20
Abstract: Kennt Luhmann Kant? http://www.kai-arzheimer.com/Luhmann/abstract.html[28.12.2014 09:03:32] Titel: Kennt Luhmann Kant? Luhmanns Auseinandersetzung mit dem Schematismusbegriff. Quelle: Associations . Journal for Legal and Social Theory (5) 2001, Seiten 95-114 In der vorliegenden Untersuchung hat sich gezeigt, daß es sich beim Kapitel 5.II entgegen dem Anschein, den der Text beim ersten und zweiten Lesen erweckt, nicht um eine substantielle Auseinandersetzung Luhmanns mit dem Kantschen Schematismusbegriff und der Subjektphilosophie handelt. Luhmann beschränkt sich bei seiner Darstellung des höchst komplexen Textes auf einen einzigen Aspekt, nämlich die Zeitlichkeit, und ignoriert dabei die Rezeption und den Forschungsstand zum Schematismusbegriff vollständig. Die Ausführungen zum Gemeinsinn zeigen darüber hinaus, daß er die zugrundeliegenden Texte teilweise nur oberflächlich zur Kenntnis genommen hat. Seine Argumentation gegen die Subjektphilosophie ist häufig sprunghaft, dogmatisch und in weiten Teilen kaum nachvollziehbar. Auf Textbelege, die seine teilweise doch sehr weitreichenden Aussagen stützen könnten, verzichtet Luhmann fast vollständig. Hinzu kommt an vielen Stellen eine bemerkenswerte begriffliche Unklarheit bzw. die offenkundige Freude am Spiel mit synonym gebrauchten Ausdrücken. Das Kapitel ist deshalb meines Erachtens als Beitrag zu einem rational geführten Diskurs über die Probleme der Subjektphilosophie schlicht inakzeptabel. Nach mehrfacher gründlicher Lektüre des Textes drängt sich vielmehr der Eindruck auf, daß es Luhmann hier einzig und allein darum geht, einmal mehr zugunsten seiner eigenen systemtheoretischen Betrachtungsweise gegen das ,,alteuropäische Denken`` zu polemisieren und sich dabei den Anstrich philosophischer Belesenheit zu geben. Letzten Endes liegt der genuin philosophische Gehalt des Kapitels in der Erkenntnis, daß Luhmann sich vom Schematismusbegriff zum Konzept der ,,temporalisierten`` Systeme hat anregen lassen und dies anscheinend als eine Weiterführung, wenn nicht als Überwindung Kants ansieht. Eine im eigentlichen Sinne philosophische Auseinandersetzung mit Luhmann erscheint deshalb zumindest vor dem Hintergrund dieses Unterkapitels als wenig lohnend. Volltext: HTML , PDF zur ck zur Homepage zur ck zur Publikationsliste Kai Arzheimer 2001-07-09

Arzheimer, Kennt Luhmann Kant Luhmanns Auseinandersetzung Mit Dem Schematismusbegriff

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Kai ArzheimerKennt Luhmann Kant? Luhmanns Auseinandersetzung mit dem Schematismusbegriff20seitiger Aufsatz von 2001

Citation preview

  • Abstract: Kennt Luhmann Kant?

    http://www.kai-arzheimer.com/Luhmann/abstract.html[28.12.2014 09:03:32]

    Titel: Kennt Luhmann Kant? Luhmanns Auseinandersetzung mit dem Schematismusbegriff. Quelle: Associations. Journal for Legal and Social Theory (5) 2001, Seiten 95-114

    In der vorliegenden Untersuchung hat sich gezeigt, da es sich beim Kapitel 5.II entgegen dem Anschein, den der Text beim ersten und zweiten Lesen erweckt, nicht um eine substantielle Auseinandersetzung Luhmanns mit dem Kantschen Schematismusbegriff und der Subjektphilosophie handelt. Luhmann beschrnkt sich bei seiner Darstellung des hchst komplexen Textes auf einen einzigen Aspekt, nmlich die Zeitlichkeit, und ignoriert dabei die Rezeption und den Forschungsstand zum Schematismusbegriff vollstndig. Die Ausfhrungen zum Gemeinsinn zeigen darber hinaus, da er die zugrundeliegenden Texte teilweise nur oberflchlich zur Kenntnis genommen hat.

    Seine Argumentation gegen die Subjektphilosophie ist hufig sprunghaft, dogmatisch und in weiten Teilen kaum nachvollziehbar. Auf Textbelege, die seine teilweise doch sehr weitreichenden Aussagen sttzen knnten, verzichtet Luhmann fast vollstndig. Hinzu kommt an vielen Stellen eine bemerkenswerte begriffliche Unklarheit bzw. die offenkundige Freude am Spiel mit synonym gebrauchten Ausdrcken. Das Kapitel ist deshalb meines Erachtens als Beitrag zu einem rational gefhrten Diskurs ber die Probleme der Subjektphilosophie schlicht inakzeptabel.

    Nach mehrfacher grndlicher Lektre des Textes drngt sich vielmehr der Eindruck auf, da es Luhmann hier einzig und allein darum geht, einmal mehr zugunsten seiner eigenen systemtheoretischen Betrachtungsweise gegen das ,,alteuropische Denken`` zu polemisieren und sich dabei den Anstrich philosophischer Belesenheit zu geben. Letzten Endes liegt der genuin philosophische Gehalt des Kapitels in der Erkenntnis, da Luhmann sich vom Schematismusbegriff zum Konzept der ,,temporalisierten`` Systeme hat anregen lassen und dies anscheinend als eine Weiterfhrung, wenn nicht als berwindung Kants ansieht. Eine im eigentlichen Sinne philosophische Auseinandersetzung mit Luhmann erscheint deshalb zumindest vor dem Hintergrund dieses Unterkapitels als wenig lohnend.

    Volltext: HTML, PDF

    zurck zur Homepage

    zurck zur Publikationsliste

    Kai Arzheimer 2001-07-09

  • Kennt Luhmann Kant? Luhmanns Auseinandersetzung mit dem Schematismusbegriff

    http://www.kai-arzheimer.com/Luhmann/Luhmann.html[28.12.2014 09:05:44]

    Nchste Seite: Inhalt Inhalt

    InhaltEinleitung und FragestellungDer Begriff des Schematismus bei Kant,,Weder Subjekt noch Objekt``

    Stellung des Kapitels innerhalb des WerkesArgumentationsgang

    Subjektphilosophie und ,,Selbstbeschreibung`` der GesellschaftLuhmanns Darstellung des SchematismusbegriffsLuhmanns Schlufolgerungen zu Kants SchematismusbegriffLuhmanns Entwicklung des SubjektbegriffsDie ,,Auflsung`` der Probleme der SubjektphilosophieDer Schluteil des Kapitels 5.II

    FazitLiteraturber dieses Dokument ...

    PDF-Version dieses ArtikelsZurck zur PublikationslisteZurck zur Homepage

    Kai Arzheimer 2001-07-09

  • 1 Einleitung und Fragestellung

    Niklas Luhmanns jngste Monographie, Die Gesellschaft der Gesellschaft , wird

    vom Autor selbst als Schlukapitel seiner soziologischen Theorie der Gesellschaft

    angesehen. Mit den Sozialen Systemen , so Luhmann, habe er das systemtheore-

    tische Einleitungskapitel zu dieser umfassenden Gesellschaftstheorie vorgelegt

    (Luhmann 1997: 11), whrend seine Publikationen zum Wirtschafts-, Wissen-

    schafts-, und Rechtssystem sowie zur Kunst als Theorien fr einzelne Funktions-

    systeme [der Gesellschaft] gelten sollen (Luhmann 1997: 12). Das vorliegende

    Werk hingegen arbeitet zum einen die allgemeinen theoretischen berlegungen,

    die Luhmann in den Sozialen Systemen (Luhmann 1994, Erstauage 1984) und

    in zahllosen Einzelpublikationen entwickelt hat, weiter aus; zum anderen ver-

    sucht sich Luhmann an einer historischgenetisch angelegten Beschreibung der

    gesamten Gesellschaft, die von ihm als Weltgesellschaft (Luhmann 1997: 78) in

    einem nichtemphatischen Sinne konzipiert wird.

