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Arnold Hagenauer

Muspilli

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Als Vorlage diente:

Arnold HagenauerMuspilli

Österreichische Verlagsanstalt, Linz, Wien, Leipzig, 1900

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Muspilli

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Erster Theil.

1.

»Komm wie der! Hörst Du, komm wie der!«

Knut umfa ßte sie stür misch und wollte einen Kuß

auf ihre Lip pen drüc ken.

Aber die schlanke Frau ver hüllte ihr Gesicht und

tappte im Dunk len nach der Thüre.

Er führte sie und pre ßte sei nen Kör per dabei so

eng an den ihren, daß ihn die kaum gesät tigte Lei -

den schaft aufs neue pack te.

Sie kamen zur Thüre.

»Du mußt wie der kom men.«

»Ich werde.«

»Wann?«

»Ich werde wie der kom men. Frage nicht mehr.«

Er öff nete die Thür, sie stieg über die Treppe, die

in den Gar ten führte.

»Bleib, ich gehe allein.«

Er starrte ihr nach und schritt dann in sein Schlaf -

zim mer zurück.

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Er kannte sie nicht, sie war zum ersten male vor

eini gen Stun den gekom men. Er wußte nur, daß sie

schön sei, o, so schön!

Er warf sich auf sein Bett und küßte die noch war -

men Stel len, wo sie neben ihm geruht hatte. Und all

sein Den ken erlosch, und es ward fin ster um einen

bren nen den Ring, und der Ring war die Frage:

Wird sie wie der kom men?

2.

Und sie kam wie der.

Und sie kam immer wie der.

Und wenn sie bei sam men lagen, dann gewann sie

über Knut die Macht.

Und er ver lor zuerst sei nen Glau ben.

Den Glau ben an die Mensch heit, die er anfangs

nicht für schlecht hielt, son dern nur für elend und

krank. Sie aber peitschte seine Sinne wild durch ein -

an der, und wenn sein Kör per ermat tet war, so goß

sich aus ihrem duf ti gen Leib ein Etwas, das er nicht

kannte, in seine Seele und machte sie schlum mer -

süch tig, matt und wil len los. Und so ver lor er zuerst

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die Freude am Kampf, denn er that ihm weh. Wie

einer nicht gern auf steht aus dem war men Bett,

wenn drau ßen der Novem ber sturm wind heult,

und er fühlt sich so wohl im Dun ste sei nes eige nen

Kör pers und soll nun hin aus in den kal ten Reif.

Aber er wollte nicht in den kal ten Reif.

Und so gewann sie die Macht.

Und so ver lor er den Glau ben an die Men schen.

Und der Ver lust that ihm weh.

3.

Und sie kam jede Nacht.

Und er glaubte nur mehr an sich und an sie. Aber

er war matt gewor den, matt im Kampf. Und sie

sagte, es gäbe Dämo nen, die leise her um schlei chen,

und die über den die Herr schaft bekä men, der eine

Schuld trüge, und wer trüge keine?

Da ward er schwach und feig.

Weil er aber nicht mehr kämpfte, so unter lag er.

Es sieg ten viele über ihn. Zuerst siegte die Furcht,

die Furcht vor der Schuld. Und da er die Schuld

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nicht kannte, so begann er zu grü beln, und er fand sie

nicht, aber es blieb die Furcht.

Und er stand nicht mehr jen seits von Gut und

Böse, son dern er ward ver ant wort lich. Aber er

wußte nicht wem.

So ent stand, gleich sam durch Part hen oge nese, im

Hirne der gestürz ten ersten Tita nen Gott und sein

Gericht, und sie ver nich te ten gleich seine Ent ste -

hung, denn sie sag ten, er sei von jeher. Aber er selbst

blieb.

So ward Gott.

Aber er glaubte nicht an Gott. Denn schon sind

zu viel der Göt ter. Und wer hat die Kraft zur Par -

thenogenese?

Zarat hu stra, Buddha, Chri stus hat ten sie, alle

andern nicht.

Denn der Parse, der Inder und der Jude waren

keusch. Alle andern aber waren nicht keusch. Da -

rum konn ten sie auch nur Feti sche gebä ren.

Klingsor war zu schwach, selbst Gott zu sein, des -

halb suchte er das Nir wana in Gott. Aber er war

nicht keusch. Darum konnte er kei nen neuen Gott

schaf fen, denn für ihn hatte der neue Gott der Chri -

sten ein ande rer sein müs sen, als für die alte Lene,

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die im Petrus dom an der Kir chent hür bet telt. Aber

die hat doch auch einen Gott. Und er hätte sie

gewiß so wenig besiegt, wie er den Par si fal besiegte;

und vor dem Tho ren und sei ner jung fräu li chen

Macht ver sank Klings ors strah len des Schloß. Knut

ward Klingsor, aber nicht der Klingsor Richard

Wag ners, son dern der Immer manns.

Ophio mor phos zer fiel zu Staub, als er sagte:

Öffne mir den Kreis! Und kein Zwerg sang ihm die

Sor gen weg. Denn an sei ner Seite lag die Sphynx,

die ihm mit ihren Räth seln stets neue schuf.

Aber der sub jec tive Gott, den jeder als allei ni ges

Eigen tum besitzt — der kleine Gott der Welt — hatte

bei ihm kei nen Tem pel mehr. Und einen neuen

Gott konnte er nicht schaf fen.

So wurde sein Ich Klä ger und Rich ter über eine

Schuld, die er nicht nen nen konnte. So ver lor er

sein Gott hum, den Glau ben an sich selbst.

Und wie der stürzte ein Titane.

Denn nicht die Schuld befleckt, son dern der

Glaube an die Schuld.

Des halb zer fie len die Göt ter des Hel le nis mus zu

Staub und waren doch die Göt ter der Schön heit.

Und es blieb ihm nichts mehr von sei nem Selbst.

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Denn er hatte der Sphynx sein Selbst zum

Opfer gebracht.

Und er wollte nur mehr sie erhal ten.

Und er glaubte an sie.

Und er betete sie an.

Und er trieb Unzucht mit sei nem Gei ste.

4.

Sie nah men Gott ein PRAE DI CA BILE A PRIORI um

das andere.

Sie nah men ihm die Mate rie.

Und da sie Logik stu diert hat ten, nann ten sie ihn

einen Geist. Denn hätte er die Mate rie, so wäre er

ein Mensch.

Und dann müß ten sie ihn stür zen, denn sie kön -

nen sich kei nen Übermen schen den ken, sobald sie

ein mal Büch ner und Häckel gele sen haben.

Sie lie ßen ihm nur die Zeit — sollte man mei nen.

Denn keine Mate rie braucht auch kei nen Raum.

Aber sie gaben ihm den Him mel.

Also brauch ten sie auch das Wun der.

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Aber die Zeit deckt sich nicht mit Gott.

Es gibt nur eine Zeit, und alle ver schie de nen Zei -

ten sind Theile der einen Zeit.

Es gibt nur einen Gott, und alle klei nen Welt göt -

ter sind Theile die ses Got tes.

Ver schie dene Zei ten sind nicht zugleich, son dern

nach ein an der.

Ver schie dene Welt göt ter sind aber zugleich, wenn

auch hin ter ein an der. Denn die klei nen Welt göt ter

zur Zeit der AUTO DA FÉS rochen nach Pech und

Schwe fel ober nach Weih rauch, die Welt göt ter FIN

D’UN SIÈCLE ET COM MENCE D’UN AUTRE SIÈCLE

rie chen nach Helio trop oder Wagen schmiere.

Die Zeit läßt sich nicht weg den ken, jedoch alles

aus ihr.

Auch Gott läßt sich nicht weg den ken, jedoch alles

von ihm.

Die Zeit hat drei Abschnitte: Ver gan gen heit, Ge -

gen wart und Zukunft, wel che zwei Dich tun gen mit

einem Aus gangs- und Mit tel punkt haben.

Vor Gott ist aber keine Zeit.

Nach dem die Mater ia li sten, wel che vor ge ben, an

kei nen Gott zu glau ben, die sem Gott, den ihre

Anhän ger in der weit aus grö ß ten Mehr zahl doch

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noch haben, weil sie fürch ten, zwei PRAE DI CA BI LIA

A PRIORI nah men — die PRAE DI CA BI LIA um ihn zu

begrei fen — nah men sie dem einen PRAE DI CA BILE

seine selbst ei ge nen PRAE DI CA BI LIA.

Denn die Zeit ist heute der Gott.

Daher spre chen sie immer von Zeit göt tern.

Die Zeit als Begriff bleibt immer Zeit.

Der Begriff »Gott« bleibt aber nicht der selbe.

Daher liegt er nicht allein in der Zeit.

qu. e. d.

5.

Knut saß an dem run den Tische in der Mitte sei nes

Zim mers und war tete. Der Tag verflac kerte lang -

sam, und »auf Sam met soh len kam mit Kat zen tritt«

die Nacht.

Die Hän ge lampe goß ihr blei ches Tod ten licht

über Knuts schlaff gewor dene Gesichts züge. So saß

er und harrte sei ner Sphynx.

Er ver grub sein Ant litz in seine schma len, schlan -

ken Hände, denn er trug den Kopf nicht mehr

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aufrecht, seit ihm sein Rück grat gebro chen wor -

den war. Und seit er nicht mehr zu sich selbst

betete, mußte er den Men schen ins Auge sehen.

Was man aber nicht gewöhnt ist und nicht gelernt

hat, kann man nicht.

Er trug den Kopf, solange er Riese war, so hoch in

den Wol ken, daß er nim mer eines Men schen Auge

sah.

Es ist aber ernied ri gend, sich von jedem ins Auge

blic ken zu las sen.

Und er wälzte sich im Staube.

Und die Men schen sahen in sein Auge.

Des halb ver hüllte er sein Gesicht

Und sehnte die Macht her bei.

Denn dann war er nicht mehr allein.

Wenn sie kam.

Seine schöne Sphynx.

6.

Er saß also und war tete.

Anfangs ver gieng ihm die Zeit tödt lich, qual voll

lang sam. Dann aber löste sich plötz lich ein furcht ba -

res Druck gefühl von sei ner Brust, und er fühlte sich

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unend lich leicht. Sie wird nicht mehr kom men! Das

war für ihn eine unum stöß li che Gewiß heit. Jetzt

vergiengen auch die Stun den rascher. Der Tag ver -

brannte. Es wurde dun kel. Sein Har ren hatte eigent -

lich kei nen Zweck mehr. Er wußte es selbst nicht,

wor auf er noch war tete. Auf jene, die er auf der

Straße auf ge le sen hatte, wie schon Dut zende vor -

her? Diese geheime, mysti sche Lei den schaft, die

ihn gei stig ent mannte, die ihm seine ganze, frü here

Über le gen heit raubte, war erlo schen. Aber all das,

was frü her gewe sen, kehrte des we gen doch nicht

wie der.

Plötz lich wandte er sei nen Blick zu der gro ßen

Astral lampe. Die Flamme brannte mit einem blen -

den den, qual vol len Weiß. Ihre wilde Zer hackt -

heit und Zer ris sen heit fes selte ihn. Er emp fand

Schmerz, und da war es ihm, als ringe sich aus

seinem tief sten Innern etwas los, das frü her ein

integrer Bestandt heil sei nes Selbst gewe sen war.

Und die ses Unbe stimmte begann jetzt zu den ken,

und er selbst erfuhr nur, gleich sam durch Induc -

tion, die Pro ducte die ses Gedach ten.

Er nannte dies: »Mein Mephi sto«.

»Mein Mephi sto«, sagte er ganz laut.

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7.

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— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Ich habe eigent lich immer nur mit dem Kör per

geliebt. Meine Seele blieb dabei kalt. Und ich litt

dar un ter — litt jam mer voll. Aber spä ter gewann der

Kör per eine gewisse Vir tuo si tät — jene Vir tuo si tät

der Liebe, die so man ches ersetzt, wozu nicht nur

seine Ner ven en di gun gen, son dern auch Seele —

Seele — Seele gehört.

Ja, ich litt, denn du, du, den ich liebte, weil du

allein mich nicht demüt higst, wenn ich dich Freund

genannt habe, weil du allein jen seits stehst, du, du,

ja du hast Seele. Ich aber habe nur Ner ven, kranke

Ner ven.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Mephi sto: Aber ich bin deine Seele — — —

Deine blu tende, deine ster bende Seele — —

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Und diese Nacht ist meine bräut li che Todes -

nacht — — — — —

Soll ich dir diese Nacht erzäh len?

So höre denn!

Höre!

Höre!

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Zwei ter Theil.

8.

Wir waren eigent lich zwei grund ver schie dene Natu -

ren. Du leicht le big, aber dabei doch kalt und phleg -

ma tisch, ein klein wenig egoi stisch. Die sen klei nen,

so unschul di gen Ego is mus zur Schau tra gend, lie -

bens wür dig frech und schon ein wenig müde; jenes

erste, ange nehme Erschlaf fen, der Vor bote des gro -

ßen Zusam men bruchs, nach des sen Ein tritt wir so

kluge Augen machen und so weise Reden füh ren,

wenn wir uns dabei auch vor kom men, wie moral -

pre di gende, aus dem Zucht hause ent las sene Sträf -

linge. Und wer dies leug net, der ist ein Erz schuft.

Es gibt aber sol che, die sich unter allen Umstän den

für mora lisch hal ten und aus ihrer asth ma ti schen

Brust mit schlech tem Pathos Ent rü stungs kund ge -

bun gen her vor kräch zen, wenn ein ande rer die fröh -

li che Sünde offen auf der Stirne trägt, weil er so

groß ist, daß ihn das ziert, was die Zwerge zu ekli -

gem Brei zer drückt.

Ich, ach ich, ein unfrei wil li ger Har le kin im

Hofstaate des Lebens! Cynisch und frech, voll

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gemach ten Über muths, sinn lich, ohne die Kraft

zum Genuß, müde zum Ster ben, aber voll Lebens -

drang, wie die auf ge ge be nen Kran ken, die nicht

daran glau ben kön nen, daß ihnen schon die Grube

zurecht ge schau felt wird.

Als wir uns ken nen lern ten, waren wir beide

blutjung. Ich fühlte mich anfangs von Ernst zurück -

gestoßen, ange ekelt. Aber seine hof män ni sche Lie -

bens wür dig keit, seine sich immer gleich blei bende

Höf lich keit zwan gen mich, so zu sein wie er.

Und dabei lernte ich Komö die spie len. Ich spielte

sie mei ster haft, denn er ahnte nicht, daß ich einen

Ekel nie der zwang, wenn ich mein Glas erhob, um

mit lächeln den Lip pen ihm zuzu trin ken. Spä ter

wurde ich durch Ernst selbst in seine Fami lie ein ge -

führt. Ich fühlte mich rasch darin zu Hause, aber

umso uner träg li cher ward es mir, mit ihm ein inti -

me res Ver hält nis gera dezu ein ge hen zu müs sen. Er

war bedeu tend bes ser situ iert als ich, obwohl man

auch meine Fami lie zu den wohl ha ben den zäh len

konnte. Und ich war damals maß los eitel. Ich tau -

melte von einem ero ti schen Genuß zum andern,

und wie alle Jun gens, war ich stolz dar auf. Aber er

schlug mich. Ich war wohl hübsch, viel leicht war

mein Gesicht hüb scher als das seine. Aber ich war

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schwach gebaut, stets krank haft blaß, mit glanz -

losen, mat ten Augen, meine Stimme immer trüb

und müde.

Er kräf tig und mus kel schön, wie ein Ath let, mit

fri schem, rot hem, gesun dem Ant litz, vol lem und

doch wei chem Bart, blauen, blit zen den Augen.

Und seine sonore, klang volle Stimme schmei chelte

sich so leicht ein, nahm den Hörer so wil len los

gefan gen. Ich kam mir neben ihm vor, wie einer, der

auf Men sur tre ten muß, wohl wis send, daß ihn sein

Geg ner jäm mer lich ver hauen wird. Ein Sol cher

haßt dann instinc tiv, wider sei nen Wil len.

Es war kurz vor Ostern. Wir waren zusam men

allein und lang weil ten uns beide. Ernst schlug vor,

den Abend aus wärts zu ver brin gen. Ich fühlte mich

immer ihm gegen über ver pflich tet, und so sagte ich

zu. Wir sou pier ten zusam men und gien gen dann

ins Chan tant. Er war hei ter, unge zwun gen, lie bens -

wür dig. Plötz lich kam ihm die Idee, wir soll ten

mitsammen eine recht verrück te Orgie der Ero tik

aus füh ren. Also mit ihm hinab in den Koth! Brrr!

Ich hatte nie Schiller’sche Ideen gehabt. Mir war

nichts ein Göt ter funke. Und die Freude hatte sich

mir als Pari ser-Gri sette, nicht als Toch ter aus dem

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Ely sium, vor ge stellt. Aber wenn ich ihn gern

gehabt hätte, hätte ich mir nichts dar aus gemacht.

Man erhebt sich ebenso leicht wie der, als man

fällt. Das Gegen theil ist Phrase. Und selbst die

schmut zig ste Sünde ist noch immer ein wenig

schön. Wenn man aber mit jeman dem, den man

liebt, zugleich eine fre che Scham lo sig keit begeht, so

kann das grau en haft herr lich sein, denn dann ist ein

Stück Seele dabei.

Also, ich wil ligte ein.

Pah, ciga ret ten duf tende Küsse einer fei len Dirne.

Was wei ter!

Ein wenig Pro sti tu tion DA SE.

9.

Als wir uns wie der ange klei det hat ten und die Dir -

nen ver lie ßen, schlich ich scheu hin ter ihm die

Treppe hinab. Es war etwas in mir zer ris sen. Ein

Irrt hum.

Ich fühlte es gleich, jetzt müsse unser Ver hält nis

zu ein an der sich ändern. Das Gefühl des Ekels war

ver schwun den. Jetzt that mir’s weh, daß wir uns in

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der Suhle fin den muß ten. Zum ersten mal ein Stück -

chen Seele, und gleich besu delt!

Dann kamen die Ereig nisse, die alles erst rei fen

soll ten, unheim lich rasch nach ein an der: Es gab

einen Bruch mit Ernsts Fami lie. Er wurde bald

darauf krank. Wie der gene sen, diente er sein Ein -

jäh rig-Frei wil li gen jahr in einer frem den Gar ni son,

irgendwo an der pol ni schen Grenze, weit ent fernt

von der Resi denz, ab. Inzwi schen starb meine Mut -

ter. Ich fühlte mich furcht bar ver ein samt. Mit aller

Macht suchte ich die Let har gie mei nes Gei stes, die

über mich gekom men war, abzu schüt teln. In nicht

ganz zwei Jah ren ver geu dete ich mein Ver mö gen

fast bis zum letz ten Rest. Ernst hatte ich ver ges sen.

An einem der ersten Som mer tage stand ich im

Hofe des herr li chen, gothi schen Rath hau ses der

Resi denz.

Plötz lich klopfte nur jemand auf die Schul ter.

»Alter!«

»O, Ernst, Ser vus!«

»Wie geht’s?«

»Danke, und Dir?«

»So so, lala.«

»Na, na!«

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»Warst Du ver gan ge nen Som mer in Tirol oder in

Dei ner Hei mat?«

»Ich war in Däne mark, zu Hause, heuer gehe ich

aber wie der nach Tirol.«

»Ich bitte Dich um Deine Adresse, lie ber Knut,

viel leicht schreibe ich Dir ein mal, wir könn ten uns

irgendwo tref fen.«

»VOILÀ.«

Hüte schwen ken, Hän de druck.

Ach diese con ven tio nel len Lügen, wir sehen uns

doch nie mals wie der, dachte ich.

Und jetzt that mir’s weh, aber bren nend weh, bis

zum wahn sin ni gen Schmerz. Ich schlief nichts wäh -

rend der gan zen fol gen den Nacht.

10.

Und am andern Tag war er bei mir.

Wir saßen beide am Divan und plau der ten. Und

plötz lich kam ein über strö men des Glücks ge fühl

über mich.

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Ich liebte ihn. Meine Ver ein sa mung war zu

Ende. —

Und noch mehr. Ich fühlte, fühlte mit unerträg -

licher Gewiß heit, daß mich jener glatte, höf li che,

ver schlos sene Genuß mensch gern hatte. Er war

selbst lo ser mein Freund, als ich je der seine wer den

konnte.

Fröh li che Jugend, warfst du wie der einen Son nen -

blick in mein ver dü ster tes Leben!

Wir ver brach ten herr li che Tage mit ein an der und

als mir der Arzt rieth, das Hoch ge birge auf zu su -

chen, um meine schwa chen Ner ven zu kräf ti gen,

schied ich zum ersten mal ungern aus der Gro ß -

stadt, aus der ich sonst mit rasen der Eile flüch tete,

wenn der Hoch som mer her an kam.

In Kor re spon denz stan den wir beide nicht mit ein -

an der.

Nur ein mal schrieb mir Ernst, kurz bevor ich

zurück kam. Sein Brief war herr lich, aber er klang

trau rig aus.

Eine Todes nach richt!

Vilma, seine Cou sine, eine schlanke, ästhe ti sche

Schön heit, hatte der Tod hin weg ge rafft.

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Sie starb, kaum zwei und zwan zig Jahre alt, am

Fuße eines gro ßen, schweig sa men Ber ges.

Ich kannte den trot zi gen, zer ris se nen Gip fel; über

die Nord seite war ich einst zu dem fur chen rei chen

Haupte empor ge klet tert, seine stei ner nen Hüf ten

mit bru ta ler Gewalt umklam mernd mit seh ni gen

Armen, die brau nen, brei ten Knie an die gra nitne

Brust gestemmt.

Dort unten war Vilma gestor ben!

Ich spann wirre Mär chen. Ich sah den alten

Berggeist lüstern wie einen Faun nach dem zar ten

Wesen schie len, wie er sich über sie beugte, als sie

die Stic kerei am Saum sei nes sma ragdnen Man tels,

die Blu men, zerpf lück te, wie er sie anspie mit

seinem gif ti gen Athem. Da lächelte sie wohl und

schlief ein. Armer Ernst! Ich mußte trau rig lächeln,

als ich an jene Stun den dachte, wo ich, der Träu mer,

ver lo ren am Kamine saß, wäh rend er und Vilma

mit ihren Fin gern leise über die Tasten am Cla vier

glit ten; dann bog sich ihr schlan ker Kör per an seine

breite Brust, und er neigte in einer schö nen Linie sei -

nen hüb schen EN PRO FIL-Kopf und suchte diese

seh nen den, halb ge schlos se nen Lip pen. Ich freute

mich damals an ihrem Glück. Ihn aber ben ei dete

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ich um die ses See len le ben. Viel leicht war das auch

ein Grund, warum ich ihn damals haßte! Arme

Vilma!

11.

Es war plötz lich kalt gewor den im Pre daz zot hal. Ich

fuhr also am letz ten Sep tem ber nach Hause. Es war

eine qual volle Fahrt in der engen »Schlaf ki ste« des

SLEE PING CAR. Ich lag in einem ver wirr ten Halb -

schlum mer. Mir war’s, als lebte ich jene Nacht noch -

mals durch, von der mich nun schon mehr als zwei

Jahre trenn ten, und in der mich, tief aus dem Bal -

kan her auf, die Dampf ma schine nach Hause

geführt hatte. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick

zum Fen ster hin aus. Die Drähte der Tele gra phen -

stan gen strec ken sich aus wie rie sige Spin nen fin ger,

und es kam mir vor, als ob sie mich haschen woll -

ten. Ich dachte nach, wie mich der lang jäh rige,

befreun dete Haus arzt der Fami lie, mein Berat her in

zar te ster Kind heit — zu früh war mir der Vater in

trau ri ger Weise ent ris sen wor den — mit gro ßen,

schreck haften Augen emp fieng, wie er mit sei ner

leisen, hei ser rau hen Stimme zu mir sagte: »Die

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Mutter ist sehr krank!« Ich ant wor tete ihm damals,

ich wußte selbst nicht wes halb, ita lie nisch: »SI, SI,

HO PEN SATO.« So vor wurfs voll klang des Dal ma ti -

ners Stimme, der meine Mut ter so gerne gehabt

und so treu gepflegt hatte: »Sie hät ten frü her kom -

men sol len.« Ich wußte jetzt, was ich an ihr ver lo ren

hatte. Es war eine ent setz li che Fahrt. Ganz zer bro -

chen kam ich end lich am Abend des die ser Nacht

fol gen den Tages an.

12.

Ernst hatte mich am Bahn hofe abge holt. Schon am

andern Tag besuchte er mich in mei ner Woh nung,

zwei mal, um mich bei des mal nicht zu Hause zu tref -

fen. Als Beweis, wie ich ihn liebte, diente mir die

Wahr neh mung, daß ich mich ärgerte, nicht län ger

daheim geblie ben zu sein. Ich suchte einige Tage

nach mei ner Ankunft seine Fami lie auf, und jetzt

sahen wir uns fast jeden Tag. Auch er kam häu fig zu

mir, bestimmt aber, wenn ich ein mal es unter las sen

hatte, ihn zu sehen.

