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ERSTES BUCH Vorbemerkung zu den Büchern I & II Buch I und II der Rhetorik behandeln das Überzeugende (xö Jtt/ftavóv) bzw. die „Überzeugungsweisen (jtiaxEic)", während Buch III erstens die sprachliche Form bzw. den Stil (XéÇtç) und zweitens die Unterscheidung der Redeteile (xàÇiç) zum Gegenstand hat. Die im Text der ersten zwei Bücher enthaltenen Gliederungen er- wähnen die beiden Themen des dritten Buches mit keinem Wort. Auch scheint die in den ersten Kapiteln der Schrift umrissene Systematik durch die in Buch I & Buch II behandelten Themenblöcke vollständig eingelöst zu sein. Erst der letzte Satz des zweiten Buches baut eine gedankliche Brücke zu den Themen des dritten Buches. Von der Behandlung verschiedener Redeteile, der sich die letzten Kapitel des dritten Buches zuwenden, heißt es im ersten Buch (1354al6ff.) noch ausdrück- lich, sie gehöre zu den rhetorischen Mitteln, die von der Sache ablenken; dies wie- derum zählt Aristoteles zu den Merkmalen der als unzureichend verworfenen Rhetorikhandbücher. Es liegt daher die Vermutung nahe, entweder dass Aristote- les bei der Abfassung der ersten beiden Bücher (bzw. des Kerns dieser Bücher) eine Behandlung der sprachlichen Form und der Redeteile noch nicht eingeplant hatte und Buch III erst später zu den ersten beiden Büchern hinzugefügt worden ist oder dass der Kern der Bücher I & II einerseits sowie die beiden Abhandlungen aus Buch III andererseits unabhängig von einander entstanden sind und nicht als Teile einer einzigen Abhandlung vorgesehen waren. Aus demselben Grund darf man vermuten, dass es sich bei den Büchern I & II der Rhetorik um die im Schrif- tenverzeichnis des Diogenes Laërtios erwähnten zwei Bücher Über die Rhetorik („Téxvnç onxoQixfjç a' ß'": Diogenes Laërtios V 24) handelt, während sich das dritte Buch der uns überlieferten Rhetorik unter dem bei Diogenes Laërtios ge- nannten Titel Über die sprachliche Form („jieq'i Xé^Ecoç a' ß": Diogenes Laërtios V 24) verbergen könnte (vgl. dazu Moraux (1951, 103f.)). Die begriffliche Brücke zwischen den Büchern I & II einerseits sowie der Be- handlung der sprachlichen Form in Buch III andererseits liefert die Unterschei- dung zwischen dem Was und dem Wie einer Rede: „denn es genügt nicht, über das zu verfügen, was man sagen muss, sondern es ist notwendig, dass man auch darüber verfügt, wie man es sagen muss" (1403bl5f.). Zumindest von Buch III aus rückbli- ckend stellt sich daher das Thema der ersten beiden Bücher als das „Was" oder „Worüber" im Unterschied zum „Wie" der Rede dar. Dabei ist das „Was" einer Unangemeldet | 188.98.182.252 Heruntergeladen am | 07.08.13 16:19

Aristoteles - Rhetorik - Anm.1

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Rhetorik Anmerkungen 1

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  • ERSTES BUCH

    Vorbemerkung zu den Bchern I & IIBuch I und II der Rhetorik behandeln das berzeugende (x Jtt/ftavv) bzw. dieberzeugungsweisen (jtiaxEic)", whrend Buch III erstens die sprachliche Formbzw. den Stil (Xt) und zweitens die Unterscheidung der Redeteile (xi) zumGegenstand hat. Die im Text der ersten zwei Bcher enthaltenen Gliederungen er-whnen die beiden Themen des dritten Buches mit keinem Wort. Auch scheint diein den ersten Kapiteln der Schrift umrissene Systematik durch die in Buch I &Buch II behandelten Themenblcke vollstndig eingelst zu sein. Erst der letzteSatz des zweiten Buches baut eine gedankliche Brcke zu den Themen des drittenBuches. Von der Behandlung verschiedener Redeteile, der sich die letzten Kapiteldes dritten Buches zuwenden, heit es im ersten Buch (1354al6ff.) noch ausdrck-lich, sie gehre zu den rhetorischen Mitteln, die von der Sache ablenken; dies wie-derum zhlt Aristoteles zu den Merkmalen der als unzureichend verworfenenRhetorikhandbcher. Es liegt daher die Vermutung nahe, entweder dass Aristote-les bei der Abfassung der ersten beiden Bcher (bzw. des Kerns dieser Bcher) eineBehandlung der sprachlichen Form und der Redeteile noch nicht eingeplant hatteund Buch III erst spter zu den ersten beiden Bchern hinzugefgt worden istoder dass der Kern der Bcher I & II einerseits sowie die beiden Abhandlungenaus Buch III andererseits unabhngig von einander entstanden sind und nicht alsTeile einer einzigen Abhandlung vorgesehen waren. Aus demselben Grund darfman vermuten, dass es sich bei den Bchern I & II der Rhetorik um die im Schrif-tenverzeichnis des Diogenes Lartios erwhnten zwei Bcher ber die Rhetorik(Txvn onxoQixfj a' '": Diogenes Lartios V 24) handelt, whrend sich dasdritte Buch der uns berlieferten Rhetorik unter dem bei Diogenes Lartios ge-nannten Titel ber die sprachliche Form (jieq'i X^Eco a' ": Diogenes LartiosV 24) verbergen knnte (vgl. dazu Moraux (1951, 103f.)).

    Die begriffliche Brcke zwischen den Bchern I & II einerseits sowie der Be-handlung der sprachlichen Form in Buch III andererseits liefert die Unterschei-dung zwischen dem Was und dem Wie einer Rede: denn es gengt nicht, ber daszu verfgen, was man sagen muss, sondern es ist notwendig, dass man auch darberverfgt, wie man es sagen muss" (1403bl5f.). Zumindest von Buch III aus rckbli-ckend stellt sich daher das Thema der ersten beiden Bcher als das Was" oderWorber" im Unterschied zum Wie" der Rede dar. Dabei ist das Was" einer

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    Rede offenbar nicht nur auf die in der Rede zu behandelnden Gegenstnde einzu-schrnken, sondern muss auch die in Buch I & II behandelten berzeugungswei-sen der Emotionsbeeinflussung und der Charakterdarstellung mit umfassen. Auchvom Boden des offenbar erweiterten Rhetorikbegriffs des dritten Buches aus wirdjedoch eine sachliche Prioritt des Was" einer Rede vor seiner stilistischen Ausge-staltung nicht in Frage gestellt (1403bl8ff.). Auerdem wird das Thema der erstenbeiden Bcher im Schlusssatz des zweiten Buches (und damit schon mit Blick aufdie Was/Wie-Distinktion des dritten Buches) unter den Oberbegriff des Gedan-kens (ivoia)" gebracht (1403M). Der Gedanke macht zugleich einen der so ge-nannten qualitativen Teile der Tragdie in Aristoteles' Poetik aus und wird dortebenfalls der Ausdrucksweise bzw. dem Stil (Xi) gegenbergestellt. In der Poetikwiederum wird fr die nhere Behandlung des Gedankens undifferenziert auf eineSchrift ber die Rhetorik" verwiesen, whrend die Behandlung des Stils

    -

    ohneHinweise auf andere Schriften

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    in der Poetik selbst durchgefhrt wird. Darauskann man einigermaen zuverlssig schlieen, dass der Urheber dieses Querver-weises eine Schrift im Sinn hat, die in der Substanz den uns berlieferten Bchern I& II der Rhetorik entsprechen knnte, jedoch keine Abhandlung ber die sprach-liche Form (X|i) enthalten hat. Der Gedanke, wie man ihn in der Schrift ber dieRhetorik behandelt finden knne, wird in der Poetik als dasjenige definiert, wasmit Hilfe des Xyoc zubereitet werden" kann (1456a36-37). Teile davon seien dasBeweisen und Widerlegen, das Zustandebringen von Emotionen

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    wie z.B. Mitleidoder Furcht oder Zorn und was es dergleichen mehr gibt -, sowie ferner (das Zu-standebringen) von Gre und Geringfgigkeit."

    Kapitel 1Das erste Kapitel der Schrift umreit den Status, den Gegenstand und den Nutzender Rhetorik. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die Abgrenzung zu bereits vorlie-genden Lehren sowie die Bemhung, die Beschftigung mit der Rhetorik gegen-ber mglichen Einwnden zu rechtfertigen.

    Inhalt: Die Rhetorik ist ein Gegenstck zur Dialektik (1354al-6). Sie kann alsGegenstand einer Kunst/Kunstlehre (xxvq) angesehen werden (1354a6-ll). Kri-tik an den frheren Rhetorikhandbchern: Sie behandeln Dinge, die auerhalb derjeweiligen Sache gelegen sind, und verfolgen damit nur die Beeinflussung desRichters (1354all-31). Gute Gesetze sollten mglichst viel selbst bestimmen undden Richtenden nur wenig zur Entscheidung berlassen (1354a31-bl6). Zusam-menfassende Kritik an den bisherigen Rhetorikhandbchern; anders als in denGerichtsreden knnen deren Ratschlge in den ffentlichen Reden nur wenig be-wirken (1354bl6-1355a3). Die kunstgeme Methode hat es mit den Formen derberzeugung zu tun; die berzeugung ist eine Art von Beweis; der rhetorischeBeweis ist das Enthymem; dieses ist eine Art von Deduktion (1355a3-21). DerNutzen der Rhetorik wird in vier unterschiedlichen Aspekten beschrieben; dieGefahr des Missbrauchs besteht zwar auch, jedoch ist dies keine Besonderheit derRhetorik (1355a21-b7). Aufgabe der Rhetorik ist es, an der Sache das vorhandene

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  • 1354a6 Kapitel 1 19berzeugende zu sehen (1355b721). Ausblick auf die folgende Untersuchung(1355b22-24).

    AnmerkungenVom Buchtitel, der auch erst spter eingefgt worden sein knnte, sind in denHandschriften leicht variierende Versionen berliefert, wobei die Abweichungennur die Worte betreffen, mit denen das erste Buch der Schrift angekndigt wird.Ansonsten berliefern alle Handschriften die Titelworte gtOTOTXou xi%\r\cQT|TOQixf| ...", also wrtlich: (Das erste Buch von) Aristoteles' rhetorischerKunst". In einem Querverweis der Poetik (19, 1456a35) spricht Aristoteles selbstebenfalls von v to jieqL QnroQixfj (in den Ausfhrungen ber Rhetorik)".1354al-1354a6 Die Rhetorik wird als ein Gegenstck (rrvTiOTOOcpoc) zur Dia-lektik" eingefhrt: beide Disziplinen handeln nmlich von Dingen, die allen ge-meinsam und nicht auf einen bestimmten Bereich eingeschrnkt sind. Damitmacht Aristoteles durch die Anknpfung an das von ihm in der Topik entwickelteDialektikkonzept gleich zu Beginn deutlich, dass er anders als Piaton in seinemDialog Gorgias den unbestimmten Gegenstandsbereich der Rhetorik nicht alseinen Einwand gegen die Behandlung der Rhetorik als einer lehrbaren und theore-tisch erfassbaren Kunst (rxvri) gelten lsst (vgl. dazu in der Einleitung Kap. III,Abs. 1).(1.) Gegenstck zur Dialektik (vTOTQoqpo xfj otaXEXTixf])": Aristotelesbeginnt die Rhetorik mit einer Anspielung auf Piaton: Wer dessen sffisante Defi-nition der Rhetorik als eines Gegenstcks zur Kochkunst in der Seele(vTOTQO(po apojTOtia v t|>uxj) (Gorgias 465d) im Ohr hat und der auerdemden Begriff der Dialektik als quivalent fr die philosophische Methode zu benut-zen gelernt hat, drfte diesen Einstieg nicht nur als trockene Definition auffassen.Aristoteles benutzt die ironische Formulierung des Platonischen Sokrates, umeiner ernsthaften These Ausdruck zu verleihen. Dieselbe Technik findet sich wenigspter in 1356a30f., wo Aristoteles in Anspielung auf Piatons Bestimmung derRhetorik als Teil der Schmeichelei (nooiov xoXaxEac)" (Gorgias 466a) die Rhe-torik als ein(en) Teil der Dialektik ((xqlv ti Tfj taXEXTixfj)" charakterisiert(an dieser Stelle gibt es allerdings ein textkritisches Problem; vgl. die Anmerkungdazu).