    Aus soziologischer Sicht kann man mit guten Grnden die Frage stellen, ob ein

    solches Unternehmen berhaupt sinnvoll durchfhrbar ist, und, falls man dieses

    bejaht, ob die Luhmannsche Systemtheorie dazu die geeigneten Instrumente zur

    Verfgung stellt. Luhmann selbst weist in diesem Zusammenhang darauf hin,

    da schon Georg Simmel angesichts der Schwierigkeiten, die sich aus einer derart

    globalen Fragestellung ergeben, lieber den Gesellschaftsbegri als das soziolo-

    gische Interesse an Individuen geopfert habe (Luhmann 1997: 26). Luhmanns

    weitreichender Anspruch an seine eigene Theorie, der in der Formulierung mit-

    schwingt, Seit den Klassikern, seit etwa 100 Jahren also, hat die Soziologie in

    der Gesellschaftstheorie keine nennenswerten Fortschritte gemacht (Luhmann

    1997: 20), seine Konikte mit den Vertretern der Kritischen Theorie auf der

    einen und des empirischen Mainstream auf der anderen Seite sind hier jedoch

    von nachgeordneter Bedeutung. Im Zentrum steht vielmehr die Frage nach der

    philosophischen Relevanz des Luhmannschen Theoriegebudes.

    Hier bieten sich drei mgliche Anknpfungspunkte:

    1. Seit Luhmanns publikumswirksamer Auseinandersetzung mit Jrgen Ha-

    bermas ber die Legitimitt bzw. Legitimierbarkeit (vgl. Heidorn 1982)

    sptkapitalistischer Gesellschaftsentwrfe wird Luhmanns Theorien eine

    gewisse sozialphilosophische Relevanz zugesprochen.

    2. Luhmanns systemtheoretisches Forschungsprogramm beruht auf Grund-

    annahmen, die dem Konstruktivismus nahestehen; von daher sind seine

    Schriften von erkenntnistheoretischer Bedeutung.

    3. Luhmann, von Hause aus Jurist und Verwaltungswissenschaftler, wurde,

    nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, nach seiner eigenen Ein-

    schtzung erst durch die Lektre von Husserl und Schtz dazu angeregt,

    sich mit soziologischen Themen auseinanderzusetzen. Wohl in Folge dessen

    setzt sich Luhmann nicht nur mit den Klassikern soziologischen Denkens

    1

  • auseinander, sondern greift auch fr einen Soziologen ungewhnlich hu-

    g auf Gedanken von Aristoteles, Leibniz, Descartes oder Kant zurck.

    An diesem letzten Punkt mchte ich ansetzen, denn meines Erachtens bleibt

    Luhmanns Beschftigung mit den philosophischen Klassikern hug an der

    Oberche und wird den komplexen Gedankengebuden, auf die er sich be-

    zieht, nicht gerecht. Oft drngt sich der Verdacht auf, da Luhmann sich nicht

    ernsthaft mit den zugrundeliegenden Texten beschftigt, sondern mittels der in

    seinem legendren Zettelkasten gesammelten Lesefrchte einmal mehr gegen das

    alteuropische Denken polemisiert. Eine Mglichkeit, diese Hypothese ansatz-

    weise zu berprfen, bietet das Unterkapitel 5.II. In diesem Abschnitt nimmt

    Luhmann immer wieder auf Kants Hauptstck ber den Schematismus der rei-

    nen Verstandesbegrie (Kritik der reinen Vernunft, B 176-188) Bezug. Dadurch

    ergibt sich die Mglichkeit, an einer kurzen, aber exemplarischen Passage zu un-

    tersuchen, wie Luhmann philosophische Gedanken aufgreift und verarbeitet.

    Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, in der Auseinandersetzung mit Luh-

    manns Text Antworten auf die folgenden Fragen zu nden:

    1. Welche Funktion hat die Auseinandersetzung mit Kant fr Luhmann?

    2. Wie verluft Luhmanns Argumentation gegen Kant bzw. gegen die Sub-

    jektphilosophie?

    3. Stellt Luhmann Kants Gedanken korrekt dar?

    4. Sind Luhmanns Argumente gegen Kant bzw. die Subjektphilosophie stich-

    haltig?

    5. Wie ist die Auseinandersetzung mit Kant zu beurteilen?

    Der Aufbau der Arbeit ergibt sich aus diesem Frageprogramm: In einem er-

    sten Abschnitt versuche ich sehr knapp darzulegen, worum es im Hauptstck

    Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegrie berhaupt geht. Daran

    anschlieend lege ich dar, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit dem

    Subjekt und damit mit Kant innerhalb der Gesellschaft der Gesellschaft hat.

    Darauf folgt eine ausfhrliche, schrittweise Rekonstruktion der Luhmannschen

    Argumentation in Kapitel 5.II (Weder Subjekt noch Objekt). Weitere, ber

    den gesamten Text verstreute philosophische Aussagen Luhmanns mssen un-

    bercksichtigt bleiben. Im letzten Abschnitt schlielich versuche ich zu einem

    abschlieenden Urteil ber Luhmanns KantRezeption zu kommen.

    2 Der Begri des Schematismus bei Kant

    Bei Kants Hauptstck ber den Schematismus der reinen Verstandesbegrie

    handelt es sich um ein vergleichsweise kurzes (B 176 - B 187), aber schwer

    2

  • verstndliches Unterkapitel aus der Kritik der reinen Vernunft . Kant versucht

    in dieser Passage, die Verbindung zwischen der Vorstellung eines Gegenstandes

    und den Verstandesbegrien herzustellen. Das Problem, das Kant hier sieht,

    besteht darin, da die reinen Verstandesbegrie von gnzlich anderer Qualitt

    als die Anschauungen sind:

    Nun sind aber reine Verstandesbegrie, in Vergleichung mit em-

    pirischen (ja berhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleich-

    artig, und knnen niemals in irgendeiner Anschauung angetroen

    werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die erste,

    mithin die Anwendung der Kategorie auf die Erscheinungen mg-

    lich, da doch niemand sagen wird: diese, z.B. die Kausalitt, knne

    auch durch Sinne angeschauet werden und sei in der Erscheinung

    enthalten? (B 176f.)

    Erforderlich ist deshalb nach Kant ein Drittes [. . . ], was einerseits mit der

    Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen mu. . .

    (B177). Diese vermittelnde Vorstellung bezeichnet Kant als das transzenden-

    tale Schema (B 178). Dieses Schema ist ber die Zeit sowohl mit der Kategorie

    als auch mit der Vorstellung verbunden:

    Nun ist eine transzendentale Zeitbestimmung mit der Kategorie

    (die die Einheit derselben ausmacht) so fern gleichartig, als sie allge-

    mein ist und auf einer Regel a priori beruht. Sie ist aber andererseits

    mit der Erscheinung so fern gleichartig, als die Zeit in jeder empiri-

    schen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist. Daher wird eine

    Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen mglich sein, vermit-

    telst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema

    der Verstandesbegrie, die Subsumtion der letzteren unter die erste

    vermittelt. (B 178f.)

    Letztlich kann das Schema als eine Bilderzeugungsmethode, als Exemplikati-

    onsanweisung (Baumanns 1997: 533) verstanden werden, die zwischen Vorstel-

    lungen und Begrien vermittelt. Da es hier hauptschlich um Luhmanns Aus-

    einandersetzung mit Kant geht, ist es an dieser Stelle meines Erachtens zunchst

    nicht ntig, detaillierter auf den Schematismusbegri einzugehen. Festzuhalten

    bleibt aber, da es sich hier um einen hchst komplexen und schwierigen Text

    mit einer umfangreichen Wirkungsgeschichte handelt. Peter Baumanns' Kom-

    mentar zur Kritik der reinen Vernunft widmet dieser kurzen Passage knapp 40

    Textseiten. Allein die Darstellung der nach Baumanns auf einem Miverstnd-

    nis (Baumanns 1997: 541) beruhenden Rezeption des Schematismus durch

    Heidegger und die Modikation und Interpretation des Begris durch die Neu-

    kantianer umfat rund 20 Seiten Text. Das von der KantForschungsstelle er-

    stellte Verzeichnis der in Mainz verfgbaren Aufstze zu Kant enthlt ber

    30 Titel aus der deutschsprachigen und internationalen Literatur, die auf das

    Hauptstck ber den Schematismus Bezug nehmen.

