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Vordiplomarbeit im Diplomstudiengang Sozialwissenschaften Prüfungsgebiet: Europäische Studien Betreuer: apl. Prof. Dr. Fernando Mires apl. Prof. Dr. Hiltrud Naßmacher Auf dem Weg von der Zivilmacht zur Militärmacht? - Die Europäische Union auf Identitätssuche Carsten Thoben Stedinger Straße 83 26135 Oldenburg Fachsemester: 07 E-Mail: [email protected] M-Nr.: 84 96 430

Auf dem Weg von der Zivilmacht zur Militärmacht? - Die Europäische Union auf Identitätssuche

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Vordiplomarbeit im Fachbereich Europäische Studien an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg, Note: sehr gut.

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Page 1: Auf dem Weg von der Zivilmacht zur Militärmacht? - Die Europäische Union auf Identitätssuche

Vordiplomarbeit im Diplomstudiengang Sozialwissenschaften

Prüfungsgebiet: Europäische Studien

Betreuer: apl. Prof. Dr. Fernando Mires apl. Prof. Dr. Hiltrud Naßmacher

Auf dem Weg von der Zivilmacht zur Militärmacht? -

Die Europäische Union auf Identitätssuche

Carsten Thoben

Stedinger Straße 83

26135 Oldenburg

Fachsemester: 07

E-Mail: [email protected]

M-Nr.: 84 96 430

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Inhaltverzeichnis

1 Einleitung 3 2 Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) im

Überblick 4 2.1 Geschichte und Entwicklung der ESVP 4 2.2 Der Aufbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik 8 3 Die „Zivilmacht Europa“ auf dem Weg zur Militärmacht? 11 3.1 Der Einfluss von 9-11 und Irak-Krise auf die ESVP 12

3.1.1 Die Europäische Sicherheitsstrategie 14 3.1.2 Das „European Defence Paper“ 16

3.2 Der Vertrag über eine Verfassung für Europa 18 3.3 Die verteidigungspolitische Identitätssuche am Beispiel der Rede

von Bundeskanzler Schröder auf der Münchner Sicherheitskonferenz 22

3.3.1 Der Inhalt der Rede 22 3.3.2 Reaktionen auf die Rede Schröders und die Diskussion über

die zukünftige Identität Europas 23

4 Fazit 26

Literaturverzeichnis 28

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1 Einleitung

Die ehemaligen britischen Premierminister Benjamin DISRAELI (von 1874-1880) und

Viscount PALMERSON (von 1855-58 und 1859-65) sind schon im 19. Jahrhundert zu der

Erkenntnis gekommen: „Staaten haben keine Freunde, Staaten haben Interessen.“1 Der

dominierenden realistischen Schule der internationalen Beziehungen zufolge sind Allianzen

nicht mehr als temporäre Phänomene. Sie haben nur so lange Bestand, wie sie den Interessen

der jeweiligen Mitglieder entsprechen.

Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa sorgte für neue

sicherheitspolitische Verhältnisse. Europa war nicht länger auf den Schutz der USA und der

NATO angewiesen, ein Angriff auf das eigene Territorium erschien höchst unwahrscheinlich.

Doch nur langsam begibt sich die Europäische Union auf die Suche nach einer neuen

sicherheits- und verteidigungspolitischen Identität, ein Unterfangen, das angesichts der

Mitgliedschaft von nunmehr 25 Staaten schwer fällt. Jeder einzelne Staat verfügt über eigene

nationale Interessen und es muss die Frage erlaubt sein, ob diese unter einem

verteidigungspolitischen Dach zu vereinen sind.

Die Reaktion auf die Irak-Krise, die einen „Bruch mit historischen Kontinuitätslinien“2

markierte und zu großen Differenzen zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten führte (vgl.

Kapitel 3.1) scheint auf den ersten Blick ein „Nein“ als Antwort zu rechtfertigen. Doch die

europäischen Staats- und Regierungschefs sind im Angesicht der Krise offensichtlich zu der

Einsicht gelangt, dass die EU mit einer Stimme sprechen müsse, um mit den USA in ihrer

Position als wirtschaftlicher, aber auch sicherheits- und verteidigungspolitischer Supermacht

konkurrieren zu können. In den vergangenen Jahren hat sich das Bild der Europäischen

Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) drastisch verändert und wird „mit

Lichtgeschwindigkeit“ vorangetrieben, wie es der EU-Außenbeauftragte Javier SOLANA

formulierte.3

Nach einem kurzen Abriss über die Geschichte und Entwicklung sowie den Aufbau der

Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, werde ich mich mit der Frage

auseinander setzen, ob Europa in seiner Identitätssuche auf dem Weg ist, sich vom Konzept

der „Zivilmacht“ zu verabschieden. Ich werde mich dabei auf die Entwicklung nach der Irak-

1 Zitiert nach: Wagner, Jürgen. „Partner oder Gegner? Die Militarisierung der Europäischen Union und die Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen.“ IMI-Studie 2004/01, März 2003. URL: http://imi-online.de/download/IMI-Studie2004-01EU-Mil-USA.pdf. S. 3. 2 Dembinski, Matthias. „Der Irak-Krieg als Bewährungsprobe der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik: Positionen und Perspektiven.“ In Die Sicherheitspolitik der EU im Werden. Bedrohungen, Aktivitäten, Eigenschaften, hg. Hans-Georg Ehrhart, Burkhard Schmitt. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2004. S. 92. 3 Vgl. Rupp, Rainer. „Militarisierung mit Lichtgeschwindigkeit“ In Junge Welt vom 13. Dezember 2004. URL: http://www.jungewelt.de/2004/12-13/006.php.

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Krise konzentrieren. Aufgrund der Vielzahl von Texten und Dokumenten, die ausreichend

Material für eine umfangreiche Diplomarbeit bieten würden, möchte ich mein

Hauptaugenmerk auf den „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ sowie die Rede des

deutschen Bundeskanzlers auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 12. Februar dieses

Jahres legen.

2 Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) im Überblick 2.1 Geschichte und Entwicklung

Der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von Amerika hat auf

dem europäischen Kontinent fünfzig Jahre lang den gleichen sicherheits- und

verteidigungspolitischen Status quo aufrecht erhalten. Unversöhnlich standen sich die beiden

hochgerüsteten Supermächte gegenüber. Europa spielte in diesem Machtspiel – zumindest in

militärischer Hinsicht – nur eine untergeordnete Rolle. Die Staaten Europas versteckten sich

unter ihrer „externen amerikanischen Sicherheitsglocke“4.

Trotz der Befreiung vom Nationalsozialismus konnte Europa nach GERTEISER insofern als

Verlierer des Zweiten Weltkrieges bezeichnet werden, als dass „der Kontinent seine zentrale

Rolle in der Welt eingebüßt“5 hatte und „zwischen den neuen Supermächten noch weiter an

Bedeutung zu verlieren“6 drohte. Zwar wurde am 27. Mai 1952 der Vertrag zur Errichtung der

Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) unterzeichnet, die das Ziel verfolgen sollte,

die kollektive Verteidigung ihrer Mitglieder nach außen durch „die Schaffung einer

gemeinsamen europäischen Armee unter einem europäischen Verteidigungsminister“7 sicher

zu stellen. Die Existenz der EVG war nicht von langer Dauer (ihre Einrichtung scheiterte am

30. August 1954 am Widerstand der französischen Nationalversammlung), und wurde im

Oktober 1954 durch die neu gegründete Westeuropäische Union (WEU) ersetzt. Die WEU

war als westeuropäisches Militärbündnis gedacht. Hauptziele waren neben der Schaffung

einer Grundlage für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas sowie der Förderung der

Integration und Einheit des Kontinents auch der gegenseitige Beistand vor Aggression.

4 Mauer, Viktor. „Eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Europa.“ In Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 47/2000. S. 23. 5 Gerteiser, Kristina: Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union: rechtliche Analyse der gegenwärtigen Struktur und der Optionen zur weiteren Entwicklung. Frankfurt am Main. Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2002. S. 25. 6 ebd., S. 25. 7 Wellmann, Michael: Die Europäische Union auf dem Weg zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Das Projekt der ESVP in der europäischen Sicherheitsarchitektur. Diplomarbeit. Oldenburg, 2003. S. 24.

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Doch je kritischer sich die Konfrontation zwischen Ost und West entwickelte und je mehr die

nukleare Aufrüstung beider Seiten voranschritt, desto mehr verlor das Bündnis an

Eigenständigkeit. In Artikel IV des WEU-Vertrages wurde festgehalten, dass der Aufbau

einer Parallelorganisation zu den militärischen NATO-Stäben unerwünscht ist,8 so dass die

Funktionen der WEU zunehmend in dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis aufgingen.

WELLMANN spricht von einem „Dornröschenschlaf“ der WEU und einer sekundären Rolle

gegenüber der NATO.9 „Das Scheitern der EVG und die Bedeutungslosigkeit der WEU sollte

somit vorerst das Ende aller europäischen Bemühungen um eine eigenständige Rolle in der

Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedeuten.“10

Der Versuch, supranationale Strukturen auch im Bereich der Verteidigungspolitik zu

schaffen, wurde fallen gelassen. Mehr noch, dieser Bereich wurde „aus dem

Integrationsprozess vollständig ausgegrenzt.“11 Es entwickelte sich ein Ungleichgewicht

zwischen wirtschaftlicher Integration sowie außen- und sicherheitspolitischer Kooperation.

Nicht umsonst war in Bezug auf Europa lange Zeit vom „wirtschaftlichen Riesen und

politischen Zwerg“ die Rede. Die NATO war für die Sicherheit Europas zuständig, während

die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) sowie ihre

Nachfolgeorganisationen bis hin zur EU für die Wirtschaftspolitik verantwortlich zeichneten.

In den Jahren nach der Gründung der WEU bezogen sich die Versuche, eine „Annäherung,

Vereinheitlichung und Koordinierung der Außen- und Verteidigungspolitik“12 zu erreichen

auf die außenpolitische Koordination.

Die Idee einer verstärkten außenpolitischen Zusammenarbeit wurde von den Staats- und

Regierungschefs der Mitgliedsstaaten auf dem Gipfel in Den Haag am 2. Dezember 1969

wieder aufgenommen. Die Außenminister wurden beauftragt, eingehend die Möglichkeit

einer engeren Integration zu prüfen, die über den wirtschaftlichen Bereich hinaus gehen sollte.