    Tragweite des Eingangssatzes: Der Versuch, das Wesen der Rhetorik und ihrerBeziehung zur Dialektik allein aus dem Eingangssatz oder aus der ursprnglichenVerwendung des Wortes vriargocpo" zu erklren, hat eine lange Tradition (vgl.Lossau (1981, 5): Wie wenn der einzelne Satz Monade innerhalb der prstabilier-ten Harmonie eines Systems ist, so liegt das ganze aristotelische Konzept einerKonstitution der rhetorischen Disziplin im einleitenden Satz der Pragmatic"). Je-doch scheint es aus mindestens zwei Grnden nicht sinnvoll, dem Eingangssatzeine solche Beweislast aufzubrden. Erstens kann man den Umstand, dass Aristo-teles ausgerechnet den Ausdruck Gegenstck (vTOTQoqpo)" verwendet, umeine programmatische Stellungnahme zum Verhltnis von Rhetorik und Dialektik

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    zu geben, wie gezeigt, sehr einfach damit erklren, dass anderenfalls die Anspie-lung auf Piatons Rhetorik-Kochkunst-Analogie nicht gelungen und der Textein-stieg ohne besondere Pointe geblieben wre. Zweitens ist es keineswegs so, dassder Interpret fr die Frage nach dem Verhltnis von Rhetorik und Dialektik alleinauf diesen Satz angewiesen wre; weitere Hinweise ergeben sich (1.) aus verschie-denen Hinweisen in den folgenden beiden Kapiteln, die konkrete Entsprechungenund Unterschiede zwischen beiden Disziplinen nennen, (2.) aus weiteren pro-grammatischen Aussagen zur Definition und zur Stellung der Dialektik sowie zumVerhltnis von Rhetorik und Dialektik, welche die vxiaxQOcpo-Formel nichtmehr weiter aufgreifen oder ihr sogar prima facie zu widersprechen scheinen,(3.) aus einer Untersuchung des gemeinsamen begrifflichen Inventars, (4.) aus demVergleich der topisch-dialektischen und der rhetorischen Methode, (5.) aus demVergleich der beiden Schriften Rhetorik und Topik (vgl. dazu in der EinleitungKap. V, Abs. 3). Verglichen mit diesen Evidenzen, erweist sich das Bonmot von derRhetorik als einem Gegenstck zur Dialektik allein als nicht so besonders auf-schlussreich.

    Anspielung auf Piatons Gorgias: Piaton hatte im Gorgias mit dem AusdruckvxioxQOcpo" eine Analogiebeziehung zum Ausdruck gebracht. Mit Hilfe dieserAnalogiebeziehung wird durch Sokrates eine Definition oder zumindest eine Lo-kalisierung der Rhetorik vorgenommen. Rhetorik sei, so Sokrates' Definition, einGegenstck der Kochkunst in der Seele (vxioxQocpov ijiojtoiia v i|>uxf)"(465e); was die Kochkunst im Bereich des Krpers ist, sei die Rhetorik im Bereichder Seele. Kochkunst sei nmlich fr den Krper eine Scheinkunst oder ein Schat-tenbild (eicoXov), welcher bzw. welchem im Bereich der wirklichen Knste dieHeilkunst entspricht. Die Rhetorik sei ebenso fr die Seele eine Scheinkunst, wel-cher im Bereich der wirklichen Knste die Rechtspflege entspricht. Das Verhltniszwischen den Knsten und den entsprechenden Scheinknsten ist dadurch ge-prgt, dass sich eine Kunst und eine korrespondierende Scheinkunst jeweils aufdieselben Gegenstnde richten, wobei es der wirklichen Kunst darum geht, dieDinge mit Blick auf das Beste (x eXxiaxov) einzurichten, whrend sich dieScheinknste um das Beste gar nicht kmmern, sondern mit Hilfe des jeweils An-genehmsten dem Unverstand und der Tuschung nachjagen" (364e). In allen Be-reichen unterscheidet Sokrates jeweils eine erhaltende und eine wiederherstellendeKunst, wobei der Rhetorik als Gegenstck zur Rechtspflege der Platz einer wie-derherstellenden Kunst zugewiesen wird (vgl. dazu in der Einleitung Kap. III,Abs. 1). - Eine Bestimmung der Rhetorik mit Hilfe der vxiaxQoepo-Beziehungfindet sich auerdem schon bei Isokrates (Antidosis 181 f.), der dort die Rhetorikals Gegenstck zur Krperertchtigung beschreibt und dabei wie Piaton im Gor-gias von einem Analogie-Modell Gebrauch macht. (Zur Bedeutung und zur Un-terteilung des Analogiebegriffs in der Akademie und bei Aristoteles vgl. Stenzel(1956), Krmer (1967), Fiedler (1978); zum Verhltnis von Piatons Gorgias und derAristotelischen Rhetorik im Allgemeinen vgl. Anton (1859).)

    Anwendung auf Aristoteles. Angenommen, Aristoteles gebraucht vxi-axQOcpo" im Sinne von .Gegenstck' (weitere Beispiele fr diese Verwendung fin-den sich in Pol. IV 5,1292b7 und IV 6,1293a33, worauf etwa Thurot (1860, 243 ff.)hinweist) und in Anlehnung an den skizzierten Wortgebrauch im Platonischen

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  • 1354a6 Kapitel 1 21Gorgias, dann msste die Rhetorik der Dialektik auf hnliche Weise entsprechen,wie sie bei Piaton der Kochkunst entspricht, und das bedeutet: in dem Analogie-verhltnis a : b wie c : d" mssten nach dem Eingangssatz der Rhetorik die Dis-ziplinen Rhetorik und Dialektik die Position von a und c einnehmen. Um die Ana-logie zu vervollstndigen, msste man angeben knnen, welche Gegenstnde oderAktivitten den Positionen von b und d entsprechen. Eine Antwort knnte entwe-der als selbstverstndlich vorausgesetzt oder ausdrcklich im Text genannt sein.Letzteres scheint der Fall, denn in den Zeilen 1354a4-6 heit es: alle haben nm-lich zu einem gewissen Grad damit zu tun, ein Argument zu prfen und zu sttzen(e^Ex^Eiv xai JtxEiv Xyov), sich zu verteidigen und anzuklagen (jtoXo-yEadai xai xaxnyoQEv)." Hierbei handelt es sich um Aktivitten, die von derDialektik und Rhetorik im alltglichen Leben in einer vor-methodischen Formvorgefunden und dann methodisch erfasst werden (vgl. auch die Anm. zu1354a3-6). Die im Eingangssatz der Schrift aufgestellte Behauptung lautet also: ,Sowie sich die Dialektik zur Aktivitt des Prfens und Stutzens (von Thesen, Argu-menten usw.) verhlt, so die Rhetorik zur Aktivitt des Verteidigens und Ankla-gens'. Dass sich prfen und sttzen" auf die in der Dialektik methodisch erfassteAktivitt bezieht, ist offensichtlich; eine deutliche Spur ist auerdem durch denAusdruck jtxEiv Xyov" gelegt, der genau so auch im Eingangssatz der Topikverwendet wird (I 1, 100a20) und dort die Aufgabe der Dialektik mitbeschreibt.Dass es sich bei sich verteidigen und anklagen" um Aktivitten handelt, die mitder Rhetorik verbunden werden, ist ebenfalls klar: es handelt sich um eines derdrei Paare von Sprechhandlungen, mit denen Aristoteles in Rhet. I 3 die drei Rede-gattungen einfhren wird. Das Fehlen der beiden anderen Paare (zuraten und ab-raten, loben und tadeln) ist nicht weiter berraschend, weil im vorliegenden erstenKapitel ohnehin die Orientierung an der Gerichtsrede berwiegt. (Dies wiederumhngt damit zusammen, dass Aristoteles im Einleitungskapitel an die blichenFormen der Rhetorik anknpft, und blich ist die Beschftigung mit der Gerichts-rede: vgl. I 1, 1354b25-27.) Verteidigen und anklagen" steht also stellvertretendfr die verschiedenen Formen der ffentlichen Bettigung des Redners, whrendprfen und sttzen" die nicht-ffentliche Disputationspraxis meint, um derenGrundlagen sich der Dialektiker bemht. Dieser Interpretation kommt am nchs-ten Brunschwig (1994, 59): Le premier membre de phrase (1354a4-6; d. Verf.)correspond videmment l'activit dont la dialectique assure l'accomplissementtechnique; le second, assez clairement, dsigne par mtonymie l'ensemble des acti-vits dont la rhtorique (judiciaire, mais aussi pidictique et deliberative) prend encharge la technicisation."

    Gemeinsamkeiten? Wenn sich Dialektik und Rhetorik im beschriebenen Sinneentsprechen, dann bedeutet das, dass sie mit Blick auf verschiedene Bereiche (diesewurden als prfen und sttzen" einerseits und verteidigen und anklagen" ande-rerseits identifiziert) eine gleichartige Funktion ausben. Worin besteht die Ge-meinsamkeit? Zuerst handelt es sich um Knste (xxvai)" bzw. Kunstlehren vonAktivitten, die auch spontan und ohne methodische Anleitung ausgebt werden.Darin erschpft sich die Gemeinsamkeit natrlich nicht, weil sonst anstelle derDialektik beliebige andere Disziplinen angefhrt werden knnten (whrend diebereinstimmung mit der Dialektik, wie die Kapitel I 1 und 2 zeigen, wesentliche

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    Momente fr die Aristotelische Konzeption der Rhetorik beisteuert). Die ber-einstimmung, um die es an dieser Stelle vor allem und im Besonderen geht, nenntAristoteles selbst: beide handeln nmlich von solchen Dingen, die zu erkennenauf gewisse Weise allen gemeinsam und nicht Sache einer begrenzten Wissenschaftist" (1354al-3). Nicht Sache einer begrenzten Wissenschaft sein" meint, dass derspezifische Gegenstand dieser Disziplinen nicht durch eine Teilklasse der in derWelt existierenden Dinge bestimmbar ist (so wie der Gegenstand der Arithmetikdurch die Zahlen, der der Zoologie durch die Tiere, der der Schuhmacherkunstdurch die Schuhe bestimmt ist), sondern durch eine besondere Art der Aktivittbestimmt ist, die sich auf alle Gattungen von Dingen richten kann (fr eine aus-fhrliche Diskussion dieses Merkmals sowie weiterer Gemeinsamkeiten von Dia-lektik und Rhetorik vgl. in der Einleitung Kap. V, Abs. 3).

    Andere Deutungen: Die Annahme, dass Aristoteles den Ausdruck vx-axQoepo" in Anlehnung an Piatons polemische Rhetorik-Definition und daherzur Bezeichnung eines Analogieverhltnisses benutzt, hat erstens einen prgnan-ten Sinn fr den Eingangssatz erbracht und ermglicht zweitens eine lckenloseAnknpfung an die dem Eingangssatz folgenden Bemerkungen. Der in den mo-dernen Interpretationen bliche Hinweis auf den Ursprung des Ausdrucks aus derChorlyrik fgt dem nichts hinzu und ergibt fr sich genommen keine hnlichprgnante Deutung; vgl. Cope/Sandys (I 1): The term is borrowed from themanoeuvres of the chorus in the recitation of the choral odes. 2xQOCpfj denotes itsmovement in one direction, to which the vxtaxQOcpfj, the counter-movement, thewheeling in the opposite direction, exactly corresponds, the same movementsbeing repeated." Crem (1974, 53): The antistrophe is that part of the choral odewhich alternates with and answers the strophe. Thus, what is meant by this locutioexemplaris is that there is a special relation between dialectic and rhetoric. Just asthe strophe and antistrophe are similar in that they are corresponding parts of thechoral ode, so too, dialectic and rhetoric have certain characteristics in common."hnlich uert sich Hellwig (1973, 45). Dagegen Dufour/Wartelle (I 53): Aristotene saurait prtendre qu'il y ait entre les deux arts une correspondance aussi rigou-reuse que la responsio, mtre mtre, des deux strophes d'une syzygie dramati-que."

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    Lossaus (1981, 10) Interpretation geht zwar auch von der unmittelbarenVorbildhaftigkeit" des im Platonischen Gorgias 464b2465el entwickelten Mo-dells aus, gelangt dann aber nach nunmehr zu vollziehender Identifikation vonaristotelisch iaXEXXixfj mit platonisch oocpiaxixfj" aufgrund eben dieses Modellszu der berraschenden Interpretation: Die Rhetorik verhlt sich zur Dialektikwie die politische Wissenschaft zur Gesamtheit der Wissenschaften." Es ist jedochnicht einzusehen, warum hier schon die erst in Kap. I 2 erwhnte politische Wis-senschaft eine Rolle spielen sollte.(1.2) Anmerkung zur Interpretationsgeschichte von vxioxgoepo": DerRckgriff auf die Aristotelische Rhetorik war vor allem im Mittelalter und in derRenaissance oft mit dem Interesse verbunden, den systematischen Ort der Rheto-rik im System der philosophischen Wissenschaften genau zu bestimmen. Mit einersolchen Lokalisierung der Rhetorik konnte man sie

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    je nachdem-

    der Logik, derPoetik oder der Ethik zuweisen, und ihr eine philosophisch bedeutsame oder nureine untergeordnete Rolle zuweisen. Der Eingangssatz der Rhetorik mit dem aus-

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  • 1354a6 Kapitel 1 23legungsbedrftigen Begriff ctVTOTQO(po" eignete sich als Experimentierfeld frsolche Debatten vorzglich. In der Renaissance kam hinzu, dass sich an diesemunverstndlichen Ausdruck das neu entdeckte Instrument des philologischen Ver-gleichs erproben lie. Auf diese Weise wurde die ctvTLOTQOcpo-Formel zur ammeisten kommentierten Aussage der Schrift und erhielt so eine Bedeutung, welcheihr bei Aristoteles vielleicht gar nicht zugedacht war. Schon John Rainolds be-merkt in seinen Oxforder Vorlesungen aus den 1570er Jahren: Huius vocabuliquot sunt interpretes, tot interpretationes" (104, 1-2 (Green)).

