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Auschwitz - hait.tu-dresden.dehait.tu-dresden.de/dok/bst/heft_32_henke.pdf · Auschwitz Sechs Essays zu Geschehen und Vergegenwärtigung Herausgegeben von Klaus-Dietmar Henke Dresden

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AuschwitzSechs Essays zu Geschehen und Vergegenwärtigung

Herausgegeben von Klaus-Dietmar Henke

Berichte und Studien Nr. 32Herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institutfür Totalitarismusforschung e.V.an der Technischen Universität Dresden

AuschwitzSechs Essayszu Geschehen und Vergegenwärtigung

Herausgegeben von Klaus-Dietmar Henke

Dresden 2001

Herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität DresdenMommsenstr. 13, 01062 DresdenTel. (0351) 463 2802, Fax (0351) 463 6079Layout: Walter HeidenreichUmschlaggestaltung: Penta-Design, BerlinDruck: Sächsisches Druck- und Verlagshaus AG, DresdenPrinted in Germany 2001

Abdruck und sonstige publizistische Nutzung – auch auszugsweise – nur mitQuellenangabe gestattet. Belegexemplar gewünscht.

ISBN 3-931648-35-4

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung 7

Ludolf HerbstRassismus, Ausbeutung und Massenvernichtungim Nationalsozialismus 9

Ulrich HerbertDer Holocaust und die deutsche Gesellschaft 19

Norbert Frei, Sybille SteinbacherAuschwitz. Die Stadt, das Lager und die Wahrnehmungder Deutschen 37

Peter LongerichAuschwitz-Leugnen. Das Verfahren Irving gegen Lipstadtvor dem Londoner High Court 53

Dan DinerDer Holocaust in den politischen Kulturen Europas:Erinnerung und Eigentum 65

Klaus-Dietmar HenkeDie „Banalität“ des Bösen. Hannah Arendt undEichmann in Jerusalem 75

Die Autoren 81

Vorbemerkung

Die nachstehenden Essays sind aus der Vortragsreihe „Auschwitz. Gesche-hen und Vergegenwärtigung“ hervorgegangen, die im Herbst 2000 vomHannah-Arendt-Institut in Dresden veranstaltet wurde. Sie wandte sich anein breites Publikum, dem ein historischer Überblick und eine vielleichtnützliche Orientierung angesichts manifester Tendenzen geboten werdensollte, den deutschen Mord an den europäischen Juden zu relativieren, zuleugnen oder – wie in rechtsradikalen Milieus – sogar offen oder klamm-heimlich gutzuheißen. In den Gewalttaten gegen Ausländer und jüdischeEinrichtungen, die ein besorgniserregendes Ausmaß erreicht haben, sind un-schwer Elemente jener Vorstellungen und Einstellungen wiederzuerkennen,die in Deutschland zwischen 1933 und 1945 als Staatsdoktrin die weltan-schauliche Grundlage damaliger Regierungskriminalität bildeten: die Über-zeugung, Menschen oder Völker seien unterschiedlich viel wert; oder dieAbsicht, durch Gewalt und Mord eine nationale Homogenisierung zu er-zwingen.

Manchmal streichen extremistische Gewalttäter von heute ihre histo-rische Wahlverwandtschaft heraus, manchmal haben sie nicht einmal davoneine Ahnung. Manche Zeitgenossen treibt die fixe Idee, in den mehr als 50Jahren seit dem Krieg sei schon mehr als genug von den deutschenVerbrechen die Rede gewesen. Die Deutschen müssten endlich die Fesselnihrer Geschichte abstreifen und insbesondere nach der Wiedervereinigungund Wiedererlangung der vollen staatlichen Souveränität wieder eine ganznormale Nation werden; das deutsche Volk habe seine Gängelung durcheine „Volkspädagogik der Umerziehung“, durch den „Zeitgeist“, die „politi-cal correctness“ usw. zu überwinden. Neonazis, aber auch einige Neonatio-nalisten und Nationalapologeten diesseits und jenseits des extremistischenSaums glauben, dass sich das von ihnen ersehnte ungebrochene Geschichts-bild, das in ihren Augen für die Nation überlebenswichtig ist, nur dann her-stellen lässt, wenn Auschwitz geleugnet, verharmlost, am besten aber umin-terpretiert wird. Die Tatsache, dass dies – wie einige der hier versammeltenEssays verdeutlichen – scheitern muss, macht sie um so unnachgiebiger.Einige ziehen unter der Unschuldsformel des „Man-Wird-Doch-Noch-Fragen-Dürfen“, der klassischen rhetorischen Figur für die verdrucksteBehauptung, seit langem gesicherte Ergebnisse der Zeitgeschichtsforschungin Zweifel. Manche räumen zwar eine gewisse Zahl von Opfern ein, führendiese aber auf „Übergriffe“, kriegsbedingte Unterversorgung usw. zurückund versuchen so eine „Befreiung von Auschwitz durch Relativierung“.

Die Findigsten unter ihnen bemühen sich, den Holocaust aus denTraditionslinien der deutschen und europäischen Geschichte herauszuneh-men: der Judenmord als „asiatische Tat“ unter dem Eindruck der zeitlichfrüher liegenden bolschewistischen Massenmorde; ein nicht unerklärlicherImpuls mit Notwehrcharakter aus Angst vor der Bedrohung durch den stali-nistischen Kommunismus, dem ein jüdischer Kern zugeschrieben wird. Ja,man billigt dem Antisemitismus Hitlers sogar einen „rationalen Kern“ zu –eine gewisse Berechtigung auch deswegen, weil Hitler im jüdischen Geisteben den Widersacher der deutschen Seele gespürt habe.

Solche Filibusterei mit dem Ziel einer nationalen Entlastung ist nicht nurhistorisch falsch, sie ist auch vergeblich. Auschwitz ist nicht bloß ein deut-sches Kainsmal, sondern eines der großen Menschheitsdramen. Für dieVerarbeitung eines Vernichtungsgeschehens biblischen Ausmaßes sind 50Jahre überdies ein sehr, sehr kurzer Zeitraum, nicht einmal ein Wimpern-schlag in der Menschheitsgeschichte. Selbst wenn man es noch so innigwünschte, ist der deutsche Völkermord an den Juden doch nicht nur Teil derdeutschen Geschichte, sondern ebenso Teil der Familiengeschichte derNachkommen von mindestens 5,29 Millionen erschossener und vergifteterMenschen, Teil der Geschichte der Täter und der Kollaborateure, Teil derGeschichte von 18 europäischen Nationen, der israelischen, der amerikani-schen Geschichte …

Eine „Normalisierung“ der deutschen Geschichte in dem angedeutetenSinne ist unmöglich, weil Deutschland keine normale, sondern eine durchAuschwitz gebrochene Geschichte hat. Glaubt man überhaupt an eineBestärkung der nationalen Identität durch historische Selbstvergewisserung,so ist diese Identitätsleistung in Deutschland gerade durch die Absage aneine „heile“ nationale Identität zu erreichen. Auf dem Wege dorthin hat dieBundesrepublik in den letzten Jahrzehnten einiges erreicht, denn diesesdeutsche Verbrechen ist inzwischen weitgehend in das Selbstbild der Nationaufgenommen. Das Land hat Auschwitz angenommen: nach den vergeb-lichen Versuchen der Vergangenheitsverdrängung und der „Vergangenheits-bewältigung“ nun Vergangenheitsbewahrung (Aleida Assmann). Die Annah-me der Hypothek von Auschwitz ist eine moralische Leistung, durch diedeutsche Identität nicht geschwächt, sondern gestärkt wird. Denn Aufrichtig-keit, Verantwortungsbewusstsein und Demut sind nicht nur im Privatlebennützliche Tugenden. Es ist zu hoffen, dass das mühselig Erreichte festerBestandteil des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland bleibt.Nur von hier aus lässt sich bei uns eine Diskussion darüber beginnen, wiesich Nationalgeschichte, Universalgeschichte und die Erfahrung des Holo-caust, die so sehr in den Mittelpunkt unseres Bewusstseins gerückt ist, zuein-ander verhalten oder verhalten sollten.

Dresden, Juni 2001 Klaus-Dietmar Henke

Ludolf Herbst

Rassismus, Ausbeutung und Massenvernichtungim Nationalsozialismus

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Auschwitz ist es immer noch schwerzu verstehen, was damals geschah. „Nur ex negativo, nur durch den stän-digen Versuch, die Vergeblichkeit des Verstehens zu verstehen“, so hat DanDiner einmal formuliert, „kann ermessen werden, um welches Ereignis essich bei diesem Zivilisationsbruch gehandelt haben könnte.“ Die Historikerhaben ihre Sprachlosigkeit Auschwitz gegenüber dadurch zu überwindenversucht, dass sie die Wege, die nach Auschwitz geführt haben oder geführthaben könnten, in allen Einzelheiten erforscht haben. Es gibt wohl kein his-torisches Spezialgebiet, das mehr Forschungsbemühungen auf sich gezogenhat, als die mit den Begriffen „Holocaust“ oder „Auschwitz“ gekennzeichne-te menschenverachtende Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik derNationalsozialisten. Ein Historiker würde lügen, wollte er behaupten, dassman die Flut dieser Hervorbringungen wirklich noch überblicken kann.

Die Fülle der Studien, so könnte es scheinen, verhält sich umgekehrt pro-portional zu unserer Fähigkeit, die Ergebnisse zu erklären. Wie sonst wärees möglich gewesen, dass Daniel J. Goldhagen mit seiner These so vielAufsehen hervorrufen konnte, die Mehrzahl der Deutschen hätte in denzwanziger Jahren „einem bösartigen Antisemitismus“ angehangen, der aufdie Ermordung der Juden abgezielt habe und hierin hätte die deutscheGesellschaft mit der nationalsozialistischen Führung übereingestimmt. Ohne„die große Bereitschaft der meisten gewöhnlichen Deutschen“, so formuliertGoldhagen, „die rabiate Verfolgung der Juden in den dreißiger Jahren zu-nächst zu tolerieren, zu unterstützen, oft sogar tätig daran mitzuwirken undsich schließlich […] auch an der Ermordung der Juden zu beteiligen“, wäreder Holocaust „niemals möglich gewesen“.

Auf einem ungleich höheren Niveau argumentiert Ian Kershaw in seinerHitler-Biographie. Er fragt danach, wie Hitler möglich wurde, und gibt eineAntwort, die ebenfalls auf die deutsche Gesellschaft zielt. Unter Bezug aufMax Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft begriff er HitlersMacht „als Produkt der Gesellschaft“, als ein „Ergebnis der gesellschaft-lichen Erwartungen und Motivationen, die Hitlers Anhänger auf ihn übertru-gen“. Die Deutschen kollaborierten auf eine spezifische Weise mit Hitler. Siebauten ihn auf, weil sie einen politischen Messias erwarteten, und sie ermög-lichten seine Herrschaft, indem sie ihm „entgegenarbeiteten“. Für dieErklärung des Holocaust heißt das, dass Hitler zwar die Ereignisse auslöste,aber „kaum etwas dazu tun“ musste, dass sie verwirklicht wurden:„Organisation, Planung und Durchführung des Unternehmens konnten ver-

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trauensvoll willigen Helfern überlassen werden. Es gab keine Knappheit anLeuten, die nur allzu bereit waren „praktische Arbeit“ für den Führer zu leis-ten,“ dem Führer „entgegenzuarbeiten“.

In seiner Studie „Die Zeit des Nationalsozialismus“ ist es Michael Bur-leighs Hauptanliegen, die „moralische Entgleisung und Verwandlung einerfortgeschrittenen Industriegesellschaft“ zu zeigen. Ausführlicher als alle bis-herigen Gesamtdarstellungen befasst er sich daher mit der pathologischenSeite der deutschen Gesellschaft während der nationalsozialistischen Zeit.Er fügt die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden, die Eugenik und dieEuthanasie, die Ausbeutung und rassistische Hierarchisierung Europassowie den Rassenkrieg gegen die Juden in eine Gesamtanalyse ein, die dieallmähliche Transformation der Gesellschaft, das Verrutschen der Wertmaß-stäbe und das Abhandenkommen normaler menschlicher Verhaltensweisen,zum eigentlichen Gegenstand macht.

Diesen im besten Sinne gesellschafts- und alltagsgeschichtlichen Zugriffverbindet er mit einer scharfen Wendung gegen einige moderne Forschungs-tendenzen, die sich seiner Meinung nach von bewährten älteren Erklä-rungsansätzen unberechtigterweise entfernt hätten. Man sei heute geneigtzu vergessen, dass die Nationalsozialisten Protagonisten einer politischenReligion waren, die – mit säkularisierten Versatzstücken des Christentumsarbeitend – in einer historischen Epoche besonders wirksam werden konnte,die sich vom Christentum zu lösen begann, ohne des religiösen Halts schonentbehren zu können. Und man sei ferner geneigt zu vergessen, dass die NS-Diktatur ein totalitäres Regime war: „Ein Aspekt der Diktatur“, so formu-liert Burleigh, sollte „stärker hervorgehoben werden, […] nämlich dieVerdrängung rechtsstaatlicher Verfahren durch willkürlichen Polizeiterror.Das war kein prosaisches Vorspiel zum finsteren Hauptstück derRassenvernichtung während des Krieges, sondern der entscheidende Bruchmit dem fundamentalsten Merkmal freier Gesellschaften. Das war keineuntergeordnete Frage, die einmal unerklärlicherweise eine ältere Historiker-generation bewegt hat und die man am besten den Rechtshistorikern über-lässt, sondern es war die entscheidende Abkehr von zivilisierten Werten, dievon der NS-Regierung in die Wege geleitet wurde.“

Man kann dies nur unterstreichen und muss Burleigh auch deswegenzustimmend zitieren, weil wir als Historiker nicht den Eindruck entstehenlassen können, die Menschen damals hätten sich in ähnlichen Entschei-dungsumständen bewegt, wie wir dies heute in einer freien Gesellschaft kön-nen. Darüber hinaus müssen wir nach dem Sinn und Zweck der Holocaust-Forschung fragen. Gewiss ist es ein ganz wesentlicher Zweck unseres Tunszu klären, warum dies in Deutschland und im von Deutschland unterworfe-nen Europa möglich war. Dies sind wir unserer Verantwortung vor derGeschichte schuldig. Zugleich ist die historische Aufklärung der Ereignisse,die nach Auschwitz geführt und Auschwitz möglich gemacht haben, ein Teilder politischen Kultur in Deutschland und allmählich auch in Europa, auf

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den wir stolz sein können und der uns davor bewahren kann, dieselbenFehler noch einmal zu machen. Das heisst aber zugleich: Wir haben nichtnur Verantwortung für unsere Gegenwart sondern auch für die Zukunft.Genau dies zwingt uns nun aber dazu, über die Frage hinauszugehen,warum der Holocaust in Deutschland und in Europa möglich war, und dieFrage zu stellen, unter welchen Bedingungen „Rassismus“, mörderische„Ausbeutung“ und „Massenvernichtung“ überhaupt möglich sind. Wir müs-sen die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit also auch auf ihre verall-gemeinerungsfähigen Aspekte hin befragen und dürfen diese nicht zuguns-ten einer Sichtweise abschleifen, die von vornherein unterstellt, dass nur inDeutschland möglich war, was in Deutschland möglich wurde. Gewiss trägtdie Entwicklung spezifische Züge, deren Entstehung man sich nur schweraußerhalb Deutschlands vorstellen kann, aber ebenso gewiss trägt sie allge-meine Züge, deren Kenntnis für eine Welt immer wichtiger wird, die ja dochallmählich begreift, dass es zu den wichtigsten Aufgaben übernationalerPolitik gehört, ethnische Säuberungen und Völkermorde zu verhindern.

Im Interesse eines solchen verallgemeinerungsfähigen Erklärungsansatzeshabe ich in meinem Buch über das nationalsozialistische Deutschland vonder „Entfesselung der Gewalt“ und von Entkoppelungsvorgängen gespro-chen. Dahinter steht eine pragmatische Weltsicht, wie ich sie auch in demBuch von Burleigh finde: Gewalt lässt sich in menschlichen Gesellschaftennur durch Ordnungs- und Sanktionssysteme in Schranken halten, die in derLage sind, Normen Geltung zu verschaffen. Solche Ordnungs- und Sank-tionssysteme sind sehr zahlreich und jeder einzelne Mensch und jede einzel-ne Gemeinschaft ist in eine Vielzahl solcher „Systeme“ eingebunden. Gewaltnimmt daher in einer Gesellschaft zu, in der die Sanktions- und Ordnungs-systeme beeinträchtigt oder außer Kraft gesetzt werden oder die Geltungvon Normen in Frage gestellt bzw. herausgefordert wird. Meistens kommtalles zusammen, wenn sich Gewalt ausbreitet. An den drei Stichworten mei-nes Vortrages „Rassismus“, „Ausbeutung“ und „Massenvernichtung“ kanndies exemplarisch gezeigt werden.

Die Geschichte des Rassismus ist ein Teil der europäischen Geistesge-schichte und sie hat darüber hinaus allgemeine, weltweite Wurzeln. DieVerfechter rassistischer Lehren bieten eine ideologische Weltsicht, die dieGleichberechtigung und Gleichbefähigung der Menschen in Frage stellt.Durch eine karikierende Verkürzung von Merkmalen werden Menschenty-pen gebildet. In der Regel tendieren solche Einteilungen zur Bi-Polarität,d. h. es werden vorzugsweise zwei Typen oder Typengruppen miteinanderkonfrontiert. Die Menschheit wird nach dem Ein- und Ausschlussverfahrenin Fremde und Einheimische, in Schwarze und Weiße, in Arier und Juden, inGute und Böse, in Aktive und Passive, in Kulturträger und Kulturbanausenunterteilt.

Die normative Entkoppelung findet zunächst einmal in den Köpfen derProtagonisten solcher Weltsichten statt. Der Rassismus erlaubt es nicht

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mehr, im Gegenüber den Menschen in seiner komplexen Vielfalt zu sehen.An seine Stelle rückt eine Karikatur, die den Menschen zum Gattungs-exemplar macht und ihn Zusammenhängen zuordnet, für die sich in derWirklichkeit keine oder so gut wie keine Anhaltspunkte finden lassen. Weißeund Schwarze, Juden und Arier, Fremde und Einheimische werden daher ineine fiktive Welt hineinkonstruiert, die als „eigentliche Realität“ an die Stelleder Wirklichkeit gesetzt wird. Um diese „eigentliche Realität“ wahrzuneh-men, benötigt man einen sechsten Sinn, wie Hannah Arendt einmal formu-liert hat, d. h. hier wird Borniertheit gefordert und nicht historischeUrteilskraft.

So entwarf der Altmeister des Rassismus, Arthur de Gobineau, eine fikti-ve Welt, in der höhere und niedere Rassen um die Vorherrschaft stritten.Dabei knüpfte er an den Mythos vom kulturschaffenden „Arier“ an, der aufdem Boden der Anthropologie und der Sprachwissenschaft in der erstenHälfte des 19. Jahrhunderts entstanden war. Die Arier wurden als edelsteindogermanische Rasse angesehen. Sie galten als ein Bauern-, Jäger- undHirtenvolk, als die Ahnherren der Franzosen, Deutschen, Engländer undNordeuropäer. Auf sie projizierte man das Schönheitsideal der Antike undden Tugendkanon des europäischen Bürgertums der Jahrhundertmitte.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verknüpften sich rassistischemit antisemitischen Vorstellungen. Dem positiven Idealtypus des Arierswurde der Negativtypus des Juden kontrastierend gegenübergestellt, demman nun wahlweise alle möglichen negativen Eigenschaften zuordnete.Greifbar ist diese Entwicklung in ganz Westeuropa. Bedeutende Repräsen-tanten dieser dichotomischen Weltsicht sind der britische Anatom RobertKnox, der französische Eugeniker Georges Comte Vacher de Lapouge undder deutsche Ökonom und Sozialist Eugen Dühring, um nur einige wenigezu nennen.

Eines der wirksamsten Elemente dieses dichotomischen Weltbildes wardie These von der jüdischen Weltverschwörung. Am griffigsten wurde sie inden sogenannten „Protokollen der Weisen von Zion“ formuliert, einerFälschung, die unter Rückgriff auf alttradierte Topoi entstand und in denzwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eines der am weitesten verbreitetenPamphlete war. Alle diese Stereotypien, die zum Teil uralte antijudaistischeTopoi aufgriffen, wurden Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts indas Programm des politischen Antisemitismus integriert, dessen Ziel dieRückgängigmachung bzw. die Verhinderung der bürgerlich-rechtlichenGleichstellung der Juden war.

Auch in dieser Transformation des Antisemitismus haben wir es mit einergesamteuropäischen Erscheinung zu tun. Allerdings kann man Regioneneiner nachhaltigeren Rezeption von solchen einer weniger intensiven unter-scheiden. Offenbar besaß der Antisemitismus dort die meiste Überzeu-gungskraft, wo die Zuwanderung von Ostjuden am größten war und dieStigmatisierung der Juden als einer fremden Rasse im äußeren Erschei-

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nungsbild des nichtassimilierten ärmlichen Glaubensjuden gewisse Anhalts-punkte fand. Dies traf insbesondere auf Wien und Teile des ländlichenDeutsch-Österreich, auf Böhmen und Mähren, auf die großen Städte undeinige ländliche Regionen in Deutschland sowie auf die Westregion des russi-schen Reiches zu, des bedeutendsten Siedlungsgebietes der Juden in Europa.

Sieht man sich die Rezeption des Antisemitismus in Deutschland an, sowird man nicht sagen können, dass sie sich bis zum Ersten Weltkrieg in auf-fälliger Weise von anderen europäischen Ländern unterschied. Ein Wandeltrat offenbar während des Krieges ein. Den Boden für eine gewisse Populari-sierung des Antisemitismus mögen die ideologisch reduktionistischen Welt-sichten bereitet haben, mit denen die Kriegspropaganda arbeitete. Entschei-dend dürfte aber die Gesellschaftskrise gewesen sein, die sich unter demDruck des Krieges seit 1916 anbahnte, die 1917 offen zu Tage trat und diesich schließlich in der Revolution 1918/19 manifestierte. Unter demEindruck des militärischen Zusammenbruchs, der Revolution in Deutsch-land und der Revolutionen in Russland, die ihr voraufgegangen waren, radi-kalisierte sich der Antisemitismus und fand vor allem im rechten politischenSpektrum eine Basis, vorübergehend sogar eine Massenbasis. Die Judenwurden in diesem Milieu zu Sündenböcken gestempelt. Der Zusammen-bruch und die Revolution wurden ebenso als ihr Werk hingestellt wie dieWeimarer Republik, die aus ihr hervorging.

Obgleich die Weimarer Republik mehr Krisenjahre als ruhige Jahre erleb-te und Krisen die Popularisierung des Antisemitismus ganz offenkundigerleichterten, kam der aktivistische politische Antisemitismus aus dem völki-schen Milieu nicht heraus. Mit den Erfolgen der NSDAP seit 1930 erweitertesich dieser Einzugsbereich allerdings beträchtlich, obgleich man die Wählerder NSDAP mit der Zahl der aktiven Antisemiten in Deutschland nichtgleichsetzen kann. Was aber wohl insbesondere auch am Wählerzuwachsder NSDAP abgelesen werden kann, ist die wachsende Bereitschaft in derdeutschen Bevölkerung, Antisemitismus hinzunehmen. Man ließ sich nichtdavon abhalten, die NSDAP zu wählen, obgleich sie ein antisemitischesProgramm verfocht. Und man trat in Verbände ein, die Juden diskriminier-ten und von der Mitgliedschaft ausschlossen. Neben der NSDAP gab es eineganze Reihe von Organisationen, die schon vor 1933 einen Arierparagra-phen in ihrer Satzung verankert hatten, d. h. keine Juden aufnahmen. Diesgalt für den „Stahlhelm“, für den „Jungdeutschen Orden“, für den „Deutsch-nationalen Handlungsgehilfenverband“ für den „Reichslandbund“, für die„deutschen Burschenschaften“ und den „Deutschen Turnerbund“. Insge-samt dürften diese Organisationen am Ende der Weimarer Republik etwazwei Millionen Mitglieder gehabt haben (wobei allerdings Doppel- bzw.Mehrfachmitgliedschaften nicht herausgerechnet sind). Weit verbreitet wardiese Form antisemitischer Apartheid zudem unter den Studentenschaften,wobei der „Hochschulring Deutscher Art“ einen Kristallisationskern dar-stellte.

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Zweifellos hatte der Erste Weltkrieg und hatten die Krisen der WeimarerRepublik einen normativen Entkoppelungsprozess eingeleitet, der die politi-sche Kultur in Deutschland zunehmend prägte. Dieser Entkoppelungs-prozess war durch eine Missachtung demokratischer und freiheitlich rechtli-cher Prinzipien gekennzeichnet, die vor der Diskriminierung der politischenGegner ebensowenig Halt machte wie vor der Diskriminierung der Juden.Aber wenn dieser Entkoppelungsprozess hier und da auch bereits physischeGewalt hervorbrachte, so blieben die rechtsstaatlichen Ordnungs- undSanktionssysteme doch bis zuletzt intakt. Wer Juden oder politischen Geg-nern Gewalt antat, wurde vor Gericht gestellt und bestraft, auch wenn beiGewalttätern aus dem rechten Milieu oft Gnade vor Recht erging und dieRepublik mit ihren Feinden insgesamt fahrlässig milde verfuhr. Die Republikwar zweifellos tief gespalten. Sie war zwar nicht ohne Republikaner, aberdiese stellten eine schwindende Zahl dar und waren zudem untereinanderzerstritten. Es fehlte ein demokratischer Grundkonsens, der jenseits der übli-chen Parteikonflikte die Substanz der Demokratie hätte bewahren können.Der entscheidende Wandel setzte gleichwohl erst 1933 ein. Mit derSuspendierung der Grund- und Freiheitsrechte und der Duldung undErmunterung offener Gewalt durch die Regierung gewann die Entkoppelungder Gewalt eine neue Qualität, und zwar sofort, noch im Februar 1933,lange bevor die Diktatur durchgesetzt war.

Von entscheidender Bedeutung wurde es nun, dass Rassismus und Antise-mitismus in Deutschland in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben wurden.Der neue Reichskanzler, Adolf Hitler, war selbst überzeugter Rassist undAntisemit. Er stützte sich auf eine Partei, die ein rassistisch-antisemitischesProgramm verfolgte, und auf eine Kampforganisation, die SA, derenAktivismus von einem primitiven, zur Gewalt neigenden Antisemitismusgeprägt war. Doch auch wenn man die entscheidende Zäsur, die dieErrichtung des totalitären Regimes in Deutschland im Jahre 1933 bedeutete,betont, wird man gleichwohl sagen müssen, dass dies nicht mit einer voll-ständigen Entkoppelung der Gewalt gleichgesetzt werden kann. Noch warjeder Einzelne, noch waren die Gesellschaft und der Staat eingebunden inein Geflecht von Normen, Gewohnheiten und Rücksichten aller Art.

Vor allem der Antisemitismus traf in diesem Rückkoppelungsgeflecht aufWiderstände, die erst in einem langwierigen Prozess überwunden wurden.So trafen die Judenboykotte, die die SA im März 1933 inszenierte, keines-wegs auf besondere Sympathien in der Bevölkerung. Vielmehr überwog dieAblehnung. Auch die antisemitischen Aprilgesetze trafen auf Widerstand. Sointervenierte Hindenburg und zwang den Reichskanzler Hitler dazu, jüdi-sche Beamte zunächst einmal auf ihren Posten zu belassen, die im ErstenWeltkrieg Kriegsdienst geleistet hatten. Er zwang der Regierung damit einenKompromiss auf, der deutlich machte, dass das offiziell verbreitete Bild vonJuden nicht stimmte: Es hatten weit mehr Juden im Ersten Weltkrieg an derFront gestanden als die Nationalsozialisten glauben machen wollten.

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Widerstände regten sich auch im Ausland, wo man empört war über denRückfall in die Barbarei, der sich in Deutschland ankündigte. Deutschlandwar aber als außenhandelsabhängige Nation auf das Ausland angewiesen. Eswar dies um so mehr als es sich mit über sieben Millionen Arbeitslosen imFrühjahr 1933 auch in einer beschäftigungspolitisch extrem schwierigenLage befand, deren Überwindung ohne Exporte nicht zu erreichen war.Rücksichten auf das Ausland mussten zudem auch deshalb genommen wer-den, weil die außenpolitische Lage Deutschlands 1933 außerordentlich pre-kär war. Hitler waren diese Probleme offensichtlich bewusst und so brems-ten Widerstände und Rücksichten die antisemitische Politik zunächst. Siewurde in den ersten Jahren der NS-Herrschaft offenkundig mehr von über-zeugten Aktivisten auf den mittleren Rängen der NS-Hierarchie, die denbraunen Pöbel für ihre Zwecke einspannten, vorangetrieben als von derSpitze der Regierung aus.

Die nationalsozialistische Judenpolitik und der Weg, den die Ausgren-zung der Juden aus der deutschen Gesellschaft nahm, kann hier nichtgeschildert werden. Wichtig erscheint nur zweierlei:

Erstens können die Stationen der antisemitischen Politik, die NürnbergerRassegesetze, die Vernichtung der beruflichen Existenz der Juden, derNovemberpogrom und die Vertreibung aus Deutschland nicht nur, nicht aus-schließlich im Kontext deutscher Gesellschaftsgeschichte erklärt werden.Hierzu ist ein breiterer Erklärungsansatz erforderlich. Zweifellos spiegelt dieVerlaufsgeschichte der Judenverfolgung einen erschreckend hohen Gradgemeingesellschaftlich vollzogener Abkopplung von allgemeinmenschlichenNormen wie Anstand, Fairness, Mitleid und Mitmenschlichkeit. Wie weitdieser Abkoppelungs- und Transformationsprozess in der deutschen Gesell-schaft bis 1939 vorangekommen war, können wir aber mit den Methodendes Historikers nicht sicher beantworten.