Ich freute mich, in Ernst einen so auf rich ti gen,

treuen Gefähr ten fürs Leben gefun den zu haben.

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Seine Freund schaft zu mir konnte allein meine

Ret tung wer den, meine Ret tung aus der ent setz li -

chen Ent ner vung, die mei ner Herr gewor den war,

als ich, kaum neun zehn Jahre alt, wahr ge nom men

hatte, daß ich — kein Mann mehr war, oder bes ser

gesagt, kein Mann mehr wer den konnte, zu einer

Zeit, wo die andern erst begin nen, das Gift des

Geschlechts ge nus ses ken nen zu ler nen, war meine

Liebe nur mehr das ohn mäch tige Zucken halb ge -

lähm ter Ner ven en di gun gen. Und so schwand

meine ganze That kraft dahin, ich wurde zu jeder,

selbst der gering sten kör per li chen oder gei sti gen

Anstren gung unfä hig, wurde es mir unmög lich, für

mich selbst auch nur den klei nen Fin ger zu rüh ren.

Und doch, seit Ernst wie der bei mir war, fühlte ich

eine gewisse Ener gie in mir aus kei men, wenig stens

den Wil len, für ihn etwas zu thun. Wäh rend des

Herb stes und des anbre chen den Win ters litt ich

gräß lich. Geschlecht lich war ich fer tig, Ernst zechte

noch immer ziem lich stark vom Cham pa gner der

Liebe. Aber an diese unfrei wil lige Ent sa gung hatte

ich mich schließ lich und end lich gewöh nen müs -

sen. Etwas ande res, ein unbe stimm tes Gefühl einer

wahn sin ni gen, kral len den Angst ließ mich nicht

mehr los. Ich wußte, daß ich zum letz ten mal einer

gro ßen, auf rich ti gen, rei nen Lei den schaft fähig war,

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wußte das mit unum stöß li cher Gewiß heit. Das

war die letzte. Viel leicht war es über haupt die

einzige gewe sen. Die ein zige darum, weil meine

Seele stürmte, meine lebende, ath mende dür stende

Seele — weil ich, ich, ich liebte, nicht weil ein zur

Freund schaft abge stumpf ter Geschlechts wille die

Zel len mei nes Gehirns und sei ner Ner ven so oder

so durch ein an der warf.

Und dann kam die Angst, die ent setz li che Angst,

ihn zu ver lie ren, plötz lich, unvor be rei tet, durch

einen bru ta len Auf tritt.

Ich war recht kin disch. Wenn eine große Lei den -

schaft eine jähes Ende nimmt, so ist die näch ste

Folge eine Anar chie unse rer Gefühle, aller unse rer

inti men und intim sten Ansich ten. Dann frei lich ist

unsere Seele ein wei tes Feld mit unge heu ren, gigan -

ti schen Schutt hau fen, aus denen die gefrä ßi gen

Flam men unse rer Lei den schaf ten empor lo dern.

Wir haben mit Blut und Brand und Mord unsere

Liebe bru tal erschla gen, aber eben des halb besit zen

wir noch die Kraft, von neuem zu lie ben, von

neuem zu has sen; noch sind wir nicht ange langt bei

jenem trau ri gen, jäm mer li chen Muthe der Feig heit,

bei der kampf lo sen, mara sti schen Ent sa gung. Wer

mor den kann, der ist viel leicht, ja gewiß am besten

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prä de sti niert, neues, jun ges, weih rauch spen den des

Leben zu erwec ken. Mör der wer den kräf tige, ent -

schlos sene Kin der zeu gen. Dies füh len auch die Wei -

ber am besten. Die grö ß ten Tyran nen und Räu ber

haben die mei sten nack ten Frauen gese hen. Diese

erken nen unbe wußt in jenen die Akme der Zeu -

gungs kraft. Nur aus dem rück sichtslosen, anfäng -

lich total plan lo sen Ver nich ten kann ein neues

Wer den blü hen.

Woher also die Furcht? Die Furcht vor dem Plötz -

li chen? Natur ge mäß hätte es da gar keine Furcht

geben kön nen, denn wenn mein Ich nach einer

neuen Lei den schaft ver langt, so muß es die alte ver -

nich ten. Und bei For de run gen, die eben durch sol -

che große Lei den schaf ten bedingt wer den, hilft sich

die Natur durch ein Radi cal mit tel.

Die ser plötz li che Bruch hätte durch den dar auf fol -

gen den rasen den Schmerz nur das Feld gedüngt,

auf dem eine neue, große, milde Zunei gung hatte

rei fen kön nen, sei’s eine Liebe, sei’s eine Freund -

schaft. Aber es war etwas ganz ande res. Das Vor ge -

fühl der jäm mer li chen Deca dence, das instinc tive

Bewußt sein, daß die ses Gefühls le ben in uns Bei den

an sei ner allzu gro ßen Üppig keit erstic ken werde.

Viel leicht hätte eine heroische Selbst über win dung

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gehol fen, ein Selbst auf ge ben. Aber dazu war ich zu

schwach. Und von Ernst kam nicht der lei se ste

Anstoß. Ich fieng an, gereizt zu wer den. Klei nig kei -

ten, harm lose Neckereien von sei ner Seite ver letz -

ten mich öfters, zwar nur vor über ge hend und nicht

tief, allein sie ver letz ten doch.

Ernst hatte noch einige andere Freunde, mit

denen er viel, mit un ter mehr als mit mir, ver kehrte.

Das genierte mich wenig oder gar nicht. Eifer süch -

tig wie ein Gym na si ast war ich ja nicht, und außer -

dem trennte uns die ser Ver kehr, wenn ich wollte,

nicht eine Minute. Denn es war ebenso gut mein

Kreis wie der seine, nur daß er ihn häu fi ger fre quen -

tierte. Die Vor mit tage brachte er bei einem jun -

gen Juri sten, Franz Fon tana, zu, einem jener früh

verbummelten Halb ta lente, die dum men oder gut -

müt hi gen, leicht le bi gen Jun gens schau der haft impo -

nie ren kön nen. Die ser Fon tana, den mir zuerst

Ernst vor ge stellt hatte, und den ich fast so lange

kannte, wie er Ernst, war einst mein Freund gewe -

sen, was man so mit neun zehn, zwan zig Jah ren

Freund nennt. Nur Zeit, als in mir die große Wand -

lung vor gieng, waren wir schon ziem lich aus ein an -

der gekom men. Mit jeder Stunde, die mich und

mei nen Freund näher brachte, bröc kelte ein Stein

nach dem andern aus dem ohne hin nicht sehr

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grund fe sten Gebäude unse rer Freund schaft. Ich

war sei ner zeit die eigent li che, trei bende Ursa che

zum Bru che mit Ern stens Fami lie gewe sen. Fon -

tana, der dadurch wirk lich viel ver lor, gieng mit mir

aus dem gast freien Hause, aber nicht mei net we gen;

er konnte da ein mal auf recht bil lige Weise die Rolle

des ent sa gen den Freun des spie len. Ich bat ihn um

seine Ein wil li gung, als ich im Begriffe stand, zum

ersten male wie der mit Ernst im Kreise sei ner Fami -

lie zusam men zu kom men. Er ließ mir freie Hand,

wie er sagte.

Ich fieng also den alten, gewohn ten Ver kehr wie -

der an. Mit Fon tana ward das Zusam men sein im

enge ren Zir kel uner träg lich. Jetzt zeigte er seine

inner ste Natur, zuerst nur mir. Die andern, allen

voran Ernst, nah men den trau ri gen Hans wurst für

voll. Für mich war er das und blieb er das, wozu ihn

seine Natur, eine ver fehlte Erzie hung — der Name

Erzie hung paßte eigent lich gar nicht, dazu war

seine Umge bung zu unge bil det — und ein nicht zur

rech ten Zeit ein ge schränk ter Eigen dün kel gemacht

hat ten — ein bos haf ter, ekel er re gen der Narr. Aber

ich hatte mit Ihm Mit leid, er erschien mir erb lich

bela stet. Sein Vater, von Natur aus tief-gei stig ver an -

lagt, ward durch die lei di gen, pecu niä ren Ver hält -

nisse schon als Stu dent in eine Lauf bahn gedrängt,

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die ihm für die Zukunft keine ret ten den Aus sich -

ten bot, höch stens eine mit tel mä ßige Bourgeois -

existenz, und ver sumpfte lang sam in dem geist -

losen, maschi nel len Dienst sei nes Bure aus. Dann

gieng er, bereits ent täuscht und nicht mehr im vol -

len Bewußt sein sei nem ver fehl ten Daseins, eine

Ehe mit einer direct gei stes schwa chen, wenn auch

gut müt hig ver an lag ten Per son ein, die, nicht ein mal

hübsch, kei nen andern Vor zug hatte, als ihre gren -

zen lose Bor niert heit und ein mit tel mä ßi ges, bür ger -

li ches Ver mö gen. Je mehr seine jugend li che Ela sti ci -

tät nach ließ, desto mehr zog es ihn von sei nen

wis sen schaft li chen — meist lin gui sti schen — Stu dien

weg zum Wein krug. Er trank viel, noch dazu in

einer phi li strö sen Gesell schaft mit durch und durch

ver blö de ten Ansich ten, und machte im vorge rück -

ten Alter den Ein druck eines ziem lich hoch gra di gen

Alko ho li kers.

Als Fon tana auf die Uni ver si tät abgieng, starb der

unglück liche Mann des ver fehl ten, »ver ramsch ten«

Lebens.

Franz war wäh rend sei ner Gym na si al zeit, also in

einer Peri ode, in wel cher die sich vor be rei tende

Puber tät den gan zen Orga nis mus, inson der heit das

Ner ven sy stem der art ver än dert, daß unbe ding te ste

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Ruhe, die am aller wen ig sten durch wider na tür li che

Excesse sexu el ler Natur gestört wer den darf, Haupt -

be din gung zur unge stör ten, vol len Entwick lung ist,

einer gewis sen gym na sia len Jugend krank heit bis zu

einem Grade erge ben gewe sen, der nur mehr patho -

lo gisch näher bestimmt wer den konnte. Die sen Ein -

druck mußte jeder medi ci nisch oder psy cho lo gisch

gebil dete Mensch sofort gewin nen. Natür lich leug -

nete er mit einer wider lich-unschul di gen Frech heit.

Als er in ver nünf ti gere Bah nen ein len ken wollte,

war er zu depra viert, um an dem an sich unbe deu -

ten den Geschlechts ge nusse die Befrie di gung zu fin -

den, wel che eine lei den schaft li che Jugend ver langt.

Seine Ner ven kann ten das Weib nicht mehr. Und er

tappte fort in der alten Suhle, um sich höch stens

dann und wann im Schlamme der Pro sti tu tion

einige Ent täu schun gen zu holen.

So kry stal li sierte sich der echte »Gefühls schuft«

her aus.

Er mit sei ner abnor ma len Moral, die er je -

dem andern auf hal sen wollte, nur nicht sich selbst,

glaubte in sei nem Grö ßen wahn, nicht nur ein

ganz eigen ar ti ger Kopf zu sein, nein, er war über -

zeugt, daß er ein Aus er le se ner sei. Die ser Arme im

Gei ste, die ser »Rausch er zeugte«, glaubte, daß die

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Abson der lich keit sei ner Emp fin dun gen und sei ner

gewon ne nen Eindrüc ke jede sei ner an sich so unbe -

deu ten den und klein li chen Hand lun gen ver edle

und aus zeichne. Aber alle diese Emp fin dun gen fuß -

ten nur auf sei nem bru ta len Ego is mus. Und immer

schmatzte er mit bäue risch-rohem Beha gen über

seine Säu fer lip pen das Wort »Moral«.

Er war so jäm mer lich gei stes arm, daß er noch

immer an eine all ge meine, für jedes Mit glied der

Gesell schaft bin dende Moral glaubte, an eine jedes

Indi vi duum voll und gleich bin dende Moral, in

einer Zeit, wo sich die all ge meine Auf lö sung des

Staa tes und der Gesell schaft in lau ter Ein zel in di vi -

duen gebie te risch vor be rei tet. Als ob es jemals eine

Moral gege ben hätte! Es kann höch stens von einer

indi vi du el len Moral gespro chen wer den, und auch

die ist nicht weit her. Ein freier Geist wird sie jeden -

falls bald zum Teu fel gejagt haben. Wer würde sich,

wenn er nicht eine Scla ven na tur ist, seine eige nen

Ket ten schmie den hel fen? Und die ser Fon tana übte

einen ziem li chen Ein fluß auf Ernst aus. Wohl fürs

erste infolge des lan gen, inti men Umgan ges; denn

Ernst war Gewohn heits mensch durch und durch,

dann aber auch, weil Franz ein aus ge zeich ne ter

Clavierspieler zu sein schien. Das heißt, auch das

sug ge rierte er nur sei ner Umge bung, indem er sich

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solange selbst Weih rauch spen dete, bis er die ande -

ren durch den wider lich- süßen Duft die ser Selbst be -

räu che rung betäubte. Das ein zige, was er konnte,

und das blen dete eben die, wel che selbst die ses

Instru ment nicht behan deln konn ten, war, zur

Noth schwie rige Etu den rasch und ohne Feh ler

vom Blatt zu spie len, und seine dum men Glotz au -

gen gewan nen den Aus druck eines sich freu en den

Idio ten, wenn er die Schwie rig kei ten über wun den

hatte und jetzt sich nun erst recht ein bil dete, ein

Künst ler zu sein. Er hatte aber einen har ten

Anschlag und hack te alles gleich för mig in entsetz -

licher Stumpf sin nig keit auf dem gequäl ten Instru -

mente her un ter. Nie lag Seele, nie lag Gefühl in

sei nem Spiel, nicht das ein fach ste Volks lied konnte

er beglei ten, ohne die Stim mung mit bru ta lem

Unver stand zu zer stö ren. Er ver stand nie, was er

spielte, für ihn waren die Noten nur schwarze Köpf -

chen, wel che diese oder jene Taste näher bezeich ne -

ten. Das End re sul tat der vier hän di gen Übun gen,

wel che Ernst und Fon tana zusam men betrie ben,

war das je nige, daß Ernst sein biß chen Cla vier spiel

total ver lernte und nun selbst die Töne nach sei nem

berühm ten Muster aus dem Flü gel quetschte.

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Anfangs störte der täg li che Umgang Ernsts mit

Fon tana unsere zarte Freund schaft nicht. Wir ver -

kehrten unge zwun gen mit ein an der, wie und wann

wir woll ten. Ernsts Zart heit that mir unend lich

wohl! Er ver stand es, mich mit einem Schlage aus

den fürch ter lich sten Stim mun gen her aus zu rei ßen,

die mei ner so oft und so gebie te risch Herr wur den.

Der Ton sei ner Stimme genügte, wenn ich man ches -

mal, wie fas sungs los, der wüt hend sten Ver zweif -

lung hin ge ge ben, am Bier ti sche in mich hin ein ver -

sank, um mich in eine fast hei tere Laune zu ver set -

zen. Wenn er an dem, in einer sol chen Ver fas sung

stets fremd ar ti gen Klang mei nes Organs merkte,

daß ich nach einem ret ten den Bal ken rang, um

mich anzu klam mern, so gelang es ihm durch die ein -

fach sten Mit tel, mich in ein voll stän dig ande res

Gefühls mi lieu zu ver set zen.

Wenn er sein Glas erhob und mir zutrank, die sen

Blick mit der Fülle sei ner war men, unge heu chel ten

Emp fin dung, die sen Blick, den nur ich ver stand,

die sen Blick der gro ßen, wah ren, rei nen Liebe, die -

ses Stück Seele, das konnte nur er, nur er mir geben.

Wie stolz war ich auf diese Freund schaft. Ich erin -

nere mich, daß er mir öfters ohne Ver an las sung mit

sei ner schlan ken, zar ten, wei ßen Hand zärt lich über

mein dich tes, gewell tes Haar strich. Ich fühlte einen

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elek tri schen Strom durch mei nen Kör per lau fen,

aber ganz, ganz sanft, ganz anders, wie jenes con vul -

si vi sche Zucken, wenn unsere Hände irrend an

dem glü hen den Kör per des Wei bes her um ta sten,

jenes Wei bes, dem wir Haar, Stirne, Mund, Augen,

Hände, Busen — — — mit raubt hier ar ti gen Küs sen

bedeckt haben, wenn uns der eigent hüm li che,

scharfe Geruch der vibrie ren den, nack ten Lei ber in

jene fürch ter li che Auf re gung ver setzt, in der wir

nicht mehr zu erken nen ver mö gen, ob wir den tief -

sten Schmerz oder die höch ste Wol lust emp fin den,

ob wir ein im Blute wüh len der per ver ser Wüst ling

oder ein Hei li ger sind, der sein Fleisch mit glü hen -

den Sta cheln züch tigt.

Und ich sehnte mich so, so sehr nach Ruhe. Ich

fieng an, Fon tana, der feige und gemein, in sei ner

tückischen Sauf bold na tur, all mein neu erwach tes

Gefühl mir, und zwar nur mir gegen über, zu be -

schmut zen wagte, zu has sen, nicht weil er einen,

mei ner Ansicht nach für sich aus sichts lo sen Kampf

mit mir führte, son dern, weil er eine teuf li sche

Freude darin fand, mir, dem armen, ver las se nen

Gefühls bett ler meine letzte Habe zu neh men — das

Stück chen Seele, das ich mir erobert hatte, nach all

den jah re lan gen, unsäg lich bit te ren Qua len.

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Gerade um jene Zeit dachte ich häu fig an den

noch so fer nen Früh ling, ich freute mich kin disch,

ich stellte mir im Gei ste vor, wie wir so alle Tage bei -

sam men sein wür den, allein zu zweien, oder in der

Gesell schaft der lieb ge won ne nen Freunde. Und

wenn schon in den ersten Nach mit tags stun den die

trü ben Herbst ne bel die Gas sen feg ten, wenn ein fei -

ner Staub re gen auf das glatt ge tre tene Pfla ster her -

nie der rie selte, dann dachte ich unwill kür lich wie

durch Alter osug ge stion an einen jener zahl rei chen

Juni abende des ver gan ge nen Jah res, wenn wir

beide schwei gend im Kahn saßen, ruhig, unbe weg -

lich. Und auch das Boot schau kelte nicht in dem

tod ten Sei ten arm des gro ßen Flus ses. Ich bohrte

meine Augen oft tief in das schil lernde, unru hige,

fal sche Grün, das einem Gewebe übereinander -

gelegter, fei ner Gaze schleier glich, mit ins Dunkle

stei gen der Nuan cie rung der ein zel nen Schich ten.

An den fla chen, nur unmerk lich erhöh ten Ufern

wuch sen unzäh lige Flie der bü sche. Die blü hen den,

schwe ren Zweige neig ten sich in einer Fär bung von

iri sie ren dem Vio lett über das Was ser, dazwi schen

schwank ten im lei sen Abend winde die leich ten,

schlan ken, gel ben Ran ken des Gold re gens. Die Gip -

fel der Flie der bü sche, starr und steif von Blüten -

büscheln, schwam men grau mit bläu lich in der

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Ath mosphäre, wie ein Reflex eri ca far be nen Sam -

mets floß dar über die warme Luft. Die schei dende

Sonne ver gol dete diese Far ben ohne Rea li tät, diese

abstrac ten Reflexe, ohne den Grund ton zu zer stö -

ren. Der schwere, wol lü stig-schwüle Duft legte sich

blei ern auf die Sinne. Ich dachte, wenn ich hier

allein mit einem Weibe säße, müßte sich aus die sem

leb haf ten, über sat tig tem Vio lett ein Schat ten los -

lösen und über das mär chen hafte Grün die ser tob -

ten Flut leise zum Steuer glei ten, leise, leise — und

grin send, hohn la chend steu erte uns dann wohl die

Sünde in eine flie der um starrte Bucht. Alles ver -

schlei erte sich, als zer schwamm in die sem ruhi gen,

sat ten, ster ben den Licht.

Ganze Züge von Schwal ben jag ten pfeil schnell,

durch die Luft, wech selnd ihre lau ten Schreie aus -

sto ßend. Bald zu dem von einem dro hen den Roth

über gos se nen Him mel auf stei gend. Bald die Wip fel

der Flie der bü sche strei fend mit ihrer glän zen den

Brust. Ein Fisch schnellte aus dem Was ser. Weiße,

schil lernde Per len sto ben empor und fie len in die

sma rag dene Flut zurück. Meine Hände übers Knie

gekreuzt, beugte ich mei nen Ober kör per vor wärts

und starrte über die weit hin sich deh nende Was ser -

flä che, die jetzt ein lei ser Wind stoß kräu selte. Im

Nu ver schwand das tiefe, satte Grün, gieng zuerst

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in ein har tes Sil ber weiß über und löste sich dann,

je wei ter der Blick vor wärts drang, in einen mil den

Reflex. Die Luft und das wel kende Licht pati nier -

ten den Glanz der wei ten, far ben ath men den Flä che.

Und dann strich mir Ernst sanft übers Haar — ein

Ruck, mäch tig grif fen die Ruder ins Was ser, und

der Nachen schoß, einen lan gen, schil lern den Strei -

fen hin ter sich zie hend, vor wärts.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Und vor mei nem geschlos se nen Fen ster rie selte der

feine, kalte Staub re gen durch den trü ben Nebel auf

das glatt ge tre tene Pfla ster, rie selte unauf hör lich.

13.

So kam der Win ter. Er ließ sich erst in der Mitte des

Mona tes Decem ber hart an. Ernst gieng weder

Schlitt schuh lau fen, noch besuchte er Bälle. Auch

das Thea ter ver mied er.

Ich folgte so ziem lich sei nem Bei spiele. Auf den

Eis platz gieng ich nie. Von allen den zahl rei chen Bäl -

len und Tan zun ter hal tun gen besuchte ich nur einen

Ball, der in geschlos se ner Gesell schaft in einem der

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ersten Hotels der Resi denz abge hal ten wurde. Das

Thea ter ver nach läs sigte ich sehr — ganz gegen

meine son stige Gewohn heit. Das Varietè sah mich

nie, obwohl ich in Kopen ha gen einer der eif rig sten

Besu cher des Tivoli und sogar des Scala gewe sen

war. Ich gieng völ lig auf in der Gesell schaft Ernsts,

in der Beob ach tung all der unzäh li gen Ein zel hei ten,

die unsere Freund schaft in die ser schön sten ihrer

Pha sen durch machte.

Ein tö ni ger, mit Schnee ver misch ter kal ter Regen

tropfte tag aus tagein in die sen trü ben, sich ins end -

lose deh nen den Gas sen. Diese Tage, diese lan gen

Abende, diese noch län ge ren Nächte, wenn sie

auch voll resi gnier ter Trau rig keit und ver hal te ner

Schmer zen waren, bar gen den noch eine gewisse

ruhige Selig keit in sich.

So kam Weih nach ten heran. Ich liebte in die ser

still-geschäf ti gen, hei li gen Zeit den rei nen, wei ßen,

unauf hör lich mit wei cher Heim lich keit nie der fal len -

den Schnee. Aber dies mal klatsch ten nur breite,

breiige Floc ken nie der, die in ihrem ein tö ni gen

Grau weiß sich an den Lei sten der Fen ster rah men

zu lan gen, lockeren Strei fen anhäuf ten, wäh rend sie

auf der Straße zer tre ten, zer fah ren, zer stampft, sich

bald in einen bräun li chen Brei auf lö sten.

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Ernsts Mut ter hatte mich für den Weih nachts -

abend, sowie für Syl ve ster gela den, obwohl sie

schon seit mehr als einen Monat an Ischias erkrankt

war und unend lich viel litt.

Es war schließ lich und end lich wohl nur der ange -

bo rene Takt einer fein ver an lag ten und gut erzo ge -

nen Frau aus den besten Gesell schafts krei sen, die

mich an jenen Tagen, an wel chen selbst die Ärm -

sten der Armen ein wenig Freude genie ßen, nicht

allein wis sen wollte, wei ter nichts, viel leicht auch

Mit leid.

Fon tana legte es dar auf an, mich gerade an jenem

Tage, den ich sonst — viel leicht seit ich »HOMME DU

MONDE« gewor den war, das ein zi ge mal im Jahr —

mit mei ner armen Mut ter gemein sam ver lebte, und

an wel chem ich den gan zen Schatz ihrer gro ßen, hei -

li gen Liebe zu mir genoß und auch sie dadurch

glück lich machte — denn sie ver langte nicht mehr,

als mich lie ben zu dür fen — aufs rohe ste zu ver wun -

den.

Zuerst höhnte er mich wegen der Ein la dung. Nun

ja, ein armer Teu fel, der kein eige nes Heim hat, da

gebie tet ja der Takt eine con ven tio nelle Lüge.

Schließ lich kam’s zu einem fürch ter li chen Streit;

nicht laut, lär mend, pol ternd, nein, fast flü sternd

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gespro chen flo gen die Worte hin über und her über.

Worte wie Gift.