    Die meisten Beitrge zu dieser Debatte beziehen sich auf zwei antike Zeugnisseder Rezeption zurck. Das erste dieser Zeugnisse ist Ciceros Wiedergabe dervTOTQOcpoc-Formel in Orator 114: Aristoteles principio artis rhetoricae dichillam artem quasi ex altera parte responder dialecticae." Diese Paraphrase ist imPrinzip nicht unangemessen, jedoch ist sie

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    wie die sptere Rezeption dieser For-mulierung zeigen wird

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    mehrdeutig. Ob Cicero selbst etwas mit der Aristoteli-schen Formel anfangen konnte und ob er die bei ihm selbst vorgelegte lateinischeWiedergabe im Sinne einer Analogie-Beziehung verstand, ist eher fraglich. Denn ererlutert die Aristotelische Formel an derselben Stelle mit keinem einzigen aristo-telischen Gedanken. Vielmehr stellt er die Formel so dar, als habe sie lediglich denVergleich des Stoikers Zenon antizipiert, wonach sich die Dialektik wie die zurFaust geballte Hand, die Rhetorik hingegen wie die ausgestreckte Handflche ver-halte; der Unterschied zwischen beiden Disziplinen bestehe demnach darin, quodhaec ratio dicendi latior sit, illa loquendi contraction"

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    Das zweite Zeugnisstammt aus dem To/>/&-Kommentar des Alexander von Aphrodisias, der besondersdie Gemeinsamkeiten zwischen Dialektik und Rhetorik hervorzuheben versuchte(siehe oben, Anm. (1.1)). Alexander sagt (In Top. 3, 22f.), Aristoteles verwende dastvT(gegen)aTQO

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    Wilhelm von Moerbeke zugrunde; diese lautet: Rethorica [sie] assecutiva dia-lectice est (Rhetorik folgt der Dialektik nach)." Die hierin ausgedrckte Nachfolge(assecutio) sei, so Aegidius, eine Art der Nachahmung (imitatio). Weil die Nachah-mung sowohl im Sinne der quivalenz als auch im Sinne der Defizienz verstandenwerden knne, folge die Rhetorik der Dialektik nach dem Eingangssatz der Rheto-rik auf beide Weisen nach. Die Defizienzen der Rhetorik erlutert Aegidius imEinzelnen. Weil umgekehrt die Dialektik keine Defizienzen gegenber der Rheto-rik aufweist, bleibt von Aegidius' Analyse im Wesentlichen die Unterordnung derRhetorik unter die Dialektik. Dies stellt natrlich gegenber dem bei Aristotelesdurch die Analogie beschriebenen Verhltnis eine geradezu grobe Verzerrung dar;die Unterordnung des Politisch-Praktischen gegenber dem Ewigen und demTheoretischen, welche Aegidius zu seiner Interpretation veranlasst, hat natrlichVorbilder bei Aristoteles selbst, jedoch spielt diese Hierarchisierung bei der Ge-genberstellung von Dialektik und Rhetorik durch Aristoteles keinerlei Rolle; undder vxioxQOCpo-Formel selbst eine solche Hierarchisierung entnehmen zu wol-len, ist zumindest khn (und wre ohne die missverstndliche bersetzung beiWilhelm unmglich). Einen Anhnger scheint Aegidius' Interpretation in Augus-tinus Niphus (1538, 2r) gefunden zu haben, der das bei Aegidius formulierte Ver-hltnis zunchst sogar mit dem Ausdruck subalterna" wiedergibt, bevor er sichschlielich auf die Wiedergabe Rhetorica est vicaria dialectice" festlegt; vgl.hierzu Green (1990, 16).

    Die Rezeption der vxioxQOCpo-Formel in der Renaissance ist von dem Anlie-gen geprgt, eine Lesart zu finden, die mit der Wiedergabe Ciceros vereinbar ist.Die lteste Renaissance-bersetzung, die von Georg von Trapezunt (zitiert nachder Pariser Ausgabe von 1475; fertiggestellt war sie bereits dreiig Jahre frher)bersetzt den Eingangssatz mit Rhetorica cum dialctica convertitur". Damitscheint er eine ltere Lsung aufzugreifen, welche auch in der mittelalterlichenTranslatio vetus mit der Wiedergabe: Rethorica [sic] est convertibilis dialetice"intendiert war. Jedoch ist fraglich, ob mit dieser bersetzung ein prziser, techni-scher Sinn von Konvertibilitt verbunden ist (wie er in der Aristotelischen undscholastischen Logik vorliegt) oder ob lediglich eine vagere Form von hnlichkeitund Zusammengehrigkeit ausgedrckt werden soll; vgl. dazu auch Green (1990,19). Rainolds jedenfalls wird in seiner gut hundert Jahre spter gehaltenen Vorle-sung Trapezuntius zu denjenigen Autoren zhlen, die das vxt" im Sinne vonanstelle von" verstanden haben (id quod pro aliquo recte capi & illius loco ponipotest": 104, 19-20 (Green)), was zur Annahme einer hnlichkeit im Sinne einerhnlichen Kraft oder hnlichen Natur berechtige. Rainolds gibt daher auch Trape-zuntius' Auffassung von vxioxQocpo mit aequipollet" (104, 7 (Green)) wieder.

    Eine intensive Debatte knpft sich an die Kommentierung des Petrus Victorius(Erstauflage 1548). Victorius schliet sich weitgehend der Auffassung des Alexan-der von Aphrodisias an: wenn er den Eingangssatz der Rhetorik mit Rhetoricaversantur in iisdem rebus, in quibus dialecticae" wiedergibt, greift er damit fastwrtlich Alexanders Rechtfertigung fr die Gleichsetzung von vxioxQocpo"mit iaoaxQOCpo" auf; er beruft sich fr diese Auffassung auf den Konsens dergebildeten" Aristoteles-Kommentatoren; vgl. Petrus Victorius (1579, 2): euneti-que interpretes Aristotelis, Alexander, Hammonius, Philoponus, significat anti-

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  • 1354a6 Kapitel 1 25strophon, quod circa idem versatur, quasi isostrophon: quod in eadem re materia-que tractanda occupatum est." Nur Ciceros Wiedergabe ex altera parte respon-det" scheint sich fr ihn nicht in diesen Konsens zu fgen, weil er meint, dieseimpliziere e contraria parte" und drcke somit im Sinne anderer Komposita mitdem Prfix vxi" eine Opposition aus. In eine Reihe mit Ciceros Auffassungstellt er Demetrios' Gebrauch des Wortes vxioxQOCpo".

    -

    Maioragius missbil-ligt Victorius' Kritik an Cicero; er habe zu Unrecht Cicero einen Widerstreit"zwischen Rhetorik und Dialektik vorgeworfen. Riccobonus (1579, 222) wird dieEinwnde des Maioragius wie folgt zusammenfassen: Maioragius ... in Victorioduo nott peccata; unum, quod verbo contrareitatis usus sit: alterum, quod scripse-rit Ciceronem poner inter rhetoricam et dialecticam repugnantiam." GegenVictorius' Cicero-Kritik wiederholt Maioragius (1591, textus 1) die Ciceronische(jedoch Zenon und nicht Aristoteles entnommene) Erklrung, Rhetorik sei ledig-lich weiter und Dialektik enger, so dass der Unterschied in der Form des Sprechensbestehe. Maioragius stellt daher auch in seiner bersetzung klar, dass er keinenWiderspruch zwischen der Ciceronischen Wiedergabe und der hnlichkeitsbe-hauptung sieht, indem er sowohl die von Alexander und Victorius betonte Affini-tt als auch die Ciceronische Formel anfhrt: Rhetorica Dialecticae affinis est, etquasi ex altera parte respondet."

    Antonius Riccobonus mchte vermitteln und erklrt (1579, 222f.) Ciceros exaltera parte respondet" dahingehend, dass damit etwas gemeint sei, was teils hn-lich, teils unhnlich ist. Zwar enthalte der Ausdruck ex altera parte" ebenso wiedas Prfix vxi" eine gewisse Kontrariett, doch die Formel als ganze, mit derCicero die Aristotelische Wortfolge wiedergeben wollte, beinhalte

    -

    entgegen derKritik des Victorius

    -

    keinen Gegensatz. Selbst erklrt Riccobonus, dass Aristote-les das Wort vxioxQOCpo" ganz im Sinne von u.ocop.a" verstanden habe unddamit nichts anderes als die hnlichkeit zwischen Dialektik und Rhetorik habeausdrcken wollen: Itaque hae artes inter se similes sunt: quia ambae de rebuscommunibus sunt, quarum nulla definita scientia est. Nos in conversione nostradiximus, huiusmodi artes inter se convenentiam habere, quod in eandem materiamconveniant; et concurrant." Daher bersetzt er auch (hierin beinahe wieder auf dieLsung des Averros zurckgreifend: vgl. Green (1990,15f.) den Eingangssatz mitRhetorica convenientiam habet cum Dialctica."

    Erklrungen wie von Maioragius und Riccobonus, die in dem von Victorius ge-sehenen Dissens von Aristoteles bzw. Alexander und Cicero zu vermitteln ver-suchten, setzten sich

    -

    dem allgemeinen Anliegen einer Vermittlung zwischen derrmischen Rhetorik und Aristoteles folgend

    -

    durch. Kontrovers blieb dabei, obCicero mit seiner Wiedergabe gar keine Entgegensetzung behaupten wollte oderob er zwar eine Art von Entgegensetzung behaupten wollte, welche aber insgesamteiner die Gemeinsamkeit betonenden Deutung nicht entgegensteht. So findet manetwa auch bei Portus (1598, 5) die Erklrung, Aristoteles spreche mit Blick auf denGegenstand von hnlichkeit, Cicero mit Blick auf die Form von Differenzen(Sed Aristoteles respexit ad materiam, qua similis est Dialctica Rhetoricae,Cicero respexit ad formam, quae est dissimilis").(2.) Dialektik": Vgl. zum Aristotelischen Begriff der Dialektik in der Einlei-tung Kap. V.

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  • 26 Erstes Buch 1354al

    al Die Rhetorik (f| QnxoQixfj)": .QTjxoQixfj' ist ein Adjektiv, zu dem das Sub-stantiv

    .xxvj' ergnzt werden muss. Das Adjektiv .qtjxoqixO' ist etwa auch frden Rhetoriklehrer Aischines Sphettios belegt (3, 163), wo es aber nicht mehrmeint als .zum Redner gehrig'. Die Studie von Schiappa (1990) unternimmt es zuzeigen, dass der Begriff QTjxoQixfj" vor dem frhen vierten Jahrhundert gar nichtnachgewiesen werden kann und wahrscheinlich erst in Piatons Gorgias geprgtwurde. In den vor-platonischen Quellen wird die Ttigkeit des Redners berwie-gend mit XyEiv (sprechen)" bezeichnet, die berzeugung als JtEifr" und dieRede als Xyoc". Auch das Wort QnxoQEa" wird erstmals von Isokrates undauch bei ihm nur selten benutzt. Isokrates etwa spricht (abgesehen davon, dass ersein eigenes Tun als .cpiXooocpia' bezeichnete) von der .Kunst der Rede'. Bei Pia-ton wird ,rj QnxoQtxfj xxvn, zur konstanten Bezeichnung fr die Redekunst (vgl.Piaton, Gorgias 449a, wo die Befragung des Gorgias nach einem Namen fr seineKunst, den Schluss nahe legt, dass die schlielich genannte Bezeichnung ,f| Qnx-oQixfj' noch gar nicht etabliert war: Oder vielmehr, Gorgias, sag' du uns selbst,als was fr einen bzw. als Meister in welcher Kunst man dich bezeichnen muss

    -(Als Meister) der rhetorischen (Kunst), Sokrates."), wobei auch in der Kurz-Form,rj nxoQixfj' die Ergnzung ,-xvij' erforderlich ist (vgl. Piaton, Gorgias 462b,Phaidros 266d). Da sichere Belege vor dem Gorgias fehlen und Piaton fr seineVorliebe fr Wortneubildungen auf ,,-ixo" bekannt ist, kann die UrheberschaftPiatons zumindest als sehr wahrscheinlich gelten. Was aus dieser Beobachtungfolgt, ist weniger klar, in jedem Fall zeigt das Erscheinen des Wortes a new levelof specificity and conceptual clarity concerning different verbal arts" an (so Schi-appa (a.a.O., 458)); der moderne Interpret wird durch diese Beobachtung aberauch daran erinnert, dass durch das Fehlen eingefhrter Bezeichnungen die Ab-grenzungen der verschiedenen Disziplinen, die in gewisser Weise alle ihren An-spruch auf den Xyoc erhoben, noch zur Zeit der groen Sophisten weniger klarwar, als das aus nachplatonischer Perspektive erscheint.a2 nmlich (yQ)": Abwegig ist die Anmerkung von Kennedy (29, Anm. 3), dieFormulierung nmlich (yQ)" sei ein Hinweis darauf, dass es sich beim Eingangs-satz um ein Enthymem handle. Aristoteles gibt nirgendwo Anlass zu der An-nahme, dass die Enthymeme, die er ausschlielich fr die Verwendung in der f-fentlichen Rede bestimmt, fr die Gestaltung von Lehrschriften heranzuziehenwren. Offenbar ist diese Einschtzung nur Ausdruck eines grundlegenderenMissverstndnisses, wonach die Rhetorik nach den darin entwickelten Gesichts-punkten gestaltet und auf entsprechende Weise zu analysieren ist. Auch Arnhart(1981,189, Endnote 1) erliegt diesem Missverstndnis und verweist sowohl auf dieErffnung als auch auf den Schlusssatz der Schrift.a3 nicht Sache einer begrenzten Wissenschaft": Vgl. 1355b7-9 und 1356a32f.a3-6 Deswegen haben auch alle auf gewisse Weise an beiden Anteil; alle habennmlich zu einem gewissen Grad damit zu tun, ein Argument zu prfen und zusttzen ...": Vgl. dazu Soph. el. 11, 172a30-32: Deswegen gebrauchen alle, auchdie Laien, auf gewisse Weise die Dialektik und Peirastik; denn alle versuchen bis zueinem gewissen Grad die aufgestellten Behauptungen zu prfen." Die oben gege-