Ebenso wichtig wie der innergesellschaftliche normative Transforma-tionsprozess, den das totalitäre Regime bewirken konnte, ist aber zweitensdie Entkoppelung, die dadurch möglich wurde, dass sich die Handlungsspiel-räume der NS-Regierung zwischen 1933 und 1939 ganz außerordentlicherhöhten. Dies gelang, weil das Regime einerseits die drängendsten sozialen,wirtschaftlichen und politischen Probleme zu lösen vermochte und esDeutschland andererseits in die nahezu völlige Isolierung führte und vomWesten weitgehend abkoppelte. Diese Stabilisierung in der Isolierung hatdie Judenverfolgung ganz außerordentlich begünstigt. Die Isolierung warzweifellos auch eine geistig-moralische Isolierung. Michael Burleigh hatDeutschland in der nationalsozialistischen Zeit nicht ganz zu Unrecht mitdem paranoiden Schreckensregiment der Wiedertäufer zu Münster vergli-chen. Man war in Deutschland damals jedenfalls in einem ganz umfassendenSinn gefangen und hatte den Bezug zur Wirklichkeit in einem erschreckendhohen Maße bereits verloren. Ausländische Reisende berichten dies alsihren hervorstechenden Eindruck von Deutschland.

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Eine dritte Bemerkung betrifft die Ziele Adolf Hitlers, über die viel disku-tiert wird. War er nun 1933 mit dem festen Ziel angetreten, die Juden auszu-rotten und dies so schnell wie möglich und so vorsichtig wie nötig in Szenezu setzen? Oder folgte er pragmatischen Zielsetzungen, und erst als er hier-mit scheiterte, wurde der Massenmord zur ultima ratio einer Politik, die anHumanität ohnehin nicht orientiert war und der dieser letzte Schritt dahernicht besonders schwer fiel? Auch diese Frage lässt sich mit den Methodendes Historikers nicht eindeutig beantworten. Man wird sich mit derFeststellung begnügen müssen, dass die gemeinsame Grundkonstante derantisemitischen Politik der Nationalsozialisten von 1933 bis 1945 die physi-sche Entfernung der Juden aus dem jeweiligen deutschen Herrschaftsbereichwar. Die Mittel variierten offenbar. Man kann sich vielleicht darauf verstän-digen, dass vor dem Krieg eine Vernichtung der Juden in Deutschland nichtmöglich war, sondern „nur“ die Vertreibung. Im Krieg wurden dieSpielräume für eine Vertreibung immer enger, so dass sich das Regime vordie Alternative gestellt sah, seine Judenpolitik zu ändern oder die physischeVernichtung ins Auge zu fassen. Man entschied sich bekanntlich für dieVernichtung. Auf die Ereignisse, die diese Entscheidung hervorbrachte, lässtsich ein wenig Licht werfen, wenn man die Begriffe „Ausbeutung“ und„Massenvernichtung“ korreliert. Damit bin ich beim letzten Teil meinerAusführungen.

Seit 1937 hatte Deutschland einen akuten Arbeitskräftemangel, der sichmit den kriegsbedingten Einberufungen sprunghaft erhöhte. Um diesenArbeitskräftemangel auszugleichen, wurden bekanntlich Millionen vonZwangsarbeitern und Kriegsgefangenen in der deutschen Wirtschaft be-schäftigt. Am Ende des Krieges waren es etwa 7,5 Millionen. Zweifelloshätte sich dieser Arbeitskräftemangel erheblich mildern lassen, wenn mandie Arbeitskraft der jüdischen Bevölkerung ebenso ausgebeutet hätte, so wieman dies mit der Arbeitskraft der Polen, der Russen und der anderen euro-päischen Völker tat. In begrenztem Umfang ist dies auch geschehen, abereben nur in begrenztem Umfang. Man kann mit einer gewissenVergröberung sagen, man teilte die jüdische Bevölkerung in zwei Teile, ineinen, der sofort vernichtet wurde, und in einen anderen, der auf demUmweg über die Arbeit vernichtet wurde. Obgleich es Bestrebungen gab,diesen Umweg zu verlängern oder ihn gar zum eigentlichen Weg zu machen,ist dies letztlich nicht durchgreifend gelungen. Der Vernichtungswille obsieg-te immer wieder über zweckrationale Ausbeutungserwägungen. Warum wardas so? Es scheint mir wichtiger, dieser Frage nachzugehen als die viel erör-tete Frage zu diskutieren, ob Hitler einen Befehl zur Judenvernichtung gege-ben hat und wann dies gegebenenfalls war oder ob Himmler Hitler „entge-gengearbeitet“ hat, als er die Mordmaschinerie in Gang setzte, wie IanKershaw meint.

Der Gedanke der „Vernichtung“, der physischen Ausrottung, entstammtder Vorstellungswelt der Medizin, genauer der Parasitologie, die Bazillen

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bekämpft, indem sie diese vernichtet. Ansteckende Krankheiten und Seu-chen und Ungeziefer, das sie überträgt, werden so behandelt. Dieser biolo-gistisch-medizinische Aspekt war in der Bildersprache der Nationalso-zialisten von vornherein präsent. Er war Teil der plastischen ideologischenVorstellungswelten, mit denen sie umgingen. Der Gedanke der Vernichtungwar zugleich aber Bestandteil der Rassenhygieniker und der Eugeniker, dieunter dem Vorwand der Wissenschaftlichkeit den Volkskörper ebenso voransteckenden Krankheiten bewahren wollten, wie das der Arzt mit demmenschlichen Körper tut, nachdem sie vorgeblich „krankes Erbgut“ von derFortpflanzung ausschlossen.

Die Nationalsozialisten bekannten sich nicht nur zu diesen Prinzipien,sondern sie verabschiedeten gleich 1933, am 14. Juli 1933, ein „Gesetz zurVerhütung erbkranken Nachwuchses“: „Wer erbkrank ist“, so hieß es in § 1dieses Gesetzes, „kann durch chirugischen Eingriff unfruchtbar gemacht(sterilisiert) werden.“ In den Jahren 1933 bis 1939 wurden etwa 400 000Frauen und Männer auf diese Weise unfruchtbar gemacht. 1933 wurde dasSterilisationsgesetz zu einem Abtreibungsgesetz erweitert, und im August1939 ging das Regime zur Kindereuthanasie über , d. h. zur Ermordung vongeistig behinderten Kindern. Im Oktober 1939 wurde die Euthanasie aufErwachsene ausgedehnt. Hitler selbst gab hierzu den Befehl, schriftlich undauf seinem persönlichen Briefpapier. Dieser Befehl stellte den Startschusszum Aufbau einer Tötungsmaschinerie dar, die hinter dem Tarnnamen„Aktion T 4“ verborgen wurde. Der „Aktion T 4“ fielen von Januar 1940 biszum August 1941 insgesamt 70 273 geistig, psychisch und körperlichBehinderte zum Opfer. In der internen Statistik wurden die Todesopfer mitdem Tarnvermerk „desinfiziert“ versehen. Getötet wurde mit Gas oder inLastkraftwagen, in die man die Auspuffgase leitete. Der „Aktion T 4“ fielauch die Mehrzahl der jüdischen Anstaltsinsassen zum Opfer, die mansowohl als „erblich belastet“ als auch als „rassisch minderwertig“ einstufte.Hier liegt die geistige Brücke zur Judenvernichtung, und es ist gewiss keinZufall, dass die Erfahrungen, die im Rahmen der „Aktion T 4“ gemacht wor-den waren, später in die Praxis der industriemäßigen Massenvernichtungeinflossen.

Man wird also nicht nur sagen können, dass der Vernichtungsgedanke dernationalsozialistischen Ideologie inhärent war, sondern man wird auch fest-stellen müssen, dass die Vernichtung praktischer Bestandteil national-sozialistischer Politik war, und zwar von Anfang an. Die Vernichtungspraxisdehnte sich in den selben Schüben aus, in denen die Entkoppelung derGewalt sich insgesamt vollzog. Der Kriegsbeginn stellt in diesem Zusam-menhang eine ebenso entscheidende Zäsur dar wie das Jahr 1933.

Bereits in Polen wurde neben der Vernichtung der polnischen Intelligenz,die Vernichtung der Juden ins Auge gefasst und spätestens mit derGhettoisierung der Juden seit Oktober 1940 wurden den Juden Lebensum-stände aufgezwungen, in denen der Tod zur ständig präsenten Alltagserfah-

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rung wurde. Die Juden wurden in den Ghettos einem fortschreitendenVerelendungsprozess unterworfen, der sie zusehends dem Bild anglich, dasdie Ideologie des Antisemitismus von ihnen gezeichnet hatte. Damit wurdeein Entkoppelungsprozess sui generis eingeleitet, der die latente Vernich-tungsbereitschaft außerordentlich stimulierte. Angesichts der Zustände, diein den Judenghettos des Warthegaus eingetreten waren, schrieb ein SS-Sturmbannführer am 16. Juli 1941 an Eichmann, „dass die Juden nicht mehrsämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht diehumanste Lösung ist, die Juden soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind,durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen.“

Ähnlichen Reduktionsmechanismen gehorchte die Judenvernichtung ins-gesamt. Es war in der perversen Logik der Täter einfacher, die Juden zutöten als sie am Leben zu erhalten. Dieser Reduktionismus war in der NS-Weltanschauung angelegt und er wurde in demselben Maße zur politischenPraxis, in dem sich Deutschland seiner Bindungen entledigte, seien diesenun innergesellschaftlich normativer Art oder außenpolitischer Natur.

Wer Mord straffrei stellt – und dies geschah in Deutschland in Einzel-fällen bereits 1933 – und die Mörder prämiert, findet immer Mörder, vorallem dann, wenn er Rechtfertigungsgründe liefert, denen eine gesellschaft-liche Geltung zuerkannt wird, die jederzeit mit den Gewaltmitteln des totali-tären Staates eingefordert werden kann. Dies entschuldigt eine Gesellschaftnicht, die dies geschehen ließ. Aber um zu verstehen, warum man geschehenließ, was geschah, muss die Erklärung sehr umfassend sein.

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Ulrich Herbert

Der Holocaust und die deutsche Gesellschaft

In den vergangenen Jahren sind von israelischen, amerikanischen und deut-schen Historikern zwei Hauptlinien herausgearbeitet worden, die als trei-bende Faktoren bei der Ingangsetzung des Genozids an den Juden anzuse-hen sind: auf der einen Seite solche Bestrebungen oder Konzepte, die beider Durchsetzung weitreichender kontinentalimperialistischer Zielsetzungendas Schicksal der einheimischen Bevölkerungen als zu vernachlässigendeGrößen ansahen, sich an einem moralentleerten Zweckdenken orientiertenund sich in denkbar vielfältigen Formen situativer Zwänge jeweils aktuali-sierten; auf der anderen Seite der rassistische Antisemitismus, der die Ver-treibung, oder, um mit Goldhagen zu sprechen, die Eliminierung, schließlichauch die Ermordung eines Teils oder aller Juden in den Vordergrund stellte.

Es ist unübersehbar, dass, von welchem Forschungsansatz man sich demProzess der Ingangsetzung des Völkermords auch nähert – ob von den Kon-zepten der Bevölkerungsplaner, vom Scheitern der Deportationspläne, vonder Untersuchung der Vorgänge in einzelnen Besatzungsgebieten oder vonder Analyse der Motive der nationalsozialistischen „Direkttäter“ her –, sichdie offenen Fragen immer in eine ähnliche Richtung bewegen: In welchemVerhältnis stehen ideologische Faktoren wie Rassismus und Judenhass zuzweckbezogenen, „rationalen“ Motiven wie wirtschaftlicher Modernisierungoder Nahrungsmittelknappheit? Welche Bedeutung kam in diesem viel-fältigen Geschehen dem Antisemitismus bei? Wie verbanden sich indivi-duelle und situative Motive der Täter und Verantwortlichen mit einer allge-meinen, gegen die Juden gerichteten Dynamik der Gewalt?

Auf diese Problematik will ich im Folgenden näher eingehen. Ich werdemich mich zunächst auf die Frage der Verbreitung und Bedeutung desAntisemitismus in Deutschland beziehen, um dann anhand einiger Beispieledie Frage der situativen, der nicht-ideologisch motivierten Antriebskräfte zubetrachten. Am Ende wird die Frage der Verbindung beider Elemente zuuntersuchen sein.

I.

Antijüdische Einstellungen begannen sich in Deutschland vor allem seit denachtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wieder auszubreiten, zunächst in denrelativ kleinen Antisemiten-Parteien, dann in den rasch an Einfluss gewin-nenden nationalistischen Verbänden – vom „Bund der Landwirte“ über dieAlldeutschen bis hin zum „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband“.

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In Österreich war diese Bewegung noch sehr viel kräftiger, weil sie eng ver-woben war mit den sich ausbreitenden nationalistischen Strömungen im aus-gehenden Habsburger-Reich. In Deutschland wie in Österreich erhielten dieradikal-antisemitischen Bünde und Parteien vor allem in den Jahren nachdem Ersten Weltkrieg einigen Zulauf; ihre Bedeutung nahm aber jedenfallsin Deutschland nach 1923 bald ab.

Hier gab es einen gewissen Bodensatz an radikalen Judenhassern, die vorallem in der Frühphase der Weimarer Republik auf sich aufmerksam mach-ten. Sie rekrutierten sich zum einen aus den alten Antisemitenverbänden,zum anderen gewannen sie Zulauf aus den Anhängern der traditionellenRechten. In den frühen zwanziger Jahren und dann vor allem seit den frühendreißiger Jahren wurde die NSDAP und später vor allem die SA zumSammelbecken dieser Kräfte.

Gleichwohl ist dabei doch festzuhalten, dass es zu Akten körperlicherGewalt gegen Juden in den Weimarer Jahren nur in vergleichsweise wenigenFällen kam. Kennzeichnend für die zwanziger Jahre waren eher ausgreifen-de Diffamierungs- und Schmähungskampagnen, deren bekannteste jene imZusammenhang mit den Publikationen über die „Verschwörung der Weisenvon Zion“ oder die Ritualmordpropaganda waren, sowie Schändungen vonjüdischen Friedhöfen und Synagogen – keine vereinzelten Vorkommnisse,aber eben auch das Gegenteil eines offensiv und aggressiv auftretendenAntisemitismus. Als Täter wurden hierbei in der Regel Jugendliche festge-stellt, und nur bei einem kleinen Teil waren hierbei direkte Zusammenhängezur politischen Rechten nachweisbar. Allerdings verweisen ja geradeFriedhofsschändungen nicht auf bewusste politische Aktionen, sondern aufunterschwellig wirksame Todesphantasien, auf ein tabuisiertes und nur innächtlichen, heimlichen Aktionen sich entladendes antijüdischesAggressionspotential. Insofern kann man solche Erscheinungen womöglichals Symptome nur notdürftig unterdrückter Gewaltphantasien gegenüberden als fremde, mystische Macht wahrgenommenen Juden deuten.

Man soll solche Entwicklungen nicht geringschätzen, aber es ist schwie-rig, von hier aus eine direkte Verbindung zur antijüdischen Politik desNationalsozialismus, insbesondere nach 1938, zu ziehen. Die radikalen,gewaltbereiten Antisemiten blieben während der Weimarer Jahre insgesamteine Randgruppe – sie waren gewiss nicht unbedeutend, aber ihr krakeelen-des, von Ausschreitungen begleitetes Auftreten traf doch in der Öffentlich-keit, zum Teil sogar innerhalb der NSDAP, auf zuweilen indignierteAblehnung. Gleichwohl ist es vermutlich richtig, sie als Ausdruck weiter ver-breiteter Gewaltbereitschaft gegenüber den Juden zu verstehen, die aber inden Weimarer Jahren durch gesellschaftliche Ächtung und gerichtlicheVerfolgung eingedämmt wurde – ein Potential der Gewalttätigkeit also, daserst bedeutsam werden würde, wenn diese Ächtung und Eindämmung weg-fallen sollte.

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Weitaus bedeutender hingegen waren jene wie schon im Kaiserreich, soauch und noch verstärkt während der zwanziger Jahre verbreiteten Formeneines eher passiven Antisemitismus, der durch die Entwicklung während desErsten Weltkrieges und der Nachkriegszeit neue Nahrung erhalten hatte,sich aber nicht in offener Feindseligkeit oder Straßenkrawallen äußerte.Dass die Juden einen Fremdkörper im deutschen Volke darstellten, dass siemit den Feinden Deutschlands aus dem Ersten Weltkrieg in Verbindung stün-den, dass sie die Presse beherrschten und sich am Krieg ebenso wie anInflation und Wirtschaftskrise bereichert hätten – solche Schlagworte derantijüdischen Propaganda gehörten doch zur Überzeugung vieler inDeutschland; und es ist nicht ausgeschlossen, dass, nimmt man die ver-schiedenen Schattierungen der Judengegnerschaft zusammen, sie schon vor1933 in Deutschland eine Mehrheit stellten.

Das trifft zum einen auf die Anhänger und Wähler der NSDAP zu. Zwarwaren gewiss nicht alle und vielleicht nicht einmal die Mehrheit der NSDAP-Wähler Antisemiten – aber sie waren doch bereit, die von der Naziparteiangekündigte Entrechtung der Juden zu akzeptieren, ja blindlings mitzutra-gen, wenn ihnen selbst nur Brot und Arbeit geboten würde. Auch in derDeutschnationalen Volkspartei war ein deutlicher, auf dem rechten Flügelsogar radikaler Antisemitismus notorisch; selbst in Stresemanns DVP wardiese Einstellung nicht selten – nicht anders in den großen Wehrverbändenwie dem „Stahlhelm“ und, besonders ausgeprägt, in der protestantischenKirche.

Im Jahre 1924 führte der „Stahlhelm“ für seine knapp 400 000 Mitgliederden „Arierparagraphen“ ein – Juden, selbst hochdekorierte Frontkämpfer,durften keine Mitglieder sein. Nicht anders beim „Jungdeutschen Orden“mit 200 000 Mitgliedern, dem „Deutschnationalen Handlungsgehilfenver-band“ mit 400 000 Mitgliedern, dem „Reichslandbund“ mit einer MillionMitgliedern, den Deutschen Burschenschaften, dem „Deutschen Turner-bund“ und vielen anderen Organisationen.

Dies war gleichwohl kein eigentlich fanatischer, aggressiver Antisemitis-mus. Im Gegenteil, er konstituierte sich geradezu dadurch, dass er sich vomviel gescholtenen „Radau-Antisemitismus“ distanzierte, sei es bei denvoyeuristischen Kampagnen über Ritualmord oder Mädchenhandel der Ju-den, sei es bei Friedhofschändungen oder Krawallen. Je deutlicher die Kritikan solchen Exzessen, desto überzeugter konnte man auf die eigenen seriösenAbsichten, auf die tatsächliche Existenz einer vermeintlich „ungelöstenJudenfrage“ verweisen. Er war zudem nicht klar auf ein bestimmtes Ziel,eine bestimmte „Lösung“ orientiert, schon gar nicht einvernehmlich auf jeneeiner „Elimination“ der Juden, wenngleich vielerlei derartiger Überlegungenund Konzepte zirkulierten. Dieser Antisemitismus war nicht aktiv, sondernreaktiv. Aber er reichte doch allemal hin, um – bei aller Kritik an „Übertrei-bungen“ – selbst ein radikales Vorgehen gegen die Juden zu akzeptieren, alssolches dann, nach 1933, eben nicht von grölenden Radau-Antisemiten, son-

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dern von der Regierung und auf „gesetzlichem Wege“ besorgt wurde. Und indem Maße, wie sich diese Akzeptanz ausweitete, wuchs wohl auch die Über-zeugung, dass es mit der Verfolgung der Juden schon seine Richtigkeit habenmüsse, denn wer so bestraft werde, könne doch gewiss nicht ganz unschul-dig sein.

Der Antisemitismus war in Deutschland also in den Jahren nach demErsten Weltkrieg ein wichtiger, allerdings kein dominierender Faktor. Aberes gab einen gesellschaftlichen Bereich, in dem sich ein radikaler Anti-semitismus schon früh durchsetzte, nur sehr wenig Opposition fand unddurchgehend bis 1933 und natürlich darüber hinaus bestimmend blieb; unddas waren ausgerechnet die Universitäten, mithin derjenige Ort, an welchemjene Generation ausgebildet wurde, die während der NS-Zeit und vor allemwährend der Kriegsjahre in die Führungspositionen von Staat und Gesell-schaft aufrückte. Mit dem „Deutschen Hochschulring“ wurde bereits 1921an den Universitäten ein Verband tonangebend, in welchem sich ein Groß-teil der traditionellen studentischen Verbindungen zusammengeschlossenhatte und in dem sich bereits nach kurzer Zeit die radikale, und das hieß:die rassenantisemitische Richtung durchgesetzt hatte. Der Hochschulringerrang in diesen Jahren im Durchschnitt mehr als zwei Drittel der Sitze inStudentenparlamenten der deutschen Universitäten – wobei die „Judenfra-ge“ kein Randthema war, sondern im Mittelpunkt der hochschulpolitischenAuseinandersetzungen stand. Das Ziel des Hochschulrings, Studenten jüdi-scher Abstammung (nicht: Konfession) aus dem Verband der deutschenStudenten auszuschließen, und mithin an den Universitäten als erster staatli-cher Institution das Staatsbürgerprinzip zu durchbrechen und die Judenunter Fremdenrecht zu stellen, wurde vom preußischen Staat zwar abge-lehnt. Bei einer Urabstimmung im Jahre 1927 entschieden sich, bei hoherBeteiligung, aber 77 Prozent der preußischen Studenten für die Beibehal-tung der die Juden ausschließenden Mitgliedsformel.

Der sich hier an den Universitäten ausbreitende Antisemitismus der völki-schen Studentenbewegung war radikal und rassistisch; aber zugleich ausge-sprochen elitär und strikt gegen den „dumpfen Radau-Antisemitismus“gerichtet. Nicht durch Pogrome und Ausschreitungen, sondern durchFremdenrecht und Hinausdrängen aller Juden aus Deutschland durch staatli-che Maßnahmen sollte das „Judenproblem“ in kurzer Zeit „gelöst“ werden– ebenso radikal wie „sachlich“, das war die hier verbreitete Devise.Individuelle Auseinandersetzungen mit den Juden lehnte man ab. Nicht vonHass und Fanatismus, sondern von „Wissenschaft“ und Patriotismus wollteman sich leiten lassen. Die Bekämpfung von Juden sollte keine Frage derpersönlichen Gefühle sein, sondern eine aus den „Gesetzen der Natur abzu-leitende Notwendigkeit“. Schon von daher hat derjenige, der auf der Suchenach dem radikalen Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft nur nachwilden Fanatikern Ausschau hält, wohl eine falsche Vorstellung.

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Die Führungsgruppe von Sicherheitspolizei und SD, die nach Kriegs-beginn in den von Deutschland eroberten Ländern Polizei und Einsatzgrup-pen leitete, für die Ingangsetzung der Deportationen und Ghettoisierungverantwortlich und seit dem Herbst 1941 auch mit der Durchführung derPolitik der „Endlösung“ betraut war, setzte sich zum weit überwiegendenTeil aus Vertretern eben dieser Generation von Hochschulabsolventenzusammen – zumeist Juristen, die in ihrem Handeln kühle Professionalitätmit der Überzeugung verbanden, dass ihr Tun nach dem Prinzip der „völki-schen Weltanschauung“ unumgänglich, notwendig, ja in Wahrung derInteressen des deutschen Volkes sogar ethisch geboten sei. Hier wird derZusammenhang zwischen ideologischer „Aufladung“ und der Beteiligungam Genozid schon eher unmittelbar greifbar; aber gerade nicht bei jenen,die traditionellerweise als „antisemitische Hetzer“, als fanatische Judenhas-ser auftraten, wie man sie in der SA, in Teilen der Partei und im Umfeld derantisemitischen Agitatoren fand, sondern bei den Angehörigen der jungenNachwuchselite. Die aber hatte vor 1933 eine politische Sozialisation durch-laufen, welche generationelles Selbstbewusstsein und politischen Radikalis-mus – und das hieß vor allem: radikalen, rassistischen Antisemitismus – mit-einander zu einem prägenden Weltbild verknüpfte. Dieses Weltbild abererwies sich nach 1933 und vor allem seit Kriegsbeginn auch als längerfristigwirksam, als Angehörige dieser Generation Gelegenheit bekamen, ihre poli-tischen Utopien auf eine zuvor nicht für möglich gehaltene Weise in diePraxis umzusetzen.

Aber es gab, vor 1933, eben auch Gegenkräfte; vor allem bei den Arbei-terparteien, auch bei Katholiken und Linksliberalen. Wie stark verbreitet derAntisemitismus vor 1933 auch immer gewesen sein mag – ob bei 30, 40oder 50 Prozent der Bevölkerung – immer stand ihm auch Ablehnung gegen-über. Im Verlaufe der Weimarer Jahre gab es mehrfach regelrechte Empö-rungswellen gegen den Antisemitismus – nach den Krawallen im BerlinerScheunenviertel zum Beispiel, nach dem Rathenau-Mord, nach den sich imJahre 1924/25 häufenden Friedhofschändungen, nach Übergriffen von SA-Leuten auf Juden, insbesondere nach dem von der Berliner NSDAP organi-sierten sogenannte „Kurfürstendammkrawall“. Und nicht zuletzt daranknüpfte sich die Hoffnung, ja die Überzeugung zahlreicher deutscher Juden,dass der Antisemitismus historisch gesehen ein allmählich absterbendesÜberbleibsel aus finsterer Vergangenheit und dadurch gewissermaßen ohneZukunft sei.

Seit 1933 aber, dies ist eine zwar simple, aber wichtige Feststellung, konn-te der Anti-Antisemitismus in Deutschland öffentlich nicht mehr zumAusdruck gebracht werden. Zwar gab es manche Formen, in denen man sei-nen Abscheu gegen judenfeindliche Maßnahmen nach wie vor privat mani-festieren konnte – durch ostentatives Grüßen jüdischer Bekannter, durchAufrechterhaltung alter Kontakte bis hin zu direkter, nach einigen Jahrendurchaus nicht risikoloser Hilfe – aber eben: privat, nicht öffentlich; wäh-

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rend die öffentliche Ebene den verschiedenen Schattierungen desAntisemitismus vorbehalten blieb. Die Antisemiten beherrschten das Feld,und da sie eben keine kleine Minderheit darstellten, war es nicht einfach,sich öffentlich dagegen auszusprechen oder gar handelnd tätig zu werden.

Allerdings, das wird dabei oft übersehen, stand die antijüdische Politikdes Regimes zwar in der Öffentlichkeit der Staaten des Westens im Mittel-punkt der Sorge und der Diskussionen, dies trifft aber für die Situation inDeutschland in dieser Weise nicht zu. Dies manifestiert sich auch in denerhaltenen Unterlagen aus der Arbeiterbewegung, etwa den Analysen derExil-SPD oder den Berichten der KPD. Die Linke sah die Diskriminierungder Juden wohl und vermerkte sie auch. Aber sie hielt sie für Erscheinungs-formen einer anders strukturierten Gewalt, nicht für Manifestationen ihrerselbst. Im Sommer 1938 war man als Nazigegner höchst beunruhigt wegender politischen Unterdrückung im Lande und der manifesten Kriegsgefahr.Die Judenverfolgung wurde demgegenüber in ihrer Bedeutung massiv unter-schätzt; wenn überhaupt, dann wurde sie als Symptom für die Gewaltbereit-schaft des Regimes oder als Versuch der Einschüchterung der Arbeiterschaftangesehen – und mindestens bis zum November 1938 nicht als eigenständi-ger und höchst dynamischer politischer Faktor.

In der Mitte der Gesellschaft war diese Ausblendung oder Ignorierungder antijüdischen Politik des Regimes noch viel ausgeprägter – und zwar indem Maße zunehmend, wie die Unterstützung der Politik des NS-Regimesdurch die deutsche Bevölkerung anstieg. Selbst bei jenen, die vor 1933 dieNazis abgelehnt hatten, begannen sich Elemente der Ablehnung neben sol-che der Zustimmung zu schieben; nicht zuletzt beeindruckt durch die ver-meintlich so außerordentlich erfolgreiche Wirtschafts-, Außen- undKriegspolitik des Regimes. Dies scheint sich, den verfügbaren Quellen zu-folge, auf die nationalsozialistische Judenpolitik nur in geringerem Umfangausgedehnt zu haben. Die Judenpolitik des Regimes war in den breitenKreisen der Bevölkerung vermutlich nicht populär; aber sie war auch keinvorrangiges oder zentrales Thema; denn – es gab doch vieles, weswegenman Hitler und den Seinen auch „Fehler“ oder „Übertreibungen“ in ande-ren Bereichen nachzusehen bereit war. Angesichts der Dauerserie politi-scher Großereignisse und der virulenten wirtschaftlichen und sozialenBesserstellung der meisten Deutschen schien die Politik des Regimes gegen-über den Juden ein wenn auch nicht schöner, so doch aber marginaler,womöglich unvermeidlicher, im Verhältnis zu den Erfolgen der Nazis aberjedenfalls nachrangiger Aspekt zu sein. Diese Gleichgültigkeit, dieBereitschaft, die Verfolgung der Juden hinzunehmen, sie als unwichtig zuignorieren – dies kennzeichnete die Haltung der gewöhnlichen Deutschengegenüber den Juden in diesen Jahren. Sie verweist darauf, dass die allgemei-nen Prinzipien einer, wie man heute sagen würde, zivilen Gesellschaft –Schutz des Individuums, Universalität der Menschenrechte, Minderheiten-schutz – in Deutschland nur wenig verwurzelt waren. Nun aber, im Falle der

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Gefahr wurden die Folgen dessen offenbar, und es erwies sich, dass es sichdabei nicht um Feiertagsüberzeugungen handelte, sondern um die einzigeAbsicherung einer Gesellschaft gegen den Abstieg in die Barbarei. Und ebendiese Absicherung fehlte im Deutschland der dreißiger Jahre.

