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UNTERNEHMEN REGION Ausgabe 2|2013 Naturgefahren und Klimawandel SPITZENFORSCHUNG & INNOVATION in Potsdam

Ausgabe 2|2013 UNTERNEHMENREGION...2013 (S. 25), PIK/Kriewald, 2013 (S. 34), Thilo Schoch, Berlin (S. 34), Henry Wichura / Universität Potsdam Ein Tag im Leben von (S. 35), GFZ (S

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  • UNTERNEHMENREGIONAusgabe 2|2013

    Naturgefahren und KlimawandelSPITZENFORSCHUNG & INNOVATION in Potsdam

    Naturgefahren und KlimawandelSPITZENFORSCHUNG & INNOVATION in Potsdam

  • Impressum

    HerausgeberBundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)Referat „Regionale Innovations initiativen; Neue Länder“11055 Berlin

    BestellungenPublikationsversand der BundesregierungPostfach 48 10 0918132 RostockE-Mail: [email protected]

    Tel.: 01805 77 80 90Fax: 01805 77 80 94(14 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz, Mobilfunk max. 42 Cent/Min.)Internet: www.bmbf.de

    Redaktion und GestaltungPRpetuum GmbH, Mü[email protected]

    BildnachweisSatellite image by RapidEye (Titel, S. 3, 32), Bauhaus-Universität Weimar, Foto: Thomas Müller (S. 2, 20–21), Privat (S. 3, 4, 35, 47, 48), Universität Leipzig (S. 4), Joachim Opelka – Fotolia (S. 4), neoplas tools GmbH (S. 5), Bauhaus-Universität Weimar, Foto: Candy Welz (S. 20), Studio Laura Straßer (S. 24), VG Bild-Kunst, Bonn 2013 (S. 25), PIK/Kriewald, 2013 (S. 34), Thilo Schoch, Berlin (S. 34), Henry Wichura / Universität Potsdam (S. 35), GFZ (S. 36, 37), BARCO / Universität Potsdam (S. 38), Alfred Wegener Institute, Helmholtz Centre for Polar and Marine Research (S. 39), „National and Re -gional Resource Corridor Program”, supported by AusAID, World Bank and GIZ international services; Executive Production: PROGRESS and Climate Media Factory UG (S. 39), Hasso-Plattner-Institut. Die zugrunde liegenden Flugdaten wurden von der DFS Deutsche Flugsicherung GmbH zur Verfügung gestellt (S. 41), rafal_olechowski – iStockphoto (S. 44), Haus der Wissen schaft Braunschweig GmbH/Michael Setzpfandt (S. 45), alle anderen Fotos: BMBF/Unternehmen Region – Thilo Schoch, Berlin

    DruckereiGrafisches Centrum Cuno GmbH und Co. KG, Calbe

    Bonn, Berlin 2013

    „Unternehmen Region“ erscheint 3-mal im Jahr und wird unentgeltlich abgegeben.

    Inhalt

    RundblickSeite 6Wir finden euch – schnell und überallThüringer Forscher entwickeln neue Analysemethoden für Lebensmittel.

    Seite 10Kurz und schmerzlosLeipziger Wissenschaftler wollen Lungenkrebs künftig am Patientenatem erkennen.

    EinblickSeite 14 Wo Müllabfuhr und Forscher Hand in Hand arbeiten Drei Jungunternehmer halten der Berliner Müllabfuhr den Rücken frei.

    Seite 18Das ExperimentDie Bauhaus-Universität Weimar will kein Museum sein.

    Seite 26„Ohne Star Trek hätte ich vielleicht nie Physik studiert“Ein Tag im Leben von Dr. Alexander Szameit

    DurchblickSeite 44Wissenschaft muss keinen Spaß machen – darf es aber ...Eine Außenansicht von Science-Slam-Champion Martin Buchholz

    Seite 48Was ist „kaltes Plasma“?Der Greifswalder Plasmaforscher Dr. Stephan Reuter hat die Antwort.

    mailto:publikationen%40bundesregierung.de%20?subject=http://www.bmbf.demailto:redaktion%40unternehmen-region.de?subject=

  • RubrikenSeite 2

    Impressum

    Seite 3Editorial

    Seite 4Panorama

    Seite 13eingeORTnet

    Seite 46Mein Schreibtisch + ich

    Sandra von Sachsen

    Seite 50Ansprechpartner

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    E d i t o r i a l

    SchwerpunktSeite 32Excellent Work in PROGRESSWo Naturgefahren und Klima wan del die Menschen bedrohen, ist der Potsdamer Forschungsverbund PROGRESS nicht weit.

    Seite 36„Vom System Erde zum System Erde–Mensch“Der Leiter des Deutschen GeoForschungsZentrums Prof. Reinhard Hüttl im Interview

    Seite 42125 Jahre Geowissenschaften in PotsdamVon der zufälligen Erdbeben - auf zeichnung in die Top Ten der Erdsystemforschung

    Seite 43„Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern“Die 17 vom BMBF geförderten Initiativen im Überblick

    Grußwortvon Johanna Wanka

    Liebe Leserinnen und Leser,

    herausragende Forschung, exzellente Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit internationaler Ausstrahlung sowie die Sicherung des akademischen Nachwuchses – mit diesen und weiteren Zielen startete vor sechs Jahren das BMBF-Programm „Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern“. Heute verfolgen 17 Initiativen in allen Neuen Ländern diese Ziele und stärken dadurch die Innovationsfähigkeit der jeweiligen Region.

    Die vorliegende Ausgabe des Magazins „Unternehmen Region“ enthält viele interessante Themen. Am Beispiel des Potsdamer Forschungsverbunds PROGRESS wird deutlich, wie ein Förder-programm einen Standort prägen kann und welche wichtigen Erkenntnisse zu Naturgefahren und Klimawandel daraus erwach-sen sind. In einem anderen Beitrag geht es um ein intelligentes Rückfahrassistenzsystem, das drei entschlossene Gründer in Zu -sammenarbeit mit der Berliner Stadtreinigung entwickelt haben. Und der Überblick über die Projektkonsortien des neuen BMBF-Förderprogramms „Zwanzig20 – Partnerschaft für Innovation“ verspricht spannende und visionäre Projekte.

    Klar ist: Die ostdeutschen Regionen weisen besondere Kompe-tenzen in Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft auf. Das macht die vorliegende Ausgabe des Magazins „Unternehmen Region“ wieder einmal eindrucksvoll deutlich.

    Prof. Dr. Johanna WankaBundesministerin für Bildung und Forschung

  • P a n o r a m a

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    Lebendige Logistik in Leipzig

    Mit einer Kreativ-lounge (oben rechts) sowie einem Demo- und Werkstattbereich zieht das Logistics Living Lab Forscher und Logistiker an.

    Cooles, futuristisches Design, verbunden mit modernster Technik – so präsentiert sich am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Leipzig das brandneue „Logis tics Living Lab“. Es ist das erste in Deutschland. Hier können Logistik-Fach leute gemein-sam mit Wirtschafts infor ma ti kern ent-wickeln, entdecken und ex pe ri mentieren. Juniorprofessor Dr. André Lud wig und sein Kollege Professor Bogdan Franczyk sind die Initiatoren des lebendigen Labors. Es ist ein wichtiger Bestandteil der

    Inno Pro file-Transfer-Initiative „Logistik Ser vi ce Engineering und Management“. Hier sind alle Stationen der logistischen Kette dar ge stellt – vom Hersteller über den Spe di teur bis zum Endkunden.

    Die verschiedenen IT-Infrastrukturen aller Akteu re zu integrieren ist die große Her aus- forderung des Logistics Living Lab. Nur so können Flexibilität und Transparenz logisti-scher Prozesse sowie ein reibungsloser Warenfluss ermöglicht werden.

    Magnesium kommt!

    Der Wachstumskern TeMaKplus entwickelt spezielle Magnesiumlegierungen, die be -sonders für die Automobilindustrie immer interessanter werden. Magnesium hat ein großes Potenzial zur Gewichtsredu zierung: 20 Prozent gegenüber Aluminium und sogar bis zu 60 Prozent gegenüber Stahl. Um das von der EU verordnete Ziel zu erreichen, den CO2-Ausstoß bis 2020 auf maximal 95 Gramm pro gefahrenen Kilo meter zu redu-zieren, sind leichte Karosse rien gefragt. Bisher sind Magnesiumbauteile noch zu teuer. TeMaKplus will den Preis des Materials jedoch so stark senken, dass es auch für die Serienproduktion interessant wird. Kosten -ziel sind 6 Euro pro Kilogramm. Durch die Verarbeitung vom Coil, also vom aufgewi-ckelten Metallband, ist die Pro duktivität im

    Vergleich zu anderen Her stellungsverfahren sehr hoch. Das reduziert die Kosten. Bereits in drei bis vier Jahren sollen die ersten Audi A8 mit speziellen Magnesiumbauteilen aus-gestattet werden. Schon jetzt wurden von den Partnern des Wachstumskerns Auto-türen und Sitzrück wände als Prototypen entwickelt.

    Türöffner: Auf Basis solcher Prototypen will der Wachstumskern TeMaKplus in drei bis vier Jahren marktreife Produkte entwickeln.

    Mit Beifuß gegen Malaria

    Der Beifuß gilt hierzulande eher als Un kraut. Dabei behandeln Ärzte mit sei-nem Inhalts stoff Artemisinin Krank hei ten wie Malaria, AIDS oder auch Atem wegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Doch der Wirkstoff ist teuer. Um ihn welt weit zu vertreiben, muss er effizienter gewon-nen werden.

    Deshalb haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenz -flächenforschung (MPIKG) in Potsdam ein photochemisches Verfahren sowie ei nen neuen Reaktor entwickelt. Damit können sie Artemisinin energieeffizient und ohne Ver un reinigung produzieren. Gemeinsam mit den Wirtschafts förderern des Land krei-ses Wittenberg wollen die Potsdamer Forscher die Kom pe tenzen bündeln, die in Sachsen-Anhalt auf dem Gebiet der Pflan-zenforschung und -züchtung zu Hause sind. Das Inno vationsforum „Artemisinin“, das im Juni in Dessau stattfand, war der Beginn für den Aufbau einer Wert schöpfungs k ette – von der Saatgut ent wicklung über die Ernte bis zur Weiter verarbeitung von Artemisinin.

    Gärtner bekämpfen den Beifuß oft als Unkraut; Mediziner setzen hingegen große Hoffnungen auf ihn.