    3

  • 3 Weder Subjekt noch Objekt

    3.1 Stellung des Kapitels innerhalb des Werkes

    Die Gesellschaft der Gesellschaft zerfllt in fnf groe Abschnitte, deren letzter

    sich mit den Selbstbeschreibungen der Gesellschaft befat. Damit wird, wie

    Luhmann formuliert, in diesem Kapitel unser Thema zum Thema, nmlich die

    Gesellschaft der Gesellschaft (Luhmann 1997: 866).

    Was ist unter solchen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft zu verstehen?

    Als Gesellschaft bezeichnet Luhmann das umfassende Sozialsystem (Luhmann

    1997: 78), das alle anderen Sozialsysteme in sich einschliet. Unter einem sozia-

    len System wiederum versteht Luhmann ein Gebilde, da sich aus Kommu-

    nikationen und aus deren Zurechnung als Handlung

    1

    (Luhmann 1994: 240)

    zusammensetzt. Stark vereinfacht liee sich die Gesellschaft also als ein welt-

    umspannender Kommunikationsproze bezeichnen. Diese Lesart wird vom Text

    gedeckt:

    Wir werden noch sehen, da diese Analyse uns festlegt auf die

    Annahme eines einzigenWeltgesellschaftssystems, das gleichsam pul-

    sierend wchst oder schrumpft, je nachdem, was als Kommunikation

    realisiert wird. Eine Mehrheit von Gesellschaften wre nur denkbar,

    wenn es keine kommunikativen Verbindungen zwischen ihnen gbe

    (Luhmann 1997: 78).

    Wie soll nun ein solcher Kommunikationsproze sich selbst beschreiben? Zwar

    kann man sich ohne weiteres vorstellen, da innerhalb einer Kommunikation

    auf die Kommunikation selbst Bezug genommen wird, also Metakommunikation

    vorliegt. Solche metakommunikativen Akte gehen aber von den Akteuren aus,

    die am Kommunikationsproze beteiligt sind, nicht vom Proze selbst. Das zu-

    grundeliegende logische bzw. begriiche Problem hat Hartmut Esser sehr klar

    herausgearbeitet:

    Luhmann spricht hier von der Selbstbeobachtung` und von der

    Selbstbeschreibung` sozialer Systeme, also: der Kommunikation hchst-

    selbst. Das klingt sehr eigenartig. Wie sollte beispielsweise eine Ge-

    prch sich selbst als Handlung` vorstellen oder als ablaufendes Sy-

    stem beobachten knnen? Knnen das nicht eigentlich nur leibhafti-

    ge Menschen? Soziale Systeme haben weder Augen und Ohren noch

    Gehirne oder ein Gedchtnis. Davon knnte allenfalls in Metaphern

    gesprochen werden, so wie bei Emile Durkheim vom Kollektivbe-

    wutsein oder bei Maurice Halbwachs vom kollektiven Gedchtnis

    der Gesellschaft (Esser 1996: 514).

    1

    Luhmann verwendet einen nach soziologischen Mastben zumindest ungewhnlichen

    Handlungsbegri (vgl. Esser 1996: 506.), auf den an dieser Stelle aber nicht weiter ein-

    gegangen werden mu.

    4

  • Die Beschftigung mit diesem Widerspruch ist kein Selbstzweck. Zum einen

    schrft sie den Blick fr ein grundstzliches Problem der Luhmannschen Theo-

    riebildung, nmlich die Tendenz, soziale Systeme wie Kollektivsubjekte zu be-

    schreiben. Wenn Luhmann den sozialen Systemen so etwas wie Bewutsein zu-

    zuschreiben scheint, verstt er damit meines Erachtens gegen eine von ihm

    selbst aufgestellte und hchst sinnvolle Regel: Vergleiche zwischen verschiede-

    nen Arten von Systemen mssen sich an eine Ebene halten (Luhmann 1994:

    17). Nur so lt sich erklren, da er die Mglichkeit, die Gesellschaft als Subjekt

    zu beschreiben, berhaupt in Betracht zieht, um davon ausgehend die Subjekt-

    philosophie zu attackieren. Zum anderen liefert sie den Schlssel dafr, warum

    Luhmann dieses letzte Kapitel berhaupt geschrieben hat. Denn auch Luhmann

    selbst geht keineswegs davon aus, da eine sogenannte Selbstbeschreibung der

    Gesellschaft von der Gesellschaft selbst geleistet wird:

    . . . auch hier gibt es statt dessen imaginre Konstruktionen der

    Einheit des Systems, die es ermglichen, in der Gesellschaft zwar

    nicht mit der Gesellschaft, aber ber die Gesellschaft zu kommu-

    nizieren. Wir werden solche Konstruktionen Selbstbeschreibungen`

    des Gesellschaftssystems nennen (Luhmann 1997: 866f.).

    Obwohl Luhmann den Gedanken, da diese sogenannten Selbstbeschreibungen

    von einzelnen Akteuren, also psychischen Systemen vorgenommen werden, si-

    cher ablehnen wrde (und deshalb folgerichtig formuliert, da das System zu

    einer Mehrheit von Auassungen ber seine eigene Komplexitt (Luhmann

    1997: 876) tendiere), geht er doch oensichtlich davon aus, da es innerhalb der

    Gesellschaft eine Vielzahl von mehr oder minder zweckmigen Selbstbeschrei-

    bungen gibt und gegeben hat. Ziel dieses ber 180 Druckseiten umfassenden

    Kapitels ist es damit letztlich, nachzuweisen, da diese Beschreibungen unzu-

    reichend sind, um dann die Systemtheorie Luhmannscher Provenienz als eine

    Selbstbeschreibung der Gesellschaft zu etablieren, die ihre eigenen Grenzen re-

    ektiert: Abschlieend reformulieren wir das in diesem Buch dargestellte Kon-

    zept einer Gesellschaftstheorie als Angebot einer Beschreibung der Gesellschaft

    in der Gesellschaft (Luhmann 1997: 1128).

    Dabei qualiziert Luhmann rund 2.500 Jahre europischer Geistesgeschichte

    ab, indem er den Welt- bzw. Gesellschaftsbeschreibungen der Vergangenheit

    pauschal einen Mangel an Reexionsvermgen unterstellt:

    Die Darstellungen der vorangegangenen Abschnitte haben die

    Selbstbeschreibungen der Gesellschaft als historische Semantik be-

    handelt und sie bis an die Gegenwart herangefhrt. Aber natrlich

    waren diese Semantiken nicht fr sich selbst Semantiken` gewesen,

    sondern man

    2

    hatte geglaubt, das beschreiben zu knnen, was der

    2

    Nur am Rande sei darauf hingewiesen, da es sich hier um eine der Stellen handelt, an

    denen die oben angesprochene Vermischung der Systemebenen fr Verwirrung sorgt: Bei den

    historischen Semantiken handelt es sich um Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, aber

    5

  • Fall ist oder doch sein sollte. Die von Zeit zu Zeit aufkommende

    Einsicht, da es sich um Beschreibungen handele, die unangemessen

    geworden waren (. . . ) fhrte nur zu einer Verschiebung des blinden

    Flecks, in dem der Beobachter sich selbst verborgen hlt (Luhmann

    1997: 1110).

    Damit scheint klar zu sein, da es sich bei weiten Teilen des fnften Kapitels

    um eine Art Ideologiekritik handelt, die Argumente dafr liefern soll, da die

    von Luhmann vorgeschlagene Selbstbeschreibung den bisherigen Entwrfen

    berlegen sei. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Kritik an der Semantik

    Alteuropas, der er fnf eigene Unterkapitel (5.IV bis 5.VIII) widmet. Als alt-

    europisch bezeichnet Luhmann

    eine spezische Sichtweise, [die] honungslos veraltet und pass

    ist. Honungslos veraltet, wenn auch nach Luhmann leider noch

    nicht pass, ist dasjenige Denken, das er ontologisches Denken nennt

    (GrippHagelstange 1995: 15).

    Das Kapitel 5.II, in dem Luhmann sich mit dem Begrispaar Subjekt Objekt

    befat, bildet gleichsam einen Vorspann zu dieser Auseinandersetzung.