Und plötz lich zischte er zwi schen sei nen stump -

fen Zäh nen ein Wort her vor, ein Wort, von dem er

wußte, daß es mich tödt lich ver letzte.

Armer Para ly ti ker!

Und noch mals zuck te er mit sei nen etwas schie -

fen, zu hohen Schul tern und sah mich mit blöd-bos -

haf ten Augen an, in deren Geglotz er etwas wie

Mit leid, kenn bar gemach tes Mit leid legen wollte.

Und das selbe imper ti nente Mit leid zit terte aus sei -

ner wuth be ben den Stimme:

Armer Para ly ti ker!

Ich gab ihm keine Ant wort, aber in mei nen Fin ger -

spit zen zuck te es. Ich hätte ihm so gerne die Kehle

zuge schnürt, bis der letzte Athem zug pfei fend aus

sei ner phthy si schen Brust ent flo hen wäre. Jetzt war

ja noch Zeit, aber in ein paar Jah ren, wer weiß! Und

vor mir stand im Gei ste der Arzt, ein stil ler, unge -

fähr vier zig jäh ri ger Mann mit ener gisch geschnit te -

nen Den ker zü gen, sein lan ges, tief schwar zes Haar

floß bis auf die Schul tern und schim merte in metal -

lisch bläu li chem Glanz. Der Teint die ses Murillo-

Kop fes war von der Farbe des gebeiz ten Eben -

holzes, eine tief-dunkle Bronce. Seine frau en haft

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zarten, wei ßen Hände hat ten soeben die äußere

Unter su chung been det:

»Ich kann Ihnen nur Ruhe emp feh len, Ruhe

und wie der Ruhe, und eine Lebens weise, die der jen -

igen, wel che Sie bis jetzt geführt haben, völ lig

entgegengesetzt ist. Ich glaube, daß eine plötz li che

Ände rung, aber auch nur eine plötz li che, Sie vor

schwe ren Rückenmarks-Com pli ca tio nen ret ten

kann. Ich bin kei ner der Ärzte, die dem an Nico tin -

ver gif tung erkrank ten Rau cher Tabak, dem Ge -

wohn heits-Säu fer Alko hol, dem Wüst ling Wei ber

ver ord nen.«

Ich hatte ein paar Seme ster Medi cin stu diert, und

konnte mir das ganze Bild jener ent setz li chen

Krank heit, wel che die Ärzte Rückenmarks-Para -

lyse nen nen, vor stel len. Ich fühlte das unheim lich

Schlei chende der Krank heit, sah mich im Gei ste

jahrelang im Lehn stuhl an Hän den und Füßen

gelähmt, mit schwe rer Zunge nur halbverständ -

liche Worte stam melnd.

So ward ich denn am hei li gen Abend und den

Rest des gan zen Jah res von jener fürch ter li chen Vor -

stel lung gepei nigt. Meine Qual war blu tig grau sam.

Der Weih nachts abend ver lief für mich trost los.

Ich war in schmerz voll ster Stim mung, Ernst von

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einer eigent hüm li chen, fast iro nisch-ver let zen den

Lustig keit, hin ter wel cher sich eine tiefe Ver stim -

mung barg. Vor zehn Uhr war ich schon wie der zu

Hause und lag im Bette. Von der nahen Mar tins kir -

che hörte ich noch die zwölfte Stunde schla gen. End -

lich schlief ich ein, dumpf, blei ern, ohne Ruhe,

ohne Erquic kung zu fin den.

14.

Am letz ten Tage im Jahre fieng es gegen Abend leise

zu schneien an. Feine, ganz feine aber feste Schnee -

floc ken fie len laut los zur Erde, erst nur ganz ver ein -

zelt, dann aber immer dich ter und dich ter. Ein

leich ter, aber schar fer Wind blies ihnen dabei zum

Tanze auf. In den lan gen Stra ßen, die zur Zeit der

Abend däm me rung von einem dich ten Men schen -

schwarm erfüllt waren, flamm ten jetzt die Lich ter

auf, unzäh lige Lich ter, die einen auf hohen, grün

ange stri che nen Eisen stan gen — ich glaube, so etwas

nennt man Laterne — die andern unstet dahin rol -

lend in bun tem Far ben wech sel — roth, gelb, grün,

blau, vio lett, und mit ten hin ein ergoß sich über das

beschneite Trot toir das harte, metal lisch-weiße

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Licht der elek tri schen Lam pen in den unzäh li gen

Schau fen stern. Glanz und Reflexe. Glanz und

Reflexe und Schnee floc ken.

In mei nem Innern hatte ich ein eigent hüm li ches

Gefühl, wie ich so dahin schritt. Wie eine offene,

seh rende Wunde. Es that mir etwas weh. Eine

Bemer kung, wel che Ernst gestern gemacht hatte,

gewiß nur ein harm lo ser Scherz, aber ich ward ihm

gegen über nach ge rade von einer krank haf ten, kna -

ben ar ti gen Emp find lich keit.

Ich bog in eine ver las sene Sei ten gasse ein. Hier

war es ganz öde und dun kel. Wenige Schritte, und

ich befand mich vor dem Hause, wel ches Ernst

bewohnte. Ein hoher, kah ler, schmuck loser Neu bau

mit ele gan tem Inte rieur — breite, tep pich be legte

Trep pen, blank ge putzte, mes sin gene Trep pen ge län -

der. Der Flur war hell erleuch tet. Ich stieg lang sam

die Stu fen empor. Mich frö stelte.

Eine, in einem mit Zobel ver bräm ten, blauen Sam -

met man tel gehüllte Dame, der ich Platz machte,

indem ich mich beschei den an die Wand drück te,

streifte mit freund li chem Nicken an mir vor über.

Ich dachte unwill kür lich an jene Ent erb ten, die

heute hun gernd und frie rend unter irgend einem

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Brüc kenpfeiler kau ern müs sen und fie berg län -

zende, begehr li che Raubt hier blic ke auf die lan gen,

lich ter er strah len den Fen ster schei ben wer fend,

plötz lich, von einem wil den, ihnen uner klär li chen

Rache ge fühl erfaßt, den Nächst be sten nie der schla -

gen, damit wenig stens einer büße. Wenn auch ein

Unschul di ger, aber büßen soll er für ihr eben falls

unver schul de tes Elend. Wenn sich ein sol cher

»Mord ge selle« ohne die gering ste Reue, aber im

voll sten Bewußt sein des sen, was er get han, etwa so

ver thei di gen würde:

»Ihr seid ver pflich tet, mich zu ver ur thei len, ver -

pflich tet, weil ich euch und euere ehren werte Sippe,

diese voll ge fres sene Sippe, in Schrec ken gesetzt

habe. Es wäre ja auch wider alles Recht, wider alles

Gesetz, wider alle Sitte, wenn ich straf los meine

schwa che Kraft an der über mäch ti gen Gesell schaft,

die uns alle aus saugt bis aufs Mark, erpro ben

wollte. Schleift mich zum Gal gen, reißt mich auf die

Guil lo tine, aber ver sucht es nur, mir mit all den

Qua len, die ihr ersin nen möget, nur einen Schrei

des Schmer zes, mit den hohl tö nen den, wohl ge -

drechs el ten Phra sen nur ein Ton der Reue zu entlok -

ken! « — ……… bei mei nem Ich, den sprä che ich

frei.

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Die Gesell schaft von heute und gestern hat den

Muth, einen zu ver ur thei len wegen die ses und jenes

Ver bre chens, zu dem schließ lich und end lich sie

allein ihn gedrängt hat, weil da hun dert über einen

gehen, aber den Muth hat sie nicht, sich ein für alle -

mal den mor schen Cul tur fet zen von ihrem ver krüp -

pel ten Leibe zu rei ßen, damit Luft und Licht zu

ihrem Kör per komme und ihn heile — heile.

Ich ließ meine Hand über die dicken, roth samm te -

nen Schnüre glei ten, die zum Anhal ten dien ten und

an den Gelän dern dahin lie fen. Ein unan ge neh mes

Gefühl erregte die fein sten Ner ven en di gun gen der

Haut und machte sich beson ders am Kopfe,

Nacken, Hin ter haupt und längs der Wir bel säule

hin un ter bemerk bar.

Ich war auch heute in der sel ben stumm trau ri gen

Ver fas sung, wie am hei li gen Abend. Das selbe Ge -

fühl unend li cher Ver las sen heit war mei ner Herr

gewor den.

Und doch hei terte ich mich bald auf. Ich fühlte

mich schon glück lich, mich nur so wie ein Bett ler in

eine warme Ecke drüc ken zu dür fen, wenn auch

nur für kurze Augen blic ke, mir eine Illu sion, eine

Stim mung steh len zu kön nen, die ich in mei ner Ver -

las sen heit so sehr ver mi ßte.

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Im all ge mei nen ver lief der Abend, wie sol che

Fami lien fe ste gewöhn lich ablau fen. Doch ver mi ßte

ich die con ven tio nelle Lüge, das geheu chelte

Glück, die mit schlech ter Schminke kraß auf ge tra -

gene Zufrie den heit, wenn gleich mir auch nicht alles

wahr und echt erschien, was meine Augen sahen

und meine Ohren hör ten.

Als die Pen del uhr zwölf schlug, stan den wir natür -

lich auf und gos sen hei ßen Punsch in unsere Glä ser

und stie ßen an auf ein glück liches, neues Jahr. Ernst

küßte mit trau ri ger Zärt lich keit sei nen Vater, einen

alten, etwas gebück ten Mann, aus des sen jugend -

frisch blic kenden Augen jener unzer stör bare Opti -

mis mus leuch tete, wel cher sei nem Besit zer oft mehr

des Unheils bringt als des Glücks, jene »gute Hoff -

nung«, die dem Leicht gläu bi gen die aben teu er lich -

sten, von vor ne her ein ver lo re nen Pro jecte als

gewinn brin gend vor spie gelt, um ihm dann die

Wirk lich keit zu ver fäl schen, damit er nie klar sehe,

ein Blin der, dem man vom Mär chen lande erzählt

und in Far ben schil dert, die für ihn nur hohle

Begriffe, ja noch weni ger, Worte ohne Bedeu tung

sein müs sen.

Wir beschlos sen beide, noch in ein nahe ge le ge -

nes Restau rant zu gehen, um dort unsere Freunde

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aufzusuchen, wel che ver ein bart hat ten, an die sem

Orte zusam men zu kom men, nach dem sie im Kreise

ihrer Fami lien das neue Jahr erwar tet hat ten.

Fon tana, der sich zu Hause mit sei ner gei stig

beschränk ten Mut ter in dem sel ben Tone bestän dig

her um balgte, wie Zuhäl ter mit ihren Dir nen, und

dabei die glän zend sten Pro ben sei nes gei stig

»erleuch te ten« Zustan des ablegte und dem daher

sein »Heim« immer »fremd« und »unge müth lich«

vor kam, war bereits dort. Er begnügte sich damit,

mich mit zusam men ge knif fe nen, glanz lo sen Augen

unsäg lich blöd anzu stie ren. Im übri gen war er natür -

lich schon voll ge trun ken wie ein Schwein. Mit der

Zeit wurde es in dem engen Locale uner träg lich

schwül, der Dunst der schwit zen den, wie die

Häringe in einem Faß zusam men ge keil ten Men -

schen, die ver schie de nen, von den Berausch ten

vergossenen Getränke und der Rauch unzäh li ger

schlech ter Cigar ren und noch schlech te rer Ciga ret -

ten mach ten die Ath mosphäre direct unein at hem -

bar. Die mei sten sahen dies auch ein und

schwank ten, wie vom Lichte betäubte Nacht fal ter,

um die beschmutz ten Tische, mit unsi che rer Hand

nach ihren Über klei dern tap pend; nur Fon tana saß,

die Hände in die Hosen ta schen ver gra ben, wie

geistesabwesend da, stierte in die zum Schnei den

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ver diente Luft und paffte aus einer zer bis se nen

Cigarre dicke Rauch wol ken vor sich hin. Hin und

wie der schmatzte er dabei mit sei nen schmut zi gen

Lip pen.

Ernst riß ihn empor, sein Inti mus, ein fre cher,

dum mer, nord deut scher Laden schwen gel, hielt

ihm sei nen Man tel um und setzte ihm seine Pelz -

kappe auf. Im Kaf fee haus das selbe — Punsch, Thee,

Grog — Grog, Thee, Punsch. Dann wan der ten wir

ins Restau rant zurück. Natür lich ein kräf ti ger Früh -

schop pen, aber der gab uns jetzt doch den Rest. Um

die Mit tags stunde trenn ten wir uns mit dem er -

hebenden Bewußt sein — volle acht zehn Stun den

durch ge sof fen zu haben. Seit dem nahm mein bis -

her chro ni sches, lang sa mes, psy chi sches Abster ben

acute For men an. Ich lebte wie im rasen den Fie ber

dahin, meine Laune wurde immer sprung haf ter,

bald ver fiel ich in die zügel lo se ste, toll ste Aus ge las -

sen heit, bald wie der in die dumpf ste, blei ern ste

Schwer muth. Ich quälte mich und Ernst, der sich

stets gleich blieb und mit clas si scher Geduld mein

verrück tes Wesen ertrug. Seine Ruhe, sein Zu -

reden, aus dem ich die auf rich tige Wahr heit der

Freund schaft fühlte, wirkte unzwei fel haft wohl -

thätig auf mich ein. Und doch glotzte schon hohn -

lächelnd das Ende unsere junge, blei che

Freund schaft an.

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15.

So lebte ich fort, wäh rend in mei nem Innern eine

unheim li che Ruhe und Stille herrschte, ein Pro ceß

der Ver tie fung mei ner see li schen Lebens functio nen

vor sich gieng, der mir Stunde für Stunde blu ti gere

Wun den schlug.

Es gibt gewiß Natu ren, die schon ihr eige ner ani -

ma li scher Wer be pro ceß durch die dadurch geschaf -

fe nen Eigen schaf ten ihres Denk ap pa ra tes von

vor ne her ein dazu bestimmt, einst nur nach den

Ergeb nis sen ihres for schen den Den kens, nach die -

sen letz ten indi vi du el len Wahr hei ten zu han deln.

Andere aber sind AB ORI GINE unselb stän dig, was

die Über werte anbe trifft, wel che sie anneh men,

und an die sie glau ben. Ich möchte sagen, für sie

sind die Evan ge lien die sitt li chen Ideale, jene bald

streng phi lo so phi schen, bald auf fal lend empi risch-

unphi lo so phi schen Theo reme, die uns gewalt sam

zu den fixen Ideen drän gen, wel che unsere ganze

Gesell schaft beherr schen und unser Den ken durch

unsere Feig heit zügeln: Staat, Moral, Sitte, Pflicht

gegen die Näch sten und ihr Eigent hum, als da ist:

Weib, Haus, Gar ten, Kind, seine Lei den schaf ten,

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seine Ansich ten, kurz alles, was sein Ego is mus zäh

umklam mert, ERGO die ganze, große, con ven tio -

nelle Lüge im über tra ge nen Wir kungs kreise.

Ich gehörte zu den letz te ren. Aber meine Ich-

Natur wollte stark und unab hän gig und frei — oder

nicht sein. Darum mußte ich ein se hen ler nen, daß

ich nur allein sein kann, ohne Lei den schaft für ein

ande res Indi vi duum, also für eine ganz andere Welt

des Wil lens und der Vor stel lung. Jede Liebe, jede

Freund schaft ist Scla ve rei, aber ihr Joch ist oft gar

zu süß und ihre Bürde leicht.

Doch die Schule war bit ter. Und werde ich die Rei -

fe prü fung beste hen, als ein Mensch, der über das

Gute und Böse (das Kalt und Warm der sitt li chen

Welt an schau ung, also wie die phy si ka li schen

Begriffe nur eine Dif fer en cie rung) hin auf ragt und

inner lich befreit ist und gerade des halb, weil er die

Herde so sehr ver ach tet, sei ner ein sa men Son nen -

höhe gegen über aber Bur gen der Gei ste sed len

schauen will und nicht den Fuß auf ihren Nacken

setzt, son dern sie hin auf zu he ben anstrebt? Ich han -

delte instinc tiv, noch war ich mir des End zwecks

nicht bewußt, blind, tap pend stieß ich die aufein -

ander wir ken den Emp fin dun gen und Ereig nisse

vor wärts, die auch meine große Lei den schaft

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zermalmen soll ten; aber nicht von innen her, son -

dern von außen mußte der Anstoß kom men und

sich nach innen ein fres sen wie ein ätzen des Gift.

16.

Nach einem trost los ver brach ten Nach mit tag

kehrte ich heim, um mich in Soi rée toi lette zu

werfen.

So sehr mich Gesell schaf ten anwi der ten, eben an

die sem Tage sehnte ich mich unter die geschmink -

ten Schat ten mit ihren Mario net ten, Lächeln und

ihren Draht pup pen ver beu gun gen, die sich Men -

schen nen nen. Ich trat in mein Zim mer. Es war

schon ganz dun kel und eisig kalt. Ich zün dete die

Lampe an. Ein Bil let in einem Rosa cou vert, das

einen mir wohl be kann ten Namens zug in eigen tüm -

lich zerhack ter Schrift trug, fiel in meine Hände.

Rechts oben in der Ecke eine sieben zac kige, prot -

zige Krone und der Namens zug H. v. P. Eine

Absage und die gewöhn li chen, lap pa lien haf ten Ent -

schul di gun gen. Unwohl sein, Migräne, bedaure tief

u. s. w. Diese gut ge sinn ten »Stüt zen der Gesell -

schaft« haben nicht ein mal mehr den Muth, zu

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sagen: »Wir wol len oder wir kön nen nicht.« Die

Lüge muß über all ihren offi ciel len Knicks machen.

Ernst hatte mir nach mit tags erklärt, er werde

heute abends unter allen Umstän den zu Hause blei -

ben. Er mußte mir aber unter allen Umstän den her -

aus. Ich war in der Ein sam keit, die mich umgab, in

der psy chi schen Auf re gung, die es mir unmög lich

machte, durch gei stige Arbeit mei nen Gedan ken

eine andere Rich tung zu geben, von einer qual vol -

len Furcht vor mir selbst, vor einem unbe stimm ten

Etwas, über fal len wor den. Aber nicht nur die Ein -

sam keit, auch die frem den Men schen begann ich zu

fürch ten. Ernst mußte aus sei ner Bude rücken, er

konnte, er durfte mich nicht allein las sen. Einen

Moment ver ließ mich mein gan zes Denk ver mö gen,

ich war in die sem Augen blic ke nichts, nicht ein mal

ein Auto mat, denn ich exi stierte in kei ner Vor stel -

lung und meine eigene hatte auf ge hört.

Ich zün dete die Lampe an; wie bewußt los starrte

ich in die runde, ruhige, fast weiße Flamme. End -

lich ergriff ich die Feder und warf mit eigen tüm li -

chen, lan gen Schrift zü gen, die wie sche ma ti sierte

Glie dert hiere aus sa hen, und in denen Haar- und

Schat ten strich merk wür dig deut lich aus ge prägt

waren, ein paar Zei len hin:

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Lie ber Ernst!

Ich ersu che Dich, heute auf ein paar Augen blic ke

zu M. zu kom men. Erweise mir diese Gefäl lig keit.

Ich bin abso lut nicht imstande, eine halbe Stunde

allein zu sein.

Es grüßt Dich

Dein Knut.

Als ich das Sie gel dar über klebte, fühlte ich einen

eigen tüm lich ran zi gen Geschmack auf der Zunge.

Ich sandte das kurze Schrei ben direct Ernst ins

Haus und begab mich in das Restau rant, indem ich

ihn erwar tete. Das helle, harte, imper ti nent auf -

dring li che Gas glüh licht, die wir beln den Wol ken

und Wölk chen guter und schlech ter Cigar ren und

Ciga ret ten, das alberne, halb laute Schwat zen der

bier knei pen den Phi li ster und das idio ti sche Lachen

über die schal sten BONS MOTS und die abge dro -

schen sten Witze irri tierte mich sofort beim Ein tritt.

Ich durch schritt rasch den lan gen Spei se saal und

dann einen engen, mit Tep pi chen beleg ten Cor ri -

dor, zu des sen bei den Sei ten rothe Plüsch por ti èren

den Ein gang zu klei nen Cabi net ten abschlos sen.

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In die sen schlecht gelüf te ten, engen Käfi gen, in

denen mich ein unbe stimm ter Geruch nach Alko -

hol und Liebe halb komisch-ange nehm und anhei -

melnd, halb wider lich berührte, war es voll stän dig

dun kel. Der Kell ner, wel cher wie der diese fata len,

wei ßen Lich ter ent zün dete, deck te sofort für zwei

Per so nen. Ich aß wenig. Das War ten benahm mir

allen Appe tit. Ich sah jede zweite Minute auf meine

Taschen uhr. Meine ner vöse Unge duld stei gerte

sich bis zur schmerz haf ten Beklem mung. Der ganze

Zustand hatte etwas Asth ma ti sches an sich. Hier

war ich jetzt gefes selt und mußte war ten. Jede

Minute ver strich an sich mit rasen der Geschwin dig -

keit, wäh rend eine ganz kurze Zeit, eine schwa che

Vier tel stunde, mir als ein uner träg lich lan ger Zeit -

raum vor kam. Es war eine voll stän dige Ver wir rung

des Zeit be grif fes. Ich hörte Schritte, die Vor hänge

wur den zurück geschlagen. Ernst stand vor mir. Er

streck te mir, hei ter lächelnd, wie sonst seine kräf tige

Hand ent ge gen, die aber immer nur zwei Fin ger der

dar ge reich ten nahm, ohne sie fest zu berüh ren. Ein

ori gi nel ler Con trast, diese elfen hafte Zart heit und

die ser mus ku löse von Kraft und Jugend strot zende

Kör per bau. In sei nem Äußern, in sei nem Auf tre ten

war er der selbe wie immer, und doch merkte ich

sofort eine große, psy chi sche Ver stim mung, die sich

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sei ner bemäch tigt hatte. Er nahm an mei ner Seite

Platz, kein Wort des Unwil lens dar über, daß ich ihn

in sei nem Vor satze, zu Hause zu blei ben, gestört

hatte, drang über seine Lip pen. Anfangs stock te das

Gespräch, aber es kam schnel ler in Fluß, als ich

gedacht hatte; gerade heute hatte ich jene lan gen

Kunst pau sen gefürch tet, die dann ein zu tre ten pfle -

gen, wenn man ver le gen nach Wor ten tastet, um

einer Stim mung greif ba ren Aus druck zu geben, die

uns selbst noch in däm mern des Dun kel gehüllt ist,

uns aber trotz dem oder gerade des we gen unsag bar

quält.

Ich hatte ihm eigent lich nicht viel oder gar nichts

mit zu thei len, nur daß meine Stim mung, die er ohne -

hin kannte, heute noch qual vol ler sei, denn je. Er

fuhr leise über meine feuch ten, wirr die Stirne

umrin geln den Locken. Dann sprach er von sich sel -

ber. Es war das erste mal, daß er mir, und ich wußte

es ohne seine flüch tig hin ge wor fe nen Bemer kun -

gen, mir allein sein Inner stes erschloß. Den höch -

sten Tri umph mei ner Freund schaft, die Macht über

ihn, denn sein Leid suchte Schutz und Ruhe bei mir,

hatte ich errun gen. Ich wußte wohl, daß Ern stens

Fami lien ver hält nisse sich in letz te rer Zeit gewal tig

ver än dert hat ten. Das stolze, alte Kauf manns haus

war in sei nen Grund fe sten erschüt tert. Gewagte,

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unsi chere Spe cu la tio nen hat ten das große Ver mö -

gen, über wel ches Ern stens Vater ver fügt hatte, ver -

schlun gen. Und jetzt ward der tadel lose Cre dit

die ser für prima gel ten den Firma in Anspruch

genom men. Die Wech sel häuf ten sich, die Quel len,

aus denen der unglück liche Ban ker ot tier schöpfte,

began nen zu ver sie gen. Man wurde miß trau isch,

und end lich war der Ruin ein offe nes Geheim nis.

Auch hier rollte der Block unheim lich rasch dem

Abgründe zu.

17.

Knut: »Mein Lie ber, eigent lich ist die Sache, die Du

mir da erzählst, nichts Neues — auch für mich nicht.

Es erzählt sich eben über die sen Punkt schon gar

vie les herum. Neu lich wurde mir bei H., Du kennst

den mehr wegen sei ner bösen Zunge als wegen sei -

ner Kunst bekann ten Bild hauer, die ganze Sache

auf den Tisch gelegt. Aber, offen gestan den, ich

habe an Der ar ti gem keine rechte Freude. Es ist

nicht gut, Dinge zu wis sen, die einem im Grunde

genom men gar nichts ange hen, so lange man sie

nicht aus dem Munde der selbst daran Betei lig ten

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erfährt. Das mag viel leicht etwas herz los klin gen,

aber es ist mal so. Für die vom Unglüc ke Betrof fe -

nen bleibt es sich gleich gil tig, ob ein paar Leute

mehr ober weni ger mit leids volle Schaf sau gen

machen. Die ses Mit leid ist ohne hin ein so ein imper -

ti nen tes Gefühl.