  • P a n o r a m a

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    Die 10 Zwanzig20-Projektkonsortien

    3 Dsensation

    Additiv-Generative Fertigung – Die 3-D-Revolution zur Produkt-herstellung im Digitalzeitalter

    Advanced UV for Life

    C³ – Carbon Concrete Composite

    fast – fast actuators sensors and transceivers – echtzeitfähige vernetz-te Sensor- und Aktorsysteme

    futureTEX – Zukunftsmodell für Traditionsbranchen in der vierten industriellen Revolution

    HYPOS – Hydrogen Power Storage & Solutions East Germany

    InfectControl 2020 – Neue Antiinfektionsstrategien

    RESPONSE – Partnerschaft für Inno vation in der Implantat technologie

    smart³ | materials – solutions – growth

    Unter dem Vorsitz von Matthias Kleiner (vorne links) wählte die Expertenjury aus 59 Bewerbern die zehn überzeugendsten aus.

    10 + 9 = Zwanzig20

    Die zehn Gewinner des Wettbewerbs „Zwan zig20 – Partnerschaft für Innovation“ stehen fest. Am 18. Juni stellten Bundes for -schungs ministerin Johanna Wanka und der Vor sitzen de der Expertenjury, Professor Mat thias Klei ner, die erfolgreichen Projekt-konsortien vor. Für das Programm stellt das BMBF bis 2019 bis zu 500 Millionen Euro bereit.

    „Die Zwanzig20-Konsortien nehmen ent-scheidende Zukunftsprobleme in Angriff“, sag te Wanka. „Hierdurch wird nicht nur die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit Ost deutschlands gestärkt, sondern die wis-senschaftliche, wirtschaftliche und gesell-schaftliche Entwicklung in ganz Deutsch-land.“ Der Jury-Vorsitzende und ehemalige

    Präsi dent der Deutschen Forschungsge-mein schaft Kleiner lobte das hohe Niveau der Bewer bungen: „Wir sind vom Ergebnis dieses Wett be werbs überzeugt und haben unsere Ent schei dung einvernehmlich ge -troffen. Den noch ist uns die Auswahl angesichts des ho hen Potenzials der Vorschläge nicht leicht gefallen.“ Aus die-sem Grund stellt das BMBF zusätzlich jeweils eine Million Euro für die neun weiteren Initiativen der zweiten Aus-wahlrunde bereit, die nun als „Zwanzig20 Foren“ gefördert werden. Da mit können sie weiter in die begonnene Vernetzung investieren. Eine Übersicht über die zehn Zwan zig20-Projektkonsortien finden Sie in der Übersicht links und ausführlicher unter www.ur-zwanzig20.de

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    Pflaster? Plasma!

    Zugegeben: Für die Durchschnittswunde reichen ein Pflaster und etwas Geduld nach wie vor aus. Doch chronische Wunden wie das offene Bein bedürfen einer besonderen Behandlung. Dafür haben Forscher und Unternehmen aus Greifswald und Berlin gemeinsam den kinpen MED (Bild links) entwickelt – den ersten in Deutschland zugelassenen Plasmastift. In der klinischen Zulassungsstudie zeigten sich bereits nach 14 Tagen gute Erfolge bei der Behandlung chronischer oder infizierter Wunden. Wie der kinpen MED funktioniert und was sich hinter dem Begriff „kaltes Plasma“ verbirgt, erkärt Ihnen Plasmaforscher Dr. Stephan Reuter auf Seite 48.

    http://www.ur-zwanzig20.de

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    Winzige Magnetpartikel sind mit Antikörpern versetzt. Damit fangen sie alle häufig vorkommenden Salmonellen arten ein.

  • Wir finden

    euch – schnell

    und überall

    L e b e n s m i t t e l a n a l y s e n R u n d b l i c k

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    Lebensmittelskandale schaden der Gesundheit – und dem

    Geschäft. Stich- und Routine-proben geben Sicherheit, doch Ergeb nisse sind erst nach drei

    bis fünf Tagen zu erwarten. Das dauert den Verbrau chern

    wie auch Herstellern und Händlern von Futter- und Nahrungs mitteln zu lange.

    Wissenschaftler aus Erfurt und Jena forschen derzeit nach

    Analysemethoden, die sowohl Zeit als auch Kosten sparen. Ihr

    großes Ziel ist die Diagnostik innerhalb eines Tages.

    Was geht einer Salmonellen-Jägerin durch den Kopf, wenn sie an der Einkaufstheke mit Fleisch- und Wurstwaren steht? Etwa Wimmelbilder von mikroskopisch vergrößerten Bakterien? Sabine Platz muss lachen. Sie sei da relativ entspannt, meint sie. Wohl weil sie weiß, dass in den meisten Lebensmittelproben nicht mehr drin ist als das sprichwörtlich „gesunde Maß“ an Bakterien, das unsere Abwehrkräfte stärkt. Sie weiß auch, dass die Lebensmitteldiagnostik über sehr sichere Testmethoden verfügt.

    Die promovierte Biologin arbeitet am Forschungszentrum für Medizintechnik und Biotechnologie (fzmb GmbH) in Erfurt. Was ihr die Arbeit hier so interessant macht, ist die Nähe zur Praxis, meint die Forscherin. Aus ebendieser Praxis wird ein dringendes Bedürfnis immer lauter: Die Hersteller und Händler von verderblichen Lebensmitteln fordern, dass ihre Proben schneller ausgewertet werden. „Wenn ein Fleischer erst nach drei bis vier Tagen weiß, dass seine Hackfleisch-Probe frei von Salmonellen war, nützt ihm das gar nichts mehr“, sagt die Wissenschaftlerin. Ihr Forschungsgebiet ist die „Entwicklung von Antikörper-beschichteten Magnetpartikeln zur Aufkonzen-tration von Bakterien aus Lebensmittelproben“, ein vom BMBF gefördertes Projekt. Als Laie versteht man wohl noch die einzel-nen Wörter. Welchen Sinn sie allerdings in dieser Aneinander-reihung ergeben, wird einem nicht so schnell klar.

    Um den Inhalt des Forschungsprojekts anschaulich zu demons-trieren, hat Sabine Platz eine Hackfleisch-Probe mit Salmonellen versetzt und in den Brutschrank gestellt. Es gibt Momente, da ist sie froh, nicht im Lebensmittellabor zu arbeiten. „Die Kollegen dort versichern mir zwar immer wieder, man gewöhne sich an den Geruch“, sagt sie, schüttelt aber etwas ungläubig den Kopf. Als sie aus dem Brutschrank den Beutel mit trübem Inhalt holt und öffnet, wird klar, was sie meint. Lebensmittel proben haben nach der Bebrütung einen äußerst unangenehmen Geruch. „Um festzustellen, ob tatsächlich Salmonellen in der Probe sind, muss ich die Bakterien erst einmal aus der stinkenden Brühe herausfischen“ – die Biologin erklärt, dass sie deren DNA mit der PCR-Methode (englisch Polymerase Chain Reaction) nachwei-sen kann. Bei dieser Technik werden DNA-Stücke wieder und wieder kopiert, bis so viel DNA vorhanden ist, dass man sie sehen kann.

  • R u n d b l i c k L e b e n s m i t t e l a n a l y s e n

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    Lebensmittelproben haben nach der Bebrütung einen unangenehmen Geruch. Da macht diese Tüte mit salmo -nellenversetztem Hackfleisch keine Aus nahme.

    Bei einer „Wohlfühltemperatur“ von 37 Grad Celsius sind schon nach vier bis

    sieben Stunden in einer 250-Milliliter-Lebensmittelprobe so viele Salmonellen

    gewachsen, dass sie nachgewiesen werden können.

    Verkuppelung von Antikörper und Salmonelle

    Sie versetzt jetzt den Beutelinhalt mit Magnetpartikeln, die in diesem Fall mit Antikörpern gegen alle häufig vorkommenden Salmonellenarten behaftet sind. „Antikörper und Salmonellen können sich nun binden“, kommentiert die Forscherin ihr Verkuppelungsgeschäft. Nach einer gewissen Zeit des Sich-findens taucht sie einen Stabmagneten in die Flüssigkeit und fängt mit ihm die Dreier-Gespanne aus Magnetpartikel, Anti-körper und (wenn vorhanden) Salmonelle ein. „Immuno mag ne-tische Sepa ra tion“ heißt die Methode. Die sei nicht neu, wurde aber aus Kostengründen in der Lebensmittel diagnostik bisher nicht eingesetzt, erklärt die Wissenschaftlerin: „Die herkömm-lichen Magnetpartikel sind sehr teuer und lassen sich außerdem aus fetthaltigen Massen, wie es Fleischwaren nun mal sind, schwer wieder separieren.“

    Diese beiden Stolpersteine auf dem ansonsten schnellen Weg zur Erkenntnis konnten Sabine Platz und ihre Kollegen offen-sichtlich aus dem Weg räumen. Sie entwickelten ein spezielles Beschichtungsverfahren, mit dem die magnetischen Partikel preisgünstiger hergestellt werden. „Unsere Projektpartner haben auch einen tollen Antikörper gefunden“, sagt Sabine Platz – und dass sich durch diese gelungene Kombination die für den Test nötige Vorbereitungszeit der Lebensmittelprobe enorm verkürze. Bei einer „Wohlfühltemperatur“ von 37 Grad Celsius sind schon nach vier bis sieben Stunden in einer 250-Milliliter-Lebensmittelprobe so viele Salmonellen gewachsen, dass sie nachgewiesen werden können. Und aller guten Dinge sind drei: Das Fett lässt sich von diesen Partikeln leicht entfernen. Somit könne das Ergebnis des Testes schon am Ende eines Arbeitstages vorliegen.

    Aufschlagen, trennen, quirlen – dem Dioxin auf der Spur

    Schnelligkeit – vor ebendieser Herausforderung stehen auch Dienstleistungslabore für Lebensmittel- und Futterunter-suchun gen wie die Food GmbH Jena Analytik-Consulting. „Unsere größte Aufmerksamkeit“, sagt Food-Geschäftsführer

    Dr. Bernd Giese, „erfordert der Nachweis von Dioxinen.“ Es gibt 210 verschiedene Verbindungen, die 17 giftigsten werden zu einem so genannten Toxizitätsäquivalent aufsummiert, das gesetzlich geregelt ist. Dessen zulässiger Höchstwert beträgt je nach Lebens- oder Futtermittel teilweise nur 0,75 Nanogramm pro Kilogramm.“ Nur eine winzige Spur also, die im Labor gefunden werden muss. Routinetests sind gesetzlich vorge-schrieben. Gibt es Vorfälle wie den Futtermittelskandal Anfang 2011, kommt mehr als die übliche Arbeit auf die Lebens- und Futtermitteldiagnostik zu. „Der Verbraucher hat allgemein die Vorstellung, wir nehmen eine Probe, untersuchen sie, und schon ist das Ergebnis da. Doch die Analysen erfordern derzeit noch längere Vorbereitungszeiten“, erklärt Giese und öffnet die Tür zu seinem Dioxinlabor.