Im so genannten „Luxemburger Bericht“, der im Oktober 1970 vorgelegt wurde, verfassten

sie einen Beschluss, der eine stärkere Zusammenarbeit in der Außenpolitik vorsah, und der

„obgleich zurückhaltend und bescheiden formuliert, zur Geburt der sogenannten

Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), der Vorläuferin der heutigen GASP,

8 vgl. Sommer, Peter-Michael. „Mit Lichtgeschwindigkeit zu mehr Gemeinsamkeit in Europa“. Reader Sicherheitspolitik. URL: http://www.reader-sipo.de/artikel/0103_AVII4.htm. 9 vgl. Wellmann, Michael: Die Europäische Union auf dem Weg zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Das Projekt der ESVP in der europäischen Sicherheitsarchitektur. Diplomarbeit. Oldenburg, 2003. S. 26. 10 ebd., S. 26. 11 Warnken, Monja: Der Handlungsrahmen der Europäischen Union im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Baden-Baden. Nomos Verlagsgesellschaft, 2002. S. 21. 12 ebd., S.23.

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6

führte.“13 Mit dem Kopenhagener Bericht der Außenminister 1973 wurde die EPZ

institutionell weiter verfestigt. Allerdings waren sämtliche Beschlüsse ohne rechtliche

Bedeutung, und waren laut WARNKEN eher als „Gentlemen´s Agreement“ zu verstehen.14

Sicherheitspolitische Aspekte oder gar verteidigungs- und militärpolitische Fragen blieben bis

dato ausgeklammert. Erstmals wurde 1983 beim Treffen des Europäischen Rates in Stuttgart

die Koordinierung in Fragen der Sicherheitspolitik ins Auge gefasst, „wenn auch begrenzt auf

die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Sicherheit“.15 In einer feierlichen Deklaration

bekundeten die Staats- und Regierungschefs ihren Willen zur Stärkung und zum Ausbau der

EPZ, die allerdings weiterhin ohne rechtliche Grundlage außerhalb des EG-Vertragstextes

verblieb.

Erst eine Veränderung des außenpolitischen Klimas zu Beginn der 1980er Jahre führte zu

einem Umdenken. Kurioserweise war es ausgerechnet US-Präsident REAGAN, der der

sicherheitspolitischen Entwicklung Europas eine neue Dynamik verlieh. Seine so genannte

„Strategic Defence Initiative“ (SDI) sorgte für die Befürchtung, dass ein Erfolg dieser

Initiative zu einer Entkoppelung amerikanischer und europäischer Sicherheitsinteressen

führen könnte und führte zu der Erkenntnis, dass eine intensivierte europäische

Zusammenarbeit auf diesem Gebiet bedeutsam ist.

Ein erster Schritt war die Unterzeichung der „Einheitlichen Europäischen Akte“ von 1986.

Durch ihr Inkrafttreten wurde die EPZ rechtlich in die Europäische Gemeinschaft (EG)

integriert. Die damals zwölf EG-Staaten versprachen sich, „gemeinsam eine europäische

Außenpolitik auszuarbeiten und zu verwirklichen.“16 Es war der erstmalige Versuch, die

Außenpolitik der Mitgliedsstaaten „im Rahmen einer intergouvermentalen Zusammenarbeit

zu integrieren.“17 Trotz der rechtlichen Verankerung wurden keinerlei

Entscheidungsbefugnisse auf die EPZ übertragen; „ein Souveränitätsverlust der

Mitgliedsstaaten konnte weder in der vereinbarten politischen Zusammenarbeit noch in der

gegenseitigen Verpflichtung zur Schaffung einer Europäischen Union gesehen werden.“18

13 Auswärtiges Amt. „Historischer Rückblick: von der EPZ zur GASP“. URL: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/gasp/rueckblick_html. 14 Warnken, Monja: Der Handlungsrahmen der Europäischen Union im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Baden-Baden. Nomos Verlagsgesellschaft, 2002. S. 25. 15 ebd. 16 Kaufmann, Sylvia-Yvonne. „Friedensmacht Europa? Der Beitrag des Konvents der Europäischen Union.“ In Wege aus Krieg und Gewalt. Kasseler Schriften zur Friedenspolitik Band 9, hg. Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski. Kassel. Verlag Winfried Jenior, 2003. S. 18. 17 ebd., S. 18. 18 Gerteiser, Kristina: Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union: rechtliche Analyse der gegenwärtigen Struktur und der Optionen zur weiteren Entwicklung. Frankfurt am Main. Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2002. S. 45.

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Das Ende des Kalten Krieges zu Beginn der 1990er Jahre führte schließlich zu einer

Veränderung der globalen sicherheitspolitischen Situation. Die veränderte Realität durch das

Entfallen der Bedrohung durch den aufgelösten Warschauer Pakt und der Verlust der

unbedingten Notwendigkeit des Schutzes durch die Vereinigten Staaten resultierte in ein

endgültiges Umdenken und eine Erweiterung der gemeinsamen Außenpolitik auf den Bereich

der Sicherheitspolitik.

Durch die Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht am 7. Februar 1991 und sein

Inkrafttreten am 1. November 1993 wurde die in der Einheitlichen Europäischen Akte

begonnene Europäische Union verwirklicht. Es wurde ein neuer Unionsvertrag geschlossen,

der die Europäische Union in die drei Säulen Europäische Gemeinschaften, Gemeinsame

Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und

Inneres (ZBJI) gliederte. Mit der Unterzeichnung des Amsterdamer Vertrages am 16. und 17.

Juni 1997 und seinem Inkrafttreten am 1. Mai 1999 wurde die GASP weiter entwickelt und

tiefer in der Europäischen Union verankert (vgl. Kapitel 2.2).

Gemeinsam mit der Erklärung von St. Malo (vgl. Tabelle 1) kann die Erklärung die der

Europäische Rat bei seinem Treffen in Köln im Juni 1999 verabschiedete als Geburtsstunde

einer eigenständigen ESVP angesehen werden. In der Kölner Erklärung wurde eine Stärkung

der Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschlossen. Grund war die zögerliche Haltung der

EU in Bezug auf den Konflikt im Kosovo. Diese Haltung könne nicht als Grundlage für eine

zukünftige Politik her halten, so die vorherrschende Auffassung. Der Verlauf des Krieges

führte den EU-Staaten vor Augen, dass sie aus eigener Kraft nicht in der Lage waren,

derartige Katastrophen notfalls „gewaltsam zu beenden, falls der massive Einsatz

militärischer Mittel erforderlich sein sollte.“19

Die Beschlüsse von Köln dienten als Voraussetzung für eigenständige militärische

Operationen der Europäischen Union mit dem Ziel weltweiter Einsatzfähigkeit ab dem Jahre

2003. Ein EU-Korps von 60.000 Soldaten sollte schnellstmöglich in Krisengebiete verlagert

werden und dort ein Jahr lang im Einsatz bleiben können. Anfang des Jahres 2003 waren die

Krisenreaktionskräfte der EU („schnelle Eingreiftruppe“) einsatzbereit. Im März 2003

übernahm die EU in Mazedonien erstmals das Kommando über eine sicherheitspolitische

Aktion. Es folgten Die Polizeimission EUPM in Bosnien, die Militäroperationen Concordia in

Mazedonien und Artemis in der Demokratischen Republik Kongo.

19 Bundeszentrale für politische Bildung: Internationale Beziehungen II. Informationen zur politischen Bildung. Heft 274, 1. Quartal 2002. Bonn. BpB. 2002. S. 27.

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1998: 4. Dezember: britisch-französisches Gipfeltreffen in St. Malo Der britische Premierminister BLAIR gibt seinen grundsätzlichen Widerstand gegen eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik auf. In einer gemeinsamen Erklärung fordern der englische Premier und der französische Staatspräsident Jacques CHIRAC, dass die EU fähig sein müsse, eine ihrer Wirtschaftskraft entsprechende Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, müsse die „Union über eine autonome Handlungsfähigkeit verfügen, die sich auf glaubwürdige militärische Kräfte stützt, mit der Möglichkeit, sie einzusetzen, und mit der Bereitschaft, dies zu tun, um auf internationale Krisen zu reagieren.“

1999: 3. und 4. Juni: Versammlung des Europäischen Rates in Köln Geburtsstunde einer gemeinsamen ESVP Die europäischen Staats- und Regierungschefs beschließen eine Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, u.a. durch den Ausbau der Fähigkeiten zur militärischen Krisenbewältigung. Es wird die Einrichtung sicherheitspolitischer Institutionen beschlossen, um die Ziele zu verwirklichen. 10. und 11. Dezember: Versammlung des Europäischen Rates in Helsinki Festlegung konkreter Planziele zur Verwirklichung einer ESVP (Headline Goal), dazu gehört u.a. der Aufbau von Krisenreaktionskräften ("schnelle Eingreiftruppe") mit einem Umfang von 60.000 Soldaten.

2000: 19. und 20. Juni: Versammlung des Europäischen Rates in Feira/Portugal Die Staats- und Regierungschefs stellen Planziele für den Aufbau ziviler Fähigkeiten der EU auf.

2002: 16. Dezember: Die mit dem Bereich Verteidigung befasste Arbeitsgruppe des Europäischen Konvents legt ihren Schlussbereicht vor.

2003: 12.- 14. Dezember 2003: EU-Gipfel in Brüssel Verabschiedung der Europäischen Sicherheitsstrategie. Sie definiert erstmals den Umfang und die Reichweite der ESVP. Das “Jahr der praktischen Anwendung“ der ESVP: Die EU beginnt vier Operationen: die Polizeimission EUPM in Bosnien, die Militäroperationen Concordia in Mazedonien und Artemis in der Demokratischen Republik Kongo sowie die Polizeimission Proxima in Mazedonien.

2004: Im Mai: Veröffentlichung des „European Defence Paper“ (EDP) 12. Juli 2004: Die Außenminister der EU beschließen die Einrichtung einer „Europäischen Verteidigungsagentur“ mit Sitz in Brüssel. Ihre Hauptaufgabe ist die Koordination von Maßnahmen zur Verbesserung der militärischen Interventionsfähigkeit der EU-Staaten. 29. Oktober 2004: Unterzeichung des „Vertrages über eine Verfassung für Europa“. Der Vertrag fordert die Erarbeitung und Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich militärische und zivile Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen. Ende des Jahres: Übernahme der SFOR-Mission in Bosnien-Herzegowina durch die EU, der bislang umfangreichsten Mission im Rahmen der ESVP.