    3.2 Argumentationsgang

    Luhmanns Argumentationsgang in diesem Kapitel ist nicht leicht zu rekonstru-

    ieren, weil eine klare Binnenstruktur kaum zu erkennen ist. Vergleicht man das

    Kapitel mit hnlichen Passagen aus den Sozialen Systemen , so fllt auf, da mit

    dem Verzicht auf die dichte Schreibweise, die den Zugang zu diesem Werk er-

    schwert, auch ein Rckgang der argumentativen Stringenz einhergeht. Luhmann

    springt in diesem Kapitel von Gedanke zu Gedanke. Die von mir im folgenden

    zugrundegelegte Gliederung ist deshalb hauptschlich als grobe Orientierung ge-

    dacht. Im folgenden werde ich versuchen, das Kapitel Abschnitt fr Abschnitt

    zu rekonstruieren und mich dabei mglichst eng an den Text halten.

    3.2.1 Subjektphilosophie und Selbstbeschreibung der Gesellschaft

    Luhmann beginnt das Kapitel mit einer Denition, indem er das Subjekt von

    der Substanz abgrenzt und als die Selbstreferenz selbst als Grundlage von Er-

    kennen und Handeln (Luhmann 1997: 868) bezeichnet. Diese Denkgur will

    Luhmann nicht ohne weiteres auf die Gesellschaft bertragen, sondern viel-

    mehr die Ergebnisse der Subjektphilosophie wie Untiefen ansehen, auf die

    das Schi der Gesellschaftstheorie nicht auaufen soll (Luhmann 1997: 868).

    Luhmann geht es also in diesem Kapitel ausdrcklich darum zu prfen, ob die

    man hatte geglaubt, damit etwas beschreiben zu knnen. Wer ist denn wohl man`, so

    mchte man schon fragen (Esser 1996: 515), wenn nicht ein psychisches System?

    6

  • Gesellschaft, nach seiner Denition das umfassendste soziale System, als Subjekt

    gedacht werden kann. Mit anderen Worten: Luhmann wirft die Frage auf, ob

    eine Denkgur, die in der Philosophie zur Beschreibung psychischer Systeme

    entwickelt wurde, zur Beschreibung eines sozialen Systems geeignet sein knnte,

    und gert damit in das logischbegriiche Problem, das im vorangegangenen

    Abschnitt dargestellt wurde.

    Zwei Ergebnisse der Subjektphilosophie was bzw. wen Luhmann mit diesem

    Begri genau meint, bleibt zunchst unklar bleiben fr ihn wichtig und ber-

    nehmbar (Luhmann 1997: 868). Zum einen mchte Luhmann festgehalten

    wissen, da die auf operativer Ebene (klassisch: als Denken) etablierte Selbst-

    referenz alle codierten Vorgaben unterluft (Luhmann 1997: 868) und das Be-

    wutsein sich selbst kriterienlos identizieren kann, weil sowohl Codierungen

    als auch Kriterienbildung Eigenleistungen

    3

    der selbstreferentiellen Operations-

    weise sind (Luhmann 1997: 869).

    4

    Anders gewendet: Psychische System sind

    sich ihrer selbst einerseits gewi, knnen die Gltigkeit ihrer Selbstbeschreibung

    andererseits aber nicht garantieren. Dieses Ergebnis will Luhmann oenbar auf

    die Gesellschaft bertragen zumindest legt das die Funote 5 nahe, in der Luh-

    mann auf einen Beitrag von Dieter Henrich hinweist, der sich explizit dagegen

    ausspricht, diese und andere Einsichten ber Selbstverhltnisse vom Individu-

    um auf die Gesellschaft zu bertragen (Luhmann 1997: 869). Fr Luhmann

    ist das Phnomen der kriterienlosen Selbstidentizierung historisch zuerst am

    Bewutsein entdeckt worden, was nicht bedeuten mu, da dies der einzige

    Fall ist und bleibt (Luhmann 1997: 869). Der Gesellschaft, von ihm zu Beginn

    des Werkes als Kommunikationsproze bzw. als System von Kommunikationen

    deniert (Luhmann 1997: 78), knnte also nach Luhmann mglicherweise als

    ein Selbst, das sich kriterienlos identiziert, gedacht werden.

    Ein zweites Ergebnis der Subjektphilosophie sieht Luhmann in der

    operativen Fassung des Reexionsbegris mit der Implikation,

    da die Operation in ihrem Vollzug weder die Mglichkeit hat noch

    darauf angewiesen ist, sich selbst ihrem Thema einzuordnen, sich

    selbst mitzureektieren (Luhmann 1997: 869).

    Dieser Satz lt sich in zwei voneinander unabhngige Aussagen zerlegen. Zum

    einen unterstellt Luhmann wohl zurecht, aber ohne konkreten Beleg, da die

    Reexion in der Subjektphilosophie operativ, d. h. als analysierbarer Vorgang

    gedacht wird. Spter wird sich zeigen, da er hierin eine Parallele zu seiner

    eigenen Theoriebildung sieht.

    Dieser Befund wird aber im selben Satz schon wieder problematisiert: Die Ope-

    ration (darunter versteht Luhmann vermutlich den Vorgang des Reektierens)

    3

    Da Luhmann hier auch von Eigenwerten, einem Begri aus der Matrizenrechnung

    bzw. der Faktorenanalyse, spricht, ist nach konventionellem mathematischen Verstndnis nur

    schwer nachvollziehbar.

    4

    Auf welchen oder welche Vertreter der Subjektphilosophie sich Luhmann hier bezieht,

    belegt er nicht.

    7

  • hat nicht die Mglichkeit, sich selbst mitzureektieren und bedrfe dieser Mg-

    lichkeit auch gar nicht. Luhmanns Formulierung an dieser Stelle ist unprzise,

    denn man kann sich nur schwer vorstellen, wie ein Vorgang sich selbst reektie-

    ren soll. Gemeint ist vermutlich, da das reektierende Subjekt die Tatsache,

    da sein Weltbild von ihm selbst nicht unabhngig ist, beim Beobachten nicht

    mitreektiert bzw. den Modus des Beobachtens nicht entsprechend gestaltet

    und sich der Problematik der Selbstbeobachtung nicht bewut ist. Das Sub-

    jekt der Subjektphilosophie, so Luhmann, habe auch dieses (von ihm nicht klar

    denierte, mglicherweise zweidimensionale) Problem noch mit dem Schema

    Subjekt/Objekt einzufangen versucht und sei damit gescheitert (Luhmann

    1997: 869). Da der Autor auch hier auf die Angabe einer Belegstelle verzichtet

    und sich statt dessen auf JeanPaul beruft, ist diese Unterstellung substanti-

    ell nicht nachprfbar. Vor dem Hintergrund der kritischen Philosophie Kants

    scheint es aber kaum angebracht, der Subjektphilosophie pauschal Naivitt zu

    unterstellen, wie es hier geschieht.

    3.2.2 Luhmanns Darstellung des Schematismusbegris

    An dieser Stelle nun erfolgt ein konkreter Bezug auf Kant, nmlich auf das

    Hauptstck ber den Schematismus. Kant habe damit zwar (. . . ) den Versuch

    unternommen, das Problem des Verhltnisses von Auenwelt und Erkenntnis

    im Subjekt selbst zu lsen (Luhmann 1997: 869). Die Lsung liege aber ganz

    im Bereich der Subjektivitt, nmlich im Verhltnis des inneren Sinnes zu den

    Vorstellungen des Verstandes und nicht im Verhltnis des Subjektes zur Au-

    enwelt (Luhmann 1997: 870). Damit ist das Problem, das Luhmann in der

    Subjektphilosophie sieht, zumindest etwas deutlicher umrissen: Er stellt die Fra-

    ge, inwieweit ein Subjekt eine Umwelt, in die es eingebettet ist, objektiv er-

    kennen kann.

    Bevor er zu diesem Schlu kommt, referiert Luhmann jedoch sein Verstndnis

    des SchematismusKapitels. Kant, so Luhmann, versuche das Problem des Ver-

    hltnisses von Auenwelt und Erkenntnis im Subjekt selbst zu lsen, indem er

    einen reentry` der Unterscheidung in sich selbst vornehme (Luhmann 1997:

    869). Der Sinngehalt dieser Formulierung erschliet sich nicht ohne weiteres: Was

    genau meint Luhmann damit, da die Unterscheidung (zwischen Subjekt und

    NichtSubjekt?) in sich selbst wieder aufgenommen wird? Am ehesten scheint

    diese Passage im Sinne eine fortschreitenden Dierenzierung interpretierbar zu

    sein: Das Subjekt unterscheidet zwischen sich und der Umwelt und dierenziert

    dann bei der Reexion seiner selbst zwischen weiteren Bestandteilen.

