48
APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 9/2010 · 1. März 2010 Nahost-Konflikt Alexandra Senfft Wider die „Kultur des Konflikts“ Efraim Inbar Herausforderungen für die Regierung Benjamin Netanjahus David Kaye Völkerrechtliche Implikationen des Goldstone-Berichts Patrick Keller Einsatz ohne Wirkung? Barack Obamas Nahost-Politik Michael Bröning · Henrik Meyer Zwischen Konfrontation und Evolution: Parteien in Palästina Michaela Birk · Ahmed Badawi Bedeutung und Wandel der Arabischen Friedensinitiative Heike Kratt Zivile Konfliktbearbeitung in Israel und Palästina Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament

APuZ - Bundeszentrale für politische Bildung · wird: „al-Yahud“, „der Jude“, wird dabei zum undifferenzierten Oberbegriff und fließt in die Hetzreden islamistischer Aufwiegler

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

APuZAus Politik und Zeitgeschichte

9/2010 · 1. März 2010

Nahost-Konflikt

Alexandra SenfftWider die „Kultur des Konflikts“

Efraim InbarHerausforderungen für die Regierung Benjamin Netanjahus

David KayeVölkerrechtliche Implikationen des Goldstone-Berichts

Patrick KellerEinsatz ohne Wirkung? Barack Obamas Nahost-Politik

Michael Bröning · Henrik MeyerZwischen Konfrontation und Evolution: Parteien in Palästina

Michaela Birk · Ahmed BadawiBedeutung und Wandel der Arabischen Friedensinitiative

Heike KrattZivile Konfliktbearbeitung in Israel und Palästina

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament

EditorialMit dem Amtsantritt des US-Präsidenten Barack Obama An-

fang des Jahres 2009 stiegen auch die Erwartungen und Hoff-nungen auf Fortschritte im Nahost-Konflikt. Doch dessenKomplexität setzte Obamas Engagement enge Grenzen. Einevon allen Beteiligten akzeptierte Beilegung wird nur erreichtwerden können, wenn die Konfliktparteien ihre Interessen aus-reichend gewahrt sehen. Es gilt, das Sicherheitsbedürfnis Israelsin Einklang zu bringen mit dem Bedürfnis der Palästinensernach dem Aufbau einer funktionierenden Staatlichkeit und na-tionaler Identität.

Asymmetrische Machtverhältnisse und die gesellschaftlichePolarisierung auf beiden Seiten erschweren eine Zwei-Staaten-Lösung: Der innerpalästinensischen Fragmentierung in Fatah-dominierte Westbank und Hamas-kontrollierten Gazastreifensteht ein zunehmend konservativer Zeitgeist in Israel gegen-über, der das „Friedenslager“ des Landes marginalisiert. Hinzukommt, dass der israelisch-palästinensische Kernkonflikt vonweiteren Konfliktdimensionen überlagert wird. Dazu zählenTerritorialdispute wie zwischen Syrien und Israel um die Go-lanhöhen und Auseinandersetzungen zwischen Israel und wei-teren nahöstlichen Akteuren wie der libanesischen Hisbollahund dem Iran.

Sämtliche Konfliktstrukturen sind eng miteinander verknüpftund werden sich nur lösen lassen, wenn der Konflikt in seiner ge-samten Komplexität verstanden und bearbeitet wird. Ein wichti-ger Ansatz könnte sein, Räume für die Begegnung und den Aus-tausch zwischen Israelis und Palästinensern zu schaffen, umdazu beizutragen, dass Vorurteile abgebaut und die Bedürfnisseund Ängste des „Anderen“ erkannt und anerkannt werden.

Asiye Öztürk

Alexandra Senfft

Wider die „Kulturdes Konflikts“:

Palästinenser undIsraelis im Dialog

A uch Worte können töten“ lautet dasMedien-Beobachtungsprojekt, das die

„Palästinensische Initiative zur Förderungdes Globalen Dialogsund der Demokratie“(Miftah 1) und das„Zentrum zum Schutzder Demokratie in Is-rael“ (Keshev 2) durch-führen. Sie dokumen-tieren die negativeBerichterstattung inIsrael und den paläs-tinensischen Gebietenund arbeiten mit den

Redaktionen, um den verbreiteten Vorurtei-len sowie der Diffamierung und Hetze imNahost-Konflikt entgegen zu wirken. Habendie Medien doch einen starken Einfluss da-rauf, ob die öffentliche Meinung auf Gewaltoder Frieden eingestimmt ist. „Mit dem vonden Medien wiedergekäuten Slogan ,Auf pa-lästinensischer Seite gibt es keinen Partner‘schafft man keine Voraussetzungen für Ver-handlungen“, so Keshevs Direktor YizharBe’er. 3

Die Zusammenarbeit der beiden Nichtre-gierungsorganisationen klappt meist gut, ob-gleich die von der israelischen Regierung ge-baute Mauer die ohnehin schon existierendeAsymmetrie verstärkt: Die Israelis könnenihre Partner bei Miftah in der Westbank besu-chen, die Palästinenser ihre Kollegen beiKeshev jedoch nicht, weil sie meist keinenPassierschein von den israelischen Behördenbesitzen, ohne den sie nicht nach Jerusalemeinreisen dürfen. Beharrlich leisten beide Sei-ten jedoch Aufklärungsarbeit und lassen sichvon den politischen Verhältnissen nicht beir-ren.

Gleichwohl gibt es wiederholt Spannun-gen, aus denen sie bislang jedoch stets Aus-wege fanden. An einem Punkt war die Bezie-hung während einer Arbeitssitzung in Ramal-lah stark belastet: Es war der israelischeGedenktag für die Gefallenen und Terrorop-fer, und einige der israelischen Mitarbeiter be-standen darauf, eine Schweigeminute einzule-gen. Ihre palästinensischen Kollegen fühltensich von diesem Wunsch vereinnahmt undmit ihren eigenen Bedürfnissen ignoriert – seidie Besatzung denn nicht genug der Domi-nierung, und wo bleibe das Andenken für diepalästinensischen Toten? Bevor die Situationin einem Fiasko enden konnte, fand sich einKompromiss – die Palästinenser und Israeliseinigten sich darauf, der Opfer beider Seitenzu gedenken und zwar fünfzehn Minuten vordem offiziellen Ereignis. „Wenn Vertrauenbesteht, können wir diese durch Symbolikund Rituale überfrachteten Hindernisse über-winden“, fasst Be’er das positive Schlüsseler-lebnis zusammen, in dem einige entscheiden-de Faktoren für einen konstruktiven Dialogzu erkennen sind: Offenheit, Gleichberechti-gung und gegenseitige Wahrnehmung.

„Vernünftige Menschen finden immerleicht einen Kompromiss, wenn ihnen diewichtigsten Anliegen der anderen Seite be-wusst sind“, sagt der palästinensische Philo-soph Sari Nusseibeh. 4 Folgt man diesem Pos-tulat, ist festzustellen, dass die Politiker derRegion und ihre Wähler offenbar unvernünf-tig sind: Von Kompromissbereitschaft oderVertrauen kann keine Rede sein. Es ist gegen-wärtig unwahrscheinlich, dass die Friedens-verhandlungen wieder aufgenommen werden,ja, die Lage im Nahen Osten war noch nie soaussichtslos wie heute. So manche Skeptikerhalten das palästinensische Streben nachStaatlichkeit mittlerweile für aussichtslos, diePessimisten unter ihnen sehen gar das EndeIsraels nahen. Auch das Model des binationa-len Staats ist wieder im Gespräch.

Es mangelt der politischen Spitze an Visio-nen, Mut und Durchsetzungskraft für unpo-puläre Veränderungen, und mit jedem Tag der

Alexandra SenfftM. A., geb. 1961; Publizistin

und Mitherausgeberin von„Zwischen Antisemitismus und

Islamophobie, Vorurteileund Projektionen in Europa

und Nahost“[email protected]

1 Vgl. www.miftah.org (28. 1. 2010).2 Vgl. www.keshev.org.il (28. 1. 2010).3 Zit. in: Alexandra Senfft, Fremder Feind, so nah.Begegnungen mit Palästinensern und Israelis, Ham-burg 2009, S. 168.4 Sari Nusseibeh, Es war einmal ein Land. Ein Lebenin Palästina, München 2008, S. 309.

3APuZ 9/2010

Ratlosigkeit wächst die Gefahr, dass Waffenstatt Worte das Geschehen bestimmen. DerGaza-Krieg Ende des Jahres 2008 war Aus-druck dieses gefährlichen Trends.

Feindbilder bestimmen das Verhältnis

Das palästinensisch-israelische Verhältnis istim Allgemeinen geprägt von tiefem Misstrau-en, Ängsten, Feindbildern, nicht vereinbarenNarrativen und Perspektiven sowie tieferMissachtung. „Vieles beruht auf Psycholo-gie“, so Yizhar Be’er. Nach 26 Jahren aktiverFriedensarbeit ist der ehemalige Journalistimmer wieder erstaunt, wie sehr Gefühle inder politischen Auseinandersetzung eineRolle spielen.

Daniel Bar-Tal, Dozent an der Tel AvivUniversität, sagt, dass Gesellschaften, die sichin unlösbaren Konflikten befinden, ein Re-pertoire an kollektiven Glaubenssätzen zurFormierung, Festigung und Aufrechterhal-tung ihrer Identität entwickeln, um mit denalltäglichen Herausforderungen fertig zu wer-den. Es entstehe in der kollektiven Erinne-rung eine Beschreibung der Vergangenheit,die nicht unbedingt wahr sein müsse, aber fürdie Gruppe nützlich sei. Diese Geschichte seimeist voller Vorurteile, selektiv und verzerrt,sie vernachlässige Fakten und dichte anderehinzu, verändere den Ablauf von Ereignissenund interpretiere diese absichtlich neu. Erin-nerungen über alte und neue Ereignisse ver-mischten sich und „beeinflussen maßgeblichaktuelle Haltungen, Wahrnehmungen undVerhaltensweisen“ 5.

In einem Konflikt neigten Gruppen starkzu Selbstrechtfertigungen, Selbstglorifizie-rung und Selbstlob, so Bar-Tal, während siegleichzeitig ihre Gegner moralisch, politischund auch kulturell delegitimierten. Sie über-höhen die eigene Sache, was letztendlich dazudiene, Gewalt im Namen von Sicherheit undGerechtigkeit zu rechtfertigen. Auf die Dauerinstitutionalisiere sich dieses gesellschaftlicheRepertoire, so der Wissenschaftler in Bezugauf Israel, und es dringe in die Politik, Me-dien, Kultur und das Bildungssystem ein.

War es während des akuten Konflikts nochfunktional, entwickele es sich zu einemschädlichen Hindernis, wenn es darum gehe,den Konflikt zu beenden. Es sei eine „Kulturdes Konflikts“ entstanden. 6

Ähnliches haben der im Jahr 2008 verstor-bene israelische Psychologe Dan Bar-On undder palästinensische Soziologe Sami Adwanüber nationale Identitäten herausgefunden:„Unsicherheit auf beiden Seiten ist eines dergrundsätzlichen sozio-psychologischen Cha-rakteristika dieses Konflikts.“ 7

Zusammen mit palästinensischen und israe-lischen Lehrerinnen und Lehrern haben sieim Jahr 2002 ein Geschichtsbuch für Schulenentwickelt, in dem die historischen Kerner-eignisse aus der Sicht beider separat neben-einander abgedruckt sind. 8 Bewogen hatte siedie Erkenntnis, dass die palästinensischenund israelischen Schulbücher durch Auslas-sungen, unterschiedliche Terminologien, ab-weichende Fakten und Zahlen eine „Kulturder Feindseligkeiten“ offenbaren. „Was auf-fällt, ist das vollkommene Verleugnen undDesinteresse für die Geschichte des Ande-ren“, so Adwan. „Es gibt nicht einen einzigenVorschlag, sich die Geschichte des anderenanzuhören oder zu erfahren, wie der anderedenkt. Außerdem kommt in keinem der bei-den Curricula die Ära von Friede undKoexistenz vor, die es zwischen Palästinensernund Juden einst gegeben hat. Sie beschränkensich darauf, die Kriege, Emigrationen, Auf-stände und Angriffe zu diskutieren.“ 9

Es sei wichtig gewesen, bereits beim Ent-stehungsprozess des gemeinsamen Ge-schichtsbuchs für die Narrative von Israelisund Palästinensern jeweils einen eigenenPlatz zu schaffen, so die beiden Initiatoren.Erst dadurch konnten die teilnehmendenLehrkräfte sicherer werden und sich mit deroft vollkommen anderen Perspektive der„Gegenseite“ auseinander setzen. Für ein ge-meinsames Narrativ, das die unterschiedli-

5 Daniel Bar-Tal/Gavriel Salomon, Israeli-Jewish nar-ratives of the Israeli-Palestinian conflict. Evolution,Contents, Functions, and Consequences, in: Robert I.Rotberg (ed.), Israeli and Palestinian Narratives ofConflict, Bloomington 2006, S. 23.

6 Daniel Bar-Tal in einem Gespräch mit der Autorin inTel Aviv im August 2008.7 Dan Bar-On/Sami Adwan, The Psychology of betterdialogue between two separate but interdependentnarratives, in: R. I. Rotberg (Anm. 5), S. 216.8 Vgl. Learning each others‘ Historical Narrative: Pa-lestinians and Israelis, Beit Jallah 2002/6.9 Interview mit Sami Adwan, online: www.justvision.

org/en/profile/prof_sami_adwan/interview (28. 1. 2010).

4 APuZ 9/2010

chen Sichtweisen integriert, sei die Zeit nochnicht reif, es bedürfe zunächst einer politi-schen Lösung, erwiderten die beiden Kolle-gen und Freunde ihren Kritikern, die gerneeinen einzigen Schulbuchtext gesehen hät-ten. 10

Eigene Identität und dieSichtweise des „Feindes“

Zu einem dauerhaften Konflikt gehört die Un-fähigkeit, sich auf die Sichtweise der „Ande-ren“ einzulassen. Denn dies wird mit derAngst verbunden, die eigene Identität zu ver-lieren und somit den moralischen Anspruch,„Recht“ zu haben. Im palästinensisch-israeli-schen Kontext heißt das: Setze ich mich insUnrecht, wenn ich als Israeli eingestehe, dassdie Palästinenser im Jahr 1948 fliehen musstenund vertrieben wurden, damit mein Staat ge-gründet werden und wachsen konnte, undmuss ich dessen Existenzrecht infolgedessenin Frage stellen? Oder als Palästinenser: Habeich noch ein Recht auf Selbstbestimmung,wenn ich das, was den Juden von den Natio-nalsozialisten angetan wurde, in meinen Dis-kurs integriere und zur Kenntnis nehme, dasses weiterhin Antisemitismus gibt und Judendeshalb ein starkes Sicherheitsbedürfnishaben?

Es ist eine Schwäche der eigenen Identität,die zu dem Trugschluss führt, sich der Sicht-weise des „Feindes“ zu öffnen führe unwei-gerlich zur Aufgabe des eigenen Standpunk-tes. Jegliche Annäherung wird folglich als be-drohlich wahrgenommen, und es scheinteinfacher, das Gegenüber zu verleugnen, zustigmatisieren und zu bekämpfen, anstatteinen Dialog mit ihm zu beginnen. Ein Dia-log wäre bereits erfolgreich, wenn er zur Er-kenntnis führte, dass es in diesem Konfliktnicht ein Narrativ sondern zwei gleichbe-rechtigte Narrative gibt. Es geht nicht darum,dem Anderen die eigene Perspektive zu ok-troyieren, sondern darum, dessen Sicht über-haupt wahrzunehmen: „Anerkennung istnicht gleichbedeutend mit Legitimierung“,sagt Adwan. 11

An der Unvereinbarkeit der historischenSichtweisen scheiterten schon viele Dialogbe-

mühungen – Sprache und Terminologie spielendabei eine große Rolle. Sie verhärten Klischeesund tragen zur Asymmetrie der Kontrahentenbei. Sprechen etwa die Israelis vom „Unabhän-gigkeitskrieg“ im Jahr 1948, ist dasselbe Ereig-nis für die Palästinenser die Naqba, „dieKatastrophe“ der Vertreibung. Ob die jüdi-schen Kämpfer aus der Zeit vor der israeli-schen Staatsgründung oder die PLO-Aktivi-sten vor den Oslo-Vereinbarungen Wider-standskämpfer oder Terroristen waren, wird jenach Standpunkt anders beurteilt und benannt.Für Israelis heißt das Land „Eretz Israel“ –„Palästina“ für die Palästinenser. Wenn Israelisdie Palästinenser, vor allem diejenigen mit is-raelischem Pass, „Araber“ nennen, klingt dasfür letztere nach einer Negierung und Herab-setzung, denn es ist eine Anspielung auf dieBehauptung, eine palästinensische Nationhabe nie existiert, folglich könne es auch keinePalästinenser geben; viele Israelis nutzen denAusdruck Araber zudem als Schimpfwort.

Verallgemeinerungen, Abwertungen sowieAbgrenzungsversuche gibt es freilich auchauf palästinensischer Seite, wo zwischenJuden und Israelis oft nicht unterschiedenwird: „al-Yahud“, „der Jude“, wird dabeizum undifferenzierten Oberbegriff und fließtin die Hetzreden islamistischer Aufwieglerein. „Die Helden der einen, sind die Monsterder anderen“, so Bar-On und Adwan. 12

Wer Täter und wer Opfer ist, ist im Nah-ost-Konflikt – anders als beim deutsch-jüdi-schen Verhältnis – vollkommen ungeklärt. Is-raelis und Palästinenser ringen deshalb umdie Rolle des Opfers, geradezu so, als habedas Opfer immer Recht. Der Täter ist stetsder „Andere“. Mit dieser Haltung lässt essich vermeiden, die Verantwortung für die ei-genen Taten, für die eigene Mitläuferschaftoder Ignoranz zu übernehmen.

So beklagt Larry Derfner: „Heute Israelizu sein, bedeutet dagegen zu sein. GegenPalästinenser. Gegen Leute, die kritisieren,wie wir mit den Palästinensern umgehen.Gegen Muslime im Allgemeinen. So ist das.So ist es Israeli zu sein, seit die Intifada voreinem Jahrzehnt begann und wir darausschlossen, den Arabern sei nicht zu trauen.Das ist alles, wofür Israel mit Ausnahmeseines High-Tech-Images noch steht – gegen

10 Vgl. D. Bar-On/S. Adwan (Anm. 7).11 Vgl. S. Adwan (Anm. 9). 12 Vgl. D. Bar-On/S. Adwan (Anm. 7), S. 207.

5APuZ 9/2010

diesen, gegen jenen und auch gegen jeden,der nicht gegen diese ist. Heute Israeli zusein, bedeutet, das Denken um den Feindherum zu organisieren. Ohne den Feindkannst du die Welt und deinen Platz darinnicht verstehen. Ohne den Feind weißt dugar nicht, was du willst.“ 13

Psychologische Ebene des Konflikts

Um die tieferen Schichten der palästinen-sisch-israelischen Auseinandersetzung zu be-greifen, ist es notwendig, auch die psycholo-gische Ebene zu erfassen. Shoah und Naqbastellen für beide Bevölkerungsgruppen unauf-gearbeitete Traumata dar, die, über Genera-tionen weitergereicht, bis heute wirken: „Wirhaben eine dominante Haltung gegenüberden Palästinensern, die Machtverhältnissesind asymmetrisch (. . .) Zugleich haben wiraber auch Angst, dass die Palästinenser dieNachfolger derer sein könnten, die uns in Eu-ropa verfolgt haben. Es bestehen zwei gegen-sätzliche Ungleichheiten: das physische Un-gleichgewicht am Ort, unsere Kontrolle überdie Palästinenser; und das zweite Ungleichge-wicht, unserer Angst vor ihnen. Wenn mandiese beiden Missverhältnisse nicht begreift,kann man auch nicht verstehen, warum dieserKonflikt kein Ende nimmt“, unterstrich DanBar-On. 14 Der ehemalige Knesset-Sprecherund Vorsitzende der Jewish Agency AvrahamBurg glaubt sogar: „(. . .) dass wenn wir dieAraber von der Nazi-Rolle befreien, die wirihnen zugewiesen haben, es wesentlich einfa-cher sein wird, mit ihnen zu reden und unserebeiden existenziellen Probleme zu lösen.“ 15

Oft geraten Begegnungen zwischen Paläs-tinensern und Israelis zu einem Schlagab-tausch darüber, wer mehr gelitten hat. Lei-den ist objektiv jedoch nicht messbar. „Des-halb ist es unsinnig, sich mit Vergleichen zubeschäftigen. Relevant ist indes, darüber zusprechen, was uns an Vergangenem heutebedrückt und wie sich das auf die aktuellenEreignisse auswirkt.“ 16

Der ehemalige Vertreter der PLO in denUSA und Russland Afif Safieh drückte es soaus: „Wäre ich ein Jude, Sinti oder Roma,wäre der Holocaust für mich das schreck-lichste Ereignis in der Geschichte. Wäre ichein Schwarzafrikaner, wären es die Sklavereiund Apartheid. Wäre ich ein UreinwohnerAmerikas, wäre es die Entdeckung derneuen Welt durch europäische Forscher undSiedler, was fast zur völligen Auslöschunggeführt hat. Wäre ich Armenier, wäre es dasosmanisch-türkische Massaker. Und wennich ein Palästinenser wäre, wäre es dieNaqba, die Katastrophe der Vertreibung.Niemand hat das Monopol über menschli-ches Leiden. Es ist nicht ratsam, eine Hier-archie des Leides zu schaffen. Die Mensch-heit sollte all das oben genannte als mora-lisch abstoßend und politisch unakzeptabelbetrachten.“ 17

Viele Dialogversuche scheitern, weilPalästinenser sich im Angesicht von Erzäh-lungen über die Shoah mit ihrer eigenenGeschichte an den Rand gedrängt und über-wältigt fühlen. Ist ihre eigene Geschichteangesichts dieses Leids noch „gut genug“,um erzählt zu werden? Ihre Ohnmacht pro-voziert sie dann nicht selten dazu, israeli-sche Soldaten mit Nazis zu vergleichen, waswiederum die israelischen Gesprächspartnerzutiefst verletzt und zum Kontaktabbruchtreibt.

„Politik der Isolation“

Hass, Ablehnung und Angst, ja sogar Rassis-mus beeinflussen die palästinensisch-israeli-schen Beziehungen latent oder offen. Das ak-tuelle Klima in Israel ist jedoch auch vonDesinteresse geprägt, wie diverse Autoren zuBeginn dieses Jahres erschrocken bemerkten.„Heutzutage sind die meisten Israelis vondem Konflikt mit den Palästinensern abge-schnitten und ohne Kontakt zu ihnen. Für siesind die Palästinenser verschwommene Figu-ren aus den Fernsehnachrichten: MahmudAbbas und Ismail Haniyeh lassen etwas ver-lauten, von Kopf bis Fuß verhüllte Frauentrauern vor ihrem Zelt, Männer laufen mitTragbahren zu einem Krankenwagen, andereverbergen ihr Gesicht, während sie Raketenabfeuern. Israelis haben keinerlei Interesse,

13 Larry Derfner in: The Jerusalem Post vom 13. 1.2010.14 Vgl. A. Senfft (Anm. 3), S. 15.15 Avraham Burg, Hitler besiegen. Warum Israel sichendlich vom Holocaust lösen muss, Frankfurt/M.2009, S. 98.16 So Dan Bar-On, zit. in: A. Senfft (Anm. 3), S. 178.

17 Afif Safieh, On Palestinian Diplomacy, WashingtonD.C. 2006, S. 24 f.

6 APuZ 9/2010

mehr zu erfahren. Nablus und Ramallah sindungefähr 40 Minuten Fahrzeit von Tel Aviventfernt, doch für die Tel Aviver sind dasOrte auf einem anderen Planeten. New York,London und Thailand sind viel näher“, soAluf Benn. 18 Er erinnert daran, dass IsraelsWirtschaft früher auf palästinensische Tage-löhner angewiesen war, was heute nicht mehrder Fall ist – „nur noch die älteren Israeliskönnen sich an sie in den Restaurants, aufden Baustellen und an den Tankstellen erin-nern“. 19 Diese „Politik der Isolation“ sei daswahre Erbe von Ariel Scharon, der denTrennzaun in der Westbank gebaut, den Ga-zastreifen verlassen und die Palästinenservom israelischen Arbeitsmarkt vertriebenhabe.

Tatsächlich geht diese Politik jedoch bis zuden Oslo-Verhandlungen 1993/94 auf Minis-terpräsident Yitzhak Rabin zurück. Mit derVision von der Zwei-Staaten-Lösung undwegen der palästinensischen Selbstmordat-tentate war der Politiker der Arbeitspartei zudem Schluss gekommen, dass die Region nurbefriedet werden könne, wenn man die ver-feindeten Bevölkerungsgruppen physischtrenne. Unter seiner Regierung wurden dieZugänge zu den palästinensischen Gebietenimmer häufiger geschlossen und die Mehrzahlder palästinensischen Arbeiter in Israel all-mählich durch Gastarbeiter aus Osteuropaund Asien ersetzt, was zu weiterer Armut inden palästinensischen Gebieten führte.

Der Bau des „Sicherheitszauns“, wie er imisraelischen Jargon heißt, in den Augen derPalästinenser aber als „Apartheidmauer“ gilt– auch dies eine Frage des Standorts – trenntedie Konfliktparteien ab dem Jahr 2002. Bis zuacht Meter hohe Betonmauern, Stacheldrahtund breite Militärstraßen sollen langfristigauf 700 Kilometern „Grenze“ für Ruhe sor-gen (rund 60 Prozent der Sperranlage sind be-reits fertig gestellt).

„Hohe Mauern schaffen gute Nachbarn“,sagte der ehemalige Anchorman des israeli-schen Staatsfernsehens, Haim Yavin, ausge-rechnet auf einer Tagung der deutschenFreunde von Neve Shalom-Wahat al-Salam,der Friedensoase von Palästinensern undJuden, einer im Jahr 1972 gegründeten Dorf-

kooperative. 20 Yavin, der seit seinem kriti-schen Dokumentarfilm The Land of the Sett-lers über die jüdische Siedlerbewegung in Is-rael als Linker gilt, sprach sich im selbenAtemzug gegen Koedukation und das Wohn-projekt Neve Shalom aus und konnte sich le-diglich für die Friedenserziehung von palästi-nensischen und israelischen Kindern erwär-men. Er vertrat damit eine in Israel weitverbreitete Einstellung.

Die Folge der Mauer ist jedoch, dass dieAblehnung der Palästinenser gegen Israeliszugenommen hat, da der bedrückende, graueKoloss sie ihrer Bewegungsfreiheit beraubtund ihre Gebiete zergliedert. Neve Gordon,Dozent an der Ben Gurion Universität undAktivist von Ta’ayush (Arab-Jewish Partner-ship), fragte deshalb: „Können schlechteZäune gute Nachbarn schaffen? IsraelsTrennmauer wird dazu genutzt, Gebiete zuannektieren.“ 21 Hüben wie drüben wächsteine Generation heran, die vom Nachbarnimmer weniger weiß.

