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Arbeitnehmerrechte globalisieren Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in Brasilien, den Niederlanden und Deutschland

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Arbeitnehmerrechteglobalisieren

Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen

in Brasilien, den Niederlanden und Deutschland

UNTERSCHIEDE KENNEN

GLEICHHEIT FÖRDERN

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Inhalt

Arbeitnehmerrechte globalisieren 5Das Observatório Social will gleiche soziale Standardsin multinationalen Konzernen durchsetzen

Zwischen Korporatismus und Klassenkampf 6Brasiliens Arbeitsbeziehungen im Wandel

Dialog und Konsens 20Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungenin den Niederlanden

Abschied vom Modell Deutschland 32Die deutschen Arbeitsbeziehungen zwischenWiedervereinigung und Globalisierung

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Wie verhalten sich europäische Un-ternehmen in Brasilien? Haben sie die gleichen sozialen Standards in ihren aus-ländischen Niederlassungen wie in ihrem Stammsitz? Wie geht es brasilianischen Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaf-ten in Unternehmen, die ihren Ursprung in Europa haben? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt beim Observatório Social in Brasilien und in Europa.

Das Observatório Social Europa wurde 2001 von Gewerkschaften in den Niederlanden, in Deutschland und in Brasilien gegründet und hat seinen Sitz in Amsterdam. Es ist die Schwesterorga-nisation des brasilianischen Observatório Social in Florianopolis und setzt sich zum Ziel, in sechs europäischen Unternehmen mit Niederlassungen in Brasilien den in-ternationalen Arbeits- und Umweltrech-ten Geltung zu verschaffen. Unterstützt wird das Observatório Social Europa vom brasilianischen Gewerkschaftsbund CUT und dessen Konföderationen der Metall- und Chemiegewerkschaften CNM und CNQ, der IG Metall und der IG Bergbau, Chemie, Energie, der Hans-Böckler-Stif-tung, dem DGB Bildungswerk sowie dem niederländischen Gewerkschaftsbund FNV und seiner größten Mitgliedsge-werkschaft FNV Bondgenoten.

Das Projekt umfasst Untersuchungen in den brasilianischen Niederlassungen der sechs deutschen und niederländi-schen Unternehmen Bayer, Bosch, Thys-senKrupp, Ahold, Philips und Unilever so-wie Austausch- und Seminarprogramme der betrieblichen Interessenvertreter und beteiligten Gewerkschaften. Verschie-dene Materialien sollen zur Information über internationale Arbeitnehmerrechte und zum besseren Verständnis der Situa-tion von Beschäftigten und Gewerkschaf-

ten in multinationalen Konzernen beitra-gen. Im Dialog mit dem Management der sechs Unternehmen wollen Betriebsräte und Gewerkschaften die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) mit Leben füllen und konkrete Ver-besserungen für die Arbeitnehmer und ihre Interessenvertreter in den brasiliani-schen Niederlassungen erreichen.

Die Arbeitsbedingungen der brasilia-

nischen und europäischen Arbeitnehmer sind ziemlich unterschiedlich. In den Nie-derlanden und in Deutschland ist die Mit-bestimmung in Unternehmen gesetzlich verankert; in Brasilien ist das nicht der Fall. Dort gibt es kaum Betriebsräte, wie sie in deutschen und niederländischen Unternehmen selbstverständlich sind. Während die Arbeitsbeziehungen in Brasilien oft noch durch autoritären Füh-rungsstil und häufige Konflikte geprägt sind, hat sich in Deutschland und den Nie-derlanden in vielen Unternehmen eine Kultur des Dialogs und der Zusammenar-beit zwischen Gewerkschaften, Betriebs-räten und Management entwickelt.

Diese Broschüre versucht zu erklären, wie solche Unterschiede entstanden sind. Um die internationale Zusammenarbeit von Arbeitnehmern und Gewerkschaften zu entwickeln, ist es wichtig zu wissen, in welcher gesellschaftlichen Lage die Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern leben und arbeiten. In drei Beiträgen wird die Entwicklung und der Stand der Arbeitnehmerrechte in Brasili-en, Deutschland und in den Niederlanden beschrieben. Es soll deutlich werden, wie die Gewerkschaften arbeiten und wie die Interessenvertretung in den Betrieben funktioniert. Weitere Broschüren zu den sechs Unternehmen und deren Arbeitsbe-ziehungen werden folgen.

Arbeitnehmerrechte globalisieren

Das Observatório Social will gleiche soziale Standards

in multinationalen Konzernen durchsetzen

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BRASILIEN

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BRASILIENFür einen Europäer ist das brasiliani-

sche Gewerkschaftssystem nur schwer zu verstehen. Nach geltendem Recht dürfte es die verschiedenen Dachverbände wie CUT, Força Sindical oder CGT gar nicht geben und dennoch mobilisieren sie die Arbeitnehmer und vertreten deren Interessen gegenüber Arbeitgebern und Regierung. Auf der anderen Seite existieren Arbeitsgesetze, die tausende von ‚Geistergewerkschaften‘ mit Hilfe einer Gewerkschaftssteuer künstlich am Leben halten. Die neue brasilianische Regierung unter dem früheren Ge-werkschaftsführer Ignacio Lula da Silva will mit diesen Widersprüchen Schluss machen und das Arbeitsrecht gründlich reformieren.

Extremer Reichtum

und dramatische Armut

Mit einem Staatsgebiet von 8,5 Mil-lionen Quadratkilometern ist Brasilien 23-mal so groß wie Deutschland und 204-mal so groß wie die Niederlande. Während die Mehrzahl der 175 Millio-nen Einwohner in städtischen Ballungs-räumen in Küstennähe lebt, nimmt die Bevölkerungsdichte im Inland stark ab. Brasilien hat viele Gesichter: Brasilianer sind Nachfahren von Indios und afri-kanischen Sklaven, Einwanderern aus Italien, Deutschland, Spanien, Portugal, den Niederlanden, Polen und anderen Ländern Europas und Asiens. Aus dieser Vielfalt und ihrer Vermischung sind neue Gesichter und Kulturen entstanden, die ganz unterschiedliche Züge in sich ver-eint und eine eigene brasilianische Be-völkerung geschaffen haben. Brasilien ist von starken sozialen und wirtschaft-lichen Unterschieden gezeichnet. Die Einkommensverteilung gehört zu den

Zwischen Korporatismus und KlassenkampfBrasiliens Arbeitsbeziehungen im Wandel

ungerechtesten auf der Welt. Auf der einen Seite finden wir extremen Reich-tum, Spitzentechnologie, moderne In-dustrieanlagen, eine rasant wachsende Dienstleistungsbranche und ein höchst modernes Finanzwesen. Auf der ande-ren Seite begegnen uns Kinder- und Sklavenarbeit, eine dramatische Zerstö-rung der Umwelt, nahezu grenzenlose Ausbeutung von Arbeitskräften und hohe Analphabeten- und Kindersterb-lichkeitsraten. Mehr als 22 Millionen Menschen in Brasilien leben heute unter der Armutsgrenze mit weniger als zwei US $ pro Tag. Die Arbeitslosenquote liegt bei etwa zwanzig Prozent. Diese Gegensätze bilden den Hintergrund für die Geschichte der Arbeiterbewe-gung, für ihre Streiks um höhere Löh-ne und Arbeitszeitverkürzungen, für Kampagnen und Demonstrationen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, für ihren Beitrag im Kampf um die bür-gerlichen und gesellschaftlichen Rechte. Die Geschichte der Arbeit wurde in Bra-silien wesentlich davon bestimmt, ob gewerkschaftliche Betätigung möglich war oder unterdrückt wurde. Denn wie überall auf der Welt sind Gewerkschaf-ten auch in Brasilien das Werkzeug, mit dem Arbeiter ihren Teil zur Geschichte beitragen.

Aristokratische Kaffeebarone

und anarchistische

Gewerkschaften

Im neunzehnten Jahrhundert orga-nisierten sich die Fabrikarbeiter in Bra-silien in Arbeiterhilfsvereinen und Ver-sicherungen, um sich bei Tod, Krankheit und Arbeitsunfällen gegenseitig helfen zu können. Später entstanden erste

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BRASILIENDie Einkommensverteilung gehört zu den ungerechtesten auf der Welt: Goldsucher im Amazonasgebiet

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BRASILIENArbeiterbünde, die sich mit fortschrei-tender Industrialisierung nach Branchen und Berufen zusammenschlossen und damit die Keimzelle der Gewerkschaften bildeten. Die noch lange Zeit fortbe-stehenden Arbeiterhilfsvereine wurden Schritt für Schritt von den Gewerkschaf-ten abgelöst, die von den Arbeitgebern mehr Lohn und bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen forderten. Im Jahr 1906 entstand mit der Confederação Operária do Brasil (COB) der erste bra-silianische Gewerkschaftsdachverband. Bis 1920 gaben die Anarchisten den Ton an: Sie forderten autonome, dezent-rale Gewerkschaften und setzten zur Verteidigung der Arbeitnehmerinter-essen auf direkte Aktionen wie Streiks. Geprägt war diese Zeit von radikalen Auseinandersetzungen mit den Unter-nehmen und der Regierung, die mit ih-rem repressiven Apparat hart gegen die zahlreichen Streiks für Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung vorging. Zwi-

Wiedergeburt einer freien Gewerkschaftsbewegung:

1. Mai 1986 in Sao Bernado do Campo

schen 1917 und 1920 erlebte allein São Paulo 112 Streiks. Eine der größten und erfolgreichsten Streikbewegungen der brasilianischen Geschichte, die sich zum Generalstreik ausweitete, ereignete sich im Jahr 1917. Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer existierten kaum und wurden auch dann nur selten befolgt. Der Kampfbereitschaft der Gewerk-schaftsbewegung, dem industriellen Wachstum nach dem Ersten Weltkrieg und den Auswirkungen der Russischen Revolution war es zu verdanken, dass ei-nige gewerkschaftliche Forderungen in den zwanziger Jahren vom Gesetzgeber aufgenommen wurden: Die Eisenbah-ner, eine zahlenmäßig große und sehr kämpferische Gruppe, setzten in einem Arbeitskampf 1923 die Gründung einer Rentenkasse und den gesetzlichen Kün-digungsschutz durch. Per Verordnung mit Gesetzeskraft erhielten Arbeitneh-mer in Industrie, Handel und Finanzwe-sen 1925 Anspruch auf 15 Tage bezahl-

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BRASILIENten Jahresurlaub. 1926 folgte das erste Kinder- und Jugendschutz-gesetz, das die tägliche Arbeits-zeit von Minderjährigen auf sechs Stunden begrenzte. Zum Ende der zwanziger Jahre waren die Streiks seltener geworden, die Repression dafür umso sys-tematischer. In dieser Zeit wurde auch der erste Arbeitgeberver-band gegründet. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 kam der Welthandel faktisch zum Erliegen und ausbleibende Exporte in die USA und Europa ließen den Kaffeeanbau, das wirtschaftliche Standbein der brasilianischen Volkswirtschaft, zusammenbrechen. Der Machtverlust der ländlichen Aristokratie, der Kaffee-barone aus den Bundesstaaten Minas Gerais und São Paulo, stürzte das Land in eine politische Krise ungekannten Ausmaßes. Während der ‚Revolution der dreißiger Jahre‘ kam das aufstrebende industrielle Bürgertum mit Hilfe des Mi-litärs unter Führung von Getúlio Vargas an die Macht. Eine neue Ära begann: Mit einem als ‚Nationales Entwicklungs-modell‘ beschriebenen Programm wurde die Industrialisierung Brasiliens vorange-trieben. Der autoritäre Staat übernahm die Regulierung und Aufsicht über den Arbeitsmarkt und definierte die bis heute gültigen Grundlagen für Tarifver-handlungen und gewerkschaftliche Inte-ressenvertretung. Die Regierung Vargas vertrat die Devise, dass eine aufholende Entwicklung nur durch Förderung der Industrialisierung mit Hilfe eines star-ken und autoritären Staates möglich sei. Dazu musste der Widerstand der unabhängigen Gewerkschaften, in denen Anarchisten und Kommunisten federführend waren, überwunden wer-den. Um die Gewerkschaften zu diszipli-nieren und zu kontrollieren wurde das Arbeitsministerium eingerichtet und mit der Verordnung 19.770 die ‚offizielle Ge-werkschaft‘ geschaffen: Gewerkschaften

Große Erwartungen an die Regierung Lula: CUT-Gewerkschafter in Rio Grande do Sul

und Klassenorganisationen wurden fort-an zu Stoßfängern im Widerstreit der Interessen. Fragen der Mindestentloh-nung, Arbeitsbedingungen und Arbeits-zeit wurden von ihnen unter direkter Aufsicht des Staates geregelt. Einige gewerkschaftliche Strömungen wider-setzten sich dieser ‚Gleichschaltung‘ und kämpften für den Erhalt unabhängiger Gewerkschaften. Letztlich jedoch setzte der Staat sich durch.