    Ein Kunde hat einige Packungen Eier zur Routineuntersuchung geschickt. Aufschlagen, trennen, quirlen – die Eier werden zunächst für die Gefriertrocknung vorbereitet. „Wasser in der Matrix würde stören, weil das Pulver zur Extraktion mit einem organischen Lösungsmittel versetzt wird“, erklärt Bernd Giese und zeigt auf das Extrahiergerät. Die Flüssigkeit ist letztendlich durchsichtig klar, enthält aber Fette, Kohlenhydrate, Proteine und andere Rückstände. Alle diese organischen Substanzen müssen abgetrennt werden, weil sie die Messung beeinflussen würden. Dazu dienen die Chromatographie-Säulen – Glasrohre,

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    die mit weißem Aluminiumoxid-Pulver gefüllt sind. Am Ende der drei bis fünf Tage langen Vorbereitung stehen winzige Fläschchen. Deren Inhalt wird nun mittels hochauflösender Gaschromatographie-Massenspektrometrie, kurz GC/MS, auf Dioxin geprüft.

    Kürzere und kostengünstigere Analysezeiten

    Auf ihrer Webseite verspricht die Food GmbH ihren Kunden qualitäts- und fristgerechte Arbeit unter Einbeziehung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Da liegt eine enge Zusammen-arbeit mit der Friedrich-Schiller-Universität nahe. Food-Chef Bernd Giese und Dana Cialla von der Chemisch-Geowissenschaft-lichen Fakultät wissen gar nicht mehr so genau, wer auf wen zugegangen ist. Möglicherweise haben sich beide auf halbem Wege getroffen bei ihrer jeweiligen Suche nach schnellen und trotzdem kostengünstigen Analysemethoden. Die Wissenschaft, sprich eine junge Forschergruppe, ist seit über einem Jahr mit der Entwicklung einer Technologie beschäftigt, mit der sich im Routinenachweis auch geringste Spuren von Substanzen im wahren Wortsinne „sehen lassen“. An dieser Stelle steigt auch das Institut für Photonische Technologien mit ins Boot. QuantiSERS – Miniaturisierte Raman-Technologie heißt die InnoProfile-Transfer-Initiative, die ebenfalls vom BMBF geför-dert wird.

    Bisher werde die so genannte oberflächenverstärkte Raman-Spektroskopie (englisch surface-enhanced Raman spectroscopy, SERS) zur Untersuchung von Flüssigkeiten genutzt, erklärt die promovierte Chemikerin Dana Cialla; aber die Forschungs-gruppe sehe auch im Lebensmittelbereich viele Anwen dungs-möglich keiten. In QuantiSERS entwickelt die wissenschaftliche Arbeits gruppe eine berührungsfreie, molekularspezifische und sensitive Methode, die die GC/MS ersetzen und die Analysezeiten von Proben, wie sie die Food GmbH untersucht, erheblich ver-kürzen könnte. Die für den Futter- und Leben s mittelbereich zu entwickelnde Methode basiert auf einer enzymatischen Silber-ab scheidung zur Herstellung eines SERS-Substrates. Das besteht aus Silbernanopartikeln. Vereinfacht ausgedrückt: Würde auf diese metallischen Nanopartikel das zu prüfende Extrakt aufge-tropft und mit einem Laser bestrahlt, könnte das von der Probe gestreute Licht gemessen und ausgewertet werden. „Potenziell toleriert diese Methode weniger saubere Messlösungen. Sie könnte die Probenvorbereitungs zeiten somit deutlich verkürzen“, freut sich Bernd Giese.

    QuantiSERS soll nun bis zu seiner Marktreife weiterentwickelt werden. Der Chef des Diagnostiklabors hat eine Vision vor Augen: Analyse-Ergebnisse schon nach einem Tag! Er ist opti-mistisch. Die Wissenschaft beweist ja immer wieder: Von der Utopie zur Wirklichkeit werden die Wege immer kürzer.

    Das vom Eiweiß getrennte Eigelb wird gequirlt und dann gefriergetrocknet, damit es auf Dioxin untersucht werden kann.

    In Erfurt haben Sabine Platz und ihre Kollegen ein Beschichtungsverfahren entwickelt, mit dem sich magnetische Partikel preisgünstiger herstellen lassen.

  • R u n d b l i c k L u n g e n k r e b s - D i a g n o s t i k

    KURZ UND SCHMERZLOS

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    Ist es ein chronischer Husten? Eine Lungenentzündung? Lungen krebs? – Fragen, die mit konventionellen Unter-

    suchungsmethoden erst sehr spät eindeutig zu beant worten sind. Oft zu spät. Das Bronchialkarzinom steht, was die Zahl der

    Todesfälle bei den Krebserkrankungen betrifft, auf Platz eins. In Leipzig entwickeln Wissenschaftler derzeit den Prototyp eines Gerätes, das die Erkrankung früh,

    schnell und für den Patienten schmerzfrei erkennen soll.

    „Wenn die Lunge mit einer Salzlösung ausgespült wird, lösen sich aus den Bronchien auch Zellen, die auf den Verdacht eines Bronchialkarzinoms hin untersucht werden können“, beschreibt Dr. Jörg Lehmann eine der konventionellen Untersuchungs-methoden und muss nicht explizit erwähnen, dass diese keine angenehme ist. Auch „Spiegelung der Atemwege“ klingt nicht nach entspanntem Spaziergang. Kein Wunder, dass sich nur weni-ge Patienten freiwillig einer solchen Prozedur unterziehen, „nur“ weil etwa ein chronischer Husten abgeklärt werden soll. Jörg Lehmann ist Biologe und Spezialist für Immunologie am Fraun-hofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie (IZI) Leipzig. Er meint, er selbst sei keine Ausnahme, wenn es um menschliche Verdrängungstaktiken gehe: Wird schon nicht so schlimm sein ...

    Allerdings könnte es schon im Husten-Stadium zu spät sein. Ein Bronchialkarzinom zeigt zunächst keine typischen Symptome. Es schmerzt nicht und ist beim Röntgen nicht zweifelsfrei zu identifizieren. „Eine Frühdiagnose ist nicht möglich“, sagt Leh-mann, drückt sich aber gleich präziser aus: „Eine Frühdia gnose ist derzeit noch nicht möglich.“ Seine Arbeitsgruppe entwickelt innerhalb der vom BMBF geförderten „WK Potenzial“-Initiative „Bronchialkarzinom“ gerade den Prototyp eines Gerätes, das zur routinemäßigen Anwendung in Arztpraxen kommen soll.

    Zugegeben: Die Aussicht, beim Arzt in ein Röhrchen zu pusten und das Atemkondensat eben mal nebenbei messen zu lassen,

    klingt doch sehr viel sympathischer als die herkömmlichen Diagnostikverfahren. Und es birgt ein großes Potenzial an frei-williger Untersuchungsbereitschaft in sich.

    Biomarker sind Sensoren für gefährliche Krankheiten

    Jörg Lehmann und sein Team setzen technisch um, was er und seine Forscherkollegen in vorangegangenen Projektphasen erfasst und entwickelt haben. Lehmann spricht von den so genann ten Proteinbiomarkern; von Eiweißen, deren Vorhan d en- sein das Entstehen eines Tumors anzeigt. Im Atem kon densat könne man solche Biomarker finden und messen, sagt Lehmann und stellt den Vergleich zur Atemgasanalyse her. „Im Gas sind keine Proteine enthalten. Hier werden Ionen und kleine flüch-tige organische Moleküle gemessen“, erklärt der Immunologe. Bei der Atemgas- ebenso wie bei der Atemkondensat diagnostik, werde anhand des gemessenen Profils von Merkmalen letztlich in „gesund“ und „krank“ unterschieden.

    Jörg Lehmann (oben links) und sein Team (unten rechts) entwickeln am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie IZI ein neuartiges Gerät, das Lungen-krebs schnell und schmerzfrei erkennen soll. Dafür züchten sie im Labor hoch-spezifische Antikörper, die als Fängermoleküle fungieren (oben rechts) und später einmal zuverlässig Biomarker aus dem Atemkondensat des Patienten filtern sollen. Bis dahin sind noch eine Reihe von Funktionstests nötig; hier wird ein Röhrchen mit Atemkondensat an der Stelle platziert, an der das gebrauchsfähige Gerät später das Atemkondensat des Patienten misst (unten links).

  • L u n g e n k r e b s - D i a g n o s t i k R u n d b l i c k

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    R u n d b l i c k L u n g e n k r e b s - D i a g n o s t i k

    „Die Forschung hat ein Interesse daran, herauszufinden, welche Methode uns näher ans Ziel der Frühdiagnose bringt. Wir ver-gleichen die Methoden und schauen, wo es Synergien gibt, wo sie sich ergänzen“, sagt der Wissenschaftler und lenkt die Aufmerksamkeit wieder auf sein Forschungsprojekt, das sich mit der Analyse des Atemkondensats befasst.

    In der Kondensflüssigkeit also schwimmen die Biomarker. Muss man das Kondensat nur sammeln und herausfinden, ob die Proteine darin krankmachende Botschaften tragen? Natürlich solle man sich das nicht so einfach vorstellen, meint Lehmann. Erst durch viele vergleichende Versuche mit unzähligen Proben könnten verlässliche Merkmale erfasst werden, die etwa auf ein Bronchialkarzinom hinweisen. „Über 400 Patienten mit unter-schiedlichen Typen von Bronchialkarzinomen und Entzündun-gen der Lunge mussten als Probenspender gefunden werden, um sichere Unterscheidungsmerkmale zwischen einer Krebs-erkrankung und einer chronischen Lungenentzündung zu fin-den. Das ist eine große Herausforderung“, betont der Biologe. Und: „Wir untersuchen ebenso die Risikogruppe der Raucher, um frühzeitig die Krebsmarker zu finden!“

    Wenn das Atemkondensat-Messgerät einmal zuverlässig funk-tioniert und der Arzt mit ihm Routineuntersuchungen durch-führt, könnte schon nach zirka zehn Minuten ein aussagekräfti-ger Befund vorliegen. Dann wüsste zum Beispiel ein Raucher, ob sein Raucherhusten von einer chronischen Entzündung der Lunge herrührt oder ob möglicherweise schon das Frühstadium von Lungenkrebs die Ursache ist.

