Hil fe! Mei ne Her rin tö tet sich! Sie hat ein

Mes ser! Hil fe! Hil fe!

Das un mög lich Ge glaub te hat te sich er eig net:

die tote Bat sy hat te zu gun sten des Soh nes ih rer

ver ehr ten Her rin aus ge sagt und Sweet wa ter war

es, der dies voll bracht.

* * *

Sweet wa ters Name war in al ler Mund; von die ser

Stun de an war er ein ge mach ter Mann.

Und Fre de rick?

Nach ei ner Wo che war er der Lieb ling der gan -

zen Stadt und nach ei nem Jah re — — doch las sen

wir Ag nes glück liches Ge sicht und zu frie de nes Lä -

cheln sa gen, was er dann war, die gute Ag nes, die

ihn erst ver ach te te, dann lieb te und die er nun,nächst Agat ha, als das höch ste Ideal ed ler Weib -lich keit ver ehrt.

Scran ton, Pa.,

Ende Juni 1904.