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Zur motettischen Passion des 16. Jahrhunderts Author(s): Arnold Schmitz Reviewed work(s): Source: Archiv für Musikwissenschaft, 16. Jahrg., H. 1./2., Wilibald Gurlitt zum siebzigsten Geburtstag (1959), pp. 232-245 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/930130 . Accessed: 14/11/2012 08:20 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv für Musikwissenschaft. http://www.jstor.org This content downloaded by the authorized user from 192.168.72.229 on Wed, 14 Nov 2012 08:20:54 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Arnold Schmitz - Zur Motettischen Passion Des 16. Jahrhunderts

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Passion music in the 16th century

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Zur motettischen Passion des 16. JahrhundertsAuthor(s): Arnold SchmitzReviewed work(s):Source: Archiv für Musikwissenschaft, 16. Jahrg., H. 1./2., Wilibald Gurlitt zum siebzigstenGeburtstag (1959), pp. 232-245Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/930130 .

Accessed: 14/11/2012 08:20

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Zur motettischen Passion des 16. Jahrhunderts von

ARNOLD SC:EIMITZ

K&de hat zum ersten Mal ausfuhrlich von der Passionskomposition in ,,motettischer Form" gesprochen 1, einem Typus, der fur das 16. Jahrhundert besonders charakteristisch ist und den er abhebt von einem noch viel ver- breiteteren Typus, dadurch gekennzeichnet, daB die mehrstimmigen Tonsatze mit der choralen Lektion alternieren. Dieser ist, wie wir heute wissen, ge- schichtlich fruher belegt als die motettische Passion. Kade ulld mit ihm nocll manche jungere Autoren gebrauchen dafur die Bezeichnung ,,dramatische Form". Davon ist abzuraten, denn es kam weder bei dem einen noch bei denl anderen Typus darauf an, die sprechenden Personen oder die Situation und Aktion darzustellen, obwohl gelegentlich hier wie dort tonmalerisch darauf angespielt wurde; die Hauptabsicht war mitzuhelfen, das Evangelium vom Leiden und Tod Christi zu verkundigen, sei es mit lateinischem oder deut- schem Text, in der katholischen oder evangelischen Liturgie. Statt also von ,,dramatischer Forlu" zu sprechen, bezeichnet man die Passion, in der mehr- stimmige Tonsatze mit der choralen Lektion alternieren, nach einem Vor- schlag K. v. Fischers 2 besser als ,,responsoriales'.

Es sind aber auch gegen die Bezeichnung ,,motettische Passion" Bedenken erhoben worden, von mir sellost vor langerer Zeit besonders im Hinblick auf die Obrecht-Longaval-Passion 3 also das Werk, das am Anfang einer neuell Art von Passionsvertonung, namlich einer durchkomponierten, steht, und das nicht in Italien, wohin nur seine beiden altesten Quellen verweisen, sondern in Deutschlalld, zumal in Mittel-, Nord- und Ostdeutschland wahrend des gan- zen 16. Jahrhunderts sehr verbreitet war und offenkundig eine starke Nach- folge fand. Mir erschien der EinfluB des italienischen Falsobordone auf diese Komposition so stark, daB ich zsreifelte, ob die Bezeichnung ,,motettisch" am

1 O. KADE, I)ie altere Passionskontpositzorl, Gutersloh 1893. 2 K. V. F'ISCHE:R, Zur Geschichte der Pcrssionskomposition des 16. Jhs. in Italienq

Af}IW XI, 1 954, S. 201. 3 Ich schlieBe mich der vorsichtigen Bezeiclmung v. FISCHERS an und kurze in

fOlgendeltl OBRE(?6IT-LON=GA\rAL mit O.-L. ab.

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Zur motettischen Passion des 16. Jahrhunderts 233

Platz sei 1. Auch Fr. Blume wies im Vorwort zur Ausgabe der Johannes-Pas- sion von Balthasar Harzer (Resinarius), die sich wie die Passion von Johannes Hahnlein (GEalliculus) an das Vorbild der O.-L.-Pas7sion anschloB, darauf hin, daB man diesen Typus nur bedingt motettisch nennen konne, und daB dann diese Bezeichnung nur ,,die Tatsache einer durchgehends mehrstimmigen Behandlung" meine. 2 Ist dem aber wirklich so ?

Wir konnen wohl heute zu dieser Frage gesicherter Stellung nehmen als noch vor einigen Jahrzehnten, einmal weil inzwischen durch viele neue Quel- lenfunde, die wir in erster Linie v. Fischel7 verdanken3, die Art, wie im 16. Jahrhundert in Italien die Passion vertont wurde, einsichtiger geworden ist und damit auch fur das deutsche Material eine viel breitereVergleichsbasis geschaffen ist; zum anderen, weil wir ganz allgemein bei der Form- und Sswtz- analyse alterer Musik dank der Initiative Wilibald Gurlitts genauer auf die zeitgenossischen Kompositionslehren und ihre Terminologie hinzuhoren ge- lernt haben. So kann heute bestatigt werden: Es entfaltete sich im 16. Jahr- hundert in Deutschland im AnschluB an die O.-L.-PassioIl eine eigene Art der Passionsvertonung, die dem Text und dem ganzen Tonsatz nach als Afotette angelegt ist und mit ihren wesentlichen Merkmalen damals auch so verstan- den wurde. Motettische Passion ist im 16. Jahrhundert noch etwas anderes als ,,durchkomponierte" Passion. Vertreter der motettischen Passion sind die von Kade unter Gruppe A genannten Musiker, aber mit AusschluB der dort unter der gleichen Gruppe erwahnten Ultramontanen (von Italien aus gesehen) Cyprian de Rore, Metre Jan (= Nasco) und des Veronesers Vincenzo Ruffo,

deren Passionen, obwohl durchkomponiert bei Ruffo ist dies noch ein Pro-

blem besonderer Art - vom Ganzen aus betrachtet keine Motetten sind. Dies nruB nun naher erlautert werden.