    Fängermoleküle nehmen Proteine in die Klemme

    Doch bis dahin liegen noch einige Wege der Erkenntnis vor den Wissenschaftlern. Ein Weg führt sie immer wieder in einen fenster losen Raum. Mehrere Versuche gab es hier schon, um zu testen, ob der Prototyp in der Lage ist „zu messen, was gemessen werden soll“, sagt Lehmann. Auf dem Tisch liegen drei Geräte-teile, die über Kabel miteinander verbunden sind und sich spä-ter im Inneren eines Gehäuses befinden werden. Und was genau sollen sie messen? Projektleiter Lehmann erklärt das so: „Zwei Antikörper, die als Fängermoleküle fungieren, nehmen ein Proteinbiomarkermolekül, wie wir es suchen, in die Klemme. Das Protein zwischen den Antikörpern bildet eine Art Brücke, die von einem Laser gemessen wird. Das Lichtsignal wird dann

    ausgewertet.“ Intelligente Antikörper, die genau wissen, was sie fangen sollen? „Unser Immunsystem stellt seine Werkzeuge ja selber her, um Krankheiten abzuwehren. Für unsere Forschung aber haben wir ganz bestimmte hochspezifische Antikörper entwickelt und produzieren sie in unserem Labor“, sagt Jörg Leh mann. In das „wir“ sind die Partner des Fraunhofer-Instituts für Zell therapie und Immunologie eingeschlossen, das Universi-täts klinikum Leipzig und die Medizinische Fakultät der Universität Leipzig. In persona bringen die Biotechnologin Dr. Franka Kahlen- berg und Professor Ulrich Sack, Facharzt für Immunologie und Teilprojektleiter des Verbund projekts, ihre Erfahrungen in das Forschungsprojekt ein.

    Gerät erkennt und misst Lichtsignale

    „Ulrich Sack und ich kennen uns schon seit über 20 Jahren“, freut sich Jörg Lehmann, denn nicht zuletzt darum funktioniert die Zusammenarbeit so gut. Seine beiden Kollegen warten schon auf ihn – im besagten fensterlosen Raum. Mit dabei ist Silvio Geue, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem der Industriepartner des Projekts. Der Systemtechnikhersteller GESA Automation in Teuchern hat für den Prototyp die elektro-nischen Bauteile und die Software zur Erfassung und Verarbei-tung der Lichtsignale entwickelt. „Im Ergebnis des letzten Ver suchs“, sagt Silvio Geue, „haben wir einen anderen Laser ein-gebaut und einen zusätzlichen Lichtfilter.“

    Nun heißt es Tür zu und Licht aus. In der Versuchsumgebung muss es so dunkel sein wie später im Inneren des Gerätes. Da braucht es im wahren Wortsinne Fingerspitzengefühl, um das mit einem präparierten Kondensat gefüllte Röhrchen an die richtige Stelle im Geräteteil zu bugsieren. Ein schwaches hell-grünes Leuchten ist zu sehen. Die Antikörper haben also die Biomarker eingefangen. Die spannende Frage der Wissen schaft-ler ist nun: Hat das Gerät diesen Vorgang auch gemessen?

    Licht wieder an: Auf dem Laptop von Silvio Geue zeigen sich Zahlenkolonnen. Aus den Gesichtern der Forscher weicht die Anspannung. „Der Messvorgang scheint geglückt.“ Zu mehr Euphorie lässt sich Projektleiter Lehmann nicht hinreißen, bevor er die Übersetzung der Zahlen in auswertbare Kurven gesehen hat. An solchen Kurven könnte auch später der Arzt den Befund ablesen – ohne viel Aufwand für ihn und den Patien ten.

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    e i n g e O R Tn e t

    Die Unternehmen-Region-Initiativen in dieser Ausgabe

    MECKLENBURG-VORPOMMERN

    SACHSEN-ANHALT

    BERLIN

    BRANDENBURG

    SACHSENTHÜRINGEN

    PROGRESS → S. 32–43 

    Chemnitz

    Leipzig

    Weimar

    Jena

    Dessau

    Potsdam

    Greifswaldplasmatis → S. 48Campus PlasmaMed → S. 5, 48

          

    Wachstumskern

    WK Potenzial

    Zentrum für Innovationskompetenz

    InnoProle Transfer

    InnoProle

    ForMaT

    Spitzenforschung und Innovation

    Innovationsforum

    AutoNOMOS GmbH → S. 14–17   

    TeMaKplus → S. 4

    Bronchialkarzinom → S. 10–12Logistik Service Engineering und Management → S. 4ICCAS → S. 46–47

    ultra optics → S. 26–31QuantiSERS – Miniaturisierte Raman-Technologie → S. 6–9

    Intelligentes Lernen → S. 18-25

       

    Artemisinin → S. 4

  • E i n b l i c k A u t o N O M O S G m b H

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    So sollte man sich einem Müllfahrzeug nur nähern, wenn oben zwei Metallkästen angebracht sind. Sie sind Teil des intelligenten Rückfahr Assistenz-Systems RAS, das Patrick Vogel, Tinosch Ganjineh und Michael Schnürmacher (rechte Seite, v. l. n. r.) entwickelt haben.

    So sollte man sich einem Müllfahrzeug nur nähern, wenn oben zwei Metallkästen angebracht sind. Sie sind Teil des intelligenten Rückfahr Assistenz-Systems RAS, das Patrick Vogel, Tinosch Ganjineh und Michael Schnürmacher (rechte Seite, v. l. n. r.) entwickelt haben.

    Wo Müllabfuhr

  • und Forscher Hand in Hand arbeitenA u t o N O M O S G m b H E i n b l i c k

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    Wo Müllabfuhr

    Noch immer haben sie schlaflose Nächte, wenn sie an die Verantwortung und die

    Trag weite denken, die ihre Ausgrün dung mit sich gebracht hat. Aber Patrick Vogel,

    Tinosch Ganjineh und Michael Schnür-macher sind sich sicher, das Richtige getan zu haben. Das Richtige, das ist in dem Fall,

    mit ihrer AutoNOMOS GmbH und den aktuellsten Methoden der Robotik-

    forschung das neuartige RückfahrAssistenzSystem (RAS) für die

    Berliner Stadt reinigungs betriebe (BSR) zu entwickeln, das Unfälle beim

    Rückwärtsfahren verhindern soll.

    Vogel, Ganjineh und Schnürmacher haben Teamgeist, Lust auf Neues, Selbst-bewusstsein, verlässliche Partner und ein Projekt, das die Phantasie anregt, denn es geht um Autos. „Ich wollte einen Job, der mir Spaß macht und der Ge stal tungs -möglichkeiten bietet“, er zählt Patrick Vo gel, Gründungsgesell schafter und kauf männischer Geschäfts führer der Auto NOMOS GmbH. Selbst als BWLer, mit viel Theorie im Hinter kopf, glaubt er, könne man die praktische Gründungs-erfahrung durch nichts ersetzen. „Meine Praktika habe ich in der IT-Industrie ge -macht, und das technische Interesse war sowieso schon immer da.“

    Auch Gründer Tinosch Ganjineh legte bereits während seines Studiums an der Freien Universität Berlin seinen Schwer- punkt auf autonome Fahrzeuge und Robotik und vertiefte sein Wissen als technischer Projektleiter der Auto-NOMOS Labs, die durch das BMBF-Programm ForMaT gefördert wurden. „Als Wissen schaftler befasse ich mich mit der Vision des autonomen Fahrens; nun geht es mir aber zunehmend darum, die Kernaussagen aus der For schung zu extrahieren und in der Wirtschaft anzu-wenden.“

  • E i n b l i c k A u t o N O M O S G m b H

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    Der Dritte im Bunde – Michael Schnürmacher – ist wie Ganjineh Informatiker und hat ebenfalls an der FU studiert. „Ich war im Innovationslabor AutoNOMOS zuständig für die Umfeld-erkennung mittels 3-D-Sensorik. Da ging es um alle Sensoren, die Abstands- bzw. Tiefeninformationen verarbeiten.“ Während des BMBF-Projekts hat er sich mit der Evaluation der Sensoren beschäftigt. „Er ist darin der absolute technische Experte“, erklärt Ganjineh, „und gemeinsam bereiten wir diese Sensor-Informationen für den Fahrer auf.“

    Die AutoNOMOS GmbH haben die drei jungen Männer zusam-men mit ihrem Mentor, Professor Raúl Rojas, der die Arbeits-gruppe „Intelligente Systeme und Robotik“ am Fachbereich Mathematik und Informatik der Freien Universität leitet, im Frühjahr 2012 gegründet.

    Von Robotern zu Müllfahrzeugen

    Ein bisschen Glück muss man beim Ausgründen auch haben, zum Beispiel beim Kontaktemachen. „Als wir den Antrag für das ForMaT-Projekt geschrieben haben, bin ich auf die BSR zuge-gangen, denn wir wollten eine selbstfahrende Kehrmaschine bauen, die autonom die Straßen fegt“, erinnert sich der 33-jäh-rige Ganjineh. Die Berliner Stadtreinigung fand das zwar gut, gab uns aber zu verstehen, dass der Schuh ganz woanders drückt. Nämlich da, wo die Unfälle beim Rückwärtsfahren pas-sieren.“ Tatsächlich vergeht kein Jahr, in dem nicht irgendwo in Deutschland Müllwerker oder Passanten von den 26 Tonnen

    schweren Abfallsammelfahrzeugen überrollt werden. Warum gibt es also nicht schon längst, ähnlich wie für Pkw, ein Assistenzsystem, das beim Rückwärtsfahren hilft? „Das ist nicht so einfach“, erklärt Vogel. „Die Herausforderung liegt darin, ein System zu schaffen, das dem Fahrer hilft, sofort zu erkennen, wo die Gefahr liegt, aber bei einer Fehlwarnung den straffen Arbeitsablauf auch nicht weiter aufhält. Bei Müllfahrzeugen geht es ja gerade darum, dass Menschen hinter dem Fahrzeug arbeiten müssen!“

    Doch im Endeffekt geht es auch um eine breite Lösung für den Logistikbereich und andere große Nutzfahrzeuge. Für Pkw haben die jungen Unternehmer bereits eine weitere Idee, wie Vogel erklärt: „Wir wollen ein günstiges Abstandswarnsystem-Nachrüst-Kit bauen und damit den Gebrauchtwagenmarkt ansprechen.“ Bisher sind solche frontalen Warnsysteme nur in Neuwagen und der Oberklasse erhältlich, bei Klein- und Gebrauchtwagen aber meist gar nicht vorhanden. Das „EXIST Forschungstransfer“-Projekt VisKOS arbeitet bereits an der Ent-wicklung eines solchen Kits und soll mittelfristig zu einer wei-teren Ausgründung aus der Freien Universität führen.