Neue Zerrbilder und Stereotypen

Bekanntlich steigern sich Ängste und Rassis-men umso mehr, je weniger man den Anderenkennt und propagandistische Zerrbilder dahernicht als solche entlarven kann. Die Phantasiehat mitunter mächtigere und destruktivereFolgen als menschlicher Kontakt, der das eineoder andere Vorurteil wieder ausräumen kann.Gab es früher noch zufällige und „ganz nor-male“ Begegnungen zwischen Palästinensernund Israelis in Zivil, z. B. auf Märkten oder beider Arbeit, so gibt es heute das alltägliche Auf-einandertreffen fast nur noch zwischen Besat-zern und Besetzten. Doch selbst dies nimmtab, weil die Aufgaben der israelischen Solda-ten zunehmend von militärischem Sicher-heitsgerät erledigt werden. 22

„Die israelischen Verteidigungskräfte, dieGenerationen von Israelis in die Gebieteentsandten, haben dafür gesorgt, dass ihre

18 Aluf Benn in: Haaretz vom 13. 1. 2010.19 Ebd.

20 Tagung des deutschen Vereins Freunde von NeveShalom-Wahat al-Salam, Königswinter vom 30. 10. bis1. 11. 2009.21 The Guardian vom 29. 5. 2003 sowie online:www.taayush.org/new/mazmuriah-neve-article.html(28. 1. 2010).22 Vgl. Who profits? Exposing the Israeli OccupationIndustry, unter: www.whoprofits.org/Involvements.php?id=grp_inv_population (28. 1. 2010).

7APuZ 9/2010

Soldaten immer weniger Kontakt mit Paläs-tinensern haben“, so Aluf Benn. „Immerweniger leisten ihren Reservedienst undnoch weniger davon in der Westbank. Diereguläre Armee hat die Aktivitäten ihrerEinheiten in den (palästinensischen) Gebie-ten reduziert und viele der Polizeiaufgabenin der Westbank an ihre Kfir Brigade 23 ab-gegeben. Die Luftwaffenmannschaften, dieim Gazastreifen kämpfen müssen, sehen Pa-lästinenser nur noch als stille Punkte aufihren Bildschirmen“, so der Journalist nie-dergeschlagen. 24 Die Israelis hätten diepalästinensischen Gebiete schon lange abge-schrieben.

Doch all dies hat das Leben der Israelishöchstens an der Oberfläche einfacher ge-macht: „Hier gibt es nur noch wenig Sauer-stoff“, so Larry Derfner. „Jeder atmet dieLuft ein, die alle anderen ausgeatmet haben.Dieses Land stagniert seit einem Jahrzehnt.Und wir waren uns nie so einig.“ 25 DerHaaretz Reporter Gideon Levy stellte vor ei-nigen Jahren fest, dass es eine Zeit gegebenhabe, in der man, wenn man einen Israelinach seiner Meinung fragte, drei Antwortenbekam. Heute hingegen bekomme man nurnoch eine. 26

Auch die Mehrzahl der Palästinenserglaubt nicht mehr an Friedensverhandlungenund viele boykottieren die Zusammenarbeitmit Israelis: Jeglicher Kontakt käme einerNormalisierung der Beziehungen gleich,womit die Besatzung indirekt gefördertwerde – so eine häufig vertretene Meinung.Dass man auch hier nicht mehr ans Mitein-andersprechen glaubt, zeigten unter anderemdie Raketen, die Hamas-Aktivisten aus demGaza auf israelische Städte abfeuern. Im pa-lästinensischen und israelischen Friedensla-ger haben sich Resignation, Depression undmitunter auch Verbitterung breit gemacht.

Resigniert das Friedenslager?

Doch freilich gibt es hier ebenfalls nocheine weitere Sichtweise. Zahlreiche Perso-nen, Organisationen und Initiativen mühen

sich auf beiden Seiten weiter für ein friedli-ches Zusammenleben. Sie glauben an den di-rekten Kontakt miteinander und sind täglichdafür aktiv; ja, sie sind sogar, wie die jungenisraelischen Wehrdienstverweigerer, bereit,für ihre Haltung ins Gefängnis zu gehen.Sie engagieren sich gegen die Mauer ausBeton und vor allem gegen die Mauern inden Köpfen. Es gibt so viele Aktivitätenund diese sind so vielseitig und kreativ, dasssie eines weiteren Aufsatzes bedürften, umsie auch nur annähernd vorzustellen. 27

Diese Menschen, die sich weiter für Frie-den einsetzen, vertreten zwar nur eine Min-derheit, und leider konnten sie die öffentlicheMeinung bislang nur minimal beeinflussenoder gar die Politiker von ihrem Ansatz über-zeugen – zu stark ist die „Kultur des Kon-flikts“. Doch sie sind ein leuchtendes Vorbildin einer Zeit physischer und verbaler Gewalt.

„Wenn wir die Hoffnung verlieren, verlie-ren wir alles“, 28 sagt der Palästinenser KhaledAbu Awwad, der durch israelische Soldatenseinen Bruder und fast sogar seinen Sohn ver-lor und dennoch die palästinensische Gruppedes „Elternzirkel – Familienforum“ 29 im is-raelisch-palästinensischen Forum für trauern-de Eltern gründete. Sein Freund, der IsraeliRami Elhanan, dessen junge Tochter durchein palästinensiches Bombenattentat starb,und der ebenfalls zum Elternzirkel gehört, istder Meinung: „Wenn wir, die wir den höchs-ten Preis gezahlt haben, einen Dialog führenkönnen, dann kann das auch jeder andere.“ 30

Für Außenstehende, gerade in Deutsch-land, könnte die Botschaft lauten, selbst nichtzu stigmatisieren oder zu polarisieren, umnicht unwillentlich zum Konflikt beizutra-gen. Vielmehr kommt es darauf an, die Wahr-nehmung für alle Seiten zu schärfen – auchfür die eigene.

23 Ein Infanterie-Korps der israelischen Verteidi-gungskräfte.24 A. Benn (Anm. 18).25 L. Derfner (Anm. 13).26 Haaretz vom 10. 6. 2001.

27 Viele dieser Initiativen werden vorgestellt bei A.Senfft (Anm. 3).28 Zit. in: ebd., S. 71.29 Vgl. www.theparentscircle.org (1. 2. 2010).30 Zit. in: A. Senfft (Anm. 3), S. 81.

8 APuZ 9/2010

9APuZ 9/2010

Efraim Inbar

Herausforde-rungen für die

RegierungBenjamin

NetanjahusAm 10. Februar 2009 wurde in Israel ein

neues Parlament gewählt. Das bemer-kenswerteste Ergebnis ist die Entstehung

einer neuen politi-schen Landschaft: Diedrei größten Parteienin der Knesset sindder Likud mit 27 Sit-zen und zwei seinerAbleger, die Zen-trumspartei Kadimamit 28 und Israel Bei-tenu („Unser Haus Is-

rael“) mit 15 Sitzen. Somit wurde eine klareMehrheit von 70 Sitzen (von insgesamt 120)mit Konservativen besetzt. Dies machte Be-njamin Netanjahu (Likud) zum Wahlsiegerund neuen Ministerpräsidenten. Die Arbeits-partei wurde mit 13 Sitzen nur viertgrößtePartei. Die links von der Arbeitspartei ste-hende Meretz dagegen erhielt nur drei Sitze.Diese Wahlen verdeutlichen, wie sehr das so-genannte „Friedenslager“ in der israelischenGesellschaft marginalisiert und wie eindeutigkonservativ der Zeitgeist in Israel gegenwär-tig ist.

Netanjahu gelang eine Koalition ausLikud, Israel Beitenu, Schas (11 Sitze) undArbeitspartei. Obwohl letztere unter demVorsitz Ehud Baraks, dem derzeitigen Vertei-digungsminister, relativ schwach und gespal-ten ist, ist sie ein wichtiger Partner in der Re-gierungskoalition. Denn ihre Beteiligungträgt dazu bei, das Bild einer Regierung dernationalen Einheit zu vermitteln. Netanjahubemüht sich daher, die Koalition mit der Ar-beitspartei aufrechtzuerhalten.

Nach der Kairoer Rede des US-PräsidentenBarack Obama am 4. Juni 2009 sah sichMinisterpräsident Netanjahu in der Pflicht,sowohl auf die Rede des US-Präsidenten zureagieren als auch zur israelischen Gesell-schaft zu sprechen. In seiner darauf folgendenRede im Begin-Sadat (BESA) Zentrum fürstrategische Studien am 14. Juni 2009 konnteer erfolgreich einen neuen israelischen Kon-sens definieren und sich als Politiker derMitte präsentieren. 71 Prozent der Israelisstimmten Netanjahus Ausführungen zu – einregelrechtes Kunststück für einen israelischenMinisterpräsidenten. 1 Netanjahu unterstrichin seiner Rede das historische Recht des jüdi-schen Volkes auf das Land Israel (Palästina)und lehnte Obamas Interpretation, wonachder Holocaust die Legitimation des jüdischenStaates sei, ab. Er betonte, dass die Existenzeines jüdischen Staates als Zufluchtsstätte fürdie von den Nazis verfolgten Juden den Ho-locaust verhindert hätte.

Trotz des historischen Anspruchs auf dasLand ist Netanjahu, wie auch die Mehrheit derIsraelis, zu einem territorialen Kompromissmit den Palästinensern (Zwei-Staaten-Lösung)bereit. Doch ist Netanjahus Bereitschaft zurAnerkennung eines palästinensischen Staatesan Bedingungen geknüpft. Seine Forderungnach einem entmilitarisierten Staat spiegelt dietiefsitzenden Ängste der Israelis vor ihrenNachbarn wider. Er fordert die längst überfäl-lige Anerkennung Israels als jüdischen Natio-nalstaat, beharrt im Einklang mit der in Israelherrschenden Meinung auf Jerusalem als unge-teilte Hauptstadt und lehnt einen komplettenBaustopp der Siedlungen ab.

Mit dieser Rede traf Netanjahu den Nervder politischen Mitte Israels: Die im Landherrschende Meinung – so auch unter denFalken in Netanjahus Partei – schwankt zwi-schen der Bereitschaft, territoriale Zugeständ-nisse zu machen, und enormer Skepsis gegen-über der palästinensischen Fähigkeit, einenKompromiss mit der zionistischen Bewegungschließen und umsetzen zu können. Die

Efraim InbarProf., Ph.D.; geb. 1947; Direktor

des Begin-Sadat (BESA) Zen-trums für strategische Studien

an der Bar-Ilan Universität,Ramat-Gan/Israel 52900.

[email protected]

Übersetzung aus dem Englischen von Bar�s, Ceyhan,Bonn.Ich danke Diana Grosz, Praktikantin des LegacyHeritage Funds am Begin-Sadat (BESA) Zentrum fürstrategische Studien, für ihre Unterstützung bei derRecherche für diesen Beitrag.1 Vgl. Haaretz vom 16. 6. 2009.

10 APuZ 9/2010

größte Sorge der Israelis ist, inwiefern die Pa-lästinenser israelischen Sicherheitsbedürfnis-sen Rechnung tragen. Selbst die Falken inner-halb des konservativen Likuds unterstützenden zehnmonatigen Baustopp in den Siedlun-gen in Judäa und Samaria, der am 25. Novem-ber 2009 verkündet wurde – vermutlich inder Annahme, durch den Baustopp ein Zer-würfnis mit dem Schlüsselverbündeten USAzu vermeiden.

Durch seine Positionierung innerhalb derpolitischen Mitte stabilisierte Netanjahu dieamtierende Koalition und bewahrte sichgleichzeitig sowohl die politische Flexibilität,Chancen im Friedensprozess aufzugreifen, alsauch die nötige Größe, um Israel durch die-sen langwierigen Konflikt zu führen.

Netanjahus Kurs der Mitte erhöht auch dieWahrscheinlichkeit, mögliche Spannungenmit Washington zu überstehen. Denn aus derWarte Jerusalems wirkt US-Präsident Obamawie ein politischer Neuling mit wenig Ver-ständnis für weltpolitische Zusammenhänge,während Netanjahu in Israel mehr und mehrals verantwortungsvoller Ministerpräsidentwahrgenommen wird. Im Falle einer Ausein-andersetzung würde sich die Mehrheit der Is-raelis wohl eher für den populären Netanjahuaussprechen als für Obama. Im Vergleich zuseiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident(1996–99) zeigt Netanjahu heute mehr politi-schen Scharfsinn. Er ist allgemein umsichti-ger, weniger ruppig gegenüber politischenGegnern und flexibler gegenüber Partnern.Auch im Umgang mit den Medien zeigt ersich geduldiger und weniger impulsiv. Diesesreifere Verhalten hilft ihm, seine Koalitionzusammenzuhalten.

Beziehungen zu den USA

Gute Beziehungen zu den USA, dem Schlüs-selverbündeten Israels, sind seit den späten1960er Jahren ein Gebot für alle israelischenRegierungen – so auch für Netanjahu. 2 Er istwie kaum ein anderer innerhalb der politi-schen Elite Israels mit den Besonderheitendes politischen Systems der USA vertraut.Sein bisheriges Verhalten gegenüber Washing-

ton zeugt vom Wunsch nach politischer Ab-sprache und Koordinierung, um Spannungenmit dem großen Freund des jüdischen Staateszu vermeiden.

Doch die enge Aufeinanderfolge der ameri-kanischen und israelischen Wahlen erschwertedie Koordinierung der politischen Strategienzunächst. US-Präsident Obama wurde imNovember 2008 gewählt und übernahm diePräsidentschaft im Januar 2009, während Ne-tanjahu die Wahlen im Februar 2009 gewann,sein Kabinett aber erst im April vorstellte. Bisdahin waren die Eckpunkte der amerikani-schen Nahost-Politik festgelegt: Ein optimis-tisches Washington wollte einen Neuanfangmit der muslimischen Welt, befürwortete denDialog mit Gegnern wie dem Iran und Syrienund glaubte, es könne den israelisch-palästi-nensischen Konflikt in kurzer Zeit durch grö-ßeres diplomatisches Engagement und mehrDruck auf die Konfliktparteien lösen.

Die nahöstlichen Prioritäten der USAwarenunvereinbar mit denen Israels: Jerusalem standder Annäherung an die muslimische Welt undinsbesondere dem Engagement gegenüberdem Iran kritisch gegenüber. Es bevorzugteeine härtere Gangart gegenüber Teheran. Dar-über hinaus wiederholte die Obama-Regie-rung Forderungen nach einem sofortigen Sied-lungsstopp in den Gebieten in der Westbankund in Jerusalem, was von Israel als kurzsichti-ge Fokussierung auf ein einzelnes Problemwahrgenommen wurde, die nur die unnachgie-bige palästinensische Position stärke.

Netanjahu versuchte, eine Krise in denamerikanisch-israelischen Beziehungen zuverhindern. Erstens sah er mehrfach davonab, die bilateralen Beziehungen als ange-spannt zu bezeichnen oder Präsident Obamapersönlich zu kritisieren; stattdessen betonteer stets die große Freundschaft zwischen bei-den Ländern. Zudem stimmte er in seinerRede im Juni 2009 der Zwei-Staaten-Lösungzu. Dabei handelte Netanjahu nach seinerÜberzeugung eines „wirtschaftlichen Frie-dens“ und ließ zahlreiche Checkpoints in denGebieten in der Westbank entfernen, umwirtschaftlichen Austausch und Wachstum zuermöglichen. Diese Schritte sollten auch wei-tere amerikanische Bedenken ausräumen.

Im Gegenzug forderte Israel von den USA,Gesten des guten Willens von den arabischen

2 Vgl. Efraim Inbar, US-Israel Relations in the PostCold War Era: The View From Jerusalem, in: EytanGilboa/Efraim Inbar (eds.), US-Israeli Relations in aNew Era, London 2009, S. 35 ff.

11APuZ 9/2010

Staaten, wie Überflugrechte für die nationaleFluggesellschaft El-Al, zu erwirken. Obamascheiterte daran und gab sich daraufhin miteiner „Einschränkung“ des Siedlungsbaus derIsraelis zufrieden, woraufhin die israelischeRegierung eine zehnmonatige Baupause inder Westbank beschloss, die von Washingtonals positiver Schritt begrüßt wurde. 3 Fürviele Mitglieder des israelischen Kabinettswar diese Entscheidung ein notwendigerSchritt, um weitere Spannungen in den bilate-ralen Beziehungen zu vermeiden.

Zwar lehnt die israelische Regierung diePosition der USA, wonach es einen Zusam-menhang zwischen dem iranischen Atompro-gramm und der Palästina-Frage gibt, ab. Den-noch ging sie auf die diplomatisch-politischenInitiativen Washingtons mit Blick auf den is-raelisch-arabischen Konflikt ein, damit sichdie US-Diplomatie auf den Iran – einer dergrößten Sicherheitsbedrohungen für Israel –konzentrieren konnte. Netanjahu scheint aufseinem ersten Treffen mit Obama im Mai2009 sogar eine vage Zusage zur Neugestal-tung der amerikanischen Iran-Politik bisEnde des Jahres 2009 erhalten zu haben. 4

Obwohl die israelische Regierung das Ange-bot der USA an Teheran, im Ausland Urananreichern zu dürfen, ablehnte, verhielt siesich zurückhaltend, um die Bemühungen umeinen Ausweg aus der diplomatischen Sack-gasse nicht zu gefährden. Sie war schließlicherleichtert, als der Iran auch den darauf fol-genden Kompromissvorschlag – er hätte Te-heran erlaubt, einen Teil seines Urans im eige-nen Land anzureichern – ablehnte. Israelhofft, dass Präsident Obama aus seinen Feh-lern lernt und eine realistischere Außenpoli-tik verfolgt.

Nukleare Herausforderungdurch den Iran

Wie die Vorgängerregierung auch, sieht Ne-tanjahu den Iran als Sicherheitsbedrohung.Dazu trug vor allem der seit dem Jahr 2005amtierende Präsident Mahmud Ahmadined-schad bei, indem er das Existenzrecht Israelsoffen in Frage stellte und den Holocaust leug-nete. Verlautbarungen dieser Art von hoch-

rangigen iranischen Regierungsvertreterndürfen nicht als Rhetorik abgetan werden; siespiegeln ihre politischen Präferenzen wider.Zudem kommen strategische Überlegungenin Jerusalem zum Ergebnis, dass von den nu-klearen Ambitionen des Iran auch eine Ge-fahr für die internationale Gemeinschaft aus-geht.

Der Iran hat sich jeglichen diplomatischenDrucks zur Einstellung seines Atompro-gramms widersetzt und scheint die Absichtzu haben, hoch angereichertes Uran zum Bauder Atombombe herzustellen. Atomwaffengelten als Sicherheitsgarantie für das iranischeRegime, was die Entschlossenheit der Islami-schen Republik erklärt, atomare Kapazitätenzu erlangen. Durch den Bau der Atombombemöchte sich der Iran eine regionale Vor-machtstellung sichern. Darauf deutet auchdas große Arsenal an Langstreckenraketen(mit über 1500 Kilometer Reichweite), diebereits heute den Nahen Osten, Zentralasien,den indischen Subkontinent und Osteuropaerreichen könnten. Ein atomar bewaffneterIran würde auch zu einer Kettenreaktion inder Region führen: Staaten wie die Türkei,Ägypten, Saudi-Arabien und Irak würdenversuchen, dem iranischen Einfluss durchähnliche Atomprogramme zu begegnen. DieFolge wäre ein multipolarer atomar gerüste-ter Naher Osten, was ein strategischer Alp-traum wäre.

Ein atomar bestückter Iran könnte auchseine Rolle am Persischen Golf und in derKaspischen Region – den beiden Subregionender „Energieellipse“, die einen Großteil derweltweit bekannten Energiereserven beher-bergen – stärken und die ölproduzierendenLänder am Persischen Golf „finnlandisieren“mit der Folge, dass die Politiken dieser Län-der unter dem starken Einfluss Teherans stün-den. Solch ein Iran könnte auch versuchen,Einfluss auf Aserbaidschan und Turkme-nistan auszuüben – beides sind muslimischeLänder mit großen Energieressourcen. Mitder wachsenden politischen Macht könnteder Iran eine dominierende Stellung auf demEnergiemarkt erringen. Dies würde die Ein-dämmung des Landes erschweren und welt-weit radikale Islamisten ermutigen, da Tehe-ran terroristische Organisationen, wie dieHisbollah, die palästinensische Hamas undden Islamischen Jihad, unterstützt. Hinzukommt Teherans Unterstützung für radikal-

3 Vgl. Erklärung der US-Außenministerin HillaryClinton vom 25. 11. 2009, online: www.state.gov/se-cretary/rm/2009a/11/132434.htm (18. 1. 2010).4 Vgl. Haaretz vom 18. 5. 2009.

12 APuZ 9/2010

schiitische Elemente im Irak, eine islamischeRepublik zu errichten und der Versuch,durch seine Partnerschaft mit Syrien, einenregionalen Korridor bis an das Mittelmeer zuschaffen, der es dem Iran erleichtern würde,seine Macht bis zum Balkan und nach Südeu-ropa auszudehnen.

Israel ist von der schwachen Reaktion derinternationalen Gemeinschaft auf das irani-sche Atomprogramm irritiert. Unglückli-cherweise hat der Westen keine starken An-reize, um die Ayatollahs von der atomarenAufrüstung abzuhalten – er verhängte bereitswirtschaftliche Sanktionen. Aber auch wennvon allen Mitgliedern der internationalenStaatengemeinschaft härtere Sanktionen aus-geübt würden, ist die Wirksamkeit solcherMaßnahmen fraglich, wenn ein Regime be-reit ist, für seine Politik einen hohen Preiszu zahlen. Zurzeit hofft Washington auf denErfolg seines Dialogansatzes und droht miteiner Verschärfung der wirtschaftlichenSanktionen. Dieses Vorgehen kommt demiranischen Interesse entgegen, da es eineStrategie des „talk and build“ verfolgt. Esscheint als könne nur die Anwendung vonGewalt, wie eine Seeblockade oder ein Mili-tärschlag gegen die Atomanlagen, die Aya-tollahs von der Durchführung des nuklearenProjekts abhalten. Daher wird ObamasPolitik der „ausgestreckten Hand“ in Jeru-salem als großer Fehler betrachtet.

Es gibt Stimmen, die in Anlehnung an dieBeziehungen zwischen den beiden Super-mächten während des Kalten Krieges, Visio-nen eines stabilen „Gleichgewichts desSchreckens“ zwischen Israel und dem Iranäußern. Doch Abschreckung funktioniertnicht automatisch und konnte auch bei denUSA und der Sowjetunion nicht vorausge-setzt werden. Leider ist die Situation imNahen Osten wesentlich instabiler. Zwarkann argumentiert werden, dass auch die po-litischen Führer im Nahen Osten rationalhandelnde Akteure sind. Jedoch ist dies alleinkein Garant für den Schutz der Menschen-würde und Respekt vor dem Menschen. Dasprovokante Handeln und Äußerungen einerReihe wichtiger Entscheidungsträger in Tehe-ran nähren Befürchtungen von einer irani-schen Strategie zur Vernichtung Israels. Dieswirft auch die Frage auf, wie wirksam Israelsmilitärische Kapazitäten Gegner abschreckenoder einen atomaren Angriff abwehren könn-

ten. Obschon Israel sein eigenes Raketenab-wehrsystem entwickelte, ist kein Abwehrsys-tem vollkommen sicher oder hat eine hun-dertprozentige Abfangrate.

Aus diesem Grund zieht Israel ernsthaftmilitärische Maßnahmen in Betracht, um Te-herans Atomprogramm zu stoppen. Falls sichdie Obama-Regierung entscheiden sollte,nichts gegen das iranische Atomprogramm zuunternehmen, wird sich die Netanjahu-Re-gierung gezwungen sehen, unilateral zu han-deln. Zwar ist die israelische Armee schlech-ter ausgerüstet als die amerikanische. Den-noch wäre sie in der Lage, die iranischenAtomanlagen zu zerstören. Klar ist, dass re-solutes Handeln Risiken birgt, Untätigkeitaber schwerwiegendere Folgen hätte.

Israelisch-palästinensischeVerhandlungen

Ein breites gesellschaftliches und politischesBündnis unterstützt eine Zwei-Staaten-Lö-sung. Das Problem ist allerdings, dass Israelmit zwei palästinensischen Akteuren kon-frontiert ist: zum einen mit der Hamas imGazastreifen, die eine totale Zerstörung desjüdischen Staats fordert und ein Verbündeterdes Iran ist; zum anderen mit der von Mah-mud Abbas geführten, aber schwachen Paläs-tinensischen Autonomiebehörde (PA) in derWestbank. Auch die von der PA kontrollier-ten Medien, das Bildungssystem und die Mo-scheen fördern Antisemitismus.

In Kairo ermahnte US-Präsident Obamadie muslimische Welt zwar zu mehr Pragma-tismus, da die Existenz Israels ein fait accom-pli ist. In der Vergangenheit zeigte sich abermehrmals, dass die führenden Akteure aufSeiten der Palästinenser nicht immer pragma-tisch handelten: So boten bereits zwei israeli-sche Ministerpräsidenten die Aufgabe nahezualler Gebiete an, die in Kriegen besetzt wur-den. Die Angebote von Ehud Barak 5 undEhud Olmert 6 wurden von Jassir Arafat aus-geschlagen und von seinem Nachfolger imAmt des Präsidenten der palästinensischenAutonomiebehörde Abbas ignoriert. DieScharon-Regierung zog sich aus dem Gaza

5 Vgl. Dennis Ross, The Missing Peace, New York2004.6 Vgl. Greg Sheridan, Ehud Olmert still dreams ofpeace, in: The Australian vom 28. 11. 2009.

13APuZ 9/2010

zurück mit der Folge, dass der Gazastreifenzur „Abschussrampe“ für verstärkte Rake-tenangriffe der Hamas wurde.

Trotz der schwierigen Lage ist Netanjahuder Überzeugung, dass Fortschritte im Frie-densprozess durch den Aufbau von Institutio-nen und wirtschaftliches Wachstum erreichtwerden können. Deshalb beseitigte die Regie-rung Straßensperren und förderte wirtschaftli-chen Austausch. Doch bislang lehnten die Pa-lästinenser Verhandlungen mit der Netanjahu-Regierung ab, weil sie hofften, die USA wür-den Israel zur Annahme palästinensischer Be-dingungen zwingen. Sogar der zehnmonatigeBaustopp (ein beispielloses Zugeständnis Is-raels) wurde von der PA abgelehnt.

Amerikanischer Druck könnte zwar beideKonfliktparteien an den Verhandlungstischzurück bringen. Aber Obamas Vision voneinem Friedensabkommen binnen zweierJahre ist nicht realistisch. Denn externeMächte, wie die USA, haben nur begrenztenEinfluss auf das Verhalten der nahöstlichenAkteure: So wies Arafat im Jahr 2000 die Vor-schläge des US-Präsidenten Clinton zur Re-gelung des Konflikts zurück; auch die Mul-lahs in Teheran lehnen seit Jahren jeglichewestlichen Vorschläge und Kompromissver-suche zum iranischen Atomprogramm ab.

Klar muss sein, dass ein Friedensabkommennur dann erreicht werden kann, wenn die re-gionalen Akteure reif für ein solches Ergebnissind. Dies war der Fall im Jahr 1977, als sichder ägyptische Präsident Anwar Sadat – entge-gen des Rates von US-Präsident Jimmy Carter,auf eine internationale Konferenz in Genf zureisen – dazu entschied, den damaligen israeli-schen Ministerpräsidenten Menachem Beginin Jerusalem zu treffen und vor der Knesset zusprechen. Damit ebnete er den Weg zu einemisraelisch-ägyptischen Friedensabkommen.Dieses Beispiel macht deutlich, dass eine dau-erhafte Einigung zwischen Israelis und Palästi-nensern nicht auf bloßen Druck der USA oderEU hin erzielt werden kann.

Aufgrund der zunehmenden Radikalisierungder palästinensischen Gesellschaft und denSchwierigkeiten bei der Gründung eines paläs-tinensischen Staates unter Beachtung der Prä-misse Max Webers (wonach ausschließlich demStaat das „Monopol physischer Gewaltsam-keit“ (Gewaltmonopol) zukommt) wird das Pa-

radigma des Zwei-Staaten-Modells immer un-wahrscheinlicher. 7 Allein in Gaza operierenmehrere unterschiedliche bewaffnete Milizen,wie die Hamas, Islamischer Jihad, Al-Qaidaund bewaffnete Clans. Es werden daher neueIdeen gebraucht, die den Kurs ablösen, derzwar zu einer Teilung des Landes Israel führte(wie Israels Rückzug aus Teilen der Westbankund des Gazastreifens, die anschließend derAutorität der PA unterstellt wurden), nichtaber zu einer friedlichen Koexistenz.