Für jedermann offensichtlich trat dies nach den Pogromen des 9. Novem-ber 1938 zutage. Zwar gab es viel Kritik an den sogenannten „Ausschreitun-gen“ in dieser Nacht, aber das Regime war davon keineswegs beunruhigt,ganz anders als im Fall der anwachsenden Kritik gegen die Praxis derTötung von Geisteskranken eineinhalb Jahre später. Der Unterschied liegtauf der Hand: Am Schicksal der eigenen Verwandten nahmen die Deutschensehr wohl Anteil, auch wenn es sich um Behinderte handelte; und dasRegime sah sich gezwungen, angesichts der laut werdenden Proteste seinVorgehen zu ändern und jedenfalls abzumildern. Ganz anders gegenüberden Juden. Nun, im Herbst 1938, als für jedermann offensichtlich wurde, zuwelchem Ausmaß an Gewalt die Politik gegenüber den Juden in der Lageund bereit war, kam es zu nichts Vergleichbarem. Die geäußerte Kritikbezog sich vielmehr vor allem auf den Krawall, den „plebejischen“ Cha-rakter, auf die Form der Ausschreitungen am 9. November und – geradezustereotyp – auf die „unnötige Vernichtung von Werten“. Von den 91 ermor-deten Juden jedoch sprach kaum einer, und auch als die Gerichtsverfahrengegen die Mörder ohne Ausnahme niedergeschlagen wurden, gab es wederNachfragen noch Kritik; weder in der Justiz noch im Publikum. Als dasRegime daraufhin die Form der antisemitischen Politik modifizierte und stattder Ausschreitungen des Straßenmobs eine stille, gesetzförmige, gleichwohlaber massiv verschärfte Politik gegen die Juden begann, die durch dieInhaftierung von mehr als 20 000 jüdischen Männern in Konzen-trationslagern nach dem 9. November eingeleitet wurde, legte sich dieAufregung schnell. Die Ermordung der Juden, so lautete das Signal dieserEreignisse an die Regimeführung, stieß auf keine rechtlichen Gegenmaß-nahmen mehr. Und von der deutschen Bevölkerung war, vermied man nurAufruhr und Sachbeschädigung, nichts zu erwarten außer lähmenderGleichgültigkeit. Die Auswirkungen dieser Konstellation des 9. Novembersind in den Jahren nach Kriegsbeginn ziemlich genau feststellbar. Das spieltbereits in die zweite Frage hinein – die nach dem Verhältnis von ideologi-schen Faktoren (also dem Antisemitismus) zu nichtideologischen Faktorenbei der Forcierung der Judenverfolgung und der Ingangsetzung des Geno-zids. Das sei an einigen Beispielen näher betrachtet.

II.

Das erste Beispiel betrifft die sogenannte Arisierung. Der HamburgerHistoriker Frank Bajohr hat in seinen Forschungen untersucht, wer in wel-cher Weise von der Wegnahme des Eigentums der Juden profitierte. Für die

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Zeit vor 1939 ergibt sich, dass es außer dem Staat und den großen Bankeninsbesondere die unmittelbare Umgebung der enteigneten Juden (derer dieemigrierten und derer, die in Deutschland blieben) war, die sich der Firmenund des Vermögens bemächtigte. Ganz unbekannt aber war, in welchemAusmaß sich dies nach Kriegsbeginn fortsetzte. In Hamburg wurden bis1945 mehr als 3 000 Grundstücke, die Juden gehört hatten, als„Feindvermögen“ konfisziert oder „arisiert“. Die Wohnungen der seit demHerbst 1941 deportierten und dann in Polen oder der Sowjetunion sofortoder nach kurzer Zeit ermordeten deutschen Juden waren in Deutschlandbesonders begehrte Objekte.

Das Beispiel der „Arisierungen“ zeigt aber auch die Öffentlichkeit desGeschehens. Im Hamburger Hafen wurden seit 1941 in riesigen Mengen derHausrat der Juden aus Hamburg, dann aus ganz Deutschland, schließlichaus Westeuropa wöchentlich verkauft oder versteigert: Pelze, Teppiche, Stil-möbel waren besonders begehrt. Aber auch einfache Textilien, Lampen,Geschirr, Kinderspielzeug wurden hier teilweise zu Schleuderpreisen ver-kauft. Insgesamt wurden allein in Hamburg während des Krieges 60 000Tonnen Textilien und Mobiliar aus jüdischem Besitz angeboten. Insgesamtwaren es mindestens 100 000 Hamburger, die bei den Versteigerungen des„Judenguts“ etwas erwarben. Denn dass diese Gegenstände von Judenstammten, war durchweg bekannt.

Die Enteignung zunächst der deutschen, dann der europäischen Judenwar also kein geheimer, abgeschotteter Vorgang; vielmehr vermochte einnicht ganz kleiner Teil der Deutschen davon durchaus zu profitieren. Und esentstand, ausweislich aller darüber zur Verfügung stehender Quellen, darauskeine Beunruhigung in der Bevölkerung. Nicht einmal Fragen wurden ge-stellt. Gewiss wussten die meisten Deutschen nicht oder nicht genau, wassich da „im Osten“ abspielte. Aber wohin gingen die Juden, in deren Woh-nung man wohnte, deren Geschäft man übernommen hatte? Was war mitdenen passiert, auf deren Sofa man saß, deren Pelzmantel man trug, in demnoch das Etikett „Modehaus Hirsch, Krakau“ eingenäht war? Man wollte esnicht wissen, und man fragte besser nicht.

Die vorhandenen Quellen, vor allem die biographischer, subjektiver Na-tur, geben viele Hinweise auf das, was über das Schicksal der Juden „imOsten“ ins Reich durchsickerte; wieviel und wieviel Genaues auch die aufUrlaub zurückkehrenden Soldaten erzählten oder auch nur andeuteten.Aber es gibt fast gar keine Hinweise darauf, dass dies in Deutschland irgend-wie besorgte Reaktionen nach sich gezogen hätte. Den meisten Deutschenwar es angesichts der eigenen Sorgen wohl egal, vor allem, seit mit demKrieg auch die eigenen Sorgen größer zu werden begannen. Warum sollteman sich, wo der Sohn oder der Vater im Felde waren und die Heimatstadtbombardiert wurde, um das Schicksal einer kleinen Gruppe kümmern, der,ob zu Recht oder nicht, seit jeher manches Böse zugeschrieben worden warund zu der man in der Regel kaum in näherem Kontakt stand? Und der

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Vielzahl der eigenen Beobachtungen, der Berichte und Gerüchte über das,was da mit den Juden vor sich ging, nicht nachzugehen, sie nicht zu einemBild zusammenzuformen und die naheliegenden Schlüsse daraus zu ziehen– das bezeichnet exakt den Prozess der Verdrängung.

Ein anderes Beispiel; es bezieht sich auf Litauen im Spätsommer undHerbst des Jahres 1941 und auf die Forschungen meines Freiburger Kolle-gen Christoph Dieckmann. In der Stadt Kaunas lebten etwa 40 000 Juden.Unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen begann ein furchtbares, inden Einzelheiten kaum zu schilderndes Gemetzel. Auf Veranlassung derEinsatzgruppe der Sicherheitspolizei und des SD jagten litauische Nationa-listen die Juden durch die Stadt und erschlugen und erschossen Hundertevon ihnen. Die Deutschen brachten daraufhin etwa 7 000 Juden in eineKasernenanlage in der Stadt, das 7. Fort. Die meisten von ihnen, durchwegMänner, wurden in den folgenden Tagen von den deutschen Polizeieinheitensowie von litauischen Hilfspolizisten erschossen – mit der Begründung, eshandele sich um jüdische Bolschewisten. Die überlebenden Männer sowiedie Frauen und Kinder wurden in den folgenden Wochen in einem abge-sperrten Viertel von Kaunas ghettoisiert.

Wir wissen mittlerweile, dass die deutschen Polizeieinheiten, anders alslange gedacht, bei Kriegsbeginn nicht mit konkreten Befehlen zur Ermor-dung der Juden in die Sowjetunion geschickt worden waren. Ihr Auftrag lau-tete vielmehr, die Sicherheit im Rücken der Front sicherzustellen. Die erstenMassenerschießungen jüdischer Männer im Juli 1941 wurden mit dieserBegründung begonnen, von der die Führer dieser Einheiten offenbar auchselbst überzeugt gewesen zu sein scheinen. Die jüdischen Männer wurden,um es zuzuspitzen, in dieser Situation also ermordet, weil die Führer derdeutschen Polizeieinheiten davon überzeugt waren, dass die Juden dieSicherheit der deutschen Besatzungsmacht bedrohten. Dabei kam es nichtdarauf an, dass dies tatsächlich nachgewiesen wurde, sondern es wurde alsfeststehende, nicht weiter zu belegende Tatsache angenommen. Mit denJuden im Osten, das entsprach der verbreiteten Grundüberzeugung, mussteohnehin irgend etwas geschehen; die Hemmschwelle ihnen gegenüber warbereits auf denkbar niedrigem Niveau. Aber es bedurfte eines situativenAnlasses, um Handlungen wie Massenerschießungen auszulösen und zu legi-timieren.

Bald darauf aber stellte sich die Frage, was nun mit den Frauen undKindern zu geschehen habe, die man unter denkbar schlechten Bedingungenam Rande der Stadt eingesperrt hatte. Wichtig war dabei nun, dass die jüdi-schen Frauen und Kinder als Arbeitskräfte nicht produktiv zu verwendenwaren; schnell machte das Wort von den „nutzlosen Essern“ die Runde.Angesichts der erheblichen und sich verschärfenden Nahrungsmittelknapp-heit in den neu eroberten Gebieten, über die sogar die Wehrmachtseinheitenzu klagen begannen, entstand ein zunehmender Druck, die Zahl der Esserweiter zu reduzieren – und damit war erneut jener situative, auf vermeintli-

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ches Nützlichkeitsdenken gerichtete Anlass entstanden, der nahezulegen, jazu erzwingen schien, die jüdischen Frauen und Männer nicht mehr zu ernäh-ren und statt dessen zu erschießen.

Daraufhin wurden die Ghettobewohner nach Arbeitsfähigkeit selektiert;tausende von alten Männern, Frauen und Kindern wurden innerhalb vonzwei Tagen erschossen. Von Geheimhaltung war auch hier keine Rede. Dasganze Geschehen spielte sich vor aller Augen ab, sowohl der Hungertod dersowjetischen Gefangenen wie zunächst die Pogrome, dann die Massener-schießungen der Juden. In die Diskussion um das Schicksal der Juden warenalle Dienststellen der Deutschen in Kaunas einbezogen. Ähnlich wie inKaunas vollzog sich der geschilderte Prozess in diesen Wochen in allen grö-ßeren Städten in Litauen, im Baltikum, in den besetzten Gebieten derSowjetunion.

Der Prozess der massenhaften Ermordung von Millionen Menschen, daswird um so deutlicher, je genauer und näher man hinsieht, war kein von derallgemeinen Besatzungsverwaltung isoliertes Geschehen, sondern einBestandteil der deutschen Besatzungspolitik im Osten. Um aber diese furcht-baren Massenmorde in Gang zu bringen, hatte es eines besonderen antijüdi-schen Engagements etwa der beteiligten Polizeieinheiten gar nicht bedurft.Die individuelle Haltung der Polizisten gegenüber den Juden war vermutlichnicht einheitlich. Darauf kam es aber gar nicht an. Als entscheidend erwiessich, dass humanitäre, menschliche Gesichtspunkte gegenüber den Judenauch bei jenen Deutschen keine Bedeutung mehr besaßen, die sich gar nichtals Antisemiten begriffen, vielleicht nicht einmal als Nazis. Denn nun bedeu-teten auch Gleichgültigkeit, Abstumpfung und Verrohung mehr als nur dieHinnahme dessen, was andere taten. Und dies reichte oft auch aus, um sicham Morden selbst zu beteiligen. Bei vielen, gewiss, waren Hass undFanatismus die Antriebsfaktoren. Aber bei den meisten fehlten solche Moti-ve offenkundig, jedenfalls am Anfang. Die fatale Schlussfolgerung daraus hatJan-Philipp Reemtsma so formuliert: Viele taten es, weil sie es wollten. Dieanderen aber wollten es, weil sie es taten.

Das dritte Beispiel: In den ersten Tagen des Oktobers 1941 beschloss dieZivilverwaltung des Distrikts Galizien, wie schon in Lemberg und anderenStädten und Kreisen nun auch in dem kleinen Grenzort Stanislau die dortlebenden Juden in einem eigenen Wohnbezirk, einem Ghetto zusammenzu-fassen. Die dort nicht hineinpassenden, überzähligen Juden sollten erschos-sen werden. Am Sonntag, dem 12. Oktober, einem jüdischen Feiertag, tratendie 1. und 2. Kompanie des Polizeibataillons 133 morgens zum Appell anund wurden für die „Judenaktion“ eingewiesen. Es wurden mehrere Sam-melpunkte in der Stadt eingerichtet, von wo aus die festgenommenen Judenin Kolonnen zu je 250 zum jüdischen Friedhof gebracht wurden.

Gegen 10 bis 11 Uhr vormittags begann die Erschießung. Die Opfer wur-den durch ein großes Tor auf das Friedhofsgelände getrieben. Dort musstensie sich neben dem Tor auf den Boden setzen, wo sie von einem MG-Posten

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bewacht wurden. Kleine Gruppen der Opfer trieb man dann an eine der gro-ßen Gruben, wo die Schützen nebeneinander standen. Die Juden musstenauf dem Weg zur Exekution an ausgebreiteten Decken vorbei, wo sie ihreWertsachen und Pelze abzulegen hatten. Sie mussten dann in 5er-Gruppenan den Rand des Grabens treten und wurden dort erschossen; Kleinkinderin den Armen der Erwachsenen.

Als die Erschießungen begannen, brach unter den wartenden Juden einePanik aus. Zu Hunderten drängten sie zum Friedhofstor, einige wurdendabei zu Tode getrampelt. Polizisten und Helfer, darunter wohl auchZuschauer, drängten die Juden zurück in das Friedhofsgelände. An den bei-den Gruben waren jeweils 15 bis 20 Schützen eingesetzt, Sicherheitspoli-zisten und Angehörige des Polizeibataillons. Es gibt Indizien dafür, dasswegen der Personalknappheit auch Bahnpolizei eingesetzt wurde, vermut-lich auch als Mordschützen. Am Friedhof hatten sich zahlreiche Schaulustigeversammelt, besonders Angehörige der Wehrmacht, Eisenbahner undPolizisten, die das gesamte Geschehen verfolgten und zahlreiche Fotografienmachten.

Die Zahl der Opfer lässt sich heute nicht mehr exakt klären. Vermutlichmussten an die 20 000 Personen, also zwei Drittel der jüdischen Gemeinde,den Weg zum Exekutionsgelände antreten. Nach Feststellungen des Juden-rats nach dem Massenmord waren etwa 10 000 bis 12 000 Menschen getötetworden, bis die beginnende Dunkelheit die Polizeieinheiten zum Abbruchder „Aktion“ zwang. Das Massaker war wochenlang das beherrschendeGesprächsthema in Stanislau und Umgebung. Zahlreiche Schaulustige ka-men am Friedhof vorbei, um die letzten Spuren zu besichtigen; die Totenwaren nur ganz notdürftig begraben worden. Vermutlich wurde auch Gene-ralgouverneur Frank informiert, der zehn Tage danach Stanislau einenBesuch abstattete.

Dieser Bericht über den Blutsonntag von Stanislau am 12. Oktober 1941beschreibt den Alltag des Judenmords vor dem Beginn des systematischen,fabrikmäßigen Genozids, der im Frühjahr 1942 einsetzte. Allein in Galiziengab es viele solcher Massaker, bevor die deutschen Behörden seit dem Früh-jahr 1942 dazu übergingen, die Mehrzahl der Juden in der Vernichtungs-station Belzec umbringen zu lassen. Der Bericht zeigt, wie öffentlich diesalles stattfand, wie viele Unbeteiligte dabei zusahen oder anschließend zumOrt des Geschehens kamen. Es gibt zahlreiche Zeugenaussagen über dasMassaker. Hier wie in den meisten anderen Fällen wurden zahlreiche Fotosgemacht; in einigen Nachkriegsverfahren wurde sogar von Schmalfilmenberichtet, die von Angehörigen der Zivilverwaltung gedreht wurden undzuhause in Deutschland vorgeführt worden sind.

Vor allem aber wird deutlich, dass auch die Zahl derjenigen, die direktoder indirekt an der nationalsozialistischen Mordpolitik beteiligt waren,weit, sehr weit über den Kreis derer hinausgeht, die die Gewehre hieltenoder die Gaskammern schlossen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen im

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„Reich“ war der Massenmord an den Juden in den besetzten Gebieten desOstens durchaus kein Geheimnis. Zu viele Beamte der deutschen Besat-zungsverwaltungen, Beauftragte von Parteien und Behörden, Angehörigevon Polizei- und Wehrmachtseinheiten, Mitarbeiter von Wirtschaftsstäbenund Industrieunternehmen, von Dienststellen wie Reichsbahn und Arbeits-verwaltung waren damit befasst oder direkt an dem Prozess der Deporta-tion, Aussonderung, Ghettoisierung, Zwangsarbeit, schließlich dem Mordge-schehen selbst beteiligt. Von hier aus verbreitete sich das Wissen oder dochdie Ahnung von den Massenmorden schnell.

Das Schicksal der Juden, ihr tägliches Los, ihre Bestimmung warenzudem für jeden, der im Generalgouvernement bei einem der Organe derdeutschen Besatzungsmacht tätig war, spätestens seit dem Frühjahr 1942 einoffenes Geheimnis. Wer einmal gelesen hat, in welch geradezu unglaublicherWeise zwischen den verschiedenen deutschen Dienststellen und Unterneh-mensvertretern hier um tausend, da um 200, dort um 3 000 Juden verhan-delt wurde, alles auf dem Hintergrund, dass die nicht Arbeitsfähigen sofort,die andern wohl nicht viel später umgebracht würden, dem werdenVorstellungen wie die eines geheimen Mordplans geradezu zynisch vorkom-men.

Die Beispiele zeigen, dass eine Trennung der verschiedenen Opfergrup-pen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik etwas durchaus Willkür-liches hat. Der Holocaust an den Juden war durch Zielsetzung, Radikalität,Größenordnung und Vorgehensweise einerseits etwas Spezifisches; zumanderen aber stand er in der Durchführung in enger, manchmal nachgeradeaustauschbarer Beziehung zu den Massenmordaktionen an anderen Grup-pen; und dies trifft im Besonderen und vor allen anderen für die sowjetischeZivilbevölkerung zu. Das verweist auch darauf, dass eine Annahme, dieMotivation bei den einzelnen Protagonisten sei in Bezug auf die Opfer-gruppen immer deutlich absetzbar, zumindest anzweifelbar ist.

Die geschilderten Fälle zeigen die Verknüpfung von konzept- und sachbe-zogenen mit ideologischen Elementen. Zum einen werden verschiedeneVarianten des Antisemitismus sichtbar. Ein barbarischer, in gewisser Weiseaber noch traditioneller Judenhass tritt uns bei einem Teil der deutschenProtagonisten entgegen, aber etwa auch bei den Litauern. Deren Perspektiveist im Grunde das Pogrom; gleichwohl sind sie die willigen Vollstrecker auchdarüber weit hinausreichender Aktionen, die nicht ihrer Initiative entspran-gen. Auf der anderen Seite ist – vor allem bei den Führern derSicherheitspolizei und der Einsatzkommandos – der gewissermaßen intellek-tuelle Antisemitismus aufzufinden. Die Judengegnerschaft ist hier alsErscheinungsform des völkisch-radikalen Weltbilds dieser Kerngruppe desGenozids zu erkennen. Der Rückbezug des eigenen Handelns auf ein sol-ches Weltbild sicherte nicht nur gegenüber intervenierenden Stellen ab, son-dern diente als Enthemmungs- und Entlastungsdiskurs auch der eigenenRechtfertigung, indem das eigene Tun als notwendiges Mittel zu einem höhe-

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ren Ziel erklärt wurde und so die anerzogenen humanitären Prinzipienaußer Kraft setzte.

Und schließlich können wir auch jenes verbreitete Desinteresse bei einemnicht genau zu bezeichnenden, aber offenkundig erheblichen Teil der Deut-schen insbesondere in den zivilen und militärischen Behörden erkennen, derdie Maßnahmen gegenüber den Juden nicht selbst forcierte oder wünschte,aber auch über keinerlei moralische Substanz mehr verfügte, die es ihmerlaubte, sich darüber zu empören. Diese vermutlich größte Gruppe unterden Deutschen in den besetzten Gebieten des Ostens war schließlich sogarbereit, selbst den Judenmord zu akzeptieren, als dieser nicht mit Judenhass,sondern situativ mit unumgänglichen Sachzwängen begründet und als imGrunde nebensächliche Begleiterscheinung eines größeren, bedeutendenVorhabens postuliert wurde, gegen das etwas einzuwenden auch von jenenals unpatriotisch angesehen wurde, die mit den Nationalsozialisten ansons-ten nicht viel im Sinne hatten – die deutsche Sendung und Siedlung im Os-ten etwa, der Sieg über den Bolschewismus oder ganz allgemein: der Sieg.

Dies verweist bereits auf die Bedeutung der utilitaristischen Motive, dieim Verlaufe des geschilderten Prozesses auftauchen. Zum einen die Sicher-heitsaspekte – die Ermordung der jüdischen Männer als Mittel zur Befrie-dung des Hinterlands in Litauen etwa. Allerdings beruht die Bereitschaft, dieErmordung von tausenden jüdischen Männern als Sicherheitsmaßnahmeanzusehen, bereits auf der Voraussetzung, den Widerstand gegen Deutsch-land sowie den Bolschewismus als ganzen im wesentlichen als Werk derJuden anzusehen. Insofern erweist sich der Rekurs auf das Sicherheits-problem bereits als spezifischer Ausdruck einer antisemitischen Grundhal-tung, welcher die sachbezogene Argumentation – Sicherheit – situativ ent-springt. Gleichwohl ist dies offenbar notwendig, denn es suggeriert dieempirische Bestätigung des antisemitischen Vorurteils. Indem die Juden alsputative Saboteure ermordet werden, wird die Vorausannahme, dass es sichum Feinde Deutschlands handelt, bestätigt – denn sonst würden sie ja nichtso hart bestraft: Durch die Tat wird das Vorurteil zur Tatsache.

Ein weiteres „Argument“: die vor allem von der Wehrmacht in der besetz-ten Sowjetunion vorgebrachte Argumentation mit der Lebensmittel-knappheit – da nicht genug Lebensmittel für alle vorhanden seien, werdendie als nicht arbeitsfähig angesehenen Frauen und Kinder umgebracht. Diehier aus der Situation heraus erhobene Forderung nach der Reduktion derZahl der Esser allerdings sucht sich mit zielstrebiger Bestimmtheit eine spe-zifische Gruppe aus – und zwar eben jene, deren Lebensrecht durch dieTraditionen und Eruptionen des Antisemitismus nur noch bedingt undjedenfalls in geringerem Maße anerkannt wird als das anderer Gruppen. DieLebensmittelknappheit verweist auf die Verminderung der Zahl geradejener, die in der ideologischen Hierarchie unten stehen, die Juden. Damitaber steht die Ermordung von Juden als Problemlösungsstrategie auch fürandere Notfälle zur Verfügung; und dadurch wiederum gewinnt die Vor-

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stellung von der Ermordung immer größerer Gruppen von Juden eine sichallmählich vom utilitaristischen Einzelfall ablösende Bedeutung.

„In den Ghettos ist zu wenig Platz“, zum Beispiel ist die Begründung fürdie Massenexekutionen in Stanislau: „Die überzähligen Juden müssen dezi-miert werden; und zwar möglichst die, die keine nützliche Arbeit verrichten“– unter dieser Überschrift wurde dann der Genozid insgesamt exekutiert: Erverspricht in seiner Begründung noch einen rationalen, weil utilitaristischenKern: Wer nicht arbeitet, wird ermordet – umgekehrt also: wer arbeitet undnützlich ist, wird nicht ermordet. An diese Suggestion der Berechenbarkeitklammerte sich die Hoffnung vieler Juden; „unser einziger Weg ist dieArbeit“, hieß die Parole im Ghetto Lodz. Dass dieses Prinzip aber durchbro-chen wurde, dass diese Hoffnung auf utilitaristische Rationalität durchbro-chen wurde, hat Dan Diner als Kern des Zivilisationsbruchs herausgear-beitet.

Zudem, das sei betont, sind diese Begründungen sehr wandelbar. Der res-triktiven Ernährungspolitik fiel auch ein großer Teil der in deutsche Handgefallenen sowjetischen Kriegsgefangenen zum Opfer – legitimiert durch dieBehauptung, für solche Menschenmassen seien ausreichende Lebensmitteleinfach nicht vorhanden. Tatsächlich aber steht der Tod der sowjetischenKriegsgefangenen in direkter Beziehung zur Politik der Aushungerung, diebereits vor Kriegsbeginn als Grundlage der deutschen Strategie gegenüberder sowjetischen Bevölkerung ausgearbeitet und nun sukzessive umgesetztwurde.

Die Begründungen für den Massenmord standen jeweils im Zusammen-hang mit Gefahren oder Bedrohungen, die durch die „Liquidierung“ derJuden vermeintlich abgewendet werden könnten: die „Säuberung des Hin-terlandes“ der Ostfront etwa oder die „Aushebung von Partisanennestern“,die Beseitigung von Schwarzhandel oder von Krankheiten, die Bestrafungvon Sabotagemaßnahmen, von Attentaten auf deutsche Soldaten oder ebendie Ausrottung des Bolschewismus. Der Antisemitismus fand hier seinen spe-zifischen Ausdruck darin, dass die Verfolgung, die Unterdrückung, dieErmordung der Juden mit jeweils utilitaristischen Zielsetzungen begründetwurde – und dass die Protagonisten diesen Zusammenhang für überzeugendhielten: die Juden als Träger des Bolschewismus, als Verbreiter von Krank-heiten, als Spione, als Partisanen. Oder es hieß: Für die Juden sei keinWohnraum mehr da; sie müssten daher dezimiert werden. Oder: die weitereErnährung der arbeitsunfähigen Juden gefährde die Versorgung der Truppe.Auf diese Weise wurde der Genozid mit politischen, militärischen, polizei-lichen, bevölkerungs-, gesundheits- oder ernährungspolitischen Zielen ver-knüpft, die schon aus patriotischen Motiven Unterstützung auch bei solchenfanden, die den Nationalsozialisten innerlich fernzustehen glaubten.

Gleichwohl funktionierte dieser Prozess nicht automatisch. Vielmehr warder Ausgang dieses Verfahrens, durch die Schaffung immer neuer „Sach-zwänge“ immer radikalere Lösungen und schließlich den Massenmord nahe-

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zulegen, für die Spitzen der deutschen Zivil- und Militärverwaltung ebensodurchsichtig wie für die Führer von Gestapo und SD. Zudem wäre es abwe-gig, hierbei von einer ausschließlichen Konzentration der Protagonisten aufdie ihnen jeweils zugewiesenen Machtbereiche auszugehen. Die Kenntnissevon den Vorgängen an den Fronten wie von denen in anderen besetztenGebieten, waren insbesondere bei den überdurchschnittlich gut informiertenFührungsebenen der Wehrmacht und der Sicherheitspolizei offenbar vielgrößer und genauer als gemeinhin angenommen. Berichte über Massen-erschießungen breiteten sich in den einzelnen Besatzungsregionen und,nicht zuletzt vermittelt durch die Urlauber und die Versetzten, auch darüberhinaus wie ein Lauffeuer aus.

Insofern muss man davon ausgehen, dass, wer im Herbst 1941 im Westenoder im Osten Europas die Deportation von Juden forderte, von den allent-halben kursierenden Berichten über die Massenerschießungsaktionen derEinsatzgruppen in der Sowjetunion Kenntnis hatte, und die Deportations-forderung also nicht als bloße „Notlösung“ aus einer vermeintlich schwieri-gen Situation heraus verstanden werden kann. Es wird deutlich, dass dieregionalen Machthaber ihr Vorgehen gegen die Juden zwar als Ausdruck vonSachzwängen und „unhaltbaren Zuständen“, als Folge sachorientierterEntscheidungen darzustellen versuchten, tatsächlich aber über die Vorgängein anderen Regionen gut unterrichtet waren und somit wussten, dass ihreVorschläge oder Entscheidungen in diesem Kontext mehr bedeuteten alsdas, wofür sie sich ausgaben.

Die Schübe zur Verschärfung der Situation, zur Radikalisierung der anti-jüdischen Politik entsprangen keinen selbsttätigen Entwicklungen, sondernwaren willentlich initiiert. Die „nützlichkeitsbezogenen“ Begründungen fürscharfe, radikale Maßnahmen gegen die Juden erweisen sich insofern wederals „rationale“ Begründungen, denen der Antisemitismus nur aufgesetzt war,noch als bloße Verhüllungen des vermeintlich Eigentlichen, nämlich desJudenhasses. Sie erweisen sich vielmehr als praktische Anwendung, als situa-tiver Ausdruck einer antisemitischen Grundhaltung.

Die rassistische Denkhaltung, in specie: der Antisemitismus, wirkt in die-sem Prozess vorbereitend und definierend. Sie hierarchisiert Wertigkeit undLebensrecht einzelner Gruppen und drängt moralische, aus der Traditiondes Humanismus oder des Christentums stammende Vorbehalte gegenüberauch denkbar brutalen Problemlösungen zurück, selbst wenn diese die Formder Vernichtung annehmen. Dies setzt allerdings eine zunächst nur situativauftretende aktuelle, dringliche Problematik voraus, deren Lösung zurErreichung einer höherwertigen Zielsetzung als unabdingbar angesehenwird.

So klammert sich der radikale Antisemitismus an je spezifische, situativeRealbezüge, die – anfangs durchweg im Gewand der Ausnahmesituation,der Notmaßnahme – den Einsatz denkbar radikaler Maßnahmen fordern,gegenüber der alle Rücksichtnahmen zurückzustehen haben; auch und ins-

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besondere die Rücksicht auf das Leben solcher Gruppen, deren Lebensrechtzuvor bereits herabgestuft wurde. Zugleich aber wirken diese situativenNützlichkeitsbezüge auch als gewissermaßen empirischer Beleg für dievorauslaufende ideologische Grundannahme. Schon dass die Mannigfaltig-keit und Unterschiedlichkeit dieser situativen Bezüge in den einzelnenRegionen gleichwohl unabhängig voneinander immer zum gleichen Ergebnisgeführt hat, nämlich die Ermordung der Juden, verweist mit Macht auf die-sen Zusammenhang. Die naheliegende Schlussfolgerung daraus jedochbestand in dem Bestreben, die Politik gegenüber den Juden seit etwa demJahreswechsel 1941/42 von diesen unmittelbaren situativen und utilitaris-tischen Bezügen zu befreien, nachdem man schon aus der schieren Zahl derunterschiedlichen Anlässe die Notwendigkeit der „Endlösung der Judenfra-ge“ zwingend ableiten zu können meinte.