Staatliche Zwangsaufsicht

über die Gewerkschaften

Zu den Zwangsregulierungsmaßnah-men der Regierung Vargas gehörten das Recht auf Urlaub und die Einführung des Arbeits- und Sozialversicherungsauswei-ses (1934), der Kündigungsschutz und Abfindungsregelungen bei Kündigun-gen (1935), die Einrichtung der Arbeits-justiz (1941) sowie die Verkündigung des Arbeitsgesetzbuchs CLT (1943), das sich an die Carta del Lavoro des italienischen Faschismus anlehnte und bis heute gül-tig ist.

Nach den Bestimmungen des Ar-beitsgesetzbuches sind Gewerkschaften verpflichtet, mit dem Staat zusammen-zuarbeiten. Der Staat garantiert als eine

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BRASILIENArt Vormund die Rechte der Arbeitneh-mer und überträgt den Gewerkschaften einen Teil der Verantwortung, die diese dann in Tarifverhandlungen unter seiner Aufsicht wahrnehmen. In Gestalt der Arbeitsjustiz und durch Verordnungen des Arbeitsministeriums behält sich der Staat jedoch vor, die Arbeit der Gewerkschaften zu beaufsichtigen, in Arbeitskonflikte schlichtend einzugrei-fen und, falls nötig, auch die Löhne festzusetzen. Die Gewerkschaften sind nach Berufsgruppen organisiert und in ihrem Wirken räumlich beschränkt. Nach dem im Gesetz verankerten ‚Aus-schließlichkeitsprinzip‘ kann jeweils nur eine Gewerkschaft die Interessen einer Berufsgruppe innerhalb eines bestimm-ten Gebietes vertreten. Fünf oder mehr Gewerkschaften derselben Berufsgrup-pe können auf Ebene eines Bundes-staates, bundesstaatsübergreifend oder bundesweit eine Föderation bilden. Schließlich können drei oder mehr Fö-derationen einer Berufsgruppe eine bundesweite Konföderation gründen. Eine betriebliche Interessenvertretung ist im Arbeitsgesetzbuch ebenso wenig vorgesehen wie branchenübergreifende Dachverbände. Daher fehlt den in Bra-

Der Ablauf derTarifverhandlungen ist vom Gesetz genau vorgegeben:

Arbeiter beim Brennschneiden

silien in den achtziger Jahren gegrün-deten Gewerkschaftsdachverbänden bis heute die gesetzliche Grundlage.

Das CLT enthält eine große Vielzahl von arbeitsrechtlichen Detailvorschrif-ten. Neben Fragen des Mindestlohns, der Arbeitszeit, des Urlaubs und der Überstunden regelt es auch die Definiti-on der Berufsgruppen und die Rolle der Arbeitgeberorganisationen. Außerdem enthält es einen Katalog von Statuten für die Gründung einer Gewerkschaft. Wenn Verhandlungen zwischen Arbeit-gebern und Arbeitnehmern nicht vor-ankommen, wenn es zum Streik kommt oder eine Vereinbarung abgeschlossen wird, die nach Meinung der Regierung „den gesellschaftlichen Interessen scha-det“, kann der Staat nach eigenem Ermessen eingreifen, Streiks für illegal erklären, die Polizei einsetzen oder Ver-einbarungen für ungültig erklären.

Geistergewerkschaften und

Gewerkschaftssteuern

Zur Finanzierung der Gewerkschaf-ten wurde im Arbeitsgesetzbuch die ‚Gewerkschaftssteuer‘ geschaffen. Alle

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BRASILIENlohnabhängig Beschäftigten mit Arbeits- und Sozialversiche-rungsausweis zahlen pro Jahr den Lohn eines Arbeitstages als Gewerkschaftssteuer, gleich, ob sie gewerkschaftlich organisiert sind oder nicht. Diese Steuer-pflicht besteht unabhängig da-von, wie gut oder schlecht die zuständigen Gewerkschaften funktionieren. Der erhobene Be-trag wird an die Gewerkschaften (60 Prozent), Föderationen (15 Prozent) und Konföderationen (5 Prozent) der einzelnen Berufsgrup-pen ausgezahlt, die restlichen 20 Pro-zent behält die Regierung. Mit Hilfe dieser Steuermittel haben zahlreiche Gewerkschaften für ihre Mitglieder eigene Zahnarztpraxen, Friseursalons und Apotheken eingerichtet oder Kurse in Maschineschreiben veranstaltet. Die Gewerkschaftssteuer ist zugleich auch einer der Gründe für die hohe Zahl der Tarifparteien in Brasilien, die sich nach Angaben des Arbeitsministeriums auf etwa 15.000 beläuft (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände). Jährlich werden im Durchschnitt 500 neue Ge-werkschaften oder Arbeitgeberverbän-de gegründet. Der Gewerkschaftsbund CUT fordert zwar die Abschaffung der Gewerkschaftssteuer, doch auch von sei-nen Mitgliedsgewerkschaften sind nur wenige so konsequent wie die mächtige ABC-Metallgewerkschaft im Großraum São Paulo, die die Gewerkschaftssteuer an die Arbeiter zurückgibt und sich auf freiwillige monatliche Beiträge ihrer Mitglieder verlässt. Eine weitere Ein-nahmequelle der Gewerkschaften ist die Unterstützungsabgabe, die im Verlauf der Tarifverhandlungen ausgehandelt und auf einer Versammlung aller Arbeit-nehmer der betreffenden Berufsgruppe beschlossen wird. Eingeführt wurde diese Abgabe in einer Zeit, in der die Gewerkschaften an der Wahrnehmung ihres Auftrags gehindert wurden. In der Praxis ist die Unterstützungsabgabe bei

Der Staat kann Streiksfür illegal erklären:Bankangestellte im Streik

vielen Gewerkschaften heute zu einer Art Verhandlungsgebühr geworden: Sie dient der Finanzierung von Tarif-runden und Mobilisierungen oder der Erhöhung des Gewerkschaftsvermögens. Schließlich existiert noch die Konfödera-tionsabgabe, die mit der Verfassung von 1988 geschaffen wurde und im konföde-rativen System die Gewerkschaftssteuer ersetzen soll. Anders als bei der Steuer entscheiden die Arbeitnehmer auf einer Versammlung selbst über die Höhe der Abgabe und die Verwendung der Mittel.

Geburt einer neuen

Gewerkschaftsbewegung

Die verfassunggebende Versamm-lung, die nach dem Ende der Regierung Vargas im Jahr 1945 einberufen wurde, ließ das Arbeitsgesetzbuch unangetastet. So konnte das Militär nach dem Putsch 1964 mehr als 2.000 Gewerkschaften un-ter Berufung auf das Arbeitsgesetzbuch unter staatliche Zwangsverwaltung stel-len. Erst die Verfassung von 1988 brach-te einige wichtige Änderungen, jedoch ohne das CLT als Grundlage des brasili-anischen Arbeitsrechts anzutasten. Bis Mitte der siebziger Jahre wurde die brasilianische Gewerkschaftsbewegung durch die Militärdiktatur mit Gewalt von der politischen Bühne ferngehalten. Kämpferische Gewerkschaftsführer wur-den ihrer Ämter enthoben, eingesperrt

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BRASILIENoder ermordet. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre bildeten sich jedoch in den Produktionsstätten der multinatio-nalen Automobilkonzerne im Großraum São Paulo oppositionelle Gewerkschafts-gruppen heraus, die durch systematische Arbeit an der Basis und überbetriebliche Vernetzung zum Kern einer neuen brasi-lianischen Gewerkschaftsbewegung wur-den. Wie ein Donnergrollen kündigten die Massenstreiks in der Automobilin-dustrie in den Jahren 1978 und 1979 das nahende Ende der Militärdiktatur und die Wiedergeburt einer freien Gewerk-schaftsbewegung in Brasilien an. Erneut wurden Gewerkschaften unter Zwangs-verwaltung gestellt, Vorstände aus den Ämtern entfernt und ins Gefängnis ge-worfen. Trotz dieser Repressalien fand 1981 mit der „1. Konferenz der Arbeiter-klasse“ (1. CONCLAT) ein Versuch statt, Gewerkschaften aller Branchen an einen Tisch zu bringen und einen unabhängi-gen Dachverband zu gründen. Die für 1982 geplante Folgekonferenz scheiterte

jedoch an Meinungsverschiedenheiten. Als diese Konferenz auch ein Jahr später erneut aufgrund von Differenzen abge-sagt zu werden drohte, gründete ein Teil der Bewegung 1983 den Dachverband Central Única dos Trabalhadores (CUT). Wenige Monate später rief eine andere gewerkschaftliche Strömung den Ver-band CONCLAT ins Leben, der später in Confederação Geral dos Trabalha-dores (CGT) umbenannt wurde. Damit sprengte die brasilianische Gewerk-schaftsbewegung nach Jahrzehnten der Bevormundung das staatliche Zwangs-korsett und wurde in den Folgejahren zum Motor für Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit im größten Land Lateinamerikas. Der Machtzuwachs der neuen Gewerkschaften in den achtziger Jahren lässt sich auch an Zahlen ablesen. Im Jahr 1989 wurden fast 4.000 Streiks gezählt und der Organisationsgrad stieg sprunghaft von 13 auf 32 Prozent. In den neunziger Jahren hingegen gerie-ten die Gewerkschaften aufgrund der

GewerkschaftlicherOrganisationsgrad

1970-1980 1980-1990 1990-2000

13% 32% 21%

Arbeitskämpfe

Tarifverträge

wenige Streiks –Tarifkonflikte sind nurschwach ausgeprägt

geringe Bedeutung derTarifverhandlungen –Lösung meist durch dieArbeitsjustiz im Zugeder Zwangsschlichtung

starker Anstieg –1989 fast 4000 Streiksin ganz Brasilien

wachsende Bedeutungder Tarifverhandlungen –Zahl der Verhandlungs-lösungen nimmt von 1000(1970) auf 40000 (Endeder achziger zu)

Streikhäufigkeit sinktrapide –von 4000 (1989) auf520 (1999)

Steigende Zahl vonVerhandlungslösungen(55000) durchDezentralisierung undVerlagerung der Tarif-verhandlungen auf dieBetriebsebene

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BRASILIENzunehmenden Arbeitslosigkeit wieder in die Defensive, der Handlungsspielraum wurde enger, Streikhäufigkeit und Orga-nisationsgrad gingen zurück.

In Brasilien existieren heute etwa 11.300 Gewerkschaften, von denen sich knapp vierzig Prozent einem der verschiedenen Dachverbände ange-schlossen haben. Nach einer Erhebung des staatlichen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE) aus dem Jahr 2002 waren von diesen etwa zwei Drittel der CUT und knapp zwanzig Prozent dem zweitgrößten Gewerkschaftsbund Força Sindical angeschlossen. Weitere Gewerk-

Den Lohneines Arbeitstages als Gewerkschaftssteuer: Holzeinschlag inAmazonien

schaftsbünde in Brasilien sind die CGT, die SDS und der CAT. Die CUT, die CGT und die 1991 gegründete Força Sindical sind dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) und der ORIT, seinem Regionalverband für den ameri-kanischen Kontinent, angeschlossen. Die korporatistische Gewerkschaftskultur hat jedoch in Brasilien dazu geführt, dass gemeinsame Aktionen über Ver-bandsgrenzen hinweg selten sind. Mit ca. 3.100 Mitgliedsgewerkschaften und sieben Millionen organisierten Arbeit-nehmern ist die CUT der größte und wichtigste Gewerkschaftsbund Lateina-

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BRASILIENmerikas. Politisch steht die CUT der bra-silianischen Arbeiterpartei (PT) nah. De-ren Führer, Ignacio Lula da Silva, der zu den Gründungsvätern der CUT gehört, konnte Ende 2002 im vierten Anlauf die brasilianischen Präsidentschaftswah-len für sich entscheiden. Innerhalb der CUT existieren verschiedene politische Strömungen, deren Spektrum von sozi-aldemokratisch bis trotzkistisch reicht. Obwohl es nach brasilianischem Recht weder Gewerkschaftsdachverbände noch Verhandlungen mit diesen geben dürfte, werden sie jedoch faktisch aner-kannt. Sie vertreten die Beschäftigten in Verhandlungen mit Unternehmen und Staat und entsenden Delegierte in Gre-mien der Kommunen, Länder und des Bundes. Ein Beispiel: Der Arbeiterhilfs-fonds FAT wird als größter mit öffentli-chen Geldern gespeister Fonds Brasiliens von Un-ternehmern, Regierung und Arbeitnehmern gemeinsam verwaltet. Vertreten werden diese von den Gewerkschafts-dachverbänden. Auch in den kommunalen und bundesstaatlichen Ausschüssen für Beschäf-tigung und Einkommen arbeiten die Dachver-

bände mit. Nicht zuletzt bestehen auch ordentliche Beziehungen zu den Arbeit-geberverbänden.