    Dieser Schlu mu sich allerdings auf eine Kette von Spekulationen sttzen: Luh-

    mann versteht das Subjekt anscheinend als eine Art System, das entsprechend

    der Luhmannschen Denkgur mit einer binren Unterscheidung, vermutlich der

    zwischen Subjekt und NichtSubjekt, worunter dann ein Objekt zu verstehen

    wre, operiert`. Wenn das SubjektSystem nun sich selbst als Betrachter seiner

    Auenwelt zum Gegenstand seiner Betrachtungen macht, mit anderen Worten

    eine Erkenntnistheorie entwickelt, wird es fr sich selbst zum Objekt. Damit

    8

  • liegt jenes Phnomen vor, das in Luhmannscher Terminologie als reentry

    5

    be-

    zeichnet wird: Der Begri des reentry bezeichnet die Fhigkeit autopoietischer

    Systeme [. . . ] diese Unterscheidung in sich selbst einzufhren und zur Struktu-

    rierung der eigenen Operationen zu verwenden (Baraldi/Corsi/Esposito 1998:

    152).

    Den Kern des SchematismusTextes sieht Luhmann scheinbar in der aulli-

    gen Verschiebung des Problems aus der Sachdimension (bereinstimmung) in

    die Zeitdimension (Luhmann 1997: 869). Die von Kant geforderte Gleichar-

    tigkeit von Gegenstand und Vorstellung liege fr diesen in ihrem Verhltnis zur

    Zeit (Luhmann 1997: 870). Der Schematismus, verstanden als eine Art Kon-

    struktionsanweisung, leiste diese Verbindung:

    Die Mannigfaltigkeit der Gegenstnde sei dem inneren Sinn als

    ein Zeitverhltnis gegeben, und eben deshalb msse sich die Vor-

    stellung eines Gegenstandes eines Schematismus` bedienen, der den

    Gegenstand nicht abbilde, sondern ein Verfahren der Konstruktion

    des Gegenstandes (wie zum Beispiel das Ziehen eines Kreises) an

    die Hand gebe und damit seinerseits Zeit in Anspruch nehme (Luh-

    mann 1997: 870).

    3.2.3 Luhmanns Schlufolgerungen zu Kants Schematismusbegri

    An diese Darstellung schliet sich eine dreifache Wertung an:

    1. Die Bezugnahme auf die Zeit, also auf die Modellierung von Erkenntnis als

    Proze mu als Hinweis fr weiterfhrende berlegungen interessieren

    (Luhmann 1997: 870), kann also oenbar als Anregung fr Luhmanns

    eigene Theoriebildung dienen.

    2. Kants Lsung des (meines Erachtens von Luhmann nicht hinreichend klar

    denierten) Problems ist nach Luhmanns Verstndnis oenbar unzurei-

    chend: . . . bei Kant selbst liegt diese Lsung ganz im Bereich der Sub-

    jektivitt, nmlich im Verhltnis des inneren Sinnes zu den Vorstellungen

    des Verstandes und nicht im Verhltnis des Subjekts zur Auenwelt

    (Luhmann 1997: 870).

    3. Dieser von Luhmann diagnostizierte Mangel wird als Ursache fr die Su-

    che Schleiermachers nach einer externen (transzendenten) Begrndung

    der Einheit dieser Dierenz [von Subjekt und Objekt] (Luhmann 1997:

    5

    Es wre interessant, der Frage nachzugehen, inwieweit Luhmanns Begrisverwendung

    durch das von ihm hug zitierte Werk George Spencer Browns ( Laws of Form ) tatschlich ge-

    deckt wird. Immerhin scheint eine gewisse heimliche Freude mitzuschwingen, wenn Luhmann

    darauf hinweist, da Autor und Werk in Deutschland nahezu unbekannt geblieben und trotz

    meines Hinweises selbst in der Universittsbibliothek Bielefeld unter dem falschen Buchsta-

    ben gefhrt werden (Luhmann 1996: 107). Eine solche Untersuchung wrde den Rahmen

    dieser Arbeit jedoch sprengen.

    9

  • 870) interpretiert, denn dabei handelt es sich nach Luhmann um eine

    verstndliche Konsequenz. Der Wert dieser Begrndung wird implizit in

    Zweifel gezogen (. . . was immer man von der religisen Fassung dieses

    Auswegs halten mag (Luhmann 1997: 870)), ohne da Luhmann belegt,

    auf welchen Text Schleiermachers er sich hier bezieht.

    Aus dieser Bewertung (all das mitbedacht) ergibt sich fr Luhmann die Fra-

    ge, von was das Subjekt, das nach Luhmann mit Einmaligkeitsprtentionen

    auftritt, ohne da er einen Beleg dafr anfhrt, sich selbst unterscheidet: von

    der Welt? von Objekten? von anderen Subjekten? Oder nur von sich selbst,

    vom NichtIch (Luhmann 1997: 870). Mit anderen Worten: Luhmann stellt

    den Subjektbegri bzw. die Abgrenzung zwischen Subjekt und Auenwelt unter

    Ideologieverdacht, wie in der nchsten Passage deutlich wird.

    Es lohnt sich, den unmittelbar folgenden Satz zu zerlegen: Wenn man, so

    schreibt Luhmann, ohne da klar ist, auf wen sich das Pronomen bezieht

    Kant, dessen Interpret Luhmann oder die Subjektphilosophie schlechthin das

    (transzendentale) Subjekt so versteht, da es nur von sich selbst abhngt. . .

    (Luhmann 1997: 870). Luhmann fhrt hier also in Form eines Konditionalsat-

    zes eine Bedingung fr das Folgende an, wobei unklar bleibt, ob und in wessen

    Denken diese Bedingung erfllt ist, und nennt dementsprechend auch keine Text-

    stelle, auf die er sich bezieht. Ist diese Bedingung Abhngigkeit des Subjekts

    nur von sich selbst, was immer unter diesem abhngen genau zu verstehen

    ist, erfllt, so folgt nach Luhmann daraus, da man

    6

    das Problem des Inder

    WeltSeins in ein Problem des InsichselbstSeins [transformiert] (Luhmann

    1997: 870). Was genau unter diesen beiden Problemen und der Transformation

    des einen in das andere zu verstehen ist, geht meines Erachtens aus dem Text

    nicht klar hervor. Zu erkennen ist jedoch der Bezug auf den weiter oben von Luh-

    mann angesprochenen reentry` der Unterscheidung in sich selbst (Luhmann

    1997: 869). Aus dieser Transformation wiederum folge, so Luhmann, da das

    Subjekt irreexiv wird in Bezug auf die primren Unterscheidungen

    7

    , denen es

    die Mglichkeiten des Beobachtens verdankt (Luhmann 1997: 870). Unabhn-

    gig davon, ob dieser Schlu zwingend erscheint, ist auch an dieser Stelle keinerlei

    Bezug mehr zu Kants Text zu erkennen.

    Die folgenden drei Stze dienen im wesentlichen der Explikation dieses irre-

    exiv Werdens: Das Subjekt kann insoweit (also in Bezug auf die primren

    Unterscheidungen) die eigene Einbettung sei es in die Welt, sei es in die Ge-

    sellschaft

    8

    nicht mehr reektieren (Luhmann 1997: 870). Es wird, aus welchen

    Grnden auch immer, unterscheiden mssen zwischen den Bedingungen der

    Mglichkeit des Beobachtens und dem, was andere ihm dann als Ideologie, als

    historische Bedingtheit, als male bias` usw. zurechnen (Luhmann 1997: 870).

    6

    Auch hier lt Luhmann oen, auf wen sich man bezieht.

    7

    Bisher war nur von einer Unterscheidung die Rede, nmlich dem SubjektObjekt

    Schema (Luhmann 1997: 869).

    8

    Bei einem konstruktivistisch orientierten Sozialwissenschaftler erscheint es hchst unge-

    whnlich, da diese Begrie hier wenn nicht vllig austauschbar, so doch mit einer gewissen

    Beliebigkeit verwendet werden.