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  • 1354all Kapitel 1 27bene Erklrung der vTOTQOtpo-Formel hatte angenommen, dass Rhetorik undDialektik in Beziehung zu den vor-methodischen Praktiken des Prfen/Sttzensund Verteidigen/Anklagens gesetzt werden; dass diese Annahme zutrifft, zeigt sichauch daran, dass es im Anschluss an die zitierte Soph. el. -Stelle, die den Gedankenvon Rhet. 1354a3-6 fr die Dialektik exakt wiederholt, heit: ... auf kunstfremdeWeise (ccTxvco) haben (alle) an dem Anteil, wovon die Dialektik auf kunstge-me Weise (vTxvto) handelt" (172a34f.).a5 Argument (Xyoc)": Die Vieldeutigkeit des griechischen Ausdrucks .Xyoc'ist bekanntermaen problematisch. Der Ausdruck geht auf das Verb .XyEtv (sa-gen, ursprnglich: sammeln)' zurck und meint in erster Linie .Sagen, Wort, Rede,Erzhlung', hinzu kommen die Verwendungen im Sinne von .Meinung, berle-gung, Grund, Erklrung, Rechtfertigung, Argument', sogar .Vernunft, vernnftigeberlegung' sowie verschiedene Sonderverwendungen. In der vorliegendenSchrift sorgt vor allem der Wechsel zwischen der Bedeutung .Rede, ffentlicheRede' und

    .Argument' fr Schwierigkeiten. Wartelle (1982, 241) konstatiert fr dieRhetorik die Bedeutungen rcit, discours, fable, nonc, expos, argument, rai-son". Eine Auswertung von 66 Vorkommnissen von Xyoq,' in der Rhetorik findetsich bei Grimaldi (II 284 f.).1354a6-1354all Den einfhrenden Bemerkungen ber die Gemeinsamkeit vonRhetorik und Dialektik sowie ber den unbestimmten Gegenstandsbereich beiderDisziplinen fgt Aristoteles ein explizites Argument bei, inwiefern man die Rheto-rik durchaus als geeigneten Gegenstand einer Kunstlehre oder Theorie (txvr|) an-sehen kann: man kann nmlich den Grund untersuchen, warum diejenigen, die dieRedekunst aufgrund einer Gewohnheit oder aufs Geratewohl praktizieren, ihrZiel erreichen; und dies ist unbestrittenerweise Sache einer Kunstlehre.(1.) Kunst (xxvn) und Erfassen des Grundes: Mageblich fr das Argumentdieses Abschnitts ist die Verbindung zwischen dem Begriff der Kunst, Kunstlehre(rxvq) und dem Erfassen des Grundes (aitia). In Met. I 1 werden fr den Fort-schritt von der Erfahrung (ujTEioia) zur Kunst (rxvq) zwei Kriterien formuliert.Erstens gehrt zur Kunst die Beschreibung der einschlgigen Sachverhalte in All-gemeinbegriffen: Es entsteht aber Kunst, wenn von zahlreichen Eindrcken derErfahrung sich eine allgemeine Annahme ber hnliches einstellt." (Met. 981a5-7)Dass z. B. ein bestimmtes Medikament einzelnen Personen geholfen hat, ist nocheine Frage der Erfahrung, die Auffassung dagegen, dass das Medikament alleinKrankheiten von einer bestimmten Beschaffenheit (welche sich unter einen Artbe-griff subsumieren lassen: Met. 981al0) hilft, ist bereits Ausdruck der Kunst. (DerVorwurf des kunstlosen Vorgehens bei den Rhetoriklehrern wre demnach so aus-zufhren, dass bestimmte Stze und Verhaltensweisen mit einer gewissen Regel-migkeit wiederkehrende Reaktionen im Publikum auslsen, die Gemeinsamkeitder betreffenden uerungen, Situationen und Wirkungen knnten sie aber nichtbenennen, so dass nur eine bertragung vom Einzelfall auf hnliche Einzelflle,nicht aber die Anwendung eines allgemeinen Sachverhalts auf noch nie da gewe-sene Einzelflle mglich ist.) Die Benennung allgemeiner Stze ist zugleich die Vo-raussetzung fr das zweite Kriterium, das Erfassen des Grundes: Die Erfahrenennmlich kennen das Dass, das Warum aber kennen sie nicht. Die anderen aber (die

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  • 28 Erstes Buch 1354a6

    ber xxvij verfgen) kennen das Warum und den Grund." (Met. 981a27-30) Die-ses Kriterium nun stimmt mit der Aussage des vorliegenden Abschnittes berein,dass jedermann die Untersuchung des Grundes bereits als Aufgabe der Kunst be-trachten wrde.

    Rhetorik als Kunst: Allgemeinheit der Stze und Kenntnis der Grnde und Ur-sachen sind auch Merkmale einer jeden Wissenschaft (juaxfpn). Warum zhltdann die Rhetorik als Kunst und nicht als Wissenschaft? Tatschlich scheint das zi-tierte Metaphysik-Kapitel um eine scharfe Grenzziehung zwischen .Wissenschaft'und

    .Kunst' (zunchst) nicht bemht (Und deswegen meinen wir, dass die Kunstmehr/eher ((xXXov) Wissenschaft sei als die Erfahrung": 981b8-9) An manchenStellen des Kapitels (981 bl4.17.24) scheint ,xxvr|' geradezu synonym mit,jiiaxfj(xn (Wissenschaft)' gebraucht zu sein. Jedoch lassen sich hieraus keine all-gemeinen Folgerungen fr den Begriff der Kunst ziehen, weil hier ein weiter,volkstmlicher Begriff von .Kunst' gebraucht wird, mit welchem die allen gelufi-gen Kriterien benannt werden sollen, die spter dazu bentigt werden, die

    -

    kei-neswegs gelufige

    -

    Vorstellung einer ersten und hchsten Wissenschaft zu etablie-ren. Terminologisch genauer sind die Ausfhrungen von EN VI (= V) 4, wo dieKunst sowohl von der Wissenschaft als auch von den fr Handlungen zustndigenkognitiven Vermgen unterschieden wird. Von der Wissenschaft unterscheidetsich die Kunst durch den Gegenstand, insofern sich der Gegenstand der Kunstauch anders verhalten kann" (1140a2), whrend sich das, was man im Sinne derWissenschaft wei, nicht anders verhalten kann (vgl. 1139b20f.). Auf das, was sichauch anders verhalten kann, ist man entweder handelnd oder herstellend bezogen;nur fr Letzteres ist die Kunst zustndig. Die auf die Herstellung gerichtete Kunstist von der auf das Handeln bezogenen Klugheit/Vernnftigkeit (cpQvnoic) da-durch unterschieden, dass es im ersten Fall eine Vollkommenheit gibt, im zweitenFall nicht (VI 5, 1140b21 f.). Die Kunst wird daher

    -

    in Absetzung von Wissen-schaft und Klugheit

    -

    bestimmt als eine mit richtiger Vernunft (Xyoc) verbundeneherstellende Charaktereigenschaft/Haltung ('i) (vgl. VI 4, 1140a6-10).(2.) Kunstfremdes Vorgehen: Einen interessanten Hintergrund liefert das Ka-pitel 34 der Soph. el. Dort heit es ber die bezahlte Unterrichtung in sophistischerArgumentation, es seien fertige Reden, teils in rhetorischer, teils in befragenderForm, zum Auswendiglernen ausgehndigt worden, unter welche die Argumentevon beiden Seiten fallen sollten; vgl. Soph. el. 34, 184al-8: Deswegen war die Be-lehrung fr die Schler von ihnen zwar schnell, aber beruhte auf keiner Kunst(xEXvo). Denn sie nahmen an, nicht zu unterrichten, indem sie die Kunst, son-dern indem sie die Errungenschaft der Kunst weitergaben, so wie einer, der ver-spricht, die Wissenschaft zu vermitteln, mit der das Schmerzen der Fe vermie-den werden kann, dann aber nicht die Schusterei lehrt und nicht, woher man sol-che Dinge besorgen kann, sondern eine Auswahl vieler verschiedenartiger Schuheanbietet: ein solcher hat zwar dem Bedrfnis abgeholfen, aber keine Kunst ge-lehrt." Dass Aristoteles ein vergleichbares Versumnis den frheren Lehrern derRhetorik unterstellt, wird durch den in Abschnitt 1354al 131 ausgesprochenenVorwurf nahe gelegt; vgl. dazu die Anm. (1.1) zu 1354all-31.(3.) Argumente gegen den xxvn-Charakter der Rhetorik? Die verloreneAristotelische Schrift Gryllos soll Argumente gegen den x/vn-Charakter der

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  • 1354a31 Kapitel 1 29Rhetorik enthalten haben; wre das Fall, msste man davon ausgehen, dass Aristo-teles zunchst einen Standpunkt einnahm, wie er in Piatons Gorgias gegen dieRhetorik entwickelt wurde (vgl. dazu in der Einleitung Kap. III, Abs. 1), und erstspter

    -

    mglicherweise im Zusammenhang mit der Entwicklung des eigenen Dia-lektik-Konzepts

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    die Rhetorik fr eine Kunst hielt. ber den Inhalt des Gryllosberichtet Quintilian in einem Kapitel (Institutio II17) ber die Frage an rhetoricears sit", wobei er eine ganze Reihe von Argumenten

    -

    zum Zweck der Widerle-gung

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    anfhrt, die bestreiten, dass die Rhetorik eine Kunst sein kann. Vgl. dazuaber in der Einleitung Kap. IV, Abs. 3: Der Gryllos".a8 auch aufgrund einer Methode zu leisten sein (xai ocp jioiev)": Ross undKassel (vgl. auch Kassel (1971, 117)) bernehmen hier die Verbesserung von By-water (1903, 248); dagegen steht in A: cojiolev, in F, H und Arec: ojtoiev, ine: oojtoifjaai. Auf diese Weise ist das methodische Vorgehen klar gegen das Agie-ren der zuvor erwhnten Menge abgesetzt, die dasselbe aufs Geratewohl (etxfj)"oder aufgrund einer Gewohnheit tut. Damit wird der Position des Sokrates im Pla-tonischen Gorgias widersprochen, wo es von der Rhetorik heit, sie wisse keinenGrund fr das anzugeben, was sie tut (465a5). Grimaldi (I 3f.) bleibt beioojtoiEv" und mchte die darin enthaltene Metapher (to make a road, to traceout a path") nicht verloren geben.alO den Grund zu untersuchen (xf)v aixiav u-ecoqev)": Der Ausdruck.ecoQeiv' meint sonst auch .anschauen, betrachten', hier dagegen ist in Verbin-dung mit dem Begriff ,Grund' eher die Art von Untersuchung gemeint, die im Er-gebnis zur theoretischen Durchdringung des untersuchten Gegenstandes fhrt..Grund (atxia)' stellt stets den Schlsselbegriff fr den Aufstieg zu einer ber-em-pirischen Wissensform dar: vgl. etwa Met. I 1, 981a28, An. post. I 2, 71bl0 u.v.a.Auch in Rhet. III 1,1404b 1 beschreibt Aristoteles die Untersuchungen der Rheto-rik mit diesem Ausdruck. Eine hnliche Funktion hat auch der Ausdruck iev"in 1355bl0.1354al 1-I354a31 In diesem Abschnitt beginnt Aristoteles damit, seine Abhand-lung ber die Rhetorik von den bisherigen Rhetorikhandbchern abzugrenzen.Der rhetorischen Kunst gem sind nmlich nur die so genannten Jtiaxei", hier:.das berzeugen, der Vorgang bzw. die Vorgnge des berzeugens' (vgl. untenAnmerkung (1.2)). Die bisherigen Rhetorikhandbcher hingegen haben nur einenkleinen Teil dieser Disziplin ausgearbeitet, weil sie ihr Augenmerk nicht auf dieberzeugung, sondern lediglich auf die Zutaten richten und nichts ber dasEnthymem sagen, das fr die berzeugung zentral ist. Aristoteles wirft diesenHandbchern vor, dass sie statt dessen Dinge behandeln, die auerhalb der Sachegelegen sind; darunter versteht er offenbar, dass man durch Verleumdung oder Be-schuldigung sowie durch die Erregung von Mitleid, Zorn und anderer derartigerEmotionen (jtq) der Seele gar nicht auf die anstehende Sache eingeht, sondernohne Sachbezug auf die Beeinflussung des Richters abzielt. Dieses Auerhalb-der-Sache-Reden (to xo jtQayp.axo Xyeiv) wird jedoch in einigen Stdten, unteranderem auch in Athen vor dem Areopag, durch das Gesetz verboten, was Aristo-teles nachdrcklich untersttzt. Wenn man nmlich den Richter durch Emotionen

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    wie Zorn, Neid und Mitleid verdreht", dann ist das nicht anders, als wenn maneine Messlatte gebraucht, die man zuvor verbogen hat. Schlielich erinnert Aristo-teles daran, dass es vor Gericht den Parteien nur zukommt, die Sachverhalte aufzu-zeigen, nmlich ob etwas der Fall ist oder nicht der Fall ist, whrend alles brigedem Urteil der Richter zu berlassen ist.