Schon die T e X t f a s s u n g bereitet in der O.-L.-Passion und bei. ihren Nachfolgern auf eine motettische Anlage vor. Nur bei ihnen gibt es jenen aus den vier Evangelien zusammengestellten Leidensbericht (,,Passionshar- monie;', besser nach Resinarius Summa Passionis genannt), der wesent- lich kurzer ist als der textgetreue Bericht nach einem der vier Evangelisten, aber fur eine WIotette immerhin noch betraclltlich lang. Die Frage7 woher dieser Text stammt, ob aus einerVia cracis7 wie J. Mantuani vermutet 4, oder

1 Italientsche QuellenzurFtgiztralpasezon eles 16.Ihs., Festschrift Max Schneider, Halle 1935, S. 94.

9 Das Chorwerk, lieft 47 (1937). 3 tXber den Stand von 1935 (vgl. meinen Bericht in Festschrift AI. Schneiderz

S. 92 ff.) weit hinaus berichtete v. FISCHER uber neue italienische Quellen in AfMw XI, 1955, S. 189 ff., und in seinem Referat Seues zur Passionskomposition des 16. Jhs. auf dem 7. Kongr. d. Internat. Ges. f. Musikwiss. in Koln 1958. Sehr wert- s-oll und neu ist auch der Hinweis K. JEPPESENS auf Passionen des GASPAR DE ALBERTIS (oberital. um 1545) in MQ XLIV, 1958, S. 311 ff. (A Foryotten Master of the Early 1 6th Century).

4 DTO XII 1, S. 180.

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234 Arnold Schmitz

aus einer anderen Quelle, ist gewiB nicht uninteressant, braucht aber hier nicht naher erortert zu werden. Eingeteilt ist der Text bei O.-L. und allen lEZomponisten, die ihn ubernehmen - z. B. Galliculus, Regnart, Gallus (Jakob IIandl) in seinen drei Passionen, Gesius - in drei Teile. Diese Einteilung ist wohl nur im Hinblick auf eine mehrteilige Motette zu verstehen. Sie gehort sozusagen zur Applikation, auf die der Motetten-Komponist bedacht sein muB. Die Leitgedanken bei der Auswahl der Schriftstellen scheinen im O.-L.-Text gewesen zu sein: der Verrat des Judas (1. Teil), Christus vor Pila- tus und Kreuzigung (2. Teil), die Christusworte arzl Kreuz (3. Teil). Resina- rius (1543) hat eine andere Zusammenstellung, vornehmlich aus dem Johan-

es-Evangelium, und eine Einteilung in funf Partes. Nicht wortlich, sondern nur als Modell ist diese Textfassung bei Daser (1548) und in der deutschen Passion Lechners (1594) wiederzuerkennen. Daser beruft sich in seinerYorrede auf die Hilfe eines ,,pii et docti viri", also wohl eines Theologen, der ihm den Text eingerichtet habel. Auch der O.-L.-Text wurde nicht immer unver- andert ubernommen. Galliculus und nach ihm auch Gesius fugen in diesen Text (dritter Teil) ein: ,,et circa horam nonam exclamabatJesus voce magna." Regnart bringt das ,,Crucifige eum" tlur einmal in Verbindung mit ,,Tolle, tolle';, laBt dieWiederholung des ,,Crucifige" bei O.-L. mit dem verbindenden Text weg und erreicht so eine nicht unerhebliche Kurzung des zweiten Teils. Auch diese Variantelr deuten auf eine Applikation hin, die mit oder ohne theologische Hilfe vorgenommen wurde.

Nach dem Quellenbefund wurde in Deutschland die Vertonung einer Summa Passionis im evangelischen Gottesdienst bei weitem ofter gesungen als im katholischen. Von den bei Kade unter der Gruppe A, Lateinische Pas- sionen, genannten Alltoren Galliculus, Resinarius, Daser, Paulus Bucenus, Gallus, Regnart, Gesius, konnen nur Gallus und Regnart ihre Passionen fur einen katholischen Hof geschrieben haben (Prag). Auch die vielen Nach- schriften der O.-L.-Passion im 16. Jahrhundert weisen auf den uberwiegenden Gebrauch im evangelischen Gottesdienst hin. Schon darum kann man hier icht von einem katholischen Typus der Passionsvertonung sprechen, wie

Kade meinte. Aber wo auch immer eine Summa Passionis gesungen wurde, konnte sie wahrscheinlich den Platz einnehmen, der liturgisch sonst allein der Passionslesung nach einem bestimmten Evangelisten (Palmsonntag Mat- thaeus, Karfreitag Johannes usw) eingeraumt war. Wie ware es anders zu er- klaren, daB Komponisten des gleichen O.-L.-Textes im Exordium in allen Stimmen einmal ,,secundum Matthaeum", das andere: Mal ,,secundum Joan- nem" oder ,secundum Marcum" (Galliculus) ankundigten 2 ?