Tabelle 1: Chronologie der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik20

20 In Anlehnung an: Schwarz, Oliver. „Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“. Europa-digital.de. URL: http://www.europa-digital.de/dschungelbuch/polfeld/esvp.

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2.2 Der Aufbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Von charakteristischer Bedeutung für die sicherheits- und verteidigungspolitische

Entwicklung der Europäischen Union nach dem Ende des Kalten Krieges sind die bereits

erwähnten Verträge von Maastricht 1991 und Amsterdam 1997.

Im Vertrag von Maastricht hielten die europäischen Staaten erstmals Bestimmungen für eine

Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik (GASP) fest. Sie verpflichteten sich zu einer

Koordinierung ihrer nationalen Politiken, wobei festzuhalten bleibt, dass diese Verpflichtung

keinesfalls mit einem Verzicht der nationalen Eigenständigkeit in diesem Bereich einher ging.

Im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs werden wesentliche Entscheidungen

einstimmig beschlossen. Neben dem Europäischen Rat ist es die so genannte „Troika“, die

seit dem Amsterdamer Vertrag die Außenrepräsentation wahr nimmt. Sie besteht aus dem

Land, das den Ratsvorsitz hält, dem für die Außenpolitik zuständigen Mitglied der EU-

Kommission und dem „Hohen Vertreter“ der GASP, der zugleich Generalsekretär des

Europäischen Rates ist. Seit 1998 hat der ehemalige NATO-Generalsekretär Javier SOLANA

diese Funktion inne.

Der Amsterdamer Vertrag enthält Bestimmungen, in denen sich die EU-Mitgliedsländer auf

die schrittweise Festlegung einer Verteidigungspolitik einigten, „die zu einer gemeinsamen

Verteidigung führen könnte, falls der europäische Rat dies beschließt.“21 Die so genannten

„Peterberg-Aufgaben“ wurden als Zielsetzung einer gemeinsamen ESVP definiert:

humanitäre Projekte und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze

bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen.

Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik baut auf den Strukturen der GASP auf.

Auch in diesem Bereich sind Entscheidungen ausschließlich dem Europäischen Rat der

Staats- und Regierungschefs vorbehalten. Allerdings ist das im Vertrag von Maastricht

enthaltene Konsensprinzip (alle wesentliche Entscheidungen müssen einstimmig beschlossen

werden) gelockert worden. Es wurde ein neues Rechtsinstrument eingeführt, die so genannte

„Gemeinsame Strategie“. „Während solche „Gemeinsamen Strategien“ weiterhin nach dem

Einstimmigkeitsprinzip beschlossen werden (der zwischenstaatliche Charakter der GASP

bleibt hier weiter unverkennbar), können Einzelentscheidungen zu ihrer Umsetzung mit

qualifizierter Mehrheit getroffen werden.“22

21 Rat der Europäischen Union. „Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäischen Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte.“, Artikel J. 7, Absatz 1. URL: www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/zip/amst_zip. 22 Auswärtiges Amt. „Historischer Rückblick: von der EPZ zur GASP“. URL: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/gasp/rueckblick_html.

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Um die Durchführung sowohl ziviler als auch militärischer Operationen gewährleisten zu

können, wurde die Einführung folgender neuer Gremien und Strukturen notwendig:

• das ständige „Politische und Sicherheitspolitische Komitee“ (PSK): Nach Artikel 25 EU-Vertrag ist es die Aufgabe des PSK, „die internationale Lage zu verfolgen, auf Ersuchen des Rates oder von sich aus Stellungnahmen zur Festlegung von Maßnahmen im Bereich der ESVP an den Rat zu übergeben und die Durchführung dieser Entscheidungen zu überwachen.“ Im Krisenfall kommt dem PSK eine zentrale Rolle bei der Festlegung konkreter Reaktionen der EU zu, indem es die politische Kontrolle und die strategische Leitung sämtlicher militärischer Aktionen übernimmt. „Im möglichen Krisenfall kann der Generalsekretär/Hohe Vertreter für die GASP den Vorsitz im PSK übernehmen.“

• der Militärausschuss der Europäischen Union (EUMC): Der EUMC berät das PSK in allen militärischen Angelegenheiten und nimmt die Leitung aller militärischen Aktivitäten im Rahmen der ESVP wahr. Der EUMC setzt sich aus den Generalsstabschefs der EU-Mitgliedstaaten zusammen.

• der Militärstab der Europäischen Union (EUMS): Der EUMS ist eine unmittelbar dem Generalsekretär/Hohen Vertreter unterstellte Abteilung des Ratssekretariats und „besitzt drei operative Hauptfunktionen: Frühwarnung, Lagebeurteilung sowie strategische Planung.“

• der „Ausschuss für zivile Aspekte des Krisenmanagements“ (CIVCOM): Verkörperung des nichtmilitärischen Teils der ESVP, das bedeutet, der CIVCOM „entwickelt hierzu zivile Planziele und ist für deren Umsetzung verantwortlich“ und reicht „Empfehlungen uns Stellungnahmen an das PSK und andere Ratsgremien“.23

Auf dem Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Köln 1999 einigten sich diese

darauf, „dass die Europäische Union ihre Rolle auf der internationalen Bühne

uneingeschränkt wahrnimmt. Hierzu beabsichtigen wir, der Europäischen Union die

notwendigen Mittel und Fähigkeiten an die Hand zu geben.“24

Ein Hauptproblem stellen weiterhin die unklaren Entscheidungsstrukturen dar. Schließlich

untergraben die getroffenen Vereinbarungen einen Grundpfeiler der staatlichen Souveränität –

„die Freiheit eines Staates, über außen- und sicherheitspolitische Belange ohne jede Einrede

durch andere entscheiden zu können."25 Es stellt ein Dilemma für eine gemeinsame ESVP

dar, dass kein Staat zu etwas verpflichtet werden soll bzw. darf, dem seine Regierung nicht

zustimmt. Insbesondere Großbritannien und Frankreich bereitet die Vorstellung Unbehagen,

ihre souveräne Entscheidungshoheit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen (teilweise)

abgeben zu müssen.

So steht die Entwicklung der Europäischen Union – trotz einer größeren eigenständigen Rolle

im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach dem Zusammenbruch der

23 Alle vorherigen Informationen und Zitate, vgl. Schwarz, Oliver. „Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“. Europa-digital.de. URL: http://www.europa-digital.de/dschungelbuch/polfeld/esvp/ 24 Bundeszentrale für politische Bildung: Internationale Beziehungen II. Informationen zur politischen Bildung. Heft 274, 1. Quartal 2002. Bonn. BpB. 2002. S. 28. 25 ebd., S. 29.

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Sowjetunion – zu einer entscheidungsfähigen Organisation in verteidigungspolitischen Fragen

erst am Anfang. Von einer gemeinsamen ESVP kann (noch) nicht die Rede sein, im

Gegenteil, der Weg zu einer gemeinsamen Europäischen Verteidigungspolitik ist noch weit.

Das hat die Irak-Krise deutlich vor Augen geführt. Der Bruch zwischen den einzelnen EU-

Staaten war offensichtlich und konnte auch in „in mehreren Sondertreffen der EU-Staats- und

Regierungschefs sowie der Außenministerinnen und Außenminister nicht überwunden

werden.26

Neben jenen Stimmen, die anführen, dass eine Europäische Sicherheits- und

Verteidigungspolitik in Zukunft die NATO in ihrer Zuständigkeit für die kollektive

Verteidigung in keiner Weise ersetzen soll, sondern die ESVP vielmehr als Stärkung der

Atlantischen Allianz betrachtet werden muss, mehren sich auch solche Stimmen, die eine

selbstbewusstere und emanzipiertere Rolle Europas einfordern. So forderte Bundeskanzler

Gerhard SCHRÖDER in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar,

dass Europa eine stärkere weltpolitische Verantwortung übernehmen müsse.

Die kontroverse Rede hat unterschiedlichste Reaktionen ausgelöst. Die Standpunkte über die

zukünftige Rolle Europas in sicherheits- und verteidigungspolitischer Hinsicht divergieren

beträchtlich. Ich werde mich im folgenden Kapitel mit ihnen auseinander setzen.

26 Bundeszentrale für politische Bildung: Europäische Union. Informationen zur politischen Bildung. Heft 279, 2. Quartal 2003. Bonn . BpB. 2003. S. 39.

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Zuarbeit

Weisungen

arbeiten dem

PSK zu

Abb. 1: Institutionelle Struktur der GASP/ESVP27

27 vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Internationale Beziehungen II. Informationen zur politischen Bildung. Heft 274, 1. Quartal 2002. Bonn. BpB. 2002. S. 28.

Europäischer Rat

Rat für Allgemeine Angelegen- heiten (Außenminister,

ggf. Verteidigungsminister)

Vorsitz

Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee,

PSK (Botschafter oder Politische Direktoren)

Militärausschuss

Ausschuss für zivile Aspekte des

Krisenmanagements

Ausschuss der beitragenden Länder

(ad hoc)

Generalsekretär/ Hoher Vertreter für die GASP

Generalsekretariat

Politischer Stab (Strategieplanung und Frühwarnung)

Militärstab

Lagezentrum (informiert

Generalsekretär)

Generaldirektion „E“ (GASP)

Unterstützung; Vorbereitung

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3 Die „Zivilmacht Europa“ auf dem Weg zur Militärmacht? Die Frage, ob der Irak-Krieg gerechtfertigt war, kann laut SCHLOTTER als eine

„Auseinandersetzung über die Zivilmacht Europa“28 bezeichnet werden, über die Frage ob

Krieg als ultima ratio oder als herkömmliches Mittel der Interessendurchsetzung gelten sollte.