    (1.) Die Kritik an den Vorgngern: Anders als in vielen anderen Aristoteli-schen Schriften findet eine ausfhrliche Auseinandersetzung mit den Konzeptio-nen der Vorgnger in der Rhetorik nicht statt, was damit zusammenhngen mag,dass sich Aristoteles bereits in frheren Arbeiten, vor allem in der .Sammlung derKnste' (TexvYv Xvvaywyr]/Technn Synagoge), mit diesen Lehren auseinander-gesetzt hat (vgl. dazu in der Einleitung Kap. IV, Abs. 2: Die Tecbnn Synagoge").Fr die Frage, wodurch sich die Konzeption der Rhetorik dem Selbstverstndnisdes Aristoteles nach von den Rede-Anleitungen der Vorgnger und Zeitgenossenunterscheidet, bleiben so vor allem die uerst knappen Bemerkungen des vorlie-genden Kapitels I 1. Diese Bemerkungen sind nicht nur knapp, sondern bereiten,soweit sie die Praktik der Emotionserregung kritisieren, den Interpreten vor allemdeshalb Schwierigkeiten, weil Aristoteles von Kapitel I 2 an die Erregung vonEmotionen ohne Einschrnkung als eines von drei berzeugungsmitteln (jtotei)akzeptiert. Der bekannteste Ausweg aus diesem vermeintlichen Widerspruch, be-steht in der These, Kapitel I reprsentiere eine frhere, .platonische' (weil Rheto-rik-kritische) Schaffensphase, whrend die Konzeption der .eigentlichen' Rhetorikab I 2 spter entstanden und auf diese Weise weniger Platon-nah und wenigerstreng sei. Dieser Ausweg kommt allerdings aus einer Reihe anderer Grnde (vgl.1. Nachbem. zu Kap. II) nicht in Frage. Eine genauere Lektre der im vorliegen-den Abschnitt geuerten Kritik an den Vorgngern wird auerdem zeigen, dasseine solche entwicklungsgeschichtliche Notlsung auch gar nicht erforderlich ist.Dazu soll zuerst geklrt werden, wen Aristoteles mit seinen kritischen Bemerkun-gen eigentlich treffen mchte (1.1); bei dieser Gelegenheit wird sich eine einschl-gige Mehrdeutigkeit des Ausdrucks jtotei (berzeugungen, berzeugungsmit-tel usw.)" abzeichnen (1.2). Schlielich kann eine przisere Paraphrase der an denVorgngern gebten Kritik gegeben werden, die deutlich macht, dass der viel be-schriebene

    .Widerspruch' zwischen Kapitel I 1 und dem Rest der Schrift keines-wegs unabwendbar ist.(1.1) Wer wird kritisiert? Um die Zielrichtung der Aristotelischen Kritik n-her zu bestimmen, kommt es bei der Beantwortung dieser Frage weniger auf eineListe von Eigennamen historischer Rhetoriklehrer an als auf die Aufzhlung derje-nigen Praktiken, die fr die kritisierten Rhetoriklehrer kennzeichnend sind. Auf-grund der vorliegenden Stelle ist klar, dass sie erstens die Behandlung des Enthy-mems vernachlssigen und zweitens grtenteils Dinge behandeln, die nicht aufdie verhandelte Sache zielen, sondern auf die Beeinflussung der Richter durch Be-schuldigung (vgl. unten die Anm. zu 1354al6), Mitleid und Zorn. Diese beidenMerkmale ergeben ein noch recht unspezifisches Bild. Hier hilft die Beobachtungweiter, dass Aristoteles einige Abschnitte weiter offenbar erneut ber dieselbeGruppe von Rhetoriklehrern spricht: Wenn sich aber dies so verhlt, dann stellenoffensichtlich alle diejenigen, die Bestimmungen darber treffen, was die Einlei-tung (jtqoouov) oder die Erzhlung (triy^ot) und jeder der brigen Teile (ttbv

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  • 1354a31 Kapitel 1 31XXtov xaaxov u.oQcov) enthalten muss, Anleitungen ber das auerhalb der Sa-che Liegende auf" (1354bl619). Auf diese Weise erhlt man ein weiteres Merk-mal, durch das die kritisierten Rhetoriklehrer identifiziert werden knnen: Sie stel-len Theorien ber die Teile der Rede, wie zum Beispiel Einleitung und Erzhlung,auf.

    Mit dem zuletzt genannten Merkmal ist man ein gutes Stck weiter, denn wieSolmsen gezeigt hat (in Solmsen (1938)!, nicht in der entwicklungsgeschichtlichenArbeit Solmsen (1929), mit der er sogar mageblich zur Verbreitung der falschenAuffassung beigetragen hat, Kapitel I 1 sei frher als der Rest der Schrift entstan-den: vgl. 1. Nachbem. zu Kap. II), lsst sich eine vor-aristotelische Tradition vonRhetoriklehrern isolieren, bei denen folgende Merkmale zugleich gegeben sind:

    (a) Ihre Lehre dreht sich mageblich um die Unterscheidung verschiedener Re-deteile.

    (b) Sie weisen die Erregung von Emotionen bestimmten Redeteilen zu.(c) Sie arbeiten in der Regel mit einem begrenzten und konventionellen Reper-toire an emotionserregenden Mitteln.

    Im Unterschied zu dieser Tradition zeichnet sich die Aristotelische Konzeptionder Emotionserregung, die ab Kapitel I 2 entwickelt wird, dadurch aus,

    (a') dass Aristoteles der Lehre von den Redeteilen eine untergeordnete Rollebeimisst, ihr sogar sehr distanziert gegenber steht,(b') dass Aristoteles die Emotionserregung als eines von drei berzeugungsmit-teln (jtioxEi) einfhrt und die Emotionserregung ganz von der Unterschei-dung der Redeteile loslst,(c') dass Aristoteles die Emotionserregung konsequent als kunstgemes ber-zeugungsmittel entwickelt, whrend er die konventionelle Emotionserre-gung nicht als kunstgem ansehen wrde.

    Zunchst zu den Belegen fr die Annahme einer durch die Merkmale (a), (b) und(c) charakterisierten vor-aristotelischen Tradition:-

    In Piatons Phaidros (266d-e) wird unter den Errungenschaften der rhetori-schen Kunst an erster Stelle eine Lehre von den Redeteilen ausgefhrt, welche alsHaupt- und Nebenteile der Rede die Einleitung (jtQooiurov), die Erzhlung(ifjynai), die Zeugnisse (u.aQXUQai), die Beweise (xEXurJQia), die Wahrschein-lichkeiten (Eixxa), die berzeugung (jtiaxcoai) und Nebenberzeugung(jxiJtiaxcoai) kennt; als Vertreter dieser Unterteilung wird Theodoros von By-zanz genannt. Dieses Zeugnis belegt insofern Merkmal (a), als damit erstens dieExistenz einer um die Redeteile bemhten Redekunst und zweitens die herausra-gende Bedeutung dieser Unterteilungen fr die Redekunst berhaupt zum Aus-druck kommt. Vgl. zu Piatons Abriss der zeitgenssischen Lehren ber die Rede-teile in der Einleitung Kap. IV, Abs. 1.

    -

    Aristoteles setzt sich in Rhetorik III 13-19 mit verschiedenen Unterteilungender Rede auseinander, wobei er zunchst nur zwei Redeteile als notwendig ansiehtund ber weiter gehende Unterteilungen ein vernichtendes Urteil fllt (III 13,1414a36). Er bedient sich dann eines vierteiligen Redeschemas (jiqoou.iov,JtQOxfEOi/ifJYnoi, jiioxEi, jtiXoyo), wobei er seine Aufgabe vor allem darin

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  • 32 Erstes Buch 1354all

    zu sehen scheint, fr die einzelnen Redeteile eine Funktion zu bestimmen, durchdie sie die Rede nicht nur uerlich unterteilen, sondern Gesichtspunkte der in denBchern I & II entwickelten Theorie des berzeugens bercksichtigen. Zweierleiist an diesem Schema hervorzuheben: Erstens handelt es sich nach Meinung ver-schiedener Autoren

    -

    Spengel (1828 (= Technn Synagoge), 156 und 169), Marx(1900, 314ff. [109ff.]), Barwick (1922, 13); alle mit Bezug auf Kapitel 16 des Lysi-as-Referats bei Dionysios Halikarnassos

    -

    um ein Schema, das auch bei Isokratesoder in dessen Schule, im Besonderen aber bei dem Isokrates-Schler Theodektes(vgl. Solmsen (1938, 391)) verwendet wurde. Zweitens teilt Aristoteles darin dieErregung bestimmter Emotionen einzelnen Redeteilen zu; er tut dies in Passagen,die zumindest teilweise eher die verschiedenen Mglichkeiten der einzelnen Rede-teile zu sichten scheinen, als dass sie einen eigenstndigen Gedanken entwickelnwrden. Und er verweist ausdrcklich darauf, dass die fr die Einleitung bestimm-ten Funktionen, nicht auf die Sache zielen (^co xo JiQayLUXTO) und berhauptnur wegen der ungebildeten Geistesart der Zuhrer erforderlich seien (III 14,1415b4 ff.). Weil Aristoteles bei diesem Thema keinen Originalittsanspruch er-hebt und sich in vielen einzelnen Punkten distanziert, liegt hiermit ein Beleg fr (a)und (b) vor. Zur Weise der Adaption von zeitgenssischen Lehren ber die Rede-teile in die Aristotelische Rhetorik vgl. die Nachbem. zu Kap. III 13-19.

    -

    Ein Beleg fr (b) findet sich in Gorgias' Hinweis auf die Wrkung der Rede inHelena 14, wo er diese mit dem Effekt von Medikamenten bzw. Drogen(cpQpaxa) vergleicht: ebenso bewirkten Reden Schmerz, Lust, Furcht oder Zu-versicht: xcov Xycov oi p.v XJtqaav, o exEQtpav, oi ei dagaoxaxaxqaav xo xoovxa." Weitere Belege zur Methode der Emotionserre-gung bei den frhen Rhetoriklehrern sind in Cronin (1939) zusammengestellt.

    -

    Ein weiterer Beleg fr (a) und (b) sowie eine wichtige Sttze fr die oben ge-gebene Einordnung von Rhetorik III 13-19 gibt eine antike Zusammenfassung derLehre des Theodektes; dort heit es: EQyov xo qtjxoqo

    ...

    JtQOOip-iaaoaijiqo Evoiav, iqyfjaaauai jiqc Jttavxqxa, Jtiaxcaaam jtqc jieitIc,ejtiXoyaaaai jtqc Qyqv fj eXeov" (Prolegomenon Syllog 216 (Rabe)). Hierinwird das vierteilige Schema, das auch Aristoteles in Rhetorik III zugrunde legt,ausdrcklich Theodektes, und somit dem Umkreis von Isokrates zugeschrieben,und die Emotionserregung wird

    -

    wie auch schon in der Aristotelischen Darstel-lung

    -

    der Einleitung (Wohlwollen) und dem Schlussteil (Zorn oder Mitleid) zuge-wiesen.

    -

    Reichhaltiges Belegmaterial fr (a) und (b) bietet die Rhetorik fr Alexanderdes Anaximenes von Lampsakos; vgl. Solmsen (1938, 392, Fun. 6 und 7). In derEinleitung gehe es darum, die Aufmerksamkeit des Hrers zu wecken und seinWohlwollen zu sichern (30, 1436bl6ff.; 37, 1441b36-1442al4), Aufgabe desSchlussteils sei u.a. die Erregung von Emotionen (35,1439bl5-36,1440a25-bl; 37,1443bl4-21, 1444b35-1445a29).

    Schlielich sind noch Belege fr (c) anzufhren. In (c) kommen verschiedeneAspekte zusammen: Allgemein besagt (c), dass nur bestimmte Emotionen in be-stimmten Standardsituationen mit Standardfloskeln oder -reaktionen erregt wer-den. Das beinhaltet im Besonderen, dass die konventionelle Emotionserregungihrer Herkunft nach auf beobachteten und allgemein bekannten Zusammenhngen

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  • 1354a31 Kapitel 1 33zwischen bestimmten Verhaltensmustern und emotionalen Reaktionen beruht unddass sie ihrer Wirkung nach nur unspezifische Reaktionen auslst. Nicht belegtwerden kann nun, dass fr Redelehrer, die durch (a) und (b) gekennzeichnet sind,immer auch (c) zutrifft

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    zum Beispiel trifft (c) sicherlich nicht auf alle in derRhetorik fr Alexander erwhnten Mittel zur Emotionserregung zu, obwohl dieSchrift ohne Einschrnkung (a) und (b) belegt. Aber eine klare Tendenz in Rich-tung auf (c) zeichnet sich in jedem Fall ab:

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    Ein erster Beleg fr (c) ist, dass in den oben angefhrten Zeugnissen nur von.Standardemotionen' die Rede war, nmlich von Wohlwollen in der Einleitung undZorn oder Mitleid im Schlussteil.

    -

    Sodann haben wir das Urteil des Aristoteles, der die Emotionserregung derbisherigen Rhetoriklehrer (1354al2) und zwar ausdrcklich derer, die ber die Re-deteile handeln (1354bl6ff., 1415b4ff.), regelmig als .nicht zur Sache gehrig'bezeichnet, was er jedoch nie von der Emotionserregung sagt, die Teil seiner eige-nen Lehre von den drei berzeugungsmitteln ist.

    -

    Ein anschauliches (und fr Zeitgenossen offenbar vertrautes) Beispiel fr das,was Aristoteles unter einer .nicht zur Sache gehrenden' Emotionserregung ver-steht, gibt Piatons Apologie 34c, wo Sokrates sagt, es werde sich wohl mancherunter den Zuhrern rgern, dass er selbst bei weniger bedeutenden Prozessen inTrnen ausbrach und seine Kinder mitbrachte, um Mitleid zu erregen, whrend er,Sokrates, nichts dergleichen tue.