1 Vg1. KADE, S. 38.

2 Die altesten Quellen fur O.-L., MS. RomVat. Cod. Sistina 42 (unter dem Namen Jo. ala Venture) und MS. i'lorenz Naz. Centr. II, I 232 (lonyavat), kundigen in den einzelnen Stimmen sec. Slatthaeum, lucam, Jo7wannem, Marcum an. Das ist zweifel-

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iW [i'] Q[i-c-qCue:iS- | _crr- tr t-u 2 JO I > $ F Q;em<um q(ue fS rU 1 r tr fSu - - e - ro v

b - - f f f i Cf f f T W Quemsum |que os - - cu- la - tus fu - | - e - ro

Sb[°] - f f f f r f f f r r v > QuenFcumfflue os - - cu- la - tus fu - - e - tO

Zur motettischen Passion des 16. Ja,hrhunderts 235

Tritt man nun der Frage der Vertonung einer Summa Passionis naher, so muB man sich daran erinnern, daB im BewuBtsein der Musiker des 16. Jahrhullderts der haufige Gebrauch der Fuga vor allen anderen Kenn- zeichen der Satzkunst, der Wort- und Textbehandlung das Hauptmerkmal der Motetten war. Fuga (scil. partialis) ist dabei, in unseren Sprachgebrauch grob ubersetzt, der InbegriS fur alle Moglichkeiten der strengen und freien Imitation zwischen zwei, mehreren oder allen Stiminen des polyphonen Satz- gefuges. Sprechen wir im folgenden von Fuge oder fugiert, so ist dieser Be- griff der Fuga gemeint mit allen AIoglichkeiten, die in der Satzkunst des 16. Jahrhunderts realisiert sind und die die Kompositionslehrer dieser Zeit zu erklaren und zu benennen sich bemuht haben, zuweilen mit denz Eingestand- nis, noch nicht alle in der Prasis vorkommenden Falle registriert zu haben.

In der O . - L . - P a s S i o n 1 sind Fugen mit einem ausgepragten melo- dischen Duktus sehr selten. Sie finden sich bei ,,Tu disisti" (S. 255, BaB, Tenor) und ,,Eloy" (S. 268, BaB, Diskant) und benutzen chorales Material. Haufiger sind Fugierungen mit geringster melodischer Bewegung von der Art, wie Beispiel 1 sie zeigt:

D.

A.

T.

.

sso die Stilnmen im Abstand einer Minima, bei ,,Tolle, tolle;C (S. 257/258) auch im Abstand einer Semibrevis eintreten und die Flexa des Succentors verwenden. Die Haufigkeit der Tonwiederholungen (redictae) erklart sich aus der Bindung an die chorale Lektionsweise, die, von derWortdeklamation her rhythmisiert, in allen Teilen der Komposition durchgehends vorhanden ist, und an der alle Stimmen teilhaben. Sobald lnan solche Gebilde als Fugae anspricht - sie vertreten offensichtlich die Stelle einer Fuge -, lost sich in der O.-L.-Passion das Motetten-Problem leichter. Dann bestimmt die Fugierung

los ein Hinweis auf die Passionsharmonie, bedeutet aber vielleicht auch, daB die Kompositon ad libitum in der Liturgie des Palmsonntags (AIatthaeus), der :Ceria III (Marcus), der Feria IV (Lucas) und des Karfreitags (Johannes) aufgefuhrt wer- den konnte.

Bei den deutschen Komponisten, die dem REsINAuIus-Text als Modell folgten, kann sec. Johannem besagen, daB der Text hauptsachlich aus Johannes zusammen- gestellt ist. So faBt es z. B. DASER auf; er sagt es in seiner Vorrede selbst.

1 RADE, S. 246 ff.; GA (J. WOLF) XXVIII. Seitenangabe im Haupttest nach ,

h ADE.

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236 Arnold Schmitz

zusammen mit den im Contrapunctus fractus gearbeiteten Stellen die Grund- bewegung, von der sich die falsobordonartige Satzweise klar abhebt; diese wird nur zur Hervorhebung besonderer Textstellen svie etwa ,,et osculatus est eum" (S. 252), ,,et crucifiserunt eum" (S. 261) angewendet, als Noema, wenn man so sagen darf, obwohl dieser Terminus erst am Ende des Jahrhun- derts bei Burmeister auftaucht.

Bei G a 1 1 i c u 1 u S (1538) 1 ist besonders zu bemerken, daB er von der iFuge in einem MaBe Gebrauch macht, das weit uber sein lTorbild hinausgeht . Wir begegnen ihr in allen Teilen und in fast allen Perioden so, daB ein plasti- sches Noema kaum dagegen aufkommt. An den berichtenden Stellen, wenn auch nicht ausschlieBlich dort, verwendet Galliculus zur Fuge gern die melo- disch bewe3glicheren choralen Tonformeln des Metrum und des Punctum (Cantor), z. B. Metrum:

2-

Tenor n b * * t' ° r' [' 1 . | | In il - | b tem- Po -| re

BaB ); b '' ° r r ° In il - lo tan-po - re

Punctum:

.s

sIz Xb " > ^ r pi. o S o z 1 1 t 1 l 0 % IQUj et | di- wit e - | - - i, | e- - |- - -I - -| i

enor 5 b * * . .. .. ..