Es sollte ein regionaler Ansatz verfolgtwerden, der arabische Akteure in die Lösungdes Konfliktes miteinbezieht, da sie ebenfallsbetroffen sind. 8 So könnte eine RückkehrJordaniens in die Westbank und Ägyptensnach Gaza diskutiert werden. Beide habenein Friedensabkommen mit Israel und die Pa-lästinenser in der Vergangenheit bereits er-folgreich regiert. Eine andere Option wäreeine jordanisch-palästinensische Föderation:Nach dem Vorbild der USA wären Jordanien,die Westbank und Gaza drei „Bundesstaa-ten“, die außen- und verteidigungspolitischeAngelegenheiten in Amman bündeln.

Während solch ein Ansatz bei der Netanja-hu-Regierung Anklang fände, kann sie aberderlei internationale diplomatische Vorstößenicht proaktiv betreiben. Denn ein neues Pa-radigma werden die Araber nur akzeptieren,wenn es von der EU oder USA lanciert wird.Damit wird die Suche nach einem neuen Pa-radigma für die Lösung des Konflikts auch zueiner Herausforderung für den Westen.

Internationales Ansehen Israels

Vize-Außenminister Danny Ayalon sagte imNovember 2009, dass „wenn heute für odergegen den Beitritt Israels zu den VereintenNationen gestimmt würde“, kein Zweifel be-stünde, „dass wir nicht aufgenommen wür-den“ 9. Ayalon merkte an, dass im Jahr 1949,dem Jahr des Beitritts Israels zur UN, zweiDrittel der UN-Mitglieder demokratisch re-giert wurden, wohingegen heute ein GroßteilDiktaturen seien, die Menschenrechte miss-achteten. Die UN, ein Hauptforum für An-

7 Vgl. Efraim Inbar, The Rise and Demise of the Two-State Paradigm, in: Orbis, 3 (2009), S. 265–283.8 Vgl. Giora Eiland, Regional Alternatives to the Two-State Solution, BESA Memorandum, 4 (2009) 12.9 The Jerusalem Post vom 27. 11. 2009.

14 APuZ 9/2010

griffe auf das internationale Ansehen und dieLegitimität des jüdischen Staats, steht derzeitunter dem Einfluss von islamischen undblockfreien Staaten, die konsequent jede anti-israelische Resolution unterstützen, entbeh-ren sie auch jeglicher Grundlage.

Zwar ist Israel-Bashing nicht neu, aber dieTatsache, dass die Existenz des Staates nochimmer hinterfragt wird, ist Besorgnis erregend.So sind die Äußerungen des iranischen Präsi-denten keine Seltenheit. Das Existenzrecht Is-raels wird auch unter den Palästinensern inFrage gestellt. Auch in Nichtregierungsorgani-sationen und internationalen Foren, wie derUN, wo arabische Staaten Mehrheiten generie-ren können, werden regelmäßig die LegitimitätIsraels hinterfragt und das internationale An-sehen des Landes beschädigt. 10 Vergleiche mitNazi-Deutschland oder dem Apartheid-Re-gime in Südafrika sind übliche Motive der anti-israelischen Propaganda.

Die palästinensische Perspektive auf denKonflikt wird immer häufiger in den Mediensowie den politischen und intellektuellen Zir-keln des Westens eingenommen. Für viele istIsrael zum „Täter“ geworden, wodurch auchdie Ratio der Gründung eines jüdischen Staa-tes in Frage gestellt wird. In den meistenwestlichen Ländern hat sich die öffentlicheMeinung in den vergangenen Jahrzehnten zueiner eher Israel-kritischen und Palästinenser-freundlichen Haltung entwickelt (die USAsind eine klare Ausnahme). Hier besteht lang-fristig die Gefahr, dass sich ein internationalerKonsens entwickeln könnte, der an der Legi-timität Israels zweifelt. Doch für einen klei-nen Staat wie Israel, der für sein Wohlergehenauf die Launen der internationalen Gemein-schaft angewiesen ist, ist es besonders proble-matisch, wenn er zum Pariastaat wird.

Ein Bereich, in dem Israel regelmäßig mitUnverständnis konfrontiert wird, ist die An-wendung von Gewalt. So haben Europäer, dieseit dem Ende des Kalten Krieges in einemfriedlichen Umfeld leben, eine andere strate-gische Kultur und betrachten die Anwendungvon Gewalt als anachronistisch und unzivili-siert. So schwierig es zu begreifen sein mag,der Nahe Osten und andere Teile der Welt

leben in einer anderen „Zeitzone“, in der dieAnwendung von Gewalt zu den regionalenSpielregeln gehört. Des Weiteren missachtenTerroristen im Nahen Osten das Völkerrecht:Immer wieder nutzen sie zivile Orte, wieKrankenhäuser, Schulen und Moscheen, dieeigentlich militärische Tabuzonen sind, alsAufenthaltsorte. Ihre Strategie ist es, sich hin-ter zivilen Schutzschildern zu verstecken, ummit Bildern, auf denen bombardierte Kran-kenhäuser, heilige Orte und Schulen oderauch Angriffe auf Zivilisten zu sehen sind,weltweite Verurteilung und Mitgefühl fürihre Sache hervorzurufen.

Der „Goldstone-Bericht“, der IsraelKriegsverbrechen vorwirft, ist ein Beispiel fürdiese Art der zynischen Betrachtungsweise.Der Bericht wurde vom UN-Menschen-rechtsrat trotz des Widerstands westlicherStaaten, dafür mit Unterstützung von Russ-land, China, der arabisch-islamischen Weltund Entwicklungsländern in Auftrag gege-ben, um den israelischen Kampfeinsatz inGaza im Jahr 2009 zu untersuchen. Der„Goldstone-Bericht“ erklärt Israel zum Ag-gressor, obwohl der Angriff auf die Hamasals Reaktion auf den jahrelangen Beschuss is-raelischer Zivilisten mit Raketen aus dem Ga-zastreifen zu sehen war. 11

Goldstones ärgerlichste Schlussfolgerungist, dass das Hauptmotiv des israelischen Mi-litärschlags nicht die Verteidigung der eigenenBürger, sondern die kollektive Bestrafung derpalästinensischen Zivilisten gewesen sei. DieGoldstone-Kommission ließ Beweise außerAcht, die dokumentierten, dass die israeli-schen Streitkräfte alles ihnen Mögliche unter-nommen hatten, um zivile Opfer zu vermei-den. Israels präzise ausgeführten Operationenzielten auf Terroristen, die sich zwar in zivi-len Räumen aufhielten. Aber es wurden allemöglichen Sicherheitsvorkehrungen getrof-fen, um Zivilisten zu schützen, wie Warnan-rufe über Mobiltelefone oder Handzettel zurWarnung und Evakuierung der Bewohner.Mit der Annahme des Berichts ignorierte derRat die Aussage des ehemaligen Komman-deurs der britischen Streitkräfte in Afghanis-tan, Oberst Richard Kemp, der sagte, dass die

10 Vgl. Gerald Steinberg, Soft Powers Play Hardball:NGOs Wage War against Israel, in: Efraim Inbar (ed.),Israel’s Strategic Agenda, London 2007, S. 135–155.

11 Vgl. Bericht des Jerusalem Center for Public Af-fairs, The UN Gaza Report: A Substantive Critique,November 2009, online: www.jcpa.org/text/Gold-Goldstone-5nov09.pdf (18. 1. 2010).

15APuZ 9/2010

israelischen Streitkräfte mehr zur Sicherungder Zivilisten in einer Kampfzone unternom-men haben, als jede andere Armee in der Ge-schichte der Kriegsführung zuvor. 12

Dieser Bericht wird zweifelsohne zu einer„politischen Keule“ gegen Israel werden. Erhat aber auch weiter reichende Auswirkun-gen: Er verschleiert die Tatsache, dass für Is-rael, wie auch für die USA und andereNATO-Verbündete, das Töten von Zivilistenwährend eines Krieges eine unbeabsichtigteTragödie ist, die es zu verhindern gilt; für dieHamas, die Hisbollah oder Al-Qaida ist esaber ein Triumph für ihren modus operandi.Diesen Unterschied zu verwischen, zeugt vonmoralischer Blindheit und ist ein politischesManöver zur Entwaffnung des Westens.

Die Regierung Netanjahus sieht IsraelsKampf um Legitimität und sein Recht aufSelbstverteidigung als Teil des westlichen Be-strebens, höhere moralische Werte zu verteidi-gen. Netanjahu selbst hat die intellektuellenund kommunikativen Fähigkeiten, sich gegenjegliche Anschuldigungen zu wehren; es bleibtabzuwarten, wie sehr er von der aufgeklärtenWelt unterstützt werden wird. Bis jetzt über-stand die Regierung etliche diplomatische An-griffe in einer Koalition mit westlichen Freun-den – aber der Kampf ist nicht vorbei.

Fazit

Die erste Herausforderung konnte Netanjahumeistern: an der Macht zu bleiben und einestabile Koalition aufzubauen. Auch das Ver-hältnis zu den USA blieb trotz der Spannun-gen stabil. Das Atomprogramm des Iran bleibtvon der internationalen Gemeinschaft zwarunangetastet. Sollte sich Israel aber allein ge-lassen fühlen, kann davon ausgegangen wer-den, dass es militärische Optionen in Betrachtzieht. In der israelisch-palästinensischenFrage ist die Anteilnahme der internationalenGemeinschaft größer – es scheint aber am Ver-ständnis für die Komplexität des Problems zufehlen. Es bleibt zu hoffen, dass die arabischenStaaten in Zukunft größere Verantwortung fürdas palästinensische Problem übernehmen.

David Kaye

VölkerrechtlicheImplikationendes Goldstone-Berichts

Obwohl nur wenige ihn wirklich gelesenhaben, dürfte der „Goldstone-Bericht“

inzwischen der bekannteste und kontrover-seste Menschenrechts-bericht sein, der jemalsveröffentlicht wurde.Richard Goldstonelegte ihn vor, der sichsowohl als Richter amObersten Gericht Süd-afrikas (und das als er-klärter Gegner derApartheid) als auch alsChefankläger am Internationalen Strafge-richtshof für das ehemalige Jugoslawien einenNamen gemacht hat. Bei dem Bericht handeltes sich um den 575 Seiten starken Abschluss-bericht der Untersuchungskommission derVereinten Nationen für den Gaza-Konflikt(United Nations Fact Finding Mission on theGaza Conflict), der am 15. September 2009dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt wur-de. 1

Der Goldstone-Bericht, der den von EndeDezember 2008 bis Mitte Januar 2009 dau-ernden Gaza-Krieg untersuchte, kritisiert so-wohl die Hamas als auch Israel. Dass dieHamas, deren Taktik Verletzungen des huma-nitären Völkerrechts seit langem in Kauf

David KayeJ.D.; geschäftsführender Direk-tor des International HumanRights Program an der Universi-ty of California, School of Law(UCLA), Los Angeles/[email protected]

12 Zit. in: UN Watch, online: http://blog.unwatch.org/?p=488 (18. 1. 2010).

Übersetzung aus dem Englischen von Dr. DanielKiecol, Köln.Der Beitrag ist die Neufassung eines Artikels aus ASILInsight, einer Zeitschrift der American Society of In-ternational Law, vom 1. Oktober 2009.1 Vgl. UN Human Rights Council, Human Rights inPalestine and Other Occupied Arab Territories. Reportof the United Nations Fact Finding Mission on theGaza Conflict, A/HRC/12/48, 15. 9. 2009, („Gold-stone-Bericht“) online: www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/specialsession/9/docs/UNFFMGC_Report.pdf (26. 1. 2010).

16 APuZ 9/2010

nimmt, sich durch den Bericht würde beein-flussen lassen, war nicht zu erwarten. 2 Je-doch zeigte sich in den auf die Veröffentli-chung des Berichts folgenden Monaten, dasser auch in Israel nicht dazu führte, den eige-nen Umgang mit bewaffneten Gruppen ingrößtenteils von Zivilisten bewohnten Ge-genden des Gazastreifens selbstkritisch zuhinterfragen. Die Hamas sah ihre Aktionendurch den Bericht nachträglich gerechtfertigt,während Israel in seiner Antwort die im Be-richt genannten Fakten ebenso in Zweifelzog, wie die sich daraus ergebenden Schluss-folgerungen – eine Haltung, der sich die USAanschlossen. 3

In den Monaten nach der Veröffentli-chung haben Israel und seine Freunde –selbst solche aus der politischen Mitte undlinks davon – Goldstones Methode undSchlussfolgerungen immer wieder kritisiert. 4

Diese Kritik ist bis heute nicht schwächergeworden, doch scheinen die israelischenRegierungsvertreter zu erkennen, dass ihreunerschütterliche Haltung ihrem Land vordem „Gericht“ der internationalen öffentli-chen Meinung nicht geholfen hat – undtrotz anderslautender Bekenntnisse hierzuliegt Israel durchaus etwas am Urteil der in-ternationalen Gemeinschaft.

Dieser Artikel gibt nicht vor, die Befundedes Berichts im Lichte der israelischen Ein-wände zu bewerten, und auch um die Auf-listung der Stärken und Schwächen des Re-ports kann es nicht gehen. Vielmehr unter-nimmt er den Versuch eines allgemeinen

Überblicks über seine Ergebnisse und bieteteinige Bemerkungen dazu, worin zweifellosder Hauptgrund für Israels Kritik am Be-richt liegt: zur Ablehnung seines Systemsder militärischen Justiz und dem Appellnach einer von anderen Staaten sowie demInternationalen Strafgerichtshof durchge-führten Untersuchung gegen Israelis, dieVerbrechen begangen haben sollen. Schließ-lich sollen auch einige Anmerkungen zummöglichen weiteren Vorgehen Israels ge-macht werden (soweit sich das Ende desJahres 2009 abzeichnet), was die Umsetzungeiner der wichtigsten Empfehlungen desGoldstone-Berichts betrifft: die Schaffungeines innerstaatlichen unabhängigen Kon-trollmechanismus zur Untersuchung derGaza-Operation.

Hintergrund der Mission

Anfang Januar 2009, während des Gaza-Kriegs, verabschiedete der UN-Menschen-rechtsrat eine Resolution zur Einsetzung einerKommission mit der Aufgabe, „jede Verlet-zung der internationalen Menschenrechtsnor-men und des humanitären Völkerrechts durchdie Besatzungsmacht Israel gegen das palästi-nensische Volk in allen besetzten Palästinenser-gebieten, besonders im Gazastreifen, im Zugeder laufenden Kampfhandlung zu ermitteln“ 5.

Da dieses Mandat von vielen als sehr ein-seitig angesehen wurde, nahm Richter Gold-stone am 3. April die Aufgabe zur Führungder Untersuchung nur unter der Vorausset-zung an, dass der UN-Menschenrechtsratdas ursprüngliche Mandat in eine unvorein-genommenere Fassung umformulierte, dievorsieht, „alle Verletzungen der internationa-len Menschenrechtsnormen und des humani-tären Völkerrechts zu untersuchen, die zu ir-gendeiner Zeit im Zusammenhang mit denKampfhandlungen im Gazastreifen vom 27.Dezember 2008 bis zum 18. Januar 2009 be-gangen wurden, unabhängig davon, ob vor,während oder nach der militärischen Opera-tion im eigentlichen Sinne“. 6 Goldstone ging

2 So fordert z. B. Human Rights Watch seit langem,dass die Hamas ihre Strategie der Angriffe auf Zivilis-ten ändern müsse; vgl. Human Rights Watch, Rocketsfrom Gaza: Harm to Civilians from Palestinian ArmedGroups’ Rocket Attacks, vom 6. 8. 2009, online:www.hrw. org/en/reports/2009/08/06/rockets-gaza-0(26. 1. 2010).3 Vgl. Israeli Ministry of Foreign Affairs, Initial Re-sponse to Report of the Fact Finding Mission on GazaEstablished Pursuant to Resolution S-9/1 of the Hu-man Rights Council, 24. 9. 2009, online: www.mfa.gov.il/NR/rdonlyres/FC985702–61C4–41C9–8B72-E3876FEF0ACA/0/GoldstoneReportInitialResponse240909.pdf (26. 1. 2010); Response to the Report of the Uni-ted Nations Fact-Finding Mission on the Gaza Con-flict, Statement of Michael Posner, Assistant Secretaryof State for Democracy, Human Rights and Labor, vom29. 9. 2009, online: http://geneva.usmission.gov/news/2009/09/29/gaza-conflict/ (26. 1. 2010).4 Vgl. The New Republic vom 6. 11. 2009.

5 Human Rights Council, Report of the HumanRights Council on ist ninth special session, A/HRC/S-9/L.1, 12. 1. 2009, online: www2.ohchr.org/english/bod ies/hrcouncil/specialsession/9/docs/A-HRC-S-9–2.doc (26. 1. 2010), S. 3.6 Vgl. Goldstone-Bericht (Anm. 1), Paragraph 131,

S. 39.

17APuZ 9/2010

davon aus, dass dieses neu formulierte Man-dat geeignet sei, Israel in die Arbeit derKommission mit einzubinden. Doch trotzÜberzeugungsarbeit gelang es nicht, Israelzur Teilnahme und Kooperation zu bewe-gen. 7 Schlussendlich gab es keinen israeli-schen Beamten, der mit dem Untersuchungs-team zusammenarbeitete, wodurch es letzte-rem erschwert wurde, sich ein vollständigesBild zu machen.

Obwohl die Hamas ihrerseits eine Koope-ration anbot, stieß die Kommission auch inGaza auf Hindernisse. So schildert der Be-richt, dass Palästinenser oft „nur zögerlichüber die Präsenz von palästinensischen be-waffneten Gruppen und über deren Verhaltenbei Kampfhandlungen sprachen“, möglicher-weise „aus Angst vor Repressalien“. 8 Da dieAussagen von Dutzenden Einwohnern desGazastreifens sehr überzeugend und glaub-würdig erscheinen, erweckt der Bericht denEindruck, dass die Verantwortung der Hamas(oder anderer Gruppen) für zivile Opfer inbestimmten Vorfällen schwer nachzuweisensei und dies unabhängig von der fehlendenKooperation Israels bei der Faktenfindung.

Rechtliche Schlussfolgerungen

Von den 21 Kapiteln, die im Zentrum desDokuments stehen, behandeln 16 das Verhal-ten Israels, vier beschäftigen sich mit Über-griffen von Seiten „bewaffneter Gruppen inGaza“ und eines widmet sich Anschuldigun-gen gegen die palästinensische Autonomiebe-hörde. Richter Goldstone erklärte dieses Un-gleichgewicht damit, dass die Verantwortungder Hamas für Raketen- und Mörserangriffeauf das südliche Israel kaum in Frage stehe,wohingegen die Verantwortung Israels „etwassehr viel Komplizierteres sei“. 9 Das Untersu-chungsteam versuchte nicht, alle in Betracht

kommenden Fälle von Verletzungen des hu-manitären Völkerrechts oder Menschenrechtevor, während und nach der Gaza-Operationzu untersuchen, sondern beschränkte sich dar-auf, einige „illustrative“ Beispiele aufzufüh-ren. Am Ende nennt der Bericht einige an diebeiden beteiligten Parteien und Akteure derinternationalen Gemeinschaft gerichteteHandlungsempfehlungen.

Der Report weist der Hamas und anderenbewaffneten Gruppen im Gazastreifen dieVerantwortung für folgende Rechtsverlet-zungen zu: fehlende Vorkehrungen zumSchutz von Zivilpersonen (Kapitel VIII), dieanhaltende Internierung des israelischen Sol-daten Gilad Shalit (Kapitel XVIII), Übergrif-fe auf Angehörige der Fatah von Seiten derHamas (Kapitel XIX) sowie gezielte Angrif-fe auf Zivilisten im Süden Israels (KapitelXXIV). Die fehlende Zusammenarbeit Israelsbei der Faktenfindung machte es dem Unter-suchungsteam schwer, die israelischen Argu-mente zur Verantwortung der bewaffnetenpalästinensischen Gruppen einer Prüfung zuunterziehen. Konsequenterweise beschränktsich der Report deshalb gelegentlich daraufeinen Satz zu variieren, der in etwa lautet:„Dem Untersuchungsteam ist es nicht mög-lich, ein abschließendes Urteil hinsichtlichder Beschuldigungen gegen die Hamas undandere Gruppen zu treffen.“ 10 Der Berichtempfiehlt deshalb, dass die Hamas und ande-re Gruppen „fortan die Regeln des humani-tären Völkerrechts respektieren sollen, insbe-sondere durch den Verzicht auf Angriffe aufisraelische Zivilpersonen und zivile Objekte,sowie alle machbaren Vorkehrungen zumSchutz palästinensischer Zivilpersonen wäh-rend militärischer Auseinandersetzungentreffen sollen“. 11 Der Bericht fordert auchdie Freilassung des entführten israelischenSoldaten Gilad Shalit aus „humanitärenGründen“ oder zumindest seine Anerken-nung als Kriegsgefangener. Außerdem mahnter die palästinensische Autonomiebehördezur strikten Einhaltung internationaler Men-schenrechtsnormen. 12

Der Report kritisiert Israel für eine Reihevon Handlungen, angefangen mit miss-bräuchlichen Inhaftierungen (Kapitel XIV,

7 Vgl. ebd., Annex II „Correspondence between theUnited Nations Fact Finding Mission on the GazaConflict and the Government of Israel regarding Ac-cess and Cooperation“.8 Vgl. ebd., Paragraph 438, S. 134. Der Bericht fährtmit der Feststellung fort, dass „die Mission um einTreffen mit Vertretern bewaffneter Gruppen [er-suchte]. Zu einem solchen fanden sich diese jedochnicht bereit.“ Ebd.9 Interview mit Richard Goldstone, in: The News-Hour with Jim Lehrer vom 15. 9. 2009, online:www.pbs.org/newshour/bb/middle_east/july-dec09/gaza_09–15.html (26. 1. 2010).

10 Goldstone Report (Anm. 1), Paragraph 463, S. 142.11 Ebd., Paragraph 1770, S. 551.12 Vgl. ebd., Paragraph 1771.

18 APuZ 9/2010

XV und XXI) bis zur Unterdrückung ab-weichender Meinungen (Kapitel XXV). ImMittelpunkt stehen jedoch 36 Vorfälle, diezum allergrößten Teil auf Anschuldigungengegen Israel wegen Angriffen auf Zivilperso-nen zurückgehen, sei es durch willkürlicheoder unverhältnismäßige Gewaltanwendungoder durch gezielte Angriffe auf nicht-mili-tärische Ziele. Der Bericht enthält auch eini-ge Beschuldigungen bezüglich des Ge-brauchs von Palästinensern als „menschlicheSchutzschilde“ und bemerkt, dass diese Pra-xis nicht nur der Vierten Genfer Konventionwiderspreche, sondern auch vom OberstenGericht Israels und der israelischen Militär-polizei verboten worden sei. 13 Viele dieserUntersuchungsergebnisse werden vom Be-richt schließlich als Verletzungen des huma-nitären Völkerrechts benannt; auch Tatbe-stände des Kriegsverbrechens könnten mög-licherweise erfüllt sein. 14

Was aus israelischer Perspektive am Be-stürzendsten sein dürfte, ist jedoch nicht dieBewertung einzelner Untersuchungsergeb-nisse, sondern der allumfassende Vorwurf,dass die Operation „Gegossenes Blei“ sichgegen „die Bevölkerung des Gazastreifens alsGanzes“ gerichtet habe, als Teil einer „allge-meinen Politik, die auf die Bestrafung derBevölkerung des Gazastreifens für derenausdauernden Widerstand und ihre vorgebli-che Unterstützung der Hamas abzielt“. 15

Die Gaza-Operation, so der Report, bestandalso nicht aus einer Reihe von einzelnen Vor-fällen strafbaren Verhaltens, sondern warvielmehr das Ergebnis einer Regierungspoli-tik, die auf eine „massive und vorsätzlicheZerstörung“ hinauslief. 16 Beschlossen wirddieser Teil des Berichts von einer Reihe vonEmpfehlungen zur Neuausrichtung der israe-lischen Politik. 17

Verantwortlichkeit

Kapitel XXVII (Proceedings by PalestinianAuthorities) erweckt den Eindruck, als werdeder fehlende Wille der palästinensischen Be-hörden, die Schuldigen für strafbare Hand-

lungen zu ermitteln, als gegeben angese-hen. 18 Dagegen treffen die Teile des Berichts,die sich mit der Verantwortlichkeit der Be-teiligten befassen (Kapitel XXVI-XXIX), Is-rael angesichts seiner langen Tradition derMilitärjustiz am härtesten. Es ist offensicht-lich, dass die Forderung zur Übernahme derVerantwortlichkeit für die leitenden Stellenauf Seiten Israels viel politischen Sprengstoffbirgt (auch wenn dieser Appell sich an Israelund die palästinensischen Behörden in glei-chem Maße richtet). Was aus israelischerSicht sogar noch unerfreulicher sein muss, istder fast kategorische Vorwurf, dass Israel auseigener Kraft nicht imstande sei, Verletzun-gen des humanitären Völkerrechts nachzuge-hen, womit sein gesamtes System der Mili-tärjustiz als unzulänglich beurteilt wird. 19

Sodann wendet sich der Bericht Alternativenzur einheimischen Justiz zu, darunter die fol-genden:

Kontrolle durch den UN-Sicherheitsrat:Der Bericht empfiehlt, dass der UN-Sicher-heitsrat „ein unabhängiges Experten-Gre-mium einsetzt (. . .), um jedwede rechtlichenoder sonstigen Handlungen Israels zu beob-achten und zu begutachten“, 20 damit ermes-sen werden kann, ob Israel seiner Verant-wortlichkeit gerecht wird.

Untersuchung durch den InternationalenStrafgerichtshof (IStGH): Sollte der UN-Si-cherheitsrat feststellen, dass die gefordertenUntersuchungen nicht stattgefunden haben,empfiehlt der Report, dass dies dem Chefan-kläger am Internationalen Strafgerichtshofvorgetragen wird (wie im Falle Darfurs, Su-dan). 21 Des Weiteren weist der Bericht daraufhin, dass „die Regierung Palästinas“ am 21.Januar 2009 dem IStGH eine Erklärung vor-gelegt habe, in der diese die Gerichtsbarkeitund Zuständigkeit des IStGH für „Vergehen,die auf dem Gebiet Palästinas nach dem 1.Juli 2002 begangen wurden“, anerkenne. 22

13 Vgl. ebd., Paragraphen 1094–1097, S. 296–298.14 Vgl. ebd., Paragraph 934, S. 260.15 Ebd., Paragraphen 1680–1681, S. 523.16 Ebd., Paragraph 1190, S. 329, Paragraph 1692,S. 526.17 Vgl. ebd., Paragraph 1769, S. 549–551.

18 Vgl. ebd., Paragraph 1639, S. 509–513, Paragraph1761, S. 544.19 Vgl. ebd., Paragraph 1629, S. 508, Paragraph 1620,S. 506: „dass es Israel auch im Zeitraum von sechsMonaten nicht gelungen ist, schnelle, unabhängige undunparteiliche Strafermittlungen einzuleiten, bedeuteteine Verletzung seiner Pflicht, Hinweisen auf Kriegs-verbrechen ernsthaft nachzugehen“.20 Ebd., Paragraph 1766, S. 546 f.21 Vgl. ebd.22 Vgl. ebd., Paragraph 1630, S. 508–509.