    -

    Die Rhetorik-Kritik von Piatons Gorgias hat offenbar eine bestimmte Formder rhetorischen Emotionserregung vor Augen, die insofern .konventionell' ist, alssie ohne Einsicht in den Grund und ohne Berechnung (ov iaQtpm-aauivn": 501a), sondern aufgrund bloer Erfahrung operiert (vgl. 500e-501b so-wie 462c). Sicherlich muss man den polemischen Charakter des Gorgias in Rech-nung stellen, weil es aber keineswegs selbstverstndlich ist, die Kritik an der Rhe-torik auf den empirischen Status der Emotionserregung zuzuspitzen (whrendman etwa auch die Wirkung derselben angreifen knnte

    -

    wie z.B. in Politeia X602c ff.), knnte diese Kritik durchaus einen Rckhalt in einer tatschlich prakti-zierten und verbreiteten Art der Emotionserregung haben.

    -

    Schlielich bietet die berlieferung um Thrasymachos einen gutenBeleg: Vonihm nmlich wird gesagt, er habe eine Sammlung fertiger eXeoi" (also mitleiderre-gender Mittel) verfasst (so Aristoteles, Rhet. 1404al4f.), die von den Schlern nurauswendig gelernt werden mussten. Zur Praxis des Auswendiglernens fertiger Re-den im Allgemeinen vgl. auch Soph. el. 34, 183b37-184a8 (zitiert in Anm. (2.) zu1354a6-ll).

    Die Verknpfung der Merkmale (a), (b) und (c) umreit die Grundzge einerrhetorischen Tradition, die sinnvollerweise mit der Aristotelischen Kritik in Ver-bindung gebracht werden knnte. Aber lsst sich denn auch schlssig belegen, dassAristoteles an der vorliegenden Stelle (1354al 1 ff.) genau diese Tradition vor Au-gen hat? Zuerst spricht die Beobachtung fr sich, dass Aristoteles die Bemerkun-gen des vorliegenden Abschnitts zum Anlass fr einen lngeren Exkurs nimmt, derdie gesetzlichen Regelungen hinsichtlich des Auerhalb-der-Sache-Redens behan-delt, und zum Schluss dieses Exkurses (1354bl6ff.) ein Resmee fr solche Rheto-riker zieht, die die Unterteilung der Rede behandeln: Das heit nmlich, dass von

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  • 34 Erstes Buch 1354all

    Anfang an Rhetoriker gemeint waren, die diese Redeteile behandeln. Zweitensbringt Aristoteles die in 1354b 16 ff. erwhnte Behandlung der Redeteile sofort inVerbindung mit einer ausschlielichen oder dominierenden Beachtung der Emoti-onserregung, die den Anlass zum Exkurs gegeben hatte (denn nichts anderes wirdbei ihnen behandelt, als wie man den Richter in eine bestimmte Stimmung verset-zen kann": 1354bl9f.). Schlielich knnte ein Hinweis auf die Behandlung der Re-deteile schon im vorliegenden Abschnitt gegeben sein; Aristoteles sagt nmlichvon den Vorgngern, sie htten nur einen geringen Teil (Xiyov

    ...

    xqiov)" vonder Redekunst zuwege gebracht; es ist nmlich, so Primavesi (im Druck), kein Zu-fall, dass Aristoteles hier wie in 1354bl9 das Wort xqiov verwendet, denn fr diean den Redeteilen orientierte Rhetorik sind ja die udoia tofi Xyou zugleichj,oqux xfj rxvT].(1.2) Was bedeutet hier Jtiorei"? Die Behauptung, dass die Vorgnger nureinen kleinen Teil der Redekunst zuwege gebracht htten, begrndet Aristotelesdamit, dass nur die jtotei" der Kunst gem (vgl. die Anm. zu 1354al3) seien,whrend das andere" nur Zugaben (jtQoatffjxat) seien. ber die Enthymemeaber, die den Leib der berzeugung" ausmachen, htten sie nichts gesagt. Ent-scheidend ist natrlich, in welchem Sinn Aristoteles hier von jtoti" bzw.jtotei" spricht. ber die Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks in der Rhetorik istziemlich viel geschrieben worden, fr den vorliegenden Abschnitt kann man dieUntersuchung auf folgende Mglichkeiten einschrnken (von Grimaldis speziellerInterpretation einmal abgesehen; vgl. dazu die 1. Nachbem. zu Kap. I 1 undAnm. (3.) zu 1356al-20):

    (i.) JtiaTi/jTOTEi" meint in einem terminologischen Sinn die von Aristote-les selbst behandelten und als

    .kunstgem' bezeichneten berzeugungs-mittel; damit knnen die drei in Kapitel I 2 eingefhrten Methoden

    -

    durchden Hrer, durch den Charakter des Redners, durch das Argument selbst

    -gemeint sein.(ii.) JtioTt/jtioTEi" meint in einem unterminologischen, durchaus umgangs-

    sprachlichen Sinn den Vorgang des berzeugens, der auch ohne methodi-sche Anleitung erfolgreich betrieben werden kann.

    (iii.) JTOTi/jTOTEt" meint in einem terminologischen Sinn den Teil der Rede,der nach den herkmmlichen Lehren der Rhetorik fr das Beweisen zu-stndig ist. (Zum Plural jtotei" vgl. die Anm. zu III 13, 1414a35.)

    (i.) kann man als das herkmmliche Verstndnis bezeichnen. Es scheint deshalbnahe liegend, weil hier ausdrcklich von .kunstgemen' Mitteln die Rede ist, undAristoteles in Kapitel I 2 seine Lehre der drei berzeugungsmittel ausdrcklichunter dem Hinweis einfhrt, dass es sich um die kunstgemen berzeugungsmit-tel handelt, (iii.) ist von Kantelhardt (1911, 27, Anm. 2, und 38), Roberts (1924b,352) und Primavesi (im Druck) fr die vorliegende Stelle vertreten worden, abernur Primavesi vertritt die entscheidende Zusatzthese, dass Aristoteles in 11JtLaxi/jTaTEi" nur zitierend im Sinn der lteren Rhetoriklehrer gebraucht, wh-rend er dann in I 2 den Ausdruck fr seine eigenen systematischen Zwecke ganzneu bestimmt. Kantelhardt hingegen meint, dass sich Aristoteles diese traditionelle

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  • 1354a31 Kapitel 1 35Bedeutung nil, spter aber nicht mehr, zu Eigen gemacht habe, so dass sich frihn das Problem verschiedener Schichten ergibt; Roberts Folgerungen bleiben da-gegen unklar, weil er seine Beobachtung nicht mit dem Wortgebrauch ab I 2 inVerbindung bringt.

    Der nhere Vergleich der drei genannten Mglichkeiten zeigt, dass gute Grndegegen (i.) und fr (iii.) sprechen, whrend (ii.) ebenfalls mglich ist. An erster Stellespricht fr (iii.), dass Aristoteles bei seiner Kritik, wie in (1.1) gezeigt, offenbarsolche Rhetoriklehrer im Auge hat, die sich bevorzugt mit den Redeteilen beschf-tigen und dass daher die Verwendung von deren Jtiaxic-Begriff im Sinne einesbestimmten Redeteils nur nahe liegend ist. Auerdem gibt es verschiedene An-zeichen, die belegen, dass Aristoteles in Kapitel I 1 vor allem bestimmte Vorgngerkritisieren will und dazu deren Terminologie adaptiert, whrend er erst in Kapi-tel I 2 seine eigene Systematik mit eigener Terminologie zu entfalten beginnt(vgl. die Anm. zu 1355b22-24). Bei seiner eigenen Behandlung der Redeteile inIII 13-19 wird Aristoteles erneut von diesem traditionellen Terminus Gebrauchmachen und dabei erneut voraussetzen, dass dieser Sinn von jiiaxEi" schon be-kannt ist. Eine ausfhrliche Entfaltung dieser und weiterer Argumente zugunstenvon (iii.) gibt Primavesi (im Druck).

    Gegen (i.) aber spricht, dass der Leser oder Hrer des ersten Kapitels Aristote-les' terminologische Verwendung des Jtioxic-Begriffs noch gar nicht kennen kann,wenn er nicht schon zuvor das zweite Kapitel gelesen hat. Und selbst wenn er siekennen wrde, ergbe sich ein merkwrdiger Gedankengang: Die herkmmlicheKonzeption wrde als unzureichend bezeichnet, weil sie nicht der neuen

    -

    Aristo-telischen

    -

    Konzeption entspricht (die bisherigen Rhetoriklehrer haben nach (i.)nmlich deshalb nur einen kleinen Teil der Kunst erfasst, weil sie nicht die Aristo-telischen JtioxEi anfhren), und die Ausarbeitung einer neuen Konzeption solldadurch motiviert werden, dass die herkmmliche unzureichend ist. Was schlie-lich (ii.) angeht, so wrde ein umgangssprachlicher Sinn von Jtioxi" zwar dieProbleme vermeiden, die bei (i.) entstehen, andererseits scheint die Erwhnung derbisherigen Rhetoriklehrer am Satzbeginn eher auf einen terminologischen als aufeinen nicht-terminlogischen Gebrauch hinzuweisen und auerdem passt der Plu-ral JtioxEic" zu der terminologischen Bedeutung, die einen bestimmten Redeteilmeint (vgl. III 17,1417b21), whrend die umgangssprachliche Verwendung an die-ser Stelle eher eine Singularform erwarten liee.

    -

    Irritierend mag in diesem Zu-sammenhang trotz allem sein, dass die JtioxEic ausdrcklich als kunstgem be-zeichnet werden, wodurch der Bezug zu den drei berzeugungsmethoden aus I 2hergestellt scheint; dieser Eindruck tuscht jedoch schon deshalb, weil der Begriff,kunstgem' in I 1 und I 2 nicht in derselben Opposition steht: wird er dort Ver-fahrensweisen gegenbergestellt, die von der Redekunst unabhngige Tatsachen inAnspruch nehmen, wird er hier zunchst nur dem vor- oder un-methodischenVorgehen gegenbergestellt; vgl. dazu Soph. el. 172a34f. und 184al-8 (zitiert in derAnm. zu 1354a3-6 bzw. Anm. (2.) zu 1354a6-ll).

    (1.3) Worin besteht die Kritik? Fr den Vertreter der herkmmlichen Inter-pretation (entsprechend der Mglichkeit (i.) in der vorigen Anmerkung (1.2)) be-steht hier folgendes Problem: Die Vorgnger werden dafr kritisiert, dass sie nureinen kleinen Teil der Kunstlehre zuwege gebracht haben, dass sie nichts ber das

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  • 36 Erstes Buch 1354all

    Enthymem sagen, und dass sie nur das auerhalb der Sache Liegende, nmlich dieErregung von Emotionen, behandeln. Zugleich wird darauf verwiesen, dass

    -

    of-fenbar im Gegensatz zu dem, was die Vorgnger tun

    -

    nur die JtiaxEi kunstgemsind und dass das

    -

    von den Vorgngern vernachlssigte-

    Enthymem fr dieJtiaxi zentral ist. Somit scheinen sich die kritisierten Praktiken der Vorgnger ein-schlielich der Emotionserregung einerseits und die kunstgemen JtiaxEi unddas beweisende Enthymem andererseits auszuschlieen. Das aber widerspricht dervon Kapitel I 2 an ausgefhrten Theorie, nach welcher die Erregung von Emotio-nen eine der drei kunstgemen jtiaxEic darstellt. Somit scheint es, als wrde Aris-toteles in I 1 einen eingeschrnkten, auf das Enthymem konzentrierten Begriff derkunstgemen Jtiaxei vertreten, whrend er in I 2 eine weitere, die Emotionserre-gung umfassende Konzeption davon entwickelt hat. Der Autor wrde also, ohnedarber Rechenschaft abzulegen, im Laufe der Schrift die mit einem der Grundbe-griffe verbundene Konzeption durch eine neue Konzeption ersetzen. Dies ist dieArt von Problemlage, die unausweichlich in die schichtenanalytische Textinterpre-tation zu fhren scheint. Im vorliegenden Fall lsst sich das aber vermeiden:

    Akzeptiert man nmlich die Schlsse der vorausgegangen Anmerkungen (1.1)und (1.2), die im Wesentlichen dem Vorschlag von Primavesi (im Druck) entspre-chen, dann liest sich die Kritik an den Vorgngern schon ganz anders:

    .Mit ihrer Behandlung der Redeteile haben sie nur einen kleinen Teil der Rede-kunst zuwege gebracht (Teile der Rede = Teile der Kunst; vgl. auch Barwick(1922)). Denn von dem, was sie tatschlich behandeln, ist allein der als Jtiaxi/Jtiaxei" bezeichnete Redeteil (der es mit Beweisen zu tun hat) kunstgem(vgl. die Anm. zu 1354al3), das andere (die anderen Redeteile) sind Zutaten(und somit nicht kunstgem). Schaut man nun, was sie zu diesem

    -

    alleinkunstgemen

    -

    Redeteil zu sagen haben, dann zeigt sich, dass sie noch nichteinmal diesen Teil der Kunst angemessen behandeln, denn zentral dafr wredas Enthymem, zu dem sie aber nichts sagen. Statt dessen handeln sie grten-teils (also abgesehen von den unzureichenden Bemerkungen zu den beweisen-den Anteilen der Rede) ber Dinge, die auerhalb der Sache liegen, nmlichber die Erregung von Emotionen.'

    Ein Bruch in der Bedeutung von Jtioxei" zwischen Kapitel 11 und I 2 ergibt sichauf diese Weise nicht: Die Vorgnger dafr zu kritisieren, dass nur ein bestimmterTeil ihrer Lehre, welcher die Bezeichnung Jtiaxei" trgt, kunstgem ist unddass sie diesen noch nicht einmal ausreichend behandelt haben, ist vllig konsis-tent mit der Konzeption der drei kunstgemen berzeugungsmittel (jiioxeic),die mit der Theorie der Redeteile nichts mehr zu tun hat.