In diesem Zusammenhang ist es auch möglich, die Bedeutung der „Wann-see“-Konferenz genauer zu bestimmen. Angesichts der zahlreichen Be-schwerden und Anfragen aus den besetzten Gebieten – des Westens wie desOstens – im Herbst 1941 ist das auf der (ursprünglich für Anfang Dezember1941 vorgesehenen) Konferenz vorgestellte Konzept Heydrichs als Vor-schlag zur Vereinheitlichung der vielfältigen Entwicklungen der antijüdi-schen Politik auf erweiterter, nämlich die Juden aller europäischen Ländereinbeziehenden Grundlage zu verstehen. Angesichts der skizzierten Vorge-schichte sind Überlegungen, wonach sich Heydrich hierbei gegen Kompe-tenzansprüche anderer Ressorts als „Judenkommissar für ganz Europa“habe durchsetzen wollen, weniger einleuchtend. Vielmehr ergibt sich aus derVielzahl der aus den neueren Arbeiten über die Judenpolitik in den einzel-nen Regionen gewonnenen Einsichten eher der Eindruck, als sei in denbesetzten Gebieten, so etwa im Generalgouvernement, ebenso wie bei denbeteiligten Ministerien und Institutionen Heydrichs Angebot, die Lösung desallenthalben unbeliebten „Judenproblems“ nun allein zu übernehmen, er-leichtert aufgenommen worden, da nun gesichert schien, dass das Ziel vorallem der regionalen Machthaber, „ihre“ Territorien „judenfrei“ zu machen,bald erreicht würde, ohne dass man selbst hierbei würde aktiv werden müs-sen. Zudem knüpfte Heydrichs Vorschlag, die Juden „straßenbauend in denOsten“ zu führen, an bereits bestehende Praktiken in Galizien an. Der„Arbeitseinsatz“ der Juden wurde von nun an zum dominierenden „Nütz-lichkeitsbezug“ der Politik der „Endlösung“.

Christian Gerlach hat nun kürzlich dargelegt, dass der Umschlag von derbis dahin betriebenen Politik der sukzessiven Massenmordaktionen, die je-weils aus den einzelnen Situationen heraus begründet und legitimiert wur-den, zur „Endlösung der Judenfrage“, also der Ermordung aller JudenEuropas unabhängig von den je spezifischen Bedingungen, auf eine RedeHitlers zurückzuführen ist, die dieser am 12.12.1941 in Berlin vor derFührung der NSDAP gehalten hat. Gerlach bewertet diese Rede, deren Textnicht erhalten ist, auf der Grundlage der Aufzeichnungen mehrerer NS-

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Führer als „Grundsatzentscheidung“ Hitlers. Er habe damit auf denKriegseintritt der USA reagiert, der seine bekannte „Ankündigung“ vomJanuar 1939 bestätigt habe, wonach eine Ausweitung des europäischenKrieges zu einem Weltkrieg auf das Betreiben des Judentums zurückzufüh-ren sein und als Antwort die Vernichtung der jüdischen Rasse zur Folgehaben werde. Nun scheint aufgrund der Kenntnis der Gepflogenheit Hitlers,bei derartigen Auftritten nicht explizit zu befehlen, sondern radikale Schritteallgemein nahezulegen oder als „unausweichlich“ zu bezeichnen, nicht ganzso sicher, ob Hitler hier tatsächlich einen „Befehl“ zur „Endlösung derJudenfrage“ gegeben oder jedenfalls eine explizite Entscheidung getroffenhat. Ganz offenbar aber hat diese Rede bei der Führung der Sicherheitspo-lizei und den regionalen Machthabern in den besetzten Gebieten in dieserWeise gewirkt. Waren bis dahin Vernichtungsaktionen regional begrenzt undjeweils auf konkrete Ziele bezogen – Bekämpfung des Bolschewismus, Besei-tigung des Schwarzhandels, Beschaffung von Wohnraum, Beseitigung der„nutzlosen Esser“ etc. – so entfielen solche Begründungszwänge und Legi-timationen nunmehr. Jenseits der Einzelmotive und regionalen Begren-zungen trat nun die Ermordung der Juden, die „Endlösung der Judenfrage“als Gesamtprojekt hervor.

Insgesamt offenbaren die vorliegenden Untersuchungen also eineVielzahl von Faktoren, die die Ingangsetzung des Völkermords bewirkten.Auf der einen Seite ein sich radikalisierender Prozess der Brutalisierung beider Durchsetzung kontinentalimperialistischer Expansionsziele, insbeson-dere der „Umvolkung“ Mittel- und Osteuropas und der Aushungerung einesTeils der indigenen Bevölkerungen. Auf der anderen Seite, damit direkt ver-bunden, vielfältige Formen individueller und ideologischer Motive. Hierspielten Opportunismus eine Rolle und ein verbreiteter Mangel an positiven,wertbesetzten Normen; Fatalismus und Obrigkeitshörigkeit, Sadismus undvollständige Abstumpfung. Es ist jedoch auch unübersehbar, dass es sich beivielen der Protagonisten, wenn auch nicht bei allen, um Antisemiten han-delte, wenngleich sich hinter diesem Begriff offenbar sehr unterschiedlicheEinstellungen verbergen konnten, denen auch innerhalb des Geschehensselbst verschiedene Funktionen zukamen. Bei einem nicht geringen Teil derdeutschen Bevölkerung, vor allem jenem, der vor 1933 politisch rechtsgestanden hatte, ist wohl in der Tat von einem manifesten Antisemitismusauszugehen, ohne dass dies jedoch die politische Orientierung allein odernur vorrangig geprägt hatte. Gerade nach Kriegsbeginn erwies sich dann diehäufig anzutreffende Vorstellung als besonders bedeutsam, wonach dieJudenverfolgung ein durch die Ausnahmesituation des Krieges legitimierterund unvermeidlicher Ausdruck der Politik des Krieges und der Eroberunginsgesamt sei. Sich dem entgegenzustemmen, hätte aber nicht Indifferenzund Zurückhaltung, sondern explizite, wertbezogene Ablehnung verlangt.Aber dazu waren eben nurmehr wenige imstande, zumal wenn es gegen dieJuden ging.

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Diese Zusammenhänge aber werden uns, die Deutschen, noch lange Zeitbeschäftigen. Nur die Unbegreiflichkeit des Geschehens zu konstatieren,führt hierbei ebenso ins Leere wie der Zugriff auf allzu einfache und schein-radikale Erklärungen, denen ein wie immer zu bezeichnender kathartischerEffekt zugeschrieben wird.

Auf der anderen Seite aber haben die Ergebnisse der historischen Erfor-schung der nationalsozialistischen Massenvernichtungspolitik einen so kom-plizierten, in bezug auf die Täter zudem so vielschichtigen, von Konkurrenz,Ambitionen und Interesse, Trivialität, Mordgier und biedermeierlicherScheinmoral ebenso wie von politischen Utopien und Welterklärungssys-temen gekennzeichneten Prozess zutage gebracht, dass dieses außerordent-lich vielfältige Bild als symbolstarke und bindungskräftige Metapher für diepolitische Bildung nicht taugen will und gewissermaßen auch nicht identifi-kationsfähig ist. Die aufklärerische Herausforderung der Geschichte desHolocaust liegt vielmehr gerade darin, dass er sich nicht durch knappeFormeln und einfache, besetzbare Begriffe oder Theorien erklären lässt. Undda es keine Theorie des Holocaust gibt, keine erlösende Kurzformel, ist esim Grunde immer nur wieder die Auseinandersetzung mit dem Geschehenselbst, die das Bedürfnis nach Aufklärung stillen kann.

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Norbert Frei, Sybille Steinbacher

Auschwitz. Die Stadt, das Lager unddie Wahrnehmung der Deutschen

I.

Im Frühjahr 2000, kurz vor seinem Tod, hat der Kölner Soziologe AlphonsSilbermann ein kleines Buch vorgelegt, das unter dem Titel „Auschwitz: Niedavon gehört?“ die Ergebnisse einer Befragung präsentiert, die erkundensollte, was „Auschwitz“ der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration inDeutschland bedeutet. 72 Prozent der Befragten – und zwar fast unter-schiedslos durch alle Altersgruppen hindurch – antworten, sie hielten es„auch heute noch“ für „sehr wichtig“ oder für „wichtig“, an die „Men-schenverfolgungen und Massentötungen im Dritten Reich“ zu erinnern. 18Prozent hielten das für „weniger wichtig“, und 9 Prozent meinten, es sei„völlig unwichtig“, weiter über Auschwitz zu sprechen. Präzise Zahlen also,so scheint es. Aber was fangen wir damit an? Ist das Ergebnis eine guteAusgangsposition für die Bewahrung der Erinnerung im 21. Jahrhundertoder eine schlechte? Sind drei knappe Viertel, die sich weiterhin erinnernwollen – und die sich erinnern lassen wollen –, viel oder wenig?

Alphons Silbermann, 96 Jahre alt und selbst ein Überlebender des Holo-caust, hat diese Zahlen eher pessimistisch interpretiert, und das war nochvor dem Bombenanschlag von Düsseldorf am 10. Jahrestag der deutschenEinheit. Angesichts der neuerlichen Ausbrüche rechtsradikaler Gewalt undBösartigkeit in Deutschland fällt es sicher schwer, nicht einfach einzustim-men in die Skepsis des greisen Soziologen.

Aber unsere Aufgabe als Historiker ist es nicht, im Pessimismus zu verhar-ren. Wir müssen vielmehr Fragen stellen, kritische und selbstkritische, unddann natürlich auch Antworten versuchen. Mit kritischen Fragen ist vorallem gemeint, dass wir uns eines Zusammenhangs nicht zu sicher sein soll-ten, der angesichts rechtsradikaler Verbrechen zwar immer wieder postuliertwird, der aber keineswegs bewiesen ist: nämlich der Zusammenhang zwi-schen historischem Wissen und politischem Verhalten. Ganz zugespitztgesagt: Über Auschwitz Bescheid zu wissen macht noch keinen gutenMenschen. Man muss keine zeitgeschichtlichen Bücher über den Holocaustgelesen haben um zu wissen, dass man Ausländer und Andersdenkendenicht totschlägt und Synagogen nicht schändet. (In diesem Punkt herrschteübrigens, offensichtlich zur Überraschung der Journalisten, große Einigkeitauf einer Podiumsdiskussion zum Rechtsradikalismus während desHistorikertages in Aachen 2000.) Denn natürlich wissen alle, die heute sol-che Verbrechen begehen, dass es Verbrechen sind, die sie begehen – genau-

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so wie sie wissen, was „Auschwitz“ bedeutet, auch wenn sie dieses Wissenablehnen oder leugnen.

Insofern sind die von Alphons Silbermann erhobenen Befunde interessan-ter als jene törichten Umfragen, denen zufolge ein Fünftel unserer Jugend-lichen angeblich nicht weiß, was in Auschwitz geschehen ist. Man kann sichgut vorstellen, wie solche Zahlen zustande kommen: Wie eine Gruppe jun-ger Leute sich geradezu ein Vergnügen daraus macht, ihre Befrager zu scho-ckieren mit der aufreizenden Antwort, von Auschwitz habe man noch nieetwas gehört. Wer mag das im Ernst glauben angesichts der Fülle leichtzugänglicher Informationen und eines insgesamt doch funktionierendenBildungssystems?

Wichtiger und aufschlussreicher ist dagegen, wenn Silbermann zutage för-dert, dass reichlich ein Viertel der Deutschen meint, es sei weniger oder garnicht wichtig, sich weiter mit „Auschwitz“ zu befassen. Hier, so scheint es,liegt das Problem: in dieser Haltung moralischer Stumpfheit, in diesemdumpf-trotzigen Milieu des Ressentiments, in dem man mit Wohlgefallenden Walsers applaudiert, die es bekanntlich in allen Parteien gibt. Nicht die-jenigen also, die den Judenmord leugnen, sind das Hauptproblem – obschondas Häuflein dieser Verwirrten zu wachsen scheint –; das ernstere Problemist die weitaus größere Gruppe derer, die von „Auschwitz“ nichts hören will.Letztere sind es, die historische Aufklärung zu erreichen sucht, aber geradeihnen gegenüber tut sie sich schwer.

Freilich hilft es wenig, Ignoranten der Ignoranz zu zeihen, und nichtumsonst ist zu betonen, dass es nicht nur um kritische, sondern auch umselbstkritische Fragen geht. Die selbstkritische Frage an uns Historiker aberkann nur lauten: Haben wir getan, was in unseren Möglichkeiten stand, umdas Wissen über Auschwitz und den Holocaust in dieser Gesellschaft – nein,nicht wachzuhalten, sondern: zu fundieren? (Denn man kann nicht wach-halten, was keine solide Basis hat.)

Nun sollen hier nicht Leistungen und Fehlleistungen der Zeitgeschichts-schreibung in Deutschland seit 1945 bilanziert werden. Aber soviel ist dochzu sagen: In Deutschland wurde über Auschwitz jahrzehntelang mehr gere-det als geforscht, und vermutlich hat dieses ebenso faktenferne wie floskel-reiche Gerede dem Interesse an der Sache eher geschadet als genützt – imOsten übrigens ebenso wie im Westen, wenngleich aus unterschiedlichenGründen. Zwar ist der Begriff „Auschwitz“ schon seit den fünfziger Jahrenin beiden deutschen Nachfolgegesellschaften des „Dritten Reiches“ etabliert,aber hier wie dort war er lange Zeit wenig mehr als eine Chiffre, wenig mehrals eine abkürzende und verkürzende Formel: Im Osten stand „Ausschwitz“für die völkermörderische Konsequenz des notwendig in den Faschismusführenden kapitalistischen Systems, und hätte es dazu eines Beweisesbedurft, dann lag er scheinbar offen zutage in der Präsenz der IG Farben inAuschwitz-Monowitz. Im Westen galt „Auschwitz“ seit etwa Anfang dersechziger Jahre, vor allem aber seit dem großen Frankfurter

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Auschwitz-Prozess, der 1965 zu Ende ging, als ein Begriff aus dem Arsenalder Gesellschaftskritik – und war doch zugleich die nur vermeintlich konkre-tere Bezeichnung dessen, was man ansonsten immer noch gerne als das„Unbegreifliche“ umschrieb, als das „Unsagbare“ oder als das „namenloseVerbrechen, begangen im deutschen Namen“.

Gewiss, gerade zum Auschwitz-Prozess hat die westdeutsche Zeit-geschichtsforschung Gutachten von bleibender Bedeutung beigetragen;unter dem Buchtitel „Anatomie des SS-Staates“ sollten diese Texte im Laufeder Jahrzehnte beinahe Berühmtheit erlangen. Eine Monographie über dasgrößte der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagerbrachte die westdeutsche Historiographie aber so wenig zustande wie ihrostdeutsches Pendant. Tatsächlich ist es keine Übertreibung festzustellen,dass die konkrete historische Erforschung dessen, wofür zunächst derBegriff „Auschwitz“ und seit der gleichnamigen Fernsehserie von 1979 dannder Begriff „Holocaust“ stand, erst im Laufe der achtziger Jahre langsam aufTouren kam. Selbstverständlich gab es auch vorher schon Bücher über denGenozid an den europäischen Juden, von detaillierter empirischer Quellen-forschung aber konnte keine Rede sein.

Lange Zeit waren es auch nicht die Historiker, sondern vielmehr dieÜberlebenden, die sich des Themas annahmen. Als Ende der siebziger Jahreder „Auschwitz-Mythos“ erschien, ein empörendes Machwerk der rechts-radikalen Apologetik, das schließlich als Volksverhetzung verboten wurde,verschrieben sich vor allem Hermann Langbein, aber auch Simon Wiesen-thal der Aufklärung. Und auf Initiative von Hermann Langbein, derAuschwitz als Lagerschreiber überstanden hatte, kam in den frühen acht-ziger Jahren unter dem Titel „Nationalsozialistische Massentötungen durchGiftgas“ jene Dokumentation zustande, die als Entgegnung auf dieAuschwitz-Leugner erstmals systematisch und Ort für Ort den Einsatz vonZyklon B nachwies; die Hauptautoren dieses Buches waren wiederum Über-lebende; immerhin konnten die nachgeborenen Historiker nun ein wenigmithelfen.

Solche Beispiele können vielleicht besser als eine abstrakte Analyse ver-deutlichen, dass „Auschwitz“ keineswegs von Anfang an ein bevorzugterGegenstand der zeitgeschichtlichen Forschung gewesen ist und auch, dassZeitgeschichtsschreibung nicht im luftleeren Raum stattfindet, also nichts ist,was außerhalb der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung sich ereignet.Wenn diese Feststellungen zutreffen, dann freilich im positiven wie im nega-tiven Sinne, was heißt, dass die Bereitschaft, sich mit Auschwitz auseinanderzu setzen, zumindest in Teilen der deutschen Gesellschaft heute größer seinmuss denn je. Denn tatsächlich hat die Holocaust- und Konzen-trationslagerforschung in den letzten etwa eineinhalb Jahrzehnten erheb-liche Fortschritte gemacht, und das Projekt über die Stadt und das LagerAuschwitz, das im Rahmen unserer Reihe „Darstellungen und Quellen zurGeschichte von Auschwitz“ entstand und auf das näher eingegangen werden

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soll, ist in diesem Kontext eines sich insgesamt verbreiternden Forschungs-stroms zu sehen.

II.

Auschwitz gehörte zu den Orten Polens, die die Luftwaffe schon am erstenKriegstag unter Beschuss nahm. Das deutsche Interesse galt dem strategischwichtigen Bahnhof und auch den Kasernen des sechsten polnischenReiterbataillons, das unter dem Eindruck des Angriffs noch am selben Tagabrückte und seinen Stützpunkt in das rund 60 Kilometer östlich gelegeneKrakau verlegte. Überstürzt entschlossen sich auch viele Einwohner zurFlucht, nachdem im Bombenhagel des ersten Kriegstages mehrere Zivilistengestorben waren, darunter ein 13jähriger Junge und eine alte Frau; ein jun-ger Mann erlag seinen Schussverletzungen und ein anderer, so steht es imTotenbuch der katholischen Pfarrgemeinde, nahm sich „aus Aufregung“über den Kriegsausbruch das Leben.

Auschwitz zählte im September 1939 etwa 14 000 Bewohner; etwas mehrals die Hälfte davon waren Juden, die anderen, rund 6 000, Katholiken. DieStadt war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in der Mehrzahl von Judenbewohnt; in stolzer Selbstwahrnehmung sprachen sie vom „OświęcimerJerusalem“. In den Tagen nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs verlie-ßen vor allem Juden scharenweise die Stadt.

Unterdessen begann die Wehrmacht ihren Vormarsch auf Auschwitz, undin ihrem Rücken folgte die Einsatzgruppe z.b.V. (zur besonderen Verwen-dung), die Himmler eilends zusammenstellen ließ, um die polnischenAbwehrkämpfe im oberschlesischen Industrierevier niederzuschlagen. Am4. September nahmen die Eroberer die Stadt nach heftiger polnischerGegenwehr ein. Bereits eine Woche später hieß der Marktplatz „Adolf-Hitler-Platz“, und auch der polnische Ortsname Oświęcim (abgeleitet von„święty“, zu deutsch „Heiliger“) war rasch in „Auschwitz“ umgewandelt.Den deutschen Namen trug die Stadt zuletzt im ausgehenden 19. Jahr-hundert, als sie zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gehörte.

Wenngleich Straßen, Brücken und Plätze rasch deutsche Namen trugen,stand nicht einmal grundsätzlich fest, ob Auschwitz dem beschleunigt zu„germanisierenden“ und dem Deutschen Reich einzugliedernden OstteilSchlesiens, dem sogenannten Ostoberschlesien, oder dem damals nochgeplanten „Reichsgau Beskidenland“ oder dem staatsrechtlich nicht definier-ten Generalgouvernement zugeschlagen würde. Erst mit der Neufestsetzungder Grenze des Deutschen Reiches durch die Grenzkommission im Reichs-ministerium des Innern fiel Ende Oktober 1939 die Entscheidung zugunstender Angliederung an Ostoberschlesien. Hitler vollzog die territorialeAufteilung des eroberten Polen allerdings nicht so sehr in der Absicht, diedeutschen Ansprüche bereits endgültig festzuschreiben. Er traf die Regelung

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vielmehr mit dem Ziel, die „Germanisierung“ der westpolnischen Gebiete,zu denen neben Ostoberschlesien auch Danzig-Westpreußen, das Warthe-land (Warthegau) und Ostpreußen zählten, sowie die ökonomische Ausbeu-tung des Generalgouvernements so schnell wie möglich in Gang zu setzen.

Bestrebt, eine neue Raum- und Wirtschaftsordnung festzulegen, vollzogdie Grenzkommission die territoriale Arrondierung des Reiches nach militä-rischen, wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Gesichtspunkten. DemDeutschen Reich wurden weite Teile zuvor rein polnischen Terrains vonüber 90 000 Quadratkilometern mit vier Fünfteln der polnischen Industrieund etwa zehn Millionen Einwohnern einverleibt. Weitaus mehr Gebiete, alsseit dem Ende des Ersten Weltkriegs beansprucht worden waren, kamennunmehr zum Deutschen Reich.

Von der Eingliederung Westpolens war Auschwitz unmittelbar betroffen:Die Stadt gehörte fortan zum Landkreis Bielitz im neu gebildeten Regie-rungsbezirk Kattowitz der Provinz Schlesien. Zum Zeitpunkt der Einverlei-bung in das Deutsche Reich wohnte allerdings in Auschwitz mit Ausnahmeeiniger weniger Volksdeutscher niemand, der nach nationalsozialistischenRassenvorstellungen als Deutscher gelten konnte. Diese Tatsache erhelltschlagartig die Dimension der „bevölkerungspolitischen“ Aufgabe, vor diesich die deutschen Eroberer gestellt sahen. Historisch überhöht mit demHinweis auf die Ostsiedlungsbewegung des Mittelalters, wurde die program-matisch gewalttätige „Germanisierungspolitik“ überall in den eingeglieder-ten westpolnischen Gebieten zum ideologischen Programm der Besatzer.„Germanisierung“ bedeutete im Rahmen der nationalsozialistischen „Neu-ordnung Europas“ die skrupellose „Umschichtung der Völker“. Vorgesehenwar die radikale Entnationalisierung und rücksichtslose Verdrängung dereinheimischen Bewohner. Die westpolnischen Territorien sollten so schnellwie möglich zu einem bevölkerungspolitisch „bereinigten“, ethnisch homo-genen und – in Verbindung mit grundlegenden Maßnahmen zur wirtschaft-lichen und sozialen Neuordnung – zu einem ökonomisch leistungsfähigenTerrain umstrukturiert werden. Diese Planung sah den Aufbau der deut-schen Verwaltung ebenso vor wie die Ansiedlung von „rassisch wertvollenDeutschen“. Das Ziel war es, sämtliche Juden und das Gros der Polen ausden westpolnischen Territorien zu vertreiben und, unter strenger Segregie-rung von den verbleibenden Polen, Deutsche und Deutschstämmige „anzu-setzen“.

Himmler war in seiner neuen Funktion als Reichskommissar für dieFestigung deutschen Volkstums im Oktober 1939 von Hitler mit weitreichen-den zusätzlichen Kompetenzen ausgestattet worden, um in den westpolni-schen Gebieten die Ansiedlung von Deutschen und Deutschstämmigen untergleichzeitiger Aussiedlung der „rassisch minderwertigen“ einheimischenBevölkerung in die Wege zu leiten. Auschwitz sollte bereits im Zuge des ers-ten Umsiedlungsvorhabens, das Himmler plante, eine Rolle spielen.Vorgesehen war, die Stadt zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen

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Zentrum der Deutschen aus Südtirol aufzubauen – unter der Vorausset-zung, Juden und Polen zu „entfernen“, eine Forderung, die Raumplaner,Architekten, Historiker und Anthropologen der Südostdeutschen For-schungsgemeinschaft in Wien im Zuge der landeskundlichen und kulturwis-senschaftlichen Begleitforschung zur nationalsozialistischen Umsiedlungs-politik nach Kräften unterstützten.

Die Pläne für Auschwitz wurden jedoch nicht spruchreif, denn nach demSieg über Frankreich favorisierte Himmler Burgund als neuen Siedlungs-rayon für die Südtiroler; später kamen die Untersteiermark und auch dieKrim ins Gespräch. In der Region Auschwitz kristallisierte sich unterdessenheraus, dass die „Eindeutschung“ nicht so problemlos vonstatten ging wieanfangs erwartet, denn der östliche Teil des Regierungsbezirks Kattowitz,„Oststreifen“ genannt, erwies sich wegen seiner nahezu ausschließlich polni-schen und jüdischen Bevölkerung als schwer „einzudeutschen“. Als„Ansatzgebiet“ für Deutsche und Deutschstämmige, darin waren sich dieSiedlungsstrategen in Zivilverwaltung und SS rasch einig, war die Regionuntauglich. Von den westlichen Landkreisen des Regierungsbezirks durchdie sogenannte Polizeigrenze, einen bewachten Wall, abgetrennt, besaß der„Oststreifen“ einen territorialrechtlich zweitrangigen Status. Von der „Ger-manisierung“ wurde dieses Terrain (zumindest vorläufig) zurückgestellt,was für die einheimische Bevölkerung von Auschwitz eine wichtige Weichen-stellung bedeutete, denn immerhin blieb sie aufgrund der Lage der Stadt im„Oststreifen“ vor der Deportation – zunächst – bewahrt.

Mit dem Beginn des nationalsozialistischen Umsiedlungsprogrammsnahm die Zahl der jüdischen Bewohner in Auschwitz deshalb keineswegs ab,sondern vielmehr zu, denn die Stadt wurde nun zu einem Sammelbecken fürjene Juden, die aus den beschleunigt „einzudeutschenden“ westlichen Teilendes Regierungsbezirks Kattowitz in den „Oststreifen“ deportiert wurden.Gezwungen, die Menschen unterzubringen und zu versorgen, sah sich derlokale jüdische Ältestenrat bald vor schier unlösbare Probleme gestellt. ImFrühjahr 1940 war Auschwitz eine der größten jüdischen Gemeinden im„Oststreifen“. In den Gassen der Altstadt lebten die Juden eng zusammenge-pfercht, isoliert von den übrigen Bewohnern und von deutschen Wachpostenstreng kontrolliert.

Unter den Deutschen, die sich allmählich in Auschwitz niederließen,waren Verwaltungsbeamte, aber auch Geschäftsleute und Treuhänder dereinst jüdischen und polnischen Unternehmen. Der Umzug in die eingeglie-derten Ostgebiete eröffnete ihnen vielfältige Möglichkeiten des sozialenAufstiegs. In der Phase zwischen dem Abbruch der Militärverwaltung imHerbst 1939 und der Konsolidierung der Zivilverwaltung im Frühjahr 1940herrschten im besetzten Polen anarchische Zustände, und im Kompetenzen-gewirr der zahllosen Ämter und Behörden von Partei und Staat machte sichRechtsunsicherheit breit. Korruption war gang und gäbe, und Kriegseupho-rie, Siegeszuversicht und Pionierstimmung schlugen sich in moralischer

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Enthemmung nieder. Ausgreifende Skrupellosigkeit wurde rasch zumVerhaltensmuster der Deutschen „im Osten“. Von Normen nicht gebundenund einer effektiven Machtkontrolle nicht ausgesetzt, übten die Funktions-träger ihre Willkür auch in Auschwitz rücksichtslos aus. Politischer Korrup-tion war im eroberten Land, anders im Altreich, freier Lauf gelassen, undpersönliche Bereicherung entwickelte sich rasch zum Gewohnheitsrecht.

III.

Keine drei Kilometer von der Altstadt von Auschwitz entfernt entstand imFrühjahr 1940 auf einem leerstehenden Barackengelände, das im ErstenWeltkrieg als Unterkunft für polnische Saisonarbeiter („Sachsengänger“)gedient hatte, das erste Konzentrationslager auf einst polnischem Boden.Die Geländewahl stand im Zusammenhang mit einer großangelegten SucheHimmlers nach geeigneten Arealen, um im Dienste der Sicherung der deut-schen Macht überall in den Grenzgebieten des Reiches Konzentrationslagerzur Internierung der politischen Gegner zu errichten. Wenngleich dieEntscheidung für Auschwitz erst nach mehrmaligen Besichtigungen fiel – dieBaracken waren verfallen und das Areal lag in einem Hochwassergebiet –,überwogen nach Ansicht der zuständigen SS-Fachleute die Standortvorzüge,denn das ehemalige Saisonarbeiterlager war infrastrukturell erschlossen undnach außen leicht abzuschotten.

An keinem anderen Ort im nationalsozialistischen Machtbereich wurdenso viele Menschen getötet wie in Auschwitz, aber keineswegs war Auschwitzvon Anfang an das Zentrum des Massenmordes an den Juden. Eröffnetwurde das sogenannte Stammlager im Juni 1940 vielmehr als eine Haftstättefür polnische politische Gefangene. Im nationalsozialistischen Lagersystemwar Auschwitz anfangs eine von vielen Zwangseinrichtungen zur Isolierungund „Disziplinierung“ sogenannter Gemeinschaftsfremder. Ungewöhnlichwar allein die Aufnahmekapazität von bis zu 10 000 Häftlingen, die kalku-liert worden war, weil die Besatzer im eroberten Polen mit der Festnahmeeiner hohen Zahl von politischen Gegnern rechneten. Nicht Juden stellten inder Anfangsphase die Mehrzahl der Häftlinge, sondern Angehörige der pol-nischen Intelligenz und anderer Gruppierungen, die zum nationalpolnischenWiderstand gezählt wurden.

Die ersten Leidtragenden des Lagerbaus waren jüdische Bewohner derStadt, denn die SS rekrutierte unter der erzwungenen Mithilfe des Judenratsrund 300 jüdische Männer zum Aufbau des Konzentrationslagers. Über denZweck der Baumaßnahmen blieben die Juden im unklaren, und von denankommenden Häftlingen wurden sie streng isoliert. Auch die rund 1 200arbeitslosen und verarmten polnischen Flüchtlinge, die in Baracken nebendem Lagergelände wohnten, bekamen die Folgen des Lagerbaus unmittelbarzu spüren. Lagerkommandant Höß, der sich an den „asozialen Elementen“

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störte und das Barackengelände in das Lagerterrain einbeziehen wollte, for-derte ihre sofortige Aussiedlung. Die Polen kamen der geplanten „Säube-rungsaktion“ indes zuvor. Unauffällig verließen sie nachts das Gelände; siewaren gewitzt genug, Barackenteile, die noch brauchbar waren, einfach mit-zunehmen.