Ungleichzeitigkeit

der Tarifverhandlungen

Nach dem Arbeitsgesetzbuch CLT sind Tarifverhandlungen auf eine Bran-che oder ein Unternehmen begrenzt und dürfen nur an einem bestimmten Stichtag zum Ende der Laufzeit aufge-nommen werden. Die Vertragslaufzeit beträgt im Allgemeinen ein Jahr. Für den Fall, dass kein neuer Tarifvertrag abgeschlossen wird, erlöschen die Vertragsvereinbarungen, ohne dass eine Nachwirkung vorgesehen wäre. Da jede Gewerkschaft einen anderen

Die Beschäftigten eines Betriebes werden meist

von mehrerenBerufsgruppen-

Gewerkschaftenvertreten:

Leibesübungen in einem japanischen Tochterunternehmen

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BRASILIENStichtag zu beachten hat, kann es gut vorkommen, dass Metallgewerkschaften in benachbarten Kommunen zu unter-schiedlichen Zeitpunkten verhandeln. Eine gemeinsame Mobilisierung für Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitver-kürzungen wird durch die territoriale Zersplitterung der Gewerkschaften und die Ungleichzeitigkeit der Tarifverhand-lungen enorm erschwert. Der Ablauf der Tarifverhandlungen ist vom Gesetz ge-nau vorgegeben: Vom sechzigsten Tag vor dem Stichtag wird Schritt für Schritt auf eine Einigung hingearbeitet. Ge-lingt dies nicht, tritt die Arbeitsjustiz als Zwangsschlichter auf den Plan. Das Ver-handlungsritual ist festgelegt: Zunächst werden dem Arbeitgeberverband oder dem Unternehmen die Forderungen vorgelegt. Kommt es zu einer Einigung,

muss die Gewerkschaft den Arbeitneh-mern das Ergebnis in einer Versammlung zur Abstimmung vorlegen. Tarifverein-barungen werden von einer Gewerk-schaft, Föderation oder Konföderation mit einem Arbeitgeberverband ausge-handelt. Die Vereinbarungen gelten für alle Arbeitnehmer desjenigen Gebiets, für das die verhandelnde Gewerkschaft, Föderation oder Konföderation zustän-dig ist. Betriebsvereinbarungen werden von einer Gewerkschaft, Föderation oder Konföderation mit einem oder mehreren Unternehmen abgeschlossen. Da das brasilianische Rechtssystem keine betriebliche Interessenvertretung vor-sieht, sind Vereinbarungen zwischen be-trieblichen Arbeitnehmervertretern und Unternehmen die Ausnahme. Die durch Unterzeichung von Betriebsvereinba-

rungen entstehenden Rechte gelten für alle Arbeitnehmer des oder der betreffenden Unter-nehmen. Die normative Gewalt der Arbeitsjustiz wird auf den Plan geru-fen, wenn ein Unterneh-men nicht bereit ist zu verhandeln. Beide Par-teien können beim re-gionalen Arbeitsgericht eine Zwangsschlichtung beantragen. In diesem Fall bestimmt das Ge-richt die Inhalte der Ver-einbarung. Gegen seine Entscheidung kann beim obersten Arbeitsgericht Berufung eingelegt wer-den. Eine Zwangsschlich-tung kann auch einseitig vom Unternehmen, vom Arbeitsgericht oder der dort angesiedelten Staatsanwaltschaft be-trieben werden. Dies geschieht normalerwei-se bei Tarifauseinander-setzungen und Streiks.

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BRASILIENIn diesem Fall wird auch darüber ent-schieden, ob das Mittel des Streiks miss-bräuchlich angewendet wurde. Stellt das Arbeitsgericht einen Missbrauch fest, so hat das Unternehmen die Möglichkeit, Kündigungen auszusprechen. Die an den Auseinandersetzungen beteiligten Gewerkschafter können aus dem Betrieb ausgeschlossen werden, wenn in einem Ermittlungsverfahren vor einer Kam-mer des Arbeitsgerichts ein erhebliches schuldhaftes Fehlverhalten festgestellt wird.

Gewerkschaften

in der Defensive

Da das brasilianische Recht ein Ein-greifen der Arbeitsjustiz zulässt, auch wenn diese nur von einer der Konflikt-parteien angerufen wird, steht es im

Widerspruch zur Konvention 98 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Die zentrale Rolle der Arbeitsge-richte und ihrer normativen Gewalt bei der Beilegung von Tarifkonflikten hat dazu geführt, dass ihre Entscheidungen für Inhalte von Tarif- und Betriebsver-einbarungen wegweisenden Charakter

haben. Dies gilt vor allem in Branchen und Unternehmen mit geringem Orga-nisationsgrad und Mobilisierungskraft. Seit Inkrafttreten der Verfassung von 1988 verhängen die Gerichte empfind-liche Strafen gegen Gewerkschaften, die das Mittel des Streiks nach einer Zwangsschlichtung anwenden und ha-ben dadurch einige Gewerkschaften in den finanziellen Ruin getrieben. Das bekannteste Beispiel sind die Erdölar-beiter, deren Gewerkschaft 1995 nach einem für illegal erklärten Streik pro Tag ein Bußgeld von 100.000 Real zahlen musste. Die Konten der Gewerkschaft wurden gesperrt, ihr Eigentum be-schlagnahmt. Solche Strafmaßnahmen haben unmittelbare Auswirkungen auf die Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften. Erfahrungen mit bun-desweiten Tarifrunden haben bisher nur die Bankangestellten, die ihre Ta-rifvereinbarung mit der brasilianischen Bankenföderation verhandeln sowie die Arbeitnehmer in den Elektrizitätswerken des Bundes. Da Brasilien das Prinzip der Industriegewerkschaft nicht kennt, wer-den die Beschäftigten eines Betriebes meist von mehreren Berufsgruppen-Ge-werkschaften vertreten. So werden etwa in einem Betrieb der Metallindustrie die Kraftfahrer von der Kraftfahrergewerk-schaft, die Verwaltungsangestellten von der Verwaltungsangestelltengewerk-schaft und die Metallarbeiter von der Metallarbeitergewerkschaft vertreten. Die Tarifführerschaft übernimmt in der Regel die Gewerkschaft mit den meis-ten Beschäftigten im Unternehmen, die kleineren Gewerkschaften schließen sich ihr an. Doch auch Vereinbarungen jeder einzelnen Berufsgruppe mit dem Unternehmen sind möglich. Arbeit-nehmer im öffentlichen Dienst dürfen sich erst seit der Verfassung von 1988 gewerkschaftlich organisieren. Ein Recht, Tarifverhandlungen zu führen, haben sie jedoch nicht. Mit dem neo-liberalen Wirtschaftsprogramm ‚Plano Real’ (1994) des früheren Präsidenten

Eine betrieblicheInteressenvertretung

ist im Arbeitsgesetznicht vorgesehen:

Chemiegewerkschafterin Barcarena bei Belém

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BRASILIENCardoso gerieten in den neunziger Jahren sowohl die Tarifverhandlungen als auch die Rechte der Beschäftigten unter Druck. Wirtschaftskrise und hohe Arbeitslosigkeit wurden von den Unter-nehmern genutzt, um ihrerseits neue Forderungen in die Tarifverhandlungen einzubringen. Die Unternehmen setzen seither verstärkt auf Kostensenkungs-programme durch Deregulierung, be-triebliche Umstrukturierungen, Abbau von Kündigungsschutzrechten, neue Entlohnungsmodelle mit Gewinn- und Ergebnisbeteiligungen sowie Flexibili-sierung durch Arbeitszeitkonten. In der für sie ungünstigen Lage nehmen die Gewerkschaften zumeist Verteidigungs-positionen ein und versuchen, sich dem Abbau von Arbeitsplätzen und Arbeit-nehmerrechten entgegenzustellen.

Mangelware: Betriebliche

Interessenvertretung

Für eine Fabrikkommission oder einen Betriebsrat, wie er in vielen eu-ropäischen Ländern existiert, gibt es in Brasilien keine Rechtsgrundlage. Das Arbeitsgesetzbuch CLT und die Ver-fassung von 1988 (Art. 11) sehen zwar vor, dass in Betrieben mit mehr als 200 Beschäftigten ein Gewerkschaftsvertre-ter zu wählen ist, ein Bundesgesetz zur Ausführung dieser Bestimmung fehlt je-doch. Gewerkschaftliche Arbeit findet in der Regel vor dem Betriebstor mit Laut-sprecherwagen und Flugblättern statt. Der fehlende Zugang zum Betrieb und zu betrieblichen Informationen stellt die Gewerkschaften vor große Probleme. Da unternehmerisches Handeln als Privat-angelegenheit gilt, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, seine Beschäftigten oder ihre Gewerkschaft über anstehen-de Veränderungen zu informieren. Ver-sammlungen - ja selbst das Verteilen der Gewerkschaftszeitung - sind nur nach vorheriger Genehmigung durch das Un-ternehmen möglich. Daher ist es für Ge-

werkschaftsfunktionäre oft nicht leicht, den Kontakt mit den Beschäftigten in den Betrieben zu halten. Es ist durchaus nicht selten, dass ein Unternehmen die gewählten Gewerkschaftsführer unter Beibehaltung der Lohnfortzahlung aus dem Betrieb aussperrt. Da es formal kein Organ der betrieblichen Interessenver-tretung gibt, sind Informationsaustausch und Verhandlungen am Arbeitsplatz kaum möglich. Nur in einer kleinen Zahl meist multinationaler Großkonzerne in der Region um São Paulo ist es den Ge-werkschaften gelungen, Fabrikkommis-sionen zu vereinbaren, die Ähnlichkei-ten mit Betriebsräten aufweisen, jedoch ohne gesetzliche Grundlage arbeiten. Die wenigen existierenden Gremien zur betrieblichen Interessenvertretung sind nur für Einzelfragen zuständig und meist völlig unabhängig von den Ge-werkschaften. Zu ihnen zählen die Ar-beitssicherheitsausschüsse (CIPA), die ge-setzlich vorgeschrieben und paritätisch besetzt sind. Der Arbeitgeber ernennt die eine Hälfte der Ausschussmitglieder, während die andere von den Beschäftig-ten gewählt wird. Die Wahl wird norma-lerweise vom Arbeitgeber kontrolliert, der dann auch den Vorsitz im Ausschuss übernimmt und den Gewerkschafts-einfluss zu begrenzen weiß. Da der betriebliche Arbeits- und Gesundheits-schutz immer noch ein Schattendasein führt, kann es nicht verwundern, dass Brasilien bei Arbeitsunfällen und Berufs-krankheiten weltweit einen traurigen Spitzenplatz belegt. In den letzten Jah-ren sind neue thematische Ausschüsse hinzugekommen, so etwa seit 2000 die

Gewerkschaftliche Arbeit findet in der Regel vor dem Betriebstor statt: Flugblattverteilen vor der Frühschicht

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BRASILIENVerhandlungs-kommission für Gewinn- und Ergebnisbetei-ligung, die in den Unterneh-men ohne Mit-wirkung der Gewerkschaften e i n g e r i c h t e t werden kann. Gegen diese Kommissionen regt sich starker Widerstand der Gewerkschaf -ten, denn sie lenken von den Mobilisierungen

für höhere Reallöhne im Rahmen der regulären Tarifrunden ab. Die gewerk-schaftliche Organisation wird durch diese Art von ‚Betriebsgewerkschaften‘ noch mehr geschwächt und die Flexibi-lisierung der Löhne und Gehälter weiter vorangetrieben. Zudem gelten die teils über sechs und mehr Monate verteilten Auszahlungen nicht als Lohnbestand-teile, womit für das Unternehmen die Zahlung von Sozialabgaben entfällt. Weitere Ausschüsse, die sich mit Arbeits-zeitkonten befassen, sind hingegen von den Gewerkschaften selbst durchgesetzt worden, um die Beschäftigten aktiv in die Entscheidungen einzubeziehen.

Fortschreitende

Deregulierung oder

Vorrang für

Arbeitnehmerrechte?

Prägend für die Arbeitsbeziehungen in Brasilien während des vergangenen Jahrzehnts war die fortschreitende De-regulierung und Flexibilisierung des Ar-beitsmarkts. Am Anfang dieses tiefgrei-fenden Veränderungsprozesses standen

In Brasilien existieren über elftausend Gewerkschaften:

Metallgewerkschafter im Bundesstaat Rio de Janeiro

Gesetzentwürfe zur Flexibilisierung von Beschäftigung, Entlohnung, Gewerk-schaftsstruktur und Arbeitsjustiz. Dazu gehört das Gesetz über Zeitarbeit, das Zeitverträge mit einer Dauer von bis zu 24 Monaten erlaubt. Für Überstun-den, die im Rahmen von Zeitverträgen erbracht werden, sieht das Gesetz ge-ringere Zuschläge vor. Außerdem führt es Arbeitszeitkonten ein. Die Flexibi-lisierung der Arbeitszeit kann in einer Betriebs- oder Tarifvereinbarung verein-bart werden. Im Bereich der Arbeitsjus-tiz wurden betriebliche Einigungsstellen eingerichtet. Ihre Aufgabe ist die Lösung individueller Konflikte am Arbeitsplatz. Um die Justiz zu entlasten, sollen die Streitparteien eine außergerichtliche Einigung anstreben. Besetzt werden die Einigungsstellen paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit zwei bis zehn Mitgliedern. Die Vertre-ter der Beschäftigten werden gewählt; bei der Wahl kommt der zuständigen Gewerkschaft eine Kontrollfunktion zu. Aus Sicht der Gewerkschaften besteht allerdings die Gefahr, dass diese Stellen dazu missbraucht werden, den Zugang zu den Gerichten einzuschränken. All diese Veränderungen geschehen vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Stagnation und der weiter steigenden Arbeitslosigkeit. Mehr als die Hälfte der abhängig Beschäftigten bekommt schon heute weder Weihnachtsgeld, bezahlten Urlaub, Sozial- und Unfallversicherungs-schutz oder Sozialleistungen. Dramatisch ist nicht zuletzt die hohe Zahl der Men-schen, die ohne jede Sozialversicherung informell oder gar illegal beschäftigt sind. Die CUT und ihre Mitgliedsgewerk-schaften setzen jetzt große Erwartungen in die Regierung des ehemaligen Me-tallarbeiters und Gewerkschaftsführers Lula, dessen Wahl sie mit erheblichem personellen und finanziellen Einsatz unterstützt haben. Von ihr erhoffen sie eine Umkehr der Politik der neoliberalen Deregulierung hin zu mehr Beschäfti-gung, sozialer Gerechtigkeit und Schutz

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von Arbeitnehmerrechten. Der neue Arbeitsminister, Jaques Wagner, der wie Lula aus der Gewerkschaftsbewegung kommt, hat grundlegende Reformen der brasilianischen Arbeitsbeziehungen in Aussicht gestellt. Wie weit die PT-Re-gierung dabei gehen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die CUT sie bei der Umsetzung ihrer eigenen, langjährigen Forderungen aktiv unterstützt. Die Abschaffung der Gewerkschaftssteuer etwa würde zu einem Massensterben von Gewerkschaften führen, von dem auch zahlreiche Gewerkschaften der CUT betroffen wären.