    Ein weiterer vermeintlicher Widerspruch ist mit dem Vorschlag Primavesis je-doch noch nicht gelst: Nach wie vor nmlich gilt, dass Aristoteles in I 1 die Emo-tionserregung als nicht kunstgem und als .auerhalb der Sache liegend' einstuftund die Beschftigung mit .auerhalb der Sache liegenden' Mitteln fr beanstan-denswert hlt, whrend er die Emotionserregung, die Teil seiner eigenen Konzep-tion ab I 2 ist, eindeutig als kunstgem ansieht und damit entweder eine kunstge-me Methode akzeptiert, die .auerhalb der Sache liegt' oder seine Art der Emo-tionserregung nicht als .auerhalb der Sache liegend' versteht. Einen ersten An-

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  • 1354a31 Kapitel 1 37haltspunkt dafr, wie dieser vermeintliche Widerspruch aufzulsen ist, ohne dassdaraus ein neues Schichtenproblem entstehen wrde, ergibt sich jedoch schon ausder differenzierteren Lektre der Vorgnger-Kritik, wie sie hier vorgestellt wurde:Wenn nmlich fr die von Aristoteles kritisierten Vorgnger nicht allein die Be-schftigung mit der Emotionserregung, sondern auerdem eine bestimmte Art derEmotionserregung verbunden ist (siehe Anmerkung (1.1): Emotionserregung imRahmen bestimmter Redeteile, konventionelle Mittel mit undifferenzierter Wir-kung usw.), dann drfte es Aristoteles leicht fallen, im Vergleich mit seinen Vor-gngern einen Unterschied im Status und in der Methode der Emotionserregunggeltend zu machen. Nheres dazu in der 1. Nachbem. zu Kap. I 1.(2.) das auerhalb der Sache Liegende": Aristoteles spielt mit dieser Formu-lierung auf eine gesetzliche Bestimmung fr Gerichtsprozesse an (vgl. dazu unten,die Anm. zu 1354a22f. und zu 1354a23). Gibt man dieser Formulierung eine allzuenge Interpretation, dann scheint ein Konflikt mit der Lehre der drei berzeu-gungsmittel aus Kapitel I 2 unabwendbar: Von den drei kunstgemen berzeu-gungsmitteln der Aristotelischen Rhetorik (vgl. I 2, 1356al-20) ist nmlich nur ei-nes, das in dem Argument selbst" gelegene, unmittelbar sachbezogen; die anderenbeiden sind auf die Person des Sprechers bzw. auf den Zuhrer bezogen. Verstehtman nun das Verbot, auerhalb der Sache zu reden, so, dass es die beiden nichtunmittelbar sachbezogenen berzeugungsmittel, die Emotionserregung und dieCharakterdarstellung des Redners ausschliet, dann wrde sich auch die kunstge-me berzeugungsmethode des Aristoteles gewissermaen zu zwei Dritteln au-erhalb des gesetzlich gebotenen Sachbezugs stellen. Eine solche Interpretationdes Verbots wird dadurch auf den ersten Blick nahe gelegt, dass an der vorliegen-den Stelle, das Auerhalb-der-Sache-Reden mit den Praktiken zur Emotionserre-gung assoziiert wird, und die Emotionserregung gerade auch zu den berzeu-gungsmitteln der Aristotelischen Rhetorik gehrt. Bei nherer Betrachtung zeigtsich jedoch, dass eine solche restriktive Interpretation durch nichts erzwungenwird: Was die gesetzliche Bestimmung verhindern will, scheint klar, nmlich dassdie Prozessierenden ber Dinge sprechen, die nicht zum Fall gehren. Das bedeu-tet aber erstens nicht

    -

    wie der Wortlaut suggerieren mag -, dass man nicht berPersonen sprechen darf (2.1), und es bedeutet zweitens nicht, dass damit die beidennicht-argumentativen berzeugungsmittel aus der Aristotelischen berzeugungs-methode ausgeschlossen wren (2.2) (2.3).(2.1) Sachen und Personen, einschlgig und nicht-einschlgig: Offenbar wrees eine unzweckmig restriktive Regelung, die bei einem Gerichtsprozess verbie-tet, ber die beteiligten Personen zu sprechen; wenn es etwa darum geht, ob eswahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist, dass ein Angeklagter eine Tat begangenhat, muss und darf natrlich die Persnlichkeit des Angeklagten geschildert wer-den; ebenso ist fr viele Flle denkbar, dass auch die Persnlichkeit des vermeint-lich Geschdigten fr eine Urteilsfindung einschlgig sein kann. .Auerhalb derSache' wren nur unbeteiligte Personen oder etwa auch die Person der Richter;.auerhalb der Sache' knnen auerdem Bemerkungen zu einer beteiligten Personsein, die auf weit zurckliegende Ereignisse referieren, Ereignisse berhren, dieden vorliegenden Fall nicht erhellen, usw. Ob man also .auerhalb der Sache'spricht oder nicht, berhrt nicht die Frage, ob man ber Sachen im Unterschied zu

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  • 38 Erstes Buch 1354all

    Personen spricht; es berhrt lediglich die Frage, ob man ber einschlgige Per-sonen und ob man einschlgig ber Sachen und Personen spricht oder nicht; jederestriktivere Regelung wre weder sinnvoll noch praktikabel.(2.2) Emotionen knnen in der Sache begrndet sein: Redner, die die Zuhrerdurch emotionale Appelle aufwiegeln, lenken damit von der Sache ab und verwir-ren den Richter mehr, als dass sie zu einem der Sache angemessenen Urteil fhren.Solche Praktiken meint Aristoteles, wenn er im vorliegenden Abschnitt die Vor-gnger dafr kritisiert, dass sie sich nur um Beschuldigung, Mitleid, Zorn undsolche Emotionen der Seele" und damit um das auerhalb der Sache Liegendekmmern (vgl. oben Anm. (1.)). Das heit aber nicht zwingend, dass deswegenjede Art von Emotionserregung durch das Verbot, auerhalb der Sache zu spre-chen, untersagt wre (dies ist die Fehlinterpretation beispielsweise von Quintilian:vgl. dazu unten, die Anm. zu 1354a22f.): (i.) Wenn ein Angeklagter eines emp-renswerten Verbrechens beschuldigt wird, dann kann die Darstellung der Tat

    -

    na-

    trlich unter Herausstellung der emprenswerten Faktoren-

    die der Tat angemes-sene Emotion hervorbringen, (ii.) Wenn ein Geschdigter durch ein Unrecht ineine bemitleidenswerte Situation gebracht wurde, dann muss man nicht auerhalbder Sache sprechen, um darzustellen, dass der Betreffende Mitleid verdient, um einentsprechendes Mitleid zu erzeugen, (iii.) Wenn sich ein Angeklagter einer aufge-brachten Richterschaft gegenber sieht und durch die Schilderung der relevantenVorgnge darauf hinweist, dass er einen solchen Zorn nicht verdient hat, kann erdie Richter damit in einen sanftmtigen Zustand bringen, ohne dafr auerhalbder Sache zu sprechen, (iv.) Wenn in einer politischen Rede auf die Gefahren einerzur Wahl stehenden Handlungsoption hingewiesen wird und damit beim Publi-kum Furcht vor dieser drohenden Gefahr erzeugt wird, hat das noch nichts damitzu tun, dass von der Sache abgelenkt und auerhalb ihrer gesprochen wrde, usw.

    Um Zorn zu erzeugen, so fhrt Aristoteles in Kap. II 1, 1378a24f., aus, mussman wissen, (a) worber man fr gewhnlich zrnt, (b) wem gegenber man zrntund (c) in welchem Zustand man sich dabei befindet. Dies gilt im Prinzip fr alleEmotionen. Sie kommen (in aller Regel) zustande, wenn gezeigt wird, dass (a) einsolcher Gegenstand oder Sachverhalt vorliegt, der allgemein als Grund fr eine be-stimmte Emotion, wie etwa den Zorn, angesehen wird, und (b) dass dieser Gegen-stand oder Sachverhalt einer Person zukommt, die Zorn verdient, und wenn sich(c) die betroffenen Personen in einem Zustand befinden, in welchem man fr ge-whnlich Zorn empfindet (was in vielen von Aristoteles angefhrten Situationennicht mehr impliziert, als dass die zrnende Person in einer bestimmten Relationzur Zielperson des Zorns steht). Die Erfllung von (c) vorausgesetzt, ist nicht ein-zusehen, warum aufgrund einer solchen Konzeption der Emotionserregung (wel-che sich im Gegensatz zu den Mitteln der konventionellen Rhetorik natrlich aufeine Art von Definitionswissen von den Einzelemotionen sttzen muss) diejeweiligen Emotionen sich nicht durch eine sachbezogene Darstellung der verhan-delten Sachverhalte und der betroffenen Personen erzeugen lassen sollen, sofernder verhandelte Fall die fr eine Emotion erforderlichen Merkmale aufweist. Diemethodisch angeleitete Erregung von Emotionen, wie sie Aristoteles lehrt, mussdaher nicht unter das Verdikt des Auerhalb-der-Sache-Redens fallen. Die ent-scheidende Opposition ist daher weder die zwischen Sache und Personen (vgl.

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  • 1354a31 Kapitel 1 39oben Anm. (2.1)) noch die zwischen Sache und Emotion, sondern die zwischeneiner fr die Sache einschlgigen Rede (welche auch die Erregung von Emotionenzur Folge haben kann) und einer die zu behandelnde Sache verfehlenden und vonihr ablenkenden Rede.

    (2.3) Was hat die Person des Redners mit der Sache zu tun? Weil Aristoteleshier ausdrcklich die auf die Emotionserregung gerichteten Praktiken der Vorgn-ger angreift, wird das Verbot, auerhalb der Sache zu reden, meist mit Bezug aufdas berzeugungsmittel der Emotionserregung als problematisch empfunden, einanaloges Problem ergibt sich jedoch auch fr das andere nicht-argumentativeberzeugungsmittel, die Charakterdarstellung des Redners: Muss der Redner, derseinen Charakter darzustellen versucht, nicht notwendig .auerhalb der Sache'sprechen?

    -

    Es ist auffallend, dass sich Aristoteles zur Charakterdarstellung desRedners in Kapitel I 1 nicht explizit uert (vgl. dazu auch Fortenbaugh (1991,153), zumal es sich dabei um ein Moment handelt, das auch schon bei den Vorgn-gern bekannt war (vgl. dazu die Anm. zu 1356al0f). Grnde fr diese Vernachls-sigung drften sein, dass dieses Mittel von Aristoteles nicht als ebenso problema-tisch wie die Emotionserregung eingestuft wurde.

    Zunchst sind viele Situationen denkbar, in denen ein Redner, der seinen Cha-rakter darzustellen versucht, tatschlich .auerhalb der Sache' sprechen muss: einAngeklagter, der ber frhere Verdienste spricht oder seine moralischen Grund-berzeugungen thematisiert, ein Anklger bzw. ein vermeintlich Geschdigter, derseine Person in den Mittelpunkt stellt, usw. Andererseits kann auch die Charakter-darstellung des Redners aus der verhandelten Sache heraus entwickelt werden,etwa wenn der Angeklagte ber seine Motive spricht und damit zur Darstellungseines Charakters beitrgt oder wenn der Beratungsredner seine Erfahrung undKompetenz in der verhandelten Sache darstellt. Noch wichtiger ist jedoch derAspekt, dass die methodisch angeleitete Charakterdarstellung dadurch erfolgenkann, dass der Redner gar nicht unmittelbar ber sich selbst, sondern durchausber die Sache spricht: So kann etwa die Klugheit, die nach Rhet. II 1, 1378a6-16,neben dem Wohlwollen und der Tugend einen Faktor der angestrebten Glaubwr-digkeit ausmacht, durch die Schlssigkeit dargestellt werden, mit der zu einemvorliegenden Sachverhalt argumentiert wird. Die Tugend des Redners kann zumBeispiel durch die verwendeten Prmissen dargestellt werden, wenn diese geeignetsind, um zugleich in der behandelten Sache zu berzeugen und die moralischenGrundeinstellungen des Redners zum Ausdruck zu bringen, usw.al2 die, die bisher die rhetorischen Lehrbcher verfasst haben ...": Adespotarhet. A V 41 (Artium Scriptores); in die rhetorischen Lehrbcher (x xxva xvXycov)" liegt eine Sonderverwendung von xxvn" vor, welche von der Bezeich-nung der (rhetorischen) Kunstlehren auf die Titel der dazu entstandenen Hand-oder Lehrbcher bergegangen ist (vgl. LSJ xxvn" III: an art or craft... hencetitle of various treatises on Rhetoric"). Dass Aristoteles hier und an weiteren Stel-len (z.B. 1356all, 1403b25, 1414bl7) xxvn" als Titel fr diese Art der Hand-bcher gebraucht, wird auch daraus klar, dass er keine Probleme hat, diese Bcherzugleich so zu nennen und ihnen den xxvrj-Charakter in seinem eigenen, strenge-ren Sinn abzusprechen. In einigen Zusammenhngen wird der Ausdruck auch