An den Bauarbeiten zur Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitzverdienten ausschließlich deutsche Firmen, denn Höß holte Arbeitskräfteund Baumaterial von Unternehmen im schlesischen Altreichsgebiet. Als ersteschaltete er im Juni 1940 die Brunnenbaufirma Wodak aus Beuthen ein,bald darauf auch die Hoch- und Tiefbaufirma Kluge aus Gleiwitz. BisSommer 1944 wirkten mehr als 500 größere und kleinere Betriebe aus demgesamten Reichsgebiet am Aufbau des Lagers mit: durch Hoch- undTiefbauarbeiten, durch Installationen und Lieferungen aller Art. Wie jüngstauch die Presse berichtete, war die Deutsche Bank an der Finanzierung derVernichtungsanlagen in Auschwitz maßgeblich beteiligt. Das Unternehmengewährte mindestens zehn Baufirmen Kredit, die für die Waffen-SS undauch für die IG Farben tätig waren. Da die Summen zum Teil derart hochwaren, dass sie vom Vorstand der Deutschen Bank in Berlin genehmigt wer-den mussten, ist davon auszugehen, dass die führenden Manager der Bankzumindest geahnt haben mussten, was in Auschwitz entstand.

Hatte die Stadt aufgrund ihrer „rassischen“ Struktur und ihrer Zugehö-rigkeit zum territorialrechtlich inferioren „Oststreifen“ in der nationalsozia-listischen „Germanisierungspolitik“ anfangs nur eine marginale Rolle ge-spielt, wandelte sich ihre siedlungspolitische Bedeutung im Frühjahr 1941grundlegend mit der Errichtung der IG Farben-Werke. Der Bau des neuenWerkes, in dem in großem Stil Buna hergestellt werden sollte, synthetischerKautschuk und auch synthetisches Benzin, war eines der teuersten, größtenund ehrgeizigsten Investitionsprojekte des Deutschen Reiches im ZweitenWeltkrieg. In atemberaubendem Tempo setzte eine industriegeleitete Städte-baupolitik ein, in deren Gefolge Auschwitz zum „Muster der Ostsiedlung“wurde, anders gesagt: zum Modellobjekt bei der „Eindeutschung“ des er-oberten Lebensraums.

Die IG Farben, das wichtigste deutsche Privatunternehmen und eine dergrößten Chemiefabriken Europas, erfüllte mit der Errichtung des Werkesnicht nur ein vordringliches wirtschaftspolitisches Ziel der Reichsregierung,sondern auch deren dezidierten bevölkerungspolitischen Auftrag, amOstrand des Deutschen Reiches ein „Bollwerk des Deutschtums“ zu errich-ten. Das Leitmotiv der Firmenpolitik war die profitable Verbindung von ras-senideologischen Dogmen und ökonomischen Interessen.

Bei den Planungen für dieses gigantische Industrieprojekt kalkulierte mannicht nur mit dem Standortvorteil der oberschlesischen Kohle. Man rechneteauch mit der Arbeitskraft der Konzentrationslagerhäftlinge. Dabei allerdingsverrechnete man sich: Entgegen anderslautender Behauptungen, die eine

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politisch instrumentalisierte Forschung in die Welt setzte, war der Einsatzder rasch entkräfteten Häftlinge für die IG kein gutes Geschäft.

Und da sich der tägliche Anmarsch der Häftlinge vom Lager zum kilome-terweit entfernten Baugelände bei Monowitz als zusätzlich profitmindernd –weil kräftezehrend – erwies, drängte die IG auf die Errichtung eines eigenenLagers nahe dem Werksgelände. Im Oktober 1942 kamen die ersten Häft-linge in diesem sogenannten Lager Buna an. Auschwitz-Monowitz oderAuschwitz III war ein gleichsam privat unterhaltenes und finanziertes Kon-zentrationslager mit eigenem Häftlingskrankenbau. Wessen Arbeitskraftdort nicht schnell genug wieder hergestellt werden konnte, den schickte manin die Gaskammern von Birkenau. Bernd C. Wagner, der den Häftlingsein-satz auf der Baustelle der IG Farben im einzelnen untersucht hat, kommt zudem Ergebnis, dass dies alles sehr wohl mit Wissen und Billigung derBetriebsführung geschah, auch wenn die IG-Manager nach Kriegsende inNürnberg alle Schuld am Tod von mehr als 25 000 Zwangsarbeitern vonsich wiesen.

Die IG Farben ließ sich in Auschwitz nicht nur bedenkenlos auf dieKomplizenschaft mit der SS ein, sondern initiierte im Dienste der „Germani-sierung“ darüber hinaus die gewaltsame „rassische“ Neustrukturierung derEinwohnerschaft von Auschwitz. Die unmittelbare Folge des Fabrikbaus wardie Deportation der jüdischen Bevölkerung. Als Honoratioren aus Politikund Industrie Anfang April 1941 mit einem Festakt in Kattowitz die Grün-dung des neuen Werkes feierten, mussten zur selben Zeit die Juden unterZwang ihre Heimatstadt verlassen. Abrupt endete damit die mehr als700jährige jüdische Tradition von Auschwitz. Die Juden wurden in dieGroßsammelstätten und späteren Ghettos von Sosnowitz und Bendzin(Bendsburg) gebracht, von wo aus die meisten später zurückkamen: in dasVernichtungslager vor den Toren ihrer eigenen Stadt. Die polnischenBewohner blieben in Auschwitz zurück, um als Arbeitskräfte beim Aufbauder IG-Fabrik zu dienen. Sobald sie „ausgedient“ hatten, so sahen es diePläne vor (die allerdings nicht mehr verwirklicht wurden), sollten auch sieverschwinden.

Der Expansion der Lagerwelt von Auschwitz mussten ganze Dörfer wei-chen. Im März 1941 befahl Himmler die Errichtung eines riesigen land-wirtschaftlichen Gutes, des sogenannten Interessengebietes. Im September1941 ordnete er den Bau eines zweiten Lagerabschnittes auf der Flur deseinst von rund 3 800 Juden und Polen bewohnten Dorfes Birkenau an, auchAuschwitz U genannt. Auf dem Gelände des Stammlagers waren inzwischenetwa 11000 Häftlinge registriert; das drei Kilometer entfernte Lager Birke-nau sollte weit mehr Menschen fassen. Zunächst als Kriegsgefangenenlagerfür Zehntausende von sowjetischen Soldaten geplant, wurde Birkenau allerWahrscheinlichkeit nach im Frühsommer 1942 im Zuge einer Entwicklung,die sich im einzelnen nicht mehr rekonstruieren lässt, zur Stätte desMassenmords an den europäischen Juden.

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In den besetzten Gebieten der Sowjetunion war die Vernichtung derJuden zu dieser Zeit in vollem Gang. Bereits seit dem Überfall auf dieSowjetunion im Juni 1941 erschossen die Einsatzkommandos von Sicher-heitspolizei und Sicherheitsdienst in den eroberten Gebieten systematischjüdische Männer im wehrfähigen Alter, bald auch Frauen, Kinder und alteLeute. In den längst überfüllten Ghettos im Generalgouvernement und imWarthegau starben zur selben Zeit täglich Hunderte von Juden an Hungerund Krankheiten. Als im September 1941 Hitlers Befehl erging, das Altreich„judenfrei“ zu machen, schickten die deutschen Behörden trotz verheeren-der Zustände immer neue Transporte in die Ghettos, insbesondere nachLodz, wo ein Verwaltungsfunktionär schließlich vorschlug, „die Juden,soweit sie nicht arbeitsfähig sind, durch irgendein schnell wirkendes Mittelzu erledigen“.

Dass Funktionäre von SS und Polizei, aber auch die Verantwortlichen inder Zivilverwaltung die Initiative ergriffen und darauf drängten, die Judenloszuwerden, ist kennzeichnend für die „Judenpolitik“ in den erobertenGebieten: Das antijüdische Vorgehen war überall im besetzten Osten einintegraler Bestandteil der Besatzungspolitik. Eine Vielzahl von Behördenwar an der Vorbereitung, Durchführung und Unterstützung der Judenver-nichtung beteiligt. Gerechtfertigt wurde die Forderung nach dem Verschwin-den der Juden mit vorgeblich zweckrationalen, sachbezogenen Motiven,wonach Juden Seuchen verbreiteten, Wohnraum beanspruchten, nicht effi-zient arbeiteten, Schleichhandel betrieben, Partisanen seien und deshalbeine Gefahr für die deutsche Machtsicherung bedeuteten. In Ostober-schlesien hatte man ein zusätzliches „Argument“: weil ihre bloße Existenzdie „Germanisierung“ behinderte.

Wirtschafts- und sozialstrukturelle Neuordnungsplanungen hatten für dieLegitimierung des Massenmords zentrale Funktion. Die wissenschaftlichgestützten Pläne zur sozialen Um- und Neugestaltung der Städte lieferten imDienste der „Germanisierung“ die „Rechtfertigung“ für ein radikalesVorgehen gegen die Juden. Die Modernisierungs- und Neubaukonzeptewaren aber nicht die Ursache des Massenmords. Sie waren vielmehr dersituative Ausdruck und die praktische mörderische Anwendung einer tiefinternalisierten rassenideologischen Überzeugung. Im Dienste der soge-nannten Modernisierung forderten Funktionäre bis hinab zu den Bürger-meistern das Verschwinden der Juden. Gerade von Beamten auf der unterenund mittleren Ebene der Verwaltung gingen weitreichende Impulse zurRealisierung der Mordpolitik aus. Die Entscheidungsträger betrachtetenihren jeweiligen Verantwortungsbereich als Exerzierfeld radikaler rassen-politischer Neuerungen. Die Ermordung „rassisch Minderwertiger“ war fürsie vor dem ideologischen Hintergrund folglich kein Verbrechen, sondernder Weg zur Realisierung rassenpolitischer Zielsetzungen.

Das Lager Auschwitz-Birkenau war die letzte „in Betrieb gesetzte“ Mas-senvernichtungsstätte im besetzten Polen. Das erste Vernichtungslager war

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Chelmno (Kulmhof) im Warthegau, wo das Sonderkommando Lange, einePolizeieinheit, die bereits seit Kriegsbeginn in Westpolen im Zuge derEuthanasiepolitik Geisteskranke ermordete, mitten im Dorf ein landwirt-schaftliches Gebäude, das sogenannte „Schloss“, zum Mordlager herrich-tete. Die erste Massenvernichtung fand dort Anfang Dezember 1941 statt. InBelzec, Sobibor und Treblinka, den Lagern der „Aktion Reinhardt“, die inder Verantwortung des SS- und Polizeiführers im Distrikt Lublin, OdiloGlobocnik, standen, kam die Masse der polnischen Juden ums Leben. Diedrei Lager entstanden zwischen November 1941 und Juni 1942. Seit MitteMärz 1942 rollten hierher die Todestransporte aus dem Generalgouverne-ment.

Im Lager Auschwitz fanden im September 1941 zum ersten MalTötungsexperimente mit dem Blausäuregas Zyklon B statt. Das Gift wurdebereits im Ersten Weltkrieg vom deutschen Militär zur Entwesung vonUnterkünften und Kleidern verwendet; zu diesem Zweck lagerte Zyklon Bzunächst auch in Auschwitz. Die Opfer der ersten Massentötung, die aller-dings noch nicht im Kontext der „Endlösung der Judenfrage“, sondern imZusammenhang mit der Fortführung des Euthanasieprogramms in denKonzentrationslagern des Deutschen Reiches stand, waren sowjetischeKriegsgefangene und andere, nicht mehr „arbeitsfähige“ Häftlinge.

Auschwitz-Birkenau nahm unter allen Vernichtungsstätten eine Sonder-stellung ein, da es Konzentrations- wie auch Vernichtungslager war und (wiedas zur selben Zeit entstandene Lager Majdanek bei Lublin) eine Doppel-funktion innehatte. Die sogenannte Selektion nach „Arbeitsfähigen“ und„Nicht-Arbeitsfähigen“ wurde ab Juli 1942 zum Prinzip der Entscheidungüber Leben und Tod.

Nach Himmlers zweitem Besuch in Auschwitz im Juli 1942 (die ersteVisite hatte im März 1941 stattgefunden) trafen nach und nach Juden-transporte aus ganz Westeuropa ein, insbesondere aus Frankreich, Hollandund Belgien; nach Mussolinis Sturz im Herbst 1943 auch aus Italien. ImLager wurde 1943 der Bau weiterer riesiger Krematorien abgeschlossen –nach Ansicht der Verantwortlichen waren dies die „modernsten“ überhaupt.Die systematische Massenvernichtung in Auschwitz erreichte zu dieser Zeiteinen vorläufigen Höhepunkt, einen weiteren schließlich, als im Frühsom-mer 1944 rund 400 000 Juden aus Ungarn innerhalb von wenigen Wochenermordet wurden.

Himmler hatte offensichtlich die Absicht, dem Mordgeschehen regelmä-ßig beizuwohnen, denn er ließ sich im Haus der Waffen-SS gegenüber demBahnhofsgebäude in Auschwitz im Sommer 1943 eine Wohnung einrichten,zu einem Zeitpunkt also, als die Lager der „Aktion Reinhardt“ allmählichabgebaut wurden und Auschwitz zum alleinigen Vernichtungszentrum„avancierte“. Benutzt hat Himmler seine Wohnung allerdings nicht; vermut-lich, weil sich die Ereignisse nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto im

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Mai 1943 und den Massenausbrüchen in Sobibor und Treblinka im Augustund Oktober 1943 überschlugen.

Im Schatten des Aufbaus der „Musterstadt“ Auschwitz, die ganze Heer-scharen von Planern und Experten anzog, lief die sogenannte Endlösung aufHochtouren, nicht immer allerdings in ihrem Windschatten: Bis zur Inbe-triebnahme der großen neuen Krematorien im Frühjahr 1943 wurden die inAuschwitz-Birkenau mit Giftgas Ermordeten unter freiem Himmel ver-brannt; Zeugen berichten, der Feuerschein sei mitunter bis ins 30 Kilometerentfernte Kattowitz zu sehen gewesen. Insgesamt wurden nach heutigemKenntnisstand in Auschwitz etwa 1,1 Millionen Menschen zu Tode gebracht,knapp eine Million davon waren Juden. Buchstäblich aus ganz Europa roll-ten die Züge mit Deportierten heran. Für die Ermordung der ungarischenJuden hatte man sogar eine eigene Gleisanlage bis hinein ins Lager Birkenaugebaut, aber niemandem, der in der Umgebung lebte und der etwas wissenwollte, konnte verborgen bleiben, dass dort Schreckliches geschah, auchwenn keine Einzelheiten zu erfahren waren. Die Fülle der Hinweise in denQuellen, die wir im Rahmen unserer Forschungen gefunden haben, lässtjedenfalls keinen Zweifel mehr daran, dass es der SS nicht gelungen ist, dieMordaktionen geheim zu halten. Sogar die Existenz von Gaskammern waraußerhalb des streng bewachten Lagergeländes bekannt.

IV.

Aber was kann streng bewacht auch schon bedeuten inmitten einer ver-gleichsweise dicht besiedelten Gegend und angesichts eines riesigenLagerkomplexes, den erst das deutsche Nachkriegsbewusstsein nach „ir-gendwo im Osten“ verlagert hat? Dabei lag Auschwitz keineswegs im geo-graphisch nebulösen „Osten“, vielmehr gehörten Stadt und Lager seit deradministrativen Zuordnung zu Ostoberschlesien Ende Oktober 1939 zumDeutschen Reich, mit anderen Worten: Das Auschwitz der „Endlösung“ lag– ebenso wie das Vernichtungslager Chelmno im Warthegau – auf damalsdeutschem Boden.

Auschwitz war nicht nur ein bedeutender Verkehrsknoten, Auschwitz wardas neue Lebenszentrum für viele Tausende von Reichsdeutschen: für dieMeister und Vorarbeiter der IG in Monowitz ebenso wie für den neuenBesitzer der ehemals jüdischen Likörfabrik, oder den Wirt aus Wuppertal,der jetzt das erste Haus am Platze betrieb und der noch Wochen nach demJahreswechsel 1943/44 von dem rauschenden Silvesterball schwärmte, dener für seine „arischen“ Gäste ausgerichtet hatte. Auschwitz, eine deutscheStadt: mit Theateraufführungen, mit Jagdausflügen für die Nationalsozialis-ten, mit botanischen Führungen und bunten Abenden für die Lager-SS.

Und hatten in all den Jahren nicht Hunderte von SS-Wachmännern,soweit ihre Familien nicht ohnehin am Rande des Lagergeländes wohnten,

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wochen- und monatelangen Besuch von ihren Ehefrauen und Kindern? Undwaren diese tausendfachen Urlaubsbesuche in Auschwitz nicht solch eineFreude, dass Rudolf Höß, der Kommandant des Lagers, schließlich sogareine besondere Warnung herausgeben musste für die Situation kurz vor denFeierabenden, wenn die SS-Männer die Arbeitskommandos zurück insLager brachten: auf dass die Mütter ihre Kinder davor zurückhielten, denWachdienst schiebenden Vätern entgegenzulaufen, weil diese im Falle einesFluchtversuches doch scharf zu schießen hätten?

Mit der sogenannten SS-Siedlung, die sich schließlich zu einem eigenenStadtteil ausdehnte, entstand in Auschwitz eine makabre Idylle. Unterge-bracht waren die Männer anfangs in einem ehemaligen Kasernenblockaußerhalb des Schutzhaftlagers und auch im Gymnasium an der Solabrücke.Später wurden die Wohnhäuser einheimischer Familien beschlagnahmt;mehr als hundert Gebäude zudem gesprengt, um bei Fluchtversuchen ausdem Lager „ein freies Schussfeld“ zu haben. Im August 1944 taten 3 342SS-Männer im Lager Dienst; der Höchststand von 4 481 SS-Leuten war fürdie Dauer von etwa zwei Wochen im Januar 1945 erreicht; bis Kriegsendewaren im Lager zusammengenommen etwa 7 000 SS-Angehörige beschäf-tigt, darunter rund 200 SS-Aufseherinnen.

In der Anfangszeit galt der Aufenthalt von Frauen und Angehörigen derSS-Leute im Lager als verboten. Bald aber war es erlaubt, ja erwünscht, dassBräute und Ehefrauen samt Kindern ihren Männern nach Auschwitz folgten,um ihnen ein normales Familienleben zu ermöglichen. Die Lagerverwaltunggenehmigte zahllose Aufenthaltsanträge, was aus den Standort- und Kom-mandanturbefehlen hervorgeht, den internen Anweisungen und Mitteilun-gen des Lagerkommandanten an die Wachmannschaften. Das Wohnen inder SS-Siedlung war mit vielerlei Annehmlichkeiten verbunden. SS-Stand-ortärzte nahmen sich beispielsweise der SS-Familien an, „Familienärzte“hießen sie deshalb, ihre Konsultation „Familiensprechstunde“.

In der Hochphase des Massenmords stieg die Zahl der Familienange-hörigen auffallend. Die Zuzüge nahmen schließlich derart überhand, dasssich die Lager-Kommandantur weigerte, den SS-Familien weiterhin Wohn-raum zuzuweisen. Im Juni 1944 (während der „Ungarn-Aktion“) musste dieKommandantur die SS-Wachmannschaften streng ermahnen, dass das„Betreten des Lagerbereiches durch Fremde“ nicht erlaubt sei.

In der Stadt war unterdessen mit Hans Stosberg ein eigens berufenerChefarchitekt am Werk, um im Zuge der „zivilisatorischen Erschließung“gigantische Baumaßnahmen für die künftigen deutschen Bewohner vonAuschwitz zu planen: breite Straßenzüge, prächtige Parteibauten, eine„Wohnstadt“ für die „Gefolgschaft“ der IG Farben, auch Stadien, Schwimm-bäder und Parkanlagen. Ganze Stadtviertel wurden neu konzipiert, und aufdem Reißbrett war vorgesehen, in Auschwitz über kurz oder lang Wohn-raum für 70 000 bis 80 000 deutsche Bewohner zu schaffen.

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Tatsächlich wurde die Stadt für mehrere tausend Reichsdeutsche zumneuen Lebensmittelpunkt. Bemerkenswert ist, dass sich die Siedler etwa zurselben Zeit niederließen, als das Vernichtungsgeschehen im Lager 1943einen Höhepunkt erreichte. Die meisten Zuziehenden waren Mitarbeiterder IG Farben-Werke aus Städten, in denen der Konzern Niederlassungenunterhielt. Später kamen Siedler aus allen Teilen des Reiches hinzu, denndie Region um Auschwitz war – wie ganz Schlesien – nun auch deshalbattraktiv, weil sie vor Luftangriffen relativ lange Zeit verschont blieb.

Im Vergleich zum Jahr des Kriegsbeginns hatte sich die Einwohnerzahlvon Auschwitz bis 1943 auf rund 28 000 Personen verdoppelt. Juden lebtenjetzt allerdings nicht mehr dort. An ihrer Stelle hatten sich insgesamt rund7 000 neu hinzugezogene Reichsdeutschen breitgemacht. Mit wieviel Kor-ruption, Raffgier, individuellem und kollektiven Größenwahnsinn diese soge-nannte Germanisierung vonstatten ging, ist hier im einzelnen gar nicht zuschildern. Jedenfalls war der eroberte Osten ein Dorado der Amoralität –und das genaue Gegenteil der von der SS propagandistisch hochgehaltenenPrinzipien von Treue und Ehre.

Über die reichsdeutschen Bewohner von Auschwitz ist allerdings wenigbekannt. Unklar ist beispielsweise, ob und in welcher Weise der IG Konzernihre Umsiedlung forcierte. Evident ist aber, dass Reichsdeutsche in den ein-gegliederten Ostgebieten weitreichende, recht attraktive Steuervorteilegenossen und auch, dass unter den Zuziehenden zahlreiche junge Leutewaren, die offensichtlich einen Teil ihrer Ausbildung im neuen Werk absol-vieren sollten.

Unter der zivilen deutschen Bevölkerung von Auschwitz kursierten überdas Lager mancherlei Teilinformationen und Gerüchte, auch Ahnungen undVermutungen. Zudem gab es ein dumpfes Gefühl, dass der häufig süßlicheGestank verbrannten Fleisches, der zu penetrant war, um nicht wahrgenom-men zu werden, schlimme Gründe hatte. Wer wollte, konnte dafür aber ein-fache Erklärungen finden: Beispielsweise jene, wonach es im Lager „selbst-verständlich“ eine höhere Sterblichkeit gab und dass die Leicheneingeäschert werden mussten. Mit solchen Selbstberuhigungen ließen sichkognitive Dissonanzen überwinden, und gewiss trug auch eine latente Angstdazu bei, dass Nachfragen unterblieben. Indifferenz war vielfach zu be-obachten; wie weit die Zustimmung ging, ist unklar. Protest wurde jedenfallsnicht laut, signifikant ist vielmehr die Tatenlosigkeit.

Was die Wahrnehmung der Verbrechen betrifft, ist freilich zu fragen, wiedetailliert das Wissen sein konnte und auch, welche Konfliktregelungs-möglichkeiten überhaupt gegeben waren. Fest steht, dass bestimmte Perso-nenkreise recht präzise unterrichtet waren, darunter die in Auschwitz statio-nierten SS-Leute, ferner das Personal der Reichsbahn, das dieankommenden Todestransporte regelmäßig vom Bahnhof ins LagerBirkenau begleitete. Und insbesondere unter den Managern der IG Farben

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war es ein offenes Geheimnis, dass Häftlinge, die nicht mehr „arbeitsfähig“waren, mit Giftgas getötet wurden.

Im eroberten Osten, wo das Moment der aggressiven Abgrenzung gegen-über allem Fremden eine noch weitaus größere Rolle als Säule der „Volksge-meinschafts“-Ideologie spielte als im Altreich, dienten die Konzentrations-lager nicht nur der Ausschaltung politischer „Staatsfeinde“, sondern inbesonderem Maße auch der „rassischen“ Purifizierung. Mit anderenWorten: Das Konzentrationslager Auschwitz war ein Garant der völkischenZukunft im eroberten „Lebensraum“.

Da die Ermordung der „rassisch Minderwertigen“ die eigene, auf Dauerangelegte Zukunft „im Osten“ sicherte und der deutsche Herrschaftsan-spruch die Taten ideologisch rechtfertigte, blieb die Auffassung von Rechtund Moral der deutschen Bewohner in Auschwitz vom Geschehen unbe-rührt. Die Vernichtung ließ sich im Dienste der Existenzsicherung der „ari-schen Rasse“ vielmehr moralisch legitimieren und mit der biologisch- geneti-schen Werteordnung für notwendig erklären. Die Nachbarschaft von Stadtund Lager zeigt eines besonders deutlich: Massenmord und deutscherAufbau standen nicht im Widerspruch zueinander. „Germanisierungs-“ undVernichtungspolitik bildeten vielmehr eine konzeptionelle, räumliche undzeitliche Einheit. Die Tötung der „rassisch Unwerten“ diente dem Aufbauder „rassereinen Volksgemeinschaft“. Dabei gilt: Der „deutsche Aufbau“ imOsten war ohne das gleichzeitige Programm der Vernichtung gar nicht denk-bar.

Dass nicht nur, wer sich länger in Auschwitz aufhielt, von den VerbrechenNotiz nehmen konnte, sondern auch, wer nur auf der Durchreise vorbeikam, belegt recht anschaulich der Feldpostbrief eines Soldaten vom Dezem-ber 1942. Der junge Mann schreibt aus Auschwitz stolz an seine Angehöri-gen, es sei „doch gut, wenn man einmal in der Welt umher kommt“ undberichtet weiter: „Juden kommen hier, das heißt in Auschwitz, wöchentlich7 –8 000 an, die nach kurzem den ‚Heldentod‘ sterben.“

Dem Namen Auschwitz haftete nicht nur in der unmittelbaren Umge-bung, sondern auch im Altreich bereits während des Krieges der Beiklangvon Tod und Vernichtung an. „Als furchtbarstes KZ“, notiert Victor Klempe-rer am 16. März 1942 in sein Tagebuch, „höre ich in diesen Tagen vonAuschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien nennen.Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen“. Als er gut ein halbes Jahr späternochmals darauf zu sprechen kommt, ist sich Klemperer sicher, wie erAuschwitz zu schreiben hat. Am 17. Oktober 1942 notiert er: „Auschwitz[...], das ein schnell arbeitendes Schlachthaus zu sein scheint.“

Klemperers Tagebucheintragungen belegen, dass die Frage nach demWissen über Auschwitz und den Judenmord, aller Aufklärung seit 1945 zumTrotz, nie ganz aufgehört hat zu sein, was sie schon damals war: auch eineFrage des Wissenwollens.

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Peter Longerich

Auschwitz-Leugnen. Das Verfahren Irving gegenLipstadt vor dem Londoner High Court

Der Sachverhalt, der dem Londoner Prozess Irving gegen Lipstadt zugrundelag, ist schnell berichtet: 1993 veröffentlichte Deborah Lipstadt, eine an derEmory University in Atlanta/Georgia lehrende Professorin, ein Buch mitdem Titel „Denying the Holocaust“. In diesem Buch, dessen deutsche Aus-gabe 1994 unter dem Titel „Leugnen des Holocaust“ erschien, bezeichnetedie Autorin den britischen Schriftsteller David Irving als einen führenden„Holocaust denier“, also als jemanden, der den Mord an den europäischenJuden in Abrede stellt. Irving verklagte daraufhin Lipstadt und ihrenLondoner Verlag Penguin wegen Verleumdung: Ihre Behauptungen seienfalsch und Teil einer internationalen Kampagne, durch die versucht werdensolle, seine Reputation als Autor zu zerstören. Irving rief mit Bedacht einGericht in Großbritannien an, rechnete er sich doch in seinem Heimatlandgrößere Chancen aus als in den Vereinigten Staaten: Denn im britischenRechtssystem liegt bei einer Verleumdungsklage die Beweislast beimBeklagten; man geht also davon aus, dass jemand, der eine schwerwiegendenegative Behauptung über eine andere Person in die Welt setzt, dieseBehauptung auch beweisen kann.

Deborah Lipstadt und Penguin waren entschlossen, sich der Herausforde-rung durch Irving zu stellen und nicht etwa, wie dies häufig bei solchenKlagen der Fall ist, in einen Vergleich einzuwilligen. Sie entschlossen sichferner, sich möglichst effektiv zu verteidigen, d.h. die besten Anwälte zubeauftragen und eine Reihe von Wissenschaftlern als Gutachter zu bestellen,von denen sie annahmen , dass sie Irving Paroli bieten konnten. Beide Seitenkamen überein, auf eine Jury zu verzichten, so dass der Prozess vor einemeinzelnen Richter verhandelt und durch ihn entschieden wurde. Prozessiertwurde fast drei Monate lang an insgesamt 32 Verhandlungstagen vor demLondoner High Court, dem höchsten englischen Zivilgericht. Der Prozessendete, wie nicht anders zu erwarten, im April 2000 mit einem vollständigenSieg von Lipstadt und Penguin: Die Klage von Irving wurde abgewiesen; erhat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Überblickt man die Resonanz auf diesen spektakulären Prozess, so mussman konstatieren, dass in der öffentlichen Wahrnehmung des Falles eineganze Reihe von Fehlinformationen und Halbwahrheiten zurückgebliebensind. Das ist nicht zuletzt auf die Presseberichterstattung zurückzuführen,die im Falle der englischen Blätter stark auf die vordergründigen Aspekteeines Sensationsprozesses zugeschnitten war, während die deutsche Presseinsgesamt den Prozess nur am Rande wahrnahm – mit der Ausnahme der

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ausführlichen Berichte Eva Menasses in der Frankfurter Allgemeinen Zei-tung, die unter dem Titel „Der Holocaust vor Gericht“ in erweiterterFassung als Buch erschienen sind.