    10

  • Was hier mit mssen gemeint ist, ist zumindest nicht in einem oensichtlichen

    Sinne klar: Mu das Subjekt aus seiner eigenen Logik heraus annehmen, da

    seiner Erkenntnisfhigkeit Schranken gesetzt sind, es aber nicht den von auen

    unterstellten Kontingenzen unterworfen ist? Oder handelt es sich hier um eine

    weitere Unterscheidung im Luhmannschen Sinne, die sich zwingend aus der

    Systemeigenschaft ergibt? Der Text gibt auf diese Frage keine Antwort. Ent-

    scheidend fr Luhmann ist wohl nur, da das Subjekt der Subjektphilosophie,

    so wie er es in den Texten Kants zu erkennen glaubt, die eigene Kontingenz

    zumindest nicht voll

    9

    reektieren kann (Luhmann 1997: 870). Woraus dann

    wiederum folgt, da dem Subjekt nur noch die Mglichkeit bleibt, sich selbst

    dogmatisch vorauszusetzen (Luhmann 1997: 870). Jeglicher Textbeleg fr diese

    These fehlt.

    3.2.4 Luhmanns Entwicklung des Subjektbegris

    An dieser Stelle vollzieht Luhmann einen gedanklichen Sprung, indem er sich

    vllig vom SchematismusText abwendet und sich einem zweiten Aspekt des

    Subjekts, das er nun nicht mehr als Denkgur, sondern als Form im Sinne

    George Spencer Browns bezeichnet, zuwendet, nmlich der Individualitt. Hier

    glaubt Luhmann ebenfalls eine Paradoxie erkennen zu knnen, weil das Sub-

    jekt nach Selbstverwirklichung` strebt und diese ber ein Copieren von In-

    dividualittsmustern erreicht (Luhmann 1997: 871). Diese kulturkritische Be-

    merkung fhrt allerdings die Argumentation gegen den Subjektbegri nicht fort,

    sondern leitet lediglich zu einem neuen Gedanken ber: Luhmann betrachtet das

    Subjekt als ZweiSeitenForm

    10

    , die wiederum mit einer Selbstbeschreibung

    identisch zu sein scheint. Jede Selbstbeschreibung mu, (da sie eine Form

    11

    ist),

    etwas bezeichnen und anderes im Unbezeichneten lassen (Luhmann 1997:

    871). Diese Kontingenz der Selbstbeschreibung kann zwar noch bemerkt, aber

    nicht aufgehoben` werden; denn das Bemerken ist nur noch autologisch mg-

    lich. . . (Luhmann 1997: 871). Der Gehalt dieses Gedankens lt sich auch ohne

    Rckgri auf die logischen Kalkle von Spencer Brown und Gotthard Gnther

    zusammenfassen: Keine Beschreibung und somit auch keine Selbstbeschreibung

    kann ihre eigene Kontingenz vollstndig mitbeschreiben`, da sonst ein inniter

    Regre eintritt.

    An diese Passage schliet sich ein lngerer Abschnitt an, der aber inhaltlich zu-

    nchst nichts Neues bringt. Luhmann sieht hier, also in der Selbstbezglichkeit

    von Selbstbeschreibungen, den verborgenen Grund, der auch die zugelassenen

    SubjektUnterscheidungen in Schwierigkeiten bringt (Luhmann 1997: 871).

    9

    Die Frage, in welchem Umfang bzw. welche Aspekte der eigenen Kontingenz das Subjekt

    reektieren kann, lt Luhmann oen.

    10

    Zu Luhmanns bernahme des Formbegris von Spencer Brown vgl. Luhmann 1997: 60.

    11

    Luhmann ist hier terminologisch nicht sehr klar: Plausibel wre es, das Subjekt als eine

    spezische Selbstbeschreibung und die Selbstbeschreibungen als spezische Beschreibungen zu

    betrachten. Beschreibungen vollziehen sich wiederum durch Unterscheidungen, die durch den

    Formbegri charakterisiert werden. An einer systematischen Entwicklung seines Begrisappa-

    rates ist Luhmann anscheinend nicht gelegen.

    11

  • Was unter zugelassenen SubjektUnterscheidungen zu verstehen ist, zeigt sich

    dann im folgenden, wenn Luhmann nochmals darauf verweist, da das Subjekt

    die SubjektObjektUnterscheidung in sich selbst erzeugt und zugleich reek-

    tiert. Auch die weiter oben (Luhmann 1997: 870) aufgeworfene Frage, von was

    das Subjekt sich unterscheide, wenn es sich als Subjekt deniert, stellt Luh-

    mann an dieser Stelle noch einmal, nun allerdings vor dem Hintergrund seiner

    FormInterpretation des Subjektbegris. Da eine Form immer das, was sie

    nicht bezeichnet, im Unbezeichneten belassen mu (Luhmann 1997: 871),

    bleibt der Status von Welt unbestimmt (Luhmann 1997: 871). Diese globale

    Unbestimmtheit von Welt fhrt Luhmann dann zurck zu seiner oben vorgetra-

    genen Kritik am Konzept der Individualitt, die er thesenhaft formuliert:

    1. Ein Subjekt kann weder in der Welt vorkommen, denn das wrde heien,

    da die Welt sich selbst reektiert. . . (Luhmann 1997: 871),

    2. noch knnte es ein Individuum sein, das sich von anderen Individuen

    unterscheidet (Luhmann 1997: 871).

    3. Daraus soll wiederum folgen: Es kann daher auch nicht an Kommunika-

    tion teilnehmen (Luhmann 1997: 871f.).

    4. Und: Erst recht kann kein Subjekt, wenn es ein Individuum sein soll,

    dasselbe denken` wie ein anderes. . . (Luhmann 1997: 872).

    5. Der Grund hierfr: Denn Individuum kann es nur sein auf Grund einer

    operativen Schlieung und Selbstreproduktion seines eigenen Erlebens

    (Luhmann 1997: 872).

    Luhmanns Argumentation an dieser Stelle ist sprunghaft und schwer nachvoll-

    ziehbar, wenn nicht dogmatisch: Zunchst entsteht das von ihm in Satz 1 be-

    hauptete Paradox, da die Welt sich im Subjekt selbst reektiert, nur dann,

    wenn man von einem einzigen Subjekt ausgeht, das zum Selbstbeobachter wird.

    Aus einer Vielzahl von Subjekten, denen alle die gleichen Schranken der Er-

    kenntnis gesetzt sind, ergibt sich meines Erachtens nur dann ein Paradox der

    Selbstbezglichkeit, wenn ein Subjekt ein anderes Subjekt betrachtet und die so

    gewonnenen Erkenntnisse auf sich selbst zu bertragen versucht. Selbst daraus

    folgt aber nicht zwingend, da es in der Welt keine anderen Subjekte geben

    kann, sondern nur, da den Einsichten ber diese anderen Subjekte und ber

    sich selbst Grenzen gesetzt sind.

    12

    Satz 2 wird von Luhmann berhaupt nicht begrndet, dient aber dann als Beleg

    fr die noch weiter reichende Behauptung von Satz 3, da nmlich den Subjekten

    Kommunikation unmglich sei. Der Schlu von der Unmglichkeit von Indivi-

    dualitt auf die Unmglichkeit von Kommunikation ist umso verblender, als

    12

    Gerade um die Frage, ob und wie diese Grenzen berschritten werden knnen, geht es

    Kant.

    12

  • Luhmann selbst gemeinhin einen leeren` Kommunikationsbegri zugrundelegt,

    wie sein Verweis auf Garnkel

    13

    zeigt:

    Ausschlaggebend ist statt dessen , da Kommunikation fortge-

    setzt wird wie immer das dazu notwendige Bewutsein zum Mit-

    machen bewogen wird. Nie lt sich in der Kommunikation feststel-

    len, ob Bewutseinssysteme authentisch` dabei sind, oder nur das

    zum Fortgang Notwendige beitragen (Luhmann 1997: 874).