BaB Y | I | |QUi et | di - wit | e - |-i:

Qui et di - sit e - - - i, di- xit e - J:

Auch die Frageformel kommt bei ihm in der Fuge vor, z. B. bei ,,Quid enim mali fecit ?" (in allen vier Stimmen). Wo mitten im vollstimmigen Satz zwei Stimmen kurzzugig fugiert sind, z. B. bei ,,[Apprehendit ergo] Pilatus Jesuln et flagellavit [eum]", haben wir nach Dresslers Mussca poetsca (1563) die Fuga rnt4ttlata vor 11nE3 2. Hoheplmkt der ganzen Iiomposition ist das ,,Eloy", das bis ,,dereliquisti me" in zwei groBen Perioden von insgesamt 59 Takten fast durchgehends fugiert ist und dabei die melismatische von f bis zur Obersexte ausgreifende chorale Melodieformel benutzt, die fur Deutschland schon in einem schlesischen Zsterzienser-Lektionar 1348 nachweisbar ist 3. Das

1 Quellen: Selectae Harmoniae quatuor vocum de Passione Domini, WittexlberS, 1538, GEORG RHAW; IIS. Univers.-Bibl. Greifswald Eb 133 = MS. lat. 4° 68.

2 EinweisebeiW. M. LUTHER, GaUveDreseter, Kassel l941, S. 104,und M. RUHNKE. Joachim Burmeister, Rassel u. Basel 1955, S. 149.

3 Hs. Univ.-Bibl. Breslau I F 459. Ob diese Hs. sich heute noch dort befindet, ist mir nicht bekannt.

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Zur motettischen Passion des 16. Jahrhundelts 237

,nAmen" fuhrt in der ebenfalls fugierten Collelusio (,,Qui passus es pro nobis, niserere nobis", 31 Takte) den gleichen Melodieansatz in der Aufwartsbe- wegung bis zur Oktave:

4

{4 r w . |- | r z W

Tenor 4 W {} | o ,, l o {, | c) ,, | o {' | o '' |

P E - - - - - lo- -y

Tcnor $b - ,J J r 1p' r r f If F ° 1s .. I m I 1s D A- - - - - - - - - - - - - men.

Bei R e s i n a r i u s 1 ist das Verhaltnis Fuge zu Noema ahnlich wie in der O.-L.-Passion. Die falsobordonartigen Partien, auslaufend in eine mehr oder xveniger geschlnuckte Kadenz (z. B. ,,Cecidit ergo Judas", S. 6; ,,comprehen- derunt Jesum . . .", S. 8; ,,imposuerunt capiti ejus", S. 15; ,,Et inclinato capite", S. 20), heben sich klar von den Fugen und den im Contrapunctus fractus gearbeiteten Perioden ab. Die Fugen haben zum Teil geringste melo- dische Bewegung wie in der O.-L.-Passion; es finden sich sogar - wie ubrigens auch dort - Gebilde, die nur aus rhythmischen Imitationen bestehen, aber ihre Struktur und das Tonverhaltnis lassen auch bei Resinarius erkennen, daB sie als stellvertretend fur die Fuge gedacht sind, z. B. ,,Cohors ergo et tribu- llUS; (S. 8). Das erklart sich auch bei Resinarius aus dem AnschluB an den choralen Passionston, der bei ihm allerdings als Cantus firmus ofters koloriert oder paraphrasiert wird, ohne Folgen fur die Fugenbildung. Erwahnenswert a]s Beispiel ist ,,Exivit ergo Pilatus":

5

/&¢ {} FM [- {} ,J ,J ° o I I I | o v Ei - xi-vit | er - go Pi -| la - tus, | Pi -| 13- _ - | tts

X rro rrt. s. _r o o ,

s E- |-xi-vit er- |-go Pi-la -|tus, Pi-| la - tus l

d[D<5 * * - '' " r * J J o O 2 | | Ei - | xi-vit er- }-go Pi- la- -| tus y . . o r r o g g X rJ //

E - si-vit er - go Pi - la - Xs

Man mochte zunachst glauben, hier sei zur Fuge freies Tonmaterial verarbei- tet; in Wirklichkeit wird von der choralen Punctum-Formel des Succentors Gebrauch gemacht, wahrend man doch an dieser Stelle (berichtende Worte des Evangelisten) eher eine Tonformel aus dem Bereich des Cantors erwartet. Vertauschungen choraler Formeln kommen gelegentlich auch einmal bei Galliculus und spater bei GEallus und Regnart vor.

In der Stimmengruppierung richtet sich der Wechsel zwischen dem voll- stimmigen und dem drei- und zweistimmigen Satz in den Passionen von

1 Seitenangabe im Haupttest nach der Ausgabe Das Chorwerk, Heft 47.

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238 &rnold (3chmitz

O.-L., Galliculus und Resinarius nicht allein nach dem Unterschied der be- richtenden und der redenden Partien. Die Worte des Berichts und der Turba sind nicht nur vollstimmig, sondern stellenweise auch drei- und zweistimmig gesetzt, die Worte Christi nicht nur zwei- oder dreistimmig (dann stets mit BaB und ohne Discant), sondern auch vierstimmig, dieWorte der Soliloquen- ten nicht nur geringstimmig in hoher Tonlage, sondern zuweilen auch einmal vollstimmig (dies letztere allerdings nur in der O.-L.-Passion und bei Galli- culus). Kade hat dies bemangelt. Er urteilt von seillem Idealtypus, der res- ponsorialen Passion, aus. Abgesehen davon, daB eine streng konsequente Stimmengruppierung fur den Bericht, die Turba, die Worte Chrlsti und der Soliloquenten erst von der Mitte des Jahrhunderts ab in Italien aufkam (be- sonders deutlich bei Rore und Nasco), aber sich auch dann noch nicht uberall durchsetzte, mussen wir bei O.-L., Galliculus und Resinarius berucksichtigen daB sie sich auch in der Planung der Stimmengruppierung um einen kunst- lerischen Ausgleich verschiedener Postulate bemuhten: stets deutliche Ver- nehmbarkeit des choralen Passionstones, Color und Variatio, Hervorhebung bestimmterWorte und Textstellen, zugiger Verlauf der Perioden innerhalb der einzelnen Teile, und schlieBlich eben auch Berucksichtigung des Textcharak- ters (berichtend, redend, Rufe). In dem Ausgleich dieser Postulate zeigt sich eben auch die Intention, die ganze Komposition motettisch anzulegen.