Mangelnde Information über den juristischen Kern des Prozesses konnteich zum Beispiel immer wieder feststellen, wenn etwa besorgte Kollegenmich als einen der Gutachter in diesem Verfahren fragten, ob man Irvingdurch den Prozess nicht zu viel Publicity gäbe oder ob es fair sei, einen frei-en Autor einer Übermacht von Rechtsanwälten und Fachleuten auszusetzen.Unkenntnis über den Inhalt des Rechtsstreit kennzeichnet auch die in derÖffentlichkeit häufiger gestellte Frage, ob man wirklich ein Gericht bemü-hen solle, um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu entscheiden.Am krassesten aber kam die verzerrte publizistische Wahrnehmung desProzesses zum Ausdruck, als Deborah Lipstadt – die durch Irving immerhingezwungen worden war, um den Erhalt ihrer Reputation zu kämpfen – nachdem Ende des Verfahrens von Reportern mit der reichlich absurden Fragekonfrontiert wurde, ob sie es nun bedauere, durch ihren Sieg Irving einenfinanziellen Schaden in Millionenhöhe zugefügt zu haben.

Denn in dem Zivilprozess Irving gegen Lipstadt/Penguin ging es ja nichtdarum, die Meinungsfreiheit des Autors Irving zu beschränken, sondern eswar ja Irving der geklagt hatte: Er wollte mit Hilfe der Justiz eine Beschrän-kung der Meinungsfreiheit von Lipstadt erreichen, also sie und ihren Verlagdazu zwingen, ihr Buch zurückzuziehen bzw. sich von bestimmten Passagenzu distanzieren und eine hohe Schadenersatzforderung an ihn zu leisten.Hätte Irving gewonnen, wäre es in Zukunft sehr viel schwieriger geworden,dem internationalen Phänomen des Holocaust-Leugnens mit publizistischenMitteln entgegenzutreten. Oder anders herum ausgedrückt: Für Lipstadt ein-zutreten, hieß, für die Meinungsfreiheit einer Wissenschaftlerin einzutreten,die zum Schweigen gebracht werden sollte. In dem Verfahren ging es imKern auch nicht darum, von einem Gericht die Bestätigung einzuholen, dassder Holocaust nun tatsächlich stattgefunden habe. Das Gericht konnte undwollte nicht die Grenzen einer wissenschaftlichen Debatte ziehen undbestimmte inhaltliche Positionen festlegen, sondern entschieden werdenmusste, ob die Arbeitsweise Irvings, der, obwohl er nie ein historischesStudium absolvierte, sich selbst als Historiker sieht, den Grundsätzen pro-fessioneller Historiographie entspricht.

Was war nun die Rolle der Wissenschaftler in dem Prozess? Die Verteidi-gung von Lipstadt legte im Prozess insgesamt fünf Gutachten vor: Währendsich der Cambridge-Professor Richard Evans in seinem umfangreichenGutachten kritisch mit der Person und Arbeitsweise Irvings auseinandersetzte und der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke sich mit Irvingsrechtsradikalen Verbindungen nach Deutschland befasste, war es die Haupt-aufgabe der übrigen Gutachter, den Forschungsstand zur Ermordung dereuropäischen Juden vor Gericht auszubreiten, ohne dass dabei explizit aufdie Behauptungen Irvings einzugehen war: Während der führende amerika-

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nischen Holocaust Experte Christopher Browning die uns heute bekanntenQuellen für die Durchführung der „Endlösung“ referierte und der in Kanadalehrende Robert Jan van Pelt die Architekturgeschichte von Auschwitz vor-trug, behandelten meine beiden Gutachten Hitlers Rolle innerhalb der natio-nalsozialistischen Judenverfolgung sowie den „systematischen Charakter“des Mordes an den Juden.

Die Gutachter, die ihre zum Teil mehrere hundert Seiten umfassendenAusarbeitungen vor dem Prozess schriftlich einzureichen hatten, musstensich während der Verhandlung dem Kreuzverhör der Gegenseite stellen.Irving, der sich selbst vertrat, nutzte diese Gelegenheit weidlich, um zu ver-suchen, die Argumentation der Gutachter zu erschüttern und sich selbst alsFachmann zu präsentieren: Über einen Zeitraum von jeweils mehrerenVerhandlungstagen verwickelte er die einzelnen Gutachter in kleinteiligeDetailerörterungen und konfrontierte sie mit ebenso absurden wie sensa-tionsheischenden Äußerungen. Während Irving mit diesen langatmigenAuftritten über lange Strecken scheinbar die Bühne des Prozesses domi-nierte und sich einen großen Teil der Aufmerksamkeit der Presse sicherte,nahm der Prozess tatsächlich einen ganz anderen Verlauf: Es zeigte sichnämlich, dass Irving zahlreiche wesentliche Punkte, die in den Gutachtenausgebreitet wurden, überhaupt nicht in Frage stellte und damit praktischkampflos an die Gegenseite übergab. Zum anderen aber wurde er, selbst imKreuzverhör, durch Lipstadts brillanten Verteidiger Richard Rampton zuzahlreichen Aussagen und Zugeständnissen veranlasst, die sich im Ergebnisfür ihn als verhängnisvoll erweisen sollten. Tatsächlich sollte sich im Ergeb-nis des Prozesses zeigen, dass es der Verteidigung von Lipstadt auf äußerstwirkungsvolle Weise gelungen war, den Gerichtssaal zum Forum zu machen,in dem Historiker demonstrierten, auf welch skrupulöse Weise wissenschaft-liche Aussagen über vergangene Ereignisse zustande kommen. Im Verlaufdes Prozesses wurde deutlich, dass die „alternative“ Version Irvings über dasSchicksal der Juden unter dem NS-Regime nicht einfach eine unkonventio-nelle Interpretation ist, sondern außerhalb der durch professionelle Maß-stäbe gezogenen Grenzen steht.

Innerhalb der internationalen Gemeinde der Holocaust-Leugner nimmtDavid Irving ohne Zweifel eine Sonderstellung ein. Irving ist sicherlich ver-traut mit der Geschichte des NS-Regimes: Er hat zahlreiche Bücher zu die-sem Thema geschrieben, die eine hohe Auflage erreichten und zum Teil im„Spiegel“ und anderen wichtigen Presseorganen im Vorabdruck erschienen.Er genoss zumindest am Anfang seiner Karriere unter Historikern einegewisse Reputation als investigativer Forscher, da es ihm immer wiedergelang, Quellen aus der Zeit des Nationalsozialismus von privater Seite zubeschaffen. Seine engen Verbindungen mit dem rechtsradikalen Lagerwaren bekannt, aber die Historiker waren nicht so sehr interessiert an sei-nen zum Teil abwegigen Thesen, sondern mehr an seiner Fähigkeit, bisherunbekannte Dokumente – zum Teil im wörtlichen Sinne – auszugraben.

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Was die Ermordung der europäischen Juden anbelangt, so nutzt Irving seineKenntnis der Forschung, um in den – nennen wir es einmal – „grauenBereichen“ der Forschung anzusetzen, also dort, wo Fragen noch offen oderauf Grund der Dokumentenlage schwierig zu beantworten sind.

Denn, das mag den Laien überraschen, trotz einer seit Jahrzehnten anhal-tenden Dauer-Debatte um den Holocaust und trotz des großen öffentlichenInteresses an diesem Thema ist die Verfolgung und Ermordung der europäi-schen Juden keineswegs vollständig erforscht, wesentliche Forschungslückenwerden erst allmählich geschlossen. So wurden zum Beispiel erst in den letz-ten Jahren die ersten grundlegenden Studien über die Ermordung der Judenin den osteuropäischen Kerngebieten des Holocaust veröffentlicht; unserWissen um die Geschichte der Vernichtungslager und um den präzisenAblauf der Deportationen ist noch außerordentlich fragmentarisch und diepräzise Rekonstruktion der Entscheidungsprozesse, an dessen Ende derMassenmord stand, ist nach wie vor umstritten.

Auch David Irving weiß natürlich und konzedierte während des Prozes-ses, dass unter der NS-Herrschaft eine große Zahl von Menschen jüdischerHerkunft getötet worden sind. Insofern ist seine Form des Holocaust-Leugnens „aufgeklärt“, moderat. Charakteristisch für Irvings Vorgehenswei-se ist, dass er nie ein Buch, ein Buchkapitel oder einen Aufsatz über dieJudenverfolgung durch das NS-Regime geschrieben hat. Seine Beiträge zumThema, die zum Gegenstand der Verhandlung wurden, bestehen – nebeneinschlägigen Bemerkungen, die er in Reden vor häufig rechtsradikalemPublikum machte – aus einigen Fußnoten, polemischen Bemerkungen undkurzen Abschnitten, die nie mehr als einige Absätze oder höchstens einigeSeiten umfassen. Alles dies ist über sein gesamtes Werk verstreut; Irving hatnie den Versuch unternommen, eine zusammenhängende, umfassende Neu-interpretation der Geschichte der Judenverfolgung durch das NS-Regime zuschreiben.

In diesen fragmentarischen und polemischen Bemerkungen geht es Irvingvor allem darum, einige essentielle Aspekte der allgemein akzeptiertenVersion der Geschichte der Ermordung der europäischen Juden zu bestrei-ten. So stellte er insbesondere die allgemein akzeptierte Zahl von 5 bis 6Millionen Opfern des Massenmordes infrage, leugnete, dass Menschen inGaskammern ermordet wurden, und behauptete, die Morde an Juden seien,wenn überhaupt, nicht systematisch erfolgt und insbesondere nicht aufBefehl des „Führers“ und Staatsoberhauptes Hitler. Wenn demnach wäh-rend des Zweiten Weltkriegs überhaupt Juden in größerer Zahl umgekom-men seien, so sei dies das Ergebnis einer Anzahl eigentlich unverbundenerHandlungen untergeordneter, auf eigene Initiative vorgehender Organe, dienicht zentral gesteuert wurden – letztlich eine Episode des ZweitenWeltkrieges, die seiner Ansicht nach angesichts der anderen menschlichenTragödien dieser Zeit nur einen relativ geringen Stellenwert einnehmenkann. Um so bemerkenswerter sind daher die Konzessionen, zu denen

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Irving im Lauf des Prozesses gezwungen wurde. Immerhin konzedierte ernun, die Zahl der jüdischen Opfer könne bis zu vier Millionen betragenhaben, und er hielt es für möglich, dass bis zu 1,5 Millionen Juden allein aufsowjetischem Boden durch Einsatzgruppen und andere Mordkommandoserschossen wurden.

Irving verwendete während des Prozesses relativ viel Mühe, gegen denGutachter van Pelt die Existenz einer Gaskammer im Krematorium II inAuschwitz-Birkenau zu bestreiten – ein hoffnungsloses Unterfangen, zeigtesich doch der Richter angesichts der von Pelt breit vorgetragenen Beweislageam Ende des Prozesses von der Existenz einer solchen Gaskammer vollkom-men überzeugt. Nicht jedoch bestritt Irving die Existenz der übrigenGaskammern in Auschwitz sowie in den anderen Vernichtungslagern – auchdies ein bemerkenswertes Ergebnis des Prozesses. Irving wurde auch inanderer Hinsicht zu erheblichen Konzessionen gezwungen: Mit einem SS-Dokument konfrontiert, in dem berichtet wird, es seien 97 000 Menschen inweniger als fünf Monaten in drei Gaswagen ermordet worden, musste Irvingeinräumen, dass man ein solches Vorgehen wohl als „systematisch“ bezeich-nen müsse.

Auch in einem anderen wesentlichen Punkt wurde Irvings ursprünglichePosition wesentlich beschädigt. Irving vertritt seit Jahrzehnten die Behaup-tung, Hitler habe von dem Völkermord an den Juden bis zum Oktober 1943nichts gewusst. Bei dieser Argumentation machte sich Irving den Umstandzu nutze, dass kein schriftlicher Befehl Hitlers für den Mord an den euro-päischen Juden vorzuliegen scheint. Irving verfährt also nach der ebensoalten wie simplen Maxime, dass das, was dokumentarisch nicht zu beweisenist, als nicht geschehen zu betrachten sei.

In der Tat steht die Historiographie zum Holocaust vor dem Problem,dass das Regime die Ermordung der europäischen Juden als Geheimsachebehandelte. Ein erheblicher Teil der Kommunikation der führenden Vertre-ter des Regimes untereinander zu diesem Thema erfolgte offensichtlichmündlich; soweit schriftliche Aufzeichnungen überhaupt existierten, vernich-teten die Täter sie im Zuge der systematischen Tilgung aller Spuren; diejeni-gen Dokumente, die diese Zerstörung überstanden, sind in einer Tarnspra-che abgefasst, die zunächst entschlüsselt werden muss. Nun ist aber evident,dass Hitler von seiner ersten politischen Stellungnahme aus dem Jahre 1919bis hin zu dem letzten von ihm unterzeichneten Dokument – seinemTestament – eine radikal antisemitische Haltung einnahm. Dies lässt sichohne große Mühe anhand seiner frühen programmatischen Schriften, seinerReden in der „Kampfzeit“, aber vor allem auch aufgrund seiner Äußerungenund seines Handelns nach der „Machtergreifung“ belegen: Hitler war es, derdie Judenverfolgung in mehreren Schritten in den Jahren vor Ausbruch desZweiten Weltkriegs entscheidend radikalisiere. Hitler spielte aber auch einemaßgebliche Rolle bei der Entwicklung der Pläne zur Deportation der euro-päischen Juden in den Jahren 1939 bis 1941. Es ist schwer einsehbar, dass er

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diese zentrale Rolle in der „Judenpolitik“ im Jahre 1941 plötzlich aufgege-ben haben soll.

Es ist auch ganz unvorstellbar, dass eine so gigantische Operation wie dieVerhaftung, Deportation und Ermordung von Millionen von Menschen inbesonderen Vernichtungslagern oder mit Hilfe von besonderen Tötungskom-mandos hätte stattfinden können, ohne dass eine solche Maßnahme von derhöchsten Autorität des NS-Regimes gedeckt worden wäre: Es war ja nichtdie SS allein, die diese Operation durchführte, sondern es waren verschie-dene Zweige der Zivilverwaltung im Reich und in den besetzten Gebietensowie erhebliche Teile des Parteiapparates und nicht zuletzt der Wehrmachtan den Verbrechen beteiligt. Das Zusammenspiel dieser verschiedenen Teiledes Herrschaftsapparates – bei einer Operation zudem, die eindeutig gegenbestehende Gesetze verstieß – ist ohne Autorisierung durch die Spitze desRegimes nicht denkbar.

Über solche allgemeine Überlegungen hinaus lässt sich aber aufgrundeiner ganzen Reihe von schriftlich überlieferten Äußerungen ein unmittel-barer Zusammenhang zwischen dem Mord an den Juden und der PersonHitlers herstellen. Man kann das an einer Reihe von Beispielen verdeutli-chen, die zeigen, dass wir uns, was die Verantwortung Hitlers für den Mordan den europäischen Juden anbelangt, tatsächlich auf sicherem Boden bewe-gen: So konnte vor Gericht der dokumentarische Beweis erbracht werden,dass Hitler über die Massenmorde an Juden in den besetzen sowjetischenGebieten im Detail unterrichtet war – eine Tatsache, die im übrigen auchvon Irving nach langem Sträuben anerkannt werden musste. Hitler selbstwar es, der im September 1941 die Deportation der deutschen Juden anord-nete, und Heydrich bestätigte auf der Wannseekonferenz vom 20. Januar1942 noch einmal, dass die „Evakuierung der Juden nach dem Osten“ erst„nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer“ gesche-hen sei. Um die Jahreswende 1941/42, als infolge der Kriegserklärung an dieUSA der Krieg endgültig zum Weltkrieg ausgeweitet wurde und entscheiden-de Weichenstellungen in Richtung auf die „Endlösung“ erfolgten, kam Hitlerwiederholt auf seine „Prophezeiung“ zurück, die er in seiner notorischenReichstagsrede vom 30. Januar 1939 ausgesprochen hatte. Damals hatteHitler folgendes gesagt: „Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn esdem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingensollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird dasErgebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg desJudentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“

In seiner (nicht veröffentlichten) Ansprache vor den Gau- und Reichs-leitern der Partei am 12. Dezember 1941 gab Hitler – laut Tagebuchein-tragung Goebbels’ – folgende Erklärung ab: „Bezüglich der Judenfrage istder Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen. Er hat den Juden prophe-zeit, dass, wenn sie noch einmal einen Weltkrieg herbeiführen würden, siedabei ihre Vernichtung erleben würden. Das ist keine Phrase gewesen. Der

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Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folgesein. Diese Frage ist ohne jede Sentimentalität zu betrachten. Wir sind nichtdazu da, Mitleid mit den Juden, sondern nur Mitleid mit unserem deutschenVolk zu haben. Wenn das deutsche Volk jetzt wieder im Ostfeldzug an die160 000 Tote geopfert hat, so werden die Urheber dieses blutigen Konfliktsdafür mit ihrem Leben bezahlen müssen.“

Sechs Tage später, am 18. Dezember 1941, machte sich der ReichsführerSS, Himmler, folgende Notiz über einen Vortrag bei Hitler: „Judenfrage / alsPartisanen auszurotten.“ Im Januar und Februar 1942 kam Hitler schließlichdreimal in öffentlichen Ansprachen auf seine „Prophezeiung“ vom 30. Ja-nuar 1939 zurück, die er jetzt bezeichnenderweise beharrlich auf denKriegsanfang datierte. In diesem Zusammenhang sprach Hitler nun auchausdrücklich von der „Ausrottung“ der Juden. Am 28.Juli 1942 schriebHimmler an den Chef des SS-Hauptamtes, Gottlob Berger: „Die besetztenOstgebiete werden judenfrei. Die Durchführung dieses sehr schwerenBefehls hat der Führer auf meine Schultern gelegt. Die Verantwortung kannmir ohnedies niemand abnehmen.“ Nach einem Vortrag bei Hitler am 19.Juni 1943 notierte Himmler dessen Entscheidung, „dass die Evakuierungder Juden trotz der dadurch in den nächsten 3 bis 4 Monaten noch entste-henden Unruhen radikal durchzuführen sei und durchgestanden werdenmüsste“.

Hitler selbst sagte schließlich in einer Ansprache vor Generalen undOffizieren am 26. Mai 1944: „Indem ich den Juden entfernte, habe ich inDeutschland die Möglichkeit irgendeiner revolutionären Kernbildung oderKeimzellenbildung beseitigt. Man kann mir natürlich sagen: Ja, hätten Siedas nicht einfacher – oder nicht einfacher, denn alles andere wäre kompli-zierter gewesen, aber humaner lösen können? Meine Herren Offiziere, wirstehen hier in einem Kampf auf Leben und auf Tod. Wenn in diesem Kampfunsere Gegner siegen, würde das deutsche Volk ausgerottet werden.“

Es gibt natürlich eine Reihe von Fällen, in denen Hitler oder HimmlerAusnahmen von dem Mordprogramm machten oder bestimmte Maßnahmenzurückstellten. Wenn man, wie Irving dies getan hat, diese Dokumente zueiner „Beweiskette“ zusammenstellt und den gesamten Kontext vernach-lässigt, also diejenigen Dokumente, die die entscheidende Rolle Hitlers beider Ermordung der Juden zeigen, kann man in der Tat das Bild eines in derJudenfrage durchaus moderaten Diktators erzeugen. Das Bild wird natürlichum so plastischer, wenn man einige Dokumente „versehentlich“ falsch liestoder mit einer bestimmten Tendenz übersetzt. Irving tat dies ausgiebig undkam dann vor Gericht zu der provozierenden Schlussfolgerung, Hitler seidoch eigentlich der Beschützer der Juden gewesen.

So machte Irving aus einer Notiz über ein Telefongespräch Himmlers mitHeydrich am 30. November 1941: „Judentransport aus Berlin – keine Liqui-dierung“ eine generelle Anweisung Hitlers zum Stop des gesamten Mord-programm. Als weiteren Beleg für diese These führte er eine weitere kurze

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Notiz Himmlers an, die er als „Juden haben zu bleiben“ las, während es imOriginal doch tatsächlich heißt, „Verwaltungsführer der SS haben zu blei-ben“. Das deutsche Wort „ausrotten“ übersetzte er, um die Kette derBeispiele abzuschließen, gerne als „to uproot“, was man als „entwurzeln“lesen kann. Es ging also bei dem Prozess nicht nur um abweichendeInterpretationen Irvings oder darum, dass er bestimmte Fakten ignorierte,sondern es ging um effektive Manipulationen von Quellenaussagen.

Am Ende des Prozesses hatte der Richter die Frage zu beantworten, obsolche Verfälschungen, Verdrehungen und eindeutig falschen BehauptungenIrvings, die während des Prozesses zuhauf zutage gefördert worden waren,den Vorwurf rechtfertigten, Irving sei ein „Holocaust denier“. Dabei war dieFrage entscheidend, ob die Behauptung Lipstadts zuträfe, Irving habe dieseVerfälschungen und Verzerrungen aus ideologischen Motiven, absichtlichbegangen, weil er ein Parteigänger Hitlers sei und versucht habe, diesen zuentlasten. Wäre der Richter zu der Schlussfolgerung gekommen, Irvings„Irrtümer“ seien „unschuldig“ gewesen, also einfache Fehler oder Missver-ständnisse, hätte er die Aussagen Lipstadts als verleumdend zurückweisenund der Klage Irvings stattgeben müssen. In einer ausführlichen Zusammen-schau der vor Gericht nachgewiesenen Fehlleistungen Irvings stellte derRichter bündig fest, dass alle diese Fehler in die gleiche Richtung wiesen: Siedienten dazu, Hitler zu entlasten, und sie reflektierten Irvings Parteilichkeit.Es sei offensichtlich, dass Irving das historische Beweismaterial so manipu-liere bzw. falsch wiedergebe, dass es zu seinen eigenen vorgefassten Meinun-gen passe. Es sei ferner offenkundig, dass Irving bei der Bewertung deshistorischen Materials doppelte Maßstäbe, also die Authentizität unwillkom-mener Dokumente und Zeugenaussagen (insbesondere von Überlebenden)infrage stelle, jedoch fragwürdige Quellen und persönliche Berichte dannleichtfertig akzeptiere, wenn sie seine Sichtweise unterstützten. Aus alledemfolgte der Urteilsspruch: Der beklagten Seite war Recht zu geben.

Nach dem Ende des Prozesses stellt sich schließlich die Frage nach denErfahrungen und den Schlussfolgerungen, die sich aus einer solchen Zusam-mentreffen von Geschichtswissenschaft und Jurisprudenz ziehen lassen.

Wenn ich mit der persönlichen Ebene anfangen darf, so stellt natürlichder Auftritt in einem Gerichtsaal für einen Historiker, der normalerweiseseine Zeit in der Universität oder hinter seinem Schreibtisch verbringt, eineinteressante Erfahrung dar. Beeindruckend ist vor allem, dass vor GerichtAussagen in einer Art und Weise auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft wurden,die in den Geisteswissenschaften schlichtweg unbekannt sind. Ein solcherProzess ist schon deswegen eine besondere Herausforderung für Historiker,da Grundfragen der Geschichtswissenschaft aufgeworfen werden: Die Fragenach der Objektivität und der Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit von historiogra-phischen Aussagen etwa oder das Problem, ob es zulässig ist, zwischen legiti-men und falschen Interpretationen von historischen Dokumenten zu unter-scheiden. Denn über die Konfrontation mit Irving und dem Phänomen des

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„Holocaust-Leugnens“ hinaus zeichnete sich das Verfahren auch durch diegemeinsame Anstrengung einer Gruppe von Historikern aus, einmal in allerAusführlichkeit darzulegen, in welchem Umfang und mit welcher Präzisionhistorische Ereignisse beweisbar sind – dies nicht zuletzt gerade angesichts„postmoderner“ Zweifel und Kritik an der Geschichtswissenschaft.

Deutlich wurde in dem Verfahren vor allem eines: Ein historiographischerText ist nicht eine beliebige Erzählung, deren Autor einfach seiner Imagina-tion freien Lauf lassen und sich nach Gutdünken in der Fülle der zur Verfü-gung stehenden Quellen bedienen kann. Vielmehr wurde deutlich, dass beider Erstellung historiographischer Texte eine Reihe wesentlicher Grundre-geln zu beachten ist, die Geschichte als Disziplin überhaupt erst konsti-tuieren. Der Prozess führte überzeugend vor Augen, dass historiographischeTexte vor allem quellenbezogen sind und dass ihr Wahrheitsgehalt daher ent-scheidend vom skrupulösen Umgang mit Dokumenten abhängt. Es war eineinteressante Erfahrung zu erleben, dass die Debatte im Gerichtssaal immerwieder auf bestimmte Dokumente zurückkam und dass mit großer Intensitätum den präzisen Wortlaut, die Datierung, die Autorenschaft, die Überliefe-rung, die Übersetzung und um den Aussagegehalt dieser Dokumente gestrit-ten wurde. Der Prozess rief ferner in Erinnerung, dass zu einem sorgfältigenUmgang mit Dokumenten stets auch die präzise Rekonstruktion des histori-schen Kontexts gehört, dass bei der Arbeit mit Dokumenten Vollständigkeitanzustreben ist und dass sich aus dem Schweigen von Dokumenten nur sehrbegrenzte Schlussfolgerungen ziehen lassen. Vor allem aber, das wurdeebenfalls deutlich, zeichnen sich historiographische Texte dadurch aus, dassauf der Grundlage sorgfältiger Quellenauswertung eine kohärente Argumen-tation vorgetragen werden muss. Irvings Geschichte von Hitler als demBeschützer der Juden etwa fehlt eine solche Kohärenz, sie ist mit dem, waswir über die Person des Diktators, seine Politik und seine Stellung innerhalbdes Systems wissen, nicht zu vereinbaren. Diese Version hat mitGeschichtsschreibung nichts zu tun, sondern ist eindeutig als politischePropaganda identifizierbar.

Eine andere Frage, die sich aus dem Londoner Prozess ergibt, ist die, ober irgendwelche Konsequenzen für das Phänomen des Holocaust-Leugnensund für den künftigen Umgang mit ihm haben wird. Zunächst ist das Urteilnatürlich ein schwerer Schlag für Irving, da sein Versuch, einen Rest vonRespektabilität als Autor historischer Sachbücher zu retten, spektakulärscheiterte. Dabei bildet das Londoner Verfahren nur die letzte Stufe in einerjahrzehntelangen Selbstdemontage eines Autors, der immer stärker in dasFahrwasser rechtsradikaler Ideologien geriet.

Selbstverständlich ist es Irving gelungen, in nicht unerheblichem Umfangpublizistischen Profit aus dem Prozess zu ziehen. Zu verhindern war diesohnehin nicht; denn gerade wenn sich die beklagte Seite nicht der Heraus-forderung durch Irving gestellt hätte, hätte er triumphiert. Ob die Publizität,die der Prozess Irving einbrachte, jedoch den durch seine Niederlage erlitte-

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nen Prestigeverlust aufwiegen kann, erscheint mehr als fraglich. Denn seineaußergewöhnliche Position hatte ja bis dato darin bestanden, dass er weitüber seine rechtsradikale Klientel hinaus in breiten Kreisen als kenntnisrei-cher Fachmann galt; mit dem Verlust dieser Reputation aber ist sein Einflussweitgehend auf das rechtsradikale Lager begrenzt.

Der Prozess hat klar vor Augen geführt, dass der Stand der Forschung zurVerfolgung und Ermordung der europäischen Juden heute so weit gediehenist, dass eine ernsthafte Konfrontation mit den „Argumenten“ der „Revisio-nisten“ sehr schnell die völlige Haltlosigkeit und Absurdität dieser Positionerkennen lässt. Allerdings wurde im Prozess auch deutlich, dass es immernoch Lücken in der Forschung zu schließen gibt und dass größere Anstren-gungen unternommen werden sollten, die Schlüsseldokumente zu diesemJahrhundertverbrechen allgemein zugänglich zu machen; das Internet isthierzu das geeignete Medium: Es darf nicht rechtsradikaler Propagandaüberlassen bleiben.

Der Prozess gab einen interessanten Einblick in die britische Rechtskulturund in die britische Auffassung von Meinungsfreiheit und lädt zu einemVergleich mit den deutschen Verhältnissen ein. In Großbritannien gibt eskein Gesetz gegen das Leugnen des Holocaust, und der Prozess wird von derbritischen Öffentlichkeit weitgehend als Beleg dafür angesehen, dass ein sol-ches Gesetz überflüssig ist. Hier liegt nun ein wesentlicher Unterschied zurdeutschen Rechtskultur, die das Phänomen des Holocaust-Leugnens in ers-ter Linie mit Verboten und mit den Mitteln der Strafverfolgung zu be-kämpfen sucht. Die deutsche Verbotspolitik – abgesehen von dem Problem,dass man im Zeitalter der elektronischen Massenkommunikation die Ver-breitung von Texten nicht mehr unterbinden kann – ist im Grunde einZeichen von Schwäche und Unreife unserer politischen Kultur. DerLondoner Prozess führte meiner Ansicht nach eindrucksvoll die Überlegen-heit der britischer Rechtskultur vor Augen: Das Recht auf Meinungsfreiheitist hier in vollem Umfang gewahrt, die Auseinandersetzung mit extremenStandpunkten bleibt dem Meinungsmarkt überlassen. Andererseits versagteaber die Justiz Irving ihren Schutz, als er versuchte, mit Hilfe des Gesetzeseinen kritischen Angriff auf seine Position als Verleumdung zu brandmar-ken. Damit hatte er sich selbst öffentlich bloßgestellt.

Sollen wir also dem britischen Vorbild folgen und unser Strafrechts-bestimmungen gegen das Holocaust-Leugnen abschaffen? Sollen wir dasEinreiseverbot, das in Deutschlang seit Jahren gegen Irving besteht, aufhe-ben? Die Frage möchte ich mit „Im Prinzip Ja“ beantworten – ja, wenn wiruns denn sicher sind, dass wir gegen die Herausforderung rechtsextremerRattenfänger ausreichend gerüstet sind. Ist dies aber wirklich der Fall?Werden die Themen Holocaust und NS-Regime in den Medien nicht nurausreichend, sondern auch angemessen behandelt? Ist der Unterricht in denSchulen und die politische Bildungsarbeit tatsächlich ausreichend auf dieInformationsbedürfnisse der Jugendlichen abgestellt? Haben wir ein breites

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Potential von Forschungseinrichtungen und Fachleuten, die bereit und in derLage sind, sich zu diesen Themen wirksam in der Öffentlichkeit zu äußern?Sind unsere politischen Repräsentanten ausreichend über diese Thematikinformiert und üben sie in diesem Bereich erfolgreich eine Meinungsführer-schaft aus? Kurz: Verfügen wir über eine Politische Kultur, die auf dierechtsradikalen Versuche zur Manipulation unseres Geschichtsbildes ange-messen und überlegen reagiert? Wenn wir alle diese Fragen eindeutig mit Jabeantworten könnten, dann können wir das strafrechtliche Verbot desHolocaust-Leugnens getrost aufgeben.