    Eine mgliche Erklrung bietet Funote 10, die sich so interpretieren lt, als

    referiere Luhmann in Satz 3 Kant: Hier ist allerdings einzurumen, da selbst

    Kant der Logik seiner Begriichkeit nicht folgt. . . (Luhmann 1997: 872). Diese

    Seitenlinie der Kritik an Kant bedarf meines Erachtens keiner weiteren Diskus-

    sion, da Luhmann hier schlicht zu bersehen scheint, da Kant sich an der von

    ihm zitierten Stelle nicht auf Erkenntnisurteile , sondern auf Geschmacksurteile

    bezieht (vgl. 20) immerhin stammt die von ihm zitierte Passage aus der Kritik

    der sthetischen Urteilskraft. Wie oberchlich sich Luhmann mit der betref-

    fenden beiden Paragraphen beschftigt hat, geht schon aus seiner Interpretation

    des Gemeinsinns als sensus communis, also common sense (Luhmann 1997:

    872, Funote 10) hervor: Die entsprechende Passage bei Kant lautet dagegen:

    Ein solches Prinzip aber knnte nur als Gemeinsinn angesehen

    werden, welcher vom gemeinen Verstande, den man bisweilen auch

    Gemeinsinn (sensus communis) nennt, wesentlich unterschieden ist :

    indem letzterer nicht nach Gefhl, sondern jederzeit nach Begrien,

    wiewohl gemeiniglich nur als nach dunkel vorgestellten Prinzipien,

    urteilt. (Kritik der Urteilskraft, 20, Hervorhebung K.A.)

    Luhmanns Urteil, die Philosophie sei hier in Verlegenheit (Luhmann 1997: 872,

    Funote 10) hat mit dem zugrundeliegenden Text und dem darin entwickelten

    Begrisapparat oensichtlich wenig zu tun.

    Auch die Stze 4 und 5 sind eher dogmatische Setzungen als nachvollziehba-

    re Argumentationsschritte: Ein Subjekt soll nur dann Individuum sein knnen,

    wenn es nicht dasselbe denkt wie ein anderes Subjekt. Dabei setzt Luhmann

    dasselbe denken in Anfhrungszeichen. Sollte es sich hier um ein Zitat han-

    deln, so bleibt unklar, wessen Gedanken Luhmann hier referiert. Begrndet wird

    diese Aussage dasselbe denken schliet Individualitt aus erstaunlicherwei-

    se durch nichts weiter als durch die Denition eines psychischen Systems Luh-

    mannscher Provenienz, nmlich durch den Rekurs auf operative Schlieung

    und Selbstreproduktion seines eigenen Erlebens (Luhmann 1997: 872).

    Ohne Individualitt, so Luhmann weiter, wre das Subjekt nichts anderes als

    eine semantische Figur, die Regel` der Selbstreexion, die Fhigkeit zu un-

    terscheiden, [. . . die] Selbstreferenz impliziert (Luhmann 1997: 872). Alle diese

    13

    Luhmann verweist pauschal auf Harold Garnkels Studies in Ethnomethodology , ein Werk

    von immerhin fast 300 Seiten. Bei den Experimenten, die diese These belegen sollen, bezieht er

    sich vermutlich auf die von Garnkel in den beiden Einleitungskapiteln angefhrten Beispiele.

    13

  • Formulierungen scheinen quivalent zu sein und reduzieren sich letztlich auf die

    Aussage, da das Subjekt ohne Individualitt nichts weiter als das sei, als was

    es von Luhmann weiter oben deniert wurde: Eine (ZweiSeiten)Form der

    Unterscheidung.

    Zwischen beiden Begrien gemeint sind aber nicht etwa Subjekt und Indivi-

    dualitt, sondern Selbstreferenz und Unterscheidung, wie aus dem bernchsten

    Satz hervorgeht sieht Luhmann ein zirkulres Implikationsverhltnis, was be-

    deuten wrde, da Selbstreferenz Unterscheidung und Unterscheidung Selbst-

    referenz impliziert (Luhmann 1997: 872). Dieses Verhltnis glaubt Luhmann

    aber entfalten zu knnen, indem er den Begrien unterschiedliche Gegen-

    begrie attachiert und sie dadurch unterscheidet (Luhmann 1997: 872). Mit

    anderen Worten: Luhmann fhrt, nunmehr ohne erkennbaren Bezug zum Sub-

    jektbegri, zur Individualitt und zu Kant Fremdreferenz und Bezeichnung

    als Gegenbegrie zu Selbstreferenz und Unterscheidung ein, weil somit rei-

    chere Formulierungen mglich werden (Luhmann 1997: 872f.), was Luhmann

    durch eine Frage illustriert, in der alle vier Begrie und zudem noch beobach-

    ten als Synonym fr bezeichnen verwendet werden.

    Fr Luhmann folgt (demnach) entweder aus der von ihm vorgenommenen

    Entfaltung oder aus dem Beispiel fr die reichhaltigeren Formulierungen,

    da etwas zugrundeliegt`

    14

    , nmlich die Benutzung einer Unterscheidung

    zur Dierenzierung von gleichzeitig praktizierter Selbst und Fremdreferenz

    (Luhmann 1997: 873). Welche der beiden von ihm vorgenommenen Unterschei-

    dungen das ist, bleibt ebenso unklar wie der Bezug des Zugrundeliegens. Diese

    Unterscheidung wird von Luhmann anscheinend wieder als Form konzipiert

    das legt die Rede von ihren beiden Seiten nahe und vollzieht sich als eine

    immer [. . . ] nur momenthaft aufblitzende Operation (Luhmann 1997: 873).

    Diese berlegungen fhren Luhmann zurck zum SchematismusText: In An-

    lehnung an die von Kant vorgenommene Verbindung von reinen Verstandesbe-

    grien mit den empirischen (ja berhaupt sinnlichen) Anschauungen (B176.)

    durch die Zeit (vgl. B179) will Luhmann die hier zu ndende Tendenz wei-

    ter[. . . ]fhren (Luhmann 1997: 873) und das Problem der Erkenntnis einer

    unabhngig von ihr [der Erkenntnis? K.A.] bestehenden Welt in die Zeitdimen-

    sion aufzulsen (Luhmann 1997: 873). Luhmann will also die von Kant vorge-

    schlagene Verknpfung zweier Konstituenten des Subjekts durch die Zeitlichkeit

    auf das Verhltnis von System und Umwelt bertragen.

    3.2.5 Die Ausung der Probleme der Subjektphilosophie

    Dieser Vorschlag gert ihm im nchsten Satz zur Tatsachenaussage: Die Rea-

    littsgarantie kann nur in der Art und Weise liegen. . . (Luhmann 1997: 873;

    Hervorhebung K.A.), aus der sich wiederum die scheinbar durch die Autoritt

    Kants gesttzte Folgerung ergibt, da dieser Mechanismus von einem psychi-

    14

    Die von Luhmann verwendeten Anfhrungszeichen suggerieren einmal mehr, da der Au-

    tor hier auf einen anderen Denker anspielt. Das Objekt dieser Fremdreferenz bleibt aber

    unbestimmt.

    14

  • schen System auf soziale Systeme bertragbar ist: :

    Wenn es aber dies ist, was die Gleichartigkeit` (Kant) des Er-

    kenntnisverfahrens mit der Gegenstandswelt, die es konstruiert, si-

    chert: was sprche dagegen, nach anderen empirischen Systemen mit

    der Fhigkeit zur Selbstreexion

    15

    zu suchen?

    Der Fall des Gesellschaftssystems ist ein solcher Fall (Luhmann

    1997: 873)

    Mit diesem Schlu ist die Auseinandersetzung Luhmanns mit Kant, zumindest

    was dieses Kapitel betrit, weitgehend abgeschlossen. Ich werde mich deshalb

    bemhen, die weitere Darstellung der Luhmannschen Argumentation mglichst

    stra zu halten.

    Im folgenden (Luhmann 1997: 874) kommt Luhmann zu dem Ergebnis, da,

    wenn der Subjektbegri auf die Gesellschaft bertragen wird, es sich hier um

    ein Subjekt ohne andere Subjekte handelt. Die (von ihm hier nicht geleistete)

    Begrndung hierfr liefert sein oben referiertes Verstndnis von Gesellschaft als

    weltumspannendem Kommunikationszusammenhang: In dem Moment, wo zwei

    solcher Zusammenhnge miteinander in Verbindung treten, verschmelzen sie zu

    einem einzigen.

    16

    Mit der Abwesenheit anderer Subjekte entfallen konsequenter-

    weise auch die Probleme der Subjektivitt, [. . . der] Intersubjektivitt [. . . und

    damit auch der] an Intersubjektivitt ausgewiesenen Objektivitt (Luhmann

    1997: 874). Was bleibt, ist die Selbstbeobachtung eines nunmehr als Subjekt

    bezeichneten Kommunikationszusammenhangs.

