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Arbeit und Qualifikation in der digitalen Produktion
Prof. Dr. Hartmut Hirsch-KreinsenWirtschafts- und Industriesoziologie
TU Dortmund
Folie 2Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Von Industrie 1.0 zu Industrie 4.0
Folie 3Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Agenda1. Stand der Forschung: Perspektiven
digitalisierter Arbeit 2. Zum Verhältnis von Technik und Arbeit3. Digitale Arbeit als Gestaltungsprojekt4. Risiken und Chancen für Arbeit
Folie 4Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Arbeitsplatzverluste: umstritten und unklar
Weitreichend negativ: 47% aller Berufe auf den US-Arbeitsmarkt automationsgefährdet in den
nächsten 10 – 20 Jahren; routinehafte Berufe mit wenig kreativer und sozialer Intelligenz besonders gefährdet (Frey/Osborne 2013)
Hohes Substitutionsrisiko bei 54% der Beschäftigten in der EU und 51% in Deutschl. (Bowles 2014)
Substitution von 59%/18,3 Mio Jobs in D. (ING-Diba 2015)
Begrenzt negativ: 9% aller Jobs automationsgefährdet in EU, jedoch 26% aller Routinejobs
(Arntz et al. 2016/OECD)
15% der Beschäftigten in D., besonders Einfacharbeiten und Fachkräfte, Wachstum bei FuE, IT, Hochqualifizierte (Dengler/Matthes 2015/IAB)
Folie 5Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Optimistische Thesen:
Fast 400.000 neue und zusätzliche Jobs in der deutschen Industrie in 10 Jahren - Steigende Nachfrage insbesondere nach höheren Qualifikationen (BCG 2014)
Strukturwandel und langfristige Kompensation kurzfristiger Jobverluste ?
Folie 6Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
VW Karosseriebau Golf Wolfsburg
cf. Neumann 2015
Folie 7Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Tätigkeiten und Qualifikationen: Aufwertung vs. Polarisierung
Aufwertung: Automatisierung von einfachen TätigkeitenWachsende Anforderungen an dispositive AufgabenSteigende Nachfrage nach mittleren und höheren Qualifikationen
„Kompetenzentw icklung und Weiterbildung“
Polarisierung:Substitution und Erosion vom mittleren QualifikationenNeue einfache und dequalifizierte TätigkeitenWachsende Bedeutung von hoch qualifizierten Tätigkeiten
„Lousy and Lovely Jobs“
(cf. Goos/Manning 2007; Autor/Dorn 2013; Brynjolfsson/McAfee 2014; Autor 2015)
Folie 8Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
cf. BITKOM et al. 2015
Folie 9Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Flexibilisierung und Entgrenzung
Innerbetriebliche Flexibilisierung - Flexible Projektstrukturen- Digital gestützte informelle Kooperation- Internes Crowdsourcing
Überbetriebliche Entgrenzung- Modularisierung und Outsourcing von Aufgaben- Vernetzte zeit- und ortsentkoppelte Arbeit- „Crowdwork“ z.B. in Engineering, Marketing, IT-
Entwicklung
Steigende Anteile von „Crowdworking“ und „Solo-Selbstständigen“ ?