So ein hin ge wor fe ner Broc ken, aber für den Spen -

der hat es man nig fa che Vor theile: erstens wird er

sofort ein guter Kerl, zwei tens ist es schau der haft bil -

lig; du hast aber nicht den gering sten Vor theil

davon.«

Ernst: »Mehr könnte ich auch in mei ner Lage, wie

sie viel leicht bald ein tre ten wird, nicht ver lan gen.

Und dann bleibt mir immer ein Aus weg —«

Ich: »Der wäre? Ah, JE SAIS CELA, Ame rika, das

schlag Dir aus dem Kopf, verrück te Idee das.«

Ernst: »Na — ein fach, wie Du sagen wür dest, dem

Stoff die Kraft neh men.«

Ich: »Ernst!«

Er: »Diese Angst an Dir ist mir neu.«

Ich: »Übri gens würde ich — nicht — so sagen, so

würde Büch ner spre chen, die ser aka de mi sche Rit -

ter von der trau ri gen Gestalt.«

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Er (mit dem Fin ger dro hend): »Wie der eins Dei -

ner apo dik ti schen Urtheile.«

Ich: »Hör mal’, jetzt laß uns ganz vom Phi li ster -

stand punkt aus reden. Leben läßt sich ja doch nur als

Phi li ster, Du wirst mir doch nicht ein re den wol len,

daß ich leben könnte, zuge ge ben das Unmög li che,

daß mich die Gesell schaft unter sich dul dete, wenn

ich die Pro ducte mei nes Gedach ten in Tha ten

umsetzte. Viel leicht wird die ses ein mal gesche hen,

aber dann ist es Zufall oder Ner ven re flex, dann wer -

den sie mich wahr schein lich hän gen, denn dann

habe ich nach der jetzt herr schen den Ansicht ein

Ver bre chen began gen. Die Sünde aber ist nur im

Gedan ken. Wird der Gedanke zur That, so ist es

eben ent we der Zufall, oder der Kör per hat das nach -

ge spielt, was der Dich ter »Gedanke« zuerst schuf.

Also vom Stand punkt des Phi li sters.

Du hast wohl Pflich ten gegen Dich selbst, aber die

küm mern nur Dich und gip feln schließ lich im Ego is -

mus, im eige nen Wohl be fin den. Und da kann ja

end lich sogar ein Kratz fuß vor dem »Sechs läu fi gen«

zur ver fluch ten Pflicht und Schul dig keit wer den.

Aber ich glaube. Du stehst nicht so allein da wie

ich, der ich unum schränk ter Gebie ter über mein

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Thun und Las sen bin. Du hast Vater und Mut ter

und eine Schwe ster.«

Er: »Diese Rück sichten sind mir neu aus Dei nem

Munde.«

Ich: »Ich spre che ja auch nicht zu mir, son dern zu

Dir, der Du ja noch immer die Ansich ten hast, die

»alle Welt haben muß«. Nun, ich für meine Per son

habe sie nicht, und passe viel leicht eben des we gen

nicht in die Welt, oder bes ser gesagt, diese Welt

taugt nicht für mich.

Also — also von Dei nem Stand punkte aus, hast

Du Pflich ten gegen Deine näch sten Anver wand -

ten — bitte, wenn Du schon von Pflich ten gegen die

Gesell schaft sprichst, so mußt Du jene umso mehr

aner ken nen. Hier steckt doch ein wenig Natur recht

wenn es auch im Laufe der Zei ten wacker ver -

pfuscht wor den ist.

Ich weiß nicht, ich für meine Per son habe das

»OFFI CIUM« immer für einen Begriff der alten

Römer gehal ten, die in anti ker Toga den gan zen

moder nen Hexens ab bath getanzt haben — neben -

bei bemerkt hat ten sie auch den ersten histo ri schen

Anar chi sten, einen gewis sen Herrn von Cati lina —

aber wenn ich Dir über haupt eine »Pflicht« auf hal -

sen wollte, so wäre es die gegen Deine Eltern. Dein

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Vater hat sich nun ein mal in unglück lichen, mei net -

we gen auch unge schick ten Spe cu la tio nen ver pläm -

pert, na, ich glaube, der gute Mann hat ein ge se hen,

daß Du wohl nie etwas ande res kön nen wirst, als

GENTLE MAN LIKE so viel Geld als mög lich an den

Mann zu brin gen. Und das wollte er Dir »sichern«.

Nur ver teu felt dumm hat er das ange packt.«

Er: »Immer die selbe Geschichte! Ich hätte zu

nichts ande rem Talent als zum Lebe mann. Nein,

das ist nicht wahr. Aber jetzt als Sub al ter ner in ein

Bureau hin ein und dort für ein paar lau sige Pfen -

nige sich schin den, nach dem man von jeher daran

gewöhnt gewor den, aus der vol len Schüs sel zu neh -

men und das Geld als etwas Lästi ges zu betrach ten,

das man bald wie der weg ha ben müsse, — hör, nette

Geschichte das. Ich hin ge gen bin der Ansicht, daß

das Ganze eine Feig heit war, die Feig heit, ein zu ge -

ste hen — ich bin am Rande. Statt des sen sind frisch

drauf los Wech sel chen geschrie ben wor den, und

wir gien gen im Som mer nach Sche ve nin gen und im

Win ter nach Can nes, Rom, Flo renz, Mai land etc.

und sahen viele artige Dinge. Jetzt ist es natür lich

bes ser, jetzt, wo man sich kaum mehr auf die Straße

hin aus trauen kann, ohne fürch ten zu müs sen, von

ein paar lau si gen Juden ange spro chen zu wer den,

und dabei immer noch in den Krei sen, die nichts

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wis sen oder sich ein fach so unwis send stel len, die

alte Komö die spie len müs sen.«

Ich: »Na, das letz tere ist wohl schnuppe, Komö die

spie len wir doch alle! Wir thuen doch die Maske so

lange nicht vom Gesichte, bis sie uns förm lich ange -

wach sen ist. Woher auf ein mal diese Bie der man ni ci -

tät? Hm?«

Er: »Und dann gar so gleich gil tig kann es einem

doch nicht sein, wenn viel leicht eines Tages der

Gerichts voll zie her ins Haus kommt, und die ganze

Geschichte mit einem Pro ceß und ein paar Mona -

ten Gefäng nis endet.«

Ich: »Armer Ernst, so weit ist es also. Aber ich

meine. Du siehst zu schwarz.«

Er: »Mir könnt’s ja recht sein, aber ich glaube

immer, ich fasse die ganze Sache noch zu opti mi -

stisch auf. Nun, wir wer den ja, viel leicht nur zu

bald, sehen, wer Recht gehabt hat, ich oder Du, der

Du meinst, das Ganze wäre eine Hal lu ci na tion.«

Ich: »Davon habe ich nun kein Wort gesagt. Aber

ich kenne das. Du kannst Dir eben nur mehr den

alle rung ün stig sten Aus weg den ken, inso fern ist

schon etwas Vor spie ge lung dabei. Aber nun laß uns

ver nünf tig reden. Wenn’s zu einem Krach kommt,

ruht schließ lich und end lich die ganze Sorge für

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Deine Fami lie auf Dei nen Schul tern. Dafür mußt

Du latente Kraft ansam meln, um sie im gege be nen

gün sti gen Falle frei zu machen.

Und wenn Du schon mit dem Aller schlimm sten

rech nen willst, da, mein Lie ber, ist es noth wen dig,

daß Du mit vie lem, was Dir bis jetzt noch als etwas

Unan tast ba res schien, TABULA RASA machst, sonst

wirst Du in dem kom men den Kampf jäm mer lich

zugrunde gehen. Stampfe den gan zen mod ri gen

Krem pel einer ver morsch ten Cul tur zusam men,

das Recht des Stär ke ren kann man noch gel ten las -

sen, aber das Recht der »höhe ren Lebens stel lung«

und die Vor ur theile jener, die kein Ske lett in ihrer

Fami lie haben, die wer den Dir zu schaf fen machen.

Da hilft nur eine eiserne Stirn, eine Frech heit, als

freue man sich über das, was nun ein ge tre ten ist,

weil man jetzt ein biß chen anders ist, als diese gold -

be brill ten Idio ten, weil man jetzt etwas durchs

Leben zu schlep pen hat, weil man drein hauen muß

und kämp fen und rin gen, um ein biß chen Luft,

ein biß chen Raum, um mit den Ellen bo gen aus fah -

ren zu kön nen, den andern direct bru tal in die Rip -

pen hin ein. Junge, für Dich kann das die Ret tung

wer den, die Ret tung vor der Gefahr, das Pro to typ

eines nütz li chen, für die Gesell schaft und für seine

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Fami lie im Schweiße des Ange sich tes arbei ten den

Staats bür gers zu wer den.«

Er: »Ich würde mich aber in das nächst be ste Mau -

se loch ver krie chen, um nur ja von nie man dem gese -

hen zu wer den. Ich würde es als eine Frech heit von

mei ner Seite anse hen, wenn ich noch so wie frü her

her um lau fen möchte. Das ist ent we der eine directe

Scham lo sig keit oder ein ernied ri gen des Bet teln um

Mit leid.«

Ich: »Mit leid? Höre mal, ich für mei nen Theil

spre che über haupt jeder mann das Recht ab, mit

jeman dem ande ren Mit leid oder der glei chen zu

haben. Das ist im Grunde genom men eine schau -

der hafte Imper ti nenz, wenn es einem auch manch -

mal wohl thut. Aber so das Exper imen tiv ob ject

für spieß bür ger li che Gefühle abzu ge ben, ne, dafür

danke ich bestens. Thu’ mal was, wovor den ande -

ren Banau sen graust, schic ke ihnen, wenn ein mal

in die Suppe gespuckt wor den ist, gedruck te Kar -

ten und theile ihnen das freu dige Fami lien er eig nis

mit, ver giß aber nicht, dar un ter zu set zen: ›Mit leid

ver be ten!‹.«

Er: »Man braucht ja gar nicht in dem Lande zu

blei ben, wo einem die Scholle unterm Fuß glü hend

wird. Wenn alle Stric ke rei ßen, gibt’s immer einen

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Aus weg, hin aus aus dem Neste, fort, fort, weit weg,

nach Ame rika oder anders wohin, wo einen kein

Rat ten schwanz kennt. Ich weiß wohl, meine Stu -

dien, die eigent lich nur in einem Zeug nis der Reife

und einem wohl in Ord nung gehal te nen Index der

juri sti schen Facul tät beste hen, hel fen mir drü ben

erbärm lich wenig. Aber da kann ich ja als Kell ner

in ein Restau rant gehen oder als Stie fel wich ser an

die Stra ßen ec ke, hier — hier kann ich nur stan des ge -

mäß ver hun gern ober mit einer ele gan ten Ver beu -

gung vor dem »Sechs läu fi gen« ver schwin den. Und

das letz tere eigent lich auch nicht so recht. Ich lasse

andere zurück, die dies nicht kön nen oder wol len

und dann drei mal so unglück lich wer den wie ich.«

Ich : »Ganz rich tig, bemerkte der Igel und kratzte

sich die Schnauze. Das habe ich eigent lich in allem

Anfange gesagt. Über haupt Kräfte spa ren. Spann -

kraft anhäu fen, wenn mal die Geschichte zum Plat -

zen kom men sollte, braucht’s einen eiser nen Arm,

um den ver fah re nen Kar ren aus dem Dreck zu

heben.«

Er: »Dazu habe ich auch wenig Lust.«

Ich: »Glaub’ Dir’s, wird auch keine sehr ange -

nehme Beschäf ti gung sein. Aber um eins möchte

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ich Dich noch bit ten, in Dei nem urei gen sten Inter -

esse, aller dings auch ein wenig in dem mei ni gen.

Denn ich möchte mir diese Stunde nicht ent wei hen

las sen. Für mich hat so etwas einen blei ben den

Wert. Du bist zwar ohne hin ver schlos sen genug,

aber es gibt Ein wir kun gen, wel che dem Schweig -

sam sten die Zunge lösen kön nen. Sei allem gegen -

über ruhig, erzähle nie man dem auch nur ein Wort

von dem, was zwi schen uns gespro chen wurde, nie -

man dem, hörst Du! Auch nicht Fon tana.«

Er: »Dar über magst Du beru higt sein. Ich habe

noch kei nem Men schen gegen über die lei se ste

Andeu tung fal len las sen und gedenke es in Zukunft

nicht anders zu machen. Dir, Alter, konnt ich’s wohl

sagen.«

Ich: »Sage mir, Ernst, auf rich tig, warum hast Du

es gerade mir gesagt?«

Er: »Ich weiß nicht.«

Ich: »Warum nicht jeman dem andern? Warum

gerade mir? Warum kei nem Dei ner ande ren Be -

kann ten? Warum nicht Fon tana?«

Er: »Ich weiß nicht. Ich mußte wohl so.«

Ich: »Ernst, Du bist, ja Du bist mein Freund, Dein

Ver trauen zeigt mir dies. Bin det mich mehr als hun -

dert Ver spre chen, wel che ich Dir geben könnte.

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Rechne auf mich, wenn Du jemals mei ner bedür fen

soll test. Noch mehr, ver sprich mir dies, gib mir

Deine Hand dar auf.«

Er reichte mir schwei gend die Hand.

18.

Das war ent schie den auf Ern stens Seite die Akme

sei ner Freund schaft gewe sen. Mein Gefühl aber

wuchs noch immer fort, ich frug nach nichts mehr,

dachte an nichts ande res mehr, emp fand für nichts

mehr, als was mir die Natur ein ge ge ben hatte, für

meine Liebe zu ihm. Und gerade des halb wurde ich

immer emp find li cher gegen ihn, reizte mich sein gut -

müt hi ger Spott bis zur Wuth, kränkte mich oft das

nich tig ste, gleich gil tig ste Wort von ihm aufs tief ste;

und ihn mochte die ses Beneh men wie der rei zen,

ihm kam diese ner vöse Unge duld, die ses Her um -

zer ren und Her um nör geln komisch vor. Über haupt

erlahmte jetzt die Inten si tät sei ner Zunei gung zu

mir unheim lich rasch. Einer seits mochte ihn die all -

zu große Offen heit gereuen, die er an jenem Abende

mir gegen über gezeigt hatte, all zu groß für ihn, dem

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Ver schlos sen heit ein inte grer Bestandt heil männ li -

chen Wesens erschien, andrer seits mochte er nach -

träg lich die Emp fin dung haben, es wäre bes ser für

ihn gewe sen, das alles allein zu ver win den, und sei

es zehn mal so schwer und bit ter. Dann mußte ich

damit rech nen, daß Ernst von jeher das unleid lich

gespannte Ver hält nis zwi schen Fon tana und mir

im höch sten Grade unan ge nehm gewe sen war. Er

hätte ganz gut ver mit telnd ein grei fen kön nen, denn

ich wäre ihm zuliebe nach gie bi ger gewe sen, als

sonst in mei ner Natur lag, und Fon tana hätte er

leicht her um be kom men, nicht weil die ser Ver nunft -

grün den zugäng lich war, denn er ver schloß allem,

was nicht nach sei ner bos haf ten Star rheit roch,

seine Ohren, aber weil er sich an Ernst klam merte,

wie eine Klette und gefürch tet hätte, viel leicht von

dem brüs kiert zu wer den, dem er nach kroch wie

ein geprü gel ter Hund. Jetzt war es aber zwi schen

ihm und mir zu einem offe nen Bru che gekom men.

Wir waren alle zusam men auf einem Vor stadt -

balle gewe sen. Ich machte mit Ernst meine cyni -

schen Glos sen über die ver schie de nen Paare, über

die mehr oder weni ger ver steckt her vor tre tende

Sinn lich keit. Aber diese bla sierte Iro nie, die ses lau -

nisch-abge lebte, über le gene Lächeln auf unse ren

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Lip pen war ein wenig Neid und Bedau ern über

unsere ner vöse Ermat tung.

Als ich Ernst auf die Schul ter klopfte und zu ihm

scher zend sagte:

»Wie genüg sam doch diese Jugend ist! So ein

dickes, nach allen mög li chen Küchen ge rü chen duf -

ten des Frau en zim mer keu chend ein paar mal durch

den nie de ren Saal zu schlep pen, bis ihnen der

Schweiß aus allen Poren tropft, und sie dün ken sich

selig, diese Genuß men schen des Sams tags, die JEU -

NESSE DORÉE der Arbei ter vier tel, puffte er den

Rauch sei ner NESTOR GIA NA GLIS in klei nen Rin gel -

chen vor sich hin und ent geg nete mit resi gnier tem

Lächeln: »Wir haben eben zu früh ange fan gen.«

Fon tana tanzte, bis ihm seine Glotz au gen aus den

Höh len zu sprin gen droh ten, und damp fend vor

Schweiß stelzte er mit den ver schie de nen, in schrei -

ende Far ben geklei de ten, preis wür dig geschmack -

losen Frau en zim mern durch den Saal, eine Miene

zur Schau tra gend, als gienge er mit sei nem noch

unbe zahl ten, aber schon etwas schmie ri gen Frack

zu jener bereits mystisch gewor de nen, ersten Staats -

prü fung, mit der er sei ner Tante, einer gutmü -

thigen, aber gänz lich uner fah re nen Per son, die

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dar bend abge spar ten Gro schen schon seit einer

Reihe von Jah ren her aus schwin delte.

Wir zwei zogen uns bald in ein Zim mer zurück,

das einige Trep pen stu fen höher lag als der bereits

mit allen mög li chen Dün sten, dem hau che schlech -

ter Tabak sor ten und den schar fen, gemei nen Ge -

rüchen von mit ran zi gem Fett berei te ten Spei sen

erfüllte Tanz saal und tran ken mit sam men eine Fla -

sche Roth spohn, der gerade leid lich war, und den

wir, weil wir Röcke ohne Fett flec ken aus gutem

Stoff und von eng li schem Schnitte tru gen, als »ech -

ten Mar sala« bezah len muß ten. Kurz dar auf lüm -

melte sich der nord deut sche Laden schwen gel zu

uns, der bereits Fon ta nas Inti mus gewor den war,

weil er ihn »Herr Doc tor« nannte und gele gent lich,

wenn der Herr Doc tor so voll war, daß er nicht

mehr krie chen konnte, über die Trep pen in seine im

drit ten Stock werk gele gene Woh nung hin aus bugs -

ierte.

Die Ver blö dung und der auf nichts basie rende

Grö ßen wahn, die frech gewor dene Para lyse reich -

ten sich brü der lich die Hand.

Wir bra chen aus. Es war spät gewor den.

Zunächst begab sich die ganze Gesell schaft ins

Kaf fee haus. Fon tana gieng Arm in Arm mit dem

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Buch füh rer einer gro ßen Sei den firma, einem

dicken Sach sen, ein sonst ganz gemüth li ches, fide les

Haus, der aber, wenn er ein wenig zu viel hin ter die

Binde gegos sen hatte, schreck lich emp find lich

wurde. Sein Beglei ter unter hielt ihn, noch mehr

aber schien er sich selbst zu amü sie ren, denn seine

ziem lich lau ten Reden unter brach nach jedem Satz

ein wie hern des Geläch ter. Er unter nahm soeben

einen sei ner belieb ten Ritte ins roman ti sche Land

auf dem Bor stent hiere. Ich war gewiß nie ein

Prüder. Im Gegen theile, ich liebte stets das Cynisch-

Fre che, weil meine inner ste Natur zum Ver nei nen,

zum Spöt teln, zum Mephi sto phe li schen hin neigte.

Aber die ses Schwein paukte in einem fort Moral

und wühlte dabei der art im Dreck, daß sein letz ter

Gedanke infi ciert wurde, der etwa noch nicht von

der Stick luft der Kneipe durch stän kert war.

Im Café setz ten sich die Her ren an ein paar

runde, anein an der ge rück te Mar mor ti sche.

Wir gien gen zum Spiel tisch, Ernst, ich, Fon tana

und ein dicker Medi ci ner mit einem unend lich

geistlosen, auf ge duns enen Castra ten ge sicht, der

auch zu den Lieb lin gen Fon ta nas zählte und dafür

das mehr als zwei fel hafte Ver gnü gen in den Kauf

nehmen mußte, sich von dem schmie ri gen, stets

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betrun ke nen, stets halb wahn sin ni gen Renom mi -

sten auf sei nen wan sti gen Bauch und seine unförm -

li chen, schwam mi gen Schen kel klop fen zu las sen.

Mich ekelte es oft der art, daß es mich würgte. Syste -

ma tisch ritt sich Fon tana in eine Per ver si tät hin ein,

zu der ihn seine frü he ren Lei den schaf ten ohne hin

prä de sti niert hat ten.

Wäh rend wir spiel ten, begann der nord deut sche

Laden schwen gel mit sei ner ers of fe nen, wein rau hen

Stimme über mich und mein Beneh men los zu zie -

hen. Es riß mir plötz lich die Geduld, nicht, daß

mir das Urt heil die ses geschnie gel ten, kri tisch ganz

impo ten ten und incom pe ten ten Laf fen auch nur

im gering sten nahe gegan gen wäre. Aber ich war

gereizt, irri tiert bis zur krank haf ten Erreg bar keit.

Mit schnei den der, schar fer Stimme rea gierte ich.

Sofort trat Ruhe ein. Man zog jetzt im Flü ster töne

über mich los. Fon tana machte eine bis sige Bemer -

kung. Eine unge mein bor nierte Scha den freude

leuch tete aus sei nen gestiel ten Krebs au gen. Er war

ganz selig, daß ich nach sei ner Mei nung eins abge -

kriegt hatte, denn er selbst traute sich in sei ner krie -

che ri schen Feig heit nie offen an mich heran. Die

Bestie biß mit eit rig-fau lem Zahn mir tückisch, unge -

se hen, von hin ten in die Waden.

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Ernst meinte sehr ruhig: »Knut hat Recht.«

Ich begann ner vös zu spie len, dabei machte es

Fon tana mir unmög lich, die Points zu zäh len. Er

spielte direct trot tel haft, bil dete sich aber natür lich

ein, auch in die ser Kunst ein Mei ster zu sein.

Ich warf die Kar ten hin, hef tig, so daß Couer-Aß

Fon tana ins Gesicht sprang, zahlte und schick te

mich an, das Local zu ver las sen. Bevor ich auf die

Straße trat, sagte ich den Her ren, die mich mit ihren

über näch ti gen, ver sumpf ten Gesich tern blöd an -

stier ten, meine Mei nung. Einige ver such ten, eine

Ent schul di gung zu stam meln, aber die Worte wur -

den durch ein rülp sen des Kol lern erstickt. Der

dicke, »gemied li che« Sachse wollte einen Streit an -

schei nend ver mie den wis sen und meinte, er hätte

eine belei di gende Rede über mich über haupt nicht

zuge las sen. Als ob mich die ses Hun de pack je hätte

Belei di gen kön nen! Ich drück te ihm die Hand, und

ein paar nichts sa gende Worte mei ner seits soll ten

ihn beru hi gen. Dann wurde mir die ganze Ge -

schichte plötz lich unge heuer gleich gil tig, sogar

Fontana, der einen fei gen, scheuen, bos haf ten Sei -

ten blick auf mich warf und, da er sich nicht allein

wußte, ziem lich laut den etwas ein ge schüch ter ten

Ben geln Recht gab. Ich drehte mich aus den

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Hacken um und ver ließ den bereits bis zur Uner -

träg lich keit dun stig gewor de nen Raum.

Ernst, der dicke Medi ci ner und die rup pige Bestie

folgten mir auf dem Fuße nach. Drau ßen erfa ßte

mich plötz lich wie der eine wilde, uner klär li che

Wuth. Meine sonst so klare, ruhig höh nende

Stimme klang zit ternd, hei ser und rauh, als ich

mir jede Ein mi schung sei tens eines Unbe ru fe nen

ver bat.

Fon tana ent geg nete mir mit einer ans Fabel hafte

gren zen den Unver schämt heit, er habe aus Mit leid

mit mir so gehan delt, denn er habe durch seine

Inter ven tion es für mög lich machen wol len, daß

ich noch wei ter in die ser Gesell schaft ver keh ren

könne.

Meine Ant wort war wohl rück sichtslos, sie be -

rührte einen Punkt in mei nes Wider parts schmut zi -

ger Ver gan gen heit, der ihn schmerzte, so bar alles

Ehr ge füh les er auch war, und alle seine Moral und

Ent rü stung schur ki sche Heu che lei. Er wußte sich

in sei ner tol len Rase rei nicht anders mehr zu hel fen,

als daß er mir ein unsäg lich gemei nes Wort zurief,

des sen sich selbst betrun kene Kut scher knechte

schä men wür den, wenn sie nicht gerade auf einem

selbst bei dem ver bit tert sten Pro le ta riate sel ten

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vorkommenden nied ri gen Grade der Fein füh lig keit

und des Anstan des ste hen.