Das Modell einer „Zivilmacht Europa“ wurde Anfang der 1970er Jahre von Francois

DUCHÊNE entwickelt. Er ging von der Prämisse aus, dass jeder Krieg angesichts der

Existenz zweier (nuklear) hochgerüsteter Weltmächte zur wechselseitigen Vernichtung führen

würde. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrung zweier kontinentzerstörender Weltkriege müsse

die Europäische Gemeinschaft in ihren Außenbeziehungen auf zivile, nicht-militärische Mittel

zurück greifen. Der Idealtyp einer Zivilmacht müsse sich an vier Punkten orientieren:

(1) dem Primat der Diplomatie in der Außen- und Sicherheitspolitik;

(2) dem Vorrang wirtschaftlicher Instrumente vor militärischen;

(3) der Einbindung in internationale Organisationen und in Strukturen der

Verrechtlichung;

(4) dem Einsatz militärischer Mittel (außer zur unmittelbaren Landesverteidigung) nur mit

der Legitimation der Vereinten Nationen zur Wiederherstellung des internationalen

Rechtssystems und zur Verhinderung massiver Menschenrechtsverletzungen.

Zwar impliziert der Begriff der Zivilmacht, dass „internationale Konflikte nicht durch

militärische, sondern besonders durch sozio-ökonomische Mittel gelöst werden

sollen“29,dennoch kann sie keinesfalls als pazifistisches Politikmodell bezeichnet werden. Das

Militär dient als letztes Mittel zur Verteidigung sowie der Unterstützung internationaler

Organisationen. JANNING zufolge steht die EU „für ein Modell des friedlichen

Interessenausgleichs unter Staaten.“30 Während des Kalten Krieges fiel es der Europäischen

Gemeinschaft leicht, eine Zivilmacht zu sein, weil die USA und die NATO ihre militärische

Sicherheit gewährleisteten und sie über keine eigenen Machtmittel verfügte, um als

militärische Macht aufzutreten.31 Sie war sozusagen eine „Zivilmacht aus Schwäche“.

Angesichts der Differenzen aufgrund der Irak-Krise stellt SCHLOTTER die Frage, ob die

zivile Ausrichtung und das Verlassen auf die so genannte „soft power“ in der Vergangenheit

28 Schlotter, Peter. „Die Europäische Union: eine „Zivilmacht“? – Zur Einführung.“ In „Europa – Macht – Frieden? Zur Politik der „Zivilmacht Europa“, hg. Peter Schlotter. Baden-Baden. Nomos Verlagsgesellschaft, 2003. S. 7. 29 Wagner, Jürgen. „Partner oder Gegner? Die Militarisierung der Europäischen Union und die Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen.“ IMI-Studie 2004/01, März 2003. S. 7. Informationsstelle Militarisierung. URL: http://imi-online.de/download/IMI-Studie2004-01EU-Mil-USA.pdf. 30 Janning, Josef. „Europa – Von der „Zivilmacht“ zur militärischen Reaktionsfähigkeit.“ In Internationale Politik im 21. Jahrhundert, hg. Mir A. Ferdowski. München. Wilhelm Fink Verlag, 2002. S. 163 31 vgl. Schlotter, Peter. „Europäische Ohnmacht oder europäische Zivilmacht?“ In WeltTrends Nr. 41, Winter 2003/2004. S. 62.

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14

„nicht zuletzt der prinzipiellen Schwäche eines Staatenbundes geschuldet sein (könnte), in

dem die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik strukturell nicht zu

„vergemeinschaften“ ist.“32

3.1 Der Einfluss der Irak-Krise auf die ESVP Bereits mit dem Kosovo-Konflikt setzte die neuartige Erfahrung ein, dass Kriege fortan zu

einer europäischen Angelegenheit werden können, aus denen sich die USA heraus halten. Es

stellte sich die Frage, was passieren würde, wenn die NATO einmal nicht zur Verfügung

stehen würde, und sich die USA in Europa nicht militärisch engagieren, weil ihre Interessen

nicht oder nicht mehr unmittelbar berührt sind. „Wenn Europa seiner internationalen

Verantwortung gerecht werden will, kann es sich nach mehr als vierzig Jahren Integration

nicht erlauben, in außen- und sicherheitspolitischen Fragen weiterhin als ein nicht nur

vielstimmiger, sondern auch dissonanter Chor von Einzelstaaten aufzutreten.“33

Durch die Irak-Krise ist in Europa die Erkenntnis gewachsen, dass nur ein gemeinsames

Vorgehen Einfluss (z.B. gegenüber den USA) ermöglicht. Ein großes Problem für eine

mögliche Weiterentwicklung der ESVP könnten die unzureichenden militärischen

Kapazitäten einzelner EU-Staaten darstellen (sowie die mangelnde Bereitschaft einiger

Nationen ihren Verteidigungshaushalt zu erhöhen), was für eine „stärkere Ausrichtung der

Militärstrukturen auf Konfliktschlichtung in weit entfernten Regionen“34 unumgänglich sein

wird.

Es steht außer Frage, dass die Krise im Vorfeld des Irak-Krieges die Gemeinsame Außen- und

Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union auf den Prüfstand gestellt hat.

DEMBINSKI zufolge stellt das amerikanische Vorgehen in zweierlei Hinsicht eine

Herausforderung für die GASP dar:

(1) verabschieden sich die USA von Leitvorstellungen, die aus europäischer Sicht als

gemeinsam galten und

(2) setzen sie Europa unter einen massiven Anpassungsdruck und die Europäische

Sicherheits- und Verteidigungspolitik einer schmerzlichen Belastungsprobe aus.35

32 Schlotter, Peter. „Die Europäische Union: eine „Zivilmacht“? – Zur Einführung.“ In „Europa – Macht – Frieden? Zur Politik der „Zivilmacht Europa“, hg. Peter Schlotter. Baden-Baden. Nomos Verlagsgesellschaft, 2003. S. 8. 33 Bundeszentrale für politische Bildung: Internationale Beziehungen II. Informationen zur politischen Bildung. Heft 274, 1. Quartal 2002. Bonn. BpB. 2002. S. 26. 34 Bundeszentrale für politische Bildung: Europäische Union. Informationen zur politischen Bildung. Heft 279, 2. Quartal 2003. Bonn . BpB. 2003. S. 39. 35 Dembinski, Matthias. „Der Irak-Krieg als Bewährungsprobe der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik: Positionen und Perspektiven.“ In Die Sicherheitspolitik der EU im Werden. Bedrohungen,

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15

Den europäischen Nationen ist es im Vorfeld des Irak-Krieges nicht gelungen, zu einer

gemeinsamen Position zu finden. Europa als Ganzes reagierte nicht mit einer Stimme, im

Gegenteil, nationale Reaktionen waren vorherrschend, während sich Javier SOLANA und

EU-Außenkommissar PATTEN kaum öffentlich zu dem Thema äußerten. Es wurde „ein

tiefer Riss zwischen den Mitgliedsstaaten sichtbar.“36 Während sich Nationen wie

Großbritannien, Italien oder Spanien unmissverständlich hinter die Vereinigten Staaten

stellten, bezogen Deutschland und Frankreich eine Gegenposition (wenngleich die deutsche

Position eher innenpolitisch und wahlkampftaktisch begründet scheint, während die

französische Position grundsätzlicher und flexibler war37). Trotz verschiedenster Bemühungen

schafften es die EU-Staaten nicht, sich auf eine gemeinsame Kompromisslinie zu einigen, sie

waren in „Befürworter und Gegner des amerikanischen Vorgehens“38 gespalten.

Die Motive der einzelnen Nationen, sich an die Seite der USA zu stellen oder eine

Gegenposition zum amerikanischen Verhalten einzunehmen, sind vielfältig. Die Differenzen

zwischen den EU-Mitgliedsstaaten gehen weit über den Irak hinaus. Die Ereignisse werfen

grundsätzliche Zweifel auf, ob es den Mitgliedern der Europäischen Union gelingen kann in

Krisenfällen zu einer gemeinsamen Position zu finden und notfalls nationale Begehren zurück

zu stellen. BROK hält den Begriff der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik für

irreführend, da von einer solchen bislang nicht die Rede sein könne. „Es gibt vielmehr

punktuelle gemeinsame Strategien und Aktionen.“39 Ziel muss es sein, dass Europa in Zukunft

zu einer gemeinsamen Position kommt, denn es kann „in der Welt nur dann Einfluss haben

(...), wenn wir (die Europäer) mit einer Stimme sprechen.“40

DEMBINSKI stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob die ESVP nur als Anhängsel

einer von den USA geführten NATO denkbar ist oder ob sie auch zum Instrument der

sicherheitspolitischen Emanzipation Europas von den USA werden könne.41

Aktivitäten, Eigenschaften, hg. Hans-Georg Ehrhart, Burkhard Schmitt. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2004, S. 96. 36 Brok, Elmar. „Lehren aus dem Irak-Krieg. Die Europäische Union als globaler Akteur.“ In Internationale Politik, Heft 7/2003. S. 56. 37 vgl. Dembinski, Matthias; Wagner, Wolfgang. „Europäische Kollateralschäden. Zur Zukunft der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach dem Irak-Krieg.“ In Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 31-32/2003. S. 32. 38 ebd., S. 33. 39 Brok, Elmar. „Lehren aus dem Irak-Krieg. Die Europäische Union als globaler Akteur.“ In Internationale Politik, Heft 7/2003. S. 57. 40 ebd., S. 56. 41 vgl. Dembinski, Matthias. „Der Irak-Krieg als Bewährungsprobe der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik: Positionen und Perspektiven.“ In Die Sicherheitspolitik der EU im Werden. Bedrohungen, Aktivitäten, Eigenschaften, hg. Hans-Georg Ehrhart, Burkhard Schmitt. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2004. S. 91/92.

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16

Der Irak-Krieg war nur die erste Konsequenz der neuen nationalen Sicherheitsstrategie der

Vereinigten Staaten, die im September 2002 verabschiedet worden ist, und in der sich die

USA zwecks der Sicherung ihrer militärischen Dominanz auch das Recht zugestehen,

präventiv gegen so genannte „Schurkenstaaten“ vorzugehen. Zwar sind die Begründungen für

einen Angriff auf den Irak mittlerweile allesamt hinfällig geworden, doch sind die USA

bereits dabei, militärische Drohkulissen gegen den Iran oder Syrien aufzubauen. Unabhängig

davon, ob ein Angriff der Vereinigten Staaten auf einen der erwähnten Staaten bevor steht, ist

die Frage zu stellen, wie Europa auf die sichtlich aggressivere Entwicklung des

transatlantischen Partners reagiert. DEMBINSKI stellt hierzu drei Fragen:

(1) Sind der Bruch und die Zerfallstendenzen während der Irak-Krise ein Anzeichen für

strukturelle Defizite des Projekts der GASP?;

(2) Wird die EU dauerhaft – verglichen mit ihrem ökonomischen Potential – außen- und

sicherheitspolitisch ein Zwerg bleiben?;

(3) Ist die ESVP dazu verdammt ein Appendix (= Wurmfortsatz) der NATO zu bleiben?