Brasilien hat viele Gesichter:Metallarbeiter in Canoas

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NIEDERLANDEDie Gewerkschaftsbewegung in den

Niederlanden nimmt eine einflussreiche Stellung innerhalb der Gesellschaft ein. Der über Jahrhunderte geführte Kampf gegen das Wasser hat in den Niederlan-den eine besondere Kultur von Zusam-menarbeit und Suche nach pragmati-schen Lösungen entstehen lassen, die auch auf die Arbeitsbeziehungen ihren nachhaltigen Einfluss ausübt.

In den kleinen Niederlanden haben zahlreiche multinationale Konzerne ih-ren Hauptsitz. Was diese Unternehmen im Rest der Welt tun, ist nicht nur Sache des dortigen Managements, der Arbeit-nehmer oder der staatlichen Behörden, sondern auch der Geschäftsführungen, Regierungen, Gewerkschaften und Ver-braucher im Mutterland. Der Gewerk-schaftsbund FNV betrachtet es als seine Aufgabe, die internationalen Strategien der niederländischen Konzerne kritisch zu begleiten. Das Verständnis der Politik dieser Unternehmen trägt zu einer Ver-besserung der Gewerkschaftsstrategien bei. Umgekehrt trägt die Kenntnis der Arbeitsweise, Entstehung und Basis der niederländischen Gewerkschaftsbewe-gung zu einer besseren internationalen Zusammenarbeit zwischen Gewerk-schaften und Arbeitnehmern bei. Mit 1,2 Millionen Mitgliedern ist die FNV der größte gewerkschaftliche Dachver-band der Niederlande. Der Christliche Gewerkschaftsbund CNV hat 360.000 Mitglieder. Darüber hinaus gibt es noch einen Verband des Personals der mittle-ren und höheren Ebene (MHP), der etwa 150.000 Mitglieder zählt. Insgesamt sind bei einer Bevölkerung von 16 Millionen

Einwohnern und 7,5 Millionen Werktä-tigen 1,9 Millionen Arbeitnehmer ge-werkschaftlich organisiert.

Multinationale

Konzerne

und internationale

Gewerkschafts-

kooperation

Die internationale Solidarität hatte in der niederländischen Gewerkschafts-bewegung schon immer einen hohen Stellenwert. Angesichts der rasanten Internationalisierung der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten hat die grenz-überschreitende Zusammenarbeit von Arbeitnehmern erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Praxis hat gezeigt, dass es den Gewerkschaften schwer fällt, mit den multinationalen Unternehmen Schritt zu halten. Die Geschäftsführun-gen großer multinationaler Konzerne sind in einem viel stärkeren Maße inter-national tätig als die Arbeitnehmerver-treter in den einzelnen Niederlassungen. Während Unternehmen die Standorte wechseln und deren Konkurrenz unter-einander für ihre Zwecke nutzen kön-nen, müssen Gewerkschaften zunächst einmal ihre nationale Basis vertreten, was teilweise auf Kosten der Kollegen in anderen Ländern gehen kann. Da immer mehr wirtschaftspolitische Entscheidun-gen auf EU-Ebene getroffen werden, arbeiten die niederländischen Gewerk-

Dialog und Konsens Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in den Niederlanden

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Zahlreiche multinationale Konzerne haben ihren Hauptsitz in den Niederlanden:

Arbeiter bei Philips

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NIEDERLANDEschaften intensiv an einer Stärkung der europäischen Kooperation. Die FNV ist aktives Mitglied des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) und viele niederländische Gewerkschaften sind Mitglied eines europäischen Dachver-bandes ihrer Branche. Gewerkschafts-funktionäre der FNV reisen regelmäßig zur EU nach Brüssel, um in zahlreichen Kommissionen und Gremien europäi-sche Angelegenheiten zu erörtern. In Brüssel verfügt die FNV auch über ein ei-genes Lobbybüro. In den letzten Jahren wurde außerdem die Zusammenarbeit mit außereuropäischen Gewerkschaften intensiviert. Die FNV unterhält enge Kooperationsbeziehungen zu Gewerk-schaftsbünden in Südkorea, Südafrika und Brasilien. Auf Projektebene beste-hen Beziehungen zu Gewerkschaften in weiteren Ländern. Eine besondere Ab-teilung, FNV Mondiaal, konzentriert sich – teilweise aus dem Regierungsbudget für Entwicklungskooperation finanziert

– auf die Stärkung der Gewerkschaften und die Verbesserung der Lage der Ar-beitnehmer in Entwicklungsländern und in Osteuropa. Im Rahmen des Projekts ‚Company Monitor’ werden Studien zu den Aktivitäten (niederländischer) mul-tinationaler Konzerne im Süden erar-beitet. FNV Mondiaal beteiligt sich auch an der aktuellen Diskussion über soziale Verantwortung von Unternehmen in den Niederlanden. Die FNV betrachtet es als seine Aufgabe, die Politik nieder-ländischer multinationaler Konzerne in den Entwicklungsländern im Auge zu behalten. Diese Unternehmen müssen mindestens die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) sowie die Leitlinien der Organisa-tion für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für multina-tionale Unternehmen einhalten. Die Einhaltung der Gesetze des jeweiligen Landes reicht in vielen Fällen nicht aus. Jedes Unternehmen müsste einen

Konflikte werden meist durch Dialog gelöst: Kassiererin

bei Albert Heijn

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NIEDERLANDEVerhaltenskodex aufstellen, der konkret beschreibt, was dem Unternehmen gestattet ist und was nicht und eine Kontrolle durch unabhängi-ge Instanzen zulassen. Diese Normen sollten nicht nur für die eigenen Niederlassun-gen, sondern auch für Sub-unternehmer und Zulieferer gelten.

Drei Säulen der

niederländischen

Konsens-

gesellschaft

Die FNV entstand 1982 aus einem Zusammenschluss des sozialdemokratischen Gewerkschaftsbundes NVV und des katholischen Ge-werkschaftsbundes NKV. Seit dem neunzehnten Jahrhun-dert war die niederländische Gesell-schaft in drei große Gruppierungen, die so genannten Säulen, unterteilt: eine katholische, eine protestantische und eine sozialdemokratische. Diese Säulen verfügten über eigene politische Par-teien, Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-verbände, Radio- und Fernsehsender, Wohnungsbaugenossenschaften und Entwicklungsorganisationen. Die Ge-sellschaft war also nicht nur horizontal in Klassen, sondern auch vertikal geteilt. Zwischen diesen Säulen wurde durch Verhandlungen und Kompromisse die politische Macht aufgeteilt. Eine starke kommunistische Bewegung hat es in den Niederlanden nie gegeben - außer während des Zweiten Weltkrieges, als es den Kommunisten gelang, einen Streik gegen die deutschen Besatzer zu organisieren. Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts begannen sich diese Säulen, nicht zuletzt aufgrund

des zunehmenden Bedeutungsverlusts der Kirchen, allmählich aufzulösen. Im Zuge der wachsenden Individualisie-rung fielen alte Trennlinien fort und die Gewerkschaftsbünde beschlossen, ihre Kräfte zu bündeln. Der protestantische Gewerkschaftsbund CNV entschied sich zwar im letzten Moment gegen einen Zusammenschluss mit dem katholischen Gewerkschaftsbund NKV und dem sozi-aldemokratischen Gewerkschaftsbund NVV, aber die Zusammenarbeit mit der neu entstandenen FNV funktioniert im politischen Alltag trotzdem sehr gut. Auch die Arbeitgeberverbände VNO und der christliche NCW schlossen sich zum VNO-NCW zusammen. Nur der Verband für kleine und mittlere Unternehmen (MKB) blieb eigenständig. Die Säulen verschwanden, aber die dazugehörige Konsenskultur blieb intakt. Nach wie vor werden Konflikte zwischen Arbeitge-bern und Arbeitnehmern weitestgehend

Niederländer kommen schnell auf den Punkt: Altbausanierung in Rotterdam

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NIEDERLANDE

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NIEDERLANDEdurch Verhandlungen gelöst. Die nie-derländischen Gewerkschaften und Ar-beitgeberverbände führen regelmäßig Gespräche - nicht nur auf Branchenebe-ne über die konkreten Arbeitsbedingun-

gen, sondern auch über die Grundzüge der niederländischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Konsens und Dialog sind die beiden Schlüsselbegriffe der Arbeits-beziehungen in den Niederlanden.

Der Polder

als wirtschaftliches

Erfolgsmodell

Unter dem Begriff des Poldermodells wurde das niederländische System der Arbeitsbeziehungen in den neunziger Jahren international bekannt. Der Pol-der ist in den Niederlanden ein Stück

Land, das dem Meer durch Eindeichung und anschließendes Auspumpen abge-wonnen wurde. Er steht für den ständi-gen Kampf der Niederländer gegen das Wasser, der die politischen und sozialen Gegner in der Abwehr der gemeinsamen Gefahr zur Zusammenarbeit zwingt. Das Poldermodell wurde in internati-onalen Finanz- und Wirtschaftskreisen vor allem wegen der Bereitschaft der niederländischen Gewerkschaften zu maßvollen Lohnforderungen gelobt. Eine jährliche Lohnerhöhung von ledig-lich einem Prozent war über viele Jahre die Regel. Im Gegenzug machten die Arbeitgeber zahlreiche Zusagen, wie beispielsweise kürzere Arbeitszeiten, Kündigungsschutz, Renten- und Ur-laubsregelungen oder Kinderbetreuung. Der langjährige sozialdemokratische Premierministers Wim Kok hatte in den achtziger Jahren als Gewerkschaftsfüh-rer die Grundlage für das Poldermodell gelegt: stetiges wirtschaftliches Wachs-tum und niedrige Arbeitslosigkeit durch relativ niedrige Löhne und internati-onale Wettbewerbsfähigkeit. Gerade die Tatsache, dass diese Strategie von Sozialdemokraten und Gewerkschaften mitgetragen wurde, machte die Stärke des Modells aus. In jüngster Zeit sind die Gewerkschaften jedoch immer weniger zu einer Fortsetzung dieser moderaten Lohnpolitik bereit, zumal die Manager in den Führungsetagen niederländischer Unternehmen sich selbst enorme Ein-kommenssteigerungen und vorteilhafte Optionsregelungen genehmigt haben.

Institutionalisierte

Interessenvertretung

Die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung ist auf vielfältige Weise insti-tutionalisiert. Der Sozialwirtschaftliche Rat (SER), in dem sowohl die Gewerk-schaften und Arbeitgeberverbände als auch vom Staat eingesetzte Experten

Spielräume fürbetriebliche Regelungen

in den Tarifverträgen: Angestellte

leiden oft unter Stress

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NIEDERLANDEvertreten sind, fungiert als ein-flussreiches Beratungsgremium gegenüber der Regierung. Der SER gibt Empfehlungen zu den Grundzügen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Darüber hin-aus gibt es noch viele weitere Gremien. Im Rahmen des SER legten die Sozialpartner der Re-gierung 2002 eine einstimmige Empfehlung zur Neugestaltung des Erwerbsunfähigkeitsgeset-zes (WAO) vor. Dieses Gesetz regelt die Sozialhilfeleistungen und –einrichtungen für Arbeit-nehmer, die wegen Krankheit, Unfall oder aus anderen Gründen nicht mehr am Arbeitsleben teilnehmen können. Das betrifft fast eine Million Menschen. Aufgrund dieser hohen Zahl von Er-werbsunfähigen geriet das System von verschiedenen Seiten unter Druck. Die Regierung muss den Empfehlungen des SER nicht Folge leisten, was in diesem Fall ausnahmsweise auch nicht geschah, sie muss ihre ablehnende Entscheidung dann aber begründen. Ein anderes wich-tiges Gremium ist die 1945 von FNV, CNV und MHP mit den Arbeitgeberverbän-den VNO-NCW und MKB gegründete ‚Stiftung der Arbeit’. Hier werden regel-mäßig zwischen den Sozialpartnern die Arbeitsbeziehungen in den Niederlan-den erörtert. Einen wichtigen Einfluss üben die Gewerkschaften auch in den Aufsichtsräten der niederländischen Rentenfonds aus, wo sie gemeinsam mit den Arbeitgebern vertreten sind. Für diese übergreifenden Aufgaben sind die Dachverbände FNV und CNV zuständig, während die Einzelgewerk-schaften sich auf die Arbeitsbedingun-gen in den Betrieben und Branchen kon-zentrieren. Die FNV widmet sich aber auch anderen politischen Themen wie Umwelt, Gesundheitsversorgung oder Diskriminierung. Sie engagiert sich für Arbeitslose, in dem er politischen Druck ausübt, um das Arbeitslosengeld auf vertretbarem Niveau zu halten und plä-

diert für Umschulungen oder setzt sich für Unterstützungsmaßnahmen bei der Arbeitssuche ein. In ihrem Widerstand gegen die Sparmaßnahmen, die von den verschiedenen niederländischen Regie-rungen seit Beginn der achtziger Jahre durchgeführt wurden, musste die nie-derländische Gewerkschaftsbewegung auch Niederlagen hinnehmen. Wichtige Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Erwerbsunfähigkeits- und Altersrente (AOW) wurden zum Teil erheblich be-schnitten.