Wie der schloß mir, wie schon so oft, der Ekel den

Mund. Die tiefe Ver ach tung, wel che ich vor die sem

Men schen hegte, hatte es oft mög lich gemacht, daß

ich irgend eine Belei di gung sei ner seits ertrug, wel -

che mir nie mals ein ande rer unge straft hätte

zuschleu dern dür fen. Aber diese durch ein Wür ge -

ge fühl in der Kehle erkaufte Ruhe hielt nur einen

Augen blick an, nur eine kurze, unbe re chen bar

kurze Zeit, kaum eine Secunde. Mir war, als ge -

riethe mein Kör per in Vibra tion, meine Ner ven

guck ten und krümm ten sich, und ich fühlte diese

Zuckungen und Krüm mun gen und fein sten

Schwin gun gen wie einen ste chen den, athem be klem -

men den Schmerz. Ich mußte los bre chen, der Streit

artete in kur zem zu einem wider li chen Schau spiele

aus. Die Lei den schaf ten, auf ihre höch ste Spitze

getrie ben, prall ten gegen ein an der. Der lang ver hal -

tene, täg lich geschürte Groll machte sich end lich

Luft.

Fon tana fühlte mei nem ätzen den Hohne gegen -

über, daß er der Schwä chere sei. All der bit te ren

Ironie, die vor Ernst sein gan zes Lügen ge webe zer -

riß und ihn in sei ner jäm mer li chen Nackt heit zeigte,

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all mei ner grau sa men Zer glie de rung sei ner nied ri -

gen psy chi schen Orga ni sa tion gegen über war er

macht los, fand er kein ande res Wort als eine Unflä -

tig keit, wie sie betrun kene Zuhäl ter ein an der an

den Kopf schleu dern.

Als wir vor sei nem Hause ange langt waren, gab

er mit einer gewis sen, ganz grund lo sen Prot zen haf -

tig keit, wel che er sich in letz te rer Zeit ange wöhnt

hatte, dem dicken Medi ci ner die Hand und ver ab -

schie dete sich krie chend wie immer von Ernst.

Dann wollte er auch mir, als sei nichts vor ge fal len,

die Hand rei chen. In dem Augen blic ke riß mich

Ernst fort, er fühlte wohl instinc tiv, ich sei am

Rande. Ich hatte mei nen Feind am lieb sten ange -

spuckt. Ich sprach mich zum ersten male hart mit

Ernst. Mich ärgerte seine völ lige Teil nahms lo sig -

keit, er hätte am lieb sten Fon tana ent schul digt. Ich

ließ ihn plötz lich nach einem kur zen, kal ten Gruße

ste hen. Zum ersten male stieg eine Bit ter keit in mir

auf, zum ersten male wollte ich nicht mehr aus -

schließ lich geben, ich wollte auch emp fan gen. Ich

emp fand seine Schuld, seine Ver pflich tung mir

gegen über. Ich hatte den, der Ernst so gemein ange -

grif fen hätte, nie der ge schla gen. Er über wand sich

förm lich zu dem küh len Zuge ständ nis, er könne

das Vor ge hen Fon ta nas nicht bil li gen.

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Seit die ser Nacht wur den wir ein an der gegen über

miß trauischer, käl ter. Ernst fieng an, sich von mir

zurück zuziehen, erst ganz unmerk lich. Dann ver -

hielt er sich jedoch immer schrof fer, immer her aus -

for dern der. Er suchte absicht lich den Ver kehr mit

Fon tana mehr wie frü her auf und ver mied den mei -

nen. Seine frü he ren lie bens wür di gen Neckereien

ver wan del ten sich in bei ßende Iro nie.

Anfangs litt ich blu tig. Ich durfte ihn nicht auf ge -

ben, durfte ihn nicht ver lie ren. Wie der zurück fallen

in jene Dumpf heit, jenes lang same, hoff nungs lose

Ster ben der nach Leben schrei en den Seele, wie der

die alte Qual, ein sam ein her schrei ten zu müs sen,

ein sam unter einem toben den Schwall, einem

zuckenden Stru del von tau sen den von Men schen,

die einen alle mit so kal ten, frem den Lei chen au gen

anstar ren. Ich kämpfte mit aller Gewalt gegen mei -

nen Stolz, der mir gebie te risch zuraunte: »Laß ihn

sei ner Wege zie hen!« Umsonst!

Die Lei den schaft, wel che mich an ihn ket tete, ver -

schwand zwar nicht mit der sel ben Plötz lich keit wie

seine Sym pa thie für mich, aber sie wurde krank

und müde und sehnte sich nach dem Erlö schen.

Und bald fühlte ich es, sie wurde unheil bar krank.

Es gab für sie keine Ret tung mehr. Dafür kam ein

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neues Sti mu lans über mich, das mich in ein fast lusti -

ges Exi ta tions sta dium ver setzte. Ein dämo ni scher,

ein unheim li cher, wahn sin ni ger Haß gegen Fon tana

fieng mich zu beherr schen an. Ich lebte mich ein in

den Gedan ken, ihn zu ver nich ten. Ich berauschte

mich an mei ner Rach be gierde. Alles Grau same,

alles Unmensch li che reizte mich. Ich begriff urplötz -

lich die Per ver si tät der jen igen, wel che sich an den

aus ge such te sten Qua len ande rer wei den. Ich ver -

göt terte die Ver thie rung und betete Nero an.

Und eine unbe kannte Ent schlie ßung trieb mich

fort. Ich mußte, mußte Mit tel und Wege ersin nen,

mir da einen vom Halse zu schaf fen, um dann mit

Ernst leich tes Spiel zu haben. Auch ihn dann weg -

schleu dern! Dann ganz, ganz allein auf der düstern

Höhe der Gewalt, der schrec kenlosen Ich sucht

thronen, allein, wert, gemie den und gehaßt zu wer -

den. Ein Cali gula, ein wahn sin ni ger Cäsar der

geistigen Größe, der tyran nisch-könig li chen Rück -

sichts losigkeit.

Denn ich bin der Ein zige, und mein Wille ist mein

Eigent hum, mein unend li cher Wille.

Warte, du blas ses Bürsch lein, du bist nicht der,

der mich unge straft ver wun den kann, du sollst mir

meine Liebe theuer zah len!

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Und wer kann mir Halt gebie ten, wenn meine

Rache mit ihrem gift trie fen den Schwerte mir mei -

nen Weg vor schreibt. Wer? Wer? Warum mir die

Qual, wei ter le ben zu müs sen ohne Ruhe, ohne

einen befrei en den Athem zug, weil einer, den ich in

ehr li chem Kampfe nicht besie gen kann, mei nen

Haß nicht ein schlum mern läßt. Die sen blu ti gen,

quä len den Haß!

Mord! Meu chel mord!

Plötz lich sprach ich das Wort ganz ruhig aus,

ohne fürs erste etwas dabei zu den ken, immer nur

so für mich hin, ohne den Lau ten einen Sinn unter -

zu le gen, ohne mit dem gespro che nen Wort eine Vor -

stel lung in mei nem Innern zu erwec ken. Ich freute

mich an der Anein an der rei hung der Kon so nan ten

und Vocale, an dem Frem den, Baroc ken, das jedes

noch so häu fig gespro chene Wort einer Spra che

gewinnt, wenn wir es so lange hin ter ein an der aus -

spre chen und so oft wie der ho len, bis uns die Vor -

stel lung, wel che wir damit ver bin den, ver lo ren

geht.

Und dann ließ es mich nicht mehr los. Mit

unförm li cher Klar heit, in grel len, ewi gen, schar fen

Con tou ren stand das ganze Bild vor mei ner Seele,

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hart, rauh, ober mit ver blüf fen der Sicher heit

gezeich net.

Und ich wußte auf ein mal ganz genau, ich werde

so han deln, jetzt, heute, auf der Stelle oder mor gen,

wenn ich Gele gen heit haben werbe. Da schwand

mein Haß gegen Fon tana und meine Ver bit te rung

gegen Ernst.

Ruhig wollte ich mor den, ruhig, voll Seelen -

frieden.

19.

Seit dem war tete ich nur auf eine Gele gen heit. Ich

ließ Fon tana nicht mehr aus den Augen. Mit Ernst

war es zu einer, anschei nend letz ten Aus ein an ders et -

zung gekom men. Er hatte sich mir gegen über in

einer Gesell schaft der art takt los benom men, daß

selbst Fon tana, der sich aus nahms weise in halb -

wegs zurech nungs fä hi gem Zustande befand, das

Pein li che, das nicht nur für mich, son dern auch für

die ganze Umge bung bestand, fühlte, und mir mit

ein paar Wor ten, wel che den unan ge neh men Ein -

druck, den die Situa tion bei den Unbe thei lig ten her -

vor rief, zu Hilfe kam.

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Im näch sten Augen blic ke haßte ich Ernst. Er, den

ich so sehr geliebt hatte, that mir die Schmach an,

von mei nem ärg sten Feind gleich sam eine Wohl that

dan kend quit tie ren zu müs sen.

Aber sofort kehrte sich alle Wuth und alle Ver bit -

te rung gegen den Anstif ter des gan zen Unheils.

Mord! Mord! schrie alles in mir.

Und ich sah seine braune, stumpfe, rauh be -

haarte Hand wie die eines Affen über die Tisch -

kante hängen, deren gedun sene, plumpe Fin ger mit

den schmut zi gen Nägeln eine bren nende Cigarre

dreh ten.

Und alles stand mir sofort klar.

Mich kit zelte es am Rücken, daß es mich schüt -

telte. So ein fach, so unend lich ein fach war also ein

Mord. So ein fach, so sim pel wie das Wort selbst mit

sei nen vier Buch sta ben und dem ein zi gen, dump fen

Vocal.

Ich sah auf die ser rohen Bau ern hand die mit

Blut gefüll ten, sub cu ta nen Venen strot zend und

höckerig her vor tre ten. Ein fei nes Capil lar rohr aus

Glas mit einer nadel fei nen Spitze in eine die ser

Blutadern getrie ben, ein — zwei — drei tiefe Athem -

züge, das Rohr an die Lip pen — und schon!

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Schon wur den Luft bla sen in die Blut bahn ge -

schleu dert. Der Blut strom ver schleppt sie inner halb

des Kör pers, und auf diese Weise ent steht die soge -

nannte Luf tem bo lie. Da der Druck in den gro ßen

Venen stäm men, wenig stens zeit weise, nega tiv ist,

wirb bei Ver let zun gen sol cher nicht sel ten Luft in

sie gesaugt und gelangt mit dem Blut, dem rot hen,

pric kelnden Blut in den rech ten Ven tri kel und

zum Theil in die Lun gen. In dem Ven tri kel blei ben

grö ßere Luft men gen ste hen, weil durch die Con -

trac tion des Her zens die ela sti sche Luft zwar com -

pri miert, nicht aber wei ter be för dert wer den kann,

und diese Luft bla sen haben durch Cir cu la tions stö -

rung einen leta len Aus gang zur Folge.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Und ich betrach tete unaus ge setzt diese braune, häß -

li che, an den Fin ger spit zen von Tabak saft gelb ge -

färbte, ange beizte Hand mit den schlauch ar tig

geschwol le nen, sub cu ta nen Venen, diese Hand, die

über die Tisch kante hieng und mit ihren Fin gern

eine schwe lende Cigarre drehte.

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20.

Eine feucht-warme Thau nacht. Schwere, laue, glit -

sche rige Trop fen fie len von den mit zer schmel zen -

dem Schnee bela ste ten Ästen der Bäume, wel che

win ter matt über die Gar ten mau ern hien gen. Die

Gas flam men brann ten wie Tod ten lich ter, trüb und

mit klei nen, schmut zi gen, flac kernden Flämm chen.

Ich schritt durch eine, öde, größ tent heils von Gar -

ten mau ern ein ge fa ßte Gasse dahin. Breii ger Schnee

bedeck te meine Schul tern, wo er sich ganz auf lö ste

und zwi schen den Irr we gen mei nes brei ten Astra -

chan kra gens kei nen Aus weg mehr fand, son dern

sich ver irrte und aller hand kleine Seen und Tüm pel

bil dete, die end lich über ström ten und über meine

Brust her un ter flos sen. Die Ciga rette schwelte und

ver kohlte, statt zu ver bren nen. Übri gens war ihr

Papier auf ge weicht und ris sig gewor den.

Der kleb rige, braune Schnee pappte sich in gro -

ßen, brei ten, dün nen Schol len an die Fuß soh len

und drang zwi schen den Näh ten des Schuh wer kes

hin durch. Nir gends ein Wagen. Ich schritt kräf tig

aus. Am Ende der Gasse, links, schim merte eine

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Reihe gro ßer, mit roth gel ben, zuge zo ge nen Vor hän -

gen bedeck ter Fen ster in ziem lich grel lem, aber

unbe stimm ten Licht. Ich über schritt die Straße, vor -

sich tig den unzäh li gen Pfüt zen aus wei chend, und

betrat das große, aber um diese Zeit stets leere

Kaffeehaus.

Ich bestellte einen Absynth. Das Local schien

ganz leer zu sein. Nur am Ende im Dun kel schien

einer an einem run den Mar mor tisch chen zu sit zen.

Sein Kopf lag, auf die Flä che der lin ken Hand

gestützt, schwer auf der Platte.

Diese dumpfe Stille wurde mir uner träg lich. Ich

wollte helle, leise, wei che Klänge hören.

Auf einen Wink deck te der Gar çon das Bil lard

auf, gerade gegen über dem anschei nend schla fen -

den Manne. Er drehte den über dem Brett schwe -

ben den Gas arm und ent zün dete ein grel les, wei ßes,

schrei en des Licht.

Die lei sen Töne, die jedem Stoße folgten, schlä fer -

ten mich in eine süße Ver ges sen heit ein.

Ein tie fer, gröh len der Seuf zer mei nes Gegen über

weck te mich. Er schien fort zu schla fen. Etwas

Unbe wu ß tes, Impul si ves trieb mich an, näher zu tre -

ten, ihn zu betrach ten. Ich warf den Queue auf das

grüne Tuch.

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Abmar kie ren!

Ich stand dem Schlä fer gegen über. Die rechte

Hand hieng über das Tisch chen, so daß die sub cu ta -

nen Venen infolge des Blu tan dran ges stark ange -

schwol len waren. Ja, das war der schmie rige,

bier be fleck te, blaue Rock, das seine faden, brau -

nen, bor sti gen Haare und das der ganze ekel hafte

Bier ge ruch, den Fon tana um diese Zeit stets aus -

strömte.

Im sel ben Augen blic ke stand die Hal lu ci na tion,

die mich wochen lang ver folgt hatte, wie der vor

mir, aber dies mal als etwas Faß ba res, Rea les.

Und ich begann sogleich zu han deln, wie unter

Auto sug ge stion.

Alles über Bord, was mir hin dernd in den Weg

tritt! Zuerst du infame Idee der Mensch lich keit,

feige Furcht: Du sollst nicht mor den! Und warum?

Recht, Gesetz und Sitte, die Mensch lich keit ver -

bie ten es!

Ich aber sage es euch, ich leite alles Recht und alle

Berech ti gung nur aus mir her.

Ich darf alles thun, des sen ich fähig bin. Ich bin

berech tigt, einen Apfel zu steh len, wie ich Jupi ter,

Allah, Brahma, Ormuzd stür zen kann — wenn ich’s

kann. Wenn ein fran zö si scher Grenz gen darm auf

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einen spa ni schen Schmugg ler schießt, so hält er sich

für berech tigt, zu mor den, indem er auf eine höhere

Auto ri tät I. E. CUM IURE seine Plempe los drückt.

Ich bin aber durch mich berech tigt, zu mor den,

durch mich ganz allein. Unrecht wird es nur, wenn

ich mir selbst den Mord ver biete, wenn ich ihn zum

Unrecht mache.

Nur zu dem bin ich nicht berech tigt, was ich nicht

mit freiem Muthe thue, wozu ich mich selbst nicht

berech tige.

Stec ke ich denn noch in den Kin der schu hen der

Huma ni täts-Duse lei, oder habe ich die Nar ren lap -

pen der pfäf fi schen Demuth noch nicht abge schüt -

telt, so mag mir Scla ven recht gesche hen und mein

Gewis sen soll mich hän gen.

Ich, ich allein ent scheide in mei ner Gott über le gen -

heit, ob es mir das Rechte ist. Außer mir gibt es kein

für mich ver bind li ches Recht. Ist mir etwas recht,

so ist es recht.

Mög lich, daß es darum dem andern noch nicht

recht ist, dem gröh len den Schlä fer da drü ben, das

ist seine Sorge, nicht meine; möge er sich weh ren.

Und wenn er nicht kann? Ja, nun das ist ganz allein

seine Sache, er ist in meine Hand gege ben, hätte er

bei Zei ten dafür gesorgt, daß sich dies nicht ereig net

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hätte. Und ist etwas der gan zen Welt nicht recht,

mir aber ist es recht, ich will es, so schere ich mich

den Teu fel um diese ganze Welt.

So mache ich’s, der ich nun gelernt habe, mich zu

schät zen. Denn meine Gewalt geht vor des andern

Recht, wenn seine Macht gerin ger ist, und zwar mit

vol lem Rechte.

Komm, laß mich dich noch ein mal zerpf lüc ken in

dei ner gan zen Erbärm lich keit, ehe du ein stin ken -

des Aas wirst.

Und was wei ter? Einer weni ger von den mora -

lisch Gei stes kran ken, wel che den eigent li chen Un -

ter grund zu dem Boden bil den, aus wel chem die

her vor ge hen, wel che der all weise Vater Staat als

Ver bre cher auf Num mer Sicher bringt, oder die wel -

che der lei Indi vi duen schaf fen. Der Staat statte mir

dafür gebüh ren den Dank ab.

Da schläft der jam mer volle Lebens gauk ler in

stump fer Trun ken heit. Um mor gen sein Pos sen le -

ben wie der zu begin nen?

Er rauchte Tra bu cos und litt dabei Hun ger. Der

Typus des Mono ma nen. Er strebte nach der ersten

Stelle in sei ner Wirts haus ge sell schaft und hielt den

Schank knech ten poli ti sche Vor träge. Einer jener

uner müd li chen Spre cher, die nie mals imstande

Page 89: Arnold Hagenauer Muspilli - m.ngiyaw-ebooks.org filemen Stel len, wo s ie neben ihm ger uht hatte. Und all sein Den ken erlosch, und es ward fin ster um einen bren nen den Ring, und

sind, ihren unver sieg li chen Rede fluß ein zu däm -

men, die ohne logi sche Gedan ken ver bin dung ins

Blaue hin ein re den und dann in Zorn gerat hen, weil

ihre Schlüsse dem wider spre chen, was sie sich vor -

ge nom men haben, auszu drüc ken. Zuwei len ergriff

ihn die unwi der steh li che Laune, die Steine des Stra -

ßen pfla sters, die Die len in sei nem Zim mer zu zäh -

len oder den stie ren Blick unaus ge setzt auf die

Spit zen sei ner plum pen Füße zu hef ten. Keine

Talente, keine selbst schöp fe ri schen Gedan ken, nur

ein gutes Gedächt nis, das sei nen Lip pen fort wäh -

rend schlecht ange brachte Citate ent strö men ließ.

Seine Phan ta sie war oft in reger Thä tig keit, und er

ver fiel gerade dadurch immer ins Abge schmack te,

Pos sen hafte und gelangte zu Schlüs sen, die vom

Uni ver sel len aufs Sin gu läre über gien gen. Unheil -

bar, wie er war, weil seine Krank heit eine ange bo -

rene, eine im Momente der Zeu gung vom Vater

über tra gene war, bil dete er sich ein, ein Genie zu

sein, wäh rend er von die sem doch nur das Krank -

hafte, Excen tri sche, nicht aber die schöp fe ri sche

Kraft besaß. Und mein Muth stieg, weil ich viel Ver -

wand tes mit ihm in mir fühlte, da auch mein Den -

ken, mein Füh len nicht mehr in mei ner Macht war,

son dern über mich die Macht gewon nen hatte.

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Morde, morde, morde, morde ihn, gebot mir

diese Kraft, die mich unauf hör lich wei ter stieß und

drängte.

21.

Da hielt ich also das bis zur hal ben Länge in eine

Mes sing hülse gefa ßte Glas rohr mit der nadel fei -

nen, schar fen, durch öhr ten Spitze. Und ich ließ

mich an sei ner Seite, neben die ser brau nen, schlaf -

fen, häß li chen Hand nie der in die rot hen, abge bla ß -

ten, wei chen Sam met kis sen, die an den Wän den

dahin lie fen.

Dann prüfte ich mit den Fin ger spit zen die feine

Endi gung. Ein lei ser Druck wird genü gen, und

zwei, drei tiefe, kräf tige Athem züge.

Fast ohne Wider stand drang das Instru ment

durch die Haut in die Vene. Ich beugte mich mit

halb, wie zum Lie bes kuß geöff ne ten Lip pen nie der.

Ein lang sa mer, tie fer, andäch ti ger Athem zug

schwellte meine Brust. Ich kam mir vor wie ein dem

Son nen gotte opfern der Helio ga bal.

O, wie süß ist doch der Mord! — — —

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— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Die Thüre, wel che von der Straße her ein führte,

ward hef tig zuge schla gen. Ver wor rene Stim men,

die unter ein an der und zurück durch die geschlos -

sene Thüre hin durch auf die Gasse rede ten, schol -

len an mein Ohr, ohne mich zu berüh ren.

Plötz lich — da, das war Ern stens Stimme. Und

nun stürm ten sie alle vor wärts, ent le dig ten sich

unter Lachen und Schreien ihrer Schirme, Stöc ke,

Gal lo schen, Hüte und Über röc ke, occu pier ten die

Bil lards, bestell ten Kaf fee, Thee, Bier, Cigar ren,

Ciga ret ten.

Das Rohr ent glitt mei ner Hand, fiel auf den Fuß -

bo den und zer brach mit lei sem Geklirr.

Ich hieng mei nen Pelz um, stülpte mei nen Hut auf

und ver ließ, ohne zu zah len, ohne zu grü ßen, der

Zurufe mei ner Bekann ten unge ach tet, das Local.

Wie mir vor mir selbst ekelte!

Zu schwach, zu feige zum Ver bre chen!

Eine zuge schla gene Thür wirft deine ganze, gott -

ähn li che Nicht be ach tung alles des sen, was die Welt

gegen dich aus spie len könnte, über den Hau fen.

So geh denn zugrunde!

Dir werde dein Recht!

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22.

Und nun gab es zwi schen mir und Ernst nur noch

einen versteck ten Kampf, der ledig lich dar auf aus -

gieng, die nun unnütze, noch nicht ganz über wun -

dene Lei den schaft vol lends zu töd ten.

Er begann mich zu has sen, und ich wurde in

einem Ocean von unend li cher, idea ler, mysti scher,

trans cen den ta ler, geschlechts lo ser Liebe und blu ti -

gem Haß her um ge trie ben. Bald stürz ten die blaß -

lilafarbenen Wogen die ser süßen, eksta ti schen

Lei den schaft über mich fort, auf deren Sil ber käm -

men wie blei che, stumme See ro sen Erin ne run gen

schwam men, dann stie gen Blut ströme bis zu den

brei ten Hüf ten, aus denen die Mann bar keit ent -

schwun den war, seit eine Liebe, eine Eucha ri stie

über mein Ich herrschte, wel che die selbe Kraft

besaß, wie jene gren zen lose Hin gabe an den gekreu -

zig ten Hei land, der nur Che ru bim lie ben darf. O,

diese Far ben, diese Töne, diese Gesichte, die ich

sah, hörte und emp fand!

Ernst begann zu lei den.

Ich hatte nur noch einen schwe ren Kampf mit zu -

ma chen, nach die sem trat Ruhe ein, eine stumpfe

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Ruhe, die viel leicht durch ihre sopo röse Let har gie

diese ster bende Lei den schaft wie einen durch end -

lose, pein volle Qua len erschöpf ten Kran ken hätte

leise hin über schlum mern las sen, wenn sie nicht

noch ein mal, bei all ihren Schmer zen gepackt, er -

wacht wäre, um sich zu Tode zu rasen.

Vorerst kämpfte ich noch ein mal den letz ten

Kampf, aber aus sichts los. Denn nach dem noch ma -

li gen Erwa chen mei ner Liebe, nach die ser mar ter -

vol len Ago nie, hatte ich alle und jede Kraft

ver lo ren, und ich mußte das Ster ben mei ner zu

Tode gehetz ten Lei den schaft abwar ten, ohne einen

Fin ger rüh ren zu kön nen. Die ses Ster ben, das so

ent setz lich war und so lange dau erte, weil die Minu -

ten sich zu Jah ren dehn ten.