AuBerhalb des Typus der motettischen Passion gibt es motettische Zuge auch in der responsorialen, z. B. bei Claudin de Sermisy (1537), Jachet von Mantua (ca. 1540), Paulus Aretinus (3. Viertel des Jahrhunderts) und auch noch bei Lassus (1575, 1582). Dies ist aber, was die in Italien wirkenden Ultramontanen und einheimische Komponisten angeht, seltener der Fall. Fur die meisten dieser Musiker ist charakteristisch, daB sie in der Passions- komposition eine homorhythmische Klangbewegung bevorzugen, die starke Antriebe vom Falsobordone bekommen hat und die sich mit der fortschrei- tenden Zeit zu einer akkordischen Satzweise mit etwas hervortretenden AuBenstimmen entwickelt. Der Wortakzent, zuweilen auch der emphatische Akzent und die emphatische Betonung bestimmter Worte, Wortgruppen und Satze im laufenden Text bestimmen den Rhythmus, die melodische Fuhrung und die Harmonik. Den Hauptschmuck bildet die Kadenz, nicht die Fuge. Die jungeren und jungsten Quellenfunde bestatigen immer wieder die Bevor- zugung und Entwicklung dieser Satzweise 1. Zugleich vergroBert sich in Ita- lien der Abstand vom choralen Cantus firmus auch in den Passionsvertonun- gen. Dies alles laBt sich an den Passionen des Cyprian de Rore und Jan Nasco (Mitte des 16. Jahrhunderts), die den ungekurzten liturgischen Text nach Johannes bzw. Matthaeus komponiert haben, besonders gut studieren. Sie bieten, gerade weil sie den Evangelistenbericht mit in die mehrstimmige Ver-

1 Vgl. z. B. die IIinweise JEPPESENS in: A Forgotten SIaster, S. 323.

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Zur motettischen Passion des 1B. ;ahrhunderts 239

tonung einbezogen haben, auch fur unser Thema ein besonders geeignetes Vergleichsmaterial. Sie sind, wie ich an anderer Stelle zu erklaren versucht habe 1, aus der responsorialen Passion auf italienischem Boden herausgewach- sen, nicht aus der Motette. Aber ihr Satz- und Ausdrucksstil beeinfluBt direkt oder indirekt - in der zweiten Halfte des Jahrhunderts die weitere Entwicklung der motettischen Passion in Deutschland, was vor allem bei Gallus erkennbar ist, dem wohl fur diesen Typus reprasentativsten Musiker. Er hat den O.-L.-Text dreimal vertont 2.

Zunachst einige Bemerkungen zur v i e r s t i m m i g e n Passioll dieses Meisters (S. 158 ff.). Hier gibt es haufig genug Fugen. Sie stellen sich in allen Teilen ein, und zwar auch - wie in der ersten Halfte des Jahrhunderts nament- lich bei Galliculus - zum berichtenden Text. Dies will bedacht sein, weil in Italien der Evangelistenbericht, wenn er mitvertont wird - z. B. ganz bei Rore, Nasco und in der Bologneser Johannes-Passion Vincenzo Ruffos3* teilweise bei Paulus Ferrarensis (1565)4 - nicht durch Fugen aufgelockert wird, sondern die vorhin kurz beschriebene Satzweise zeigt. An manchen Stellen ubernimmt Gallus diese italienische Satzart, z. B. S. 162 bei ,,Et milites plectentes coronam spineam . . .c, rahmt sie aber durch Fugen (mei- stens tnutilatae) ein, wobei jedoch nicht mehr von einem Noema gesprochen werden kann:

6

{$b - f Ir rr J r If C f rl et fla-gel-la - vit e - um. Et ml - li -

Xb f n r C I J 2 ,J Jl,J ,J J. k [Apprehendit ergo enim Pilatus,] et fla-gel-la - vit e - umse - - um. Et mi- li-

tZb f; r 1.DI j J j J J I J. J{. I et fla-gel la - vit e - um. Et mi - li- tesP

i) b _ J } J J J 2 J I 2 f f M et fla-gel-la - vit e - um. Et mi- li-

8>b 1° r f r r 1 r r rr r X r X r r f I f f f f I -tes plec-ten - tes co - ro-nam spi-ne - am, im - po su- e -runt ca - pi ti e -

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Oberitalienische Figuralpassionen des 16. Jhs., Mainz 1955, S. lO*fE. 2 DTO XII 1. Die Seitenangaben bei den GALLus-Zitaten beziehen sich auf diese

Ausgabe. 3 Bologna, Bibl. Mus. G. B. Martini Q 24. 4 In der Johannes-Passion des PAULUS :FERRARENSIS, Bologna, Bibl. Mus.

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bb g f f r I f #f I f r jus, et ve - ste pur- pu - re - a cir - cum ^ de-de runt e - uln.

flb J 2 rJ 2 12 XrJ J 2 l<J rJ 2 rJ I X r tr " -jus, et ve - ste _ pur- pu - re - a cir- cum-de - de runt e - - - um.

flb hf g f f I *} g J I s. i. I J rJ J J J I rJ

jus, et ve ste pur - pu - re - a cir- - cunode - de-runt e - utn.