Streiks nur in Ausnahmefällen

In den Betrieben und auf Branchen-ebene sind es die Einzelgewerkschaf-ten, die die konkreten Verhandlungen führen. Die FNV besteht aus 14 Einzel-gewerkschaften, der CNV aus 11. Auch wenn zwischen den Gewerkschaften der beiden Dachverbände zum Teil unterschiedliche Ansichten existieren, wird in der Praxis oft zusammengear-beitet und eine gemeinsame Strategie angestrebt. Alle Gewerkschaften sind nach Branchen organisiert. Die größte niederländische Einzelgewerkschaft ist FNV Bondgenoten mit 495.000 Mitgliedern, die Ende der neunziger Jahre durch einen Zusammenschluss der vier Arbeitnehmerorganisationen Industriebond (Industriegewerkschaft), Dienstenbond (Gewerkschaft der Dienst-

Die Gewerkschaften sind immer weniger zur Fortsetzung der moderaten Lohnpolitik bereit: FNV Bondgenoten mobilisiert zum Warnstreik

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NIEDERLANDEleistungsbranche), Vervoersbond (Trans-portgewerkschaft) und Voedingsbond (Gewerkschaft der Lebensmittelbran-che) entstanden ist. Gemeinsam mit der FNV-Beamtengewerkschaft ABVAKABO, die 360.000 Mitglieder zählt, stellen die-se beiden großen Gewerkschaften mehr als siebzig Prozent der Mitgliedschaft im FNV. Verschiedene, dem FNV angeschlos-sene Gewerkschaften organisieren auch Selbständige. Profifußballer und andere Profisportler haben sich im FNV Sport zusammengeschlossen. Andere FNV Ge-werkschaften organisieren Journalisten, Friseure, Künstler, Grafiker, Handwerker und sonstige selbstständige Dienstleister, die kein eigenes Personal beschäftigen.

In jeder Gewerkschaft gibt es Funkti-onäre, die für einen bestimmten Betrieb oder eine bestimmte Branche zuständig sind. Sie halten die Kontakte zu den Füh-rungskräften der Unternehmen und füh-ren auch die Tarifverhandlungen. Große

Konzerne verhandeln häufig selbst mit der Gewerkschaft und schließen dann einen Firmentarifvertrag ab. Kleinere Betriebe hingegen lassen sich von ihrem Branchenverband vertreten, der mit der Gewerkschaft einen Flächentarifvertrag abschließt. Im Tarifvertrag werden für die gesamte Branche Vereinbarungen über Löhne und Arbeitsbedingungen getroffen. Der Tarifvertrag erhält eine staatliche Allgemeinverbindlichkeitser-klärung, das heißt, dass er für sämtliche Unternehmen und Beschäftigte der betreffenden Branche gilt. Auch Arbeit-nehmer, die nicht Mitglied einer Gewerk-schaft sind, profitieren dadurch von den Vereinbarungen zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern. Bisweilen ziehen sich die Tarifverhandlungen über Monate hin und dann bekräftigen die Gewerk-schaften ihre Forderungen manchmal auch mit Arbeitsunterbrechungen. Das Streikrecht ist in den Niederlanden nicht

Federatie FNV Sport(Profifußballer u. a.)

495 000

360 000

160 000

75 000

50 000

26 000

26 000

19 000

7 500

7 400

6 300

850

FNV Bondgenoten

ABVAKABO FNV (Beamte)

FNV Bouw (Baubranche)

AOb(Erziehung und Bildung)

FNV KIEM(Kunst und Information)

FNV Horecabond (Gastronomieund Hotelbeschäftigte)

AFMP (Militärangehörige)

NPB (Polizei)

Kapperbond FNV /FNV Schoonheids-verzorging (Friseure)

NVJ (Jounalisten)

FWZ (Seefahrt)

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gesetzlich geregelt, jedoch durch die Rechtsprechung faktisch anerkannt. Ein Streik kommt für die niederländischen Gewerkschaften nur als letzte Möglich-keit in Frage, auf die nicht oft zurückge-griffen wird. Meistens werden Konflikte durch Dialog gelöst. Die Niederlande sind neben der Schweiz und Österreich das Land mit den wenigsten Streiks in Europa.

Die FNV als Dienstleister

Die Grundlinien für die Tarifver-handlungen, die im Prinzip jedes Jahr stattfinden, werden von der FNV und ihren Gewerkschaften gemeinsam festgelegt. Dabei wird mindestens ein Ausgleich der Inflationsrate angestrebt, denn die Kaufkraft der Arbeitnehmer soll nicht sinken. Doch die Gewerk-schaften berücksichtigen auch, dass die Gehälter nicht zu sehr steigen, um keine Arbeitsplätze zu gefährden. Über die konkrete Ausgestaltung des Tarifver-trags verhandeln anschließend die Ge-werkschaften. Ein Tarifvertrag umfasst teilweise mehrere Dutzend Seiten, weil darin nicht nur das Einkommen festge-legt wird, sondern auch die Länge des Arbeitstages, die Mehrarbeitszuschläge, Urlaubsregelungen, Renten- und Inves-

tivlohnregelungen, Aus- und Weiterbil-dung, Maßnahmen zum Schutz ethni-scher Minderheiten und gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sowie Ein-richtungen und Sonderarbeitsplätze für Behinderte. Der zunehmende Wunsch der Arbeitnehmer selbst individuelle Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber auszuhandeln, hat Diskussionen über die Funktion der Tarifverträge innerhalb der Gewerkschaftsbewegung hervorgeru-fen. Die Tarifverträge der letzten Jahre bieten mehr Spielräume für betriebliche Regelungen und für Sondervereinbarun-gen zwischen einzelnen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die FNV vertritt nicht nur die gemeinsamen Interessen der Arbeitnehmer, sondern bietet ihren Mit-gliedern auch zahlreiche Dienstleistun-gen an. Der ‚Ledenservice’ (Mitglieder Service) gibt Auskunft in Fragen des Ar-beitsrechts und der sozialen Sicherheit. Manche Gewerkschaften bieten ein sehr umfassendes Dienstleistungspaket an, andere begrenzen ihr Angebot. Bei Be-darf wird auch Rechtshilfe gewährt. Spe-ziell geschulte Freiwillige unterstützen die Mitglieder jedes Jahr beim Ausfüllen der Steuererklärung. Eine weitere Ser-vicestelle hilft Arbeitnehmern, die durch Berufskrankheiten bedroht sind. So wer-den unter anderem Schadenersatzfor-

Widerstand gegen Sparmaßnahmen: Kundgebung der Beamtengewerkschaft

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NIEDERLANDEderungen gegen Betriebe gerichtet, die keine ausreichenden Maßnahmen zum Schutz vor Gesundheitsrisiken für ihre Beschäftigten getroffen haben.

Mitbestimmung im Betrieb

In den Niederlanden gilt ein relativ weitreichendes System der Mitbestim-

mung durch Betriebsräte (Onderne-mingsraden). In allen Betrieben mit mehr als fünfzig Beschäftigten müssen in der Regel alle drei Jahre Betriebsratswahlen stattfinden. Wie in Deutschland haben auch niederländische Betriebsräte Infor-mations-, Konsultations- und Mitbestim-mungsrechte. Betriebsräte müssen früh-zeitig vom Arbeitgeber über wichtige betriebliche Vorhaben informiert und befragt werden. Bei Übernahmen, Fusi-onen, Umstrukturierungen, Einführung neuer Technologien oder größeren In-vestitionen muss das Unternehmen den Betriebsrat schriftlich über Ausmaß und Folgen informieren und dessen Stellung-nahme einholen. Dem Betriebsrat wird Zeit eingeräumt, um gegebenenfalls mit Hilfe externer Berater, die vom Ar-

beitgeber bezahlt werden müssen, den vorgelegten Plan zu analysieren und mögliche Alternativen zu formulieren. Der Arbeitgeber muss diese Alternativen eingehend prüfen und eine begründete Antwort darauf geben. Eine Zustimmung des Betriebsrats benötigt das Unterneh-men bei allen Fragen der Regelung der Arbeitszeit und des Urlaubs, Bezahlung

von Löhnen und Gehältern, Entlassungen und Eingrup-pierungen, betrieblichen Renten- oder Gewinnbetei-ligungssystemen, beruflicher Bildung und Qualifizierung, Beschwerden und personen-bezogenen Daten. Spezielle Betriebsratsausschüsse be-schäftigen sich beispielsweise mit Fragen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. In Groß-konzernen existieren neben den Betriebsräten in den ein-zelnen Niederlassungen auch Gruppenbetriebsräte (pro Geschäftseinheit) sowie ein Zentralbetriebsrat (ZBR) für die gesamte Holding. In den Betriebsratsgremien sind so-wohl Gewerkschaftsmitglie-der als auch Unorganisierte

vertreten. Jeder Arbeitnehmer kann sich zur Wahl stellen. Es kommt durchaus vor, dass auch gewerkschaftlich organisierte Betriebsratsmitglieder einen Kurs verfol-gen, der nicht unbedingt mit den Positi-onen der Gewerkschaft übereinstimmt. Das hängt mit dem Charakter des Gre-miums zusammen, welches nicht nur die Interessen der Arbeitnehmer vertreten, sondern auch die des Unternehmens berücksichtigen muss. Auf europäischer Ebene befindet sich die Mitbestimmung noch in den Kinderschuhen. Europäische Betriebsräte, deren Einrichtung seit 1994 durch eine Richtlinie der Europäischen Union möglich ist, besitzen lediglich Informations- und Konsultationsrechte, jedoch keine echten Mitbestimmungs-möglichkeiten. Es fällt ihnen deutlich

NIEDERLANDEIn der Praxis arbeiten

die beiden Gewerkschafts-dachverbände oft gut

zusammen: Instandhaltungsarbeiten

an der Autobahn

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Große Konzerne verhandeln häufig selbst mit der Gewerkschaft: Montagearbeiter im Kraftwerksbau

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schwerer als den Geschäftsführungen der multinationalen Unternehmen, sich zu organisieren. Vielfach treten Sprachprobleme auf, obwohl bei den Sitzungen meistens Dolmetscher anwe-send sind. Eine wichtige Rolle spielen jedoch die inoffiziellen Kontakte, bei denen die Verständigung dann ein Problem darstellt. Das gilt nicht nur für die Arbeitnehmervertreter aus südeu-ropäischen Ländern, sondern auch für Deutsche oder Franzosen, die Englisch

nicht immer gut beherr-schen. Darüber hinaus existieren große Unter-schiede in den Mitbe-stimmungskulturen der einzelnen EU-Staaten. In den Niederlanden bilden Mitbestimmung und Gewerkschaftsbe-wegung zwei parallele Strukturen, die in relativ harmonischem Einklang miteinander funktionie-ren und sich zum Teil überlappen (EBR-Mit-glieder sind oft auch Ge-werkschaftsmitglieder). In Frankreich und Groß-britannien sitzen in den Mitbestimmungsgremi-en hauptsächlich Ge-werkschaftsfunktionäre, die politische Interessen verfolgen und oft eine radikalere Haltung ge-genüber der Geschäfts-führung einnehmen. Ein häufiges Missverständ-nis ergibt sich aus den niederländischen Um-gangsformen zwischen Arbeitnehmervertretern und Geschäftsführun-gen: Niederländische Betriebsratsmitglieder (und Gewerkschafts-funktionäre) duzen die Manager und trinken

mit ihnen auch mal ein Bier an der Bar. Es kommt regelmäßig vor, dass ihre Kolle-gen aus anderen europäischen Ländern das als Kollaboration auffassen. Jedoch bedeutet das keineswegs, dass sich die Niederländer weniger engagiert für die Interessen der Arbeitnehmer einsetzen. Auch die direkte und pragmatische Art der Niederländer löst bisweilen Befrem-den aus. Während manche Redner lange Vorreden halten oder Kritik nur ver-halten äußern, kommen Niederländer

Weitreichendes System der Mitbestimmung durch Betriebsräte: Kontrolltätigkeiten

bei Philips

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schnell auf den Punkt. Sie sagen offen, was sie wollen und was ihnen nicht ge-fällt und das kann andere durchaus vor den Kopf stoßen.