Ich besaß einige Gegen stände von Ernst, kleine

Anden ken, und wäh rend ich für deren Besit zer

nicht ein mal mehr Haß emp fand, da er mir voll kom -

men gleich gil tig gewor den war, wie ein Schuh lap -

pen, begann ich an die sen Tän de leien zu hän gen

und mich mit telst der sel ben in der raf fi nier te sten

Art und Weise selbst zu pei ni gen. Beson ders ein klei -

ner Bier krug mit einem zin ner nen Deckel, auf des -

sem Rande die Dedi ca tion ein gra viert war, war es,

wel chen ich oft stun den lang anstarrte, der mir alle

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Erin ne run gen, wel che mir lieb und wert waren,

ins Gedächt nis zurück rief. Die ser an und für sich

so unbe deu tende Gegen stand bewirkte bei mir

vermöge asso cia ti ver Bezie hung zu einer meine leb -

haf te sten Gefühle her vor ru fen den Gesammt vor stel -

lung, eine Art Hyp nose, einen sehr tie fen, dem

blo ßen Aus se hen nicht zukom men den Ein druck.

Diese psy cho lo gi sche Erschei nung erklärte ich mir

aus einem asso cia ti ven Gesetz, dem Gesetz der

Bezie hung einer Theil vor stel lung zur Gesammt vor -

stel lung, wobei das Ess en tielle die indi vi du elle

Gefühls be to nung der Theil vor stel lung im Sinne

eines Lust ge fühls war, das ich einst emp fun den

hatte.

Und indem ich diese troc kene Erklä rung tau send -

mal wie der holte, ließ mich der Fetisch end lich los.

23.

Ernst kri ti sierte sich selbst mit einer bös ar ti gen

Satire, mit einem gif ti gen Sar kas mus. Der Ver kehr

mit ihm wurde immer qual vol ler. Eine kalte Höf lich -

keit, ein mas kier tes Lächeln, das freund lich sein

sollte und höch stens ver le gen, bei nahe töl pel haft

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erschien, war alles, der ganze Umgang mit mir. Uns

bei den war die Ent frem dung, die uns aus ein an der

hielt, klar gewor den, aber wir waren zu feige, uns

die selbe ein zu ge ste hen und uns das tren nende

Wort ins Gesicht zu sagen. So schlepp ten wir

unsern Gefühls ca da ver stets mit uns herum, statt

ihn abseits irgendwo zu ver schar ren.

Die letz ten Tage stan den wir uns feind lich gegen -

über, weil wir uns quäl ten.

Mein ein sti ger Freund litt, aber er ver schloß sich.

Er war krank, und sein Schmerz erpre ßte ihm Kla -

gen, die eine eigene, wilde Müdig keit ath me ten, ein

Seh nen, ein Fürch ten, ein Wün schen und doch wie -

der ein Kämp fen gegen den Tod. Er ließ sich ster -

ben. Er wollte nicht mehr leben. Eine furcht bare

psy chi sche Neu rose schüt telte ihn. Ein Ver zwei feln

am Leben kön nen. Aber er schwieg.

Ich litt auch, bald, weil ich ihn ret ten, ihn wie der

glück lich machen wollte — ata vi sti sche Liebes -

reste — bald, weil ich mich ver dammte, da ich

noch — immer meine Abhän gig keit von ihm fühlte,

die Fes seln, wel che meine erstor bene Liebe zu ihm

noch immer um meine Brust schnür ten.

Nein, kein Weib, kei nen Freund!

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Und auf ein mal wußte ich klar und deut lich,

warum ich Fon tana nicht ermor det hatte. Warum

nur der große Muth zu die sem Mord fehlte, weil ich

nicht frei war, weil mich Rück sichten, Lei den schaf -

ten fes sel ten, viel leicht auch, weil mir noch ein Rest

der fluch wür dig sten alter Schwä chen, ein laten ter,

ver bor ge ner Rest von Mit leid geblie ben war.

Nein, kein Weib, kei nen Freund!

Keine Lei den schaft, keine Liebe, kei nen Haß,

kein Ehr ge fühl, keine Rache. Nur einen Drang,

einen hei li gen, gro ßen Drang nach schran ken lo ser

Zer stö rung.

Weg mit die ser Welt, die mich ane kelt, weg mit

ihr, weil sie mich ane kelt. Weg mit die ser gif ti gen,

ver pe ste ten Umge bung, in der alle Triebe ver küm -

mern, alle Lei den schaf ten ver krüp peln!

Blut und Trüm mer, der rie sige Schutt hau fen einer

zer schla ge nen, zer schmet ter ten Welt, die hin ge mor -

dete Lei che eines alters schwach gewor de nen, ver -

blö de ten Unge heu ers. Und aus die sen fau len den

Glie dern, aus die sem tod ten Rie se naas soll ein

neues Leben sprie ßen, ein Leben mit leuch ten den,

hel len Far ben, mit star ken Trie ben, mit nie zu sät ti -

gen den Lei den schaf ten, ein Leben des rei nen

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Kamp fes, weil Kampf die Freude und das Schöne

ist.

Und wenn die Men schen nicht mehr imstande

sind, mit ihren Lei chen die sen Rie sen dün ger hau fen

zu thür men, dann hin weg mit allen von ihnen, auch

mit den letz ten, bis nur ein tod tes, ewig schweig sa -

mes Trüm mer feld bleibt ohne die gering ste Stimme

des Lebens, ohne Seuf zer, ohne Sehn sucht, ohne

Qual und ohne Freude.

Dann fie len die Tage wie blei che Blät ter, und die

end lo sen Mächte mit ihren blas sen Gesich tern und

den schwar zen, schlep pen den Schlei ern ums Haupt

schrit ten lang sam, o so lang sam an nur vor bei.

Kein Ende!

Und dann kam immer die selbe Vision, so gegen

Mor gen. Ich sah Fon tana mit sei nem auf ge duns -

enen Alko hol ge sicht, mit sei nem schwam mi gen,

ekli chen Bauch in einem klei nen Gar ten sit zen, in

einem Spi tal für Unheil bare, von der Gicht ver zo -

gen und ver zerrt. Knor rige Geschwül ste, wie die

Aus wüchse der Rinde einer alten Eiche, spann ten

die rothe, glän zende, mit wei ßen Schüpp chen

bedeck te Haut um die Gelenke. Seine Füße waren

ver krümmt, wie zer trüm merte Hun dep fo ten, und

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auf sei nen Knien lagen die Hände, diese scheuß -

lichen, rot hen, schup pi gen Hände in ihrer brei för -

mi gen Unförm lich keit, an jedem Gliede ver kno tet,

die Nägel ver küm mert, zum Theile aus ge fal len.

Und der ganze Kör per schien ver stei nert, in einer

fal len den Lage, nach vorne, mit einer sanf ten Nei -

gung auf die linke Seite.

Und ich ihm gegen über mit dem blöd sin ni gen

Lächeln eines Para ly ti kers, dem der Spei chel unauf -

hör lich — tropf, tropf, tropf — aus dem gelähm ten,

lin ken Mund win kel floß.

Es reizte mich schließ lich zu einer sinn lo sen

Wuth, die ses Bild der ewi gen Abhän gig keit, dem

Ver ha ß ten macht los gegen über in einen Stuhl ge -

bannt, unfä hig, durch einen Druck der Hand sein

Lei den über ihn her auf zu be schwö ren oder zu ver -

meh ren, ewig ihm gegen über mit einem blö den

Lächeln auf den vom Spei chel ange ätz ten Lip pen.

So glaubte ich auch an eine Hölle.

Und mit minu tiö ser Sicher heit ver folgte ich diese

Vision bis zu ihrer embryo nal sten Gestal tung und

stö berte ihren Urschleim auf.

Da war sie, diese laue Nacht, wel che ein Föhn

durch to ste. Ich schritt nach Hause und begeg nete

Fon tana mit sei nem dicken Medi ci ner ein träch tig

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Arm in Arm daher wac kelnd. Des einen Glotz au gen

starr ten in erbärm lich vie hi scher Besof fen heit auf

das flim mernde Pfla ster, wäh rend er bei jedem

Schat ten eines Later nen pfah les seine Beine hoch

hob, in der Mei nung, eine Lache zu über sprin gen,

der andere trot telte mit der Gut müt hig keit eines

dumm kol ler igen Kar ren gau les neben ihm ein her,

mit sei nem von schlap pen Fett wül sten gepols ter ten

Schwei ne bauch und sei nem depra vier ten Faun ge -

sicht, dem Gesicht eines alten, ver blö de ten Faun.

Und seit dem, pfui hei li ger Teu fel, ließ mich durch

Monate diese Dreck fratze nicht los.

24.

Eines Nachts hatte ich einen abson der li chen

Traum, der mich merk wür dig erschreck te und

beun ru higte. Ich hatte mich bald zu Bette gelegt,

schlief aber erst gegen Mit ter nacht ein. Es war mir,

als ob ich aus sehr wei ter Ferne Har fen töne hören

würde, und plötz lich befand ich mich in Kopen ha -

gen. Ich kam von Fre der iks borg her ein und schritt

lang sam durch die Vester bro gade rechts am Tivoli

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vor bei und an den häß li chen Plan ken, die den Neu -

bau des Rath hau ses umge ben. Der schlanke

Thurm ragte hoch in die unend lich klare Luft.

Dann bog ich durch die Rath haus straße gegen den

Hafen hin ab, schlen derte am Thor wald sen-

Museum vor über über den Schlo ß platz, bei der

Börse vor bei gegen die Knip pels bro. Vor der Börse

blieb ich ste hen. Ich habe immer die sen herr li chen

Bau im Stile der fland ri schen Renais sance geliebt.

Dann winke ich den vier Dra chen zu, wel che den

Thurm des Gebäu des krö nen, indem sie, auf ihre

Tat zen gestützt, den Hin ter leib etwas in die Höhe

heben und ihre lan gen Schwänze steil-aufwärts

inein an der ver rin geln. Ich schöpfte tief Athem. Der

Wind wehte von Malmö her, von der schwe di schen

Küste. Ein lauer, lebens er wec kender Früh lings -

wind. Eine so feuchte, linde, geile Luft schmei chelte

über dem grün li chen Was ser des Hafens hin, um

die Schiffe und in die Stra ßen und platze hin ein, die

ziem lich men schen leer und stille waren. Vor der

Börse sta pelte man Ballen mit Fel len auf, die aus

den grön län di schen Colo nien gekom men waren.

Eine Dame im blauen Man tel gieng an mir vor über.

Sie führte ein klei nes Mäd chen an der Hand, das

einen gro ßen, grü nen Ball mit einem Affen dar auf

gegen seine Brust drück te und unge mein wich tig

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drein sah. Dann stand ich wie der vor der Chri sti ans -

borg und sah aus den rauch ge schwärz ten Sälen

durch die Höh len des ehe ma li gen Fen ster werks

einen Vogel her aus flie gen, gerade auf die Gebü sche

zu, die den Schlo ß platz mit ihrem ersten keu schen

Früh lings grün so lieb lich zie ren. Da war mir’s, als

gienge Ernst vor bei, er trug einen lan gen, dunk len

Rock und einen wei chen, grauen Hut und war sehr

blaß im Gesicht. Er kam von der Knip pels bro her

und schritt gegen die Höibro zu. Er gieng rasch an

mir vor bei, wandte aber sein Gesicht nach rechts

und deck te die Hand über die Augen. Das ver wun -

derte mich sehr, aber noch wäh rend ich dar über

nach dachte, wie er wohl hie her kom men möge, und

warum er mir aus wei che, stand ich hoch oben am

run den Thurm und blick te über die Stadt hin, die

heute rein und klar vor mir lag. Drau ßen glit zerte

im Son nen schein das Meer. Aus dem Fort von

Trekover stieg bläu li cher Rauch auf. Mir gegen -

über schim mer ten im ersten Stock eines ansehn li -

chen Gebäu des die gro ßen Fen ster des Restau rants

Alaska in der Sonne. Durch die Kry stall gade fuhr

ein schwer be la de ner Wagen. Auf ein mal wurde ich

in der Zeit um mehr als fünf zehn Jahre zurück -

versetzt. Ich stand mit einem Schul ka mer aden, den

ich einst gerne gese hen hatte, auf der Platt form des

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Thur mes. Die Mut ter hatte Jedem von uns 10 Öre

gege ben, und wir waren ganz selig, so hoch her -

oben über den Dächern zu sein und drau ßen das

Meer glit zern zu sehen und die Inseln. Dann, als wir

uns satt ge se hen hat ten, stie gen wir über die Trep -

pen und lie fen die mit Klin kern gepfla ster ten Gänge

hin un ter, die im Innern des Thur mes an Stelle einer

Stiege spi ra lig bis zum Aus gange füh ren. Da gieng

wie der Ernst an mir vor über, er schritt etwas vorn -

über gebeugt und blu tete im Gesicht. Und er sah

mich wie der nicht an. Als ich an der Uni ver si tät vor -

bei zur Frau en kir che kam, nahm ich meine Mütze

ab und trat ein. Da war’s aber wie der gar nicht die

Frau en kir che, son dern die Dorf kir che von Byrum

auf Laesö, wo ich gebo ren bin. Und in der Mitte

der Kir che stand ein schwarz ange stri che ner Sarg,

in dem lag ein jun ger Mann, der wie Ernst aus sah,

er hatte die Hände über der Brust gekreuzt und ein

weiß sei de nes Tuch um den Hals geschlun gen, wel -

ches voll rot her Flec ken war. Aus dem Sei ten schiff

der Kir che aber kam meine Mut ter auf mich zuge -

gan gen in einem schwar zen Kleid, und lächelte und

grü ßte mich freund lich. Da fien gen vor der Kir che

viele hun dert Nach ti gal len zu schla gen an, und

durch die schma len Fen ster brach die Sonne und

warf große, lichte Krin gel auf die Sei ten wände des

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Sar ges und das Ant litz des Tod ten. Meine Mut ter

aber strei chelte meine Wan gen und sagte plötz lich

sehr trau rig zu mir nur zwei Worte: »Min Lev« und

kniete sich hin. Ich ließ mich neben ihr nie der. Und

sie begann, mit lau ter und mir frem der Stimme das

Vater un ser zu spre chen. Und bei der sech sten Bitte:

»Und führe uns nicht in Ver su chung« wachte ich

auf. Ich lag schweiß ge ba det am Rücken. Es war

noch tiefe Nacht. Auf der Straße ras selte ein Wagen

vor über. Dann war es wie der ganz still. Und gegen

Mor gen begann es zu reg nen. Da schmolz der

Schnee und nun fieng es an, lang sam Früh ling zu

wer den.

25.

An einem küh len April abend saßen wir in einer rau -

chi gen Gast haus stube, an der Grenze zweier Vor -

orte, an einem leid lich anstän dig gedeck ten Tisch.

Ich war nur leib lich anwe send, mein Geist bewegte

sich in einer eigent hüm lich-baroc ken Traum welt,

fern von all dem, was ihn tags über bewegte und

quälte. Es war ziem lich unge müth lich. Die vor Fon -

tana in Ehr furcht erster bende Idio ten ge meinde,

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wel che hier all abend lich sich den Schweiß mit

Bier hin un ter spülte und den Wanst mit thie ri schem

Beha gen voll pfropfte, emp fand vor mir eine Art kin -

di scher Ver ach tung. Mich zog der Zwang der all täg -

lich durch Monate geüb ten Gewohn heit her, und

ein unbe stimm tes Gefühl, das mich antrieb, Ernst

zu beob ach ten, obwohl es mir schon gleich gil tig

gewor den war, ob er litt oder nicht, gerade so gleich -

gil tig, wie wenn er Bier trank oder Wein.

Fon tana schielte, mit den Augen zwin kernd, nach

mir her über. Sein neue ster Sport war, sei nen Freun -

den und Bekann ten und Bewun de rern gegen über

mich als Voll blut se mi ten zu decla rie ren, das machte

mir Spaß. Aber es fieng nach ge rade an, lang wei lig

zu wer den.

Die Idio ten schwie gen beharr lich. Meine Anwe -

sen heit schlug sie vor ihre Was ser köpfe. Umso

getra ge ner docierte Fon tana mit gro ßen Hand be we -

gun gen, von Zeit zu Zeit ein schmut zi ges Taschen -

tuch über seine nas sen, schor fi gen Lip pen füh rend.

Ernst stand früh auf. Er fragte mich, ob ich ihn

beglei ten wollte. Seit Wochen hatte er es ver mie -

den, mit mir allein zu sein.

Ich nick te bloß, nahm mei nen Über zie her vom

Haken, und dann alle diese rau hen oder schwam mi -

gen und feuch ten, unan ge neh men Hände in die

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mei nen und gieng. Wir schrit ten lange schweig sam

mit ein an der. Unru hige Lich ter lagen stel len weise in

den Stra ßen. Ich hörte den lang sa men, tie fen gequäl -

ten Athem zug die ser gro ßen Stadt, ich sah, wie sich

die Schat ten von dem Gemäuer der hohen, sich

unter ein an der völ lig glei chen den Häu ser los lö sten

und an uns vor über husch ten, ich hörte es aus den

Ecken kichern, alles gewann Leben, Ton und eine

unbe stimm bare, grau in grau ver schwim mende

Farbe. Mir war’s, als mäste sich in allen Win keln,

schmat zend und an ihrem gie ri gen Fraße kau end,

die Ent ar tung und scheu che alle ihre unzäh li gen

Opfer ruhe los vor sich her. Ich fühlte, wie auch ich

zu jenen Opfern gehörte.

Pfui Teu fel, auf ein mal kam mir vor mir sel ber

und mei ner gan zen Erbärm lich keit ein jäm mer li -

cher Ekel. Das war ja zum Speien, jawohl, zum

Speien. Pfui Teu fel!

Wir spra chen kein Wort mit ein an der. Ich fühlte es

jetzt: in die sem Augen blic ke ver ach tete ich Ernst.

Er war mir total schnuppe.

Ich rülp ste.

Wir schrit ten in einem kot hi gen Brei durch die

Stra ßen. Die Pfla ste rung hörte auf. Die Later nen

wur den immer spär li cher. Es war stock finster. Hie

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und da zuck te hin ter einem rot hen Vor hang ein stei -

ler Ker zen strei fen in die Höhe. Äh — die ser warme,

odiose Geschlechts ge ruch. Es machte mir ein höl li -

sches Ver gnü gen, recht tief durch den Koth zu stap -

fen. Jetzt hätte ich mich am lieb sten in die ser

breii gen Suhle gewälzt mit die sem Fon tana und ihn

abge schnüf felt, wie ein altes Mut ter schwein ein

verreck tes Aas abschnüf felt. Nein, konnte diese

Bestie komisch sein!

Wir gien gen längs der Festungs grä ben dahin, in

einem sau mä ßi gen Koth unter ent laub ten, schwar -

zen, nas sen Bäu men mit schmie ri ger Rinde und

halb ver faul ten, schwar zen Blät tern an den gich ti -

schen, ver krüp pel ten Ästen. Es roch nach nas ser

Erde und Ver we sung.

Diese nächt li che Wan de rung hatte gar kei nen

Zweck. Aber sie that uns bei den wohl.

Auf ein mal emp fand ich Lust, eine boden lose

Schwei ne rei zu bege hen. Es war aber gar keine Gele -

gen heit dazu vor han den, und ich wußte auch nicht,

was ich thun sollte. Das reizte mich so, daß sich

meine Thrä nen drü sen ent zün de ten. Ich hätte am

lieb sten auf ge heult, laut.

Aus Wuth stieg ich bis über die Knö chel im

Schmutz herum.

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Plötz lich blieb Ernst ste hen. Er begann zu spre -

chen, ganz unver mit telt, aus einem unwi der steh li -

chen Mit tei lungs be dürf nis, nicht aus Ver trauen wie

frü her. Meine Sinne ver wirr ten sich voll stän dig, ich

ver lor von allem Anfang an den Faden des Gesprä -

ches, faßte nichts auf, ich wußte nur, daß er sich

unglück lich fühlte, daß auch ihn ein so unsäg li cher

unde fi nier ba rer Ekel vor dem Leben und vor allem

über haupt erfaßt hatte. Ich hörte das Wort »Tod«

dann »nicht mehr wei ter, so nicht mehr wei ter

leben«. Mit einem male, wie durch einen Zau ber -

schlag erwachte meine ganze, alte, hei lige Lei den -

schaft wie der. Ich faßte stür misch seine Hand, fast

hätte ich sie geküßt. Was ich sagte, weiß ich heute

nicht mehr, habe ich viel mehr nie gewußt, ich weiß

nur, daß er mei nen lie be vol len, fast stür mi schen

Wor ten kühle Iro nie ent ge gen setzte, daß er immer

ruhi ger, fro sti ger, zurück haltender und ableh nen -

der wurde.

Dann benahm ich mich wie ein ver lieb ter, dum -

mer Gym na si ast. Meine Stimme brach vor ver hal te -

nen Thrä nen, aber meine Augen waren troc ken.

Ich weinte mit der Kehle. Ich bat ihn schließ lich,

mich mit zu neh men, wenn er in den Tod gehen

wollte, mich mit ihm ster ben zu las sen. Ich bet telte.

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Er zog sich höf lich, lächelnd, immer wei ter von

mir zurück.

End lich fragte ich ihn, warum er mich nicht mit ha -

ben wollte.

Er gab eine aus wei chende Ant wort.

Ich drängte ihn, schon stieg ein lei ser Grimm in

mir auf.

End lich sagte er ganz leicht und leise, aber unend -

lich belei di gend: »Weil ich glaube, mein lie ber

Knut, daß das alles für Dich doch nur — Reclame

sein soll. Das heißt, Du willst Reclame dar aus für

Dich machen. Du willst nur, daß man von Dir

spricht.«

In die sem Augen blic ke kam ich völ lig von Sin -

nen. Es folgte eine unbe schreib lich häß li che Scene.

Ich stürzte auf Ernst los und schlug ihn drei-, vier -

mal ins Gesicht, dann spuck te ich vor ihm aus und

trat nach ihm mit den Füßen.

Er wehrte sich nicht im gering sten. Er schlug auch

nicht zurück, nur bleich, sehr bleich war er gewor -

den; nie in mei nem Leben habe ich jemand so

bleich gese hen. Dann wandte er sich ohne das

gering ste Wort um und gieng auf recht mit leich ten,

aber festen Schrit ten gegen eine sehr hohe, graue

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Mauer zu und ver schwand. Ich sah nur noch, wie

über sei nen gan zen Rücken ein star kes Zit tern lief.

Dann warf ich mich der Länge nach in den

Schmutz. Es war mir eine Wol lust, mit mei nem

bren nen den Gesicht in dem nas sen, kal ten Koth zu

wüh len. Als ich auf stand, war ich ganz ruhig gewor -

den, nur hef ti gen Durst emp fand ich, sonst gar

nichts. Ich sah aus wie ein Schwein. Das war mir

aber gerade recht. Ich gieng in den ordi när sten

Brant wein la den und soff Gin wie ein Vieh. Wie ich

nach Hause kam, habe ich nie erfah ren. Aber ich

war vier Tage krank, und der Arzt war bei mir.

26.

Mich ver zehrte Tag und Nacht eine glü hende Rach -

sucht. An mei nem dämo ni schen Rache ver lan gen

konnte ich erst die Tita nen größe mei ner ein sti gen

Liebe ermes sen.

Inzwi schen sank ich immer tie fer. Täg lich war ich

jetzt besof fen. Immer von Brant wein. Schmut zig, in

mei nem Äußern ver nach läs sigt, schlich ich abends

oder früh mor gens am Fluß damm dahin mit stie -

rem Blick und stin ken dem Athem. Ich bemerkte,

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daß mich die Schutz män ner mit miß trauischem

Blick ansa hen, und öfter als ein mal gieng mir so ein

Hüter unse rer treff li chen »gött li chen und mensch li -

chen« Ord nung Hun derte von Schrit ten nach.

So in die sem Zustande traf ich ein mal sie, meine

kleine Sphynx. Sie gieng ganz ruhig mit ihrer

hohen, vol len, ela sti schen Gestalt ein her, in einen

wei ten Man tel ans rot hem Plüsch gehüllt. Nie habe

ich ihren Namen erfah ren. Sie gieng gleich mit mir

trotz mei nes Zustan des.

Seit jenem Tage trank ich nicht mehr und ver nach -

läs sigte mich nicht mehr. Ich haßte den Alko hol. Ich

berauschte mich am Geschlecht, manch mal sprach

oder schrieb ich sogar biblisch (alt te sta men ta risch

natür lich).

Nie habe ich so viel gegrü belt wie damals, trotz -

dem hatte ich die ruhige Gewiß heit, daß ich zu -

grunde gehen müsse, ganz elend, ganz gemein.

Aber ich wollte einen wür di gen Abschluß.

Wenn sie sich so lacer ten haft in die gelbe Seide

mei ner Decken ein bohrte, in die gelbe Seide, wel -

che mei nen Ner ven so wohl that, und ihren pral len

und doch wei chen, wei ßen Kör per dehnte und bog

und an den mei nen anschmiegte, wie eine Katze,

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wie eine schmeich le ri sche, wol lü stige Katze, das

war ein ganz eigen ar ti ger, ulki ger Kunst ge nuß.

Und wie sie duf tete.

Wie eine Rose, die in einer Schale voll Cognac

lag.

Meine kleine Sphynx, mit ihren per ver sen

Räthseln.

27.