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Dan Diner

Der Holocaust in den politischen Kulturen Europas:Erinnerung und Eigentum*

Etwas apodiktisch könnte man folgende These aufstellen: Europa, das sichauf dem Weg zur schnellen Integration befindet, scheint in den Ereignissendes Zweiten Weltkrieges und dem Holocaust, der sich aus der Rückschauzunehmend als sein zentrales Ereignis herausstellt, mehr und mehr einegemeinsame, einende Erinnerung zu finden. Solch ein gemeinsames euro-päisches Gedächtnis bezieht sich nicht bloß auf ein herausragendes Elementim Arsenal der Erinnerung. Überdies wird der Holocaust zu einem verita-blen Gründungsereignis umgeformt – bis zu einem gewissen Grad durchausvergleichbar mit der Reformation oder der Französischen Revolution – unddamit zu einem Ereignis, zu dem die historische Erinnerung in dem Maßezurückzuführen scheint, in dem sie sich zu einem Katalog von Narrationenund Werten verdichtet.

Die These vom Zweiten Weltkrieg als einem politischen Gründungsakteines künftigen und vereinten Europas ist so neu nicht. Fast unmittelbarnach 1945 propagierten ältere Staatsmänner wie der Franzose RobertSchuman, der Deutsche Konrad Adenauer und der Italiener Alicide de Gas-peri, deren generationelles Gedächtnis bis weit vor den Ersten Weltkriegzurückreichte, zur rechten Zeit die Vorstellung von Europa als einemProjekt, um die partikularistischen historischen Nationalismen des Konti-nents zu „neutralisieren“. Diese drei Persönlichkeiten waren nicht nurwegen ihres Alters mehr oder weniger tief im 19. Jahrhundert verwurzelt, siestammten auch von der Peripherie ihrer jeweiligen Nationalstaaten. Schu-man war in Luxemburg geboren und im 1871 von Deutschland annektiertenElsaß erzogen worden; der frühere Kölner Oberbürgermeister Adenauermachte kein Hehl aus seiner Distanz zum protestantischen und preußisch-deutschen Nationalstaat und wurde nach 1919 sogar als pro-französischerrheinischer Separatist verdächtigt; de Gasperi stammte aus einem Irredenta-Gebiet und war bis zum Ersten Weltkrieg Mitglied des altösterreichischenReichsrats. Und obwohl alle drei in Unterredungen miteinander Deutsch alsdie frühere zentraleuropäische imperiale Sprache benutzten, so leiteten sichihre politischen Erfahrungen doch vor allem aus dem Ersten Weltkrieg her,den sie als einen Zusammenprall der verschiedenen europäischen Nationa-lismen interpretierten, und den Zweiten Weltkrieg als dessen bloße Fortset-zung. Ihr Ziel, die verschiedenen europäischen nationalen Gedächtnisse –die wir heute vielleicht als ausschließende kollektive Erinnerungen bezeich-

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* Übersetzung aus dem Englischen von Michael C. Schneider

nen würden – in einem vereinten Europa zu neutralisieren, war vor allemErgebnis der äußeren Umstände und weit weniger ein Produkt der europäi-schen Staatsmänner. Tatsächlich wirkte die Chemie des Kalten Krieges alsder große Neutralisator des nationalistischen Nährbodens und der in ihmverwurzelten partikularistischen Erinnerungen; und das, obwohl der Natio-nalismus in der europäischen Geschichte für mehr als ein Jahrhundert vonzentraler Bedeutung gewesen war.

Mit dem Wendepunkt des Jahres 1947, dem Jahr, als mit der Truman-Doktrin gewissermaßen der Kalte Krieg erklärt wurde, begann sich der herr-schende Diskurs zu einem der ideologischen Konfrontation zu entwickeln –und dies im offenkundigen Gegensatz zu den früher einander überlagerndenSchichten der verschiedenen nationalen Interpretationen der Geschichte inEuropa, die alle an ihre spezifischen Erinnerungen gebunden waren. Vonnun an dominierte aber ein Gegensatzpaar von gesellschaftlichen Visionenund Werten: Die Idee der Freiheit und Demokratie der westlichen Allianzstand einem verzerrten Ideal sozialer Gleichheit gegenüber, das die Sowjet-union und sogenannte „Volksrepubliken“ in Osteuropa vertraten. Eine sol-che globale Konfrontation der Werte, die weit über die früher vorherrschen-den Konzepte von Nation und Nationalität hinausging, machte den Konfliktzwischen Ost und West zu einer Art Weltbürgerkrieg. Tatsächlich – und dasmacht dieses Phänomen relevant für unser Thema – drängte dieser globaleDualismus der Werte nach und nach den Zweiten Weltkrieg und seineVorgeschichten in den Hintergrund. Bis dahin hatte die Nation noch immeralle Gedanken und Handlungen geprägt, bis man ihrer in den NürnbergerProzessen Herr zu werden versuchte. Von da an trat sie mehr und mehrzurück, während der neue Zusammenhang des Weltbürgerkrieges – basie-rend auf widerstreitenden, aber zugleich universalen Werten – den ZweitenWeltkrieg gewissermaßen absorbierte, ihn in seine Interpretationsmodi inte-grierte, und gerade dadurch dessen eigentliche Bedeutung bis zur Unkennt-lichkeit verzerrte.

Der Kalte Krieg warf nicht nur einen Schleier des Vergessens über dieBedeutung des Weltkrieges und über die Erinnerung an ihn. Wichtiger war,daß die wissenschaftlichen Interpretationen im Zeitalter der Konfrontationder Werte hauptsächlich auf das Paradigma der Gesellschaft hinausliefen.Der die Erinnerung neutralisierende Effekt eines solchen Paradigmas, seinernicht in Frage gestellten Vorherrschaft, wurde dort am offenkundigsten, wodie Geschichtsschreibung in zunehmendem Maße vom Primat einer ganzund gar gesellschaftsgeschichtlichen Interpretation vergangener Wirklichkei-ten überschwemmt wurde. Die Dominanz des Gesellschaftlichen in derhistorischen Interpretation war besonders in solchen Staaten auffällig, die,wie die Bundesrepublik Deutschland, wegen der Teilung und des KaltenKrieges, tatsächlich bloß noch Gesellschaften waren. Westdeutschland wareine institutionalisierte Gesellschaft und kein Nationalstaat. Die DeutscheDemokratische Republik als die der Bundesrepublik Deutschland entgegen-

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gesetzte politische Ordnung im Antagonismus der konfligierenden Wertewar aufgrund ihres klassenorientierten Verständnisses von Geschichte einerLeitidee von Gesellschaft verpflichtet, die den Prinzipien des Marxismus-Leninismus entsprach. Österreich, der dritte Nachfolgestaat des DrittenReiches, nahm in der Ära des Kalten Krieges mit Rücksicht auf seine politi-sche Herkunft eine Art Mittelstellung zwischen den anderen beiden deut-schen Staaten ein. Schon bei der Gründung der Ersten ÖsterreichischenRepublik im Jahre 1918 hatte man sich Österreich als einen republikani-schen Nationalstaat vorgestellt, der Deutschland zwar ähneln, mit diesemaber keinesfalls identisch sein sollte. Österreichs Hang zu einem vergrößer-ten deutschen Nationalstaat nach dem Ersten Weltkrieg wurde vomNationalsozialismus und der gemeinsamen großdeutschen Erfahrung desZweiten Weltkrieges schließlich auf negative Weise erfüllt. Ironischerweiseerhielt Österreich 1943 von den Alliierten in krasser Umdeutung der histori-schen Realität und der offenkundigen Überzeugung des österreichischenVolkes das Etikett eines Opfers. Das führte zu kollektiver Amnesie.

Diese Amnesie im kollektiven Gedächtnis Österreichs bekam durch dieWiederherstellung der Souveränität des Landes im Jahre 1955, die an einedauerhafte Neutralität gebunden war, einen zusätzlichen Schub. ÖsterreichsNeutralität, verankert in der Verfassung und in internationalen Vereinbarun-gen, diente dazu, die Erinnerung an die unmittelbar vergangene NS-Zeit zuinstitutionalisieren und gewissermaßen zu neutralisieren. Diese Tendenzwurde noch durch die Tatsache verstärkt, daß die meisten Politiker imNachkriegs-Österreich entweder politische Opfer des Nationalsozialismusoder politische Emigranten waren, die ihre persönliche Geschichte als NS-Verfolgte auf das neue Österreich übertrugen.

Als das beherrschende Paradigma des Gesellschaftlichen mit dem Endedes Kalten Krieges doch recht unsanft von einer gewaltigen Rückkehr derhistorischen Erinnerungen überrascht wurde, war es beinahe schon pro-grammiert, daß die Auswirkung dieser globalen und insbesondere europäi-schen Transformation auf die Republik Österreich drastisch sein würde. Mitdiesem Wendepunkt kam ein dramatisches Erwachen für das österreichischeGemeinwesen; bis dahin hatte es eine schläfrige, aber komfortable Existenzgeführt – eingekeilt zwischen den ideologischen Blöcken der Freiheit auf dereinen und dem verzerrten Ideal der Gleichheit auf der anderen Seite. Jetztwurde die österreichische Gesellschaft von den neuen Realitäten aus diesemParadies des neutralisierten Gedächtnisses vertrieben. Und um die Dingenoch komplizierter zu machen: Das Land fand sich in unmittelbarerNachbarschaft zum Balkan, wo sich im Gefolge der wieder entflammtenErinnerung ethnischer Aufruhr ausbreitete.

Der Fall Österreich illustriert die umfassende Transformation Europaswährend der vergangenen Dekade recht gut. Überall spürt man die Ver-wandlung der vor allem auf einer gesellschaftlichen Perspektive gegründetenNarration in eine der Erinnerung, namentlich in eine solche mit Bezug zu

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jenem Gründungsereignis, auf das sich das Augenmerk in Europa zuneh-mend konzentriert: den Zweiten Weltkrieg, und den immer mehr als dessenKern hervortretenden Holocaust.

Es hat eine Fülle von Spekulationen über den sich verstärkenden Einflußder Erinnerung an den Holocaust gegeben, dieses anscheinend paradoxschnelle Rückspulen der Erinnerung mit zunehmendem zeitlichem Abstand.Hier soll nicht versucht werden, die zeitverzögernden Effekte traumatischerhistorischer Erfahrungen oder den Einfluß der juristischen Auseinander-setzung mit diesem Ereignis auf die Verfaßtheit des Gedächtnisses zu inter-pretieren. Dies waren in der Tat Prozesse, die eine erhebliche Wirkung aufdie alte Bundesrepublik Deutschland, und bis zu einem gewissen Grad –man denke nur an den Eichmann-Prozeß in Jerusalem – auch auf Israel hat-ten, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise. Ebenfalls will ich nicht aufdie Debatte eingehen, die seit kurzem um die tatsächliche oder angebliche,bewußte Kultivierung des Holocaust, vor allem in den USA geführt wird.Das ist ein Nachwirken des Diskurses der ethnisch geprägten Identitäten,der im Amerika der späten sechziger Jahre durch die beginnende Rivalitätzwischen Juden und Schwarzen hinsichtlich ihres Opferstatus ausgelöstwurde. Man kann annehmen, daß aufgrund der Behandlung des Holocaustin den Medien, besonders seit den siebziger Jahren im Kino, solche Diskurseund Erscheinungen über die Besonderheiten des europäischen Erfahrungs-raumes hinaus in ein veritables, globalisiertes Holocaust-zentriertes Ge-dächtnis mündeten.

Wie wichtig diese Tendenzen für eine Intensivierung der Erinnerung anden Holocaust auch gewesen sein mögen, sie können in diesem Kontextnicht weiter untersucht werden. Die Aufmerksamkeit soll hier vielmehr denspezifischen Bedingungen im gegenwärtigen Europa gelten – dem alten Kon-tinent, wo das Verbrechen des Holocaust schließlich begangen wurde, undwo die Erinnerung daran gewiß unmittelbaren Einfluß auf künftige politi-sche Diskurse und die Realitäten haben wird.

Das wachsende Bewußtsein in Bezug auf den Holocaust, das wir inEuropa seit 1989 beobachten, scheint ein Phänomen zu sein, das weitge-hend in einer anthropologischen Grundannahme verankert ist, nämlich deroffensichtlichen, nachgerade organischen Verbindung zwischen zurücker-statteten, privaten Eigentumsrechten und dem Wachrufen schon abgesunke-ner Erinnerungen, oder umgekehrt: Rückerstattung des Eigentums alsResultat wiederentdeckter Erinnerung. Diese faszinierende anthropologi-sche Verbindung zwischen Eigentum und Erinnerung kann erklären helfen,weshalb sich der Zweite Weltkrieg und der Holocaust einer durchaus langenZukunft inmitten der im Entstehen begriffenen gemeinsamen europäischenErinnerung erfreuen werden.

Werfen wir unter diesen Prämissen nun einem Blick auf die Vereinigungder beiden deutschen Staaten 1989/90. Die Vereinigung war nicht nur einnationales Ereignis, obwohl sie die Wiedererrichtung des deutschen Natio-

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nalstaates unmittelbar implizierte. Sie sollte vielmehr als das Ergebnis einerviel umfassenderen Entwicklung verstanden werden, nämlich des Zusam-menbruchs des Kommunismus und der damit verbundenen weitreichendenAufhebung der Verstaatlichung von Eigentum, die in der zweiten Hälfte dervierziger Jahre in den „Volksrepubliken“ durchgesetzt worden war. Am 18.September 1990 schlossen die beiden noch bestehenden deutschen Staatenden Einigungsvertrag ab. Eine wichtige Bestimmung (Artikel 41) stipulierte,daß nach 1949 sozialisiertes Eigentum nach dem Prinzip der „Rückgabe vorEntschädigung“ zu restituieren sei.

Diese scheinbar moderate Formulierung hat es in sich. Sie bedeutetnichts weniger, als daß zurückzuerstattendes Eigentum seinen früherenrechtmäßigen Eigentümer sucht. Durch die Zurückerstattung älterer priva-ter Eigentumsrechte, nicht nur der Einführung privaten Eigentums, gewinntdie Existenz eines vererbbaren, nicht an die kurze Lebenszeit einesIndividuums gebundenen Eigentumsinstituts als zentrale soziale Grundbe-dingung eine generationenübergreifende Dimension. Die Reprivatisierung –nicht nur: Privatisierung – ruft die transgenerationelle Dimension des Ge-dächtnisses herauf. Nolens volens wirkt sich die Rückerstattung privatenEigentums als Medium der Erinnerung aus. Kontrastierend hierzu hatten dieNachkriegs-Verstaatlichungen und -Vergesellschaftungen, die die Kommu-nisten in Mittel- und Ostmitteleuropa durchführten, gerade den gegenteili-gen Effekt: Sie neutralisierten die Erinnerung. Es wurde nicht nur dieErinnerung an die mit dem Privateigentum als Objekt verbundenen Rechteneutralisiert, sondern auch die Erinnerung an Zeiten, die sowohl mit langezurückliegenden Vorkriegsereignissen als auch mit kaum vergangenen trau-matischen Kriegsereignissen verknüpft waren.

Mittlerweile, und insbesondere seit 1989, funktionieren zurückerstatteteEigentumsrechte als eine Art Hebel der Erinnerung, der die Wiederaneig-nung der Vergangenheit bewirkt. Das Grundbuch erweist sich immer mehrals Arsenal eines Erinnerungs-Komplexes, der sich sehr weit hinter dieNachkriegssozialisierungen zurückerstreckt. Und wenn diese Schichtenabgehoben wurden, dann geben sie die direkt darunterliegenden sogenann-ten „Arisierungen“ von Eigentum frei, die nur wenige Jahre zuvor durchge-führt worden waren. Noch einmal: Anthropologisch gesehen, beziehen sichEigentum und Erinnerung in einer Weise aufeinander, die in der Tat erkennt-nisfördernd ist.

Dieses Verständnis der Beziehung von Erinnerung und Eigentum ist eben-so plausibel wie problematisch. Plausibel ist es insofern, als es uns über allespezifischen politischen Umstände hinaus zu verstehen hilft, weshalb dieFrage der Restitution im Europa der neunziger Jahre so rasch derart promi-nente Bedeutung gewann: Von dem einst verstaatlichten Eigentum ausge-hend, erhielt diese Frage immer mehr Raum. In ihrer Eigendynamikerstreckte sie sich bald auf „arisiertes“ Vermögen und versteckte Bank-konten. Die Verbindung von Eigentum und Erinnerung hilft uns auch zu ver-

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stehen, weshalb sich die Eigentumsfrage in einer Art allumfassender Welleausbreitete. Diese ging von den früheren osteuropäischen Volksdemokratienaus und erfaßte die westlichen Länder; unter ihnen gerade auch jene, diewährend des Krieges strikt neutral geblieben waren. Diese Neutralität hattees ihnen erlaubt, eine Art Normalität aufrechtzuerhalten und so vielerleiKontinuitäten von der Vor- zur Nachkriegszeit zu produzieren, die im übri-gen kriegszerrütteten Europa unvorstellbar gewesen wären. Das erlaubte esihnen, das geraubte und geplünderte Eigentum selbst zu verwalten.

Allerdings bleibt eine solche Rückerstattung – und die damit einhergehen-de wiederhergestellte Geltung vergangener Zeiten der Erinnerung – insofernproblematisch, als sich diese im Prinzip auf alle einseitigen und gewaltsamenVeränderungen der Eigentumsbeziehungen erstreckt. Diese bezieht sich aufdie nationalsozialistischen „Arisierungen“, die späteren Verstaatlichungsakteder staatssozialistischen Regime und genauso auf die Maßnahmen im Zugeder Vertreibungen und ethnischen Säuberungen, die etwa im früheren deut-schen Osten, im Sudetenland, in Schlesien, Ostpreußen und bei der erzwun-genen Flucht deutscher Minderheiten aus anderen Regionen Osteuropasvorgenommen wurden. In einigen dieser Ereignisse verschmolzen sogarElemente von beidem – politisch dekretierte Sozialisierungen mit ethnischenNationalisierungen. Ähnliches trifft auch auf Konflikte andernorts zu, dieunmittelbare Folge der europäischen Katastrophe des Zweiten Weltkriegsund der dadurch ausgelösten Völkerbewegungen waren. Die Gründung desStaates Israel im Jahre 1948 etwa – zwar nicht in Europa, aber doch sicher-lich von Europa – läßt sich direkt auf die Zeitikone „1945“ zurückführen.Ebenso erhielten Flucht und Vertreibung der palästinensischen Araber vordem Hintergrund der gleichzeitig stattfindenden gewaltsamen Ereignisse inOstmitteleuropa im israelischen Bewußtsein eine gewisse subjektive „Recht-fertigung“. Das kürzlich reklamierte palästinensische „Recht auf Rückkehr“,das eines Tages wohl eher auf eine Rückerstattung und finanzielle Entschä-digung als auf die physische Repatriierung der Flüchtlinge hinauslaufen dürf-te, wird damit ebenfalls integraler Bestandteil des auf den Zweiten Weltkriegund seine Nachwirkungen bezogenen Diskurses. Denkt man in Begriffen derZeitlichkeit, und vergegenwärtigt man sich die ausschlaggebende Bedeutungder Zeitikonen 1945 und 1948, so ruht die Forderung nach einer rechtlichenRegelung für den früheren Besitz im israelisch-palästinensischen Fall offen-kundig auf einem europäischen Resonanzboden, der Erinnerung undRückerstattung verbindet.

Obwohl das natürlich durch staatliches Handeln zwischen den beteiligtenParteien geregelt wird, kann man überhaupt nicht vorhersagen, wie sich dieunterschiedlichen Ansprüche und Forderungen auf Rückerstattung im Kon-text der fortlaufenden Wiederherstellung privater Eigentumstitel in den ver-schiedenen Teilen des Kontinents, zumal im Zuge einer Osterweiterung derEuropäischen Union um die Tschechische Republik, Polen, Ungarn und an-dere postsozialistische Staaten, entwickeln werden. Jedoch können wir eine

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wachsende Erweiterung und Vertiefung der Erinnerung vorhersagen, die ausder zunehmenden Einbeziehung der Ereignisse des Zweiten Weltkriegesherrührt, bei der die verschiedenen nationalen Erinnerungen in Europamehr und mehr vom Holocaust und seinen vielfältigen historischen Spurenbeeinflußt werden. Es dürfte letztlich in einen Prozeß einmünden, in demdie verschiedenen kollektiven Erinnerungen in Europa eine Art wechselseiti-gen Kontenausgleich vornehmen und ein gemeinsamer europäischer Kanondes Gedächtnisses geschaffen werden wird. Die gegenwärtig vorherrschen-den Tendenzen deuten darauf hin, daß dies vor dem Hintergrund derErinnerung an den Holocaust geschehen wird, da er das konstituierende,grundlegende Ereignis einer gemeinsamen europäischen Erinnerung ist. ImZuge einer solchen Angleichung und Grundlegung werden sich die verschie-denen europäischen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, die unter-schiedlichen Erfahrungen und Geschichten der verschiedenen Nationenwährend des Krieges bemerkbar machen; einige Länder sind mit demDeutschen Reich Bündnisse eingegangen, einige haben mit ihm kollaboriert,andere wurden überrannt und erobert, wieder andere setzten auf denSchutz ihrer Neutralität.

Das von jedem einzelnen kollektiven Gedächtnis auf seine eigene Weisegepflegte Bild von jener Zeit wird auf seine Weise zu der zusammengefüg-ten, neuen europäischen Identität beitragen. Es ist offenkundig, daßDeutschland, in Umkehrung wie auch in Fortsetzung seiner historischenRolle als Haupttäter, Zentrum und Brennpunkt dieser von einem Negativ-ereignis ausgehenden europäischen Erinnerung sein wird. Führt man sichdie Denkmäler, seine Orte des Gedenkens und seine Erinnerungskultur vorAugen, so haben diese deutschen Initiativen einen klar paradigmatischenCharakter. Berlin etwa entwickelt sich sowohl zu einem deutschen als auchzu einem universalen Ort des Gedenkens. Im Gegensatz dazu werdenbestimmte europäische Staaten, allen voran Polen, die Entsetzliches unterder deutschen Besatzung erlitten, Schwierigkeiten damit haben, den jüdi-schen Holocaust als ein allumfassendes Gründungsereignis anzuerkennen.Letztendlich rivalisiert ihr Kollektivgedächtnis mit dem der Juden.

Es sei nur auf das berüchtigte Beispiel des Massakers von Katyn 1940 ver-wiesen, als etwa 15.000 polnische Offiziere vom sowjetischen NKWD abge-schlachtet wurden. Für die Polen ist dieses Massaker nicht bloß ein folgenrei-ches Ereignis des Krieges. Im Gegenteil, es ist mit einer fast ikonischenQualität versehen, weil sich die Liquidierung der polnischen Offiziere mitTiefenschichten der polnischen Tradition und Selbstwahrnehmung ver-knüpft: dem Corpus Christi und dem Bild der Kreuzigung. Im polnischenVerständnis stehen diese Offiziere symbolisch für das Korps des polnischenAdels als der lebendigen Verkörperung der polnischen Nation (entspre-chend der mittelalterlichen politischen Ikonographie, wie sie von ErnstKantorowicz in „Die zwei Körper des Königs“ entwickelt wurde), die sichselbst in der Rolle als „Christus unter den Nationen“ sieht. Eingepreßt zwi-

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schen NS-Deutschland und Sowjetrußland, wird die ethnische Komponentedes kollektiven polnischen Langzeitgedächtnisses in eine ideologischeInterpretation übertragen: Der Selbstwahrnehmung der polnischen Nationwird eine einzigartige Spielart antitotalitärer Identität zugeführt. DieGrundsubstanz einer solchen antitotalitären Identität ist indes weniger uni-versal als es den Anschein hat. Es ist die nationale Äquidistanz, die die Polenals Opfer zu beiden Diktaturen zu errichten suchen.

Kommen wir noch einmal auf die eingangs erwähnte wachsendeBedeutung des Holocaust als eines Gründungereignisses für eine kollektiveeuropäische Erinnerung zurück. Dies ist keineswegs als Selbstverständlich-keit zu betrachten. Schließlich wurde der Mord an den Juden angesichts deraußerordentlichen militärischen Konfrontation des Zweiten Weltkriegesüber viele Jahrzehnte hinweg eher als ein peripheres Ereignis behandelt.Heute haben wir ein ganz anderes Bild. Der Holocaust ist immer mehr inden Mittelpunkt dieser globalen Konfrontation gerückt, ist zum negativenSchlüsselereignis geworden. Man darf mit guten Gründen daran zweifeln, obeine solche Interpretation der historischen Sicht und Wahrnehmung derZeitgenossen entsprochen hätte. Der Vorteil einer bloßen historischenRekonstruktion allein ist kaum der angemessene Zugang für ein Ereignis wiedem nationalsozialistischen Holocaust – ein Ereignis, dessen ungeheuerlicheDimension man sich paradoxerweise erst mit wachsendem zeitlichemAbstand richtig bewußt zu werden beginnt.

Der Holocaust ist in der Tat ein Phänomen gestauter Zeit. Mit dieserMetapher der zeitlichen Kondensierung soll zum Ausdruck gebracht wer-den, daß der Holocaust, als ein äußerst radikales Ereignis von außerordent-lich kurzer Dauer – er umfaßte nur die Spanne von Sommer 1941 bis zumEnde des Krieges 1945, oder noch radikaler pointiert: die Monate zwischenSommer 1942 und Herbst 1944 – alle vorangehenden und nachfolgendenZeitschichten in seinem Strudel verschlingt. Dieser Malstrom eines negati-ven Telos hat nicht nur die europäische und erst recht die deutscheVergangenheit und Vor-Vergangenheit gebrochen, sogar die Zukunft scheintdurch dieses Ereignis kontaminiert. „Zukunft“ bedeutet hier nicht nur diechronologische Abfolge der Zeit, die vom explosiv wachsenden Diskurs überden Holocaust eingeholt wird, sondern erhält eine viel tieferreichendeRelevanz: Sogar die Erwartungen an die Zukunft, wie sie in der Traditionder Aufklärung verankert sind, wurden nach dieser negativen Erfüllung dau-erhaft suspekt.

Aus dieser Perspektive ist der Holocaust epochal, insbesondere weil erüber seine hauptsächlich, aber nicht ausschließlich jüdischen Opfer hinauseinen massiven Bruch mit fundamentalen anthropologischen Annahmen dar-über bedeutete, was menschliches Handeln leitet. Aus der Sicht der Opferbrachen die Nationalsozialisten mit der grundlegenden Orientierung an derSelbsterhaltung, und zwar ihrer eigenen Selbsterhaltung, die bis dahineigentlich in jedem noch so radikalen Konflikt wirksam gewesen war.

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Letztlich ist die gesamte moderne politische Philosophie auf dieses Leit-prinzip der Selbsterhaltung gegründet. Weil Auschwitz jenseits von Machia-vellis Principe und Hobbes’ Leviathan angesiedelt ist, und somit jenseits allerVorstellungen von möglichen Konflikten, gleichgültig wie radikal, bewegt esdie Nachwelt als ein universales, elementar negatives Ereignis.

Wäre nun die angemessene Schlußfolgerung aus diesem radikalen Befundzu ziehen, so würde – wie bereits eingangs vorgeschlagen – dem Holocaustin der Periodisierung der europäischen, ja der westlichen Geschichte eineBedeutung beizumessen sein, die derjenigen der Reformation oder derFranzösischen Revolution gleichkommt. Freilich mit dem Unterschied, daßAuschwitz kein wahrnehmbarer Wendepunkt war: Es kündigte keine sicht-baren epochalen Veränderungen der Lebenswelten an, keine Transforma-tion der Zivilisation. Auschwitz erscheint als Inkarnation. Dieser Negativitätwegen erscheinen seine Opfer, in der Hauptsache die Juden, als die Trägerdieses negativen Sinnbilds einer universalen Leugnung von Sinn. Solch einenegative Semiotik fließt mit den traditionellen Diskursen der westlichen,christlich-säkularen Zivilisation zusammen, in denen die Juden oder dasBild, das man sich von ihnen machte, von substantiellem Gewicht sind, auchwenn dies heute zunehmend weniger präsent ist.

Heute werden immer mehr Diskurse der kollektiven Opferschaft in derGeschichte an die derzeitigen paradigmatischen Schilderungen des Holo-caust angeglichen. Diese Angleichung an das Holocaust-Narrativ leistet einerunglücklichen Art von Rivalität im Opferstatus Vorschub, einer Art Wettbe-werb, der weder in der Lage ist, dem universalen und elementaren Charak-ter von Auschwitz gerecht zu werden, noch dem des eigenen Leidens. An-statt die Konsequenzen aus dieser Einsicht zu akzeptieren, setzt ein Wettlaufmiteinander rivalisierender Leidensgeschichten ein, der an traditionelle, reli-giös verankerte Muster des Streits über jüdische „Auserwähltheit“ undchristliche Universalität erinnert.

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Klaus-Dietmar Henke

Die „Banalität“ des Bösen.Hannah Arendt und Eichmann in Jerusalem

1943 erfuhr Hannah Arendt in ihrem amerikanischen Exil von Auschwitz.„Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnete.“ Daß Menschen ausDeutschland, in dessen Kultur sie lebte, tatsächlich daran gegangen waren,das jüdische Volk auszurotten, kam für sie einem irreparablen Riß in derZivilisation gleich. Etwas Neues war in die Welt gekommen, das vielleichtsogar den Auftakt zu einem Zeitalter des ideologischen Massenmordes gab.Deshalb wollte sie herausfinden, wie totalitäre Regime funktionieren undwoher sie ihre Macht über das Gewissen der Täter gewannen. Schließlichwar dieses Verbrechen eine hoheitliche Unternehmung, an der Beamte,Soldaten und ganz normale Polizisten ebenso mitwirkten wie ein ReinhardHeydrich und Schreibtischtäter vom Schlage des SS-ObersturmbannführersAdolf Eichmann: Er war der Organisator der Deportationen in die Vernich-tungslager, der Arendts beharrlich mißverstandene Chiffre von der „Banali-tät des Bösen“ provozierte.