Der Tarifvertrag erhält eine staatliche Allgemeinverbindlichkeits-erklärung: Rostschutzarbeiten im Metallbau

Gewerkschaften sind nach Branchen organisiert: Verladearbeiten im Rotterdamer Hafen

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Für brasilianische Gewerkschafter ist es oft irritierend, wenn deutsche Ge-werkschafter mit Aufsichtsratsdelegatio-nen deutscher Multis nach Brasilien rei-sen und gemeinsam mit Arbeitgebern im gleichen Hotel übernachten. Fast scheint es manchem, als ob sich beide zu gut verstehen. Tatsächlich sind die Arbeits-beziehungen in Deutschland vielschich-tig, aber keineswegs nur kooperativ. Sie sind geprägt von einer 150-jährigen Ge-schichte gewerkschaftlicher Kämpfe und dem Trauma der Zerschlagung der freien Gewerkschaften im Hitler-Faschismus.

Drei Akteure

im deutschen Modell

der Arbeitsbeziehungen

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es 1945 zu einer Neugestaltung der bundesdeutschen Arbeitsbeziehun-gen. Ohne allzu starke parteipolitische Aufladung bildeten sich drei kollektive Akteure der industriellen Beziehungen in Westdeutschland heraus. Dies sind die Gewerkschaften, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände und der Staat. Ge-werkschaften und Arbeitgeberverbände sind sozial- und tarifpolitisch tätig. Sie entscheiden über Löhne und Arbeits-bedingungen. Wirtschaftsverbände sowie die Industrie-, Handels- und Hand-werkskammern kümmern sich um die wirtschaftspolitische Vertretung. Der Staat setzt die wirtschaftlichen und juris-tischen Rahmenbedingungen. Im öffent-lichen Dienst tritt der Staat auch selbst als Arbeitgeber bei den Tarifverhand-lungen in Erscheinung. In den letzten

Jahrzehnten war das Zusammenwirken der Gewerkschaften und Arbeitgeber-verbände insgesamt durch eine eher partnerschaftliche und relativ konflikt-arme Gestaltung gekennzeichnet. Des-halb ist oft von ‚Sozialpartnerschaft‘ die Rede, wenngleich dieser Begriff nicht von allen Gewerkschaften gleicherma-ßen geliebt wird. Den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden war es nach der Teilung Deutschlands ab 1949 gelungen, im westlichen Teil ökonomi-schen Erfolg mit wohlfahrtsstaatlichen Elementen zu verbinden. Dieses stabile Nachkriegsarrangement, das durch viele Gesetze geregelt ist, wurde gerne als ‚Modell Deutschland‘ bezeichnet. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten ab 1991 bringen massive Ver-änderungen das ‚Modell Deutschland‘, das in der Nachkriegszeit auf Basis eines großen Konsens etabliert wurde, zur Erosion. Während die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit ein ungelöstes Problem bleibt, macht den Gewerkschaften vor allem der Abbau von Industriearbeits-plätzen zu schaffen, wo sie traditionell am stärksten organisiert sind. Es gelang ihnen nur teilweise, parallel zur Auswei-tung des Dienstleistungssektors auch Frauen, Jugendliche und Angestellte als neue Mitglieder zu werben, sodass insgesamt der Organisationsgrad der Gewerkschaften abnimmt. Inzwischen ist nur noch jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland Mitglied einer DGB-Gewerkschaft. Die Arbeitgeber nutzen diese Entwicklungen, um den Verhand-lungsspielraum der Gewerkschaften ein-zuschränken und die Themen zu setzen. Das Schlagwort ‚Globalisierung‘ wird oft mit der Forderung nach Senkung von

Abschied vom Modell DeutschlandDie deutschen Arbeitsbeziehungen

zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung

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DEUTSCHLANDDEUTSCHLAND

33Abbau traditioneller Industriearbeitsplätze: Stahlarbeiter bei ThyssenKrupp

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Standards verbunden. Speziell im wirt-schaftlich schwächeren Osten Deutsch-lands werden die Spielregeln neu for-muliert, in der Regel zu Ungunsten der Arbeitnehmer.

Die Vertreter des Kapitals:

Die Arbeitgeber-

organisationen und

Wirtschaftsverbände

In der Organisationsstruktur der Arbeitgeberverbände und der Gewerk-schaften sind Parallelen zu erkennen. Die Bundesvereinigung der Deutschen Ar-beitgeberverbände (BDA) ist ähnlich wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ein Dachverband. Das heißt, dass die Un-ternehmen keine Direktmitglieder sind, sondern sich ihrerseits zu regionalen und bundesweiten Branchenverbänden zusammengeschlossen haben. Insgesamt sind über 1.000 Organisationen mit der

BDA mittel- und unmittelbar verbunden. Die BDA handelt keine Tarifverträge aus, sondern berät und koordiniert die Fach-verbände. Verhandlungen und Abschluss von Tarifverträgen sind Aufgabe der Fachverbände. In der Praxis beschränkt sich die BDA auf die Formulierung von lohn- und tarifpolitischen Richtlinien. Die BDA versteht sich als Sprachrohr al-ler deutschen Unternehmer. So entsteht eine große Branchenvielfalt, die teils zu Integrationsproblemen bei unter-schiedlichen Brancheninteressen führt. Dominiert wird die BDA durch den Chemie- und Metallsektor. Der Gesamt-verband der metall-industriellen Arbeit-geberverbände e.V. (Gesamtmetall) ist der Dachverband von 15 regionalen Ar-beitgeberorganisationen der metallver-arbeitenden Industrie in Deutschland. Er vertritt etwa 6.800 Unternehmen mit 2,2 Millionen Mitarbeitern. Der Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI) reprä-sentiert etwa 1.500 Unternehmen mit knapp einer halben Million Mitarbei-tern. De facto nehmen auch Wirtschafts-

In Klein- und Mittelbetrieben tun

Gewerkschaften sich schwer:

Geselle im Elektrohandwerk

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verbände und Kammern eine erhebliche Mitsprache- und Mitgestaltungsfunktion ein. Der bedeutendste Dachverband der Wirtschaftsverbände ist der Bundesver-band der Deutschen Industrie (BDI). Er vertritt 35 industrielle Branchenverbän-de. Dahinter stehen etwa 80.000 private Unternehmen mit rund elf Millionen Be-schäftigten. Im Vergleich zum BDA sieht der BDI seine Aufgabe in der allgemei-nen Interessenvertretung der Mitglieds-firmen. Eine zentrale Forderung des BDI ist, Löhne und Lohnnebenkosten (vor allem die Beiträge für die Sozialversiche-rungen) zu senken oder einzufrieren. Die wirtschaftspolitische Spitzenvertre-tung des Handwerks ist der Zentralver-band des Deutschen Handwerks (ZDH). Er integriert sowohl die 55 öffentlich-rechtlichen Handwerkskammern als auch die 46 Zentralverbände des Hand-werks. Gegenüber den Kommunen, Landesregierungen und regionalen staatlichen Stellen vertreten die 82 In-dustrie- und Handelskammern (IHK) die Interessen. Diese Verbände sind für die wirtschafts- bzw. handwerkspolitische Interessenvertretung zuständig. Bei der Berufsausbildung sind sie die Instanz, welche die Abschlüsse überprüft.

Der Staat und

die Autorität der Gesetze

In den deutschen Arbeitsbeziehun-gen nimmt der Staat eine doppelte Rolle ein: Mit über vier Millionen Arbeitneh-mern ist der Staat der größte Arbeitge-ber und greift aktiv in die Tarifpolitik ein. Der Staat ist sowohl Tarifpartei als auch Autorität der Rahmengesetzge-bung. Hinsichtlich der Tarifpolitik ist er nicht unmittelbar vom Markt und der Konjunktur abhängig, weil er die Höhe seiner Einnahmen souverän bestimmt. Angesichts leerer Staatskassen ist der deutsche Staat längst ein Vertreter der Lohnzurückhaltung. Der größte ta-rifpolitische Widerpart des Staates ist

die Vereinigte Dienstleistungs-g e w e r k s c h a f t (ver.di), die un-ter anderem die Beschäf t ig ten der Kommunen, Länder und des Bundes vertritt. Die Interessen der Lehrer und der Polizisten werden von den D G B - G e w e r k -schaften GEW und GdP vertre-ten. Die beim Staat beschäf-tigten Beamten, Richter und Soldaten haben zwar ein Koali-tionsrecht, dür-fen aber nicht streiken. Nur Angestellte und Arbeiter im Staatsdienst haben dieses Recht. Staatliche Interventionen in die Lohn-bildung sind im deutschen System nicht vorgesehen. In der Bundesrepublik hat der Staat zu Gunsten einer freiwilligen Schlichtungsordnung auf Eingriffe in die Tarifautonomie verzichtet. Die promi-nente Staatsaufgabe ist die Setzung und Normierung der Rahmenbedingungen durch wirtschaftspolitische Maßnahmen (Steuern und Abgaben) und Gesetze (Betriebsverfassungsgesetz, Grundge-setz, Tarifvertragsgesetz).

Der starke Arm der Arbeit:

Die Gewerkschaften

Im Konflikt zwischen Kapital und Ar-beit sind die Gewerkschaften die sozial- und tarifpolitischen Interessenvertreter der Arbeitnehmer. Sie sind Träger der Tarifautonomie, handeln Tarifverträ-ge und Arbeitsbedingungen aus. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ist

Die Zahl der Flächentarifverträge ist rückläufig: Metallarbeiter bei Flender

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die gewerkschaftliche Dachorganisation in Deutschland. Der DGB und seine Ge-werkschaften sind demokratische und unabhängige Organisationen, die sich aus freiwilligen Beiträgen ihrer Mitglie-der – abhängig Beschäftigte, Arbeitslose und Rentner – finanzieren. Jedes Mit-glied zahlt in der Regel ein Prozent des Bruttolohns als Monatsbeitrag an seine Gewerkschaft und die Gewerkschaft führt ihrerseits von diesen Beiträgen zwölf Prozent an den DGB ab. Nach der Fusion von fünf Gewerkschaften zur neuen Großgewerkschaft ver.di mit

ca. 2,7 Millionen Mitgliedern zählt der DGB heute acht Einzelgewerkschaften, die etwa 7,5 Millionen Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner in Deutsch-land organisieren. Die große Zahl darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutschen Gewerkschaften seit etwa zehn Jahren unter beträchtlichen Mitgliederverlusten leiden. Der ge-werkschaftliche Organisationsgrad ist inzwischen auf etwa zwanzig Prozent gesunken. Hohe Arbeitslosigkeit und sinkende Mitgliederzahlen haben die deutschen Gewerkschaften, die in den achtziger Jahren mit dem erfolgreichen Kampf um die 35-Stunden-Woche noch

weltweit neue Maßstäbe setzten, inzwi-schen stark in die Defensive gebracht. Die Organisationsstruktur des DGB glie-dert sich unterhalb der Bundesebene in neun Bezirke und 94 Regionen. Alle vier Jahre kommen 400 Delegierte zum Bundeskongress zusammen. In diesem ‚Parlament der Arbeit‘ werden strate-gische Entscheidungen gefällt und der fünfköpfige hauptamtliche geschäfts-führende Bundesvorstand gewählt. Ergänzt wird der Bundesvorstand durch die Vorsitzenden der acht Mitgliedsge-werkschaften.

Innergewerkschaftliche

Prinzipien:

Einheitsgewerkschaft und

Industrieverband

Vor dem Hintergrund einer zerstrit-tenen Arbeiterbewegung - Kommunis-ten, Christen und Sozialdemokraten schlugen verschiedene Wege zur Be-kämpfung der Nationalsozialisten ein - kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Neuordnung der Gewerkschafts-

ver.di 2,75 Mio

800 000

500 000

300 000

260 000

240 000

180 000

2,7 MioIG Metall

IG Bergbau,Chemie, Energie

IG Bauen,Agrar, Umwelt

Gewerkschaft Erziehungund Wissenschaft

Gewerkschaft Nahrung,Genuss, Gaststätten

Transnet(Eisenbahn-Gewerkschaft)

Gewerkschaft der Polizei

Quelle: DGB

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struktur. Alle deutschen Gewerkschaften sind nach den Prinzipien der Einheitsge-werkschaft und des Industrieverbands bundesweit gegliedert, somit bestehen innerhalb einer Branche keine regiona-len Konkurrenzgewerkschaften. Dass Arbeitnehmer aus verschiedenen poli-tischen Parteien, mit unterschiedlichen Weltanschauungen und konfessionellen Einstellungen Mitglieder einer Gewerk-schaft werden können, ist ein Teil des Einheitsprinzips.

Ein weiteres umfasst die unterschied-lichen Statusmerkmale, Ausbildungs-qualifikationen und arbeitsvertraglichen Besonderheiten der Arbeitnehmer. Ar-beiter und Angestellte sind in derselben Gewerkschaft ihrer Branche vertreten. Die über viele Jahre praktizierte Tren-nung zwischen Arbeitern und Ange-stellten wird durch neuere Tarifverträge aufgehoben und innerhalb der Gewerk-schaften als nicht mehr zeitgemäß be-trachtet.