Eine Antwort auf diese Fragen kann nur die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union

und einer gemeinsamen ESVP geben. Sicher scheint, dass die Irak-Krise und die Differenzen

mit den Vereinigten Staaten innerhalb der Europäischen Union langsam zu einem Umdenken

in Bezug auf die eigene sicherheits- und verteidigungspolitische Identität führen.

3.1.1 Die Europäische Sicherheitsstrategie

Am 18. Juni 2003 legte der EU-Beauftragte für die Gemeinsame Außen- und

Sicherheitspolitik Javier SOLANA ein Papier mit dem Titel „Ein sicheres Europa in einer

besseren Welt“ vor.

Das Papier enthält drei wesentliche Aspekte:

(1) die Analyse der Hauptbedrohungen Europas (Terrorismus, die Verbreitung von

Massenvernichtungswaffen, Regionalkonflikte, gescheiterte Staaten und die

organisierte Kriminalität);

(2) drei strategische Ziele, die sich aus diesen Herausforderungen ergeben: Ein

präventives Vorgehen gegen eventuelle Bedrohungen, die Etablierung einer stabilen

Sicherheit in der europäischen Nachbarschaft und die Stärkung des Völkerrechts

sowie einer multilateralen Weltordnung;

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17

(3) die Auswirkungen auf die europäische Politik: die EU muss außenpolitisch aktiver,

handlungsfähiger und kohärenter werden sowie die langfristige Zusammenarbeit mit

ihren Partnern suchen.42

Beim EU-Gipfel vom 12.-14. Dezember 2003 in Brüssel ist das Papier vom Europäischen Rat

als Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) verabschiedet worden. Insbesondere die

Bundesregierung hatte sich frühzeitig für die Erarbeitung einer solchen Strategie eingesetzt,

um die Sicherheitspolitik der EU auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen. Sie lobte ihre

Verabschiedung ausdrücklich. Ihrer Ansicht nach war es nach den Differenzen aufgrund der

Irak-Krise wichtig, „dass die EU sich in die Lage versetzt, mit einer Stimme zu sprechen und

dadurch einen strategischen Dialog mit den wichtigsten Partnern, insbesondere den USA, zu

führen.“43

In ihrer Antwort auf eine „Kleine Anfrage“ der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag erklärte die

Bundesregierung die verabschiedete Sicherheitsstrategie zu einem außen- und

sicherheitspolitischen Quantensprung.44 „Sie ist ein Meilenstein zur strategischen Bestimmung

der Rolle und der Aufgaben der EU in einem dramatisch veränderten sicherheitspolitischen

Umfeld und unter den Bedingungen der Globalisierung.“45 Selbstbewusst beschreibe die ESS

„das gewachsene Gewicht der erweiterten Union als Akteur mit globaler Verantwortung.“46

Der Bundesausschuss Friedensratschlag kritisiert die Annahme des ausgearbeiteten Papiers

zur ESS als „eine fundamentale historische Wende in der Geschichte der Europäischen Union

von einer „Zivilmacht“ zur globalen Interventionsmacht.“47

Eine Ansicht, über die es geteilte Meinungen gibt. Zwar steht in der ESS geschrieben, dass es

Bedrohungen so früh wie möglich zu begegnen gilt, wenn möglich auch präventiv („Bei den

neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“48),

allerdings wird der zivilen Prävention an dieser Stelle Vorrang eingeräumt. Natürlich wird die

robuste Intervention militärischer Art nicht ausgeschlossen, doch hält die ESS fest, dass die

42 Rat der Europäischen Union. „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie“. Brüssel, den 12. Dezember 2003. URL: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/friedenspolitik/ess.pdf 43 „EU-Sicherheitsstrategie (ESS)“. Erklärung des Auswärtigen Amtes. URL: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/gasp/ess_html. 44 Deutscher Bundestag. hib-Meldung 148/2004 vom 01.06.2004. URL : http://www.bundestag.de/bic/hib/2004/2004_148/03.html 45 ebd. 46 ebd. 47 Bundesausschuss Friedensratschlag. „Schluss mit Krieg und Besatzung – Abrüstung statt Sozialabbau.“ Pressemitteilung vom 26. Januar 2004. URL: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/rat/erklaerung2004.html. 48 Rat der Europäischen Union. „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie“. Brüssel, den 12. Dezember 2003. URL: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/ friedenspolitik/ess.pdf, S.7.

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18

neuen Bedrohungen „nicht mit rein militärischen Mitteln bewältigt werden“49 können. Sie

erfordern eine Kombination aus zivilen und militärischen Fähigkeiten.

Auch wenn SOLANA am Ende des Papiers fordert, dass „die Mittel für die Verteidigung

aufgestockt und effektiver genutzt werden“50 müssen, kann nach der Lektüre des fünfzehn

Seiten umfassenden Papiers von einer „ambitionierten Militarisierung der EU“51 keine Rede

sein. Allenfalls deutlich wird das gewachsene Selbstbewusstsein einer Europäischen Union,

die sich als bedeutender globaler Akteur versteht. Es geht nicht mehr ausschließlich um das

herkömmliche Prinzip der Selbstverteidigung, sondern um die Durchsetzung der eigenen

Interessen in aller Welt, auch in Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten von Amerika.

3.1.2. Das „European Defence Paper“

Die Europäische Sicherheitsstrategie diente als Grundlage für das so genannte „European

Defence Paper“ (EDP)52, das der Europäische Rat beim Institut für Sicherheitsstudien in

Auftrag gegeben hat und das im Mai 2004 veröffentlicht wurde.

Während das SOLANA-Papier über die ESS durchaus als gemäßigtes Dokument bezeichnet

werden kann, das die zivile Konfliktlösung in den Vordergrund stellt, gestaltet sich dies mit

dem European Defence Paper etwas anders. Es zeichnet sich durch eine bemerkenswerte

Offenheit aus, „mit der der Zusammenhang zwischen europäischen Interessen und aus ihnen

abgeleiteten militärischen Einsatzoptionen benannt wird.“53 Auf 140 Seiten präzisiert das

EDP laut WAGNER „den Zusammenhang zwischen EU-Interessen und künftigen EU-Kriegen

und entwirft hierfür konkrete Einsatzszenarien.“54

“Most importantly, the Union is a strategic actor with values and interests to protect and

project” 55 ist im EDP zu lesen. Die Europäische Union will mehr globale Verantwortung

übernehmen. „The transformation of European forces from territorial defence to intervention

and expeditionary warfare is none the less a precondition for an effective European Security

Strategy.”56 War in der ESS noch zu lesen, dass die transatlantischen Beziehungen

49 ebd., S.7. 50 ebd., S. 12. 51 Bundesausschuss Friedensratschlag. „Schluss mit Krieg und Besatzung – Abrüstung statt Sozialabbau.“ Pressemitteilung vom 26. Januar 2004. URL: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/rat/erklaerung2004.html. 52 Institute for Security Studies. „European defence – A proposal for a White Paper“. URL: www.iss-eu.org/chaillot/wp2004.pdf. 53 Wagner, Jürgen. „Die Blaupause für Europas Kriege der Zukunft: Das European Defence Paper.“ IMI-Analyse 2004/038. Informationsstelle Militarisierung. URL: http://www.imi-online.de/download/IMI-Analyse-2004-038JWDefencePaper.pdf, S. 1. 54 ebd., S.1. 55 Institute for Security Studies. „European defence – A proposal for a White Paper“. URL: www.iss-eu.org/chaillot/wp2004.pdf, S. 13 – das Dokument ist nur auf englisch und französisch verfügbar; eine deutsche Übersetzung existiert nicht. 56 ebd., S. 55.

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19

unersetzlich sind und die Europäische Union und die Vereinigten Staaten in gemeinsamem

Handeln eine mächtige Kraft zum Wohl der Welt sein können57, bekennt sich das European

Defence Paper offen dazu, ein weiterer Schritt auf Europas Weg “eine Supermacht auf dem

europäischen Kontinent, ebenbürtig mit den Vereinigten Staaten” zu werden, wie der

ehemalige EU-Kommissar Romano PRODI das Hauptziel der Union formulierte.58 Ziel sei

u.a. der Stabilitätsexport „to protect trade routes and the free flow of raw materials.“59

Das Papier leitet fünf Einsatzszenarien ab, zu denen das europäische Militär in naher Zukunft

in der Lage sein soll:

(1) friedenserhaltende Einsätze (bis zu 30.000 Soldaten in einem Umkreis von 2000 km

um Brüssel; drei Jahre maximale Stationierungsdauer);

(2) humanitäre Interventionen (10.000 Soldaten in einem Umkreis von 5000 Kilometern,

ein Jahr);

(3) präventive Verhinderung eines Angriffs mit Massenvernichtungswaffen (5000

Soldaten, weltweit);

(4) Heimatschutz;

(5) Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen.

Die letzte Aufgabe ist die einzige, bei der betont wird, dass ihre Bewältigung nur in einem

Bündnis mit den USA möglich sei. Alle vorherigen Szenarien sollen von der EU entweder im

Alleingang oder als alleinige Führungskraft bewältigt werden.60

Angesichts der aufgeführten Einsatzszenarien kommen die Verfasser des Papiers zu der

Erkenntnis, dass zwischen 150.000 und 200.000 Soldaten so schnell wie möglich permanent

für Auslandseinsätze verfügbar sein müssen.61 In Bezug auf die militärischen Ausgaben, die

gesteigert werden müssten, stellt das EDP konkrete Vorgaben auf, die auf die Tagesordnung

der EU gehören:

• die Erhöhung des Anteils der im Ausland einsetzbaren Streitkräfte von derzeit 10% auf

50%,

• die Steigerung der Durchhaltefähigkeit bei „Expeditionskriegszügen“ auf drei Jahre

57 Rat der Europäischen Union. „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie“. Brüssel, den 12. Dezember 2003. URL: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/ friedenspolitik/ess.pdf, S. 13. 58 Wagner, Jürgen. „Die Blaupause für Europas Kriege der Zukunft: Das European Defence Paper.“ IMI-Analyse 2004/038. Informationsstelle Militarisierung. URL: http://www.imi-online.de/download/IMI-Analyse-2004-038JWDefencePaper.pdf, S. 4. 59 Institute for Security Studies. „European defence – A proposal for a White Paper“. URL: www.iss-eu.org/chaillot/wp2004.pdf, S. 13. 60 vgl. Oberansmayr, Gerald. „Das Imperium plant den Krieg.“. AG Friedensforschung an der Uni Kassel. URL: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/oberansmayr2.html 61 vgl. Institute for Security Studies. a.a.O., S. 101.