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  • 40 Erstes Buch 1354al2

    zweideutig verwendet, wenn nmlich zugleich auf die Kunstlehre und die schrift-lich niedergelegte Form derselben verwiesen wird; vgl. z.B. in II 23, 1400a4-6: ...macht die gesamte Kunst des Pamphilos und des Kallippos aus". Der Ausdruckauvxiqp.i", der auch in 1403b35 zusammen mit x/vq verwendet wird, ist auchfr die (schriftliche) Ausarbeitung von Reden gebruchlich und zeigt hier an, dasstatschlich eher die schriftlich ausgearbeitete Version einer Kunst, also das entspre-chende Lehrbuch, und nicht die Kunst als ein abstraktes System von Anleitungengemeint ist.al2-13 einen geringen (XLyov) Teil von ihr zuwege gebracht (jtejtovfjxaaiv)":einen geringen (oXiyov)" liest Kassel nach w (ebenso Roemer, Spengel, Cope,Grimaldi), dagegen lesen Dufour/Wartelle, Tovar und Ross nach A2 ov coeijtev" im Sinne von sozusagen keinen"; vgl. Tovar: no han dado ni una parte deella". Jtejtovfjxaaiv" ist eine Konjektur von Kassel (vgl. Kassel (1971, 118), die erdurch Verweis auf Soph. el. 34, 183bl7-20 (xcv yg eQiaxouivcov jtvxcov xp.v jtaQ' xQcov Xqcpuvxa jiqxeqov jtejtovqtiva xax ixqo mcoxEVjt xcv jtaQaXaovxcov oxeqov.") einleuchtend rechtfertigt; dagegen steht inA und F jiEJtoifjxaaiv", in A2, A und H JtEJtOQxaatv". Kassel weist auerdemauf die hufige Verwechslung von jtoiev" und jtovev" hin.al3 der Kunst gem (vxExvov)": Was Aristoteles unter einem .kunstgem-en' im Unterschied zu einem .kunstfremden' berzeugungsmittel versteht, defi-niert er erst in I 2, 1355b35-1356al. Wenn er den Ausdruck an der vorliegendenStelle aber auch schon benutzt, bevor er ihn .offiziell' eingefhrt hat, dann zeigtdas, dass er ihn auch ohne Definition fr verstndlich hlt (auch schon Piaton sagtvon der zeitgenssischen Redekunst, sie sei xxvco": Gorgias 501a). Nachdemer unmittelbar zuvor den Begriff der Kunst (xyvq) durch den Hinweis auf metho-disches Vorgehen und Erfassung des Grundes eingefhrt hatte, wird der Leser, derdie sptere Definition noch nicht kennt, die vorliegende Bemerkung so verstehen,dass allein das berzeugen mit (i.) einem methodischen Vorgehen oder mit (ii.)dem Erfassen der Ursache in Verbindung gebracht werden kann. Das kann im Ein-zelnen bedeuten: (i.a) Nur das berzeugen beruht auf einem methodischen Vorge-hen, (i.b) Nur das berzeugen ermglicht ein methodisches Vorgehen, (i.c) Nurdas berzeugen stellt ein methodisches Vorgehen dar. (ii.a) Nur das berzeugengeht aus einer Betrachtung des Grundes hervor, (ii.b) Nur das berzeugen kanneiner auf die Grnde zielenden Behandlung unterzogen werden. Vgl. zu den Aris-totelischen Kriterien fr das kunstgeme Vorgehen die Anm. (1.) zu1355b35-1356al.

    Die bersetzung .kunstgem', .der Kunst gem' fr griechisch vxExvov"scheint die stilistisch bessere Lsung zu sein; exakter wre .kunstimmanent', .derKunst immanent'.

    al4 Zugaben (jtQoafjxai)": Vgl. Anm. zu 1354al5. Unter Zugaben" mussman sich, wie die unmittelbar folgenden Zeilen zeigen, sicherlich auch die Erre-gung von Beschuldigung ..., Mitleid, Zorn und solchefn] Emotionen der Seele"vorstellen. Dies sollte man aber nicht gleich mit der in den Kapiteln I 2 und II 2-11beschriebenen kunstgemen Emotionserregung der Aristotelischen Konzeption

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  • 1354al5 Kapitel 1 41gleichsetzen; denn erstens steht keineswegs fest, dass die von ihm selbst formu-lierte Methode der Emotionserregung denselben Einwnden ausgesetzt ist, zwei-tens weist der Begriff der Beschuldigung oder Verleumdung (oiaoXrj) darauf hin,dass es um sachlich nicht berechtigte Weisen der Einflussnahme im Allgemeinengeht (vgl. die Anm. zu 1354al6), drittens ist der Begriff der Zutat" weiter als derder Emotionserregung, insofern vermutlich die

    -

    von Aristoteles abschtzig beur-teilte

    -

    Behandlung der Redeteile (vgl. 1354bl7ff.) und mglicherweise auch diesprachliche Form sowie die Kunst des Vortrags darunter fallen. Der AusdruckZutat" macht deutlich, dass Aristoteles den Vorgngern vorwirft, das Nebensch-liche statt des der Sache nach Wesentlichen behandelt zu haben.

    al5 Leib der berzeugung (acopa Tfj jtoteco)": Die Deutung des AusdrucksKrper/Leib (ocn,a)" ist umstritten. Im Sinne der herkmmlichen Deutung desAusdrucks als einer Metapher formulieren Cope/Sandys (I 5 f.): All kinds of indi-rect proof are secondary, subordinate, non-essential, mere 'adjuncts' or 'appenda-ges', like dress or ornaments to the body: 'the body' being the actual logical, directand substantial proof of the case. What is here called 'the body', meaning the sub-stance as opposed to accidents ...". Gegen diese Deutung haben sich Interpretengewandt, die wie z. B. Grimaldi frchten, das Enthymem knnte dadurch mit demargumentativen berzeugungsmittel aus Kapitel I 2 gleichgesetzt und die beidennicht-argumentativen berzeugungsmittel knnten ungerechtfertigterweise mar-ginalisiert und vom Enthymem getrennt werden (was aus Sicht derjenigen Deu-tungen nicht sein darf, die im Aristotelischen Begriff des Enthymems den Grund-satz verwirklicht sehen, dass man zu der ganzen Person, der Verbindung aus In-tellekt, Gefhlen, Emotionen und Charakter" (Grimaldi (I 350)) sprechen muss).Grimaldi selbst sieht hier offenbar eine wrtliche Verwendung vorliegen; vgl. Gri-maldi (a.a.O., 9): A. uses it too frequently in a literal and physical sense as 'body'...: that which enfolds, incorporates." Das Wort .ocn.a' meine daher thestructure, the frame, which incorporates Jtoxi, the .corpus probationum'; and ifjtoxi is ethical, and emotional, as well as logical, then the enthymeme is thestructure which embodies them." (a.a.O.) Eine weitere Formulierung fr dieselbeInterpretation findet sich in Grimaldi (1957, 192): it is the container, that whichincorporates, or embodies, the pistis: ethos, pathos, pragma (sic! d. Verf.), impo-sing form upon them so that they may be used most effectively in rhetorical de-monstration." Auch wenn Aristoteles an dieser Stelle noch nicht erklre, wie dasmglich sei, enthalte die Verwendung dieses Ausdrucks eine klare Implikation:the enthymeme is a rhetorical argument which is organic in character and con-tains reason, Jtaffoc, and qffo."

    Kritik an Grimaldis Interpretation: Selbst wenn man Grimaldis Erklrung zu-gestehen wrde, dass der Leser den fraglichen Ausdruck ohne weitere Hinweiseim Sinne von

    .organischer, bestimmte Momente (hier: Intellekt, Emotion undCharakter) integrierender Krper' verstehen knnte und dass das Enthymem tat-schlich diese Rolle spielt, dann blieben immer noch zwei gewichtige Einwnde:Erstens knnte die Pointe bei der Verwendung des Ausdrucks Leib/Krper" erstvor dem Hintergrund der entfalteten und offenbar genuin Aristotelischen Enthy-memtheorie verstanden werden; diese kann im ersten Kapitel der Schrift jedoch

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  • 42 Erstes Buch 1354al5

    nicht vorausgesetzt werden, so dass Aristoteles an der vorliegenden Stelle nicht -wie es der Kontext erwarten lsst

    -

    einen Einwand gegen die herkmmlichenRhetorikanleitungen

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    sondern lediglich eine Andeutung auf die zu entfaltendeTheorie formulieren wrde. Zweitens signalisiert der Ausdruck Zugaben (jtQoa-frfjxai)" in Zeile 1354al4 sehr klar, wie das Enthymem im Vergleich zu anderenVorgehensweisen und somit auch wie die Beschreibung des Enthymems als Leib/Krper" einzustufen ist: Fr den Ausdruck selbst sowie fr das Verb.JiQotiHva' gibt es nmlich zahlreiche Belege fr die Bedeutung Zusatz, Bei-werk, akzidentelle Zugabe, Anhang" (vgl. LSJ: addition, appendage, supple-ment", Wartelle (1982): addition, dveloppement, lment accessoire") bzw. hin-zusetzen, zu (einem schon Vorhandenen) hinzufgen"; vgl. auch Bonitz (1870, 646und 648). Demnach steht Leib/Krper" fr das, was schon vorhanden sein bzw.behandelt worden sein muss, bevor man sich sinnvoll den Zugaben zuwendenkann. Der Vorwurf, der mit diesem Ausdruck auf den Punkt gebracht werden soll,besteht also darin, dass die Vorgnger das Wesentliche bersehen und sich stattdessen den nebenschlichen Faktoren zugewandt haben. Das entspricht

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    wieBurnyeat zutreffend beobachtet (1994, 10, Anm. 26)

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    der Aristotelischen Kritikan den vorsokratischen Materialisten, die eine Mit-Ursache (ouvaixia) zur alleini-gen Ursache (aixia) machen, indem sie den Status der von ihnen namhaft gemach-ten Ursache verkennen (vgl. zum Begriff .ouvaixio' Metaphysik V 5,1015a20ff).Daher scheint die zitierte Cope'sche Erklrung im Wesentlichen richtig, wenn-gleich es sicherlich unangemessen ist, wie Cope die hier genannten Zugaben" ge-nau mit den nicht-argumentativen berzeugungsmitteln aus I 2 gleichzusetzen(vgl. die Anm. zu 1354al4).hnliche Metaphern im Corpus Aristotelicum: Ein Gegenstck zu Leib/Kr-per" auf der metaphorischen Ebene findet sich in EN I 9, 1099al6, wo es heit, derTugendhafte bedrfe der Lust nicht wie eines Umhangs bzw. eines Schmuckstckszum Umhngen (jtEQajtxov). Die Metapher der vorliegenden Stelle wre entspre-chend so zu deuten, dass man zwischen einem Leib/Krper und den Umhllun-gen, Umhngen, Schmuckstcken usw. des Krpers unterscheiden muss; die Vor-gnger behandelten nur den Umhang, nicht aber den damit geschmckten Leib.Eine hnliche Metapher fr das Verhltnis der Zutaten zu der Hauptsache, zu dersie jeweils Zutat sind, findet sich in Rhet. III 3, 1406bl9, wo Aristoteles den ber-migen Gebrauch von Epitheta mit der Verwechslung von Gewrz und Speisevergleicht.

    Untersttzung fr die Substanz-Akzidens-Lesart aus historischen Kommenta-ren: Im Sinne des Substanz-Akzidens-Verhltnisses wurde die vorliegende Stellez.B. von folgenden Kommentatoren verstanden: Avicenna (as-Sifa' I 8, 2. Abh.;bersetzung: Wrsch (1991)) legte in seiner Paraphrase groen Wert auf die Un-terscheidung von so genannten .Grundpfeilern' und .Hilfsmitteln', wobei die For-mulierung .Grundpfeiler' offenbar an die vorliegende Stelle anknpft und der ent-sprechende Begriff im Anschluss an die Beschreibung des dritten berzeugungs-mittels in I 2 als die aus Enthymem und Beispiel bestehende beweisende berzeu-gung verstanden wird: Denn die Rhetorik hat einen Grundpfeiler, und sie hatauch Hilfen. Der Grundpfeiler ist die Rede, von der man glaubt, dass sie durch sichselbst das zu Beweisende als Schlusssatz hervorbringt. Die Hilfen sind Zustnde

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  • 1354al5 Kapitel 1 43und auch Reden, die auerhalb jenes Grundpfeilers liegen. Denn, weil die Rheto-rik nicht zum Ziel hat, die Wahrheit zu treffen oder die Gerechtigkeit zu erzwin-gen, sondern ganz allein zu berzeugen, muss alles, was berzeugt, diesem Ziel ge-m sein. Doch ist nicht alles, was berzeugt, eine syllogistische oder paradigmati-sche Rede oder etwas dergleichen ..." Auch Petrus Victorius (1579, 8) kommen-tiert die Leib-Metapher im Sinne eines Fundierungsverhltnisses; die brigen Mit-tel haben nicht nur eine geringere Wirkung, sie sind ohne das Enthymem in einergewissen Weise wirkungslos: enthymemata autem probationem corpus appellat,id est solum et quasi fundamentum faciendae fidei: quamvis enim aliis rebus fidesfieri possit, nulla tarnen res tantam vim habet, et maioris ponderis est. Reliquae,quae excogitata ab oratoribus sunt ad hanc rem apta, multo minus valent, et sineillis enthymematicus officio suo fungi posset, ac facile probare, quod vult. quiautem rebus illis abundaret, nee argumentorum rationem haberet, saepe frustralaboraret."

    Die Zentralitt des Enthymems: Der Hintergrund fr den Widerstand gegen diedargestellte metaphorische Deutung der Formulierung acu.a xfj JtioxECO" istdie Auffassung, das Enthymem knne oder drfe nicht das zentrale berzeu-gungsmittel der Aristotelischen Rhetorik auf Kosten der anderen in Kap. I 2 ein-gefhrten kunstgemen berzeugungsmittel sein; auch Grimaldi (1972, 53ff.)spricht von der Zentralitt des Enthymems, in seiner Konzeption ist dies aller-dings keine Zentralitt, die a