9 b J f f J I o J ,J I f f J f I f f z I J -jus, et ve - ste pur - pu- re - a cir- cum-de - de runt e - - - uln.

24() Arnold Schmits

Bufe der Turba wie ,,Regem non llabemus'' (S. 163), ,,Tolle, tolle" (S. 163), ,,Vah, vah, qui destruis" (S. 164) sind in dieser Passion Nots gegen Note auf knappstem Raum behalldelt, die sie einleitenden Worte aber, z. B. ,,Et qui- dam circumstantes dixerunt" (S. 164) fugiert. Das umgekehrte Verhaltnis ist bei Christusworten nachzuweisen. Beginnen sie fugiert (vgl. besonders ,,Heloi", S. 165), werden sie in akkordischer Satzweise eingefuhrt. Dies be- zeugt immer noch motettischen Stil. Italienischer, speziell oberitalienischer EinfluB zeigt sich dann weiter in einer farbigeren Kadenzbildung. Sie ver- wendet neb en den H auptkadenz en in f, c und a au ch die entfernteren (Pere- grinae) in b, d, g ohneVeranderung der Haupttonart (Modus major in F). Da- fur gibt es in der oberitalienischen Passionskomposition schon Beispiele bei G. de Albertis 1. Besonders wirkungsvoll bringt namentlich Rore Peregrinae bei den tbergangen zu Christusworten an, z. B2.

7 Rore

i J. j J ,J b4J ",, g Di - cit c - is Je _ - sus:

tr r.r f° &l Di_ cit e - is Je- - sus:

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Ein Gegenbeispiel von GEallus zeigt an einer solchen Stelle sogar eine perfekte Kadenz in d, die allerdings nicht ausklingt, sondern kunstsoll verschrankt wird (Beisp. 8). t)berhaupt verschrankt Gallus wie die Komponisten der motettischen Pas- sion in der ersten Halfte des Jahrhunderts Satze und Perioden innerhalb der einzelnen Teile, oft ohne Rucksicht auf denWechsel berichtender und reden-

G. B. Martini U 31, der Abschnitt von ,,Stabat juxta crucem Jesu" bis ,,tradidit spiritum".

1 JEPPESEN, A Foryotten Master, S. 325. 2 Oberital. Figuralpassionen, S. 61.

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8 Gallus, S. 161

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der Partien. Dagegen neigt die oberitalienische Passionskomposition dazu, Kadenzen sich voll auswirken zu lassen, auch Binnenkadenzen im Evange- listenbericht.

Die Christusworte selbst in Beispiel 8 sind vom BaB aus ostinatoartig be- handelt, der Tenor ist fugiert. Hier wird eine lfigur angewendet, die Bur- meister im Hypomnematum Musicae Poeticae (1599) alsAnaphora bezeichnet 1. Sie kommt auch bei Nasco in Christussatzen vor, z. B. in ,,Bibite ex hoc omnes" 2 WO von ,,usque in diem illum" ab alle drei Stimmen ostinatoartig gepragt, die beiden Unterstimmen fugiert sind, die Oberstimme nur ausge- terzt ist:

9 Nasco

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t} b r r - f r S r f r r X f S / us - que in di - em il - lum, cum il - lud bi - bam vo-bis - cum

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Es gibt bei Gallus noch mehrere Beispiele dieser Art. Sie beschranken sich nicht auf Christusworte, wie die Stelle ,,ut dicas nobis, si tu es Christus, filius Dei vivi" (S. 161) zeigt. Auch braucht sich wohl der BegriSder Anaphora 3 im Sinne einer Ausdrucksfigur (emphatisch) nicht immer mit der Fuge zu ver- binden, so daX man auch noch folgendes Beispiel mit ostinatoartigem BaB aus einer berichtenden Textpartie hinzunehmen konnte (Beisp. 10).

Nasco wendet im Evangelistenbericht die Anaphora in einer anderen Vtteise an 4. WO sich aber Gallus und Nasco in der Handhabung dieser Figur entsprechen, gebrauchen sie beide ein Mittel motettischer Satz- und Aus- druckskunst.

1 Vgl. RUHN, S. 157.

2 Oberttal.Ftguralpasstonen, S. 10/11; vgl. dort auch ,,Pater mi, si non potest", S. 16.

3 Die Geschichte dieses Terminus in der musikalischen Figurenlehre ist sehr ver- zwickt und noch nicht ganz geklart.

4 Oberttal. Ftguralpasszonen, S. 17 *f.

16

Zur motettischen Passion des 16. Jahrhunderts 241

Archais fur Musikwissenschaft 1959 t/2

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242 Arnold Schmitz

10 Gallus, S. 159

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tb 2 ,J 2 |#, 2 2 2 l"J j J 2 I J .. X 1 .. Etconsiliumfecerunt,utJesum do-lo te - nerent et oc- ci-de-rent.Di_cebant au-tem:

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Die a c h t s t i m m i g e Passion von Gallus (S. 123 ff.) ist doppelchorig angelegt, Chorus I in hoher, Chorus II in tiefer Stimmlage. Wenn beide Chore zum vollen achtstimmigen Satz zusammengefaBt werden, geschieht es haupt sachlich, um textliche Schwerpunkte zu bezeichnen und hervorzuheben. Aber auch die Rufe der Turba sind voll achtstimmig gesetzt, wobei mitunter die einfuhrendenWorte ebenfalls schon achtstimmig erklingen. Die Christusworte werden fast regelmaBig vierstimmig vom zweiten Chor, also in tiefer Stimm- lage vorgetragen. Als Annaherung an die italienische Praxis kann das noch nicht gelten.Wichtiger fur die Beurteilung des Stils ist, daB die achtstimmigen Partien nicht nur Note gegen Note gesetzt sind, sondern zuweilen auch kontra- punktisch aufgelockerter (,,Apprehendit ergo eum Pilatus et flagellavit eum", S. 127), oder die beiden Chore miteinander verbunden werden durch eine, wenn auch nur schwach angedeutete Fuge, wie ,,At illi clamabant dicentes" S. 128).