    Wir übernehmen selbst das Steuer

    Ausgründen ist ja schön und gut, aber warum? „Ganz einfach: der absolute Wille, Dinge bewegen zu können“, sagt Vogel. Gedacht, gesagt, getan. „Innerhalb der Förderungs-Laufzeit haben wir uns stark auf wissenschaftliche Themen konzent-

    Die aufbereiteten Bildinformationen werden auf einen Monitor in der Fahrerkabine übertragen (links). Farben und Töne warnen den Fahrer, wenn sich Personen in einem gefährlichen Bereich hinter dem Müllfahrzeug befinden (rechts).

  • A u t o N O M O S G m b H E i n b l i c k

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    riert, die visionärer Art waren“, erinnert er sich. „Uns war aber klar, dass das selbstfahrende Auto, an dem wir im Rahmen des ForMaT-Projekts geforscht haben, nicht unser ’Produkt‘ ist und auch heute der Markt noch nicht dafür bereit ist“, lächelt er. „Wir sind uns sicher, dass solche Dinge irgendwann möglich sind. Aber für eine Ausgründung ist es nicht genug, nur eine Vision zu haben“, sagt Ganjineh. „Da müssen Fahrzeughersteller und große Unternehmen ran“, glaubt Vogel, „und die werden natürlich mit Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Ich denke, die deutschen Unternehmen sind offen für unseren Input.“ Der 31-jährige Michael Schnürmacher ergänzt: „In der Lehre wird es spezielle Angebote für Studierende und spezielle Forschungs-themen geben. Für uns als Unternehmer ist es wichtig, dass wir etwas zurückgeben – das heißt, praxisorientierte Abschluss-arbeiten anbieten und geeigneten Leuten direkt nach dem Stu - di um eine Perspektive eröffnen.“

    Doppelte Stereo-Vision: Zwei Kameras überwachen zwei Gründer – und umgekehrt.

    Doppelte Stereo-Vision: Zwei Kameras überwachen zwei Gründer – und umgekehrt.

    Einer für alle, alle für einen

    Nach der Projekt-Laufzeit war erst mal das Geld weg, viele Mitarbeiter mussten sich entscheiden, ob sie eine wissenschaftli-che Karriere einschlagen oder in ein Unternehmen gehen wollen. „Unsere Entwickler sind sehr gefragt, denn in dem aufstrebenden Gebiet der Automotive-Software gibt es nicht allzu viele Informatiker, die mit so viel Praxiserfahrung von der Uni kom-men“, erklärt Vogel. Und weiter: „Nach dem ForMaT-Projekt mussten wir auf einige gute Programmierer verzichten, hatten dann aber doch einen Teamspirit zu bieten, der viele überzeugt hat, die Ideen mit uns weiterzutragen. Wir haben uns während der „ForMaT“-Zeit ja schon damit beschäftigt, welche Sensoren denn grundsätzlich dazu fähig sind, konkrete Probleme zu lösen.“

    Und so funktioniert RAS: Aus den Daten zweier versetzter Kameras können – ähnlich wie beim räumlichen Sehen des Menschen – Abstände zu Objekten berechnet werden. Dieses Verfahren nennt sich „Stereo-Vision“. Nachdem eine komplexe Software die Bilder Bit für Bit in Echtzeit ausgewertet hat, stellt das System dem Fahrer die aufgearbeiteten Bildinformationen zur Verfügung: Warnsignale und deutliche Rotfärbung auf einem Monitor in der Fahrerkabine weisen ihn dann eindeutig auf Objekte in der definierten Gefahrenzone hin. „Und da unse-re Computer-Vision-Abteilung damals viele Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt hatte, war es wichtig, einige erprobte Mitarbeiter aus dem ehemaligen ForMaT-Projekt zu gewinnen“, erinnert Vogel sich erleichtert. Es wurde überlegt, wie man eine Idee zum Produkt machen kann, und die BSR hat das Vorhaben in einer achtmonatigen Konzeptphase finanziert. „Mit dem Ergebnis, dass wir nach etwa einem Jahr ein demonstrations- fähiges Muster vorstellen konnten“, erzählt der 34-Jährige.

    Team-Spirit und schlaflose Nächte

    Die drei Männer sind gleichberechtigte Partner, „und der Professor ist unser unverzichtbarer Mentor. Und ein wichtiger Kontakter“, betont Vogel. Ja, schlaflose Nächte habe er nach wie vor: „Das ist momentan ein sehr spannender Prozess; gerade weil die Verantwortung für die Mitarbeiter da ist. Wir haben jetzt fünf Festangestellte – leider keine weiblichen Mitarbeiter, das würden wir gerne ändern. Wir sind sehr froh, dass wir die Finanzierung der Infrastruktur für das nächste Jahr mit der Investitionsbank Berlin und einem Business Angel gesichert haben.“ Das Team wächst, und der Zusammenhalt bleibt mit das Wichtigste, denn bei aller Herausforderung macht es täglich wieder Spaß. Und die Strategie, sich auf Nischenmärkte zu kon-zentrieren, scheint die richtige zu sein. „Man muss es dann eben auch machen“, fasst Vogel zusammen.

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    Karl Beucke fühlt sich wohl in den Dachateliers, „wo die Studenten ihre Modelle bauen und es immer so unordentlich ist. Das lebt!“, findet der Rektor der Bau haus-Univer si-tät Weimar.

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    Das ExperimentGanze sechs Jahre ertrugen sich das Bauhaus und seine Geburts-stadt Weimar. Erst danach stieg das Bauhaus zur wichtigsten Architektur- und Designschule des 20. Jahrhunderts auf. Kann es funktionieren, wenn sich die Bauhaus-Universität Weimar heute auf diese Episode beruft?

    Walter Gropius ist erleichtert. Morgen ist der 1. April 1925, sein erster Arbeitstag als Direktor des Staatlichen Bauhauses in Dessau. Unvermeidlich schien der Umzug aus Weimar zuletzt. Schon seit der Gründung im Jahr 1919 gärte es in der konservativen Bevölkerung Weimars: Die als links geltende Gesinnung der Bau-häusler, ihre Verbindungen zur esoterischen Mazdaznan-Lehre, der obligatorische Vegetarismus, das Abschneiden aller histori-schen Zöpfe und ihr radikal experimenteller Ansatz taten ihr Übriges. Nein, es ging nicht mehr weiter in Weimar, da ist sich Gropius sicher. Den Ausschlag gab letztendlich die Entscheidung der seit 1924 regierenden DVP, den Bauhaus-Etat um die Hälfte zusam-menzukürzen. In Dessau lockten hingegen eine stabile sozial-demokratische Mehrheit und die Förderung des Flugzeug bauers Junkers. So geht Walter Gropius voller Vorfreude nach Dessau. Doch eine kleine – aber folgenschwere – Gemeinheit will er sich nicht ver- kneifen: Den klangvollen Namen „Bauhaus“ nimmt er mit – und untersagt Weimar gerichtlich jede Nutzung …

    150 Jahre – 12 Namenswechsel

    „Die Umbenennung in Bauhaus-Universität Weimar war eine folgerichtige Entscheidung“, sagt Rektor Karl Beucke. 71 Jahre nachdem Gropius und seine Mitstreiter den Namen nach Dessau entführt hatten, kehrte er 1996 wieder zurück an seine Geburtsstätte. Geht es nach Karl Beucke, dann war es das jetzt endlich mit den Umbenennungen: Nicht weniger als zwölf Mal hat die Einrichtung in ihrer 150-jährigen, turbulenten Geschichte ihren Namen geändert – und mindestens ebenso oft ihre Ausrichtung: mal Kunstschule, mal Bauhochschule, mal Hoch-schule für Architektur und Bauwesen. „Seit 1996 haben wir nicht nur einen Namen, der zu uns passt, sondern endlich auch ein

    zukunftsfähiges fachliches Profil“, ist Beucke sich sicher. „Wir sind eine zeitgemäße, themenbezogene Hochschule. Als Bauhaus-Universität Weimar bauen und gestalten wir die Räume, in denen wir leben.“

    Einer dieser modernen Baumeister ist Bernd Rudolf, Dekan der Fakultät Architektur. „Das historische Bauhaus ist ja nun Geschichte“, sagt er, „da ist nichts Neues mehr zu erwarten.“ Doch welche Rolle spielt das Bauhaus-Erbe heute für die Forschung und Lehre? „Wichtig ist es, das magische Moment des Bauhauses wachzuhalten“, ist Rudolf überzeugt, „und das bedeu-tet in erster Linie, kreativ und am Puls der Zeit zu operieren.“

    Am Puls der Zeit sieht Rudolf die Hochschule auch als Mit-initiator und Impulsgeber der Internationalen Bauausstellung IBA-Thüringen. Unter dem Arbeitstitel „Wandel wird Kultur-landschaft“ will die IBA-Thüringen bis 2023 u. a. Konzepte für den nachhaltigen Umgang mit demographischen und energeti-schen Wandlungsprozessen anbieten. „Das Experiment und seine Evaluierung sind das methodische Rückgrat in diesem Prozess“, erklärt Rudolf.