Eines schö nen Tages kam sie nicht mehr. Da

begann ich zu phi lo so phie ren, ganz nach der Scha -

blone, von Kant über Hegel zu Scho pen hauer hin -

auf und zu Hart mann her un ter und wie der zu

Stir ner und Nietz sche hin auf.

Da waren einige ganz gött lich verrück te Kerle dar -

un ter.

Ich mußte eine Zeit lang von mir in der drit ten Per -

son spre chen, immer, wenn ich schrieb oder auch

nur an mich dachte. Warum, wußte ich nicht. Ich

glaubte eine Zeit lang, dies sei der Ein fluß der chi ne -

si schen Phi lo so phie, von der ich nie ein Ster bens -

wört chen gele sen hatte.

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Aber es war doch so.

Ich glaubte es ganz steif und fest.

28.

Auf ein mal wurde ich wie der ver nünf tig, so trau rig

ver nünf tig. Ich faßte in eini gen Minu ten mei nen

Plan, bes ser gesagt, irgend etwas Unbe stimm tes, so

etwas Sat tes, Grü nes zwang mir die sen Plan auf.

Zuerst mußte ich mit Fon tana ins Reine kom men.

Das war ein so net ter Kerl. Da mußte ich mich mit

Ekel voll sau fen wie ein Schwamm, den man in eine

Mistpfütze gewor fen hat. Und das brauchte ich, das

mußte ich haben.

Ich schrieb an ihn einen Brief, ganz demüt hig wie

ein Schul bub, es thue mir so sehr leid, mich ihm

gegen über so benom men zu haben, und ich möchte

gerne mit ihm reden.

Ich bekam sogleich eine Ant wort.

Er bestimmte mir für den andern Abend ein

kleines, ganz stil les Restau rant, wo uns nie mand

kannte.

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Den näch sten Tag gieng ich nach dem Diner zu

Ada, mei ner klei nen, blon den Ada mit dem frech -

sten Lachen der gan zen Welt. Aber heute hei terte

sie mich nicht auf. Wie der die ses ruhige Bewußt -

sein mei ner Feig heit. Ich werde es doch nicht thun

und darum zugrunde gehen müs sen, ganz elend,

ganz gemein. Ich dachte an Ernst. In ihrem Bette,

an ihrer Seite lebte ich noch ein mal — ich weiß nicht

zum wie viel sten Hun dert mal — diese Begra bene,

unse lige Lei den schaft durch, aber ins Sexu ell-Ero ti -

sche über setzt. Zum Duft der Tube rose der Hauch

der fri schen Kasta nien blüte. Dar aus könnte man

ein Toxon destil lie ren, das einen gerade so gemein

ster ben läßt, wie wenn man sich im Bor dell in den

Bauch schießt.

Ich gieng um acht Uhr abends weg und direct

nach dem von Fon tana bestimm ten Zusam men -

kunfts ort.

Als ich hin kam, waren in dem einen Zim mer, dem

ein zi gen, in wel chem weiß ge deck te Tische stan den,

die Gas flam men her un ter ge schraubt. Es war kein

Mensch hier. Ich setzte mich allein in eine Ecke und

ver zehrte einen in ran zi ger But ter gebra te nen Fisch

und bestellte sodann ein Glas brau nes Bier. Das

Zeug schmeck te fürch ter lich öd und fade.

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Ich saß so lange allein, wohl über eine gute

Stunde, daß ich gar nicht mehr wußte, warum ich

eigent lich her ge kom men war. Meine Gedan ken

weil ten bei einem ganz anderm Bild, das mich

namen los entzück te.

End lich kam Fon tana ange rückt, anschei nend

sehr geschäf tig, wie immer, in der Hand hielt er eine

Noten rolle, um den schmut zi gen, lan gen Hals trug

er ein wei ßes Sei den tuch. Daran werde ich den ken,

so lange ich lebe, es wird über dies nicht mehr lange

sein.

Die ses Tuch gehörte Ernst. Er hatte es sich ohne

Zwei fel von ihm aus ge lie hen.

»Du wirst mich schon ent schul di gen, lie ber

Knut«.

»…… Bitte, bitte«.

Wir kamen rasch ins Gespräch. Er saß natür lich

auf dem hohen Roß. Er tri um phierte, strahlte.

Anfangs wies er alle Annä he rungs ver su che mit

dem Hohn eines bar ba ri schen Sie gers zurück.

Dann that er so, als stellte er seine Bedin gun gen.

Ich mußte aller lei ver spre chen. Ich that alles, was er

wollte, wußte ich doch nicht ein mal, was ich ver -

sprach. Dann reichte er mir her ab las send die Hand

und wollte gehen. Als ich die selbe berührte, gieng

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es mir wie ein elek tri scher Schlag vom Wir bel bis

zur Zehe.

Jetzt nicht, jetzt nicht, schrie es in mir, jetzt wärest

du nichts imstande oder wür dest alles ver der ben

und dich ver ra ten.

Ich hielt ihn auf. Er that anfangs sehr pres siert.

Ich bestellte einige Fla schen Wein, Hoch hei mer,

und bezahlte sie sogleich vor sei nen Augen.

Da blieb er.

Ich trank unmä ßig. Ich wußte, heute würde ich

nie betrun ken wer den, und wenn ich den Sund trok -

ken legen müßte.

Fon tana goß sich übri gens auch in einem fort ein.

Seine Augen wur den bald wie die eines Kreb ses. Sie

saßen förm lich auf Stie len. Er wurde in kur zer Zeit

ganz fer tig. Natür lich war er nach der drit ten Fla -

sche in der rühr se lig sten Stim mung, es fehlte nicht

viel, so hätte er mich sei nen besten Freund gehei -

ßen.

Dann begann er, von fort wäh ren dem Gluck sen

unter bro chen, eine sal bungs volle Rede zu hal ten,

so ähn lich wie bei mir zu Hause der alte Pastor Kir -

sten, wenn er eine Heb amme ein seg net.

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Ich hörte aller dings nur den Schluß, denn die sen

gackerte er so hell her aus, wie eine Henne beim

Eier le gen:

»So wol len wir denn in unse rer gemein schaft li -

chen Zunei gung und Liebe zu Ernst wie der näher

tre ten und um sei net wil len alles Ver gan gene begra -

ben und ver ges sen sein las sen.«

Amen, brummte ich vor mich hin, dann pfiff ich;

es muß ein durch drin gen der Pfiff gewe sen sein.

Er ließ sei nen Bor sten kopf auf ein mal nie der sin -

ken und spie über die Tisch platte. Er wäre gleich

ein ge schla fen. Das gieng mir aber wider den Strich.

Ich brauchte ihn jetzt noth wen dig. Er war mir wirk -

lich ganz unent behr lich, er war ein Mist hau fen, mit

dem ich die Kraft mei ner Seele dün gen wollte. Ich

riß ihn auf, hieng ihm sei nen mit Fett flec ken über -

säe ten Man tel um und schleppte ihn müh sam ins

Kaf fee haus.

Grog, Grog, Grog.

Wei ter ist nichts zu berich ten.

Als es vier Uhr schlug, trieb ich zum Auf bruch.

Meine Zeit kam heran. Ich beglei tete ihn bis ans

Haus thor. Dort fiel er mir um den Hals, küßte mich

in die Lip pen hin ein und drück te mir warm die

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Hand. Mir war es jetzt ganz egal. Ich emp fand gar

nichts. So war es recht.

Ich sah, wie Fon tana hin ter sich nach lan gem

Bemü hen die Haus thüre schloß, kehrte mich auf

den Haken um, wie ein preu ßi scher Gar de lieu te -

nant und schritt pfei fend durch die lee ren Stra ßen.

Plötz lich hörte ich zu pfei fen auf. Ich durfte ja die

Auf merk sam keit durch nichts auf mich len ken.

Ganz ruhig gieng ich nun wei ter mit einem wie -

gen den, tän zeln den, fast zärt li chen Schritt.

29.

Mit ten auf dem Wege fiel mir ein, daß Ernst nicht

mehr bei sei ner Mut ter, son dern ganz allein

wohnte. Nicht ein mal bei einer Quar tier frau, er

besaß ein Zim mer und eine als Entrée ein ge rich tete

Küche. Mor gens um acht Uhr weck te ihn ein Lohn -

die ner und brachte die Bude in Ord nung. Das

wußte ich alles ganz genau. Gese hen hatte ich ihn

jedoch seit dem letz ten Auf tritte nicht mehr.

Wie gün stig, sagte ich ganz ruhig zu mir selbst,

indem ich wie der umkehrte, bei einer Gas la terne

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ste hen blieb und in mei nem blau plüs che nen Notiz -

buch blät terte, um seine neue Adresse zu fin den.

Nein, wirk lich, er wohnte ganz in der Nähe, keine

zehn Häu ser weit.

Wie gün stig, wie der holte ich.

Dann fiel mir erst ein, wie leicht sin nig ich gewe -

sen war, wie ich an gar nichts, aber rein an gar

nichts gedacht hatte. Nur so, nur unter die sen

Umstän den war über haupt die ganze Geschichte

mög lich.

Ich emp fand Freude, daß es so war, nicht weil es

so war, da ich nun auch wußte, daß ich eigent lich

von allem Anfang an instinc tiv gehan delt hatte. Ich

hielt viel auf den Instinct, mehr als auf den feinst

ange leg ten Plan.

Ja, der Instinct!

Jetzt konnte mir unter kei nen Umstän den etwas

gesche hen. Der letzte Rest von Beden ken oder

Furcht schwand, wenn ich über haupt je Beden ken

oder Furcht gehabt hätte.

Nein, nicht Furcht! Bewahre!

Aber so was Krib bel krab bel krau ses!

So was Krib bel krab bel krau ses, so was Krib bel -

krab bel krau ses!

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Ich hätte, mei ner Seele, bei nahe zum Sin gen ange -

fan gen. Aber da stand ich auch schon vor Ernsts

Hause.

Mit einem male wurde ich sehr beson nen. Ich sah

mich um — kein Mensch weit und breit. Ich nahm

meine breite Cra vatte ab und steck te sie in die

Tasche. Dann klinkte ich an der Thüre. Sie war

offen. Im Vor raum, nahe der Treppe, stand ein

Milch ei mer.

Aha, Vor sicht!

Im ersten Stock werke nie mand!

Rechts eine Glast hüre, aber ganz blind, dann ein

lan ger Gang. In dem sel ben war es stock finster.

Ich mußte ein Streich holz anzün den, um die Täfel -

chen mit den Num mern über den wei ß an ge stri che -

nen Dop pelt hü ren lesen zu kön nen. Das war

gefähr lich. Es galt rasch zu sein.

Num mer 13 — nichts. Num mer 14 — aha! Ich

hatte Glück. Schon die zweite Thüre war mein Ziel.

Ich drück te auf den Knopf der elek tri schen Klin gel.

Sie läu tete im Innern des Zim mers wohl laut, im

Gange klang es aber sehr gedämpft. Ernst kam mit

einer schlecht bren nen den, kup fer nen Lampe in

der Hand in lei ne nen Unter klei dern im näch sten

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Augen blick zu dem schma len Fen ster neben der

Thüre.

»Wer ist’s?«

»Ich.«

»Wer?«

»Ich.«

»Wer? Ich?«

»Ich, Knut.«

»Du —?«

»Ja, ja, mach auf.«

»Gleich.«

Der Schlüs sel drehte sich im Loch, ein mal, zwei -

mal. Ernst öff nete die Thür, nur ganz wenig und

ließ mich ein tre ten. Er lächelte erstaunt, fast mit lei -

dig, und schüt telte den Kopf.

»Ich habe mit Dir zu reden.«

»Nun so tritt ein, willst Du eine Schale Thee

trinken?«

»Ich bitte Dich darum.«

Ich trat ein und nahm am Divan Platz. »Du er -

laubst, daß ich mei nen Rock aus ziehe?«

»Thu, was Dir gefällt.«

»Ich schwitze näm lich, weißt Du?«

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»Aber bitte, genier Dich nur nicht.«

Er kochte Thee.

Wir schwie gen beide.

Als der Thee fer tig war, schenkte er mir und sich

eine Tasse voll und nahm neben mir am Divan

Platz.

»Willst Du lie ber Milch oder Cognac?«

»Cognac.«

»Hier, rechts von Dir steht die Fla sche. — — —

Aber Du greifst ja links, rechts, rechts von Dir.«

»Danke.«

Ich that sechs Löf fel in meine Tasse.

»Bitte, aber jetzt erzähle, was führt Dich zu mir?«

Statt aller Ant wort griff ich in meine Tasche und

führte sodann blitz schnell mit dem geöff ne ten, haar -

scharf geschlif fe nen Rasier mes ser einen Schnitt von

sei nem rech ten Ohr gegen den Kehl kopf. Er stieß

mich, ohne einen Laut von sich zu geben, mit Rie -

sen kraft zurück. Aber schon im näch sten Augen -

blick schnürte ich ihm die Kehle zu und schnitt tief

im Halb kreis wie der vom rech ten Ohr bis zum lin -

ken. Hei ßes Blut floß in strö men der Menge über

meine Fin ger. Ich ließ nicht nach, bis ich fühlte, daß

jeder Wider stand in ihm erlo schen war. Er mußte

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jetzt bewußt los sein. Ich sah ihm wäh rend des Gan -

zen fort wäh rend starr ins Gesicht. Es war wie ver -

steint, von der Blässe des rein sten, pari schen

Mar mors. Seine Augen waren zum Zer rei ßen weit

geöff net und starr ten mich mit einem Aus druck des

tödt lich sten Schrec kens, mit einem gro ßen Ver wun -

dern über das Unmög li che und nun doch Gesche -

hene an. In die sen Augen lag die Sühne für alle

Schmach, die ich um sei net wil len erlit ten hatte.

Der war nicht leicht gestor ben. Doch zuck te es

leise um seine Mund win kel. Die ein zige Bewe gung

in die ser star ren Maske. Der Blut strom wurde

schwä cher. Ich pre ßte meine Lip pen an die Wun -

drän der und schlürfte das Blut ein, lang sam, in gro -

ßen Trop fen, wie schwe ren, kost ba ren Wein, wie

eine sel tene Deli ca tesse. Es war köst lich.

Ein woh li ger Rausch kam über mich.

Plötz lich ekelte mich. Das war geron ne nes, klum -

pi ges Zeug. Ohne Zwei fel, jetzt war er todt.

Ich stand auf und sah mir in aller See len ruhe das

Zim mer an. Es war nur sehr ein fach ein ge rich tet.

Dann trat ich zu dem mit wei ßer Gla sur über tünch -

ten Wasch tisch, that einige Körn chen KALIUM

HYPERM AN GA NI CUM in ein geschlif fe nes Glas und

spülte mir den Mund aus. Über dem Lavoir aus

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Milch glas lag eine kleine Pin cette. Ich nahm die -

selbe zwi schen meine Fin ger, prüfte sie und trat vor

die Lei che. Es inter es sierte mich, zu erfah ren, wie

tief ich geschnit ten hatte. Ich fand auf dem por zel la -

ne nen Tin ten zeug eine rostige Strick nadel. Mit der -

sel ben son dierte ich die Wunde und suchte dann

mit der Pin cette das eine Ende der Caro tide zu fas -

sen. Es gelang mir aber erst nach gro ßer Mühe.

Mit mei nen Zäh nen ver suchte ich nun ein Stück

davon abzu bei ßen. Ich war es indes sen nicht

imstande. End lich schnitt ich einen Par ti kel mit der

Nagel scheere weg, wickelte ihn in rosa Sei den pa -

pier und that ihn in mein Porte mon naie. Ich wollte

doch auch eine Erin ne rung an die sen Mor gen mit

nach Hause neh men.

Ich trat sodann vor den Spie gel. Schreck lich sah

ich aus. Ganz unkennt lich. Bis in den Hals hin ein

mit Blut ver schmiert. Die Haare waren im Bart und

auf dem Kopfe zu einer stei fen Kru ste ver klebt. Das

Hemd war wie ein Schwamm. Ich unter suchte die

große, braun lac kierte Kanne. Kein Trop fen Was ser.

Auf den Zehen spit zen gieng ich in die Küche und

lugte auf den Gang. Es schien ganz öde zu sein.

Leise schritt ich zur Was ser lei tung und füllte die

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Kanne. Als ich den Deckel zuklappte, hörte ich, wie

jemand brummte:

»Guten Mor gen, Herr Ber mann«.

»Guten Mor gen ».

Es war schon ganz licht.

Ich drehte mich um. Eine Gestalt mit einem

Korbe stieg die Treppe ins zweite Stock werk empor.

Das war völ lig unge fähr lich.

Ich schloß mich aber mals sorg sam ein, schob den

Rie gel wie der vor und zog mein Hemd aus. Das

wollte ich hier las sen. Ich hatte vor sichts hal ber ein

ganz ein fa ches und unge merk tes Nacht hemd ange -

zo gen, daher, um Fon tana nicht auf zu fal len, die

breite Cra vatte. Ebenso muß ten der Kra gen und

die Man schet ten hier blei ben. Auch das war ganz

ohne Gefahr. Sie waren noch nie getra gen und vor

unge fähr zwei Jah ren auf einer Reise in Ham burg

gekauft wor den. Nie mand von mei nen Bekann ten

wußte, daß ich zufäl lig in Ham burg gewe sen war.

Dann wusch ich mir zuerst aufs sorg fäl tig ste die

Hände, rei nigte, beschnitt und feilte meine Nägel,

wusch mei nen Hals und meine Brust und mein

Gesicht und zuletzt die Haare mit Gly cer in seife.

Nicht eine Spur war mehr zu bemer ken.

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Ich unter suchte die Weste. Sie war voll klei ner

Sprit zer. Mit telst Was sers und Ern stens Nagel bür -

ste ent fernte ich sie jedoch voll stän dig. Die Hose

mußte ich mit Seife waschen bis zum Knie und

stark bür sten. Ich wusch sie drei mal, bis das Was ser

nur mehr die grau blaue Sei fen fär bung annahm. Ich

hatte die ganze Seife, ein gro ßes Stück, und das

gesammte Was ser ver braucht. Dann zog ich ein

Hemd Ern stens an, schnitt das Mono gramm her -

aus, ver brannte es, band einen Kra gen von ihm um,

that meine Knöpfe in ein Paar von sei nen Man schet -

ten und knüpfte meine Cra vatte zurecht. Als ich die

Weste eben ange zo gen hatte, klopfte und klinkte es

an der Thüre.

Der Lohn die ner.

Mein Athem stock te, mein Herz drohte stille zu

ste hen.

Unge fähr zwan zig mal klopfte und häm merte der

schreck liche Kerl. Dann ent fernte er sich mit schlür -

fen den Trit ten, brum mend, schimp fend.

Ich hörte so etwas wie:

Gelumpt — ver schla fen!

Ja, er schlief, und wie fest!

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Ich zit terte so, daß ich über eine halbe Stunde

brauchte, meine ganz mit Koth und Blut bespritz ten

Stie flet ten in dem dunk len Entrée zu bür sten und

blank zu wich sen. Die Hose, wel che noch ganz naß

war, klebte, als ich sie anzog, an meine Schen kel.

Der Rock lag, ganz rein, am Bette. Nun legte ich

mei nen lan gen, bis an die Knö chel rei chen den Cod -

ring ton an, bür stete mei nen stei fen, schwar zen Hut,

streifte die Hand schuhe über, ver ge wis serte mich,

ob ich nichts ver ges sen hätte, und betrach tete mich

aber mals aufs genaue ste im Spie gel. Kein Mensch

konnte erken nen, was ich vor eini gen Stun den get -

han hatte. Ich sah wie ein voll en de ter Gentle man

aus.

Wie der die ses pein li che Hin aus lu gen auf den

Gang. Teu fel, gerade vor der Woh nung tratsch ten

zwei Wei ber ins End lose. Und ich mußte jetzt

fort, wenn nun der Lohn die ner wie der kam. End -

lich, nach einer Ewig keit trenn ten sich die bei den

Hexen. Ich hörte zwei Thü ren zuschla gen, trat

rasch aus der Küche hin aus und sperrte die Thüre

hin ter mir ab. Im sel ben Augen blic ke fiel mir ein,

ich hatte mei nen Stock ver ges sen. Zurück! Ich war

so ver wirrt, daß ich ins Zim mer schritt und alles hin -

ter mir offen ließ. Als ich zurück kam, sah ich am

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Ende des Cor ri dors einen schlan ken Sol da ten ver -

schwin den. Er mußte an der offe nen Thür vor bei ge -

kom men sein. Jetzt schloß ich aber sorg sam zu. Fast

lau fend ver ließ ich das Haus. Nie mand begeg nete

mir, nie mand sah mich.

In der fri schen Luft wurde ich wie der ruhig. Lang -

sam schritt ich die breite, belebte Haupt straße hin -

un ter und warf ganz frech Ernsts Zim mer schlüs sel

in ein Kel ler loch. Am Ende der Straße blieb ich ste -

hen und über legte, was ich nun begin nen sollte.

Es war mir zu fade, nach Hause zu gehen.

Da fiel mir eine gro ß ar tige Idee ein. Jetzt in die ser

Stim mung wollte ich Kunst genie ßen.

Ich bog nach rechts und schlug den Weg zur

Gemäl de aus stel lung ein.

30.

Ich kam zur katho li schen Nor berts kir che, einem

klei nen unschein ba ren Bau aus dem Anfang unse -

res Jahr hun derts. Ich fühlte mich müde und ent -

schloß mich, einen Augen blick in der Kir che zu

rasten.

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Drin nen war’s däm me rig, und ein süß li cher

Duft von Weih rauch und ein war mer Hauch von

bren nen den Wachs ker zen erfüllte den engen

Raum, der durch seine unver hält nis mä ßige Höhe

noch zusam men ge drück ter erschien. Am Hoch -

altar las ein alter, weiß haa ri ger Prie ster in gold strot -

zen dem Gewand die Messe. Seine Bewe gun gen

waren voll und klar und von einer unend li chen

Würde. Ich stu dierte sofort ein ge hend die ganze

Regie kunst die ses so luxus ge brei te ten und fort wäh -

rend im Zuneh men begrif fe nen Glau bens und fand

sie bewun de rungs wür dig. Wie das alles klappte,

wie das auf Stim mung berech net war, wie far ben -

präch tig, welch eine lebend freu dige Ent sa gung,

was für ein echt künst le ri sches Para do xon!

Es waren fast gar keine Beter da. So ruhig, so still,

fast traut.

Es kit zelte mich in den Fin ger spit zen, als ob ich

Frost beu len gehabt hätte. Es kam so wie eine dich te -

ri sche Stim mung über mich. Ich habe das nie im

Rausch gehabt, aber nach allen Räu schen. Ich nahm

mein Notiz buch her aus, ein blau plüs che nes, abge -

grif fe nes Büchel chen in Gold schnitt mit einem Visi -

ten kar ten täsch chen und legte es vor mich hin auf

die Brü stung der höl zer nen Bank. Dann suchte

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ich in allen Rock- und Gilet ta schen nach einem

Bleistift.

Hier — das — nein, das war ein Zigar ren stum mel.

Schlam pe rei!

Ich warf ihn weg.

End lich ein unge spitz ter Stumpf.

Kein Taschen mes ser natür lich. Ich spitzte ihn mit

mei nen lan gen, har ten Nägeln und mei nen star ken,

aber plom bier ten Zäh nen, so gut es eben gieng.

Dann fieng ich zu »düch ten« an:

Schenk mir Deine blei chen Lip pen,

Klei nes, armes, kran kes Kind,

Ach, durch mei nes Stie fels Strip pen

Weht ein kal ter Wind!

Meine Hosen aus ge bis sen,

Und durch löchert meine Schuh,

So ist auch mein Herz zer ris sen

Und ver schlam pampt meine Ruh.

Nein, das gieng nicht recht, zu so was war hier

wohl nicht der rich tige Ort.

Ich wollte mich sam meln und sah den düstern,

engen Schacht empor. Gleich fieng’s mich wie der zu

kit zeln an. Dies mal ganz anders. Die Fin ger glit ten

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nur so übers Papier, wäh rend sie frü her träge dahin -

kro chen und bei jedem Schat ten strich wie ein Last -

wa gen ins Papier drück ten:

Rauch säu len mei nes Schmer zes

Stei gen qual mend

Zum hei tern Fir ma mente,

Zum Him mel empor,

Wo unter blauer,

Ster nen ge stick ter Decke

Der woh nen soll,

Zu dem Prie ster und Gläu bige,

Die Bett ler und die Ent erb ten,

Elende, Nack te und Gefan gene,

Die aus dem Para diese Aus ge sto ße nen,

Zu dem die alten Wei ber beten —

Und die Gro ßen der Erbe.

Und neben mir

Dampft’s turm hoch auf

Und wallt empor.

Die rau chige Flam mens äule derer,

Die zum Him mel schreien.

Aus den Lachen geron ne nen Blutes

Und sau ren, hei ßen Schwei ßes,

Aus den Wun den,

Die Gei ßeln schlu gen.