Das Modell Deutschland:

Entwicklung der

Arbeitsbeziehungen seit 1945

Die bundesdeutsche Sozialpolitik wurde in der Nachkriegszeit vor allem von der Linderung der Not geprägt: Für zehn Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebie-ten, der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei sollte der Anspruch auf öffentliche Sozialleistungen ver-wirklicht werden. Alle Akteure der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen schlossen einen historischen Kompro-miss und ließen sich vom Konzept der Sozialen Marktwirtschaft leiten. In den fünfziger Jahren wurden mit dem Ta-rifvertragsgesetz (1949), dem Montan-Mitbestimmungsgesetz (1951) und dem Betriebsverfassungsgesetz (1952) die wichtigsten Institutionen der deutschen

Die Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten wird durch neuere Tarifverträge aufgehoben: Arbeitnehmerin bei Siemens

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Sozialpartnerschaft aufgebaut. Hinzu kam im Jahr 1954 die Einigung der Ta-rifparteien auf einen Mechanismus der Schlichtung bei Tarifkonflikten. Eine staatliche Zwangsschlichtung, wie es sie in der Weimarer Republik gegeben hat-te, wurde abgelehnt. Die Tarifautono-mie war erstmalig hergestellt. Insgesamt war das Verhältnis der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände überwiegend

durch konsensuales Verhalten geprägt. Am deutlichsten zeigte sich dieser Kon-sens in der ersten Nachkriegsrezession 1967. Gewerkschaften und Arbeitgeber waren sich einig, gemeinsam einen Weg aus der Krise zu finden. Vom damaligen Wirtschaftsminister Schiller ging die ers-te Initiative einer ‚Konzertierten Aktion’ aus. Regierung und Tarifpartner sollten ihr Handeln gemeinsam abstimmen und sich auf freiwillige Lohnleitlinien einigen. Der Erfolg dieser einmaligen Aktion blieb aus. Der erhoffte Konjunk-turaufschwung erfüllte sich nur kurzfris-tig und die Ölkrisen der siebziger Jahre ließen den Verteilungskampf wieder in den Vordergrund treten. Die Einführung

erweiterter Mitbestimmung in Großbe-trieben (1976) wurde gegen den starken Widerstand der Unternehmen von der sozial-liberalen Regierung unter Willi Brandt durchgesetzt. Die achtziger Jahre waren geprägt vom Kampf um die Ver-kürzung der Wochenarbeitszeit. Nach einem sechswöchigen, harten Arbeits-kampf mit mehreren hunderttausend streikenden und ausgesperrten Arbei-

tern konnte die IG Metall einen ersten Tarifvertrag zur 38,5-Stunden-Woche vereinbaren. Heute ist die 35-Stunden-Woche in der ganzen westdeutschen Me-tallindustrie tarifvertraglich gesichert. Mitte der neunziger Jahre gab es an-gesichts zunehmender Arbeitslosigkeit und schwachen Wirtschaftswachstums unter der konservativen Regierung von Helmut Kohl eine neue Initiative der IG Metall, die Gewerkschaften, die Arbeit-geber und den Staat auf gemeinsame wirtschafts- und sozialpolitische Grund-linien zu verpflichten. Dieses ‚Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit’ wurde auch nach dem Regierungswech-sel 1998 von der neuen rot-grünen Bun-

Die industriellen Beziehungen in

Deutschland sind in Bewegung

geraten: Autoreparatur

im KFZ-Handwerk

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desregierung aufgegriffen, blieb jedoch wenig erfolgreich und scheiterte Anfang 2003 endgültig angesichts unvereinbarer Gegensätze zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Der jahrzehntelange ökonomische und soziale Erfolg des ‚Mo-dell Deutschland‘ wurde oft mit seiner Homogenisierungs-, Innovations- und Befriedungsfunktion erklärt. Der soziale Friede erschien als Wettbewerbs- und Standortvorteil. Unter den damals 21 Ländern der Organisation für Entwick-lung und Zusammenarbeit (OECD) wies Deutschland zwischen 1970 und 1994 eines der niedrigsten Streikvolumen auf, das nur von den Niederlanden, Österreich und der Schweiz unterboten wurde.

Die drei Säulen

der deutschen

Arbeitsbeziehungen

Tarifautonomie, Flächentarifvertrag und Mitbestimmung sind die drei insti-tutionellen Säulen, von denen die Sozi-alpartnerschaft in Deutschland getragen wird. Dieses Arrangement von Rechten und Pflichten hat sich in der Nachkriegs-zeit langsam entwickelt und gefestigt.

Ohne staatliche Einmischung:

Tarifautonomie

und Tarifvertragsgesetz

Das Grundgesetz der Bundesrepu-blik Deutschland garantiert die Koali-tionsfreiheit und sichert den abhängig Beschäftigten eine gleichberechtigte Gestaltung der Arbeits- und Wirtschafts-beziehungen zu. Über die Arbeits- und Sozialordnung sagt das Grundgesetz nichts aus. Grundlage für die Tarifauto-nomie ist das Tarifvertragsgesetz (TVG) aus dem Jahre 1949. Es wurde bis heute durch zahlreiche Gerichtsentscheidun-gen ergänzt. Tarifautonomie heißt, dass die unmittelbaren Arbeits- und Einkom-mensbedingungen (Lohn und Gehalt) ausschließlich von den Tarifvertragspart-nern (Gewerkschaften und Arbeitgeber-verbände) geregelt werden. In ähnlicher Weise gilt dies für Arbeitsbedingungen, jedoch garantiert der Staat gewisse sozi-ale Mindeststandards, wie Kündigungs-frist, gesetzlicher Mindesturlaub von vier Wochen sowie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und an Feiertagen. Tarif-verträge üben wichtige Aufgaben aus:

Tarifautonomie

Tarifvertrags-gesetz

Flächen-tarifvertrag

Mitbestimmung

Betriebs-verfassungs-

gesetz

Arbeitsbeziehungen

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Gegenüber dem Arbeitnehmer haben die Tarifverträge eine Schutzfunktion, weil sie ihn vor einseitigem Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen mit dem Arbeitgeber schützen. Sie haben darüber hinaus eine Befriedungsfunk-tion, in dem sie den sozialen Frieden durch einen Interessenausgleich von Arbeit und Kapital ermöglichen. Durch geregelte Verträge machen sie den Ar-beitsmarkt übersichtlicher. Je nach ihrem Geltungsbereich gibt es unterschiedliche Tarifverträge, die auch als Mischformen existieren: Manteltarifverträge sind die allgemeinste Vertragsform. In ihnen werden allgemeine Arbeitsbedingungen geregelt (Einstellung, Kündigung und Arbeitszeit). Vergütungstarifverträge

regeln die Höhe der Löhne, Gehälter, Entgelte und Ausbildungsvergütungen. Rahmentarifverträge legen Lohn- und Gehaltsgruppen sowie die Leistungs-entlohnung fest. Sonstige Tarifverträge regeln einzelne Aspekte wie Vorruhe-stand, Altersteilzeit, Altersversorgung oder vermögenswirksame Leistungen. Abgeschlossene Tarifverträge gelten grundsätzlich nur für Gewerkschaftsmit-glieder, jedoch zahlen die Unternehmen in der Regel an alle Beschäftigten den mit der Gewerkschaft ausgehandelten Tariflohn. Der Deckungsgrad der Tarif-verträge liegt in der Bundesrepublik noch bei etwa fünfzig Prozent und wird damit im internationalen Vergleich als hoch eingeschätzt.

Achtzig Prozent der Betriebsräte

sind gewerkschaftlich organisiert:

Betriebsräte in der Stahlindustrie

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In der Arena

des Arbeitskampfes:

Streik, Aussperrung

und Schlichtung

Der Kampf um gerechte Löhne und humane Arbeitsbedingungen bringt manchmal Streit. Die Regeln dieser Auseinandersetzung sind im Tarifver-tragsgesetz sehr eindeutig vorgegeben; Streik und Aussperrung gehören dazu. Die Grundsätze des Arbeitskampfes haben sich im Laufe der Zeit durch rich-terliche Rechtsprechung herausgebildet. Streik und Aussperrung dürfen nur die Tarifpartner durchführen: die Gewerk-schaften haben das Streikmonopol, die Arbeitgeberverbände dürfen mit Aus-sperrung (zeitlich beschränkte Betriebs-schließungen) reagieren. Arbeitskämpfe dürfen nur zur Erreichung tarifrechtlich regelbarer Ziele angewandt werden. Sie stehen unter dem Gebot der Verhält-nismäßigkeit und sollen nur als letztes Mittel zum Einsatz kommen. Politische Streiks sind nicht erlaubt. Während der Dauer eines Tarifvertrages und in der Verhandlungszeit gilt eine Friedens-pflicht. Kurze Warnstreiks sind allerdings gestattet. Können Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sich nach Kündi-gung eines Tarifvertrags nicht einigen, so kann ein Schlichtungsverfahren ein-geleitet werden. Die Einleitung einer Schlichtung setzt voraus, dass die Tarif-verhandlungen für gescheitert erklärt worden sind. Zur Durchführung des Verfahrens wird eine Kommission beru-fen. Sie besteht paritätisch aus Arbeitge-ber- und Arbeitnehmervertretern sowie einem unparteiischen Vorsitzenden. Die Tarifparteien verpflichten sich, vor der Entscheidung der Kommission keine Ar-beitskampfmaßnahmen durchzuführen. Vor einem Streik führt die Gewerkschaft eine geheime Urabstimmung unter

den Mitgliedern durch, bei der min-destens 75 Prozent zustimmen müssen. Bei einer zweiten Urabstimmung zur Beendigung des Streiks bedarf es ebenfalls einer Drei-viertelmehrheit, um das Verhandlungser-gebnis abzulehnen und den Streik fort-zusetzen. Während eines Arbeitskampfes ruhen die geltenden A r b e i t s v e r t r ä g e . Streikende Arbeit-nehmer erhalten Unterstützung durch die Gewerkschaft aus der Streikkasse; bestreikte Unter-nehmen bekommen Ausgleichszahlungen von den Arbeitge-berverbänden. Nach Beendigung von Streik und Aussperrung haben alle Arbeitnehmer prinzipiell das Recht auf unbeschränkte Weiterbeschäf-tigung. Maßregelungsklauseln in den Tarifverträgen sollen verhindern, dass Streikführer später Nachteile erleiden.

Made in Germany:

Der Flächentarifvertrag

Wenn eine Gewerkschaft und ein Ar-beitgeberverband einen Tarifvertrag ab-schließen, wird dieser als Verbands- oder Flächentarifvertrag bezeichnet. Flächen-tarifverträge werden entweder für das gesamte Bundesgebiet, für ein oder mehrere Bundesländer oder für eine bestimmte Region abgeschlossen. Der international hohe Deckungsgrad ta-rifvertraglicher Normen in Deutschland ist den Flächentarifverträgen zu verdan-ken. Neben den Verbandstarifverträgen

Massive Restrukturierungen in den Unternehmen: Waschmaschinen-produktion bei Miele

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existieren noch Firmen- oder Haustarif-verträge, die eine Gewerkschaft mit ei-nem einzelnen Unternehmen abschließt, das nicht Mitglied eines Arbeitgeberver-bandes ist. Seit einigen Jahren ist die Zahl der Flächentarifverträge rückläufig. Firmentarifverträge nehmen zu. Dieser Trend zeigt eine Dezentralisierung der Tarifvereinbarungen auf. Grundsätzlich ist noch zwischen Tarifverträgen und Be-triebsvereinbarungen zu unterscheiden. Letztere werden zwischen dem Betriebs-rat und dem einzelnen Unternehmen ausgehandelt und sind durch das Be-triebsverfassungsgesetz abgesichert.