(z.B. Malone 2011; Leimeister/Zogaj 2013; Benner 2014; IG Metall 2015)
Folie 10Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
(Quelle: http://www.chip.de/artikel/Blick-in-die-Zukunft-So-sieht-die-Arbeitswelt-von-morgen-aus-4_65149214.html)
Folie 11Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
PolarisierteArbeitsorganisation
Flexible und integrierte Arbeitsorganisation
Qualifiziertesund spezialisiertesPersonal
Ingenieure, Fach-arbeiter mit Zusatz-qualifikation
HochqualifizierteExperten, Ingenieure,Facharbeiter mitZusatzqualifikationDispositive Ebene
Erosion mittlererFachqualifikationen
Mittlere operative Ebene
Angelernte, abge-wertete Fachkräfte
Untere ausführende Ebene
Breites Spektrum von Organisationsformen
Folie 12Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Agenda
1. Stand der Forschung: Perspektiven digitalisierter Arbeit
2. Zum Verhältnis von Technik und Arbeit3. Digitale Arbeit als Gestaltungsprojekt4. Risiken und Chancen für Arbeit
Folie 13Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Alternativen der Entwicklung von Arbeit
Konsequenzen für Arbeit kein Automatismus und Selbstläufer
Zwar „technology push“, aber Überschätzung der technologischen Potentiale vermeiden
Kein „Technikdeterminismus“, vielmehr Existenz von divergierenden Entwicklungslinien für Arbeit
Entwicklung von Arbeit abhängig von Gestaltungs-zielen und entsprechenden Strategien
Entw ick lung von Arbeit ist gestaltbar
Folie 14Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Gestaltungsebene Funktionen
Mensch-Maschine-Schnittstelle
Funktionsteilung Mensch-Maschine
Operative Ebene Sicherung des laufenden Systembetriebs
Indirekte Bereiche Planung, Steuerung, Systemgestaltung, generell Engineering
Leitungsebenen Unteres und mittleres Produktionsmanagement
Umfassende Perspektive auf Arbeit
Folie 15Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Prognosen verfehlt und nicht valide –übersehener Einfluss folgender Faktoren
Widersprüche und Probleme der Automatisierung – nur begrenzte Beherrschbarkeit komplexer Technologien
Erfahrungswissen als Grenze der Automatisierung –„Polanyi´s Paradox
Hohe Dynamik von Tätigkeiten und Qualifikationen
Ökonomische Perspektiven unklar
Betriebsstrukturelle Grenzen – besonderes Problem der KMU
Folie 16Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Industrie 4.0 als sozio-technisches System
− Nicht ein entweder Technologie oder Mensch, sondern Abstimmung von Technik, Mensch und Organisation
− Nicht Optimierung einzelner Teilsysteme, sondern Optimierung des Gesamtsystems
Erforderlich ist ein Sozio-technisches Verständnis digitaler Prozesse, das technische, soziale und betriebliche Anforderungen verbindet
Folie 17Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Zwischenresümee und ÜbungsfragenDie Entwicklung von Arbeit ist ein Gestaltungsprojekt. Dazu zwei Fragen:
a) Welche Arbeitsform kann aus welchen Gründen als wünschenswert angesehen werden?
b) Welches sind hierfür die entscheidenden „Gestaltungshebel“ auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene?
Folie 18Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Agenda1. Stand der Forschung: Perspektiven
digitalisierter Arbeit 2. Zum Verhältnis von Technik und Arbeit3. Digitale Arbeit als Gestaltungsprojekt4. Risiken und Chancen für Arbeit
Folie 19Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Vision „Gute digitale Arbeit“Thesen des Wissenschaftlichen Beirats der nationalen
Plattform Industrie 4.0
− Vielfältige Möglichkeiten für eine humanorientierte Gestaltung der Arbeitsorganisation, auch im Sinne von Selbstorganisation und Autonomie
− Chancen für eine alterns- und altersgerechte Arbeitsgestaltung
− Industrie 4.0 als Chance für ein erweitertes Aufgabenspektrum der Mitarbeiter, eine Erhöhung von Qualifikationen und Handlungsspielräumen sowie ein verbesserter Zugang zu Wissen
− Lernzeuge – gebrauchstaugliche, lernförderliche Artefakte – vermitteln dem Nutzer ihre Funktionalität automatisch
Folie 20Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Quelle: FhG IAO 2014
Folie 21Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Schnittstellen zwischen den Teilsystemen Technologie, Mensch und Organisation als die zentralen Gestaltungsräume
SchnittstelleMensch-
Organisation
SchnittstelleOrganisation-Technologie
SchnittstelleTechnologie-
Mensch
Folie 22Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Schnittstelle Technologie – Mensch
− Schaffung ergonomisch guter Arbeitsplätze – Automatisierung von„3D-Tätigkeiten - dirty, dangerous and demanding“
− Komplementäre Funktionsteilung Technologie-Mensch auf der Basis der jeweiligen situativen und spezifischen Stärken
− Adaptive Schnittstellengestaltung und Anpassung an Diversität der Mitarbeiter
− „Learnstruments“ zum Lernen “on-the-job“ und Sicherung von Erfahrungswissen
− Datenschutz: Mensch-Maschine-Interaktion„kontrollierbar, nicht kontrolliert“
− Sicherung von Akzeptanz undMotivation durch Beteiligung
Folie 23Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
„Ironien der Automatisierung“
Bewältigung von „Complacency“ und Sicherung von „Awareness“
Einerseits routinehafte Überwachungstätigkeiten und mangelnde
Systemtransparenz , monotone „Normalsituation“ mit abnehmendem
Systemverständnis
Andererseits unerwartete und kritische Systemzustände mit
fehlendem Verständnis, Handlungsmöglichkeiten und mangelnder
Reaktionsfähigkeit
Transparenz der Systemzustände als Voraussetzung von Störungsfreiheit
(z.B. Bainbridge; Böhle/Rose; Cummings/Bruni; Grote; Pfeiffer)
Folie 24Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
(z.B. Grote 2015; ten Hompel 2015 Windelband/Dworschak 2015)
Besondere Herausforderung: Verantwortung für Systemabläufe angesichts wachsender Systemautonomie?