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20

• die Verdoppelung der Militärausgaben in Forschung und Entwicklung.62

„Der Abschied von der Zivilmacht EU und der Landesverteidigung als einziger Aufgabe des

Militärs“63 ist für WAGNER somit eindeutig.

Von zentraler Bedeutung für die Umsetzung der Ziele ist die Einrichtung einer

Rüstungsagentur sowie die so genannte „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (SSZ),

„also die Einrichtung einer militärischen Kerngruppe in der EU“64, die im Entwurf der neuen

EU-Verfassung präzisiert werden. Sie sollen die militärische Handlungsfähigkeit der

Europäischen Union sicher stellen.

3.2 Der Vertrag über eine Verfassung für Europa

Am 29. Oktober 2004 haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den so

genannten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ unterzeichnet, der nun von den

einzelnen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden muss (in Deutschland ist die Zustimmung von

Bundesrat und Bundestag notwendig, die jeweils eine Mehrheit von zwei Dritteln der

Stimmen benötigt), um in Kraft treten zu können. Dieser Entwurf für eine neue EU-

Verfassung, den der EU-Konvent unter Valéry GISCARD D´ESTAING vorgelegt hat,

umfasst 482 Seiten und ist in vier Abschnitte aufgeteilt. Der Verfassungsentwurf ersetzt alle

Bestimmungen der aktuellen Verträge und fasst jene Bestimmungen „hinsichtlich des

außenpolitischen Handels und des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“65 neu.

Die Regelungen sind äußerst konkretistisch und detailreich ausgefallen.66

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Europäische Sicherheits-

und Verteidigungspolitik (ESVP) nehmen im Verfassungsentwurf einen großen und zentralen

Raum ein. Im Entwurf wird erklärt, „die Union ist dafür zuständig, eine gemeinsame Außen-

und Sicherheitspolitik einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen

62 ich habe aus der Vielzahl der anführten Vorgaben, die in meinen Augen wichtigsten heraus gestellt; eine nähere Erläuterung findet sich in: Oberansmayr, Gerald. „Das Imperium plant den Krieg.“, URL: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/oberansmayr2.html. 63 Wagner, Jürgen. „Die Blaupause für Europas Kriege der Zukunft: Das European Defence Paper.“ IMI-Analyse 2004/038. Informationsstelle Militarisierung. URL: http://www.imi-online.de/download/IMI-Analyse-2004-038JWDefencePaper.pdf, S. 64 Oberansmayr, Gerald. „Das Imperium plant den Krieg.“. AG Friedensforschung an der Uni Kassel. URL: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/oberansmayr2.html 65 Stellungnahme der Kommission gemäß Artikel 48 des Vertrages über die Europäische Union zum Zusammentritt einer Konferenz von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine Änderung der Verträge vom 17.09.2003. Zitiert nach: Pflüger, Tobias. „Eine Militärverfassung für die Europäische Union – Oder auch die EU ist auf Kriegskurs.“, IMI-Analyse 2003/036. Informationsstelle Militarisierung. URL: http://imi-online.de/download/IMI-Analyse-2003-036-EU-Verfass-Pflueger.pdf, S. 1. 66 ebd., S. 1.

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Verteidigungspolitik zu erarbeiten und zu verwirklichen.“67 Es besteht so etwas wie eine

Loyalitätspflicht, nach der die Mitgliedsstaaten „die Gemeinsame Außen- und

Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der

gegenseitigen Solidarität“68 unterstützen müssen.

In Artikel I-41, Absatz 3 verpflichten sich die Mitgliedsstaaten dazu, ihre militärischen

Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.69 Um dies zu kontrollieren, wird eine „Agentur für die

Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung

(Europäische Verteidigungsagentur) eingerichtet, deren Aufgabe es ist, den operativen Bedarf

zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen

zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors

beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung

einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung zu beteiligen sowie

den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu

unterstützen"70 (im ursprünglichen Entwurf des Konvents war nicht von einer

Verteidigungsagentur, sondern von einem „Europäischen Amt für Rüstung“ die Rede). Weiter

heißt es, dass die Mitgliedsstaaten der Union zivile und militärische Fähigkeiten zur

Verwirklichung der Ziele zur Verfügung stellen sollten, die vom Europäischen Rat festgelegt

werden.71. Der PDS-Abgeordnete im Europaparlament PFLÜGER hält diesbezüglich fest,

dass ausdrücklich von einer „Verpflichtung“ die Rede ist.72

Die Mitgliedsstaaten, „die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen

Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen

untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind“73 begründen darüber

hinaus die Möglichkeit einer „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (SSZ) im Rahmen

der Union. Dies bedeutet, dass einzelne Staaten innerhalb der EU, gemeinsam auch festere

militärische Strukturen schaffen können. In Verbindung mit dem Instrument der

„konstruktiven Enthaltung“ – die Stimmenthaltung im Rat steht dem Erlass eines Beschlusses

nicht im Wege74 -, wird das Veto-Recht der einzelnen Mitglieder in Bezug auf die

67 Europäische Union. „Vertrag über eine Verfassung für Europa“. Das Portal der Europäischen Union. URL: europa.eu.int/constitution/download/print_de.pdf. Artikel I-12, Absatz 4, S. 21. 68 ebd., Artikel I-16, Absatz 2, S. 23. 69 ebd., Artikel I-41, Absatz 3, S. 37. 70 ebd., Artikel I-41, Absatz 3, S. 37. 71 Europäische Union. „Vertrag über eine Verfassung für Europa“. Das Portal der Europäischen Union. URL: europa.eu.int/constitution/download/print_de.pdf. Artikel I-41, Absatz 3, S. 37. 72 Pflüger, Tobias. „Eine Militärverfassung für die Europäische Union – Oder auch die EU ist auf Kriegskurs.“, IMI-Analyse 2003/036. Informationsstelle Militarisierung. URL: http://imi-online.de/download/IMI-Analyse-2003-036-EU-Verfass-Pflueger.pdf, S. 2. 73 Europäische Union. a.a.O. Artikel I-41, Absatz 6, S. 37 74 vgl. Europäische Union. a.a.O. Artikel III-300, S. 141

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Verteidigungspolitik untergraben. Der Ministerrat kann „eine Gruppe von Mitgliedsstaaten

mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union beauftragen.“75

In seiner Rede an der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000 hat

Bundesaußenminister FISCHER dies als „Avantgarde“ bzw. „Gravitationszentrum aus

einigen Staaten“ innerhalb der EU bezeichnet.76 SCHIRMER bezeichnet es weniger

euphorisch als „ein militärisches Sonderbündnis innerhalb der EU auf Dauer, in dem sich die

Fähigen und Willigen zusammenschließen können, ohne von den Unfähigen und Unwilligen

behindert zu werden.“77

Einer der bedeutendsten Aspekte der Verfassung ist, dass die Verantwortung für die

Verteidigungspolitik von der nationalen Ebene auf die Europäische Union übertragen wird.

Mehrfach wird in der EU-Verfassung betont, dass die alleinige Entscheidungsgewalt über die

Verteidigungspolitik beim EU-Ministerrat liegt.78 Zudem verfügt das Europäische Parlament

über keinerlei Entscheidungsbefugnis, sondern soll lediglich regelmäßig informiert und

angehört und über die Entwicklung der "grundlegenden Weichenstellungen der gemeinsamen

Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf dem Laufenden gehalten“79 werden.

Zwar werden auch im Verfassungsentwurf die zivilen Fähigkeiten vorderrangig erwähnt,

doch, wie SCHIRMER konstatiert, werden die militärischen Mittel als gleichrangige Option

offengehalten und mit den zivilen vermischt.80 Zivile und militärische Reaktionen werden zur

Verfolgung der Ziele zur freien Auswahl nebeneinander gestellt. „Völkerrechtliche Kriterien

und spezielle Voraussetzungen für die Anwendung militärischer Gewalt werden nicht

formuliert.“81

WAGNER zufolge hat sich die Europäische Union im Falle der Ratifizierung der neuen

Verfassung „endgültig von dem Projekt einer Zivilmacht verabschiedet.“82 Besonders

problematisch seien die Festschreibung weltweiter EU-Kampfeinsätze, eine explizite 75 Europäische Union. a.a.O. Artikel I-41, Abs. 5 und III-310, Absatz 1 76 Fischer, Joschka. „Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration", Rede am 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin. Auswärtiges Amt. URL: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=97. 77 Schirmer, Gregor. „EU als Militärunion verfasst“. Rede auf der Konferenz „Militarisierung der EU: Stand der Dinge“ im Europäischen Parlament in Brüssel am 10. Dezember 2004. AG Friedensforschung an der Uni Kassel. URL: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/verf-schirmer.html 78 vgl. Pflüger, Tobias. „Eine Militärverfassung für die Europäische Union“; http://imi-online.de/download/IMI-Analyse-2003-036-EU-Verfass-Pflueger.pdf. S. 3. 79 Pflüger, Tobias. „Eine Militärverfassung für die Europäische Union“; http://imi-online.de/download/IMI-Analyse-2003-036-EU-Verfass-Pflueger.pdf. S.3. 80 Schirmer, Gregor. „EU als Militärunion verfasst“. Rede auf der Konferenz „Militarisierung der EU: Stand der Dinge“ im Europäischen Parlament in Brüssel am 10. Dezember 2004. AG Friedensforschung an der Uni Kassel. URL: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/verf-schirmer.html 81 ebd. 82 Wagner, Jürgen. „Die Blaupause für Europas Kriege der Zukunft: Das European Defence Paper.“ IMI-Analyse 2004/038. Informationsstelle Militarisierung. URL: http://www.imi-online.de/download/IMI-Analyse-2004-038JWDefencePaper.pdf, S. 1.