Demokratie am Arbeitsplatz:

Mitbestimmung und

Betriebsverfassungsgesetz

Neben Tarifautonomie und Flächen-tarifvertrag sind betriebsdemokratische Elemente wie Betriebsräte und Mitbe-stimmung die dritte Säule der Sozialpart-

nerschaft. Die Regeln innerbetrieblicher Demokratie sind im Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetz fixiert. Betriebsräte können unabhängig von den Gewerkschaften existieren, jedoch sind etwa achtzig Prozent der Betriebs-räte gewerkschaftlich organisiert und die Gewerkschaften nutzen dies auch, um ihre Position zu stärken. Nach dem Betriebsverfassungsgesetz, das im Jahr 2001 reformiert wurde, können in Be-trieben ab fünf Beschäftigte Betriebsrä-te (BR) gebildet werden. Dies ist jedoch nicht zwingend vorgeschrieben. Der Betriebsrat eines Unternehmens wird

von den Beschäftigten alle vier Jahre in geheimer Wahl gewählt. So wurden im Jahr 2002 von März bis Mai in ganz Deutschland in über 40.000 Unterneh-men Betriebsräte neu gewählt. Der Arbeitgeber hat die Kosten der Wahl zu tragen. Der Betriebsrat vertritt die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber. Betriebsräte genießen Kündigungsschutz. Leitende Angestellte können nicht Betriebsrat werden. Der

Tarifverträge

Grundlage:

Grundgesetz Artikel 9 und

Tarifvertragsgesetz

Werden zwischen Arbeitgeber-

organisationen oder einzelnen

Arbeitgebern und Gewerkschaften

verhandelt

Gelten für alle Mitglieder der

Arbeitgeberorganisationen und der

Gewerkschaften

Legen allgemeine Eckdaten über

Arbeitszeit, Löhne, Urlaubstage etc. fest

Setzen Mindeststandards

Betriebsvereinbarungen

Grundlage:

Betriebsverfassungsgesetz von 1972

Werden zwischen einem einzelnen

Betrieb und dem Betriebsrat verhandelt

Gelten für alle Arbeitnehmer des

jeweiligen Unternehmens

Es gilt das Günstigkeitsprinzip

Können nur Regelungen vereinbaren,

die nicht im Tarifvertrag festgelegt sind

Können nur regeln, was nicht im

Tarifvertrag geregelt ist

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Betriebsrat überwacht die Einhaltung von Gesetzen, Verordnungen, Unfall-verhütungsvorschriften, Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen. Er hat das Recht, viermal jährlich eine Be-triebsversammlung zur Information der Beschäftigten durchzuführen. Er ist die Beschwerdeinstanz der Arbeitnehmer und kann Vereinbarungen mit dem Ar-beitgeber abschließen. Ferner hat er bei wirtschaftlichen Entscheidungen und bei der Einführung neuer Technologien ein Informations- und Anhörungsrecht. Echte Mitbestimmungsrechte hat der Betriebsrat hingegen bei der Festlegung

der betrieblichen Arbeitszeit und bei Überstunden, bei Eingruppierungen und Versetzungen, bei sozialen Ange-legenheiten und Sozialeinrichtungen (Kantine) sowie in der Berufsbildung und Weiterqualifizierung.

Der Betriebsrat geht gleichsam Ver-pflichtungen ein. Er darf den Betriebs-frieden nicht stören, nicht zum Streik aufrufen und sich im Betrieb nicht poli-tisch betätigen.

Expansionskurs:

Gesamt- und

Konzernbetriebsräte

Bestehen in einem Unternehmen mehrere Betriebsräte, kann ein Gesamt-betriebsrat (GBR) eingerichtet werden. Der Gesamtbetriebsrat ist zuständig für die Behandlung von Angelegenheiten, die das Gesamtunternehmen betreffen und nicht durch die einzelnen Betriebe geregelt werden können. Der GBR ist

den einzelnen Betriebsräten nicht über-geordnet. Für einen Konzern kann durch Beschlüsse der einzelnen GBR schließlich ein Konzernbetriebsrat (KBR) eingerich-tet werden.

KONZERBETRIEBSRAT

GesamtbetriebsratGesamtbetriebsrat Gesamtbetriebsrat

Betriebsrat Betriebsrat

Betriebsrat

Betriebsrat Betriebsrat Betriebsrat Betriebsrat

Betriebsrat Betriebsrat

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Die neuen Akteure:

Europäische Betriebsräte

Im Einigungsprozess der Europäi-schen Union (EU) nehmen die Europäi-schen Betriebsräte (EBR) langsam Gestalt an. Seit 1994 gibt es eine Richtlinie der EU, die die Bildung europäischer Be-triebsräte ermöglicht. Voraussetzung für die Einrichtung eines Europäischen Betriebsrates ist, dass das Unterneh-men oder die Unternehmensgruppen mindestens 1.000 Beschäftigte in der EU und wenigstens 150 Beschäftigte in mindestens zwei ihrer Mitgliedsstaaten hat. Zur Zeit bestehen cirka 800 Euro-betriebsräte, jedoch ist die Qualität der Arbeit sehr unterschiedlich ausgeprägt. Wichtig sind Europäische Betriebsräte

deshalb, weil internationale Konzerne sich grenzüberschreitend zusammen-schließen, in Unternehmensnetzwerken kooperieren und die Entscheidungsge-walt auf zentraler Ebene konzentrieren. Bisher haben die Arbeitnehmervertre-tungen vorwiegend standortbezogen oder national gehandelt. Oft kamen sie in eine Situation, in der sie mangels Informationen und internationaler Kontakte zu ihren Kollegen an unter-schiedlichen Standorten eines Konzerns gegeneinander ausgespielt wurden. Die Europäischen Betriebsräte sind noch ein junges Pflänzchen: Ihre Rechte sind weit geringer als die der deutschen Betriebs-räte oder der niederländischen Onder-nemingsraden. Doch sie haben eine große Bedeutung für den Informations-austausch und für die stärkere europä-ische Zusammenarbeit betrieblicher Ar-

Für Arbeitnehmer haben Tarifverträge

eine wichtige Schutzfunktion:

Warnstreik in der Metallindustrie

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beitnehmervertreter und ihrer Gewerkschaften in internationalen Kon-zernen. Die deutschen Gewerkschaften fördern und nutzen daher die Arbeit der Eurobetriebs-räte und bieten spezielle Schulungen an. Europäi-sche Betriebsräte, wie der von VW, sind Keimzelle für eine globale Interes-senvertretung in multina-tionalen Konzernen, von Weltkonzernräten.

In die

Aufsichtsräte:

Das

Mitbestimmungs-

gesetz

Eine weitere Institution innerbe-trieblicher Demokratie ist die Mit-bestimmung durch Arbeitnehmer in Aufsichtsräten von Unternehmen. Das Unternehmensrecht in Deutschland sieht unter bestimmten Voraussetzungen die Einrichtung eines Aufsichtsrates als Kon-trollorgan der Unternehmensleitung vor. Der Aufsichtsrat bestellt den Vorstand (Topmanagement) eines Unternehmens und kontrolliert ihn. Je nach Geschäfts-ordnung entscheidet der Aufsichtsrat über Angelegenheiten der Unterneh-menspolitik sowie über Investitionen ab einer bestimmten Größenordnung. Bis heute ist in Deutschland das gewerk-schaftliche Leitbild zur Mitbestimmung in Unternehmen von der Montanmitbe-stimmung mit paritätischer Vertretung im Aufsichtsrat, einer neutralen Ent-scheidungsperson in Patt-Situationen und dem Arbeitsdirektor (Personalvor-stand) als einem von den Gewerkschaf-ten vorgeschlagenen, gleichberechtigten

Mitglied des Vorstands geprägt. Die Mit-bestimmung nach dem Montanmodell gilt nur für bestimmte Unternehmens-formen mit über 1.000 Beschäftigten im Bergbau sowie in der Eisen- und Stahl-industrie, wie etwa die ThyssenKrupp AG. Fünfzig Jahre nach Einführung der Montanmitbestimmung ist die Zahl der Unternehmen und Beschäftigten in den einstigen wirtschaftlichen Schlüsselin-dustrien Bergbau und Stahl jedoch stark geschrumpft. Heute arbeiten in Deutsch-land nur noch knapp 400.000 Menschen in Unternehmen der Montanmitbestim-mung. Eine abgeschwächte Form der Mitbestimmung gilt für Unternehmen mit 500 bis 1.000 Beschäftigten, in deren Aufsichtsräten Arbeitnehmervertreter nur noch zu einem Drittel vertreten sind und ein Arbeitsdirektor nicht vorgesehen ist. Auch das Mitbestimmungsgesetz von 1976 für bestimmte Unternehmensfor-men (außer Montanindustrie) mit über 2.000 Beschäftigten brachte keine ech-

In Deutschland hateine Verschiebung desMachtgefügesstattgefunden:Metallarbeiterinbei FahrradwerkeProphete GmbH

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te Mitbestimmung. Der Aufsichtsrat ist nur scheinbar paritätisch besetzt, da ein Arbeitnehmervertreter immer ein leiten-der Angestellter ist. Bei Patt-Situationen hat der Vorsitzende (immer Anteilseig-ner) ein doppeltes Stimmrecht. Der Ar-beitsdirektor kann gegen den Willen der Arbeitnehmerseite bestellt werden.

Seit einigen Jahren befindet sich die Mitbestimmung in der Defensive. Heute arbeiten mehr als sechzig Prozent der Beschäftigten im privaten Sektor in einer

mitbestimmungsfreien Zone. Während Betriebsräte in Großbetrieben die Re-gel sind, tun die Gewerkschaften sich in Klein- und Mittelbetrieben schwer: Nur vier Prozent der Betriebe unter zwanzig Beschäftigte haben einen Betriebsrat. Die Gewerkschaften hoffen jetzt, dass das neue Betriebsverfassungsgesetz von 2001 die Wahl von Betriebsräten in kleineren Betrieben erleichtern und die Mitbestimmung wieder in die Offensive bringen wird.

Die ‚Globalisierung‘ wird oft mit

der Forderung nach Senkung von Standards

verbunden: Handyproduktion

bei Siemens

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Wie zukunftsfähig

sind die deutschen

Gewerkschaften?

Die industriellen Beziehungen in Deutschland sind in Bewegung geraten. Dem Mitgliederschwund der Gewerk-schaften entspricht auf Arbeitgeberseite die zunehmende Verbandsflucht der

Unternehmen. Nicht nur in Ostdeutsch-land ist eine Tendenz zur Aufweichung der Tarifvereinbarungen zu beobachten. Das „Modell Deutschland“, das sich in der Nachkriegszeit auf der Basis eines großen Konsens etabliert hatte, geht seinem Ende entgegen. Die alte und neue deutsche Hauptstadt Berlin ist nur achtzig Kilometer von Polen entfernt, wo die Löhne oft nur ein Zehntel der westdeutschen Löhne betragen. Der Osten Deutschlands, der unter fast

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zwanzig Prozent Arbeitslosigkeit leidet, ist nach der Wiedervereinigung zum Einfallstor für Tarifflucht, Lohndum-ping und Flexibilisierung geworden. Aber auch in Westdeutschland, wo die Arbeitslosigkeit bisher „nur“ halb so hoch ist wie im Osten, finden im Zuge der Globalisierung massive Restrukturie-rungen in den Unternehmen statt, die meist mit Abbau von Arbeitsplätzen und Intensivierung von Arbeit einhergehen. Ohne Zweifel hat auch in Deutschland eine Verschiebung des Machtgefüges zu

den Unternehmen stattgefunden. Die deutschen Gewerkschaften haben auf diese Herausforderungen bisher noch keine Antwort gefunden. Während die einen im Einklang mit den Unternehmen die Sicherung des Standorts Deutschland im globalen Wettbewerb betreiben, wächst bei anderen ganz offensichtlich die Bereitschaft zur Gegenwehr, wie die zahlreichen Streiks im Jahr 2002 in der deutschen Metall- und Bauindustrie sowie bei Banken und Versicherungen anzukündigen scheinen. Klar ist, dass

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad

ist auf zwanzig Prozent gesunken:

Gewerkschafterin bei einer Kundgebung

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die deutschen Gewerkschaften sich ver-ändern müssen, wenn sie zukunftsfähig bleiben wollen. Sie müssen attraktiver werden für Angestellte in den Dienst-leistungsberufen, für Frauen und jun-ge Menschen, für Job-Nomaden und Freiberufler. Und sie müssen Strategien entwickeln, um die sozialen Standards in Deutschland auch unter dem Druck der neoliberalen Globalisierung zu ver-teidigen und die Macht multinationaler Konzerne in Schranken zu halten. Dazu benötigen die deutschen Gewerkschaf-

ten Bündnispartner in der Gesellschaft. Die internationalen Mobilisierungen von Gewerkschaften und anderen Or-ganisationen der Zivilgesellschaft in Seattle und Porto Alegre haben auch in Deutschland eine neue Offenheit und hoffnungsvolle Zusammenarbeit zwi-schen den DGB-Gewerkschaften, Nicht-regierungsorganisationen, Kirchen und globalisierungskritischen Netzwerken wie ATTAC gefördert.

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Herausgeber

DGB BildungswerkNord-Süd-NetzHans-Böckler-Straße 3940476 DüsseldorfTel.: 0211 4301 258Fax: 0211 4301 500E-mail: [email protected]: www.nord-sued-netz.de

Observatório Social EuropaNaritaweg 101043 BX AmsterdamNiederlandeTel.: 00 31 20 5816 651Fax: 00 31 20 6844 541E-mail: [email protected]: www.observatoriosocialeuropa.org

Observatório SocialAvenida Mauro Ramos, 1624CEP 80203-302Florianópolis - Santa Catarina –BrasilienTel.: 00 55 48 3028 4400Fax: 00 55 48 3028 4422E-mail: [email protected]: www.observatoriosocial.org.br

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Redaktion

Karen Brouwer, Manfred Brinkmann

Texte

Kjeld Jakobsen, Bernhard Stelzl, Karen Brouwer, Frans Bieckmann, Manfred Brinkmann

Korrektur

Anja Blösch, Chris Künster

Fotos

Chris Pennarts, Jaap van den Beukel, Manfred Vollmer, Esdras Martins, Jacques Mick, Manfred Brinkmann

Layout

Gerhard Weiland

Druck

WAZ Druck

Auflage: 3.000

Mai 2003

Gefördert aus Mitteln der Europäischen Union und desBundesministeriums fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Die Macht multinationaler Konzerne in Schranken halten: Turbinenherstellung bei Siemens

Nord-Süd-Netz