    Gepresstes Stroh für Addis Abeba

    Das Experiment: Es ist eine Methode, die das Staatliche Bauhaus in Weimar prägte und auf die man an der Bauhaus-Universität fast an jeder Ecke stößt – zum Beispiel in Form des 27 Tonnen schweren Experimentalbaus „x.stahl“, den auch Studenten als Forschungsplattform für innovative Bauteile nutzen; oder auch 5.300 Kilometer Luftlinie südöstlich von Weimar. Mitten auf dem Campus der Universität Addis Abeba steht eine silbrig

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    Ob in den Werkstätten (unten links), in den Dachateliers (Mitte links) oder im Freien (oben links): An der Bauhaus-Universität Weimar wird entworfen, gesägt und gebastelt. Davon überzeugt man sich am besten bei der jährlichen „summaery“, die vier Tage lang die besten Arbeiten des Studienjahres zeigt.

    glänzende, zweistöckige Hütte, die es in sich hat: „Die Wand- ele mente bestehen aus Strohtafeln, die ohne Klebemittel gepresst werden“, erläutert Rudolf das Projekt, das der Deutsche Akade-mi sche Austauschdienst (DAAD) im Rahmen des Programms „Welcome to Africa“ fördert. „Für die wasserdichte Außenhülle experimentieren die Studierenden mit verschiedenen recycelten Materialien. Während sich Gäste der Hochschule über die zentral gelegene Herberge freuen, richten die Weimarer ihren Blick auf die Brennpunkte der äthiopischen Hauptstadt – die Armen sied-lungen: „Die Mehrparteienhäuser eines staatlichen Baupro gram-mes ignorieren weitgehend die gewachsenen Sozialstruk turen“, erläutert Rudolf. Deshalb tüfteln Weimarer Wissen schaftler und Studen ten gemeinsam mit ihren äthiopischen Kollegen an intel-ligenten modularen Systemen für zweistöckige Familienhäuser, die die späteren Bewohner einmal selbst errichten sollen.

    Bernd Rudolf freut sich über die engen Beziehungen nach Äthiopien. Die ständige Präsenz von Weimarer Wissenschaftlern und Studierenden in Addis Abeba; äthiopische Studenten, die für Workshops nach Thüringen kommen; das Institut für expe-

    rimentelle Architektur, das als grenzüberschreitendes Projekt gerade in Weimar und Addis Abeba zeitgleich entsteht; dazu die guten Kontakte in viele EU-Staaten, nach Ostasien und Süd-amerika: All dies nährt den internationalen Ruf der Fakultät Architektur, der für eine weltweit ungebrochene Nachfrage bei den Studierenden nach diesem experimentellen Denkraum sorgt.

    Auf allen Ebenen zur „Internationalen Hochschule 2011“

    Jeder vierte Architekturstudent in Weimar hat einen auslän-dischen Pass. An der gesamten Bauhaus-Universität liegt der Ausländeranteil bei 18 Prozent – und damit weit über dem Bundes- und Landesschnitt von 12 bzw. 7 Prozent.

    180 Hochschulen zählt die Bauhaus-Universität weltweit zu ihren Partnern. „Aber Internationalität geht bei uns noch weit über die Statistiken hinaus“, sagt Dr. Muriel Helbig. Der Dezer-nentin für internationale Beziehungen ist wichtig, dass all diese internationalen Partnerschaften mit Leben erfüllt werden – „und wenn sich pro Partnerhochschule nur ein einziger Student im

  • B a u h a u s - U n i v e r s i t ä t W e i m a r E i n b l i c k

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    Jahr entscheidet.“ Die meisten Beziehungen sind freilich deutlich enger, etwa zur Universität im amerikanischen San Diego, der staatlichen Bauuniversität in Moskau und der Tongji Universität in Shanghai. Bis 2016 fördert der Deutsche Akade mische Austauschdienst (DAAD) mit rund einer Million Euro strategi-sche Partnerschaften zwischen Weimar und diesen drei Hoch-schulen im Spannungsfeld von Kunst, Design und Wissen schaft; etwa für gemeinsame Studiengänge oder Forschungs vorhaben.

    Vor zwei Jahren kürten der DAAD und der Stifterverband der Deutschen Wissenschaft die Bauhaus-Universität Weimar zur „Internationalen Hochschule 2011“. Auszeichnungswürdig sei die internationale Dimension der Weimarer Lehre, die neben den Partnerschaften etwa Austauschprogramme, Sprachan - ge bote oder die Einbindung internationaler Gastdozenten umfasst. Alles Argumente, die auch die 27 Mitbewerber anführ-ten – mit einem Unterschied: „Bei uns gibt es auf allen Ebenen engagierte und begeisterte Mitstreiter“, sagt Helbig, „von der Leitung über die Professoren bis zu den Studierenden. Und das macht unsere Universität in Deutschland so besonders!“

    Eine dieser Arbeiten ist die Schlemmerschaukel „TAKE.LAGE.TAPAS.“. Die von Architektur-Dekan Bernd Rudolf (rechts) betreute Projektgruppe hat sie in den 27 Tonnen schweren Experimentalbau „x.stahl“ integriert (Mitte).

    Delikatessen und diebische Elstern

    Sogar weltweit einzigartig ist der Name, den sich die Gründer-werk statt der Bauhaus-Universität gegeben hat. Das „neudeli“ ging 2001 aus einem Projekt hervor, in dem Studenten einen ehemaligen Feinkostladen mit „neuen Delikatessen“ wiederbe-leben wollten. Seitdem hat sich das neudeli zu einer experimen-tellen Werkstatt entwickelt, die ehemalige Schützlinge mit einem „Brutkasten“, dem „guten Onkel“ oder einem „Wasserhahn, der unter zu hohem Druck steht“, assoziieren. „Wir ermutigen jeden, der mit einer neuen Idee zu uns kommt, erst einmal einen Prototyp zu bauen oder zumindest zu zeichnen“, erklärt die neudeli-Leiterin Christiane Kilian. „Entwerfen, verwerfen, Neues einfließen lassen“ – das mache das neudeli aus.

    Diese ganz eigene Dynamik provozieren Kilian und ihre zwei Kolleginnen unter anderem, indem erfolgreiche Gründer an Beratungsgesprächen teilnehmen – oder auch Teile von Lehr ver-anstaltungen halten. Denn als eines von wenigen Gründer zen-tren ist das neudeli an eine Professur (für Medienmanagement)

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    angedockt und neben der Beratung auch in Forschung und Lehre eingebunden. Im Wintersemester 2013/2014 wird dann sogar eine eigene Professur für Innovations- und Kreativ-mana ge ment eingerichtet, die betriebswirtschaftliche und künst lerisch-kreative Prozesse verschmelzen soll. Denn trotz aller Ex pe ri mentierfreudigkeit gilt auch in Weimar: „Wenn es an den Businessplan geht, gibt es bei uns klassisches Coaching“, sagt Kilian. 17 Ausgründungen entstanden auf diese Weise im vergangenen Jahr. „Bei der Einwerbung von EXIST-Gründer-stipendien haben wir bislang sogar eine Erfolgsquote von 100 Prozent“, freut sich Kilian.

    Es ist ein Erfolg, an dem seit April auch Martin Potthast teilhat. Mit Unterstützung des neudeli, eines EXIST-Stipendiums und von vier Studenten will der promovierte Informatiker „Picapica“ bis zur Marktreife entwickeln. Für ihre Software zur Plagiats-erkennung haben sich die Programmierer den ornithologischen Namen der diebischen Elster geborgt; doch der Rest ist Eigenleistung: „Wir entwickeln Algorithmen, die dem Menschen gleich und kostengünstig Anfragen an Suchmaschinen formu-lieren“, erläutert Potthast – „und auf diese Weise nach seman-tisch ähnlichen Dokumenten suchen.“ Nach erfolgreicher Dokumentensuche visualisiert das Programm Auffälligkeiten, zum Beispiel durch farblich markierte Übereinstimmungen und Diagramme. „Damit unterstützt Picapica den Anwender bei der Einschätzung kritischer Stellen“, sagt Potthast, „und ermög-licht es so, schnelle und zuverlässige Entscheidungen über Plagia te zu treffen.“

    Fantastische 3-D-Welten

    Picapica ging aus der InnoProfile-Initiative „Intelligentes Lernen“ hervor, die an der Fakultät für Medien angesiedelt ist. Wer die Mitarbeiter der von Dr. Matthias Hagen geleiteten Nachwuchsforschungsgruppe sucht, findet sich bisweilen im Virtual-Reality-Labor wieder – und die Nachwuchsforscher ges-tikulierend vor einer 15 Quadratmeter großen Leinwand. „Schauen Sie mal hier in den Zylinder!“, fordern Andre Kunert und Alexander Kulik den Besucher auf. Wer eine der eigens ent-wickelten Shutterbrillen aufsetzt, taucht ein in eine virtuelle dreidimensionale Welt: Mitten im Raum schwebt ein FIAT-Motor samt Getriebe, den man umrunden oder mit virtuellen Werkzeugen bearbeiten kann. Mit einer Art Handkamera kann man das Triebwerk an jeder beliebigen Stelle auseinander-schneiden; etwa auf Höhe der Zylinder. Den zweidimensionalen Ausschnitt, der über der Kamera schwebt, kann man dann zu einem dreidimensional drehbaren Würfel verwandeln oder auch bis in kleinste Strukturen hinein vergrößern. Beindruckend, doch das eigentliche Highlight kommt erst noch: „Wir sind zur-zeit die weltweit Einzigen, die sechs Nutzern gleichzeitig stereo-skopisches Sehen mit einer individuellen Perspektive ermög- lichen können.“ Sechs Personen können den dreidimensionalen Motor also gemeinsam und von einer jeweils anderen Position erleben – ohne jede Verzerrung oder Überlagerung.

    Diese fantastischen 3-D-Welten basieren auf Infrarotsensoren, die jede Bewegung der Personen und virtuellen Werkzeuge im Raum erfassen, sowie zwölf Projektoren hinter der Leinwand.

    Kommen noch 3-D-Tiefen kameras und eine zweite Lein wand ins Spiel, wird sogar Tele-prä senz möglich. Was nach esoterischer Spielerei klingt, könnte in Zukunft etwa Archi tektur bespre chungen re vo lutionie ren: Acht Leute an zwei verschiedenen Orten schlendern gemeinsam durch virtuelle Räume, sehen dabei dieselben Dinge – oder stehen sich lebensgroß im Ge spräch gegen-über. Noch ist das Gegen über etwas pixelig, doch bessere Sensoren werden schon bald mehr Tiefenschärfe bringen. „In fünf Jahren könnte die Techno logie marktreif sein“, prog-nostiziert Nach wuchs forscher Kulik.

    Der leicht pixelige Herr im roten Hemd steht in Wirklich-keit vor einer zweiten Leinwand im Weimarer Virtual-Reality-Labor. In Zukunft soll Telepräsenz aber gemein-same virtuelle Architekturbegehungen über Tausende von Kilometern ermöglichen.