19APuZ 9/2010

Nachdem der hierfür relevante Artikel desRom-Statuts dargelegt wird (Artikel 12),schließt der Report, dass der Chefanklägerselbst ohne Überweisung durch den UN-Si-cherheitsrat auf Grundlage des Artikels 12 (3)des Rom-Statuts eine Untersuchung der Vor-gänge einleiten könne. 23

Weltrechtsprinzip (Prinzip, dass das natio-nale Strafrecht auch auf Sachverhalte an-wendbar sein sollte, die keinen spezifischenBezug zum Inland haben): Der Report nimmtden „wachsenden Widerwillen seitens Israel,strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten“zum Anlass, „auf das Weltrechtsprinzip zuvertrauen, um den Staaten einen Weg zu er-öffnen“, grobe Verstöße gegen die GenferKonventionen verfolgen zu können. 24

Die erste Reaktion Israels bestand aus demHinweis, dass sein System der Strafermittlungund -verfolgung internationalen Standardsgenüge und dass der Report die verschiede-nen Ebenen unabhängiger Untersuchungeninnerhalb des israelischen Systems nicht be-rücksichtige und deshalb nichts zu den lau-fenden Untersuchungen sagen könne. 25 Aus-führlich werden die bereits abgeschlossenenund noch laufenden Untersuchungen ge-nannt. 26

Die Empfehlungen des Berichts in Bezugauf die Verantwortlichkeiten werfen für Israelund die internationale Gemeinschaft ernst-hafte Probleme auf. Israel sieht sich seit lan-gem dem Risiko ausgesetzt, dass ausländische

Staaten die Handlungen seiner höheren Mili-tärs und politischen Beamten gerichtlich un-tersuchen, doch erscheint diese Drohung auf-grund der zum Report gehörenden Doku-mentation und der darin vertretenenBehauptung, dass die Operation jeglicher ge-setzlicher Grundlage entbehre, um einigesernst zu nehmender. Eine nicht zu widerle-gende Tatsache ist, dass eine sehr hohe Zahlvon Zivilisten ums Leben gekommen ist oderverletzt wurde, sowie dass zivile Infrastruk-tur beschädigt oder zerstört wurde. 27 Unab-hängig davon, ob Israel damit Recht hat, dassder überwiegende Teil dieser Opfer auf vomGesetz gedeckte Gewaltanwendung zurück-zuführen sei und dass die Hamas die Verant-wortung dafür trage, dass bewaffnete Grup-pen inmitten der Zivilbevölkerung operier-ten, brachte sich Israel mit seiner Weigerung,mit dem Untersuchungsteam kooperieren,um ein wichtiges Forum, die eigene Sicht derDinge vorzutragen. Zugleich wird dadurchriskiert, dass nun zahlreiche Strafverfolger,vor allem aus Europa, den Report als Grund-lage für die Eröffnung von Strafverfahrennach den jeweiligen eigenen Gesetzen gemäßder Norm der universellen Juridisktion(Weltrechtsprinzip) benutzen. Es war ausge-rechnet ein Verbündeter Israels, Großbritan-nien, das diese Drohung bereits in die Tatumsetzte. 28

Die Empfehlung an den UN-Sicherheits-rat, ein unabhängiges Experten-Gremiumeinzuberufen, um die israelischen Bemühun-gen zu beobachten, Gesetzesbrecher zur Re-chenschaft zu ziehen, ist etwas völlig Neues –und fast mit Gewissheit ein Blindgänger. Vor-stellbar wäre zwar, dass der UN-Menschen-rechtsrat ein solches Monitoring-System in-itiiert, doch würde es mit den gleichenBedenken zu kämpfen haben wie die Gold-stone-Mission.

23 Vgl. ebd., Paragraph 1632, S. 509. Artikel 12 (3) desRom-Statuts sieht vor: „Ist nach Absatz 2 die Aner-kennung der Gerichtsbarkeit durch einen Staat er-forderlich [damit die Jurisdiktion des StrafgerichtshofsAnwendung finden kann], der nicht Vertragsparteidieses Statuts ist, so kann dieser Staat durch Hinter-legung einer Erklärung beim Kanzler die Ausübungder Gerichtsbarkeit durch den Gerichtshof in Bezugauf das fragliche Verbrechen anerkennen“; siehe Arti-kel 12 (3), Römisches Statut des Internationalen Straf-gerichtshofs, online: www.un.org/Depts/german/in-terna trecht/roemstat1.html. (26. 1. 2010).24 Goldstone-Bericht (Anm. 1), Paragraph 1654,S. 515.25 Vgl. Israel’s Initial Response (Anm. 3), S. 20–22.26 Vgl. ebd., S. 21 f., Fußnote 23. Siehe auch Ministryof Foreign Affairs, The Operation in Gaza, 27 De-cember 2008 – 18 January 2009: Factual and LegalAspects, Juli 2009, online: www.mfa.gov.il/NR/rdonlyres/E89E699D-A435–491B-B2D0–017675DAFEF7/0/GazaOpera tionwLinks.pdf. (26. 1. 2010).

27 Vgl. Ministry of Foreign Affairs (Anm. 26);B’tselem, B’Tselem’s investigation of fatalities in Ope-ration Cast Lead, 9. 9. 2009, online: www.btselem.org/English/Press_Releases/20090909.asp (26. 1. 2010).28 Vgl. The Economist vom 17. 12. 2009, online:www.economist.com/ world/middleeast-africa/ PrinterFriendly.cfm?story_id=15136684&CFID=103271027&CFTOKEN=10060530 (26. 1. 2010). Darin eineDarstellung der „Beinahe-Festnahme“ der ehemaligenisraelischen Außenministerin Tzipi Livni durch eng-lische Beamte.

20 APuZ 9/2010

Die Empfehlung an den UN-Sicherheits-rat, das Verfahren an den IStGH zu überwei-sen, dürfte zum Scheitern verurteilt sein, daes nicht vorstellbar ist, dass die USA zulassenwürden, Israel vor den Internationalen Straf-gerichtshof zu bringen. Ähnlich überraschend(und auch sehr kontrovers) wäre, wenn derIStGH den Status Palästinas als Staat imSinne der eigenen Rechtsprechung bestätigenwürde. 29

Umdenken in Israel?

Die größte Bedrohung, die für Israel vomGoldstone-Bericht ausgeht, abgesehen vomRückschlag für die angestrebte Imageaufbes-serung als Verfechter des humanitären Völ-kerrechts, ist die Forderung nach internatio-naler Rechenschaftspflicht. In den Wochenund Monaten nach der Veröffentlichung desReports machten die Vertreter der israeli-schen Regierung keinen Hehl aus ihrer Ab-lehnung des Goldstone-Berichts und auchviele andere Meinungsführer im Land wiesendie im Bericht gezogenen Schlussfolgerungenzurück. Und doch vermochte dieser AnsatzIsraels – also die Herausgabe von Erklärun-gen und Berichten, mit denen den Anschuldi-gungen des Berichts entgegengetreten werdensollte – augenscheinlich nicht, der Flut neuerUntersuchungen Einhalt zu gebieten. ImLaufe der Zeit wurde klar, dass eine unabhän-gige, aber von Israel selbst durchgeführte Un-tersuchung wohl am besten geeignet wäre,um die Art von Schutz zu bieten, die sich dieisraelische Regierung erhofft – eine Option,die von der Regierung selbst jedoch bereitszu einem frühen Zeitpunkt ausgeschlossenworden war. 30

Dennoch mehren sich die Anzeichen dafür,dass sich in dieser Frage etwas bewegt – deutendoch einige von höchster Ebene ausgehendeAndeutungen vom Januar 2010 darauf hin,dass Israel eine Art unabhängigen Prozess aufden Weg bringen will. So wird berichtet, dassAharon Barak, ehemaliger Präsident des Ober-sten Gerichts des Landes und einflussreiche

Figur innerhalb der Justiz und des politischenLebens, den Generalstaatsanwalt aufgeforderthabe, eine Art regierungsamtliche Untersu-chung in die Wege zu leiten, um den im Gold-stone-Bericht vorgebrachten Beschuldigungennachzugehen. 31 Verteidigungsminister EhudBarak soll seinerseits jede Art einer solchenUntersuchung ablehnen, 32 doch könnte derEinfluss eines altgedienten und angesehenenMannes, wie dem ehemaligen Präsidenten desObersten Gerichts, mittelfristig zu einer Neu-ausrichtung der Staatsräson führen.

Auch innerhalb des Militärs gibt es einigeAnzeichen, die auf einen Meinungsumschwungdeuten. Kurz nach Neujahr 2010 gab der Stabs-chef der israelischen Armee eine Verfügung her-aus, die eine rechtliche Beratung nicht nur in diePlanung militärischer Operationen integriert –was bereits seit einiger Zeit Usus ist –, sondernauch vorsieht, dass diese im Verlauf bewaffneterKonflikte in Anspruch genommen werdensoll. 33 Möglicherweise in Kenntnis, dass esauch im Zuge der Operation „Gegossenes Blei“zu Verletzungen des humanitären Völkerrechtsgekommen war, planen die israelischen Streit-kräfte, in ihren Ausbildungsprogrammen grö-ßeren Wert auf die Vermittlung internationalenRechts zu legen (die aber eigentlich schon seiteiniger Zeit Bestandteil des militärischen Trai-nings in Israel ist). 34 Ob diese Schritte zu einemsubstanziellen Politikwechsel und zur Einset-zung einer unabhängigen Untersuchungskom-mission führen werden, bleibt abzuwarten.

Fazit

Der Goldstone-Bericht hat Israel tief getrof-fen, wenn auch wohl in erster Linie nicht inder Weise, wie Goldstone oder andere es er-wartet hätten. Die erste Reaktion zementierte– vor allem dadurch, dass sie über Parteigren-zen hinweg so einhellig ausfiel – die traditio-nelle Rückzugsposition israelischer Politik,die von Zurückweisung der und Isolierungvon den UN-Institutionen gekennzeichnetist, wenn es um die Sicherheit Israels geht. Sogenügt es, sich die Jahre 2004 und 2005 in Er-innerung zu rufen, als der Internationale29 Vgl. Kevin Jon Heller, Would Moreno-Ocampo

Actually Investigate Only an Israeli Officer?, online:http://opiniojuris.org/2009/09/21/would-moreno-ocampo-be-dumb-enough-to-investigate-an-israeli-officer/ (26. 1. 2010).30 Vgl. The New York Times vom 16. 9. 2009, online:www.nytimes.com/2009/09/17/world/middleeast/17gaza.html (26. 1. 2010).

31 Vgl. Haaretz vom 19. 1. 2010, online: www.haaretz.com/hasen/spages/1143282.html (26. 1. 2010).32 Ebd.33 Vgl. Haaretz vom 6. 1. 2010, online: www.haaretz.com/hasen/spages/1140292.html (26. 1. 2010).34 Ebd.

21APuZ 9/2010

Strafgerichtshof die israelischen Sperranlagenan der Grenze zum Westjordanland ablehnte,um sich bewusst zu machen, dass die PositionIsraels innerhalb der UN – insbesondere inder Vollversammlung und im UN-Menschen-rechtsrat – alles andere als komfortabel ist.

Das Gefühl der Isolation entsprang dabeinicht zur Gänze einer Paranoia; in der Tat fieldie im Goldstone-Bericht geäußerte Kritik anIsrael harsch aus. Der Vorwurf, dass Israel diepalästinensische Zivilbevölkerung gezielt insVisier genommen habe und die Forderungen,Israel dem Weltrechtsprinzip zu unterwerfenund eine Untersuchung des InternationalenStrafgerichtshofs einzuleiten, drängte dasLand in eine Ecke, aus der heraus es ihmschwer fiel, sich versöhnlich zu zeigen. VieleIsraelis, wahrscheinlich sogar eine Mehrheitvon ihnen, glauben, dass der Goldstone-Be-richt die Raketenangriffe durch die Hamasund deren Strategie, aus der Deckungmenschlicher Schutzschilde zu operieren,nicht ausreichend berücksichtigt habe. Die is-raelische Regierung ihrerseits war nicht in derLage, über den rauen Ton des Berichts hin-wegzusehen, so dass es bis zum Beginn desJahres 2010 dauerte, bis sich auch in Israelerstmals nennenswerte Stimmen zu Wortmeldeten, die sich ernsthaft mit den Schluss-folgerungen des Reports auseinandersetzten;wobei auch jetzt noch lange nicht ausgemachtist, in welche Richtung sich die Debatte be-wegen wird. Zudem sind auch aus den USAkeine Stimmen zu vernehmen – zumindestnicht öffentlich – die Israel dazu drängten,die Schlussfolgerungen des Berichts ernsterzu nehmen.

Und doch scheinen die israelischen Regie-rungsvertreter nun, da die Aufregung überden Goldstone-Bericht noch immer nicht ab-geklungen ist, zu erkennen, dass ihre reineOppositionshaltung die Diskussion nicht hatstoppen können. Wohl ist es möglich, dassman in Israel, angesichts der immensen Zer-störungen und der hohen Zahl an zivilenOpfern unter der palästinensischen Bevölke-rung im Verlauf der Operation „GegossenesBlei“ früher oder später dazu gekommenwäre, sich ernsthafter mit der eigenen Ver-antwortung auseinanderzusetzen und mögli-cherweise sogar eine unabhängige Untersu-chungskommission einzusetzen – und docherscheint es unwahrscheinlich. Vor demGoldstone-Bericht, der erst neun Monate

nach dem Ende der Kampfhandlungen veröf-fentlicht wurde, gab es keine ernsthafte De-batte über die Operation. Es war der Gold-stone-Bericht, der eine Änderung dieser Hal-tung in Gang brachte. Es mag sein, dassdieses öffentlich vorgetragene Umdenken„nur Schau“ ist, wie es ein bekannter Ana-lyst ausdrückte. 35 Doch was immer die Mo-tivation für die Forderung Aharon Baraksnach einer Untersuchung sowie neuen Re-geln für die Einbindung rechtlicher Beraterin militärische Operationen gewesen seinmag, könnte der öffentliche Charakter seinerÄußerungen dafür sorgen, dass eine ganzneue, ernsthafte und nicht zuletzt öffentlichgeführte Debatte über die israelische Militär-politik im Gazastreifen und im Westjordan-land in Gang gebracht wird.

Richter Goldstone selbst nannte die Unter-suchung der Verantwortlichkeit und Straf-mündigkeit beider Konfliktparteien als seinvorrangiges Ziel. 36 Wie wirkt sich vor diesemHintergrund sein Bericht auf die weltweiteBewegung gegen Straffreiheit aus? Sicher ist,dass es ein riskanter Zug war. Sein Appell zu-gunsten eines Weltrechtsprinzips führte zueiner Entfremdung Israels und der USA unddie Bemühungen eines britischen Strafverfol-gers, sich diesen Appell zu eigen zu machen,unterminierten die Anstrengungen zu einerStärkung des Weltrechtsprinzips innerhalbGroßbritanniens. Auch die Forderung nacheiner Zuständigkeit des Internationalen Straf-gerichtshofs muss als riskant und, bis zum ge-wissen Grad, auch als juristisch heikel be-trachtet werden.

Dies führt uns zur Übernahme der Verant-wortlichkeit aus eigenem Impetus, womitwir auch wieder bei unserer Ausgangsfragewären: ob Israel es gelingt, einen innerstaatli-chen, unabhängigen Mechanismus einzurich-ten, der geeignet ist, nicht nur die Kritik vonaußen einzudämmen, sondern auch die Mög-lichkeit bietet, intensive Untersuchungen zurAufklärung der Gaza-Operation durchzu-führen.

35 So Ben Lynfield in: Global Post vom 7. 1. 2010, on-line: www.globalpost.com/print/5513882 (26. 1. 2010).36 Vgl. The New York Times vom 17. 9. 2009, online:www.nytimes.com/2009/09/17/opinion/17goldstone.html (26. 1. 2010).

22 APuZ 9/2010

Patrick Keller

Einsatz ohneWirkung?

Barack ObamasNahost-Politik

Das Grundproblem der PräsidentschaftBarack Obamas besteht darin, dass er

zu viele politische Großprojekte gleichzeitiganschieben will – mitdem Ergebnis, dassihm für jedes einzelnedie Kraft, Konzentra-tion und Konsistenzfehlen, die es zueinem erfolgreichenAbschluss braucht.Allein in der Außen-

politik reicht die Liste der „Prioritäten“ vomKrieg in Afghanistan über die Neugestaltungdes amerikanisch-russischen Verhältnisses biszum Streit um das iranische Atomprogramm.Hinzu tritt die ambitionierte innenpolitischeAgenda. Schon heute verfestigt sich daher dasNarrativ vom begnadeten Redner und Ver-söhner, der das größte politische Talent seinerGeneration war, aber zu früh in höchste Ver-antwortung geriet und es trotz großem Initia-tivreichtum nicht vermochte, konkrete Er-gebnisse und nachhaltige Vorteile für seinVolk zu erzielen. Allerdings ist ihm zugute-zuhalten, dass er tief verwurzelte Problemezeitig in Angriff genommen hat; ob er sielangfristig lösen kann, bleibt noch abzuwar-ten. 1 Dies gilt nicht zuletzt für Obamas Nah-ost-Politik, an der sich die Spannung ausübersteigerten Erwartungen, überforderndenAufgaben und unübersichtlichen Zeithori-zonten besonders deutlich darstellen lässt.

Grundlagen der Nahost-Politik Obamas

Für die USA ist der Nahe Osten traditionellvon herausgehobener strategischer Bedeu-tung. 2 Auch unter Präsident Obama sind es imWesentlichen drei Faktoren, auf die sich die be-sondere Bindung der Vereinigten Staaten an die

Region gründet: Öl, Israel und „globale Stabili-tät“. 3 Der erste Faktor ließe sich auch etwasweniger polemisch in „internationale Energiesi-cherheit“ übersetzen, denn ein Drittel der welt-weit nachgewiesenen Gasvorkommen undmehr als zwei Drittel der weltweit bekanntenkonventionellen Ölvorkommen befinden sichim Nahen und Mittleren Osten. Im Verhältniszu anderen Industrienationen, insbesondere inEuropa, decken die USA zwar nur einen klei-nen Teil ihres Ölbedarfs durch Importe ausNahost, weil sie über große eigene Förderkapa-zitäten verfügen und erhebliche Mengen ausKanada beziehen. Globale Lieferengpässe oderstarke Preiserhöhungen würden sich jedoch di-rekt auf die Weltwirtschaft auswirken, mit gra-vierenden Folgen für die Handelsmacht USA.Daher ist es seit Jahrzehnten ein zentrales natio-nales Interesse der USA, den freien Zugang zuden Ölreserven des Nahen und MittlerenOstens zu garantieren.

Der zweite Faktor, Israel, beruht auf derhistorischen Rolle, welche die USA alsSchutzmacht der Juden gespielt haben – alsHeimstätte für Flüchtlinge aus Europa, Füh-rungsmacht der Anti-Hitler-Koalition, trei-bende Kraft bei der Unterstützung Israels imKalten Krieg. Weiterhin ist Israel nach wievor die einzige Demokratie im Nahen Ostenund weiß allein deswegen schon die Sympa-thie der Mehrheit der Amerikaner auf seinerSeite. Hinzu tritt der außergewöhnliche Ein-fluss der hervorragend organisierten proisrae-lischen Lobby auf den amerikanischen Kon-gress, der aber erst vor dem Hintergrund derohnehin bestehenden historisch-politisch-kulturellen Nähe beider Staaten möglich undverständlich wird. 4

Der dritte Faktor, „globale Stabilität“, ist imZuge des 11. Septembers 2001 in die erste Reiheder amerikanischen Motivationen gerückt. Für

Patrick KellerDr. phil., geb. 1978; Koordinator

für Außen- und Sicherheits-politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, Klingelhöferstr. 23,

10785 [email protected]

Ich danke Daniel Schaffer für seine Unterstützung beider Recherche für diesen Beitrag.1 Vgl. Zbigniew Brzezinski, From Hope to Audacity,in: Foreign Affairs, 89 (2010) 1, S. 16–30.2 Vgl. Gert Krell, Die USA, Israel und der Nahost-Konflikt, in: APuZ, (2006) 14, S. 25–31.3 Vgl. Peter Rudolf, Das „neue“ Amerika. Außen-politik unter Barack Obama, Frankfurt/M. 2009,S. 93 f. Rudolf beschränkt sich allerdings auf die erstenbeiden Faktoren.4 Zur Debatte um die jüdische Lobby vgl. Tim Ma-schuw, Israels Lobby vs. Amerikas Interessen?, Bonn2009.

23APuZ 9/2010

Präsident George W. Bush bestimmte er sogarden Blickwinkel, aus dem die Region wahrge-nommen wurde. Die Kombination aus autokra-tischen Regimen, internationalem Terrorismusund Massenvernichtungswaffen wurde als diegrößte potenzielle Bedrohung der globalen Sta-bilität im 21. Jahrhundert gesehen. Auch heutenoch besorgt diese Mischung westliche Sicher-heitspolitiker in großem Maße. Sie ist nirgend-wo so virulent wie im Nahen Osten, wie sichgerade um den Jahreswechsel wieder zeigte:Der tyrannische Charakter des iranischen Regi-mes ist angesichts der Protestbewegung beson-ders offenkundig, aber auch Ägypten, Syrienoder Saudi-Arabien sind kaum freiheitlicher.Der internationale Terrorismus wird von auto-ritären Machthabern mehr oder weniger offengefördert, und es ist kein Zufall, dass der ver-hinderte Flugzeug-Attentäter vom ersten Weih-nachtsfeiertag 2009 im Jemen ausgebildetwurde. Zugleich balanciert diese hochexplosiveRegion am Rande einer Rüstungsspirale mitMassenvernichtungswaffen – die Konsequen-zen des iranischen Nuklearprogramms sind un-absehbar, und Syrien ist vermutlich erst 2007durch einen israelischen Präventivschlag aufseinem eigenen Pfad zur Bombe zurückgewor-fen worden. Unter den Bedingungen der Glo-balisierung sind diese Entwicklungen kein Re-gionalproblem mehr, sondern betreffen den ge-samten Erdball. Daher sind die USA, die auchunter Obama Weltordnungsmacht sein wollen– um nicht zu sagen: müssen –, besonders gefor-dert.

Welche Maßnahmen Obama ergreifenwürde, um diese drei genannten grundlegen-den Ziele in Nahost umzusetzen, blieb imWahlkampf unklar. Aus seiner politischenVita ließ sich wenig ableiten, weil Obama zuwenig Erfahrung auf der internationalenBühne hatte. Allerdings leisteten einige kon-fuse Bemerkungen zum Status Jerusalemsund seine Assoziation mit antisemitischenAktivisten wie Reverend Jeremiah WrightBedenken Vorschub, Obama könnte eine här-tere Gangart gegenüber Israel einschlagen, alsseine beiden Vorgänger dies getan hatten. 5

Mit der Benennung der Schlüsselfiguren sei-ner Nahost-Politik stellte sich Obama jedochganz in die Tradition gemäßigter Demokra-

ten: Dennis Ross (Sonderberater für den Per-sischen Golf und Südwest-Asien), GeorgeMitchell (Sondergesandter Nahost), Dan Sha-piro (Leiter der Nahost-Abteilung im Natio-nalen Sicherheitsrat) und andere hatten schonunter Bill Clinton ähnliche Funktionen inne.Auch Außenministerin Hillary Clinton undder Nationale Sicherheitsberater GeneralJames Jones stehen für eine nüchterne Real-politik, die zuerst die Interessen Amerikas inder Region im Blick hat und von Verständnisfür die Situation Israels getragen ist.

Woran es bis heute allerdings sowohl imHinblick auf den Nahen Osten als auch aufdie Rolle der USA in der internationalen Po-litik insgesamt noch fehlt, ist eine Konzeptionder außenpolitischen Vorstellungen Obamas.Bislang hat seine Regierung noch keine Na-tional Security Strategy vorgelegt, und auchin vielen einzelnen Bereichen (Nuklearstrate-gie, Verteidigungspolitik) mangelt es an rich-tungweisenden Dokumenten. Daher lässt sichObamas Nahost-Politik nur aus den Redenund dem zuweilen widersprüchlichen Han-deln seiner Regierung ableiten. Das in seinerAmtseinführungsrede angekündigte außen-politische Leitmotiv seiner Präsidentschaft,die ausgestreckte Hand, gibt dabei auch sei-ner Nahost-Politik das Maß vor. Am deut-lichsten wurde dies in seiner Grundsatzredein Kairo am 4. Juni 2009, in der er einen„Neubeginn“ im Verhältnis zwischen denUSA und den Muslimen in aller Welt ausrief.Obama sprach ausführlich von seiner persön-lichen Erfahrung mit dem Islam (er ver-brachte einen Teil seiner Kindheit in Indone-sien), von der muslimischen Gemeinschaft inden Vereinigten Staaten und der Kompatibili-tät liberal-amerikanischer Werte mit denendes Islam. Er betonte, dass Amerika und derWesten mit der muslimischen Welt gemein-sam gegen diejenigen kämpfen wollen, dieden Islam missbrauchen, um verächtliche po-litische Ziele zu erreichen. Obamas Appellzur Zusammenarbeit und Völkerverständi-gung erstreckte sich nicht nur auf den Kampfgegen den Extremismus, sondern bezog sichauch auf wirtschaftliche Entwicklung, dieFörderung der Demokratie und die Eindäm-mung der Verbreitung von Atomwaffen. ImGegenzug offerierte er respektvolle Freund-lichkeiten gegenüber der muslimischen Welt,deren kulturhistorische Leistungen er pries,und schärfere Töne gegenüber der israeli-schen Siedlungspolitik.

5 Vgl. für einen besonders bissigen Ausdruck dieserBefürchtung: Norman Podhoretz, How Obama’sAmerica Might Threaten Israel, in: Commentary,(2009) 5, S. 21–26.

24 APuZ 9/2010

Israelisch-palästinensischer Konflikt

Als Obama zum Präsidenten vereidigt wurde,waren die Hoffnungen auf rasche Fortschritteim sogenannten Friedensprozess gering: Is-rael hatte erst an diesem Tag seine umstritteneIntervention in Gaza beendet und zwischenIsraelis und Palästinensern bestanden keinezielführenden Verhandlungen. Ohnehin man-gelte es beiden Seiten an starker Führung fürsolche Verhandlungen – Präsident MahmudAbbas konnte kaum noch beanspruchen, fürdie Mehrheit der Palästinenser zu sprechen,und der israelische Ministerpräsident Olmertsah seiner Abberufung Ende Februar entge-gen. Sein Nachfolger, Benjamin Netanjahu,verfolgte eine harte Linie gegenüber den Palä-stinensern und saß zudem einer instabilenKoalition vor. Auch von amerikanischer Seitewaren aufgrund der Wirtschafts- und Finanz-krise zunächst keine neuen Impulse zu erwar-ten, wie Thomas Friedman in der New YorkTimes erklärte: „Obama has three immediatepriorities: banks, banks, banks – and none ofthem are the West Bank.“ 6

Nichtsdestotrotz engagierte sich Obamaschon früh im Nahost-Konflikt: Mitchell wareiner der ersten ernannten Sondergesandtenund absolvierte seine erste Dienstreise nach Is-rael noch vor der Wahl Netanjahus. Er war imJahr 2001 mit einem Report hervorgetreten,der eine wesentliche Grundlage der Road Mapwerden sollte. Dementsprechend wurde dieser„Wegweiser“ des Nahost-Quartetts (USA,Russland, EU, UN) auch unter Obama zumLeitfaden des Friedensprozesses. Dem stimm-ten sowohl die Palästinenser als auch der israe-lische Premier bei seinem Besuch in Washing-ton im Juni 2009 prinzipiell zu. Obamadrängte darauf, die Verhandlungen wieder inGang zu setzen. Er war der Ansicht, dass esnicht genügt, wenn sich der amerikanischePräsident erst im letzten Jahr seiner Amtszeitmit ganzer Kraft für den Friedensprozess ein-setzt, wie es Clinton in Camp David und Bushin Annapolis getan hatten. Insbesondere be-mühte sich Obama, das Vertrauen der Palästi-nenser zu gewinnen und die USA als einen„ehrlichen Makler“ darzustellen. Dazu über-nahm er nicht nur George W. Bushs Bekennt-nis zu einer Zwei-Staaten-Lösung, sondernforderte den völligen Stopp des israelischen

Siedlungsbaus sowohl im Westjordanland alsauch in Ost-Jerusalem. Dies bedeutete eineNeujustierung der amerikanischen Politik, diebislang zumindest das „natürliche Wachs-tum“, den Ausbau bestehender Siedlungenaufgrund der Geburtenentwicklung, still-schweigend geduldet hatte.