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Aufrüstungsverpflichtung und die Aushebelung des Parlamentsvorbehalts hinsichtlich

künftiger Entscheidungen über EU-Interventionen.83

Bei der ersten Lesung der EU-Verfassung im Bundestag am 24. Februar 2005 herrschte trotz

allem große Einigkeit über ihre Vorzüge. Hans Martin BURY, Staatsminister im Auswärtigen

Amt, sprach sogar von der Verfassung als Geburturkunde der Vereinigten Staaten von

Europa. „Die Konzeption einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist

Ausdruck eines selbstbewussten Europas, das bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.“84

Die Abgeordnete Marianne TRITZ (Bündnis 90/ Die Grünen) begegnete der Sorge, dass die

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu militärisch werden könne, mit der Äußerung:

„Nur ein gemeinsames und starkes Europa hat wirklichen Einfluss im Rahmen der

internationalen Gemeinschaft.“85 Sie spricht zudem davon, dass die europäische Verfassung

im Rahmen ihrer sicherheitspolitischen Bestimmungen gleichberechtigt von zivilen und

militärischen Mitteln spricht. Der Verweis auf Artikel I-3 („Ziel der Union ist es, den Frieden,

ihre Werte und das Wohlergehen der Völker zu fördern.“86) stelle aus friedenspolitischer

Perspektive eine positive andere Gewichtung der außenpolitischen Zielbestimmungen dar.87

Es sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnt werden, dass keine Verfassung der Welt als Ziel

definiert, den Krieg zu fördern und das Wohlergehen anderer Völker zu mindern.

Einmalig ist, dass die Bereitschaft zu weltweiten Militäreinsätzen gleichfalls in

Verfassungsrang erhoben werden soll. EU-Streitkräfte sollen zu „Kampfeinsätzen im Rahmen

der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur

Stabilisierung der Lage nach Konflikten“88 eingesetzt werden können.

Die Verfasser des Friedensgutachtens 2004, das von fünf führenden deutschen

Forschungsstätten gemeinsam erarbeitet wurde, kritisieren, dass militärische Kapazitäten für

weltweite Kriegseinsätze de facto die Prioritäten des europäischen Sicherheitskonzepts

83 Wagner, Jürgen. „Die Blaupause für Europas Kriege der Zukunft: Das European Defence Paper.“ IMI-Analyse 2004/038. Informationsstelle Militarisierung. URL: http://www.imi-online.de/download/IMI-Analyse-2004-038JWDefencePaper.pdf, S. 1. 84 vgl. Plenarprotokoll der 160. Sitzung des Bundestages vom 24. Februar 2005. Erste Lesung über die Europäische Verfassung. URL: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/pp/160/index.html. 85 ebd. 86 Europäische Union. „Vertrag über eine Verfassung für Europa“. Das Portal der Europäischen Union. URL: europa.eu.int/constitution/download/print_de.pdf. Artikel I-3, Absatz 1, S. 17 87 vgl. vgl. Plenarprotokoll der 160. Sitzung des Bundestages vom 24. Februar 2005. Erste Lesung über die Europäische Verfassung. URL: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/pp/160/index.html. 88 Europäische Union. „Vertrag über eine Verfassung für Europa“. Das Portal der Europäischen Union. URL: europa.eu.int/constitution/download/print_de.pdf. Artikel III-309, S. 144

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darstellen.89 Die Europäische Union werde zu einer weltweit operierenden Militärmacht

formiert.

Auch wenn die angeführten Dokumente sicherlich eine andere Qualität besitzen als die im

Jahr 2002 verabschiedete Nationale Sicherheitsstrategie der USA, in deren Folge der Irak

angegriffen wurde, und nicht davon auszugehen ist, dass sich die EU in naher Zukunft in

militärische Abenteuer stürzen wird, so wird doch eindeutig sichtbar, dass die Europäische

Union auf dem Weg ist, eine neue Rolle in der globalen Machthierarchie zu suchen.

3.3 Die verteidigungspolitische Identitätssuche am Beispiel der Rede von Bundeskanzler

Schröder auf der Münchner Sicherheitskonferenz

3.3.1 Der Inhalt der Rede

Knapp eine Woche bevor US-Präsident BUSH nach der Vereidigung zu seiner zweiten

Amtszeit einen Besuch in Deutschland antreten wollte, sollte Bundeskanzler SCHRÖDER auf

der Münchner Sicherheitskonferenz am 14. Februar eine Rede halten, die aus

Krankheitsgründen von Verteidigungsminister STRUCK vorgelesen wurde. In Europa und

den Vereinigten Staaten sorgten die Standpunkte des Bundeskanzlers für Irritationen und

Diskussionen.

Zu Anfang betonte der Bundeskanzler, dass die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur

dann gemeistert werden können, wenn „das transatlantische Verhältnis, die enge Beziehung

zwischen Europa, Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika, intakt ist – und bleibt“90

und dass eine enge transatlantische Bindung generell im deutschen, europäischen und

amerikanischen Interesse ist. Gleichzeitig führte er an, „bei der Umsetzung dieses

Grundsatzes in praktische Politik kann nicht die Vergangenheit der Bezugspunkt sein, wie das

so oft in transatlantischen Treueschwüren der Fall ist.“ Man müsse sich den neuen

Umständen anpassen, was u.a. bedeute, dass die militärische Präsenz amerikanischer Truppen

in Europa heute nicht mehr die sicherheitspolitische Priorität früherer Zeiten besitze und

Europa das Verständnis seiner internationalen Rolle verändern müsse. „Es ist im deutschen,

aber auch im internationalen Interesse, dass die Europäische Union eine stärkere

weltpolitische Verantwortung übernimmt. Der Schritt zur Schaffung eines eigenen politisch-

89 Springstein, Hans. „Die EU macht mobil“ In Junge Welt vom 16. Juni 2004. URL: http://www.jungewelt.de/2004/06-16/001.php. 90 Alle Zitate in diesem Kapitel beziehen sich auf folgende Quelle: Schröder, Gerhard. Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 14. Februar 2005. Bundesregierung. URL: http://www.bundesregierung.de/rede-,413.787039/Rede-von-Bundeskanzler-Gerhard.htm.

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militärischen Instrumentariums mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik

ist daher notwendig.“

Der Bundeskanzler äußerte sich in diesem Zusammenhang kritisch über die Rolle der NATO.

Die strategischen Herausforderungen lägen heute jenseits der alten Beistandszone des

Nordatlantik-Paktes. Die NATO ist „nicht mehr der primäre Ort, an dem die

transatlantischen Partner ihre strategischen Vorstellungen konsultieren und koordinieren.

Dasselbe gilt für den Dialog zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten,

der in seiner heutigen Form weder dem wachsenden Gewicht der Union noch den neuen

Anforderungen transatlantischer Zusammenarbeit entspricht.“ SCHRÖDER beschreibt ein

verändertes Verhältnis zwischen den USA und Europa. Nicht nur die amerikanische Rolle

habe sich in den vergangenen Jahren verändert, sondern auch Deutschland habe das

Verständnis seiner internationalen Rolle verändert. Die Bundesrepublik sieht sich im

europäischen Verbund „als mitverantwortlich für internationale Stabilität und Ordnung“, eine

Verantwortung, die es „durch aktives Engagement in zahlreichen Krisenregionen der Welt“

bezeuge. Mit solchem Nachdruck hat in der jüngsten Vergangenheit selten ein hochrangiger

europäischer Politiker verlangt, nicht mehr als Juniorpartner sondern als gleichberechtigte

Macht neben den USA behandelt zu werden.

3.3.2 Reaktionen auf die Rede Schröders und die Diskussion über die zukünftige Identität

Europas

In den Tagen und Wochen nach der Münchner Sicherheitskonferenz ist die Rede des

Bundeskanzlers in Europa und jenseits des Atlantiks kontrovers diskutiert worden. Teilweise

hat sie äußerst kühle Reaktionen erfahren,91 aber die Leitartikel und Stimmen von Politikern

machen unverkennbar, dass Europa in naher Zukunft als gleichberechtigter Partner neben den

USA verstanden werden will – nicht nur in wirtschaftlicher, sondern insbesondere in

militärischer und sicherheitspolitischer Hinsicht.

Die ersten Reaktionen auf SCHRÖDERS Rede waren zunächst abwehrend. NATO-

Generalsekretär DE HOOP SCHEFFER bemühte sich klarzustellen, dass die Organisation

„wächst, blüht und gedeiht.“92 US-Verteidigungsminister Donald RUMSFELD ließ sich gar

zu dem Kommentar hinreißen, die NATO sei „wahrscheinlich das eindrucksvollste Bündnis

91 vgl. „Kühle Reaktionen auf Schröders Vorstoß“ In Der Spiegel vom 14. Februar 2005. URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,341617,00.html. 92 vgl. Wernicke, Christian. „Nato-Chef unterstützt Schröder“ In Süddeutsche Zeitung vom 16.Februar 2005. URL: http://www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/866/47819/.