Kontrollverlust über Systemabläufe vermeiden
Vorhersehbare und transparente technologische Abläufe
Systemkontrolle durch den Menschen
Eingriffsmöglichkeiten besonders bei Risiken und Sondersituationen
Abstimmung zwischen „maschineller
Verantwortung“ und menschlicher Verantwortung?„Hybride“
Systeme
Folie 25Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Technikzentriertes Design
Komplexe Selbststeuerung und -optimierung der Systeme
Handlungsvorgaben und Beschränkung der Handlungsspielräume
Kompetenzmängel; Verlust von Erfahrungswissen
Mangelnde Systembeherrschung, hohes Störpotential
Komplementäres Design
Aufgabenverteilung anhand spezifischer Stärken
Systeme als Befähiger und Verstärker von Kompetenzen
Sicherung von Kompetenzen und Erfahrungswissen; Entscheidungsspielräume;
Systembeherrschung
Mensch-Maschine-Schnittstelle und Assistenzsysteme(cf. DFKI GmbH/Quindt 2014)
Folie 26Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Schnittstelle Organisation - Mensch
− Systematische Analyse von Gestaltungsmöglichkeiten
− Ganzheitlicher Aufgabenzuschnitt
− Flexible Regulations- und Handlungsspielräume
− Kompetenzentwicklung und „learning-on-the-job“
− Vernetzte und flexible Kooperation
− Anforderungsvielfalt und polyvalenter Personaleinsatz
− Rahmenvorgaben und Unterstützung durch Vorgesetzte
Arbeitsorganisation als der Bestimmungsfaktor für die konkrete Gestaltung menschlicher Arbeit an und mit digitalen Technologien
Folie 27Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Flexible Arbeitsstrukturen auf der Basis aufgewerteter Qualifikationen
Digital ermöglichte Kooperation unterschiedlich spezialisierter
MitarbeiterFörderung interdisziplinärer
kollektiver Intelligenz
Folie 28Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Schnittstelle Technologie - Organisation
− Komplementäre Selbststeuerung im Rahmen überschaubarer und begrenzter Organisationssegmente
− Gezielte Abkehr von sequentiellen und differenzierten Abläufen – Funktionsintegration in Echtzeit
− Durch Social Media ermöglichte Dezentralisierung und Hierarchieabbau
− Nachhaltiger Wandel von Management und Leitungsfunktionen
− Entwicklung und Implementation neuer Geschäftsmodelle
Öffnung und Entgrenzung eingespielter und tradierter Unternehmensstrukturen
Folie 29Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Organisation CPS
SOCIAL MEDIA
Quelle: Fraunhofer IML
Von hierarchischen Strukturen zuvernetzten dezentralen Prozessen
Folie 30Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Ganzheitlichkeit und Flexibilität
Perspektiven der Arbeitsgestaltung
SchnittstelleMensch-
Organisation
SchnittstelleOrganisation-Technologie
SchnittstelleTechnologie-
Mensch
Dezentralisierung und Bottom-up-
Prozesse
Adaptive und komplementäre
Interaktion
Folie 31Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Herausforderungen für das Management
Reduzierte Differenzen zwischen „White Collar“ und „Blue Collar“
Ausbau und Professionalisierung des Personalwesens
Wachsende Bedeutung von „Soft Skills“, insbesondere Team- und Kommunikationsfähigkeiten des Managements
„Führen auf Distanz“ und Motivation statt Kontrolle
Statt Hierarchie vermehrt „Peer-to-Peer“ Communities
Direkte Partizipation der Mitarbeiter und Mitbestimmung bei der Systemgestaltung
„Demokratisierung“ des Unternehmens?