Diese Fokussierung auf die israelische Sied-lungspolitik sollte sich für Obama als Fehlkal-kulation erweisen. Denn Netanjahu erklärtesich nicht bereit, die Siedlungsaktivitäten ein-zustellen. Er verwies darauf, dass die Rück-nahme israelischer Siedlungen in Gaza keineFriedensdividende, sondern weitere palästi-nensische Gewalt gebracht habe. Zudemkonnte er sich rühmen, einen großen Schrittauf die Palästinenser zugegangen zu sein, alser in Reaktion auf Obamas Rede in Kairo erst-mals einer Zwei-Staaten-Lösung zugestimmthatte (wenn auch unter erheblichen Auflagen,wie der Demilitarisierung des entstehendenpalästinensischen Staates). Für ihn sollte dieSiedlungsfrage Gegenstand israelisch-palästi-nensischer Verhandlungen sein – gemäß desetablierten Prinzips „Land für Frieden“.Abbas hingegen, ermutigt von den starkenWorten Obamas und unter Druck der populä-ren Hamas, machte den israelischen Sied-lungsstopp nunmehr zur Vorbedingung fürseine Rückkehr an den Verhandlungstisch.

Konfrontiert mit der harten Haltung Netan-jahus, knickte die Regierung Obama ein: Au-ßenministerin Clinton stellte klar, dass derSiedlungsstopp keine Vorbedingung für Ver-handlungen sein dürfe, sondern Teil einer Ge-samtlösung für den Konflikt sein müsse. Da-raufhin erklärte Netanjahu im November einzehnmonatiges Moratorium zum Siedlungs-bau, das sich allerdings nicht auf ungefähr 3000bereits genehmigte Siedlungsbauten erstreckte.So gelang es ihm auf politisch elegante Weise,ohne signifikante Zugeständnisse in dieser fürIsrael grundlegenden Frage, Entgegenkommengegenüber Amerikanern und Palästinensernzu signalisieren und zugleich Abbas die Ver-antwortung für das Ausbleiben von ernsthaf-ten Verhandlungen zuzuschieben. 7 Abbaswiederum ist durch die widersprüchlicheamerikanische Politik brüskiert worden undkann nun hinter seine Haltung, den Siedlungs-stopp zur Bedingung für Verhandlungen zumachen, nicht mehr zurück, da ihn dies end-

6 The New York Times vom 8. 2. 2009, S. WK 10. 7 Vgl. The Economist vom 5. 11. 2009, S. 33.

25APuZ 9/2010

gültig seine Autorität kosten würde. Vor die-sem Hintergrund ist seine Drohung, zur näch-sten Präsidentschaftswahl nicht mehr anzutre-ten, durchaus nachvollziehbar. Zwar würde ervoraussichtlich trotzdem Führer der Fatahund Vorsitzender der PLO bleiben, aber einWechsel der palästinensischen Präsidentschafthätte zu diesem Zeitpunkt keinen positivenEinfluss auf die wechselseitige Friedensbereit-schaft. Denn derzeit ist niemand in Sicht, derohne die Unterstützung der Hamas ins Präsi-dentenamt gelangen könnte.

Dass die Uneindeutigkeit der amerikani-schen Politik zu solch einer verfahrenen Si-tuation beigetragen hat, ist besonders bedau-erlich, wenn man bedenkt, dass die Regie-rung Netanjahu – im Gegensatz zu ihrenVorgängern – ohnehin keine neuen Sied-lungsaktivitäten genehmigt hatte. Zudem istNetanjahu auf rechte Koalitionspartner an-gewiesen, mit denen ein offiziell erklärter,umfassender Siedlungsstopp sowieso nichtzu erreichen gewesen wäre. Die Fokussie-rung auf die Siedlungspolitik war ein strate-gischer Fehler, der dazu geführt hat, dassdie Palästinenser nun dem Verhandlungswegden Rücken zukehren und immer stärkermit der einseitigen Ausrufung eines palästi-nensischen Staates liebäugeln. Solch einSchritt würde auf erbitterten israelischenWiderstand stoßen und in letzter Konse-quenz nicht nur die Road Map, sondernsogar die Vereinbarungen von Oslo unter-minieren. Daher resümiert Lars Hänsel inseiner Analyse der Nahost-Politik Obamasebenso zutreffend wie düster: „Nach zehnMonaten intensiver Bemühungen Obamasim Nahen Osten sind noch keine positivenErgebnisse der neuen Politik erkennbar. ImGegenteil: Die gegenwärtige Situation, inder substanzielle Verhandlungen in weiteFerne gerückt sind, führt nicht nur zurückzur Situation vor der Konferenz in Annapo-lis, sondern hinterfragt selbst die Ergebnissedes Oslo-Prozesses. Damit ist die Situationim Nahen Osten so schwierig wie seit Jahr-zehnten nicht mehr.“ 8

In Washington mehren sich deshalb dieStimmen, die eine Reduzierung des amerika-

nischen Engagements im Nahost-Konfliktfordern. Das Argument ist nicht neu: Solan-ge die Kontrahenten in der Region nicht be-reit sind für Verhandlungen und Kompro-misse, kann auch ein starkes Amerika keinenFrieden erzwingen, zumal die üblichen Ideen– etwa die Aushandlung eines separaten is-raelisch-syrischen Friedens – derzeit nichtaussichtsreicher sind als in den vergangenenJahren. Obamas verstolperte erste Initiativehat ihn zudem auf beiden Seiten Vertrauenund Respekt gekostet. Außerdem lässt dieVielfalt der drängenden außen- und innenpo-litischen Herausforderungen keine Konzen-tration auf den Friedensprozess zu. Obamawäre daher gut beraten, sich zunächst mitder Vermeidung weiterer Eskalation zu be-gnügen, anstatt sich in vergeblichen – odergar kontraproduktiven – Initiativen zu ver-ausgaben.

Das Ringen um Irans nukleare Option

Auch in der amerikanischen Politik gegen-über dem Iran hat Obama einen Wandel voll-zogen, ohne bislang das gewünschte Ergebniszu erzielen. Schon in seiner ersten Pressekon-ferenz als Präsident machte sich Obama dieSprachregelung der Regierung Bush zu eigen,indem er eine nukleare Bewaffnung des Iran„inakzeptabel“ nannte. 9 Eine zivile Nutzungder Nuklearenergie sollte dem Iran möglichgemacht werden, aber unter der Bedingungsich an den von ihm ratifizierten Atomwaf-fensperrvertrag zu halten. Um dieses Ziel zuerreichen, setzte Obama allerdings nicht aufKonfrontation, sondern auf die ausgestreckteHand. So sprach er in seinen Fernsehauftrit-ten ebenso wie in seiner Rede in Kairo stetsvon der „Islamischen Republik Iran“, ver-wendete also den offiziellen Namen des Lan-des, den amerikanische Diplomaten bislangmit Blick auf die konfliktreiche Geschichteseit der Islamischen Revolution gemiedenhaben. Auch bekräftigte er sein Wahlkampf-versprechen, ohne Vorbedingungen zu rang-hohen Gesprächen mit Vertretern des irani-schen Regimes bereit zu sein. Darüber hinausvermied er während der iranischen Demon-strationen gegen den Wahlbetrug PräsidentAhmadinedschads jede Brüskierung der irani-schen Führung – was ihm in den USA massi-ve Kritik einbrachte.8 Lars Hänsel, Früher Einsatz – früher Ausstieg? Die

bisherige Politik der Obama-Administration im Nah-ostkonflikt, in: KAS-Auslandsinformationen, (2009)12, S. 22–34, hier S. 32. 9 The Vgl. Washington Post vom 8. 11. 2008, S. A4.

26 APuZ 9/2010

Die iranische Seite reagierte mit der be-kannten Taktik aus Schuldzuweisungen,scheinbarem Entgegenkommen und tatsächli-cher Verschleppung der Verhandlungen – undarbeitete weiter an ihrem Nuklearprogramm.Neue Raketen wurden getestet, und nahe derheiligen Stadt Ghom wurde eine weitere An-lage zur Urananreicherung publik. Unter Ex-perten besteht kein Zweifel mehr, dass derIran nach einer militärischen Nuklearoptionstrebt und diese vielleicht schon dieses Jahr inReichweite sein wird. 10 Zumindest wird Irandann ein „virtueller Nuklearstaat“ sein, derkeine Bombe vorhält, sie aber in kürzesterZeit bauen könnte. Im Ergebnis bedeutetdies, dass die iranische Führung Obamas aus-gestreckte Hand ausgeschlagen hat. 11

Die Regierung Obama reagiert darauf mitRatlosigkeit. Ähnlich wie in der israelischenSiedlungsfrage scheint es keinen feststehen-den alternativen Plan zu geben, wenn dieerste Initiative scheitert. Dies liegt zum einenan den zahlreichen parallelen Großprojekten,die keine Konzentration auf ein Problem er-lauben; zum anderen stellt das iranische Nu-klearprogramm eine besonders vertrackteHerausforderung dar. Denn eine Verhand-lungslösung wird immer unwahrscheinlicher.Das iranische Regime – und das gilt auch für„Oppositionelle“ wie Ahmadinejads betroge-nen Gegenspieler Hussein Moussawi – strebtnach einer (Über-)Lebensversicherung sowienach einer regionalen Vormachtstellung. Bei-des ist durch nichts so zuverlässig zu errei-chen wie durch die Atomwaffe. Es ist unklar,was die Vereinigten Staaten und die interna-tionale Gemeinschaft überhaupt in Verhand-lungen anbieten könnten, um die Attraktivi-tät der Bombe aufzuwiegen.

Der andere Weg wäre, den Iran davon zuüberzeugen, dass die nukleare Bewaffnungeben nicht attraktiv ist, sondern kostenträch-tig. Dem Iran muss verdeutlicht werden,dass der angestrebte Sicherheits- und Presti-gegewinn wesentlich kleiner ausfallen würdeals erwartet, da andere regionale Akteure(Saudi-Arabien, Ägypten, Türkei) wahr-scheinlich mit eigenen Rüstungsprogrammenreagieren würden. Zudem wäre die amerika-

nische Sicherheitsgarantie, die für einennichtnuklearen Iran schon jetzt zu greifenist, dann in weiter Ferne. Das würde auchschärfere internationale Sanktionen gegen-über dem Iran bedeuten – so politisch un-wahrscheinlich und unwirksam sie derzeitauch erscheinen mögen, weil sie von ver-schiedenen Akteuren (China, Russland, aberauch manchen EU-Staaten) unterlaufen wer-den. Nicht zuletzt bleibt die Drohung einesMilitärschlags: Eine mehrjährige Verzöge-rung des iranischen Nuklearprogrammsdurch einen präventiven Angriff halten vieleMilitärstrategen für möglich. 12 Allerdingswäre der damit verbundene Preis enorm:Iran würde in Afghanistan und Irak destabi-lisierend wirken, das Regime würde sich imnationalistischen Geist festigen und der in-ternationale islamistische Terrorismus er-hielte gewaltigen Zulauf. Von den politischenund materiellen Kosten einer solchen Maß-nahme für die geschwächten USA ist dabeinoch gar nicht die Rede.

Dieses Dilemma kreist um eine grundsätz-liche Frage: Wird das iranische Regime dieAtombombe einsetzen oder kann es davonzuverlässig abgeschreckt werden? AllerWahrscheinlichkeit nach sind die iranischenMachthaber rationale Akteure und werdendas eigene Land nicht der Vernichtung preis-geben, um Israel auszulöschen. Aber davonkann nicht mit absoluter Sicherheit ausgegan-gen werden – und wie will Obama die Israelisdazu bringen, sich auf diese existenzielleWette einzulassen anstatt den Präventivschlagzu riskieren? Und selbst wenn Frieden in Ab-schreckung zwischen Israel und dem Iranmöglich ist, hätte die Nuklearisierung desIrans Folgen für das Machtgleichgewicht inder Region. Wie kann dann eine destabilisie-rende Rüstungsspirale verhindert werden?Und welche Zukunft bliebe dem Atomwaf-fensperrvertrag und der internationalenNorm der Nichtverbreitung? Die RegierungObama hat bislang – ebenso wie ihre europäi-schen Verbündeten – auf keine dieser Fragenpraktikable Antworten gegeben. Die Zeit desStatus quo läuft unterdessen ab.

10 Vgl. Hans Rühle, Nuklearmacht Iran? Das Jahr derEntscheidung, in: Die Welt vom 8. 7. 2009, S. 5.11 Vgl. Richard Perle, The Open Hand, Slapped, in:The American Interest, 5 (2010) 3, S. 10–11.

12 Eine detaillierte Analyse der Option eines Präven-tivschlags (allerdings durch das israelische Militär)bieten Abdullah Toukan/Anthony H. Cordesman,Study on a Possible Israeli Strike on Iran’s NuclearDevelopment Facilities, 14. 3. 2009, online: http://csis.org/files/media/csis/pubs/090316_israeli-strikeiran.pdf (5.1. 2010).

27APuZ 9/2010

Schwäche der Ordnungsmacht

Die frustrierenden Beispiele des Friedenspro-zesses und des iranischen Nuklearprogrammszeigen, dass der Einfluss Amerikas in Nahostschwindet. Zumindest fällt es den USA nochschwerer als früher, Ergebnisse zu erreichen,die in ihrem Sinne sind. Ein Grund für dieSchwäche der Ordnungsmacht sind die gewal-tigen Belastungen, die mit dem Irakkrieg ein-hergingen. Insofern ist es nicht ohne Ironie,dass Obama gerade in der Irak-Politik einenseiner bislang größten Erfolge feiern konnte.Denn aufgrund des Strategiewechsels und derTruppenverstärkung, die Präsident Bush gegenden Widerstand der Demokraten durchgesetzthatte, sind in den vergangenen beiden Jahrendie Verluste amerikanischer Truppen um über80 Prozent gesunken. Das korrespondiert miteinem Rückgang der Anschläge und zivilenOpfer. Das erlaubte es Obama, in einer seinerersten Amtshandlungen sein Wahlversprecheneinzulösen und den schrittweisen Abzug ausdem Irak einzuleiten. In diesem Jahr soll er ab-geschlossen sein, wobei aber rund 50 000 US-Soldaten zum Schutz der demokratischen Ver-fassung in dem politisch immer noch fragilenStaat bleiben sollen. Zurecht unterstütztObama auf diese Weise die Entwicklung desIrak zu einer stabilen Demokratie – denn solchein islamischer Verbündeter wäre für die USAund den Westen insgesamt ein erheblicher stra-tegischer Zugewinn.

Gegenwärtig jedoch ist die strategische Si-tuation ernüchternd. Iran ist als eigentlicherSieger aus den Kriegen Bushs hervorgegangen:Befreit von den Gegnern im Irak und in Af-ghanistan ist der Weg zur regionalen Vormachtgeebnet. Israelis und Palästinenser haben sichvon Obama abgewendet und sind in ihren Po-sitionen verhärtet. Andere regionale Akteurehalten sich zurück, solange die USA so unbe-stimmt auftreten. Insgesamt wirkt die ameri-kanische Nahost-Politik ideenlos, das Landmachtpolitisch geschwächt und der Präsidentdurch die Vielzahl der internationalen und hei-mischen Herausforderungen abgelenkt. Zu-gleich wirkt der Einfluss anderer großer Mäch-te wie China und Russland auf die Region eherkontraproduktiv. Es ist Zeit für Europa, sichstärker in Nahost zu engagieren.

Michael Bröning · Henrik Meyer

ZwischenKonfrontationund Evolution:Parteien inPalästina

Unter den Bedingungen der anhaltendenQuasi-Staatlichkeit in den Palästinensi-

schen Gebieten kommt politischen Parteienfür gesellschaftliche unddiplomatische Prozesseeine Schlüsselrolle zu. InAbwesenheit funktiona-ler staatlicher Institutio-nen stellen diese eine derwenigen Möglichkeitendar, politische Partizipa-tion institutionalisiert si-cherzustellen. Palästinaist angesichts der seitdem Jahr 2007 bestehen-den Spaltung in Fatah-kontrollierte Westbankund Hamas-kontrollier-ten Gazastreifen grund-sätzlich von einem bipo-laren System geprägt. Die dominierendePosition beider Bewegungen zeigte sichdeutlich bei den jüngsten Wahlen zum Pa-lästinensischen Legislativrat (PLC) im Jahr2006. Hier konnten Fatah und Hamas ins-gesamt 119 von 132 Sitzen auf sich verei-nen. Die Hamas gewann mit 74 Sitzeneine Mehrheit. Die Bedeutung der beidenBewegungen wird auch in aktuellen Mei-nungsumfragen bestätigt, die von derFriedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenwurden: Diesen zufolge liegt die Zustim-mung zur Fatah derzeit bei rund 35 %,während die Hamas rund 18 % der Stim-men auf sich vereinen kann. Keine andereBewegung erfährt Unterstützung von mehrals 3,7 % der Wahlbevölkerung.

Michael BroningDr. rer. pol., geb. 1976; Vertreterder Friedrich-Ebert-Stiftungin den PalästinensischenGebieten; P.O. Box 25126,Ost-Jerusalem [email protected]

Henrik MeyerM.A., geb. 1982; wissenschaft-licher Mitarbeiter bei derFriedrich-Ebert-Stiftung inOst-Jerusalem (s.o.).

28 APuZ 9/2010

Eine Analyse der Parteienlandschaft in denPalästinensischen Gebieten sollte sich daherzunächst auf die beiden Bewegungen Fatahund Hamas konzentrieren. Dabei ist schoneingangs darauf hinzuweisen, dass wederFatah noch Hamas eindeutig als politischeParteien oder als politische Bewegungen zuverorten sind. Beide befinden sich in einemWandlungsprozess und weisen sowohl Bewe-gungs- als auch Parteicharakteristika auf.

Traditionell stark: Die Fatah

In ihrem Selbstverständnis ist die „Bewegungder nationalen palästinensischen Befreiung“,Fatah (Harakat al-Tahrir al-Watani al-Filas-tini), nach wie vor die einzige Organisation,die dem palästinensischen Volk zur Eigen-staatlichkeit verhelfen kann. Sie bezieht expli-zit Exilpalästinenser mit ein und kann in ihrerBedeutung nicht überschätzt werden. Diesnicht zuletzt, weil seit Beginn des Oslo-Pro-zesses der Chef der Fatah zugleich auch Prä-sident der Palästinensischen Autonomiebe-hörde (PA) und Vorsitzender der Palästinen-sischen Befreiungsorganisation (PLO) ist.Diese stellt offiziell nach wie vor den einzi-

gen legitimen Verhandlungspartner für Israelund die internationale Gemeinschaft dar.

Infolge der israelischen Besetzung des Gaza-streifens und der Westbank im Jahr 1967 ge-wann die Fatah unter der Führung Jassir Ara-fats an breiter Unterstützung. Unter Arafatverfolgte die Fatah einen bewaffneten Kampfgegen Israel – lange Zeit mit dem erklärtenZiel, das gesamte historische Palästina zu „be-freien“. Stand die Fatah ursprünglich für ge-waltsamen Kampf, so war sie in der Lage, mitder Teilnahme an den Friedensgesprächen inMadrid im Jahr 1991 die Zwei-Staaten-Lösungin der palästinensischen Bevölkerung konsens-fähig zu machen. Seither präsentiert die Fatahsowohl die Bereitschaft, eine politische Kom-promisslösung mit Israel auszuhandeln, alsauch den ständigen Kampf, dieses Angebotgegen interne Kritiker aufrechtzuerhalten.Unter ihrem Vorsitzenden Mahmud Abbas istsie von der Anwendung von Gewalt als politi-sches Instrument weitestgehend wenngleichnicht vollständig abgerückt.

Diese prinzipielle Festlegung der Fatah aufVerhandlungen hat der Bewegung zwar inter-nationale Anerkennung eingebracht, ihr jedoch

Abbildung: Organisationsaufbau der Fatah im Jahr 2010

wählt einen Teil der Mitglieder

entsenden Delegierte

wählt 18 Mitglieder

erteilt Anweisungen an

ernennt einen Teil der

Mitglieder

Zentralkomitee im Jahr 2010 • 21 Mitglieder • Generalsekretär:

Mohammed Ghneim • Exekutiv-Organ • Ernennt die Vertreter der

Fatah in der PLO

Revolutionsrat im Jahr 2010 • Z.Zt. 123 Mitglieder • Generalsekretär: Amin Maqboul • „Parlament“ der Fatah

Fatah-Beirat • Gründung auf dem 6. Generalkongress beschlossen • Ausgewählte ehem. Mitglieder von ZK und RR

Generalkongress • Höchste Entscheidungsinstanz • Tagung alle fünf Jahre (vorgesehen) • Im Jahr 2009 über 2000 Delegierte

Regionalkomitees • Entscheiden über die

Aufnahme neuer Fatah-Mitglieder

• Repräsentieren die Fatah in den Regionen

Militärische Kräfte • Al-Aqsa Märtyrerbrigaden • Tanzim • Führungsstruktur unklar

• Genauer Verteilungsschlüssel unklar

Vorsitzender

wählt

ernennt drei Mitglieder

• Mahmud Abbas

Quelle: Eigene Darstellung; beruht auf Interviews, die die Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2010 in der Westbankdurchführte.

29APuZ 9/2010

intern zugleich einen erheblichen komparativenNachteil zur Hamas beschert. Zum einen habenausbleibende Erfolge in den verschiedenenFriedensprozessen mit Israel den Grundansatzder Fatah zumindest partiell delegitimiert. Zumanderen haben die Staatsambitionen der Fatahdie Entwicklung einer breiten politisch-pro-grammatischen Identität der Partei deutlich er-schwert. Bis heute steht die Fatah vor allem fürnationale Befreiung durch Verhandlungen,nicht für Politikfeldkompetenz. Zwar ist sie as-soziiertes Mitglied der Sozialistischen Interna-tionalen (SI); sie mittels klassischer rechts-links-Rhetorik im politischen Spektrum zu ve-rorten, ist aber nahezu unmöglich.

Nach 20 Jahren: Der 6. Generalkongress

Deutlich wurde dies jüngst auf dem lange er-warteten und immer wieder verschobenen 6.Generalkongress der Fatah, der im August2009 in Bethlehem stattfand. Obwohl die Be-wegung in den Oslo-Folgejahren zunächsteine nahezu unangreifbare politische Domi-nanz in den Palästinensischen Gebieten ge-noss, verlor sie in den späten 1990er JahrenLegitimität und Unterstützung. Die undurch-sichtige Verquickung von PA, PLO undFatah ließ die Partei in Teilen der Bevölke-rung als Synonym von Korruption und Vet-ternwirtschaft erscheinen. Über die PA mitZugängen zu erheblichen Machtressourcenversehen, sträubten sich etablierte Entschei-dungsträger gegen jedwede Veränderung desStatus quo. Im Gleichschritt mit dem zum Er-liegen gekommenen Friedensprozess ver-harrte die Fatah fortan in Stagnation. Partei-gremien tagten nicht oder nur unregelmäßig.Inhaltliche Debatten fanden nicht statt.

Der institutionelle Stillstand der Fatahkonnte weder durch den Tod Arafats im Jahr2004 noch durch die Abhaltung von Präsident-schafts- und Legislativratswahlen in den Jahren2005 und 2006 durchbrochen werden, in denendie Fatah massive Verluste hinnehmen musste.Möglicherweise als Vorleistung an die ambitio-nierten Friedenspläne des US-Präsidenten Ba-rack Obama war es dann jedoch MahmudAbbas, der überraschend führungsstark denReformstau zu durchbrechen begann. Im ver-gangenen August rief er 2500 Delegierte zum 6.Generalkongress der Fatah nach Bethlehemund überraschte und verärgerte damit gestan-dene Parteigrößen vor allem im Exil.

Das wichtigste Ergebnis war eine personelleErneuerung der Fatah. Zentralkomitee (ZK)und Revolutionsrat (RR) wurden neu besetzt.So konnten z. B. nur vier der 21 ZK-Mitgliederihren Sitz im Exekutivorgan der Fatah verteidi-gen. 1 Die sogenannte „alte Garde“ der Fatahwurde zum größten Teil ins politische Abseitsgedrängt. Dies hing zum einen mit deren dubio-ser Leistungsbilanz zusammen, erscheint zumanderen aber auch als Reflexion der in den ver-gangenen 20 Jahren massiv veränderten Macht-realitäten in der Bewegung. VerschiedeneMachtblöcke, die sich um die prominentenKöpfe Mahmud Abbas, Mohammed Dahlanund Jibreel Rajoub gruppieren, dominieren nundie Institutionen. Der in Israel inhaftierte Mar-wan Barghouti erhielt zwar viel Zustimmungund erzielte ein gutes Ergebnis bei seiner Wahlins ZK, konnte jedoch keine seiner Gefolgsleutein wichtige Positionen bringen.

Inhaltlich-programmatisch setzte sich dabeieindeutig der pragmatische Flügel durch. Na-hezu alle Mitglieder des ZK und RR waren be-reits an Verhandlungen mit Israel beteiligt undstehen für den pragmatischen, ausgehandeltenZwei-Staaten-Ansatz. Die Vertreter des ge-waltsamen Widerstands, häufig im Exil, wur-den hingegen marginalisiert. Das formaleFesthalten am Recht des bewaffneten Wider-stands gegen die israelische Besatzung im ver-abschiedeten Programm des Parteitages än-dert hieran – trotz teils heftiger Reaktionenaus dem Ausland und vor allem aus Israel –nur wenig. In ihrem Abschlussdokumentspricht sich die Fatah eindeutig für Verhand-lungen aus. Andere Taktiken gelten hier ledig-lich als Fallback-Optionen. „Wir haben einRecht auf Widerstand, aber wir wählen denFrieden“, verkündete Abbas.

Diese Aussagen zur Konfliktlösung warenzugleich die einzigen politisch gehaltvollenAussagen auf dem Generalkongress. Hinweisezur politischen Vision der Fatah, gar zu einzel-nen Politikfeldern, sucht man in allen Doku-menten vergeblich. Die schwierige Einordnungin Kategorien von Links und Rechts bleibtdaher bestehen – und damit auch die Frage nachihrer politisch-ideologischen Identität. Derschwierige zweite Schritt nach dem Kongress

1 Vgl. Michael Bröning/Henrik Meyer, Neugeburt inBethlehem. Die Fatah und der 6. Generalkongress2009, online: www.fespal.org/common/pdf/Fatahkon-gress.pdf (25. 1. 2010).

30 APuZ 9/2010

steht der Fatah erst noch bevor. 2 In diesemwird es nicht nur darum gehen, die eigene pro-grammatische Identität zu gestalten, sondernauch in Anerkennung politischer Realitäteneine Neupositionierung zur konkurrierendenHamas und deren De-facto-Regierung im Ga-zastreifen vorzunehmen. Die Fatah zehrtimmer noch von ihrem Mythos als gesamtpalä-stinensische Befreiungsbewegung und mussder ernst zu nehmenden Gefahr eineslangfristigen Legitimitätszerfalls wirksam be-gegnen. Ein Voranschreiten im Innern wieauch im Friedensprozess mit Israel kann nurgelingen, wenn sich die Fatah mit der Hamasins Benehmen setzt – und hierbei von externenAkteuren unterstützt wird.