Mil lio nen Hände erhe ben sich

Über ewig gebeugte,

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Mit erze nen Jochen bela dene

Scla ven nac ken.

Und ich flehe und bete

Um einen Tropfen.

Um einen einzi gen Trop fen

Aus dem Urquell der ewigen Güte

Für das Flam men meer

Mei ner Qual und mei ner Schmach.

Doch heiter bleibt der Himmel,

Und mit dem fre chen Lächeln

Der las civen Gott se li gkeit

Auf den geschmink ten Lippen

Öffnen die Horen das Thor

Helios gol de nem Wagen.

Nied rig kriecht

Auf der schlam mi gen Erde

Der Rauch der Qua len op fer,

Denn der, der da dro ben wohnt,

Ist taub gewor den,

Denn es näseln

Tau send Pfaf fen,

Es beten tau send alte Wei ber,

Und seine Augen sind trüb,

Denn es streuen Weih rauch

Die Großen der Erde!

Gerade als ich fer tig gewor den war, setzte die

Orgel ein. Breite, qual mende Töne, die zäh und

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schwer wie flüs si ges Blei an den Wän den nie der -

ström ten. Ein wei ches Gefühl mysti scher Ver -

träumt heit hüllte mich ein und durch tränkte mich

förm lich, es floß durch meine Adern und strömte

zum Gehirn, und von da in alle Ner ven bis in ihre

fein sten Endi gun gen. Die engen Wände rück ten

aus ein an der, das Schiff der Kir che ver län gerte sich

ins End lose, fern in einem schwim men den Glanz,

von stei gen den Nebeln umge ben, leuch tete der

Hoch al tar. Das Bild der Madonna löste sich aus

seinem Rah men und schwebte, einen lan gen Licht -

streif nach sich zie hend, lächelnd auf mich zu. Selt -

same, lang ge zo gene Laute schlu gen an mein Ohr,

wie wei che Hände legte sich’s um Kopf und

Nacken.

Ich sank in die Knie und ließ mein Haupt tief, tief

auf meine Brust nie der sin ken. Dann hob ich es lang -

sam empor und beugte es in den Nacken zurück,

so daß einige Trop fen aus mei nem noch feuch ten

Haar mei nen Rücken hin un ter ran nen. Die Unter -

arme nach oben gebo gen, brei tete ich meine Hand -

flä chen aus, wie Chri stus auf den Bil dern der

ita lie ni schen Schule. Ich sah keine Wöl bung, nur

ein Blau von inten si ver Helle und end lo ser Uner -

gründ lich keit. Ich war nicht andäch tig, aber ich

mußte doch beten:

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Ich danke dir für die Kraft und den Muth, wel -

chen du mir gabst, du Fürst der Schmer zen. Ich

danke dir für den Stolz, der jetzt meine Brust hebt

und für die unbe schreib li che Wol lust der grö ß ten

Stunde mei nes Lebens, der Stunde, in der ich

Leben ver nich tete. Ich mag im kin di schen Zeu -

gungs tau mel schon Leben geschaf fen haben. Aber

was ist das gegen die Ver nich tung! Leben schaf fen

heißt arbei ten für den Tod, Leben zer stö ren heißt

Raum machen für neues Leben. Ich habe nichts,

was ich dir für diese Glo riole, die du mir ums

Haupt wobst, dar brin gen könnte, so opfere ich dir

denn diese Stunde selbst, und die sen Mord und all

sein Blut mit dem lieb li chen Duft auf. Laß es dir

ange nehm sein, und nimm es hin, der du gesagt

hast: »Dies ist mein Leib und dies ist mein Blut, trin -

ket davon!« Ich strec ke dir mei ner bei den Hände

Scha len ent ge gen, die noch vom Blute damp fen wie

Weih rauch kes sel. Denn dein ist die Welt und das

Reich und die Herr lich keit. Amen.

Und vor mir stand Chri stus mit einem hei lig-

frohen Lächeln, ganz nackt, den Dorn kranz auf, die

Brust, die Len den, den Lücken zer fleischt. Strom -

weise rann das Blut an ihm her nie der, und er trug

sei nen Bart und hatte seine Augen und sei nen Mund.

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Mit sei ner rech ten Hand rührte er an sein Herz, wel -

ches sofort barst. Neue, rothe, rau chende Spring -

quel len flo ßen her aus. Plötz lich hielt er einen

gol de nen Becher in der Hand und füllte ihn mit sei -

nem Blut und bot ihn mir dar. Aber ich konnte ihn

nicht errei chen.

Gib, gib mir, gib mir, bat ich, gib mir, denn ich ver -

dur ste.

»Ich ver dur ste!« schrie ich mit aller Kraft.

Dumpf hallte meine Stimme in dem engen

Raume wider und kroch in alle Ecken.

Da kam ich zu mir.

Welch ein auf fal len des Beneh men!

Aber ich war zum Glüc ke ganz allein. Die Lich ter

am Altar waren erlo schen, die Messe been det, der

Prie ster fort.

Ich trat aus der Bank, stäubte mit mei nem

Taschen tu che meine Knie ab und ver ließ die Kir -

che.

Mein Gott! Was einen doch so ein biß chen Mord

in Auf re gung ver set zen kann!

TANT DE BRUIT POUR UNE OMMEL LETTE!

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31.

Die Son nen strah len fie len schräg in die stille Straße.

Am Ende der sel ben an der rech ten Ecke war ein

gro ßer Flei scher la den, wel cher, weit geöff net, in der

Mor gen sonne prahlte. Daran schloß sich unmit tel -

bar der Gemü se markt an. Ich durch schritt den sel -

ben. Neben rie si gen Hau fen von Blu men kohl,

des sen zar tes, wei ßes Fleisch sich durch die saf ti -

gen, grü nen Blät ter drängte und quetschte, lagen

Salat bü schel auf ge häuft, rothe Möh ren, weiße und

gelbe Rüben, Spi nat und Peter si lie, in Kör ben

Johan nis bee ren, Kir schen und Weich seln, roth wie

durch sich ti ges Glas, früh reife Bir nen, hie und da

gigan ti sche Was ser me lo nen, deren ange schnit te nes

Fleisch wie Blut her vor schim merte. Auf lan gen,

mit wei ßen Tüchern beleg ten Bret tern lagen thau -

frische, in feuchte Gaze gehüllte But ter stol len,

Topfen- und Käse laibe. In irde nen Gefä ßen schim -

mer ten dicker Rahm und weiße, schau mige Milch.

Ein fri scher Erd ge ruch schwebte über dem Gan zen.

Am Ende des Mark tes brei tete sich ein Park aus.

Ich gieng lang sam durch die son nen be schie ne nen

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Anla gen, in denen sie Amseln san gen und aller lieb -

ste Kin der aus dem wei ßen Kies spiel ten, dahin.

Vor einem klei nen Mäd chen blieb ich ste hen. Ein

rei zen der, süßer Fratz, ganz in weiße Spit zen

gehüllt, mit einem rot hen Capot hüt chen, von wei -

ßen Rüschen innen ein ge faßt, aus dem das alt kluge

Gesicht mit ein paar gro ßen, schwar zen Augen neu -

gie rig hervor guck te. Ich begann mit ihm ein

Gespräch anzu knüp fen.

»Wie hei ßest Du denn?«

(Sehr leise) »Dora.«

»Wie?«

»Dora.«

»Was machst Du hier?«

»Ich spiele, willst Du mit mir spie len? Ich habe

eine Spring schnur und einen Rei fen und einen gro -

ßen, grü nen Ball mit einem Affen dar auf.«

»Ah — geh doch!«

»Ja, gewiß. Ich will Dir alles zei gen. Komm mit,

spie len.«

»Ich, danke Dir, Dora, ich habe keine Zeit und bin

auch zu groß dazu. So große Leute dür fen nicht

mehr spie len. Wenn Du so groß sein wirst wie ich,

wirst Du auch nicht mehr spie len.«

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»Aber ich will immer spie len.«

»Das geht nicht, spielt denn Deine Mama?«

»O ja — mit mir.«

»Nun ja, wenn Du ein mal Mama sein wirst,

kannst Du auch wie der spie len?«

»Ich — Mama sein?«

»Nun ja, — sage mir lie ber, hast Du Geschwi ster?«

»Ja, vor vier Mona ten hat mir der Storch einen

Bru der gebracht — einen so klei nen. Er heißt Fritz.

Mir kamen die Thrä nen in die Augen. Ich hätte

so gerne das Kind herz haft geküßt.

Da kam die Mama. Eine junge, sehr schöne und

sehr feine Dame. Sie hatte ein Kleid aus pfir sich far -

be ner Seide an, die Taille aus dem glei chen Sammt,

mit an den Ach seln wei ten Ärmeln und an der

Brust einen Ein satz in Form einer halb ge öff ne ten

Blu men krone, deren Inne res von einem floc kigen

Pelz besetzt war. Am Busen trug sie zwei präch tige

Dijon-Rosen. Sie nahm das Mäu schen bei der

Hand und führte es sachte fort, indem sie mir

freund lich lächelnd zunick te. Das Kind sah sich

nach mir fort wäh rend um.

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Vor dem Aus stel lungs pa la ste stand eine lange

Reihe von Wagen. Einige vor über ge hende Be -

kannte grü ß ten flüch tig. Ich dankte nicht.

Ich löste ein Bil let und kaufte einen Kata log.

Im Entrée nichts sa gende Büsten. Por traits fei ster,

selbst zu frie de ner Spieß bür ger. Ich spuck te aus.

Im rus si schen Saal ein Bild von Werest scha gin:

»Mar schall Davoust im Tschu dor Klo ster«, pastos

gemalt. Ich blät terte im Kata log und las: Saal I (rus -

si sche Abthei lung Nr. 27. Werest scha gin »Mar schall

Davoust im Tschu dor Klo ster«. Davoust hatte das

Haupt quar tier im Neun jung frau en klo ster (Nowo -

de wit schi-Klo ster), wenn er aber nach dem Kreml

kam, so hielt er Rast im Tschu bor-Klo ster, wo der

Altar her aus ge wor fen und an des sen Stelle sein

Feld bett postiert wurde. Zwei Gemeine aus dem

ersten Corps hiel ten an bei den Sei ten des » Zaren -

thores« Wache.

Der Text lang weilte mich ebenso wie das Bild.

Dann wei ter durch die ver schie de nen Säle. Wie -

der Land schaf ten, Por traits, Stim mungs bil der, Still -

leben, etwas Mytho lo gie, prot zend, die Hälfte der

Mit tel wand eines der grö ß ten Säle ein neh mend, ein

Schlach ten bild, ein Bild eines Pro fes sors der Aka de -

mie und »Rit ters hoher Orden«. Eine Schlacht ohne

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Blut und Ver wun dete, nur dicker Pul ver dampf und

aus einem spi nat grü nen Hügel die »Som mi tä ten«,

ein paar unend lich stu pid drein glot zende Gene räle.

Wei ters Histo rien ma le rei (größ tent heils pol ni scher

Her kunft), Stu dien, beschei den in die Ecke ge -

drückt, ein paar Gen re bil der, einige Pastelle.

Plötz lich fes sel ten mich zwei Bil der, die unmit tel -

bar neben ein an der auf ge hängt waren. Das eine

stellte eine dürf tige Stube dar, in deren Mitte um

einen wack ligen Tisch bei einer rußen den, bla ken -

den Lampe ein paar rha chi ti sche Ran gen saßen und

ein Weib mit schlaf fen Brü sten und einem mat ten,

gel ben Gesicht mit gro ßen, ver gräm ten Augen. Vor

dem Tisch ein von Koh len staub geschwärz ter, star -

ker Mann, unge fähr den Vier zi gern nahe, mit

buschi gem, roth blon den Bart und wil den Augen,

der mit ausge streck tem Arm, an dem alle Mus keln,

beson ders der Biceps, pla stisch her vor spran gen,

auf ein paar arm se lige Silber stüc ke zeigte, die noch

auf der Platte des Tisches tanz ten.

Neben mir stan den zwei schmeer bäu chige Her -

ren in schwar zen Salon röc ken, mit Cylin dern auf

ihren Glat zen und dicken, gol de nen Uhr ket ten. Sie

sahen wie zwei Com mer zien räte aus, die nach dem

DÉJEU NER DINA TOIRE statt Seid litz-Pul ver Kunst

ein neh men woll ten.

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Einer hustete.

»Volks aus beu tung, natür lich, hat er schil dern wol -

len, die ser Phan tast Boschetti, und so einen Men -

schen haben wir durch gut be zahlte Bestel lun gen

jah re lang unter stützt. Wir sind zu gut, o, wir sind zu

gut.«

»Das kann uns gleich gil tig sein, lie ber Herr

Mückenschnabel«, meinte der andere, »voll kom -

men gleich gil tig, was diese Bohême eigent lich von

uns denkt, die ohne uns doch nur elend verrec ken

könnte. Aber der Staat sollte dafür Sorge tra gen,

daß nicht unter dem wei ten Deck mantel der Kunst

sol che gefähr li che Ideen öffent lich zur Schau getra -

gen wer den kön nen.

Der Pöbel ……«

Ich hörte glück licherweise nichts mehr. Die bei -

den waren in ein Sei ten ca bi net getre ten, wo Kup fer -

sti che und Radie run gen aus ge stellt waren. Diese

inter es sier ten mich jedoch nicht.

Ich stellte mich vor das andere Bild. Ein brei ter,

glat ter, schwar zer Rah men faßte es ein.

Unten stand auf einer klei nen Tafel in Gestalt

eines halb auf ge roll ten Blat tes: »Muspilli«. Das Bild

war ohne Zwei fel nur für die Ferne berech net, im

impres sio ni sti schen Sinne gemalt. Dicke Far ben.

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Ich trat einige Schritte zurück. Nur lang sam ergriff

mein Auge die Linien. Eine weite Flä che, wie eine

Heide, ganz in Blut getaucht, und im Hori zont unfa -

ß bar groß, unend lich. An dem sel ben in der Ferne

ein Meer von Flam men. Dunkle Umrisse ein stür -

zen der Gebäude. Den Vor der grund beherrschte

eine rie sige Gestalt, ganz schwarz in Schwarz ge -

malt, hoch auf ge rich tet, mit lau ern dem, vorn über -

ge beug ten Kopfe, des sen Pro fil nicht zu erken nen

war.

Das eine Auge leuch tete mit einem triumphie -

renden, sata ni schen Glanz. Die her un ter hän gende

Hand war zur Faust geballt.

Es war so still in dem wei ten Saal.

Eine Gloc ke tönte. Ich fuhr auf. Unmög lich! Die

Aus stel lung wurde geschlos sen. Es war sechs

Abends. Ich war also fünf volle Stun den vor dem

Bilde gestan den.

32.

Ich begab mich in ein Café an der Ecke einer be -

lebten Straße, die zu den Anla gen am Flu ß ufer

Page 142: Arnold Hagenauer Muspilli - m.ngiyaw-ebooks.org filemen Stel len, wo s ie neben ihm ger uht hatte. Und all sein Den ken erlosch, und es ward fin ster um einen bren nen den Ring, und

hinunterführte, um eine Tasse Cacao zu trin ken

und die Abend blät ter zu lesen. Über all in brei ten,

fet ten, auf dring li chen Let tern das Wort »Mord«.

Ellen lange Schil de run gen, haar sträu ben der Un -

sinn, Fase leien von der »Spur des Thä ters«, über

die ich nur lachen konnte, unge heuere Erre gung

in der Bevöl ke rung, die That schreit nach Sühne

u. s. w., u. s. f.

Es war dun kel gewor den, als ich die Pla ta nen-

Allee durch schritt, wel che das rechte Flu ß ufer

einsäumte. Die Böschun gen waren mit Flie der be -

pflanzt, der in voll ster Blüte stand und schwer,

betäu bend, süß duf tete. Ich kenne einen ähn li chen

Duft, nur stär ker, noch berau schen der und gefähr li -

cher. Ein rot her Schim mer wie von einem fer nen

Brande zit terte in der Luft. Lange, zer flie ßende

Schat ten reck ten und dehn ten sich auf dem hel le ren

Grunde, wie ferne, dumpfe Klänge schwamm es

über den Blü ten bü scheln. In den Fen stern der

Gebäude jen seits der Park an la gen flammt ein stei -

ler Ker zen strei fen nach dem andern in die Hohe,

zehn — zwan zig — vier zig — hun dert — tau send —

nein, hun dert tau send, Mil lio nen. Über all Flam -

men, rot hes jubeln des Licht. In den Blü ten des

Flieders ver brennt der Duft.

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Feuer, leuch ten des, pran gen des Feuer!

Muspilli! Muspilli!

33.

Mit mir stei gen zugleich sin gende Töne die Trep -

pen hin auf. Sie schwin gen und vibrie ren in bun ten,

ste chen den Far ben und erster ben schließ lich in

einem zit tern den, wel len den Roth. Als ich mein

Zim mer betrat, war es von feu ri gen Ton wel len

erfüllt.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Ich stehe am Fen ster und blic ke über die Dächer

der gro ßen Stadt, über diese eckige und runde,

inein an der gescho bene Pla ni me trie. Da — da gerade

vor mir über einem Dach mit tra pe zoi da len Flä chen

steht der Mond, das heißt, er schwebt mit unbe -

stimm tem Glanz wie ein Ball von glei chem spe ci fi -

schen Gewicht in einer Flüs sig keit. Seine Rän der

ver schwim men in einem mil chi gen Dunst. Er

scheint immer grö ßer zu wer den, zuerst wie ein

Schild, dann wächst er zu einer rie si gen Scheibe

aus, die den hal ben Him mel bedeckt. Mit sei ner

Größe wächst auch sein Glanz. Wie flüs sige Säu len,

arm dick, wer den die Strah len. Die Ober flä che

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beginnt zu wogen wie ein Meer im Sturm. Große

Trop fen lösen sich los, Trop fen von einem hel len,

leuch ten den Glanz wie geschmol ze nes Metall und

fal len auf die Dächer und zer stie ben in tau send und

tau send Fun ken. Sil ber nes Feuer. Aus allen Ecken

und Enden bricht Feuer her vor. Alles hüllt sich in

heiße, sil berne, glän zende Nebel. Fern gegen Osten

am Hori zont starrt eine blut rothe Wand. Kein

Qualm, kein Rauch das hei lige Agni, das Urfeuer,

wel ches die zwei Wel ten geschaf fen, die Sonne fest -

ge stellt, den Mithra gezeugt hat, und das nun alles

wie der ver schlingt, um in sich selbst auf zu ge hen.

Ich fühle, wie ich zu strah len beginne. Meine Ner -

ven tre ten aus den Fin ger spit zen wie seine Drähte,

aus den Poren mei ner Haut strömt Licht. Ich ver -

brenne ganz schmerz los, in einem hei li gen Brande.

All das Kör per li che schwin det, wird fei ner und

immer fei ner, durch sich tig wie Glas, ich ver sprühe

zum Astral leib. Da — eine neue Licht quelle. Lang -

sam steigt es wie ein zit tern der, feu ri ger Ball vom

Boden auf und zer stiebt in der Luft zu tau send Fun -

ken. Elms feuer auf allen Dächern. Ich starre in

das Licht meer — da — da — siehst du, da — nein

dort — jetzt wie der da — dort — drü ben bei der

Hecke — o, ich erblinde. Flam men von inten siv stem

Weiß schla gen thurm hoch in die Höhe. Da — in

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der Mitte der Straße liegt etwas, ein Mensch, ein

Mann, mit blauen, weit ge öff ne ten, star ren Augen

und offenem, wei ßen Mund und blon dem Bart,

ein Mann mit durch schnit te nem Hals. Aus den

Wun den plat zen förm lich knall rothe Feu er meere

her aus. Und er wächst ins Unend li che, ins Unend li -

che, füllt alle Stra ßen, steigt her auf wie ein Berg.

Er ist die Quelle alles Feu ers, ein dunk les, rot hes,

qual men des Feuer, des sen Flamme schmerzt. Das

ent weihte Agni, das die unrei nen Lei den schaf ten

ver zehrt.

Muspilli! Muspilli!

Und rie sen groß, alle Dächer über ra gend, steht im

Hin ter grunde eine dunkle Gestalt in undeut li chen

Zügen, wie mit Tusch ins Gigan ten hafte skiz ziert.

Nur die Augen drin gen aus die ser schwar zen, colos -

sa len Masse, diese lau ern den, in grün li chem Schim -

mer phospho res cie ren den Augen. Und er reckt

sich und dehnt sich und reißt den leuch ten den

Mond vom Him mel und zer drückt ihn mit sei nen

Rie sen ar men zu Mil li ar den von Fun kel bü scheln.

Auf seinen Wink wächst und schwillt der unge -

heure, unreine, blu tige Brand. Die Straße ist ver -

schwun den, alle Häu ser, alle Dächer und Bäume

ver sin ken in die sem nagen den, fres sen den Meer.

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Ich allein, zum Astral leib ver brannt, schwebe rein

über dem Qualm. Ich rette das hei lige Agni. Ich

selbst bin es. Ich, die reine Flamme.

Muspilli! Muspilli!

Am andern Hori zont, dem schwar zen Tita nen

gegen über steigt aus einem blauen Dunst die Mid -

gard schlange mit flam men dem Rachen und speit

Feuer und Rauch durch die Luft.

Der alte Wotan will mit sei nem Man tel den Brand

erstic ken, aber es ver sengt ihm der Bart, und hin ter

sei nem Rücken zer fällt Asgard zu Asche.

So hat er kein Heim mehr.

Und Hugin und Munin, die undank ba ren Raben,

flie gen davon.

Und der Schwarze lacht, lacht über den hilf lo sen

Gott, der die Flam men löschen will, in denen eine

Welt ver geht.

Da kenne ich auch den Schwar zen. O, wie oft

habe ich ihn gese hen. Er ist es, der mir all mein Leid

erzählt hat, ich habe ihm gelauscht, und das war

mein Ver der ben.

Denn sein Erzäh len ist das Leben. Er ist’s, der Tau -

send ge stal tige — Ahri man, Satan, Mephi sto — Loki,

Loki, Loki, der Herr der Mid gard schlange und des

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Fen rir, der Gebie ter des Wel ten bran des, der Sie ger!

Und mit sei nen Rie sen ar men schleu dert er alles

in den unge heu ren, flam men den Brand — alles,

was mensch lich ist, die Lei den schaf ten und unsre

Triebe, die uns lang sam auf rei ben und unsere be -

sten Kräfte ver zeh ren, die unsere Gott ähn lich keit

ver nich tet und uns zu Men schen ernied rigt haben.

Brand! Brand! Brand!

Ver nich tung! Ver nich tung! Ver nich tung!

Loki! Loki! Loki! Muspilli! Muspilli!

Nur an mich kann er nicht, denn ich bin rein

gebrannt. Nur ein Astral leib. Ich bin ein Gott wie er.

Ein Gott neben ihm und darum sein Über win der.

Ströme von Licht flie ßen von mir nie der. Sie tau -

chen in das rothe Flam men meer und fres sen seine

Röthe und ver zeh ren den Qualm. Alles ver schwin -

det, die ganze Erde, alle Sterne, der Mond. Die

Sonne stürzt im Bogen wie ein gro ßer, feu ri ger Ball

über das Him mels ge wölbe und erlischt.

Ich schwebe allein im unend li chen Raum.

Allein über dem Nichts, dem ver nich te ten Chaos,

wie Got tes Wort über den Gewäs sern.

Ich habe gesiegt!

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34.

O Mut ter, Mut ter, was haben sie dei nem Kinde

anget han! Ich bin in einem gro ßen, öden, grauen

Hause, so öd und grau, unter vie len, frem den Leu -

ten, die mich nicht ver ste hen, die mich nur blöde

anstar ren und grin sen. Sie haben mich in eine

große, grobe Jacke gesteckt und mir die Ärmel am

Rücken über ein an der gebun den. So liege ich im

Bett und kann mich nicht rüh ren. Und ich bin

immer ganz allein. Oft habe ich Durst, und nie -

mand, nie mand gibt mir Was ser. Ich friere auch so

sehr. Hier ist es so kalt, und man macht so sel ten

Feuer. Nicht ein mal zum Kamin darf ich gehen und

in die Flam men schauen. Das wärmt einen so sehr.

Sie sto ßen mich weg und schreien mich an, und ich

darf nur mit einem Löf fel essen. Auch geschla gen

haben sie mich schon.

O Mut ter, Mut ter, ich bin stets so allein, nie mand

liebt mich, nie mand spricht mit mir auch nur ein

Wort. Die ganze Nacht bin ich allein. Da kom men

dann immer graue Män ner und sehen mich so

lange, lange an. Und alle tra gen rothe Bän der um

den Hals.

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O, warum kommst du nicht zu mir und legst

deine schma len, blas sen Hände, die so kühl und

duf tend sind, wie Wald blu men im Mond licht, um

meine bren nende Stirne, warum läßt du mich so

allein! Ich bin so ein sam, ich dein kran kes Kind.

Komm, setz’ dich zu mir ans Bett.

Komm, Mut ter, komm — ich bin so elend!

Ende.