  • 23

    Spitzenforschung mit Studenten

    Ob Plagiate, für deren Verständnis die Weimarer schon mal eine eigene Suchmaschine mit 500 Millionen Dokumenten program-mieren, oder die Telepräsenz, bei der rund 600 Megabyte Daten in der Sekunde übertragen werden müssen: „Bei uns geht es immer um die Analyse von Big Data“, sagt Benno Stein, der zusammen mit Bernd Fröhlich zu den Visionären hinter der InnoProfile-Initiative „Intelligentes Lernen“ zählt. Ihre Lehr stühle für „Web Technology and Information Systems“ sowie „Systeme der Virtuellen Realität“ bestätigen den zweiten Teil des inoffiziellen Mottos, das Rektor Karl Beucke für die Bauhaus-Universität aus-gegeben hat: „Experiment und Exzellenz“ . „Was wir hier tun, machen wir so gut wie die Besten der Welt“, sagt Stein. Deshalb mussten sie auch nicht lange nach Firmen suchen, die die neue Stiftungsprofessur unterstützen wollen: „Wenn die Förderung als InnoProfile-Transfer klappt“, sagt Stein zuversichtlich, „werden wir im Wintersemester 2013/2014 deutschlandweit die erste Professur für Big Data Analytics haben.“

    Fast zeitgleich soll auch das „Digital Bauhaus Lab“ fertig werden, „das wir ohne InnoProfile vielleicht gar nicht geschafft hätten“, wie Benno Stein sagt. Beim Blick aus seinem Bürofenster auf die Großbaustelle gerät er ins Schwärmen: „Doppelböden, ein eige-nes Rechenzentrum, extra hohe Decken …“ Rund ein Drittel der 7,5-Millionen-Euro-Investition fließt in die Computer- und Displaytechnik, die Informatiker, Bauingenieure, Gestalter und Architekten gemeinsam nutzen werden: um intelligente Eingabe-geräte zu entwickeln oder virtuelle Baustellen zu entwerfen. Doch profitiert davon auch der einfache Student? „Wir binden vor allem die Master-Studenten sehr stark in Forschung ein“, erklärt Stein. „Der 3-D-Lernraum etwa wäre ohne die intensive, langjährige Mitarbeit von guten Studierenden nicht möglich gewesen.“ Die wiederum können sich über die hervorragende Ausbildung freuen – genauso wie die Region: „Mehr als die Hälfte unserer Absolventen bleibt hier in Mitteldeutschland“, sagt Matthias Hagen. „Da sind wir schon ein bisschen stolz drauf.“

    Zwischen Mikrowellen und Betonbooten

    Wer mit dem Auto zu ihm fährt, überrollt womöglich eines von Horst-Michael Ludwigs Forschungsthemen: „Rund 15 Prozent der Betonoberflächen auf deutschen Autobahnen ist AKR-geschädigt“, erläutert der Direktor des F. A. Finger-Instituts für Baustoffkunde. AKR steht für die unter Verkehrspolitikern wie Auto fah rern gleichermaßen gefürchtete Alkali-Kieselsäure-Reaktion. Weil die daraus entstehenden Fahrbahnrisse gefährlich und teuer sind, lässt das Bundesverkehrs ministerium jeden Beton analysieren, der auf öffentlichen Straßen verbaut werden soll; in vier von fünf Fällen passiert das in den Klimasimula tions kam mern und Laboren der Bauhaus-Universität Weimar.

    Der Visionär und seine Vision: Benno Stein auf der Baustelle des „Digital Bauhaus Lab“.

    Das interdisziplinäre Forschungszentrum wurde u. a. vom MIT Media Lab in

    Cambridge/Massachusetts inspiriert.

  • E i n b l i c k B a u h a u s - U n i v e r s i t ä t W e i m a r

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    Es sind die beiden Megatrends der Baustoff forschung, auf die sich die stark materialtechnisch ausgerichteten Wei ma rer konzentrie-ren: „grüne“ sowie hochspezialisierte Hightech-Bau stoffe. Dazu gehört auch das Gebäude-Recycling: „Heute bestehen Wände aus vielen verschiedenen Schichten“, erklärt Ludwig, „etwa Ziegel-steinen, Mineralwolleplatten, Putzsys temen, Fliesenkleber, Fliesen – wenn Sie die zertrümmern, haben Sie einen Brei.“ Deshalb gehen die Weimarer Baustoffi ngenieure gemein sam mit Forschungs-einrichtungen und regionalen Unter neh men einen neuen Weg: In die Verbundschichten platzieren sie Stoffe, die unter Mikrowellen-bestrahlung die Wandschichten trennen – und so das Recycling ermöglichen.

    Doch wo zeigt sich hier, am größten Institut der Hochschule, der stark handwerkliche, experimentelle und interdisziplinäre Bau-haus-Charakter? „Im Alltag merkt man das nicht“, gibt Ludwig offen zu, „dafür aber bei der Deutschen Betonkanu-Regatta.“ Bei der 14. Ausgabe, die im Juni 2013 in Nürnberg stattfand, waren rund 70 Betonboote aus über 50 Hochschulen am Start – und die Weimarer belegten wieder einmal einen hervorragenden zweiten Platz. Während die Bauingenieure die Materialauswahl und Kon-struk tion übernahmen, stemmten Medienmanagement-Studen-ten das Marketing und die Pro dukt gestalter entwarfen die Sportbekleidung. Es ist genau dieser Weimarer Studententypus, den auch Rektor Beucke so schätzt: „Bei uns finden Sie den Karriere studenten im feinen Anzug nicht. Unsere Studierenden können anpacken, aufbauen, und machen sich auch mal die Hände schmutzig“ – ob sie nun Hütten in Addis Abeba oder Beton boote in Weimar bauen ...„Alle meine Produkte erzählen eine Geschichte“, sagt Laura Straßer. Mit diesem

    Anspruch hat die Absolventin der Bauhaus-Universität auch die birnenförmige Leseleuchte „Von Ribbeck“ entworfen, die in Thüringen produziert wird.

    Was ist das Bauhaus?Das Staatliche Bauhaus wurde 1919 von Walter Gropius als Kunstschule in Weimar gegründet. 1925 zog es nach Dessau, bevor es schließlich 1933 in Berlin unter dem Druck der Nationalsozialisten aufgelöst wurde.

    Das „Gropius-Manifest“ postulierte im Jahr 1919 die „Wiedervereinigung aller werkkünstlerischen Disziplinen – Bildhauerei, Malerei, Kunstgewerbe und Handwerk“. Weitere zentrale Bauhaus-Ideen wie die Abkehr von historischen Vorbildern, eine experimentelle Herangehensweise oder die Mitarbeit von Studenten an den Werken der Meister wirkten anziehend und irritierend zugleich.

    Heute wird das Bauhaus mit Attributen wie schnörkellos, funktional oder geradlinig belegt und als Stilrichtung empfunden. Neben dem Möbeldesign prägt die Bauhaus-Ästhetik bis heute die Architektur – mit Flachdächern, Fensterflächen oder dem Verzicht auf jegliche Ornamentik.

    Noch immer gilt das Bauhaus als wichtigste Design- und Architekturschule des 20. Jahrhun derts und als Avantgarde der klassischen Moderne.

    Die „summaery“ ist die gemeinsame Jahresschau der vier Fakul täten und zeigt die besten Arbeiten des aktuellen Studien jahrs.

    Geschichten aus Porzellan

    Auch Laura Straßer scheut sich nicht davor, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn auch mit dem „sehr sinnlichen Material“ Porzellan. Die Arbeiten der 31-jährigen selbstständigen Produktdesignerin entspringen genau dem fließenden Übergang vom Handwerk zur Kunst, den die Bauhäusler bereits vor fast 100 Jahren anvisierten. „Meine Arbeit ist sehr konzeptlastig“, erklärt Straßer. „Alle meine Produkte erzählen eine Geschich te.“ So auch die birnenförmige Leseleuchte „Von Rib beck“, hinter der die berühmte Ballade Theodor Fontanes steckt, der wiederum aus derselben Region wie Straßers Großmutter stammt. „Das Studium an der Bauhaus-Uni setzt sehr stark auf selbstbestimmtes und spielerisches Herangehen“, erinnert sie sich. Und auch die oft zitierte Interdisziplinarität habe sie erlebt, „allerdings fast aus-schließlich auf studentischer Ebene“, etwa in gemeinsamen WGs oder Ateliers. Die gebürtige Frankfurterin ist das, was man sich an der Bau haus-Universität noch viel öfter wünscht: Diplom an der Bauhaus-Universität, eigenes Atelier in Weimar, eine zumindest vorübergehende Hochschulstelle als künstlerische Mitarbeiterin

  • und hervorragende Verbindungen zu den traditionsreichen Thüringer Porzellanherstellern. Die „Von Ribbeck“ etwa lässt das dänische Designlabel Karakter bei KAHLA produzieren. „Leider verlassen nach meiner Erfahrung 90 Prozent der Absol venten aus kreativen Studiengängen Weimar“, bedauert Straßer, „weil die Region auf den ersten Blick nicht so viel zu bieten hat.“ Das zu ändern, hat sich die Stiftung für Technologie, Innovation und Forschung Thüringen STIFT auf die Fahnen geschrieben. So ent-steht am Rande des Campus bis Ende 2013 das neue Gewerbe-zentrum für Kreativwirtschaft, das mit bezahlbaren Räumlich-keiten und vielen Synergieeffekten die besten Köpfe am Standort halten will – der ja mindestens in kulturellem Sinne eine ganze Menge zu bieten hat.

    Lebendig statt museal

    „Weimar ist gesegnet mit einem tollen Kulturangebot“, freut sich Rektor Karl Beucke. „Wir haben ja auch eine Hochschule für Musik, die Klassik Stiftung Weimar, das Deutsche Nationaltheater und ein Kunstfest – die sich noch dazu gegenseitig unterstützen.“ Als im vergangenen Jahr das international renommierte US-Multitalent Robert Wilson die „Via Crucis“ für das Kunstfest inszenierte, lernten Weimarer Studenten in New York Wilsons Arbeitsweise kennen und schufen anschließend einen spektaku-lären und 400 Quadratmeter großen Zugangspavillon zu Wilsons Inszenierung. Auch wegen solcher Projekte sieht Beucke die Bauhaus-Universität als „Ort unmöglicher Begegnungen“. Bob Wilson wurde übrigens im historischen Gropiuszimmer einquar-tiert – vielleicht auch ein passender Ort, um einen Rektor in Szene zu setzen? Beucke winkt ab. „Das ist mir zu museal.“ Stattdessen schlägt er eines der Dachateliers vor, „wo die Studen-ten ihre Modelle bauen und es immer so unordentlich ist. Das lebt!“ Und zwar rund um die Uhr. Denn seit Neuestem bekommt jeder Student einen eigenen Schlüssel, um die Ateliers Tag und Nacht nutzen zu können. Es ist noch so ein Experiment, das in Weimar zu funktionieren scheint.