Siegeszug der Hamas

Die Islamische Widerstandsbewegung Hamas(Harakat al-Muqawamat al-Islamiyah) ineinem Beitrag zur Parteienlandschaft der pa-lästinensischen Gebiete zu behandeln, wirfteine Reihe von Widersprüchen auf. Ähnlich wiebei der Fatah wird die Kategorie Partei demPhänomen Hamas konzeptionell kaum gerecht.Die Hamas versteht sich seit der Gründungdurch Ahmed Jassin im Jahre 1987 grundsätz-lich als „Palästinensischer Arm der Muslimbru-derschaft“, die von Ägypten ausgehend in zahl-reichen Ländern der Region über bedeutendenEinfluss verfügt. So klar die Gründung der Be-wegung vor dem Hintergrund der ersten Intifa-da zu definieren ist, so unscharf präsentiert sichdie Hamas dagegen in der Gegenwart. Was istdie Hamas im Jahre 2010? Eine irrationale undantisemitische Terrororganisation, die sich dieZerstörung Israels und die Errichtung eines is-lamischen Kalifats im historischen Palästina zurAufgabe gestellt hat? Eine sozio-kulturelle isla-mische Caritas, die durch Bereitstellung vonSozialdiensten Funktionen erfüllt, die derQuasi-Staat der PA nicht umzusetzen vermag?Eine staatstragende religiös-konservative politi-sche Partei, die sich erfolgreich an Kommunal-und Parlamentswahlen beteiligt hat und heutenicht nur in zahlreichen Städten und Gemein-den, sondern auch im Gazastreifen die staatli-che Verwaltung von rund einem Drittel allerPalästinenser umsetzt?

Doch nicht nur konzeptionell, auch geogra-phisch ist die Hamas schwer zu fassen. Wo

schlägt das Herz der Bewegung: in den Flücht-lingslagern der Westbank, in denen sich vomOslo-Prozess enttäuschte Aktivisten funda-mentalistischen Widerstandsphantasien hinge-ben? In israelischen Hochsicherheitsgefängnis-sen, in denen Hamas-Aktivisten ihre Zellen mitden eigentlich verfeindeten Fatah-Häftlingenteilen und von dort aus den öffentlichen Dis-kurs Palästinas immer wieder mit Zwischenru-fen anreichern? Im syrischen Exil, in dem sichder „Chef des Politbüros“ Khaled Mashal alspolitischer Vetospieler geriert? In Hinterzim-mern des Regimes in Teheran, das der Hamaserhebliche Finanzmittel zukommen lässt? Oderdoch im bescheidenen Wohnhaus des De-facto-Gaza-Ministerpräsidenten Ismail Haniyeh, derim dicht bevölkerten Küstenstreifen seit 2007eine Gegenregierung zu Premierminister Sa-laam Fayyad unter PalästinenserpräsidentAbbas im Westjordanland unterhält und nachwie vor international boykottiert wird?

Die Hamas ist derzeit am ehesten als eine Be-wegung im Wandel zu begreifen, die prinzipiellzwischen den umrissenen Polen des bewaffne-ten Kampfes, der karitativ-sozialen Arbeit undder formalen Partizipation am politischen Pro-zess als Partei oszilliert. Hierbei hat die Hamasjüngst an zahlreichen neuralgischen Punkten er-hebliche Veränderungen durchlaufen. Diesesind letztlich als Entwicklungstrend in Rich-tung realpolitischer Pragmatismus zu verste-hen. Zum Teil sind diese Reformen politisch ge-wollt und bewusst vorangetrieben, zum Teil alsReaktion auf äußere Zwänge zu begreifen. Somusste die Hamas ihre karitative Arbeit in derWestbank unter der von PremierministerFayyad geleiteten PA mittlerweile fast vollstän-dig einstellen, während sie seit Übernahme desGazastreifens ihre politischen state-building-Ambitionen nunmehr offen umsetzen kann.Die Übernahme des Gazastreifens ist dabei eineinmaliger Vorgang, der auch regional einenSonderfall darstellt und erheblichen Einflussauf die Hamas als Bewegung ausübt. 3 VonSelbstmordanschlägen hat sie bereits im Jahr2005 Abstand genommen, verfügt nunmehr je-doch im Gazastreifen über zumindest partiellprofessionalisierte Streitkräfte. Gemeinsam istdiesen Veränderungen, dass sie vor dem Hinter-grund der gewaltsamen Eskalationen des ver-gangenen Gaza-Krieges auf internationaler

2 Vgl. International Crisis Group, Palestine: SalvagingFatah, Middle East Report, Nr. 91 vom 12. 11. 2009.

3 Vgl. Michael Bröning/Henrik Meyer, Halb zog essie, halb sank sie hin, in: Internationale Politik, 64(2009) 9/10, S. 30–38.

31APuZ 9/2010

Ebene bislang kaum wahrgenommen wurden. 4

In Bezug auf diese Weiterentwicklungen ist je-doch unklar, inwiefern und wie lange sie vordem Hintergrund der anhaltenden Blockadedes Gazastreifens von der Hamas aufrechter-halten und beibehalten werden können. Klarscheint dabei, dass der internationale Boykottder Bewegung sowie die Isolation des Küsten-streifens die kompromissbereiteren Kräfte in-nerhalb der Hamas langfristig schwächen.

Was will die Hamas?

Westliche Beobachter beziehen sich in ihrerBeurteilung der Hamas immer wieder auf diesogenannte „Hamas Charta“ aus dem Jahr1988, in der die Bewegung augenscheinlichihre politische Programmatik und ihren Anti-semitismus offen präsentiert. Die Charta wirddabei in der Regel als Gründungsdokumentder Hamas bezeichnet, welche die „Befreiung“des gesamten historischen Palästinas durch be-waffneten Kampf als Ziel definiert, Verhand-lungen als „Zeitverschwendung“ zurückweist,Gesamtpalästina als niemals zu teilendes isla-misches Erbe begreift und dem Staat Israeljede Daseinsberechtigung abspricht. In Bezugauf diese politische Agenda der Hamas Charta,aber auch auf die das Dokument durchziehen-den antisemitischen Verschwörungstheorien,werden Versuche der kritischen Einbindungder Hamas immer wieder als illusorisch oderdefätistisch zurückgewiesen. Obwohl eine sol-che Bewertung im Hinblick auf die Charta ge-rechtfertigt erscheinen mag, lässt sie bedeuten-de jüngere Entwicklungen außer Acht. Derzeitfinden sich keinerlei aktuellen Erklärungen derHamas, die auf die Charta verweisen oder poli-tisches Handeln durch Verweis auf das Doku-ment rechtfertigen. 5

Aufschlussreicher für die Gegenwart er-scheinen aktuellere Politikkonzepte derHamas, die entgegen verbreiteter Annahmendetailliert vorliegen. Zu verweisen ist hieretwa auf das Hamas Wahlprogramm aus demJahr 2005, den Programmentwurf für eine pa-

lästinensische Koalitionsregierung aus demJahr 2006 sowie das Grundlagenpapier desHamas-Kabinetts vom März 2006. Eine Ana-lyse dieser Politikentwürfe macht eine Weiter-entwicklung der politischen Agenda derHamas deutlich, die in ihrer Bedeutung kaumzu überschätzen ist. Während die HamasCharta noch martialisch zum Kampf aufrief,bis „das Banner Allahs über jeden Zentimetervon Palästina aufgepflanzt wird“, bezieht sichdas rund 20-seitige Wahlprogramm von 2005nur noch an zwei Stellen auf „militärische Ak-tionen“ gegen Israel und das Konzept des be-waffneten „Widerstandes“ (Artikel 1 und 8).16 Absätze thematisieren dagegen bildungs-politische Fragen, Verwaltungsreformen undBürgerrechte, legen zugleich jedoch auch fest,dass die „islamische Scharia die wichtigsteQuelle der Gesetzgebung in Palästina sein“soll. Gemeinhin charakterisiert dieses Wahl-programm eine erste Neuorientierung derHamas in Richtung einer politischen Partei.

In der Praxis wurde dieser Wandlungspro-zess mit der Entscheidung zur Teilnahme anden Wahlen zum PLC im Jahr 2005 untermau-ert. Noch im Jahr 1996 hatte die Hamas dieWahlen als faktische Anerkennung des Oslo-Prozesses boykottiert. Eine Fortsetzung fanddiese programmatische Weiterentwicklung imProgrammentwurf für eine Koalitionsregie-rung aus dem Jahr 2006. In diesem hatte sichdie Hamas erfolglos bemüht, die unterlegeneFatah für eine gemeinsame Regierungsüber-nahme in den Palästinensergebieten zu gewin-nen. In 40 Artikeln weitet der Entwurf inhalt-lich durch Diskussion der „Rolle von Berufs-genossenschaften und Gewerkschaften“(Artikel 23) sowie der „Zivilgesellschaft“ (Ar-tikel 22) den politischen Horizont der Bewe-gung und verzichtet nahezu gänzlich auf kom-promisslose Widerstandsrhetorik im Geisteder Charta. An diese inhaltlichen Entwicklun-gen anschließend präsentierte Ministerpräsi-dent Haniyeh am 27. März 2006 schließlichein Regierungsprogramm, das unter anderemökonomische Fragestellungen freier Markt-wirtschaft erörtert sowie „notwendige Anrei-ze und Garantien für Auslandsinvestitionen“ankündigt, da diese eine „Kernsäule nachhal-tiger Entwicklung“ darstellen.

Der Rückgriff auf diese Politikentwürfekann sicherlich nicht den Beweis dafür erbrin-gen, dass die Hamas nunmehr den Entwick-lungsprozess hin zu einer rein an Sachfragen

4 Vgl. Michael Bröning, Hamas 2.0. The Islamic Resi-stance Movement Grows Up, in: Foreign Affairs (on-line), (2009) 8, online: www.foreignaffairs.com/ar-ticles/65214/michael-br%C3%83%C2%B6ning/hamas-20 (25. 1. 2010).5 Vgl. Paul Scham/Osama Abu-Irshaid, Hamas –Ideological Rigidity and Political Flexibility, UnitedStates Institute of Peace, Special Report 224, (2009) 6,S. 4 f.

32 APuZ 9/2010

interessierten demokratisch legitimierten Re-gierungspartei abschließend durchlaufen hat.Eine solche Einschätzung verhindert schondie mehr als gemischte Menschenrechtsbilanzin Gaza seit der Hamas-Machtübernahme. 6

Wohl aber zeigen die Dokumente das Ausmaßder Professionalisierung im politischen An-spruch der Bewegung, die das Element des be-waffneten Widerstandes nunmehr zumindestdurch umfangreiche Politik- und Gesell-schaftsentwürfe kontextualisiert und faktischauch – zumindest bis auf weiteres – relativierthat. Politisch besonders relevant wird dieseEntwicklung durch die inhaltliche Genese derHamas in der Frage zur Positionierung gegen-über dem Staat Israel.

Im Mai 2009 trat der Chef des Politbürosin Damaskus an die Öffentlichkeit und ver-kündete ein faktisches Umschwenken derHamas auf die Errichtung eines Palästinen-serstaates in der Westbank und im Gazastrei-fen. „Unsere Minimalforderung ist die Grün-dung eines palästinensischen Staates mit vol-ler Souveränität in den Grenzen von 1967 mitJerusalem als Hauptstadt. Wir fordern eineBeseitigung aller Checkpoints und das Rechtauf Rückkehr der palästinensischen Flücht-linge“, erklärte Khaled Mashal. Haniyehhatte sich in Gaza kurz zuvor ähnlich positio-niert. Anders als in früheren Erklärungen ver-zichteten Haniyeh und Mashal auf jeden Ver-weis darauf, dass die Etablierung eines Palä-stinenserstaates in den Grenzen von 1967lediglich Bestandteil der Befreiung Gesamt-palästinas „in Phasen“ darstelle. Von Mashalwurde hierbei mittlerweile gar eine Waffenru-he (Hudna) von bis zu 100 Jahren in Aussichtgestellt. 7 Auch die Forderung nach einemRecht auf Rückkehr der Flüchtlinge ist letzt-lich politisch anschlussfähig, da sich diese Po-sition mit der offiziellen Haltung der PLOdeckt, mit der Israel seit Beginn des Oslo-Prozesses verhandelt.

Die hier zu beobachtende Neuorientierungin Richtung einer impliziten Koexistenz mitIsrael wird auch dadurch offenbar, dass dieHamas mittlerweile von radikaleren Gruppen

wegen ihrer angeblichen Kapitulation gegen-über dem „zionistischen Feind“ kritisiert undauch militärisch bekämpft wird. 8 Kompro-misslose Gruppen wie etwa die Hisb Al Tah-rir (Partei der Befreiung), der IslamischeJihad, die Jaish al Islam (Islamische Armee),die Jaish al Umma (Armee der Gemeinschaftder Gläubigen) haben vor allem in Gaza Zu-lauf gefunden. Im August des vergangenenJahres etwa endete eine Auseinandersetzungzwischen der obskuren Jund Ansar Allah(Soldaten der Gefährten Gottes) und derHamas-Polizei in Rafah mit 22 Toten.

Die Kritik von radikaleren Gruppen ist einGrund, weshalb von der Hamas auch in Zu-kunft eine formelle Akzeptanz des Existenz-rechtes Israels nicht zu erwarten ist. Sie er-klärt nicht zuletzt auch die Ansprache Ha-niyes in Gaza, in der er jüngst anlässlich des22. Jahrestages der Hamas-Gründung einenpolitischen Anspruch auf „ganz Palästina“zumindest rhetorisch auf der Agenda hielt. 9

Eine weitere Ursache für das Beharren derHamas auf der Nicht-Anerkennung Israels istdie Wahrnehmung, dass die Akzeptanz Israelseinen politischen Trumpf darstellt, der nichtvorzeitig ausgespielt werden darf. Aus derSicht der Hamas ist der kollabierte Oslo-Pro-zess, der mit der gegenseitigen Anerkennungder Konfliktparteien begann, ein Negativbei-spiel. So fragte Haniyeh jüngst rhetorisch:„In the past, Yasser Arafat recognized Israelbut failed to achieve much. Today, MahmoudAbbas recognizes Israel, but we have yet tosee any of the promised dividends of thepeace process.“ 10

Wer führt die Hamas?

Angesichts der anhaltenden internationalenIsolation und der Fortsetzung der sogenann-ten „targeted killings“ Israels gegen Entschei-dungsträger der Hamas erstaunt es nicht, dassdie Hamas ihre Organisationsstruktur stetsso intransparent wie möglich gehalten hat. Inder Öffentlichkeit hat sich angesichts derspärlichen Informationen eine simplistische

6 Vgl. Human Rights Watch, Under Cover of War:Hamas Political Violence in Gaza, (2009) 4, online:www.hrw.org/sites/default/files/reports/iopt0409web.pdf (25. 1. 2010).7 Vgl. Interview mit Khaled Mashal, in: Foreign Poli-cy, (2009) 1.

8 Vgl. Barak Mendelsohn, Hamas and Its Discontents.The Battle over Islamic Rule in Gaza, in: Foreign Af-fairs (online), (2009) 9, online: www.foreignaffairs.com/articles/65417/barak-mendelsohn/hamas-and-its-discontents (25. 1. 2010).9 Vgl. Fawaz A. Gerges, The Transformation of Ha-mas, in: The Nation vom 25. 1. 2010.10 New Statesman vom 17. 9. 2009.

33APuZ 9/2010

Wahrnehmung der Hamas-Führungsstrukturdurchsetzen können, die der Realität kaumgerecht wird. Regelmäßig findet sich hieretwa die These einer Dichotomie zwischen„Exil-“ und Inlands-Hamas, wobei letztere inder Regel als politisch „moderater“ charakte-risiert wird. 11 Der tatsächliche aktuelle Orga-nisationsaufbau der Hamas stellt sich hinge-gen komplexer dar und kreist um verschie-dene Machtzentren in Damaskus und Gaza,die jedoch nicht per se als „moderat“ oder„radikal“ kategorisiert werden können.

Da diese Entscheidungsstrukturen stetigenÄnderungen unterworfen sind, stellt sich dieFrage, an welcher Stelle das politische Mo-mentum der Bewegung derzeit besondersgroß ist. Angesichts der Etablierung derHamas im Gazastreifen als De-facto-Staats-partei scheint besonderes Gewicht derzeit aufden Entscheidungsträgern in Gaza zu liegen.Dieser Trend würde der grundsätzlichen Ent-wicklung innerhalb palästinensischer Grup-pen entsprechen, in denen die Exilführer

langfristig gegenüber den Entscheidungsträ-gern vor Ort an Einfluss eingebüßt haben. 12

Ungewiss: Versöhnung zwischenFatah und Hamas

Angesichts der Tatsache, dass die anhaltendeKonfrontation zwischen Fatah und Hamas dieinternationale Verhandlungsposition der Palä-stinenser erheblich schwächt, bemühen sichbeide Parteien seit langem – vor allem unterägyptischer Ägide – ihre Differenzen zu begra-ben. Ziel ist, Gaza sowie die A- und B-Zonender Westbank wieder unter die Kontrolleeiner Einheitsregierung zu stellen, die vonFatah und der Hamas unterstützt oder zumin-dest toleriert wird. Eine solche „NationaleVersöhnung“ wird dabei auch deshalb immerdringender, weil Fatah und Hamas ihre spätes-tens seit Januar 2010 abgelaufenen politischenMandate durch Wahlen nur dann überzeugenderneuern können, wenn sie sich auf einen ge-meinsamen Wahlablauf geeinigt haben. Trotzder Dringlichkeit ist mit einer raschen Über-

Abbildung: Organisationsaufbau der Hamas im Jahr 2010

Regionale Schura- und Verwaltungsräte • Zuschnitt unklar: insgesamt ca. 70 Regionen • „Regionen“ auch im Ausland und israelischen Gefängnissen • Übernehmen politische und religiöse Funktionen, karitative

und soziale Aufgaben sowie Medienarbeit

informiert und berichtet

wählt aus seinen Mitgliedern

auf lokaler Ebene vermutlich Einfluss auf

berichtet und legt Rechenschaft ab

entsenden jeweils einen Vertreter

Politbüro • Leitung: Khaled Mashal • Sitz in Damaskus ••

Ca. sieben bis neun Mitglieder Portfolios: Politisches, Militärisches, Sicherheit, Finanzen, Organisatorisches, Wohltätiges, Soziales, Medien, Internationale Beziehungen

Exekutiv-Komitee• Ca. 15 Mitglieder,

auf vier Jahre gewählt

wählt aus seinen Mitgliedern Schurarat

• Setzt politische Leitlinien • Muslimbruderschaft aus anderen

Staaten ohne Stimmrecht vertreten

erteilt Anweisungen an

Qassam-Brigaden • Operieren im

Untergrund • Befehlsstrukturen

unklar

führt vermutlich

Auslandsvertretungen • U.a. in Syrien, Libanon, Sudan, Jemen,

Iran • U.a. für Mittelakquise zuständig

Gaza-PA • Premierminister:

Ismail Haniyeh • Regiert Gaza • Kontrolliert alle PA-

Organe in Gaza

Gaza-Legislativrat • Umfasst die Hamas-

Mitglieder des PLC in Gaza

Sicherheitskräfte

tagt jährlich, abwechselnd in

erteilt Anweisungen an

• PA-Kräfte • Qassam-Brigaden in

Gaza z.T. integriert

Quelle: Eigene Darstellung; beruht auf Interviews, die die Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2010 in der Westbankund in Gaza durchführte.

11 Vgl. International Crisis Group, Gaza’s UnfinishedBusiness, Middle East Report Nr. 85 vom 23. 4. 2009,S. 12.

12 Vgl. Mohammad Bazzi, Inside Hamas’ PowerStructure, in: Miftah, (2006) 6.

34 APuZ 9/2010

windung der Spaltung nicht zu rechnen. Zwarhat die Fatah anders als die Hamas das vomägyptischen Verhandlungsführer Omar Suley-man unterbreitete Versöhnungsdokument öf-fentlichkeitswirksam unterzeichnet, eine Um-setzung der vereinbarten Schritte wäre jedochauch bei einem Einlenken der Hamas unwahr-scheinlich. Denn dies würde von Hamas undFatah die weitgehende Aufgabe ihrer jeweili-gen Machtmonopole verlangen. Hierzu jedochscheint keine der beiden Bewegungen derzeitbereit. Der die Gesamtregion durchziehendeKonflikt islamischer Protestakteure mit natio-nalistisch-säkularen Staatsmächten dürfte aufdie Palästinensischen Gebiete bezogen auf ab-sehbare Zeit auch weiterhin in einer geogra-phischen Spaltung münden.

Auf der Suche nach Alternativen

Die bestehende Dominanz von Fatah undHamas hat die Entwicklung weiterer Parteiennicht ausgeschlossen. Zu erwähnen sind hieretwa die „linken“ Parteien wie Demokrati-sche Front für die Befreiung Palästinas(DFLP), Partei des Palästinensischen Volkes(PPP) und die von der EU als Terrororganisa-tion gelistete Volksfront für die Befreiung Pa-lästinas (PFLP). Obgleich institutionell in derPLO vertreten, ist das Potenzial dieser Grup-pierungen begrenzt. Da sie in der Vergangen-heit stets die Fatah unterstützten, werden siezudem kaum als Alternative zum politischenEstablishment wahrgenommen.

Unzufrieden mit Fatah und Hamas grün-deten Intellektuelle wie Edward Said undMustafa Barghouti im Jahr 2002 die Palästi-nensische Nationale Initiative (Al-Mubadara)als linksliberale Alternative. Obwohl inhalt-lich ausdifferenziert, konnte Al-Mubadaradie Erwartungen als Partei bislang nur teil-weise erfüllen. Zwar konnte ihr VorsitzenderBarghouti bei den vergangenen Präsident-schaftswahlen 19 % auf sich vereinen, schnittbei den Parlamentswahlen jedoch bescheide-ner ab. Faktisch wirbt die Partei mit demKonzept des gewaltlosen Widerstandes umWähler, die sich weder für Hamas noch fürFatah aussprechen möchten und agiert in derDichotomie zwischen Hamas und Fatahimmer wieder auch als Vermittler.

Michaela Birk · Ahmed Badawi

Bedeutung undWandel derArabischenFriedensinitiative

Die Arabische Friedensinitiative (im Ori-ginal: Arab Peace Initiative, API)

wurde von der Arabi-schen Liga im März2002 verabschiedet. DieInitiative beinhaltet dasAngebot, dass, solltesich Israel auf die Gren-zen von 1967 zurück-ziehen und einen unab-hängigen palästinensi-schen Staat mit Ost-Jerusalem als Haupt-stadt anerkennen, diearabischen Staaten zur„Normalisierung“ ihrerBeziehungen mit Israelbereit seien. Zudem for-dert sie eine Lösung derFlüchtlingsfrage in Übereinstimmung mit derUN-Resolution 194. Die API ist kein Frie-densplan und sie als „Initiative“ zu bezeich-nen könnte missverständlich sein. Sie ist ehereine Absichtserklärung – wenn auch eine sehrbedeutsame – und gilt als eine der wichtigstenarabischen Erklärungen seit der GründungIsraels im Jahr 1948. 1

Obwohl die Initiative einen umfassendenund dauerhaften Frieden im Nahen Ostenverspricht, hat sie Israel bislang nicht dazubewegen können, die Besetzung der arabi-schen Gebiete zu beenden und der Gründungeines lebensfähigen palästinensischen Staateszuzustimmen. Zwar haben viele Stimmen ausder arabischen Welt in den vergangenen Mo-

Michaela BirkDipl. Pol., geb. 1964; Geschäfts-führerin, Transform e.V. – Zen-trum für Konfliktanalyse, Politi-sche Entwicklung und Weltge-sellschaftsforschung, Imma-nuelkirchstr. 10, 10405 [email protected]

Ahmed BadawiMSc., geb. 1967; Berater,Nahost-Team bei der OxfordResearch Group, London;Direktor, Transform e.V. (s.o.)[email protected]

Übersetzung aus dem Englischen von Orhan Günden,Bonn.1 Vgl. Alon Ben Meir, Israel and the Arab Peace In-itiative, in: Journal of Peace, Conflict and Deve-lopment, 14 (2009).

35APuZ 9/2010

naten dazu aufgerufen, die API zurückzuzie-hen. Jedoch sind solche Aufrufe eher als Aus-druck der Frustration über Israels Reaktionauf die API und die Fortsetzung seiner Poli-tik in den besetzten Gebieten zu verstehendenn als eine wirkliche Abkehr von den In-halten der Initiative. Denn im Grunde ist dieAPI nichts anderes als die kollektive Bekräfti-gung dessen, was von einzelnen Mitgliedstaa-ten der Arabischen Liga (AL) bereits aner-kannt und umgesetzt wurde. Vor diesem Hin-tergrund sind Aufrufe, die Initiativezurückzuziehen, vernachlässigbar.

Historischer Kontext der Initiative

Die API könnte als ein Zeichen dafür gewer-tet werden, dass die regierenden Eliten derwichtigsten arabischen Staaten von der Ge-schichte eingeholt wurden. Sie ist der Höhe-punkt einer Reihe von Veränderungen imstrategischen Denken der arabischen Führun-gen seit der Niederlage im Jahr 1967, als Is-rael drei arabische Armeen besiegte und Ost-Jerusalem, das Westjordanland, den Gaza-streifen, den Sinai sowie die Golanhöhen be-setzte. Es dauerte allerdings einige Jahre bisdie arabischen Staaten die militärische Über-legenheit Israels akzeptierten. So kam es zu-nächst im September 1967, also unmittelbarnach dem Ende des Sechs-Tage-Krieges, aufeinem arabischen Gipfeltreffen zum berühm-ten Beschluss der „drei Nein“: Nein zu einerAnerkennung Israels, Nein zu Verhandlun-gen mit Israel, Nein zu einem Frieden mit Is-rael.

In der Folgezeit verbreitete sich innerhalbder arabischen Welt allmählich das Einsehen,dass es zunehmend unrealistischer wurde, Pa-lästina gewaltsam zu befreien – insbesondereda abzusehen war, dass Israel weiterhin dieUnterstützung der USA genießen würde.Dieser als Durchbruch anzusehende neueDenkansatz wurde vom damaligen ägypti-schen Präsidenten Anwar Sadat und dem Vor-sitzenden der Palästinensischen Befreiungsor-ganisation (PLO) Jassir Arafat forciert. DerErfolg Sadats im Jahr 1979, den Kriegszu-stand mit Israel zu beenden und durch Diplo-matie den Sinai zurückzugewinnen, bekräf-tigte die Ansicht – zumindest unter denen,die ohnehin offen waren für eine gewaltfreieLösung –, dass Verhandlungen der vielver-sprechendere Weg seien.

Auch innerhalb der palästinensischen Füh-rung kam es zu einem strategischen Umden-ken. Die PLO unter dem Vorsitz Arafats ver-kündete im Jahr 1974 einen „Stufenplan“ fürdie Befreiung, die mit der Etablierung der Pa-lästinensischen Autonomiebehörde auf allenbefreiten Gebieten des historischen Palästinasihren Anfang finden sollte. Dies stellte eine,wenn auch implizite Abkehr vom ursprüngli-chen Ziel der PLO (Israel zu vernichten undganz Palästina zu befreien) dar.

Im Jahr 1982 enthüllte Saudi-Arabien einenals „King Fahd“-Plan bekannt gewordenenVorschlag, der im Kern der späteren API sehrähnelte. Im Jahr 1988 akzeptierte die PLOschließlich die Resolution 242 des UN-Sicher-heitsrates und schwor offiziell der Gewalt wieauch dem bewaffneten Kampf ab. Mit der Frie-denskonferenz von Madrid im Jahr 1991 starte-ten bi- und multilaterale Verhandlungen undzwei Jahre später kam es schließlich zum be-rühmten Händedruck zwischen Yitzhak Rabinund Jassir Arafat auf dem Rasen des WeißenHauses, gefolgt von der Unterzeichnung einesFriedenvertrages zwischen Israel und Jordanienim Jahr 1994. Diese Ereignisse, die sich übereine Zeitspanne von 20 Jahren erstrecken, tru-gen zur Anerkennung des Existenzrechts Israelsin den arabischen Staaten bei.