Die Chore I und II losen sich ab wie etwa bei Resinarius das obere und untere Stimmenpaar. Im ersten Teil haben wir einen standigen Wechsel der beiden Chore von ,,Abiit autem Judas" bis einschlieSlich ,,Adjuro te" (S. 125 bis 127), im zweiten Teil ebenfalls von ,,Et milites plectentes" bis ,,Ecce rex vester" (S. 127-128). Das sind zwar, vom Text aus gesehen, vorwiegend Dialogstellen mit dem verbindenden Bericht, aber auch in berichtenden Perioden selbst tritt bei syntaktischen Einschnitten der Wechsel ein. Dieses Mlechselspiel wirkt sich in der Conclusio noch einmal auf engstem Raum aus (S. 134): ,,Qui passus es pro nobis, / Jesu Christe, / miserere nobis". An den bezeichneten Einschnitten wiederholt Chor II die gleichen Worte, die zuerst der Chor I vortragt, aber musikalisch im Stimmenaustausch, bei ,,miserere nobis" in rhythmischer Imitation, und auch wenn noch einmal das ,,miserere nobis" achtstimmig erklingt, imitiert Chor II rhythmisch. Hier deuten Stimmenaustausch und rhythmische Imitation auf das Fugenprinzip. Da- mit wird in diesem Werk die motettische Arbeit besiegelt. Zwischen dieser Passion und den doppelchorigen Passionen von G. de Albertis scheint nach den Hinweisen Jeppesens keine Beziehung zu bestehen 1. Gallus schaute auf die hochsten Vorbilder venezianischer Mehrchorigkeit.

1 A Foryotten Master, S. 321.

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Zur motettischen Passion des 16. Jahrhunderts 243

Die Stelle ,,[Orabat autem Jesus] pro crucifigentibus se" (S. 130) bereitete schon Kade Kopfzerbrechenl. Sie ist wohl, was die Akzidentien betrifft, etwas anders zu lesen als bei ihm und in DTO, wahrscheinlich so:

b<, § 2 I ° S rXp J < jf fflr Sr C f C I f f I O - ra_ bat au - tem Je - sus pro cru-ci - fi-gen-ti - bus se, di - cens:

ibq, W l lo J 2 1 2 Jo | g J"' fp'#S' r2 | J f o 1 i} /' O - ra - bat au - tem Je _ sus pro cru-ci - fi- gen-ti - bus se, di - cens:

f bq > I f r I f r I f f g g I: f f g I f f I O - ra - bat au - tem Je - sus pro cru- ci - fi- gen-ti - bus se, di - cens:

ibq, rI |o J r lf f z If fflr Cmr"S f C} f f 1z. O - ra _ bat au - tem Je - sus pro cru-ci - fi-gen-ti - bus se, di - cens:

In Takt 4 ist das in allen Stimmen vorgezeichnete $ Semantik (S = Crus) 2,

Es ist auch in der Oberstimme zu respektieren. Die so entstehenden Falsae sind nicht zu vermeiden, konnen aber ohne willkurlichen Eingriff in Takt 5 ausgeglichen werden. Dann werden sie als Ausdrucksfigur (Parrhesia) ver- standlich. Auch Nasco macht im Evangelistenbericht seiner Passion von der Parrhesia Gebrauch - sogar mehrere Male -, um bestimmte Textstellen her- vorzuheben, sehr auffallend bei der Kreuzesinschrift ,,Hic est Jesus...", schwacher bei ,,indignati sunt" und ,,error pejor" 3. Bei Gallus handelt es sich ebenfalls um eine Stelle mit berichtendem Text. Das fallt mit in die Waag- schale. Die in Beispiel 11 veranschaulichte akkordische Satzweise mit einer starken Ausdrucksfigur weist direkt auf madrigaleske Zuge in der ober- italienischen Passion hin. Trotzdem andert auch dieser EinfluB nichts an dem motettischen Charakter der achtstimmigen Gallus-Passion.

VerhaltnismaBig weniger vermischt mit italienischen Einflussen zeigt sich die s e c h s s t i m m i g e Passion von Gallus (S. 141 ff.) 4. Fugen in groSer Zahl mit im Contrapunctus coloratus gearbeiteten Satzstellen behalten das tDbergewicht uber akkordische und homorhythmische Partien. Das Exordium eroffnet die Komposition mittels einer durch alle Stimmen fugierten Ton- gruppe, deren meloctische Kontur aus der Trias harmonica gewonnen ist. Diese Tongruppe - ich scheue mich, fur diese Zeit von ,,Motiv" zu sprechen - kehrt in allen Teilen der Passion fugenbildend wieder. Ausdrucksfiguren sind

1 KADE, S. 58 2 ober Semantik in der Musik dieser Zeit hat sich grundlegend Fr. BLUME

geauBert: Musik und Bild, Festschrift Max Seiffert, Kassel 1938, S. 147 ff. 3 Oberital. Figuralpassion, S. 44, 3, 56. 4 Bis zum Ende des letzten Krieges bewahrte die Stadtbibl. Breslau in Ms mus.