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in der Geschichte der Menschheit.“93 Der EU-Außenbeauftragte SOLANA sprach davon, dass

die NATO nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt habe.94

Die Berliner Tageszeitung Junge Welt schrieb einen Tag nach der Rede: „Die Reaktionen auf

die Intervention des Bundeskanzlers am Sonnabend bei der NATO-Sicherheitskonferenz in

München waren am Montag heftig. »Schröder verägert die NATO« (Süddeutsche), »USA

bürsten deutschen NATO-Plan ab« (International Herald Tribune), »sichtlich erregt« seien

NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer und »kalt« der ansonsten quietschfidele US-

Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gewesen. Als dann die Frage, »ob Schröder die

NATO beerdigen wolle« zum »Hauptgesprächsgegenstand in den Fluren des Bayrischen

Hofes« (FAZ) wurde und selbst Hillary Clinton fragte, ob Schröder jetzt »gegen die NATO«

sei, war das »denkbar größte PR-Desaster« – so ein hoher Vertreter der Bundesregierung,

der anonym bleiben wollte – perfekt.“95

In den Vereinigten Staaten sind die Worte SCHRÖDERS überwiegend ablehnend

kommentiert worden. Einen Tag nach der Rede war in der International Herald Tribune zu

lesen, dass der Bundeskanzler die ausgestreckte Hand der USA ausschlagen und den um

Versöhnung bemühten Partner brüskieren würde.96 Deutlicher wurde Josef JOFFE in der

Washington Post am 15. Februar. Er bezeichnet Frankreich als zweitklassige Großmacht, die

zusammen mit Deutschland versuchen würde, dem amerikanischen Riesen Fesseln

anzulegen.97 Die Europäische Union habe im Laufe der letzten drei Jahre gelernt, dass ihr

Ehrgeiz ihre Reichweite übersteige. Ohne die Hilfe der USA sei die EU nicht

handlungsfähig.98

Neben den kritischen Kommentaren der Medien, ging auch US-Präsident BUSH deutlich auf

Distanz zum Vorstoß des Bundeskanzlers.99 Die europäischen Bestrebungen, eigene

sicherheitspolitische Entscheidungsstrukturen und autonome militärische Fähigkeiten

aufzubauen, lösen in den Vereinigten Staaten Unbehagen aus und geben dort zur Befürchtung

Anlass, dass die Entwicklung auf Kosten der NATO gehen und langfristig ein potentieller

Konkurrent entstehen könnte.

93 Herden, Lutz. „Schaumschläger und Querschläger“ In Freitag, Ausgabe 8/05 vom 25. Februar 2005. URL: http://www.freitag.de/2005/08/05080101.php. 94 vgl. „Das Bündnis ist intakt“ In Süddeutsche Zeitung vom 14. Februar 2005. URL: http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/715/47668/. 95 Elsässer, Jürgen. „Knallerbse vom Kanzler“ In Junge Welt vom 15. Februar 2005. URL: http://www.jungewelt.de/2005/02-15/017.php. 96 vgl. Auswärtiges Amt. „Kommentare der Auslandspresse vom 15.02.05“. URL: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=6799. 97 ebd. 98 ebd. 99 Vgl. Bolesch, Cornelia; Wernicke, Christian. „Bush distanziert sich von Schröders Vorstoß“ In Süddeutsche Zeitung vom 23. Februar 2005. URL: http://www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/272/48224/.

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Auch europäische Politiker betonen immer wieder die Wichtigkeit der NATO für Europas

Verteidigung und die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten; exemplarisch forderte der

belgische Ministerpräsident Guy VERHOFSTADT im Februar während des Besuches von

US-Präsident BUSH in Brüssel „ein starkes europäisches Verteidigungsbündnis, das auch die

transatlantische Allianz stärken werde.“100 Es stellt sich die Frage, ob dies mehr als lose

Lippenbekenntnisse sind, um den transatlantischen Partner nicht zu beunruhigen bzw. zu

verärgern. In meinen Augen drücken die Äußerungen SCHRÖDERS und die Reaktionen von

Politik und Medien in Europa ein gewachsenes Selbstbewusstsein aus sowie die Erkenntnis,

die eigene Identität überdenken zu müssen. So ist auffällig, dass in Europa weniger der Inhalt

der Rede kritisiert worden ist, als vielmehr die Art und Weise, in der die Ideen präsentiert

wurden.101 So schrieb die konservative französische Tageszeitung Le Figaro: „Die Idee ist

gut, interessant und hätte eine bessere Aufnahme verdient gehabt.“102

Frankreichs Staatspräsident CHIRAC forderte gar auf dem NATO-Gipfel am 22. Februar,

eine Woche nach der Rede SCHRÖDERS, mehr Gewicht der Europäer in den

transatlantischen Beziehungen ein. Schließlich sei Europas Rolle in der Verteidigungspolitik

gewachsen, und diese Entwicklung sei eine Chance für die Allianz.103 Die Worte von

SCHRÖDER und CHIRAC, die schon in Bezug auf den Irak-Krieg eine Gegenposition zu

den Vereinigten Staaten eingenommen haben, stellen eine Abkehr von den bislang

dominierenden Treueschwüren auf die transatlantische Allianz dar, die noch einmal

beispielhaft in der Reaktion von CDU-Chefin Angela Merkel auf die Rede des

Bundeskanzlers abzulesen sind: „Europa darf sich nicht als Gegengewicht zu den Vereinigten

Staaten verstehen oder gar glauben, dass eine Gegenposition die europäische Identität

stärken könnte.”104

Der französische Staats- und der deutsche Regierungschef verleihen einer Ansicht Ausdruck,

die bislang kaum ein Politiker offen zu äußern gewagt hat, die aber in Dokumenten wie dem

ESS oder EDF explizit zum Ausdruck kommt. Die Rede SCHRÖDERS zeigt, dass die

eingefahrenen transatlantischen Beziehungen im Verändern begriffen sind. Die zunehmend

aggressive Außenpolitik der Vereinigten Staaten und ihre Nationale Sicherheitsstrategie

haben Europa vor Augen geführt, dass es selbstbewusst und mit einer Stimme agieren muss,

100 Weingärtner, Daniela. „Der Pole darf nicht sprechen“ In die tageszeitung vom 22. Februar 2005, S. 3. 101 vgl. Auswärtiges Amt. „Kommentare der Auslandspresse vom 15.02.05“. URL: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=6799. 102 Zitiert nach Schwarz, Peter. “Schröder fordert Weltmachtrolle für Deutschland.” 16. Februar 2005, World Socialist Website. URL: http://www.wsws.org/de/2005/feb2005/muen-f16.shtml. 103 vgl. Bolesch, Cornelia; Wernicke, Christian. a.a.O. 104 „Schröder irritiert mit Forderung nach NATO-Reform“ In Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Februar 2005. URL: http://www.faz.net/s/Rub28FC768942F34C5B8297CC6E16FFC8B4/ Doc~EFC1A9421D814489B9884846C5F1E4AD9~ATpl~Ecommon~Scontent.html

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um nicht auf lange Sicht als politische Macht hinter den USA zurück zu stehen. Zusammen

fassen lässt sich diese Position durch den Kommentar von Martin WINTER in der

Frankfurter Rundschau: „Selbst wenn in der Gemeinschaft noch vieles knirscht, kann

Washington an zwei Tatsachen nicht vorbei: Erstens gehört die Zeit der Vergangenheit an, in

der die EU nur unter dem militärischen Schutz der USA gedeihen konnte. Heute sorgt die EU

selber für ihre Sicherheit durch ein wachsendes Netz von vertraglichen Bindungen mit ihren

großen und ihren kleinen Nachbarn von Russland bis Marokko. Zweitens versammelt sich in

der EU eine politische, wirtschaftliche und militärische Kraft, die von zunehmender

Bedeutung ist, um die Probleme der Welt zu bewältigen.“105

4 Fazit Ohne Zweifel hat sich das Projekt einer gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und

Verteidigungspolitik (ESVP) in den vergangenen Jahren in großen Schritten fortentwickelt.

Dennoch bleibt anzumerken, dass „das Erscheinungsbild der ESVP (...) nach wie vor

widersprüchlich und oft blass“106 ist. Die EU ist weit davon entfernt mit einer Stimme zu

sprechen und die Interessen der 25 Mitgliedsstaaten unter einem gemeinsamen Dach zu

vereinen. Hier liegt die große Herausforderung der Zukunft, ohne deren Bewältigung die

Vereinigten Staaten auf lange Sicht ihre Führungsrolle in der Welt behalten werden.

Trotz des selbstbewussten Auftretens, das unter anderem in der Rede des Bundeskanzlers

deutlich wird, sollten die europäischen Bemühungen eher im Sinne von mehr

Eigenständigkeit als mehr Unabhängigkeit von und Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten

gesehen werden. Sicherlich stehen hinter den Worten SCHRÖDERS oder den Bemühungen

CHIRACS auch eigene macht- und wirtschaftspolitische Bestrebungen, doch der ehemalige

polnische Botschafter Janusz REITER bringt es auf den Punkt: „Vielen Europäern fällt es

leicht, Amerikas Führungsrolle zu akzeptieren. Sie würden sich aber energisch wehren, wenn

eine europäische Macht den Führungsanspruch erhöbe. Wer Europa zum Vehikel eigener

nationaler Ambitionen machen möchte, muss damit rechnen, dass ihm die Nachbarn die

Gefolgschaft verweigern.“107

105 Zitiert nach Zitiert nach Schwarz, Peter. “Schröder fordert Weltmachtrolle für Deutschland.” 16. Februar 2005, World Socialist Website. URL: http://www.wsws.org/de/2005/feb2005/muen-f16.shtml. 106 Schwarz, Oliver. „Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“. Europa-digital.de. URL: http://www.europa-digital.de/dschungelbuch/polfeld/esvp. 107 Zitiert nach: Dembinski, Matthias. „Der Irak-Krieg als Bewährungsprobe der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik: Positionen und Perspektiven.“ In Die Sicherheitspolitik der EU im Werden. Bedrohungen, Aktivitäten, Eigenschaften, hg. Hans-Georg Ehrhart, Burkhard Schmitt. Baden-Baden. Nomos Verlagsgesellschaft, 2004. S. 99.

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Um auf die Frage im Titel meiner Hausarbeit zurück zu kommen: die Europäische Union als

Zivil- oder Militärmacht? Sie ist nicht eindeutig zu beantworten. Am ehesten lässt sich die

Antwort auf den Nenner bringen, dass keine der beiden Umschreibungen auf den

gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union zutrifft. Zwar bleibt festzuhalten, dass

momentan noch von „einer grundlegenden Orientierung der Europäischen Union am Modell

einer Zivilmacht auszugehen“ ist, wie es SCHLOTTER konstatiert, diese sich aber immer

weiter in Richtung einer Militärmacht verändert. Ich bin nicht sicher, ob ich an dieser Stelle in

wenigen Jahren den Begriff der „Zivilmacht“ in Zusammenhang mit der EU benutzen würde.

Angesichts der momentanen Entwicklung (Stichworte: ESS, EDF und EU-Verfassung)

erscheint es mir unwahrscheinlich. Meines Erachtens befindet sich Europa momentan auf

bestem Wege, sich von den Idealen einer Zivilmacht zu verabschieden. Eine zufrieden

stellende Antwort ist dies nicht, aber eine solche kann nur die zukünftige Entwicklung des

europäischen Staatenbundes liefern.