Das Besondere an der API ist, dass die re-gierenden Eliten von so unterschiedlichenStaaten wie Syrien, Katar oder Algerien,neben Ägypten, Jordanien, der Palästinensi-schen Autonomiebehörde (PA) und anderenMitgliedstaaten der AL sich erstmals offiziellfür das Prinzip „Land für Frieden“ ausspre-chen. In der arabischen Welt ist – zumindestauf Ebene der offiziellen Außenpolitik –längst keine Rede mehr von der „Befreiungganz Palästinas“. Inhaltlich birgt die APIkeine substanziellen Neuerungen. Im Grun-de ist sie eine gemeinsame Erklärung derAL-Mitglieder, in der sie das bekräftigen,was sie als Einzelstaaten in bilateralen Ver-handlungen mit Israel bereits anerkannten.Daher kann man sich die Frage stellen, wes-halb diese Erklärung ausgerechnet im Jahr2002 abgegeben wurde und nicht vor odernach diesem Zeitpunkt. Der unmittelbareKontext, der zur Verkündung der APIführte, deutet darauf hin, dass sie in ersterLinie für die internationale Staatengemein-schaft gedacht war und sich nur in zweiterLinie an Israel richtete. Um dies zu verdeut-

36 APuZ 9/2010

lichen, ist es hilfreich, zunächst die RolleSaudi-Arabiens zu beleuchten.

Saudi-arabische Initiative

Die API wurde erstmals in Thomas Fried-mans Kolumne in der New York Times imFebruar 2002 erwähnt. 2 Im darauf folgen-den März sollte in Beirut ein Gipfeltreffender AL stattfinden. Weit oben auf der Ta-gesordnung stand die sich zunehmend ver-schlechternde Lage in den besetzten Gebie-ten infolge der zweiten Intifada. Friedmanstellte die Frage, weshalb die Araber nichteinfach erklärten, das Existenzrecht Israelsanerkennen und mit Israel normale Bezie-hungen etablieren zu wollen, wenn es sichaus den Gebieten zurückziehe. Daraufhinerhielt Friedman eine Einladung nach Saudi-Arabien, wo Kronprinz Abdullah von seinerAbsicht erzählte, den arabischen Vertreternin Beirut exakt dies vorschlagen zu wollen:Die arabische Welt solle Israel im Gegenzugfür seinen Rückzug aus den im Jahr 1967besetzten Gebieten eine Normalisierung derBeziehungen anbieten.

Die Entscheidung der Saudis, diese Exklu-sivmeldung durch einen amerikanischen Ko-lumnisten verkünden zu lassen, ist vor fol-gendem Hintergrund von Relevanz: Kurznach den Anschlägen am 11. September 2001– bei denen 15 der 19 Flugzeugentführer sau-dische Staatsbürger mit Verbindungen zu al-Qaida waren – geriet Saudi-Arabien unterenormen Druck seitens der USA. Die API –damals auch „Abdullah Plan“ oder „saudi-sche Friedensinitiative“ genannt – konntedaher als Versuch Saudi-Arabiens und ande-rer „gemäßigter“ arabischer Staaten wieÄgypten und Jordanien gewertet werden, dieSpannungen mit den USA abzubauen.

Ein weiterer Faktor, der zum besseren Ver-ständnis der Umstände beiträgt, die zur Ver-kündung der API führten, ist die im Septem-ber 2000 ausgebrochene zweite Intifada mitblutigen Folgen für Israelis und Palästinenser.Das Scheitern des Oslo-Abkommens sowieüber arabisches Satellitenfernsehen verbreite-te Bilder leidender Palästinenser nährten beiden arabischen Führern Ängste vor einer De-stabilisierung ihrer Regime und drohten ihreLegitimität und Glaubwürdigkeit zu erschüt-

tern. Daher versuchten sie sich als Unterstüt-zer der Palästinenser zu präsentieren undDruck auf die Regierung Ariel Scharons aus-zuüben, um im Gegenzug für normale Bezie-hungen mit der gesamten arabischen Welteine friedliche Regelung des Konfliktes zu er-reichen.

Der Text der Initiative musste einige Ver-änderungen durchlaufen, ehe ihr Syrien undLibanon zustimmten. Syrien erhob Einwän-de gegen die Bezeichnung „Normalisierung“(der Beziehungen) und ersetzte diese mitdem Ausdruck, die arabischen Staaten woll-ten „(. . .) im Rahmen dieses umfassendenFriedens normale Beziehungen zu Israel auf-bauen“. 3 Zudem bestanden beide Staatendarauf, dass nicht nur der Rückzug Israelsaus den palästinensischen Gebieten gefordertwerden sollte, sondern aus allen besetztenarabischen Gebieten – einschließlich der sy-rischen Golanhöhen und eines kleinen, unge-fähr 22 Quadratkilometer großen, umstritte-nen Landstückes im Südlibanon, das als„Schebaa-Farmen“ bekannt ist. Die Beset-zung der Schebaa-Farmen wird von der His-bollah immer wieder als Vorwand benutzt,um ihre Entwaffnung abzulehnen oder Ver-geltungsanschläge in Nordisrael zu verüben.Eine Lösung für die Schebaa-Farmen istdaher ein entscheidendes strategisches Zieljeder libanesischen Regierung, die das eigeneGewaltmonopol festigen und Milizen ent-waffnen will. Auch wehrte sich der Libanonvehement gegen jede Vorlage, in der nichtexplizit die Repatriierung der palästinensi-schen Flüchtlinge im Libanon erwähntwurde. Dennoch stimmten beide Staatennach intensiven Verhandlungen und Druckseitens Ägypten und Saudi-Arabien folgen-der Formulierung zu: „Die Arabische Ligaruft Israel dazu auf, sich für (. . .) das Errei-chen einer gerechten und abgestimmten Lö-sung für das palästinensische Flüchtlingspro-blem in Übereinstimmung mit der UN-Re-solution 194 einzusetzen.“ 4

Im Juni 2002 wurde sie von allen 57 Mit-gliedern der Organisation der IslamischenKonferenz (OIK), einschließlich des Iran, an-

2 Vgl. The New York Times vom 2. 2. 2002.

3 Die Endversion der auf dem Gipfel in Beirut verab-schiedeten Initiative sowie die in Vorbereitung desGipfels diskutierte Version sind online: www.al-bab.com/Arab/docs/league/peace02.htm (1. 2. 2010).4 Ebd.

37APuZ 9/2010

genommen. Die iranische Regierung standdamals unter der Führung des moderaten undreformorientierten Präsidenten MohammadKhatami. Er wurde im Jahr 2005 vom Hardli-ner Mahmud Ahmadinedschad abgelöst. ImLaufe eines Staatsbesuches im Jahr 2007 inRiad wurde zwar von den saudi-arabischenMedien berichtet, dass auch Präsident Ahma-dinedschad der API seine Unterstützung aus-gesprochen habe. Jedoch wurde diese Nach-richt umgehend von hochrangigen iranischenRegierungsmitgliedern dementiert. Offiziellunterstützen jedoch weiterhin alle OIK-Mit-glieder die von Saudi-Arabien lancierte Initia-tive. Diese Position wurde selbst im Mai 2009– also kurz nach dem verheerenden Gaza-Krieg – bekräftigt. Vor diesem Hintergrundist die offizielle israelische Reaktion auf dieAPI, die sich anfangs in Ablehnung und an-schließend in Ambivalenz äußerte, umso irri-tierender.

Polarisierung in der arabischen Welt

Seit der Verkündung der Initiative im Jahr2002 haben sich die Rahmenbedingungen imNahen Osten erheblich verändert. Dazu tru-gen der Tod Arafats im Jahr 2004 und das dar-auf folgende Machtvakuum in den palästinen-sischen Gebieten bei, der Krieg zwischen Is-rael und der Hisbollah im Jahr 2006 sowieder Krieg zwischen Israel und der Hamas imGazastreifen. Diese Ereignisse vor dem Hin-tergrund ausbleibender Fortschritte beimFriedensprozess haben unter den arabischenEliten zu einer erneuten Polarisierung zwi-schen „Gemäßigten“ und „Hardlinern“ ge-führt. Das gemäßigte, moderate Lager um-fasst die PA sowie Ägypten und Jordanien,die diplomatische Beziehungen zu Israel un-terhalten, wie auch Saudi-Arabien. Sie allehaben strategische Beziehungen zu den USA.Dem steht das „Lager der Hardliner“ mitHamas, Syrien und seit kurzem auch das vomIran unterstützte Katar gegenüber.

Das Beispiel Syriens zeigt, wie sich die Ein-stellung gegenüber der API bei den „Hardli-nern“ veränderte. Da es im Nahen Osten ohneÄgypten kein Krieg gegen Israel und ohne Sy-rien kein Frieden mit Israel geben kann, ist diesyrische Unterstützung für die Initiative vonenormer Bedeutung. Als die API im Jahr 2002verkündet wurde, war Syriens Präsident Bas-har Assad gerade einmal zwei Jahre im Amt.

Seit seinem Amtsantritt entwickelte sich einenges Verhältnis zwischen ihm und dem ägyp-tischen Präsidenten Husni Mubarak sowie dersaudischen Königsfamilie, was wesentlichdazu beitrug, die syrischen Einwände gegendie API zu überwinden. Jedoch verschlechter-ten sich diese mit der Ermordung des populä-ren libanesischen Ministerpräsidenten RafiqHariri im Februar 2005, für die der syrischeGeheimdienst verantwortlich gemacht wird.Diese Ereignisse, gekoppelt mit Syriens anhal-tender Unterstützung für die Hamas und His-bollah, sowie seine strategische Allianz mitdem Iran führten dazu, dass sich die Regie-rung Assads allmählich vom gemäßigten ara-bischen Lager distanzierte.

Ein weiteres Beispiel für die Polarisierunginnerhalb der arabischen Staatengemeinschaftist der Sondergipfel der AL im Januar 2009.Katar drängte auf seine Einberufung als Aus-druck der Solidarität mit den Palästinensern,was von Ägypten und Saudi-Arabien abge-lehnt wurde. Beide Staaten erklärten, dass derohnehin anstehende Wirtschaftsgipfel in derdarauf folgenden Woche in Kuwait ausreiche,um auf den israelischen Angriff auf Gaza zureagieren. Allerdings kann auch von anderenBeweggründen Ägyptens und Saudi-Arabiensausgegangen werden: Zum einen stehen beideLänder Katar aufgrund der kritischen Bericht-erstattung des dort angesiedelten Nachrichten-senders Al-Jazeera ohnehin mit großem Miss-trauen gegenüber. Hinzu kommt, dass beideaufgrund ihrer politischen Nähe zu den USAzurückhaltend gegenüber Sondergipfeln inKrisenzeiten sind, da diese üblicherweise instark emotionalisierten und populistischen Er-klärungen gipfeln. Sie dienen oft dazu, zornigeund aufgebrachte arabische Massen zu besänf-tigen, können jedoch gleichzeitig zu großerVerlegenheit vis-à-vis den USA führen. So ent-puppte sich auch der trotz allem einberufeneSondergipfel in Doha als Treffpunkt arabischerund nicht-arabischer Hardliner; auch der Irannahm mit einer von Präsident Ahmadined-schad persönlich geleiteten Delegation teil.

In seiner Rede auf diesem Gipfel erklärteAssad die Arabische Friedensinitiative fürtot. Es folgten verbale Schlachten quer durchdie arabische Welt und Assad erntete harscheKritik aus dem moderaten Lager. Ein palästi-nensischer Berichterstatter warf ihm Populis-mus und kurzsichtige Interessen vor; es seiunmöglich von einem „Tod“ der Initiative zu

38 APuZ 9/2010

sprechen, da sie im Kern international aner-kannte Normen einhalte, die bereits von allenarabischen Staaten, so auch Syrien, akzeptiertworden seien. 5

Position der Palästinenser

Die API genießt die volle Unterstützung derPA und ihres Präsidenten Mahmud Abbas.Ihnen ist durchaus bewusst, dass die Unter-stützung der anderen arabischen Staaten pri-mär auf Eigeninteressen beruht. Doch bietetihnen die API einen diplomatischen Schutz-schirm sowie eine dringend benötigte Stützefür ihren diplomatischen Kampf auf interna-tionaler Ebene.

Sowohl die PA als auch die PLO bemühensich daher proaktiv um internationale und is-raelische Unterstützung für die API. So hatdie Palästinensische Autonomiebehörde ineinem bislang beispiellosen Schritt Werbun-gen in israelischen Tageszeitungen 6 sowie derWashington Post 7 geschaltet. Auch auf derWebseite der PLO finden sich ausführlicheInformationen zum Inhalt und möglichenImplikationen der Initiative. 8

Im Gegensatz zu den von der Fatah domi-nierten PLO und Autonomiebehörde kann diePosition der Hamas bestenfalls mit „konstruk-tiver Ambivalenz“ umschrieben werden. Nocham Tag der offiziellen Verkündung der Initiati-ve verübten Mitglieder des militärischen Flügelsder Hamas ein Selbstmordattentat in Netanya,das in Israel als das „Pessach-Massaker“ be-kannt wurde und bei dem 20 Menschen getötetund über 100 verletzt wurden. Der damaligeHamas-Führer Scheich Ahmed Jassin erklärte,dass der Angriff dem arabischen Gipfel die Bot-schaft übermittelt habe, „dass das palästinensi-sche Volk den Kampf für das Land fortsetzenund sich weiterhin verteidigen wird, ganz gleichwelche Maßnahmen der Feind unternimmt“. 9

Das Pessach-Attentat und die folgende israeli-sche Wiederbesetzung des Gazastreifens unddes Westjordanlandes führten zu einer Eskalati-on der zweiten Intifada und die API geriet völ-lig in den Hintergrund.

Seitdem die API im März 2007 erneut be-kräftigt wurde, legt die Hamas eine zweideuti-ge Politik an den Tag. Viele ihrer Führer äu-ßern sich ablehnend, andere dagegen neutraloder sogar positiv. Hamas-Führer Ismail Ha-niyeh war beim Gipfel in Riad im April 2007anwesend und unterstützte die API insoweit,als er unterstrich, dass die Hamas die Initiativezwar nicht ablehne, zugleich aber keinerleiKompromisse beim Rückkehrrecht der paläs-tinensischen Flüchtlinge eingehen würde.

Hamas will ihre Positionen zur API erstdann offiziell festlegen, wenn die Initiativevon Israel akzeptiert wurde. Was Hamasheute schon akzeptiert, ist die in der API ge-äußerte Forderung nach einem palästinensi-schen Staat auf den im Jahr 1967 von Israelbesetzten Gebieten. Zu den Streitpunkten ge-hören neben der Frage nach dem Rückkehr-recht der Flüchtlinge auch die in der Initiativeexplizit geforderte Anerkennung des StaatesIsrael – was ein innerhalb der Hamas kontro-vers diskutiertes Thema ist. Folgt man derherrschenden Meinung in den arabischenStaaten, wird sich die Hamas trotz allem imRahmen des arabischen Konsenses bewegen,sobald sich erste Erfolge bei der Implemen-tierung der API zeigen. Dies allerdings hängtvorrangig vom Verhalten Israels ab.

Israel und dieArabische Friedensinitiative

Die API bietet Israel das, was das Land seitseiner Gründung im Jahr 1948 anstrebt. VieleJahre lang war es Israels größter Wunsch, einsolches Angebot unterbreitet zu bekommen.Weshalb, so ließe sich fragen, reagiert Israelbislang zurückhaltend? Es scheint, dass die„dramatische Veränderung“ in der arabischenPosition von der israelischen Regierung ledig-lich „mit einem Gähnen“ quittiert wurde. 10

Zwar hat die israelische Regierung der Ini-tiative bis heute weder offiziell zugestimmtnoch lehnte sie sie ab, aber sie benannte

5 Vgl. Al-Arabiya online vom 19. 1. 2009, online:www.alarabiya.net/programs/2009/01/19/64525.html(20. 1. 2010).6 Vgl. Haaretz vom 24. 11. 2008.7 Vgl. The Washington Post vom 30. 5. 2009.8 Vgl. „Frequently asked questions on the Arab PeaceInitiative“ auf der Webseite des PLO NegotiationsAffairs Department, online: www.nad-plo.org/nego/pea ce/arabpea ce.pdf (20. 1. 2010).9 Zit. in: CNN online vom 27. 3. 2009, online: http://edition.cnn.com/2002/WORLD/meast/03/27/mideast(20. 1. 2010). 10 The New York Times vom 21. 2. 2002.

39APuZ 9/2010

Punkte, bei denen sie nicht zu Kompromissenbereit war, wie die palästinensische Flücht-lingsfrage und den Rückzug bis auf die Gren-zen von vor dem Sechs-Tage-Krieg. 11

Man könnte argumentieren, Israel begeheeinen historischen Fehler und seine Vorbehaltegegen die Initiative beruhten auf einer falschenInterpretation ihres Inhalts. So äußerten vieleisraelische Politiker ernste Zweifel an den Be-weggründen der AL. Ihrer Ansicht nach sinddie Bestimmungen der API – die Anerkennungdes „Land für Frieden“-Prinzips als Vorausset-zung für multilaterale Gespräche – nicht ak-zeptabel. 12 Manche bezeichneten die Initiativeals ein inakzeptables „Ultimatum“ der arabi-schen Staaten; andere wiederum betrachtetensie als eine „Anleitung“ zur Zerstörung Israels:Israel sei ohne die Gebiete, die sie laut API denPalästinensern und im weiteren Schritt den Sy-rern und dem Libanon überlassen müsste, In-vasionen ausgeliefert. 13

In dem Maße wie die Hamas nicht bereit istauf das Rückkehrrecht der palästinensischenFlüchtlinge zu verzichten, will Israel sich mitkeinem Lösungsvorschlag befassen, welcherdie palästinensische Flüchtlingsfrage beinhal-tet. Nur wird in der API das „Rückkehrrecht“nicht explizit erwähnt. Selbst die Formulie-rung, wie sie in der gegenwärtigen Fassung be-nutzt wird, gilt für viele in der arabischen Weltals „Ausverkauf“ der Flüchtlinge. 14 Esscheint, dass der genaue Text der API der israe-lischen Öffentlichkeit wenig bekannt ist, wiedie Äußerung Ehud Olmerts im Jahr 2007 mitBlick auf die API vermuten lässt: „Ich werdenie einer Lösung zustimmen, die auf ihrerRückkehr nach Israel basiert, egal wie viele essind.“ 15

Allerdings hat sich auch die israelische Po-sition seitdem weiter entwickelt. Kurze Zeitnach dem obigen Zitat merkte Olmert an,dass er die Initiative schätze, ihre Bedeutung

anerkenne und sich im Rahmen der Verhand-lungen zwischen Israel und der palästinensi-schen Führung weiterhin auf sie beziehenwolle; er entwickelte sogar die Idee einer re-gionalen Konferenz, auf der sich die Regio-nalstaaten über weitere Schritte hinsichtlichder API austauschen könnten. 16

Auch sein Nachfolger Benjamin Netanjahusignalisierte Gesprächsbereitschaft zur API alser erklärte, dass er die Bemühungen der arabi-schen Staaten, den Friedensprozess vo-ranzutreiben, sehr schätze und – gleichwohl dieAngebote nicht endgültiger Natur seien – da-durch eine positive Stimmung erzeugt werdenkönne. 17 Israels Standpunkt ist recht eindeutig:die API kann kein Angebot im Sinne eines„take-it-or-leave-it“ sein, sondern lediglich eineZwischenstufe, die nur in Verhandlungen aus-gearbeitet werden kann. Israel beharrt auf derPosition, nur einen Teil der im Jahr 1967 besetz-ten Gebiete zurückzugeben und ist weder be-reit, Verantwortung für die Notlage der palästi-nensischen Flüchtlinge zu übernehmen nochihr Rückkehrrecht zu akzeptieren.

Was nun?

Israels indifferente Haltung gegenüber derInitiative verringert keineswegs ihre Bedeu-tung. Nach Jahrzehnten der innerarabischenZwietracht und einem Wettlauf um bilateraleLösungen und Abkommen mit Israel, hat esdie API geschafft, die arabischen Staaten aufeine gemeinsame Vision von einem Frieden,der ein Mindestmaß an international aner-kannten palästinensischen und arabischenRechten absichert, einzustimmen. Die APIpräsentiert einen ausgewogenen Lösungsan-satz, der die Interessen aller Parteien, Israeleingeschlossen, berücksichtigt. Daher ist esihr auch gelungen, internationale Zustim-mung und Unterstützung zu gewinnen.

Als Absichtserklärung bleibt die API weiter-hin ein relevantes Dokument, auch wenn sie fürviele in Israel offensichtlich nicht überzeugendgenug ist. Somit bleibt auch mit dieser Initiativedie 60 Jahre alte Frage unbeantwortet: Wasmüsste geschehen, um den arabisch-israelischen

11 Vgl. Haaretz vom 4. 3. 2002.12 Vgl. Joshua Teitelbaum, The Arab Peace Initiative: aprimer and future prospects, Jerusalem Center forPublic Affairs, Jerusalem 2009.13 Vgl. The Jerusalem Post vom 28. 3. 2007.14 So steht in der Initiative: „Further calls upon Israelto affirm: (. . .) Achievement of a just solution to thePalestinian refugee problem to be agreed upon in ac-cordance with U.N. General Assembly Resolution194.“ API (Anm. 3).15 The Jerusalem Post vom 30. 3. 2007.

16 Vgl. Olmert hails Arab peace offer as ,revolutionarychange‘ auf CBC online, online: www.cbc.ca/world/story/2007/03/30/olmert-summit-070330.html (25. 1.2010).17 Vgl. The Jerusalem Post vom 24. 7. 2009.

40 APuZ 9/2010

Konflikt zu lösen und einen überlebensfähigenStaat für die Palästinenser zu gründen, um zueiner friedlichen Einigung mit Syrien zu kom-men, Sicherheit für Israel zu garantieren, Ge-rechtigkeit für die Flüchtlinge sowie übergrei-fende Stabilität für die Region herzustellen?Vermutlich werden die API wie auch andereBemühungen zur Beilegung des Konfliktsscheitern, wenn die internationale Gemein-schaft nicht entschlossen genug Druck auf Is-rael ausübt, keine weiteren Siedlungen auf be-setzten Gebieten zu bauen, da dies die Grün-dung eines palästinensischen Staates zusätzlicherschwert.

Mit anderen Worten: nun ist Israel am Zug.Zurzeit ist das Land beunruhigt über diemutmaßlichen Versuche des Iran, Nuklear-waffen zu entwickeln – eine Sorge, die vielein der arabischen Welt teilen. Seine Beziehun-gen zur Türkei haben sich in Folge des Gaza-Krieges enorm verschlechtert. Die öffentlicheMeinung in Europa schlägt um zugunsten derPalästinenser, was sowohl das Risiko einesBoykotts israelischer Produkte in sich birgtals auch für militärische und politische Per-sönlichkeiten Israels wegen Kriegsverbrechenangeklagt zu werden, wie in Großbritanniengeschehen. 18

In seiner Rede vor Kandidaten für die is-raelischen Parlamentswahlen im Frühjahr2009 fasste Akiva Eldar, renommierter Jour-nalist bei Haaretz, die Entscheidung vor derIsrael stehe in klare Worte: „Sie können dieInitiative unterstützen, so wie sie sie auch ab-lehnen dürfen. Allerdings können die um dasVertrauen der Wähler ringenden zionisti-schen Parteien dem mit Abstand aussichts-reichsten diplomatischen Entwurf, den Israelje von den Arabern erhalten hat, nicht aus-weichen. Jeder Kandidat muss eine eindeutigePosition beziehen, ob die Regierung die Initi-ative annehmen oder ablehnen wird. Andersformuliert, was ziehen Sie eher vor: zusam-men mit 22 arabischen Staaten eine Frontgegen den Iran und seine Agenten zu errich-ten oder zusammen mit den Siedlern eineFront gegen den Rest der Welt?“ 19

Heike Kratt

Zivile Konflikt-bearbeitungin Israelund Palästina

Das Denken und die Methoden der Ver-gangenheit konnten die Weltkriege

nicht verhindern, aber das Denken der Zu-kunft muss Kriege un-möglich machen.“ (Al-bert Einstein) Die Zi-vile Konfliktbearbei-tung als Denk- undHandlungskonzept hatsich im Rahmen der ge-sellschaftlichen Um-brüche entwickelnkönnen, die das Endedes Kalten Kriegeskennzeichneten. Sie er-weiterten den Blick auf politische Akteure:Es wurde deutlich, dass nicht nur der Staatund seine Institutionen über Handlungs-macht verfügen; auch zivile (also nicht-staat-liche) Akteure wurden als Träger gesellschaft-lichen Wandels wahrgenommen. In diesemSinne stellt der Begriff Zivile Konfliktbear-beitung die Bedeutung von nicht-staatlichenAkteuren in den Vordergrund – auch wennstaatliche Akteure konzeptionell nicht ausge-schlossen werden. 1

Der Begriff „zivil“ hat eine Doppelbedeu-tung, die auch für die weitere Bestimmungder Zivilen Konfliktbearbeitung entscheidendist. Zivil wird auch im Sinne von „nicht-mili-tärisch“ gebraucht. Im Rahmen der ZivilenKonfliktbearbeitung greift diese Bedeutungallerdings zu kurz; zivil heißt hier allgemeiner„nicht gewalttätig“. Die Nichtanwendungvon Gewalt ist damit das übergeordnete Zielder Zivilen Konfliktbearbeitung.

Heike KrattDipl.-Pol., geb. 1976; Vorstands-mitglied des forumZFD e.V., wis-senschaftliche Mitarbeiterin imDeutschen Bundestag, Invali-denstraße 149, 10115 [email protected]

18 Vgl. The Economist vom 17. 12. 2009.19 Haaretz vom 26. 1. 2009. 1 Vgl. Martin Quack, Ziviler Friedensdienst: Exem-

plarische Wirkungsanalysen, Dissertation an der Uni-versität zu Köln, Entwurf vom 8. 8. 2008, S. 19.

41APuZ 9/2010

Ein Konflikt wird dabei nicht mit Gewaltgleichgesetzt. Konflikte werden als notwen-dige Bestandteile von gesellschaftlichen Pro-zessen definiert. Verhindert werden sollaber, dass sie gewalttätig ausgetragen wer-den. Daher ist das Ziel von Ziviler Konflikt-bearbeitung die gewaltfreie Austragung vongesellschaftlichen Konflikten. 2 Dabei gehtes nicht nur um die Verhinderung von phy-sischer Gewalt. Auch dahinter liegende For-men von struktureller und kultureller Ge-walt müssen mit einbezogen und bearbeitetwerden.

Zivile Konfliktbearbeitung kann sowohldurch innergesellschaftliche Akteure als auchdurch sogenannte Drittparteien geleistet wer-den. In diesem Artikel soll es vor allem umdie zweite Form und speziell um den ZivilenFriedensdienst (ZFD) in Israel und den palä-stinensischen Gebieten gehen. Anhand vonzwei Beispielen soll veranschaulicht werden,wie Zivile Konfliktbearbeitung und Friedens-förderung praktisch aussehen kann und wel-che Herausforderungen und Möglichkeitendieser Ansatz in dieser spezifischen Regionhat.