XI sechs geschriebene Stimmbucher, signiert 1583; Inhalt drei Passionen, in der Reihenfolge OBRECHT, REGNART, GALLUS, von letzterem die sechsstimmige, die wohl die alteste von den drei GALLus-Passionen ist. Es ist mir nicht bekannt, ob sich diese Quelle heute noch in Breslau befindet.

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244 Arnold Schmitz

selten. Zu erwahnen ware die Circulatzo bei ,,circumdederunt eum" (S. 146), weil sie in ihrer Behandlung, fugiert in allen Stimmen, unmittelbar wieder- holt in der obersten Stimme, sofort an Lassus erinnert (Passionsmotette Trtstts est antma mea, GA V, S. 48 ff., Textstelle ,,quae circumdabit me"):

12 G allus

e r f r r S bS ' - r r S r r ur r cir . cum _ de _ de runt e - um, cir_ cum - de - de - runt e um

4 Lassus

gH r bg ' f r f $ r q: r f r quae cir - cum- da - bit me, quae cir - cum - da - bit me

An sich gehort die Circulatio ebenso wie die in dieser Gallus-Passion bei ,,emisit spiritum" (S. 153) erscheinende Susptratto zu den bekanntesten Aus- drucksfiguren in der Motette, wenn auch die Suspiratio seltener in allen Stim- men gleichzeitig - wie bei Gallus - ausgepragt ist.

Die drei Passionen des Gallus zeigen gegenuber ihren Vorgangern in der ersten Halfte des Jahrhunderts sehr deutlich das veranderte ATerhaltnis zum Choral. Das Streben nach einer weitraumigeren und farbigeren Klangbe- wegung, nach freieren und variabelen Tongruppen in der Fugenbildung, nach einer starkeren Ausdruckskunst lieB sich nicht mehr vereinbaren mit einer strengen Bewahrung der choralen Lektionsweise als Cantus firmus. Also wurde der chorale Passionston lockerer behandelt, ein melodisch so starrer Cantus firmus durch Paraphrasierung gebrochen, streckenweise uberhaupt ganz zuruckgestellt, oder die chorale Formel gelegentlich nur angedeutet. Ahnliche Grunde zeitigten ja auch in der italienischen Passionskomposition bei dem responsorialen Typus und bei Rore, Nasco und Ruffo ein ahnliches Resultat. MaBgebend dabei war ein anspruchsvollerer Dienst amWort.

Nun lassen sich solche Zuge gewiB nicht bei Gallus allein aufweisen, sie finden sich auch in den motettischen Passionen seiner Zeitgenossen, z. B. bei Jakob Regnart, dessen achtstimmige Passion (1583) 1 der achtstimmigen von Gallus ziemlich nahe steht. Darallf kann hier nicht rlaher eingegangen werden. Es kann ja nicht auf so knappem Raum eine komplette Geschichte der motet- tischen Passion entworfen werden. Dies wurde fordern, daB man eine andere Linie genauer verfolgt, die von Lassos Evangelienmotette und Passionen vor allem zu L e c h n e r hinfuhrt 2 dessen deutsch textierte Johannes-Passion zweifellos einen lIohepunkt in der Geschichte des motettischen Typus be- zeichnet. Auch Gallus steht nicht auBerhalb dieser Linie 3 was speziell seine

Vgl. die vorige Anm. 2 Neuerdings betont W. BOETTICHR.R, Orlando di Lasso und seine Zeit, Rassel u.

Basel 1958, S. 652, die Linie, die von LASSOS (Passionen) zu LECHNER fuhrt. 3 Darauf wies schon lI. J. MOSER hin, allerdings unter Hervorhebung der acht-

stimmigen GALLus-Passion: Die mehrstimmigeVertonung des Evangeltumsv Leipzig [1931], S. 29.

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245 Zur motettischen Passion des 16. Jahrhunderts

sechsstimmige Passion bezeugt. Die motettische Passion ist in der zweiten Halfte des Jahrhunderts vielgestaltig, wie die Motette uberhaupt. Aber es bleibt doch erstaunlich, daB gerade bei dieser Vielgestaltigkeit der GrundriB der O.-L.-Passion, die am Anfang der historischen Entwicklung dieses Typus steht, beibehalten wird bis zu Gesius (1613), ja sogar noch bis Demantius (1631). Dies zeigt sich besonders deutlich an der Stimmengruppierung bzw. dem Chorwechsel, wenn man beobachtet, wie die berichtenden und die spre- chenden Testpartien behandelt werden. Der Unterschied zwischen Bericht, Dialog und den Rufen der Turba wird zwar nicht als belanglos ubersehen, aber er wird in das oben erwahnte Ausgleichsverfahren hineingezogen, das mitbestimmt ist durch die verschiedenen Postulate der Varzatzo und des Color, der Hervorhebung bestimmterWorte und Textstellen, des zugigen Ver- laufs der Perioden innerhalb der einzelnen Teile der Komposition. Zuruck- gestellt ist in der zweiten Halfte des Jahrhunderts nur das Postulat der s t e t s deutlichen Vernehmbarkeit des choralen Passionstons.

In der hier vorgelegten Studie kam es vor allem darauf an, den Unter- schied zwischen der motettischen Passion und der durchkomponierten ober- italienischen Passion moglichst scharf herauszuarbeiten und geschichtlich zu begrunden, gerade auch dort, wo Begegnungen erfolgt sind.

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