Folie 32Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Vielfältige Herausforderungen für Politik
Insbesondere Gefahr eines „digital divide“ durch breit angelegte Kompetenzentwicklung vermeiden
Ausgleich struktureller Divergenzen zwischen Groß- und Kleinbetrieben bzw. „Hightech“- und Lowtech“-Sektoren – Vermittlung der spezifischen Potentiale vor allem für KMU
Generelle Förderung von Mitarbeiterfähigkeiten: Ausbau der Angebote des kontinuierlichen Lernens und der Nutzung innovativer digital-basierter Methoden
Nicht nur Förderung von „Hightech-Arbeit“, sondern auch Unterstützung geringqualifizierter Arbeit
Fokus auf spezifische Wissensdomänen und Branchenkompetenzen erforderlich
Folie 33Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Agenda1. Stand der Forschung: Perspektiven
digitalisierter Arbeit 2. Zum Verhältnis von Technik und Arbeit3. Digitale Arbeit als Gestaltungsprojekt4. Risiken und Chancen für Arbeit
Folie 34Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Verlust einfacher Arbeitsplätze sowie Erosion mittlerer Qualifikationen
Verdichtung und zugleich Entgrenzung von Arbeit – „work-life-balance“?
Neue, ungeregelte und individualisierte Formen von Arbeit – neue Anforderungen an sozialpolitische Regelungen
Neue Anforderungen an die Praxis der Mitbestimmung
Völlig ungeklärt: Datenschutz und Kontrollpotential
Fragmentierung der Industrielandschaft – Abkopplung nicht technologieintensiver KMU
Risiken von Industrie 4.0
Folie 35Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Chancen von Industrie 4.0
Chance zur Entwicklung eines neuen Leitbilds von Industriearbeit
Voraussetzung für eine humanorientierte Arbeitsgestaltung, z.B. differentielle Arbeitsgestaltung (Deuse et al. 2015)
Nutzung der Gestaltungspotenziale von Industrie 4.0 zur Steigerung der Attraktivität von Industriearbeit
Erhalt und Ausbau sozialpolitisch wünschenswerter Beschäftigung
Weiterentwicklung des deutschen Innovationssystems als Entwickler, Anbieter und Nutzer von Prozessinnovationen
Folie 36Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Perspektiven?
Bislang ungeklärte Reichweite und Einsatzfelder der neuen Systeme
Mögliche Produktivitätseffekte vs. hohe Kosten
Umstellungsprobleme und Kompatibilität mit bestehenden Daten-/IT-/Produktionsstrukturen
Vorbehalte und Desinteresse bei vielen KMU
Generell lang laufender evolutionärer Prozess, jedoch mit disruptiven Folgen in bestimmten Bereichen
„Digitale Inseln“ mit unterschiedlichen Formen der Arbeit?
Folie 37Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Leseempfehlungen
• Bainbridge, L. (1983): Ironies of automation. In: Automatica, 19/6, 775-779• Botthof, A.; Hartman, E.A. (2015): Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0.
Berlin/Heidelberg• Frey, C./Osborne, M. (2013): The Future of Employment: How Susceptible
are Jobs to Computerisation? Oxford Martin School (OMS) working paper. Oxford
• Hirsch-Kreinsen, H./ten Hompel, M. (2016): Digitalisierung industrieller Arbeit. Entwicklungsperspektiven und Gestaltungsansätze. In: Vogel-Heuser, B./Bauernhansl, T./ten Hompel, M. (Hrsg.): Handbuch Industrie 4.0. Produktion, Automatisierung und Logistik. Berlin/Heidelberg
• Hirsch-Kreinsen, H./Ittermann, P./Niehaus, J. (Hrsg.) (2015): Digitalisierung industrieller Arbeit. Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen. Baden-Baden/ Berlin
• Lutz, B. 1987: Das Ende des Technikdeterminismus und die Folgen. In: Lutz, B. (Hg.): Technik und Sozialer Wandel. Verhandlungen des 23. DeutschenSoziologentages. Frankfurt am Main, 34-57
• Trist, E./Bamforth, K. (1951): Some social and psychological consequences of the long wall method of coal-getting. In: Human Relations, 4/1, 3-38
Folie 38Hirsch-Kreinsen, Juni 2016
Forschungsgebiet Industrie- und Arbeitsforschung TU Dortmund