Arbeit am Konflikt:Der Zivile Friedensdienst

Als Gegenmodell zur Entsendung von Soldatenund Armeen, die Sicherheit garantieren sollen,stehen beim ZFD Friedensfachkräfte im Mittel-punkt, die in Methoden der Konfliktbearbei-tung ausgebildet sind und in Konfliktregionenentsendet werden. Diese Person(en) mit ihrenspezifischen Fähigkeiten stehen im Mittel-punkt. Es geht nicht um finanzielle Unterstüt-zung, sondern darum, durch den gezielten Ein-satz von geschultem Personal und damit ver-bundenen Aktivitäten in den Konfliktgebietendie Gewalt zu verhindern oder zu mindern. Dassetzt einen hohen Anspruch an die Qualifizie-rung des Personals voraus.

Die Kriege im ehemaligen Jugoslawiengaben den Anstoß dazu, dass sich diese Ideeim Zusammenwirken von Entwicklungs- undFriedensdiensten institutionalisierte. Der

ZFD wurde als eigene Programmlinie derEntwicklungspolitik aufgenommen. Die Zivi-len Friedensfachkräfte werden damit im Rah-men des Entwicklungshelfergesetzes entsandt.Der Dachverbund des Zivilen Friedensdien-stes in Deutschland ist das Konsortium ZFD,in dem sich die Trägerorganisationen (siebenanerkannte Entsendeorganisationen 3 undein Dachverband 4) zusammengeschlossenhaben.

„Ziel des ZFD ist, Form und Dynamikeiner Konfliktaustragung mit gewaltfreienMitteln dahin zu beeinflussen, dass Gewaltvermieden oder beendet oder zumindest ge-mindert wird („working on conflict“).“ 5 DerZFD hat dabei den Anspruch, in allen dreiPhasen eines Konfliktes anzusetzen: vor,während und nach einem gewalttätigen Kon-flikt. Er sieht sich damit in Abgrenzung undErgänzung der konfliktsensiblen Entwick-lungszusammenarbeit, die nicht am Konflikt,sondern in einem Konflikt arbeitet („workingin conflict“).

Der ZFD arbeitet grundsätzlich mit loka-len Partnerorganisationen zusammen. Da-durch sollen lokale Friedenspotenziale bessererkannt und genutzt sowie lokale Kräfte ge-zielt gefördert werden. Die meisten Konsor-ten entsenden ihre Fachkräfte direkt in be-stehende lokale Organisationen (integriertesModell). 6 Auch die Einflussnahme auf Ge-waltakteure wird angestrebt. Die gezielte Ko-operation mit Gewaltakteuren zum Zweckeder Verhinderung weiterer Gewalt ist nichtausgeschlossen. Außerdem sollen auch lokale

2 Vgl. Christoph Weller/Andrea Kirschner, ZivileKonfliktbearbeitung – Allheilmittel oder Leerformel?Möglichkeiten und Grenzen eines viel versprechendenKonzepts, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 4(2005), S. 10–29.

3 Das sind Deutscher Entwicklungsdienst (DED),Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH),Weltfriedensdienst (WFD), Forum Ziviler Friedens-dienst (forumZFD), Evangelischer Entwicklungsdienst(EED), Internationaler Christlicher Friedensdienst(EIRENE), Christliche Fachkräfte International(CFI), geordnet nach ihrem prozentualen Finanzanteilvon Seiten des Bundesministeriums für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung; vgl. M. Quack(Anm. 1), S. 27.4 Das ist die Aktionsgemeinschaft Dienst für denFrieden (AGDF).5 Konsortium ZFD: Standards für den Zivilen Frie-densdienst. Gemeinsame Grundlage des KonsortiumsZiviler Friedensdienst bei der Entwicklung von Pro-jekten, Bonn 2005, S. 2.6 Das forumZFD bildet hier eine Ausnahme: DieFachkraft arbeitet mit lokalen Partnerorganisationenzusammen, ist aber nicht bei ihnen angesiedelt.

42 APuZ 9/2010

Friedensfachkräfte im Sinne der Nachhaltig-keit gezielt beschäftigt und gefördert werden.

Die Friedensfachkräfte in Israel und Paläs-tina arbeiten an unterschiedlichen geografi-schen Orten und mit unterschiedlichen Part-nerorganisationen zusammen. Gemeinsam istihnen, dass sie sich zum Ziel gesetzt haben,die Konfliktsituationen in Israel und Palästi-na so zu beeinflussen, dass weniger Gewaltstattfindet. Wie so etwas in der Praxis ausse-hen kann, darum soll es in den folgenden Ab-sätzen gehen.

Jeder Konflikt ist einzigartig

In ihrer Strategie zur Friedensentwicklungvom Juni 2005 stellt das Bundesministeriumfür wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung fest: „Jeder Konflikt ist einzig-artig und erfordert gezielte Antworten.“ 7 Indiesem Sinne ist natürlich auch der Konfliktzwischen Israelis und Palästinensern einzig-artig und erfordert eigene Antworten.

Im Sinne der Zivilen Konfliktbearbeitungist es auch nicht möglich von nur einemKonflikt zu sprechen: Es gibt inzwischenviele verschiedene Konfliktlinien und Kon-fliktebenen, die sich auch wechselseitig ver-stärken. Hier kann es natürlich nicht darumgehen, alle Aspekte, die in diesem Zusam-menhang relevant wären zu nennen. Zurbesseren Einordnung der nachfolgendenBeispiele sollen kurz drei wesentliche, mit-einander verschränkte Konflikt-Parameterumrissen werden: die Konfliktlinien zwi-schen Israelis und Palästinensern als denHauptbeteiligten, die Konfliktfelder inner-halb dieser beiden Großgruppen und dieAkteure im Einzelnen. Wie sich zeigenwird, sind alle drei Aspekte in sich nochmehrfach gebrochen. Damit soll vor allemausgedrückt werden, in welch komplexemFeld Zivile Konfliktbearbeitung und Frie-densförderung hier angesiedelt sind.

Konfliktlinien zwischen Israelis und Paläs-tinensern: Diese Konfliktlinie verläuft einmalzwischen dem israelischen Staat und den Pa-lästinensern in der Westbank und Gaza.

Dann verläuft sie auch innerisraelisch zwi-schen den jüdischen Israelis in Israel und denin Israel lebenden israelischen Arabern bezie-hungsweise Palästinensern mit israelischemPass. 8 Beide Konfliktlinien stehen in engerWechselwirkung miteinander und verstärkensich gegenseitig.

Der Kern dieser Konfliktlinie ist ein Terri-torialkonflikt, der mit der neueren jüdischenEinwanderung ab Ende des 19. Jahrhundertsund vor allem ab Beginn des 20. Jahrhundertsseinen Anfang nahm und sich bis heute in derBesatzung der palästinensischen Gebiete(Westbank und Gaza 9) durch Israel und dennach wie vor umkämpften Grenzen und Res-sourcen (wie Wasser) ausdrückt.

Dieser Territorialkonflikt war von Anfangan stark überlagert durch verschiedeneAspekte, die bis heute die Wahrnehmung vonder jeweils anderen Seite prägen, den Kon-flikt immer wieder neu anreichern und ihn zueinem Identitätskonflikt („conflict of identi-ties“) ausweiten: dazu gehören Religion(muslimisch versus jüdisch) 10, Nationalismus(jüdisch-israelisch versus palästinensisch),Kolonialismus (der „Westen“ in Gestalt derjüdischen Siedler versus die „Einheimischen“in Gestalt der palästinensischen Bevölkerung;dieser Aspekt wird auch als „Moderne“ ver-sus „Rückständigkeit“ gedeutet) sowie wirt-schaftliche und soziale Ungleichheiten (jüdi-sche Einwanderer, die aus industriell gepräg-ten Ländern kamen versus eine eherbäuerlich geprägte palästinensische Gesell-schaft). Hinzu kommen die vielfältigen Ver-letzungen und Traumata, die sich beide Seiten

7 BMZ, Übersektorales Konzept zur Krisenpräven-tion, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung inder Deutschen Entwicklungszusammenarbeit. EineStrategie zur Friedensentwicklung, Juni 2005, S. 4.

8 Der Begriff für diese Gruppe ist politisch. Von is-raelischer Seite werden sie in der Regel als israelischeAraber bezeichnet. Die Bezeichnung Palästinenser mitisraelischem Pass oder in Israel lebende Palästinenserhebt hervor, dass ihre Wurzeln nicht allgemein ara-bisch, sondern spezifisch palästinensisch sind.9 Gaza wird hier noch als besetzt bezeichnet. Auchwenn die Siedlungen und Militärstützpunkte geräumtwurden, befindet sich der Gazastreifen in dem Sinneunter israelischer Besatzung, als dass er nach wie vorunter der faktischen wirtschaftlichen und militärischenKontrolle des israelischen Staates steht.10 Dies ist eine etwas verkürzte Darstellung, denn esgibt eine christliche Minderheit in der palästinensi-schen Gesellschaft und auch einige religiöse Minder-heiten (z. B. die Drusen) in Israel. Die Mehrheits-gesellschaften sind aber jeweils muslimisch bzw.jüdisch und der Konflikt zwischen diesen beiden Reli-gionen steht im Vordergrund der Wahrnehmung.

43APuZ 9/2010

in den Jahrzehnten ihres Konfliktes zugefügthaben und immer noch zufügen.

Konfliktfeld Minderheiten: Sowohl in Is-rael als auch in den palästinensischen Gebie-ten gibt es starke innergesellschaftliche Span-nungen und Konflikte, die sich in diesemFeld ansiedeln. Sie werfen eine Vielzahl vonzentralen Fragen für die Zivile Konfliktbear-beitung und Friedensförderung auf. Im Vor-dergrund steht dabei der Umgang mit und dieDefinition von Minderheiten.

Dabei sind hier nicht nur ethnische oder re-ligiöse Minderheiten gemeint, sondern auchim weitesten Sinne von der gesellschaftlichenNorm abweichende Menschen und Gruppen.Die innergesellschaftliche Gewalt, die sichgegen so definierte Minderheiten richtet, wirftdie Frage auf, wie eine Gesellschaft sich poli-tisch definiert und entwickelt. Hier sind sowichtige Themen wie die Einhaltung vonMenschenrechten, gleichberechtige Teilhabe,Meinungs- und Religionsfreiheit, die Rolle derReligion im Staat, demokratische Strukturenund Rechtsstaatlichkeit berührt – wichtigeFragen wenn es darum geht, einen langfristigenstabilen Frieden in der Region zu erreichen,der wesentlich darauf beruht, inwieweit dasZiel eines innergesellschaftlichen Friedens er-reicht beziehungsweise erhalten werden kann.

Relevante Akteure: Das Bild des Konfliktswird noch komplexer, wenn zusätzlich dieAkteure ins Blickfeld genommen werden.Grundsätzlich sollte zwischen internen undexternen Akteuren unterschieden werden. So-wohl die internen als auch die externen Ak-teure lassen sich auf drei Ebenen ansiedeln:die zivilgesellschaftliche oder grassroot-(Graswurzel-)Ebene (wie Nichtregierungsor-ganisationen (NRO), Bürgerinitiativen, Ver-eine), die mittlere Entscheidungsebene (wiepolitische Bewegungen und Verbände, Partei-en, Jugendorganisationen, kommunale Regie-rungsvertreter) und die Regierungsebene (wienationale Regierungsvertreter und staatlicheInstitutionen). Alle diese Akteure, ob sie voninnen oder von außen kommen, nehmen inbestimmter Weise (je nach politischer undideologischer Ausrichtung) Einfluss auf denKonflikt beziehungsweise die Konflikte.

Eine entscheidende Frage für Zivile Kon-fliktbearbeitung ist immer auch die Frage, mitwelchen Akteuren sinnvoll zusammengearbei-

tet werden sollte oder kann, um einen maxima-len Einfluss auf die Situation im Sinne einerGewaltminderung nehmen zu können. Ameinfachsten ist in der Regel eine Zusammenar-beit auf der unteren grassroot-Ebene. Die bei-den anderen Ebenen sind genauso wichtig,aber häufig schwieriger zu erreichen. Idealer-weise wird auf allen drei Ebenen gearbeitetund werden diese miteinander verbunden.

Zwei Fallbeispiele

Wie kann ein Instrument wie der ZFD ineinem solchen Umfeld arbeiten? Das soll imFolgenden anhand von zwei Beispielen deut-lich werden, die mit jeweils beiden Konflikt-parteien zusammenarbeiten. Ihnen ist ge-meinsam, dass sie den grenzüberschreitendenDialog als ein politisches Instrument sehen.Es geht nicht um sogenannte „Hummus-Tref-fen“, auf denen sich beide Seiten treffen,essen, sich kennenlernen und dann wieder inihr normales Leben zurückkehren, in dem esden anderen nicht gibt. Beide Projekte wollendas gesellschaftliche Verhalten und das politi-sche Handeln ihrer Zielgruppen ändern.

Gesellschaftlicher Wandel über Grenzenhinweg: „Mit Israelis an einem Tisch zu sitzen,war für mich Verrat an der palästinensischenSache. Jetzt glaube ich, dass ich mich für Palä-stina stark mache, indem ich direkt mit Israelisrede. Schließlich ist es unsere Zukunft, die aufdem Spiel steht.“ 11 Nimala ist im Jahr 2005Teil eines trilateralen Leitungsteams des WillyBrandt Center (WBC) geworden. Ähnlich äu-ßert sich auch Ido, ebenfalls Mitglied im Lei-tungsteam des WBC: „Für uns Israelis ist eswichtig, die Palästinenser auf gleichberechtig-ter Basis treffen zu können.“

Das WBC ist ein Jugendzentrum auf der„Grünen Linie“ zwischen Ost- und West-Je-rusalem. Ziel der Aktivitäten ist die Entwick-lung von friedenspolitischen (Bildungs-)Kon-zepten als reale Handlungsalternativen zurGewalt durch junge politische und gesell-schaftliche Entscheidungsträger aus Deutsch-land, Israel und Palästina. Viele der Aktivitätendes WBC sind grenzüberschreitend. Seit demJahr 2003 gibt es gemischt palästinensisch-is-raelische Teams mit deutscher Beteiligung, diekontinuierlich zusammenarbeiten – auch wäh-

11 Zit. in: Heike Kratt, Miteinander reden, in: Sym-pathieMagazin, Palästina verstehen, 2008, S. 56.

44 APuZ 9/2010

rend lokaler Kriege wie dem Libanon-Kriegim Jahr 2006 und dem Gaza-Krieg im Jahr2009. Unter dem Dach des Zentrums arbeitenvier Zivile Friedensfachkräfte und zahlreichelokale Mitarbeiter – sowohl von israelischer alsauch palästinensischer Seite.

Die gemischten Leitungsgruppen setzen sichaus jungen politischen oder gesellschaftlichenEntscheidungsträgern zusammen. Sie sind Mit-glieder von Jugendorganisationen und Jugend-bildungsverbänden – den lokalen Partnerorga-nisationen des WBC. Diese Leitungsteams tref-fen sich regelmäßig alle ein bis drei Monate undlegen miteinander die Schwerpunkte und The-men der gemeinsamen Seminare, Workshopsund Konferenzen fest. Diese können öffentlichsein oder sich nur an die Mitglieder der Partner-organisationen richten. So wird sichergestellt,dass nicht nur wenige Schlüsselakteure erreichtwerden, sondern auch eine breitere Basis. Esgibt auch getrennte Seminare und Workshopsnur mit israelischer oder palästinensischer Be-teiligung. Diese werden von den einzelnenTeammitgliedern und ihren Organisationen ge-plant – mit Beratung und Unterstützung durchdie deutsche Fachkraft. Diese Einzelseminarestehen mit den gemeinsamen Aktivitäten inhalt-lich in Verbindung.

Die Rolle der deutschen Friedensfachkraftist vor allem die des moderierenden Vermitt-lers (facilitator), der die Gespräche und Akti-vitäten der beiden Seiten erleichtert, vermit-telt und strukturiert. Sie versucht, den politi-schen Gewinn, den beide Seiten vonKooperationen haben können, herauszuar-beiten. Auf diese Weise schafft sie Möglich-keiten und Wege sinnvoller Kooperationen,von denen beide Seiten profitieren können.

Aufbau von zivilgesellschaftlichen Dialog-strukturen: „Unsere Arbeit wird in der eigenenGesellschaft oft missverstanden. Ich verstehedie Einwände gegen Dialogprojekte. Wenn sieschlecht angegangen werden, können sie vielSchaden anrichten. Deshalb sind wir sehr an-spruchsvoll mit uns selber. All unsere Projektebasieren auf der Realität, nämlich dass wirunter Besatzung stehen. Ich erkläre immer,dass auch wir mit unseren Dialogprojektengegen die Besatzung kämpfen“, 12 so Noah Sa-

lameh, Direktor des Center for Conflict Reso-lution and Reconciliation (CCRR). 13

Die Kooperation zwischen dem DED unddem palästinensischen CCRR besteht seit sie-ben Jahren. Das CCRR hat ein breites Reper-toire an Aktivitäten – darunter sind auch Dia-logprojekte mit israelischen Partnerorganisa-tionen wie Rabbis for Human Rights (RHR)in Jerusalem. 14 Das ist nicht nur ein schwieri-ges, sondern auch ein mutiges Unterfangen,denn das Verständnis in den palästinensischenGebieten für solche Projekte ist unter denschwierigen Bedingungen der Besatzung sehrgering. Doch das CCRR und die RHR sehenden Dialog als ein gewaltfreies Mittel, um diepolitischen Verhältnisse zu verändern, dasheißt die Besatzung gewaltfrei zu bekämpfen.

Ein Projekt, das der DED seit Anfang desJahres 2007 in Kooperation mit beiden loka-len Organisationen umsetzt, ist der Aufbauvon interreligiösen Dialogstrukturen zwi-schen religiösen Führungspersönlichkeitender drei großen monotheistischen Religionen– Christentum, Islam und Judentum. Es ar-beitet zu diesem Zweck sowohl in Israel alsauch in Palästina. Ähnlich wie bei den Pro-jekten des WBC wird mit wenigen Schlüssel-akteuren als Multiplikatoren aus lokalenPartnerorganisationen gearbeitet, wobeigleichzeitig die nachhaltige Weitergabe aneine größere Zielgruppe sichergestellt werdensoll. Ein wichtiges Kriterium für die Auswahlder religiösen Würdenträger war deshalbderen Anbindung an die lokale Bevölkerung.

Im Jahr 2009 haben drei Runden multireli-giöser Treffen stattgefunden, unter anderemzum Thema „Die Anderen in meiner Religionund meine Religion in der Sicht der Anderen“.Zur Vor- und Nachbereitung dieser Treffen gabes jeweils unireligiöse Gesprächsrunden. DieZivile Friedensfachkraft unterstützt und berätdas CCRR und die RHR bei der Umsetzungdieses Projektes. Sie macht Eingaben zu mögli-chen Inhalten, begleitet die Veranstaltungen, ar-beitet die Resultate auf und macht Hinter-grundforschung zu den ausgewählten Themen.

Diese Anstrengungen werden oftmalsdurch die politischen Entwicklungen unter-

12 Zit. in: Jonas Geith, Dialog gegen Besatzung?Grenzüberschreitende Arbeit in Israel/Palästina, in:dedBrief, 1 (2009) 46, S. 11 f.

13 Siehe Webseite, online: www.ccrr-pal.org (2. 2.2010).14 Siehe Webseite, online: www.rhr.org.il (2. 2. 2010)

45APuZ 9/2010

graben. Dies nährt auch bei überzeugten Teil-nehmenden Zweifel, ob Dialogarbeit der rich-tige Ansatz ist, um einem gerechten Friedennäherzukommen. „Es vergeht kein Tag ohnedass ich mich frage, ob die Voraussetzungenfür unsere Tätigkeit im grenzüberschreitendenBereich überhaupt noch bestehen. Auf der an-deren Seite muss gefragt werden: was ist dieAlternative?“, so der Leiter des CCRR. 15

Praktische Herausforderungen

Welche Herausforderungen sind es, mitdenen der ZFD vor Ort umgehen muss? Inden Praxisbeispielen wurden sie angespro-chen, hier sollen die drei wichtigsten nocheinmal exemplarisch dargestellt werden:

� Das vorherrschende Misstrauen gegenein-ander und gegen die Wirksamkeit von ge-meinsamem friedenspolitischem Engage-ment begrenzt die Vermittelbarkeit vonfriedenspolitischen Alternativen über Be-gegnungen und Dialog.

� Die Asymmetrie des Konflikts – so die mi-litärische, wirtschaftliche und politischeÜberlegenheit Israels versus der hohen Ab-hängigkeit der Palästinenser – mit den je-weils unterschiedlichen Auswirkungen er-zeugt sehr verschiedene Lebenswelten undBedürfnisse. Diese begrenzen die Ange-bote, die von beiden Seiten angenommenwerden können und die Energie, die sichauf positive Veränderungen richten kann.

� Die politischen Krisen in Israel, Palästinaund der ganzen Region fördern nicht nurResignation und Gleichgültigkeit gegen-über politischen Prozessen, sondern be-grenzen die Wirksamkeit von friedenspoli-tischer Arbeit unmittelbar. Ihr steht einganzer Apparat aus Politikfeldern und Ak-teuren gegenüber, der in eine ganz andereRichtung arbeitet und Ansätze einer nach-haltigen Friedenspolitik ständig unter-gräbt. 16

Ein Fazit der Möglichkeiten

Jeder Konflikt ist einzigartig – und hochgra-dig komplex. Gezielte Antworten werdendeshalb nie einfach sein können. Im Folgen-den trotzdem der Versuch eines Fazits derMöglichkeiten des ZFD in Israel und Palästi-na:

� Israelisch-palästinensische Kooperationenund Kommunikationsprozesse sind mög-lich. Sinnvoll sind sie nur mit einem für alleSeiten klar definierten Rahmen und Ziel.Die unterschiedlichen Erwartungen, Be-dürfnisse und Möglichkeiten beider Seitenmüssen beachtet werden.

� Beide Seiten müssen bei einer direkten Kom-munikation profitieren können. He-rauszufinden, was dieser Gewinn seinkönnte, kann eine wichtige Aufgabe einerDrittpartei, wie einer Friedensfachkraft sein.

� Dialog ist nicht der Königsweg der Frie-densförderung. Getrennte Arbeit nur mitisraelischer oder palästinensischer Beteili-gung kann ein genauso wichtiger Beitragzur Konfliktbearbeitung und Friedensför-derung sein wie direkte Kooperationen.

� Langfristige Programme und eine kontinu-ierliche Präsenz vor Ort ist eine wesentli-che Voraussetzung dafür, dass an den struk-turellen Ursachen der Gewalt gearbeitetwerden kann.

� Wichtig ist, dass verschiedene Ansätze mit-einander kombiniert werden, parallel anverschiedenen Konfliktlinien und -felderngearbeitet wird und dabei eine stabileStruktur geboten wird.

Grundvoraussetzung ist es, die Bedeutungdes Wortes „zivil“ auch ernst zu nehmen: Einzivil-militärischer Ansatz wäre das Gegenteilund damit auch das Ende vom ZFD.

15 Zit. in: J. Geith (Anm. 13).16 Vgl. Heike Kratt, Nachhaltigkeit von politischerFriedensarbeit mit jungen Erwachsenen im Rahmendes Zivilen Friedensdienstes in Israel und Palästina, in:Christine Hofmann/Thomas Lämmer-Gamp (Hrsg.),Nachhaltigkeit in der Praxis. Ideale, Widerstände,Machbares, Berlin 2007, S. 76–90.

46 APuZ 9/2010

APuZNächste Ausgabe 10/2010 · 8. März 2010

Entwicklungspolitik

Uwe HoltzDie Millenniumsentwicklungsziele – eine gemischte Bilanz

Ana María Isidoro · Tanja ErnstNord-Süd-Beziehungen: Globale Ungleichheit im Wandel?

Detlef J. KotteEntwicklung durch Handel?

Aram ZiaiZur Kritik des Entwicklungsdiskurses

Sachin ChaturvediAufstrebende Mächte als Akteure der Entwicklungspolitik

Günther MaiholdMehr Kohärenz durch Geberkoordination?

Jörg FaustWirkungsevaluierung in der Entwicklungszusammenarbeit

Herausgegeben vonder Bundeszentralefür politische BildungAdenauerallee 8653113 Bonn.

Redaktion

Dr. Hans-Georg GolzAsiye Öztürk(verantwortlich für diese Ausgabe)Johannes PiepenbrinkManuel Halbauer (Volontär)

Telefon: (02 28) 9 95 15-0

Redaktionsschluss dieses Heftes:19. Februar 2010

Internet

www.bpb.de/[email protected]

Druck

Frankfurter Societäts-Druckerei GmbHFrankenallee 71– 8160327 Frankfurt am Main.

Vertrieb und Leserservice

� Nachbestellungen der ZeitschriftAus Politik und Zeitgeschichte

� Abonnementsbestellungen derWochenzeitung einschließlichAPuZ zum Preis von Euro 19,15halbjährlich, JahresvorzugspreisEuro 34,90 einschließlichMehrwertsteuer; Kündigungdrei Wochen vor Ablaufdes Berechnungszeitraumes

Vertriebsabteilung derWochenzeitung Das ParlamentFrankenallee 71–8160327 Frankfurt am Main.Telefon (0 69) 75 01-42 53Telefax (0 69) 75 01-45 [email protected]

Die Veröffentlichungenin Aus Politik und Zeitgeschichtestellen keine Meinungsäußerungder Herausgeberin dar; sie dienender Unterrichtung und Urteilsbildung.

Für Unterrichtszwecke dürfenKopien in Klassensatzstärke herge-stellt werden.

ISSN 0479-611 X

Nahost-Konflikt APuZ 9/2010

Alexandra Senfft3-8 Wider die „Kultur des Konflikts“

Unverarbeitete Traumata und unterschiedliche Narrative behindern die palästi-nensisch-israelische Verständigung. Friedensaktivisten auf beiden Seiten wollendie inneren und äußeren Barrieren, die Klischees und Ängste abbauen.

Efraim Inbar10-16 Herausforderungen für die Regierung Benjamin Netanjahus

Ministerpräsident Netanjahu etabliert sich erfolgreich als Politiker der Mitte undversucht, Herausforderungen wie das iranische Atomprogramm oder die festge-fahrene Situation im Friedensprozess zu lösen.

David Kaye16-22 Völkerrechtliche Implikationen des Goldstone-Berichts

Der Goldstone-Bericht dürfte der kontroverseste Menschenrechtsbericht sein.Er untersuchte den drei Wochen dauernden Gaza-Krieg im Jahr 2009 und kriti-siert sowohl die Hamas als auch Israel.

Patrick Keller23-28 Einsatz ohne Wirkung? Barack Obamas Nahost-Politik

An Obamas Nahost-Politik lässt sich die Spannung aus übersteigerten Erwartun-gen, überfordernden Aufgaben und unübersichtlichen Zeithorizonten besondersdeutlich darstellen. Noch sind keine positiven Ergebnisse erkennbar.

Michael Bröning · Henrik Meyer28-35 Zwischen Konfrontation und Evolution: Parteien in Palästina

Die Parteienlandschaft in den Palästinensischen Gebieten wird von der Fatahund Hamas dominiert. Deren Konfrontation findet in der Spaltung von West-bank und Gaza ihren Ausdruck. Zugleich haben sich beide weiterentwickelt.

Michaela Birk · Ahmed Badawi35-41 Bedeutung und Wandel der Arabischen Friedensinitiative

Die Arabische Friedensinitiative ist kein Friedensplan und sie als „Initiative“ zubezeichnen, dürfte für Verwirrung sorgen. Sie ist eher eine Absichtserklärung undgilt als eine der wichtigsten arabischen Erklärungen seit der Gründung Israels.

Heike Kratt41-46 Zivile Konfliktbearbeitung in Israel und Palästina

Anhand von Praxisbeispielen soll veranschaulicht werden, wie Zivile Konfliktbe-arbeitung und Friedensförderung in Israel und Palästina konkret aussehen kön-nen und welche Herausforderungen und Möglichkeiten sich ergeben.