Hannah Arendt begann sich dem Phänomen des Staatsmordes und seinenExekutoren zunächst in ihren berühmten Reflexionen über den Totalitaris-mus zu nähern, die sie noch im Krieg aufnahm und Anfang der fünfzigerJahre der Öffentlichkeit vorlegte. Sie begriff totalitäre Herrschaft als Angriffauf das Wesen des Menschen. Da für Hitler und Stalin alle Höherentwick-lung an den eisernen Gesetzen des Rassen- bzw. des Klassenkampfes hing,folgte daraus die gezielte Zurückdrängung der menschlichen Pluralität undIndividualität als logische und politische Konsequenz. Eigenwillig wie er ist,steht der Mensch einer beschleunigten Durchsetzung der historischen oderbiologischen Gesetzmäßigkeiten nur im Wege. Deswegen macht der Totali-tarismus nichts weniger als den Versuch, die universale Idee der mensch-lichen Würde und der unveräußerlichen Menschenrechte selbst zu beseiti-gen, um damit die Entfaltung der angeblichen Gesetze von Natur oderGeschichte zu erleichtern.

Brennpunkt dieses Versuches, die Autonomie des Einzelnen zu zerstören,die menschliche Natur umzuformen, ja den Störfaktor Mensch „überflüssigzu machen“, ist für Hannah Arendt das System der Lager. Der Terror dort,der die Ideologie eines binären Freund-Feind-Denkens abstützt, dient demRegime weniger zu praktischen Zwecken, als vielmehr der Demonstration,daß es keine Begrenzung mehr dafür anerkennt, was Menschen einanderantun dürfen. Weil die Philosophin in den Lagern Laboratorien des stalinis-tischen und nationalsozialistischen Totalitarismus zur Beseitigung einer kom-munikativen Welt sieht, ohne die kein Individuum existieren kann, bedient

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sie sich zur vorläufigen Bezeichnung des Ungeheuerlichen des KantschenBegriffes vom „radikal Bösen“. Was in den Lagern geschah, konnte nichtmehr auf die üblichen niedrigen menschlichen Motive zurückgeführt wer-den. Es lag außerhalb jeder moralischen Dimension und war damit menschli-chem Begreifen letztlich entzogen – vorstellbar allenfalls als Ausdruck desaltvertrauten metaphysischen Kampfes zwischen Gut und Böse.

Dieses apokalyptische Bild gab einerseits eine atemberaubende Ahnungvon dem unbegrenzten Verfügungsanspruch totalitärer Herrschaft, von ihrerDynamik, ihrer ungebremsten Produktion immer neuer „Feinde“ und damitzugleich ein eindringliches Gegenbild des demokratischen Verfassungsstaa-tes. Andererseits nahm die Perspektive einer Bedrohung des Menschseinsund der Suche nach universellen Gegenmitteln eine so hohe Ebene derAbstraktion ein, daß Hannah Arendt, die die Essenz und die Tendenz totali-tärer Herrschaft idealtypisch und „nur“ in äußerster gedanklicher Zuspit-zung freilegen wollte, gleichsam den historischen Boden unter den Füßen zuverlieren drohte und in der Gefahr stand, alle Katzen der geschichtlichenErinnerung grau werden zu lassen. Nationalsozialismus und Stalinismus(von dem sie wenig wußte) mit ihrem Lager-Kosmos waren nicht nur inmanchem ähnliche, sondern eben auch höchst verschiedenartige Regime.Auschwitz war gewiß aus dem Totalitarismus, aber vor allem aus demAntisemitismus geboren, aus moderner instrumenteller Rationalität und ausdeutschen Wurzeln, aus anonymer Bürokratie und nationalsozialistischerIdeologie.

Hannah Arendt war davon überzeugt, daß der sowjetische und der deut-sche Totalitarismus stärker von ihrer allgemeinen Organisationsform(„Ideologie und Terror“) als von ihren jeweiligen weltanschaulichen Inhaltenbestimmt waren. Gerade weil die strukturelle Gewalt totalitärer Herrschaftin der Analyse der Philosophin weithin täterlos geblieben war, ließ sie es sichnicht entgehen, einen der vermeintlichen Haupttäter des Nationalsozialis-mus persönlich in Augenschein zu nehmen. Als Israel den aus Argentinienentführten Adolf Eichmann 1961 vor Gericht stellte, fuhr sie als Bericht-erstatterin nach Jerusalem. Die Theoretikerin des Totalitarismus wollte sichmit seiner Praxis vertraut machen und die unverhoffte Gelegenheit nutzen,einen von „diesen Leuten“ aus der Nähe zu beobachten. Ihre Artikelserie fürden „New Yorker“ veröffentlichte sie 1963 als Buch. Ein Jahr später erschiendie Studie in Deutschland: „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von derBanalität des Bösen“.

In Jerusalem wurde der Prozeßbeobachterin augenblicklich bewußt, daßes ein Irrweg war, den Judenmord als letztlich metaphysisches Geschehen zudeuten und Täter wie Eichmann zu bösen Dämonen zu machen. Damitwandte sie sich gegen eine Zeittendenz, die Chefankläger Hausner kräftigbediente und zu der ihr frühes Totalitarismus-Verständnis selber einiges bei-getragen hatte. Ihr Einblick in die Organisation des Judenmords und dieMotivlage des Angeklagten, den sie während des Prozesses gewann, ließen

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Hannah Arendt nun auf der rationalen Erklärbarkeit des „größten Unheilsunseres Jahrhunderts“ bestehen. Damit befreite sie sich nach zwanzig Jahrenauch von dem Alpdruck, die Menschheit könne von ähnlichem Unheil heim-gesucht werden, ohne es begreifen und wieder kaum bekämpfen zu können.Hannah Arendts „Bericht von der Banalität des Bösen“ war der freimütigeVersuch, dem Teuflischen mit kühlem Kopf zu begegnen.

Der Angeklagte im Glaskasten war kein Teufel, eher ein „Hanswurst“. InOtto Adolf Eichmann sah man einen ganz normalen Bürokraten vor sich,beflissen, medioker und von sehr geringem Tiefgang. Persönliche Korrekt-heit, Pflichtgefühl und Karrieredenken schienen den einstigen Fahrdienstlei-ter des Todes viel stärker motiviert zu haben als ideologischer Fanatismusoder niedrige Beweggründe. Er beging monströse Verbrechen, ohne einMonster zu sein. Für die Überlebenden war das schwer zu akzeptieren, weiles die Trostlosigkeit der Tragödie noch unterstrich; im Land der Täter, dasdieses Kapitel schon hinter sich glaubte, war ein „Bruder Eichmann“ eben-falls unwillkommen. Arendts Befund verwarf den verbreiteten „Franken-steinismus, der einen Adolf Eichmann zu einem satanischen Übermenschenmachte“ (Manès Sperber). Doch damit begannen die Fragen erst: Wie konn-ten so erschreckend normale Menschen so erschreckende Untaten begehen?Für Hannah Arendt war dafür neben der Organisation dieses neuartigenVerbrechens vor allem die moralische Entlastung des Tätergewissens durchden totalitären Staat verantwortlich.

Über 200 000 Männer haben nach neueren Schätzungen insgesamt amdeutschen Staatsmord an den Juden mitgewirkt. Da das Verbrechen in zahl-lose, oftmals triviale Routineschritte aufgefächert war, stellten sich vieleBeteiligte quälende Fragen erst gar nicht. Aber auch Schreibtischtäter wieder Angeklagte, die genau wußten, welches Schicksal sie ihren Opfern berei-teten, hatten ihr Gewissen keineswegs verloren, auch Eichmann nicht, wieHannah Arendt betonte: Es versagte aber als moralische Kraft. Das führtesie auf die Natur des Totalitarismus zurück, der mit der Zerstörung desöffentlichen Raumes als Ort freier menschlicher Verständigung über Rechtund Unrecht auch die wesentliche Voraussetzung für die Erkenntnis vonrichtig und falsch beseitigte. Vor allem deshalb habe das Gewissen Eich-manns eine schädliche Verengung erfahren. Zum einen war es von dem ver-innerlichten Führerwillen begrenzt, zum anderen wurde es von der soge-nannten guten Gesellschaft um ihn herum eingeschränkt, die imNationalsozialismus den vollständigen Zusammenbruch ihrer gängigenmoralischen Maßstäbe erlitten hatte; was er sah, war die „beispielloseMittäterschaft aller Schichten“.

Nach einigen Anfechtungen begann Eichmanns Gewissen systemkonformzu arbeiten, „weil die Stimme des Gewissens in ihm genauso sprach wie dieStimme der Gesellschaft, die ihn umgab“. Sein privater kategorischerImperativ (wie er sagte), allein nach dem „Gesetz“ des Führers zu handeln,verschmolz mit dem Gebot der geltenden Offizialmoral, angesichts schwerer

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mörderischer Pflicht nicht „weich“ zu werden. Deswegen lief die Tötung vonJuden seinem Gewissen nicht zuwider. Seine Urteilskraft hatte sich verflüch-tigt. Er brauchte das Böse, das er tat, lediglich zu akzeptieren und nicht per-sönlich zu wollen; es trat nicht in klassischer Form als Versuchung an ihnheran. In Eichmanns Gewissen tobten keine niedrigen Beweggründe, und esritt ihn kein Dämon. Er „reißt sich zusammen“ und begeht aus banalenMotiven extrem böse Taten. Weil Adolf Eichmanns Handlungen nach ihrerAuffassung aus dessen mangelnder Urteilskraft und keinerlei tieferenBeweggründen entsprangen, belegte Hannah Arendt dieses Phänomen mitdem Begriff der „Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und an derdas Denken scheitert“. Diese Art der Banalität ist die gefährliche Kehrseitejedweder totalitären Versuchung.

Hannah Arendt reflektiert in ihrem Eichmann-Buch über die Motiva-tionsstruktur eines einzigen NS-Verbrechers. Sie charakterisiert nicht dasnationalsozialistische Mordpersonal, hält die Taten des Angeklagten mitnich-ten für trivial, will die Vernichtung der Juden keineswegs in drei Worte fas-sen oder gar das Böse als banal hinstellen. Doch es ist zu spät, die Formel,die sie bald bedauert, ist in der Welt. Durch eine verkürzte Argumentationund die Fixierung auf den bürokratischen Charakter des „Verwaltungsmas-senmordes“ gab sie selber Anlaß zu solchen Verallgemeinerungen einerschwierigen moralphilosophischen Überlegung. Die Verwirrung war kom-plett, als Arendt während der Kontroverse um ihr Buch die Reichweite ihresneuen Begriffes von der Beschreibung Eichmanns plötzlich auf die philoso-phische Natur des Bösen schlechthin ausdehnte. Sie verwarf jetzt die alteVorstellung aus ihrem Totalitarismus-Buch, das Böse sei „radikal“ und habeeine metaphysische Tiefendimension. Tatsächlich sei das Böse nur einOberflächenphänomen, lediglich „extrem“ und ohne jede Tiefe. Es könne„die ganze Welt überwuchern“, weil es sich „wie ein Pilz auf der Oberflä-che“ ausbreite. Man vermutet, daß Hannah Arendt diese Kehrtwendungvollzogen hat, weil sie sich nun von ihrer früheren, letztlich theologischenKonzeption trennen konnte, in der das Böse noch mit übermenschlichenKräften im Dienste des Kampfes von Gut und Böse in Verbindung gebrachtwerden mußte. Nach Jerusalem glaubte sie es besser zu wissen.

Das Buch löste einen Orkan der Entrüstung aus. Viele faßten es als Verrateiner Jüdin am jüdischen Volk auf. So ließ sie tatsächlich jedes Einfühlungs-vermögen für die prekäre Stellung der Judenräte („Jewish ‚Führer’“) vermis-sen und gab ihnen sogar eine Mitschuld an der reibungslos funktionierenden„Endlösung“. Zugleich schien die Autorin die Schuld der Täter in derarbeitsteiligen Organisation ihres Verbrechens beinahe zum Verschwindenbringen und damit das moralische Gefälle zwischen Mördern und Er-mordeten verflachen zu wollen. Manche sahen hinter ihrem Bericht – ohnejeden Anhaltspunkt im Text – sogar die Absicht, den Völkermord zu banali-sieren. Man verzieh es der ehemals zionistisch gesonnenen Denkerin auchnicht, wie schroff sie allen Versuchen eine Absage erteilte, die Schoah als

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eine geschichtsnotwendige Etappe in den Mythos von Verfolgung undAuserwähltheit einzufügen, der Katastrophe nach Gründung des StaatesIsrael einen identitätsbildenden, tröstlichen „Sinn“ zu verleihen und so ausder Tragödie letztlich eine erlösende Botschaft zu gewinnen. Zur emotio-nalen Wucht der paradoxen Formel von der „Banalität“ des Bösen geselltesich der kalte Tonfall der Eichmann-Analyse, den auch ihre rasch wenigerwerdenden Freunde für unangemessen hielten. Hannah Arendt war nichtganz schuldlos daran, daß ihr eigentliches Anliegen unter einer Lawine vonhanebüchenen Mißdeutungen und wüsten Verleumdungen verschüttet wur-de: nämlich die moralische Orientierungslosigkeit des Menschen im Totalita-rismus und die „Selbstbedrohung der Menschheit“ (Karl Dietrich Bracher).

Mit dem Todesurteil gegen Eichmann war Hannah Arendt einverstanden,aber nicht aus den juristischen Gründen, die das Gericht geltend machte.Für sie hatte er sein Leben verwirkt, weil er mit seinem Tun ein totalitäresSystem unterstützt hatte, das aus seiner Freund-Feind-Logik das Recht ablei-tete, darüber zu befinden, „wer die Erde bewohnen soll und wer nicht“. Dasgalt ihr als „Verbrechen gegen die Menschheit“, der Täter deshalb als ein„Feind des Menschengeschlechts“. Der Angeklagte hatte Verbrechen gegendas jüdische Volk begangen, sich damit aber zugleich gegen die Menschheitvergangen.

Der Prozeß hatte mehr als deutlich gemacht, wie leicht im Totalitarismusdas Ungeheuerliche organisierbar war und wie wenig man auf die unabhän-gige Urteilsfähigkeit des Einzelnen als Bollwerk dagegen vertrauen durfte.Die neu etablierten Staatswahrheiten gaben vielen Tätern die verheerendeSicherheit, einer darüber hinaus gehenden Verantwortung enthoben zu seinund persönlich moralisch integer zu bleiben. Trotzdem galt Eichmann ihrkeineswegs als Beweis dafür, daß der Judenmord überall möglich gewesenwäre, sondern dafür, daß politischer Massenmord immer wieder geschehenkann. Auf die Erkenntnis dieser neuartigen Gefährdung kam es HannahArendt in Jerusalem an. Einen Ausweg hatte sie nicht zu offerieren, aber denVorschlag, unverwandt für die Auffassung zu werben, daß die Menschen alseinzelne verschieden, als Menschen aber gleich sind.

Hannah Arendt hatte in Jerusalem den Angeklagten, nicht den Täter gese-hen. Der hatte jüdische Bürger keineswegs ohne Anteilnahme und Motiv ver-folgt, schikaniert und in den Tod geschickt, sondern mit viel Ehrgeiz undinnerer Überzeugung. Wie die meisten seiner Kollegen im Reichssicher-heitshauptamt zu Berlin war er ein Rasseantisemit, der im so genannteninternationalen Judentum wirklich eine tödliche Bedrohung des deutschenVolkes und den „Weltvergifter aller Völker“ sah, wie Hitler es in seinemTestament vom 30. April 1945 festhielt. Wenngleich nach Herkunft, Ausbil-dung und Dienstrang nicht zur eigentlichen Weltanschauungselite der SSgehörig, war er von der historischen und biologischen Notwendigkeit über-zeugt, diesen Feind gewissenhaft auszumerzen. Da die Politik derVernichtung also dem Volke nützte, war sie sittlich geboten, die Beachtung

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universeller ethischer Normen nach einem damals gern gewählten Ausdrucknur Humnanitätsduselei. Nationalsozialistische Ideologie und totalitäreOrganisation ermöglichten den Tätern ihr Tun; die Strukturen funktionier-ten nicht von selbst.

Der „Juden- und Umsiedlungsreferent“ Adolf Eichmann war nur einervon Abertausenden NS-Tätern, nicht deren Prototyp. Am Werke waren viel-mehr Anstifter, Vordenker, Überzeugungstäter, mitzeichnende Beamte,furchtbare Juristen, pervertierte Mediziner, Todesschützen, ganz normaleSoldaten, Gas-Operateure, Sadisten, Opportunisten, Karrieristen, die vieleigene Initiative entfalteten. Außerdem war die Ermordung der euro-päischen Judenheit kein klinisch-anonymer Vorgang. Bei den Massener-schießungen in der Sowjetunion, wo Millionen getötet wurden, traten dieDeutschen den Opfern wirklich als Monster gegenüber. Auschwitz, Majda-nek und Treblinka erlebten sie noch im Augenblick ihres Todes als Hölle. Esist das Fatale des Arendtschen Diktums von der „Banalität des Bösen“, daßes bis heute als Faustformel für das so komplexe und komplizierte Gesche-hen der Schoah mißverstanden wird; sie sollte fallen gelassen werden.

Hannah Arendt hat eindringlich beschrieben, was möglich wird, wenntotalitäre Entwürfe Macht über die Köpfe und die Hebel der Macht gewinnt.Da der Mensch nicht als Demokrat geboren wird, bleibt er anfällig für dietotalitäre Versuchung. Denn ihre Verführungskraft liegt letztlich nicht sosehr in ihren einzelnen Lehrsätzen als in ihrem zukunftssicheren Gestus undin ihrer Ausbeutung des menschlichen Verlangens nach Sicherheit und Sinn.Das macht weltliche Religionen so wandelbar, schwer identifizierbar undleicht aktivierbar. Neue Erlösungsprogramme werden sich kaum in derRequisite des 20. Jahrhunderts bedienen. Aber genügend Komplicen kanndas extrem Böse auch heute finden, wenn es sich nur in den Mantel des sitt-lich Gebotenen hüllt.

Die Autoren

Prof. Dr. Dan Diner lehrt Neuere Geschichte an der Universität Leipzig undder Ben-Gurion-University of the Negev, Beer-Sheva, und ist Direktor desSimon-Dubnow-Institutes für jüdische Studien und Kultur an der UniversitätLeipzig.

Prof. Dr. Norbert Frei lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum.

Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke lehrt Zeitgeschichte an der TechnischenUniversität Dresden, Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitaris-musforschung 1997–2001.

Prof. Dr. Ulrich Herbert lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Al-bert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Prof. Dr. Ludolf Herbst lehrt Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zuBerlin.

Prof. Dr. Peter Longerich lehrt Zeitgeschichte an der University of London,Royal Holloway, und ist Direktor des Research Center for the Holocaust andTwentieth-Century History.

Dr. Sybille Steinbacher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl fürNeuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum.

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts

Nr. 1: Die politische „Wende“ 1989/90 inSachsen. Rückblick und Zwischenbilanz.Hg. von Alexander Fischer (†) undGünther Heydemann, 1995Nr. 2: Die Ost-CDU. Beiträge zu ihrerEntstehung und Entwicklung. Hg. vonMichael Richter und Martin Rißmann,1995Nr. 3: Stefan Creuzberger: Die sowjeti-sche Besatzungsmacht und das politischeSystem der SBZ, 1996Nr. 4: Michael Richter: Die Staatssicher-heit im letzten Jahr der DDR, 1996Nr. 5: Die Tragödie der Gefangenschaft inDeutschland und in der Sowjetunion1941–1956. Hg. von Klaus-Dieter Müller,Konstantin Nikischkin und GüntherWagenlehner, 1998Nr. 6: Lothar Fritze: Täter mit gutemGewissen. Über menschliches Versagenim diktatorischen Sozialismus, 1998Nr. 7: Totalitarismustheorien nach demEnde des Kommunismus. Hg. von AchimSiegel, 1998Nr. 8: Bernd Schäfer: Staat und katholi-sche Kirche in der DDR, 1998Nr. 9: Widerstand und Opposition in derDDR. Hg. von Klaus-Dietmar Henke,Peter Steinbach und Johannes Tuchel,1999Nr. 10: Peter Skyba: Vom Hoffnungsträgerzum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDRund Jugendpolitik der SED 1949–1961,2000Nr. 11: Heidi Roth: Der 17. Juni 1953 inSachsen. Mit einem einleitenden Kapitelvon Karl Wilhelm Fricke, 1999

Nr. 12: Michael Richter, Erich Sobeslav-sky: Die Gruppe der 20. Gesellschaft-licher Aufbruch und politische Oppositionin Dresden 1989/90, 1999Nr. 13: Johannes Raschka: Justizpolitik imSED-Staat. Anpassung und Wandel desStrafrechts während der AmtszeitHoneckers, 2000Nr. 15: Ralf Ahrens: GegenseitigeWirtschaftshilfe? Die DDR im RGW –Strukturen und handelspolitischeStrategien 1963–1976, 2000Nr. 16: Frank Hirschinger: „Zur Ausmer-zung freigegeben“. Halle und die Landes-heilanstalt Altscherbitz 1933–1945, 2001Nr. 17: Sowjetische Militärtribunale.Bd. 1: Die Verurteilung deutscher Kriegs-gefangener 1941–1953. Hg. von AndreasHilger, Ute Schmidt und Günther Wagen-lehner, 2001Nr. 18: Karin Urich: Die Bürgerbewegungin Dresden 1989/90, 2001Nr. 19: Innovationskulturen und Fort-schrittserwartungen im geteilten Deutsch-land. Hg. von Johannes Abele, GerhardBarkleit und Thomas Hänseroth, 2001Böhlau Verlag Köln Weimar

Berichte und Studien

Nr. 1: Gerhard Barkleit, Heinz Hartlepp:Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie inder DDR 1952–1961, 1995 (vergriffen)Nr. 2: Michael Richter: Die Revolution inDeutschland 1989/90. Anmerkungenzum Charakter der „Wende“, 1995Nr. 3: Jörg Osterloh: Sowjetische Kriegs-gefangene 1941–1945 im Spiegel nationa-ler und internationaler Untersuchungen.Forschungsüberblick und Bibliographie,1995Nr. 4: Klaus-Dieter Müller, Jörg Osterloh:Die Andere DDR. Eine studentischeWiderstandsgruppe und ihr Schicksal imSpiegel persönlicher Erinnerungen undsowjetischer NKWD-Dokumente, 1995(vergriffen)Nr. 5: Gerhard Barkleit: Die Rolle desMfS beim Aufbau der Luftfahrtindustrieder DDR, 1996

Hannah-Arendt-Institutfür Totalitarismusforschung e. V. an derTechnischen Universität Dresden

Nr. 6: Christoph Boyer: „Die Kader ent-scheiden alles … “ Kaderpolitik undKaderentwicklung in der zentralenStaatsverwaltung der SBZ und der frühenDDR (1945–1952), 1996Nr. 7: Horst Haun: Der Geschichts-beschluß der SED 1955. Programmdoku-ment für die „volle Durchsetzung desMarxismus-Leninismus“ in der DDR-Geschichtswissenschaft, 1996Nr. 8: Erich Sobeslavsky, NikolausJoachim Lehmann: Zur Geschichte vonRechentechnik und Datenverarbeitung inder DDR 1946–1968, 1996 (vergriffen)Nr. 9: Manfred Zeidler: Stalinjustiz kontraNS-Verbrechen. Die Kriegsverbrecher-prozesse gegen deutsche Kriegsgefangenein der UdSSR in den Jahren 1943–1952.Kenntnisstand und Forschungsprobleme,1996 (vergriffen)Nr. 10: Eckhard Hampe: Zur Geschichteder Kerntechnik in der DDR 1955–1962.Die Politik der Staatspartei zur Nutzungder Kernenergie, 1996Nr. 11: Johannes Raschka: „Für kleineDelikte ist kein Platz in der Kriminalitäts-statistik.“ Zur Zahl der politischen Häft-linge während der Amtszeit Honeckers,1997 (vergriffen)Nr. 12: Die Verführungskraft des Totalitä-ren. Saul Friedländer, Hans Maier, JensReich und Andrzej Szczypiorski auf demHannah-Arendt-Forum 1997 in Dresden.Hg. von Klaus-Dietmar Henke, 1997Nr. 13: Michael C. Schneider: Bildung fürneue Eliten. Die Gründung der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten in der SBZ/DDR,1998Nr. 14: Johannes Raschka: Einschüchte-rung, Ausgrenzung, Verfolgung. Zur poli-tischen Repression in der AmtszeitHoneckers, 1998Nr. 15: Gerhard Barkleit, Anette Dunsch:Anfällige Aufsteiger. Inoffizielle Mitarbei-ter des MfS in Betrieben der Hochtechno-logie, 1998Nr. 16: Manfred Zeidler: Das Sonderge-richt Freiberg. Zu Justiz und Repressionin Sachsen 1933–1940, 1998

Nr. 17: Über den Totalitarismus. TexteHannah Arendts aus den Jahren 1951 und1953. Aus dem Englischen übertragen vonUrsula Ludz. Kommentar von IngeborgNordmann, 1998Nr. 18: Totalitarismus. Sechs Vorträgeüber Gehalt und Reichweite eines klassi-schen Konzepts der Diktaturforschung.Hg. von Klaus-Dietmar Henke, 1999Nr. 19: Henry Krause: Wittichenau. Einekatholische Kleinstadt und das Ende derDDR, 1999Nr. 20: Repression und Wohlstandsver-sprechen. Zur Stabilisierung von Partei-herrschaft in der DDR und der ČSSR.Hg. von Christoph Boyer und Peter Skyba,1999Nr. 21: Horst Haun: Kommunist und „Re-visionist“. Die SED-Kampagne gegen Jür-gen Kuczynski (1956–1959), 1999Nr. 22: Sigrid Meuschel, Michael Richter,Hartmut Zwahr: Friedliche Revolution inSachsen. Das Ende der DDR und dieWiedergründung des Freistaates, 1999Nr. 23: Gefangene in deutschem undsowjetischem Gewahrsam 1941–1956:Dimensionen und Definitionen. Hg. vonManfred Zeidler und Ute Schmidt, 1999Nr. 24: Gerald Hacke: Zeugen Jehovas inder DDR. Verfolgung und Verhalten einerreligiösen Minderheit, 2000Nr. 25: Komponisten unter Stalin.Aleksandr Veprik (1899–1958) und dieNeue jüdische Schule. Hg. von FriedrichGeiger, 2000Nr. 26: Johannes Abele: Kernkraft in derDDR. Zwischen nationaler Industriepoli-tik und sozialistischer Zusammenarbeit1963–1990, 2000Nr. 27: Silke Schumann: „Die Frau ausdem Erwerbsleben wieder herausneh-men.“ NS-Propaganda und Arbeitsmarkt-politik in Sachsen 1933–1939, 2000Nr. 28: Andreas Wiedemann: DieReinhard-Heydrich-Stiftung in Prag(1942–1945), 2000Nr. 29: Gerhard Barkleit: Mikroelektronikin der DDR. SED, Staatsapparat und Staats-sicherheit im Wettstreit der Systeme, 2000

Nr. 30: Włodzimierz Borodziej, JerzyKochanowski, Bernd Schäfer: Grenzender Freundschaft. Zur Kooperation derSicherheitsorgane der DDR und derVolksrepublik Polen zwischen 1956 und1989, 2000Nr. 31: Harald Wixforth: Auftakt zurOstexpansion. Die Dresdner Bank unddie Umgestaltung des Bankwesens imSudetenland 1938/39, Dresden 2001Nr. 32: Auschwitz. Sechs Essays zuGeschehen und Vergegenwärtigung. Hg.von Klaus-Dietmar Henke, Dresden 2001

Einzelveröffentlichungen

Nr. 1: Lothar Fritze: Innenansicht einesRuins. Gedanken zum Untergang derDDR, München 1993 (Olzog) (vergrif -fen)Nr. 2: Lothar Fritze: Panoptikum DDR-Wirtschaft. Machtverhältnisse. Organisa -tionsstrukturen, Funktionsmechanismen,München 1993 (Olzog) (vergriffen)Nr. 3: Lothar Fritze: Die Gegenwart desVergangenen. Über das Weiterleben derDDR nach ihrem Ende, Köln 1997(Böhlau)Nr. 4: Jörg Osterloh: Ein ganz normalesLager. Das Kriegsgefangenen-Mann -schaftsstammlager 304 (IV H) Zeithainbei Riesa/Sa. 1941–1945, Leipzig 1997(Kiepenheuer) Nr. 5: Manfred Zeidler: Kriegsende imOsten. Die Rote Armee und die BesetzungDeutschlands östlich von Oder und Neiße1944/45, München 1996 (Oldenbourg)

Nr. 6: Michael Richter, Mike Schmeitzner:„Einer von beiden muß so bald wie mög-lich entfernt werden“. Der Tod des sächsi-schen Ministerpräsidenten Rudolf Fried -richs vor dem Hintergrund des Konfliktsmit Innenminister Kurt Fischer 1947,Leipzig 1999 (Kiepenheuer)Nr. 7: Johannes Bähr: Der Goldhandel derDresdner Bank im Zweiten Weltkrieg.Unter Mitarbeit von Michael C. Schnei -der. Ein Bericht des Hannah-Arendt-Instituts, Leipzig 1999 (Kiepenheuer)Nr. 8: Felicja Karay: Gefangen in Leipzig.Das Frauenlager der RüstungsfabrikHASAG im Dritten Reich, Köln 2001(Böhlau)In Vorbereitung:

Nr. 9: Hannah Arendt Denktagebuch. Hg.von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmannin Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut Dresden, München 2002(Piper)

Bestelladresse für „Berichte und Studien“:Hannah-Arendt-Institutfür Totalitarismusforschung e.V.an der Technischen Universität Dresden01062 DresdenTelefon: 0351 / 463 32802Telefax: 0351 / 463 36079E-Mail: [email protected]: www.hait.tu-dresden.de