    Vom Problem der Intersubjektivitt springt Luhmann nun zur Kommunikati-

    on, fr die Intersubjektivitt nicht mehr vorausgesetzt werden mu dieses

    und andere Probleme der Subjektphilosophie lsen sich dadurch auf (Luh-

    mann 1997: 874). Dabei bersieht Luhmann, da er einerseits auf der Ebene

    der konventionellen` Subjekte, von denen eine Vielzahl existiert, argumentiert

    das dazu notwendige Bewutsein [wird] zum Mitmachen bewogen (Luhmann

    1997: 874), andererseits aber das Problem Intersubjektivitt nur auf der Ebene

    des Gesellschaftssystems aufgelst hat, weil es hier nur ein Subjekt gibt. Aus

    dieser (meines Erachtens oensichtlich falschen) Prmisse folgt dann fr ihn, da

    sich Kommunikation nicht auf ein Sozialapriori, nicht auf die Lebenswelt` oder

    oder auf sonst etwas zurckfhren [lt] (Luhmann 1997: 875). Unabhngig

    davon, wie man diese Aussage und den nonchalanten Umgang mit philosophi-

    schen Termini bewerten mchte, bleibt festzuhalten, da hier zumindest kein

    logischer Schlu vorliegt.

    15

    Auf Luhmanns problematische Gleichbehandlung von psychischen und sozialen Systemen

    wurde oben bereits ausfhrlich eingegangen.

    16

    Unverstndlich bleibt dann aber, warum Luhmann diesen Befund auf die heutigen Be-

    dingungen beschrnkt.

    15

  • 3.2.6 Der Schluteil des Kapitels 5.II

    Damit glaubt Luhmann, das Kernstck der Subjektphilosophie herausgebro-

    chen zu haben (Luhmann 1997: 875), was zur Folge hat, da auch deren an-

    dere Probleme problematisch werden. Gemeint ist damit lediglich, da a) die

    Gesellschaft in ihrer ganzen Komplexitt durch einen Einzelmenschen nicht

    adquat erfat werden kann, da b) kompetente externe Beobachter (d. h.

    vermutlich andere Gesellschaften) nicht zur Verfgung stehen und c) alles Be-

    obachten der Gesellschaft deshalb Selbstbeobachtung sein mu. Daraus wie-

    derum ergibt sich, da die Gesellschaft weder als Subjekt noch als Objekt im

    klassischen Sinne verstanden werden kann (Luhmann 1997: 875). Nur am Ran-

    de sei darauf hingewiesen, da Luhmann aus der Perspektive des sozialwissen-

    schaftlichen Mainstream hier oene Tren einrennt: Kaum ein Soziologe kme

    auf die Idee, die Gesellschaft als Subjekt zu verstehen; und da es sich bei der

    Gesellschaft (oder allgemeiner: bei sozialen Phnomenen) um einen Gegenstand

    handelt, der vollstndig und objektiv` beschrieben werden kann, wrden auch

    die Vertreter eines (vermeintlichen) Neopositivismus kaum behaupten wollen.

    Bei den Abschnitten auf den Seiten 876f. handelt es sich meines Erachtens im

    Kern um sprachliche Variationen ber das Phnomen der Selbstbeschreibung

    und der daraus resultierenden Probleme, die inhaltlich nichts Neues mehr brin-

    gen. Von philosophischer Relevanz ist allenfalls noch Luhmanns apodiktisches,

    in dieser Form nicht berprfbares Urteil, die Mathematik des reentry sei der

    Transzendentaltheorie berlegen, weil diese functional prerequisites` bentige

    (Luhmann 1997: 877), und die (aus konstruktivistischer Perspektive triviale)

    Bemerkung, da jede Formgarantie fr Objekte entfllt, wenn wir das Subjekt

    durch den Beobachter ersetzen und der Beobachter als autopoietisches System

    deniert wird (Luhmann 1997: 878).

    4 Fazit

    In den vorangegangenen Abschnitten hat sich gezeigt, da es sich beim Kapi-

    tel 5.II entgegen dem Anschein, den der Text beim ersten und zweiten Lesen

    erweckt, nicht um eine substantielle Auseinandersetzung Luhmanns mit dem

    Kantschen Schematismusbegri und der Subjektphilosophie handelt. Luhmann

    beschrnkt sich bei seiner Darstellung des hchst komplexen Textes auf einen

    einzigen Aspekt, nmlich die Zeitlichkeit, und ignoriert dabei die Rezeption und

    den Forschungsstand zum Schematismusbegri vollstndig. Die Ausfhrungen

    zum Gemeinsinn zeigen darber hinaus, da er die zugrundeliegenden Texte

    teilweise nur oberchlich zur Kenntnis genommen hat.

    Seine Argumentation gegen die Subjektphilosophie ist hug sprunghaft, dog-

    matisch und in weiten Teilen kaum nachvollziehbar. Auf Textbelege, die seine

    teilweise doch sehr weitreichenden Aussagen sttzen knnten, verzichtet Luh-

    mann fast vollstndig. Hinzu kommt an vielen Stellen eine bemerkenswerte be-

    griiche Unklarheit bzw. die oenkundige Freude am Spiel mit synonym ge-

    16

  • brauchten Ausdrcken. Das Kapitel ist deshalb meines Erachtens als Beitrag

    zu einem rational gefhrten Diskurs ber die Probleme der Subjektphilosophie

    schlicht inakzeptabel.

    Nach mehrfacher grndlicher Lektre des Textes drngt sich vielmehr der Ein-

    druck auf, da es Luhmann hier einzig und allein darum geht, einmal mehr

    zugunsten seiner eigenen systemtheoretischen Betrachtungsweise gegen das al-

    teuropische Denken zu polemisieren und sich dabei den Anstrich philosophi-

    scher Belesenheit zu geben. Letzten Endes liegt der genuin philosophische Ge-

    halt des Kapitels in der Erkenntnis, da Luhmann sich vom Schematismusbegri

    zum Konzept der temporalisierten Systeme hat anregen lassen und dies an-

    scheinend als eine Weiterfhrung, wenn nicht als berwindung Kants ansieht.

    Eine im eigentlichen Sinne philosophische Auseinandersetzung mit Luhmann er-

    scheint deshalb zumindest vor dem Hintergrund dieses Unterkapitels als wenig

    lohnend.

    17

  • 5 Literatur

    Baraldi, Claudio; Corsi, Giancarlo; Esposito, Elena: GLU. Glossar zu Niklas

    Luhmanns Theorie sozialer Systeme . Zweite Auage. Frankfurt am Main:

    Suhrkamp 1998.

    Baumanns, Peter: Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommen-

    tar zu den Hauptkapiteln der Kritik der reinen Vernunft . Wrzburg: K-

    nigshausen & Neumann 1997.

    Esser, Hartmut: Der Doppelpa als soziales System . In: Zeitschrift fr Soziologie,

    (20) 1991, S. 153166.

    Esser, Hartmut: Soziologie. Allgemeine Grundlagen . Zweite, durchgesehene Auf-

    lage. Frankfurt am Main, New York: Campus 1996.

    GrippHagelstange, Helga: Niklas Luhmann. Eine erkenntnistheoretische Ein-

    fhrung . Mnchen: Wilhelm Fink 1995.

    Heidorn, Joachim: Legitimitt und Regierbarkeit. Studien zu den Legitimitts-

    theorien von Max Weber, Niklas Luhmann, Jrgen Habermas und der Unre-

    gierbarkeitsforschung . Berlin: Duncker & Humblot 1982.

    Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Darmstadt: Wissenschaftliche

    Buchgesellschaft 1975.

    Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge-

    sellschaft 1975.

    Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundri einer allgemeinen Theorie . Fnfte

    Auage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.

    Luhmann, Niklas: Frauen, Mnner und George Spencer Brown . In: Ders.: Pro-

    test. Systemtheorie und soziale Bewegungen . Frankfurt am Main: Suhrkamp

    1996, S. 107-155. [Erstmals erschienen in Zeitschrift fr Soziologie, (17) 1988,

    S. 4771.]

    Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft . Frankfurt am Main: Suhr-

    kamp 1997.

    18

    1kai-arzheimer.comAbstract: Kennt Luhmann Kant?

    2kai-arzheimer.comKennt Luhmann Kant? Luhmanns Auseinandersetzung mit dem Schematismusbegriff

    3kai-arzheimer.comhttp://www.kai-arzheimer.com/Luhmann/Luhmann.pdf