    B a u h a u s - U n i v e r s i t ä t W e i m a r E i n b l i c k

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    Von wegen Museum: Das originalgetreu rekon struierte Gropiuszimmer nutzen Gastprofessoren als Büro.

    Die Bauhaus-Universität Weimar im ÜberblickSeit dem Abschluss ihrer Neuausrichtung im Jahr 1996 trägt die Hochschule den Namen „Bauhaus-Universität Weimar“.

    Die Bauhaus-Universität Weimar verfügt über die vier Fakul täten Architektur, Bauingenieurwesen, Gestal tung und Medien.

    Rund 100 Professoren betreuen 4.200 Studierende.

    Der Anteil der internationalen Studierenden liegt bei 18 Pro zent; nur 11 Prozent der Studierenden kommen aus Thüringen.

    Seit 1996 gehören das Bauhaus und seine Stätten in Weimar und Dessau zum Welterbe der UNESCO.

    Die „summaery“ ist die gemeinsame Jahresschau der vier Fakul täten und zeigt die besten Arbeiten des aktuellen Studien jahrs.

  • 8.15–

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    „Ohne Star Trek hätte ich vielleicht nie Physik studiert“Er ist erstaunlich munter. Dafür dass ihn sein Sohn nachts auf Trab gehalten hat. Alexander Szameit ist gerade zum ersten Mal Vater geworden. Der Schlafentzug sei schnell vergessen, wenn ihn der Kleine morgens anstrahlt, meint er. Dann startet der Juniorprofessor zu Fuß oder mit dem Rad in sein Büro am Institut für Angewandte Physik auf dem Jenaer Beutenberg-Campus und einmal in der Woche auch zur Vorlesung – so wie heute. Wir waren ihm einen Tag lang auf den Fersen ...

    E i n Ta g i m L e b e n E i n b l i c k

    8.15 Uhr

    Es ist keine Pflichtvorlesung und noch recht früh am Morgen. Deshalb haben nur wenige Studenten auf den Holzklapp-stühlen Platz genommen. Es geht um „Optik in Wellenleiterarrays“. Alexander Szameit hat nach einer halben Stunde schon zwei der großen grünen Tafeln mit kryptischen Formeln vollgeschrieben. Er macht das am liebsten so, auch wenn nach zwei Stunden Vorlesung die Hand schmerzt von der Kreidekritzelei. Die Studenten würden dann besser verstehen können, worüber er redet, meint der 34-Jährige. Mehr als wenn er alles im Eiltempo auf Folien präsentieren würde. Der Physiker liebt es, seinen Studenten etwas näherbringen zu können. „Am Anfang gucken sie oft noch ein bisschen

    verständnislos an die Tafel“, erzählt er. „Und irgendwann sieht man dieses Leuch ten in ihren Augen. Das ist toll!“ Wenn er Glück hat, kann er das jeden Dienstag sehen, zumindest während des Semesters. Dann hält der Juniorprofessor im Saal 2 des schönen alten Physik ge-bäudes der Friedrich-Schiller-Universität seine Vorlesung. Äußerlich unterscheidet sich der 1,90-Meter-Mann kaum von den jungen Leuten, die vor ihm sitzen. Schlips und Anzug sind nicht sein Ding. Darin könnte er nicht denken, meint er. In T-Shirt und Bermudashorts klappt das besser.

    9.45 Uhr

    Außerdem kann er Sandalen dazu tragen, darin läuft es sich gut. Szameit läuft viel. Nach der Vorlesung macht er sich auf den Weg durch die Jenaer Altstadt, Richtung Beutenberg-Campus, zu seinem Büro. Das dauert zwar eine Weile, aber die Zeit nimmt er sich – normalerweise. Heute steigt er ausnahmsweise bei uns ins Auto und erzählt, wie er nach Jena gekommen ist. Die Liebe war schuld. Eigentlich wollte er gerade von Halle nach Heidelberg wechseln, denn das Astronomie-Studium in der Saalestadt hat ihn zu wenig gefor-dert. Er saß schon auf gepackten Koffern, als ihm seine jetzige Frau über den Weg lief. Statt solo nach Heidelberg zog Alexander Szameit frisch verliebt nach Jena. Und er hat es nicht bereut, privat wie beruflich. Schließlich seien die For-schungs bedingungen hier ideal, sagt er; gerade für jemanden, der sich auf Optik spezialisiert hat. Hier gibt es nicht nur namhafte Firmen wie Carl Zeiss und Jenoptik, sondern auch ein Spezial-Gymnasium für Physiker sowie Optik-Studiengänge an der Uni und der Fach-hochschule. „Der einzige Nachteil ist, dass Jena international noch relativ unbe-kannt ist“, räumt er ein. „Da muss man noch viel dran arbeiten.“

  • 28

    08.159.4510.0010.3011.0012.0013.3014.1515.30E i n b l i c k E i n Ta g i m L e b e n

    Schreibtischarbeit neben der „Enterprise“, Meeting im Großraumbüro und eine Stunde im Paradies – ein Tag im Leben von Alexander Szameit.

    10.00 Uhr

    Ankunft auf dem Beutenberg in Jena. Hier haben sich mittlerweile so viele Institute und Start-up-Unternehmen angesiedelt, dass der einst recht über-sichtliche Campus jetzt in Ost und West eingeteilt ist, um den Überblick zu bewah-ren. Und immer noch wird gebaut – so auch das neue Optik-Forschungsgebäude. Bis es fertig sein wird, ist das Büro von Alexander Szameit in einem grauen Con-tainer untergebracht. Von außen sieht es zwar nicht so aus, aber innen ist es recht gemütlich bei ihm mit Sitzecke und Bücherregal. An den Wänden hängen Star-Trek-Plakate, auf dem Schreibtisch steht ein Modell der Enterprise. Der Phy-si ker ist zweifellos ein Fan. „Ja, schon seit meiner Jugend“, sagt er und schmunzelt. „Ohne Star Trek hätte ich vielleicht nie Physik studiert.“ Aus Science-Fiction ist bei Alexander Szameit inzwischen Real- Science geworden. „Wir haben uns inspi-rieren lassen von den iso-linearen opti-schen Computerchips, die es bei Star Trek gibt“, erzählt er. „Davon haben wir eine sehr einfache Version nachgebaut und damit jetzt die ersten optischen Compu-ter chips entwickelt, die mit Licht arbei-ten.“ Diese Chips sind um ein Vielfaches leistungsfähiger als solche, die heute für Computer genutzt werden. Die Arbeit ist gerade im renommierten Journal „Nature Photonics“ veröffentlicht worden. Eine von drei „Nature“-Veröffentlichungen in nur einem Jahr.

    10.30 Uhr

    Szameit entschuldigt sich. Er muss E-Mails checken – eine zeitaufwendige Angelegen- heit, findet er. Aber schließlich hat er zu mehr als 30 Forschungsgruppen weltweit Kontakt, da ist der schnelle virtuelle Aus-tausch schon ganz praktisch. Und der Phy-si ker ist dabei recht effizient. Inzwi schen könne er sogar einhändig schreiben, meint er. Das hat er nach der Geburt seines Soh-nes gelernt. Wenn er den schlafenden Klei-nen im Arm hält, beantwortet er mit der freien Hand schnell ein paar Mails. Aber eigentlich sind ihm die Wissenschaft und seine Mitarbeiter viel wichtiger als der Schreibkram ...

    11.00 Uhr

    Immer mal wieder lugt jemand durch die Tür. Alexander Szameit hat jederzeit ein offenes Ohr für seine Leute. Er leitet ein Team von mittlerweile 10 Nachwuchs-wissen schaftlern, die Physik studieren oder promovieren. „Diamant- und Koh-len stoffbasierte optische Systeme“ nennt sich seine Gruppe, die zum Jenaer Zentrum für Innovationskompetenz (ZIK) „ultra optics“ gehört. Was kann man sich darunter vorstellen? Im weitesten Sinne beschäftige er sich mit der Ausbreitung von Licht in verschiedenen Medien wie bei spielsweise Flüssigkeiten, so der Physi-ker. Außerdem versucht er, mithilfe quan tenmechanischer Gesetzmäßig keiten Com puter zu verbessern. Momentan fin-det er Graphen besonders spannend. Gra-phen ist ein modifizierter Kohlenstoff – eines der Zukunftsmaterialien schlecht-hin, in dessen Erforschung europaweit Millionen fließen. Szameit und seiner Gruppe ist es gelungen, eine optische Ver-sion von Graphen herzustellen, eine Art Supraleiter für Licht. Na, wenn das nicht nach Star Trek klingt!

  • 29

    12.00 Uhr

    Inspirationen und Ideen bekommt er aber nicht nur aus Hollywood, sondern vor allem im Paradies – einem ganz irdi-schen Paradies. Denn so heißt der größte Park in Jena, direkt an der Saale. Seine Decke hat er immer im Rucksack dabei, eine ganz dünne, leichte, wie man sie auf Langstreckenflügen bekommt. Alexander Szameit sitzt öfter mal in Flugzeugen auf dem Weg zu internationalen Konferenzen. Jetzt liegt die Decke auf dem paradiesi-schen Rasen unter rauschenden Bäumen, und der Physiker breitet ein paar Papiere darauf aus. Artikel, Gutachten, irgendet-was gibt es immer zu lesen und vor allem nachzudenken, mal ganz in Ruhe, ohne E-Mail und Telefon. „Wenn man auf die Vögel hört, dann fließen die Ideen“, sagt

    er. Ruhepausen und freie Arbeitseintei-lung sind für ihn die Voraussetzung für Krea tivi tät. Das bezieht er nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf sein Team. „Wenn ich einen Doktoranden zwinge, um 7 Uhr im Büro zu sein und frühestens um 8 Uhr abends nach Hause zu gehen, kann der nicht produktiv sein“, dessen ist sich Szameit sicher. „Die Motivation geht flöten und ein unmotivierter Doktorand ist das Schlimmste, was einer Gruppe passieren kann.“ Deshalb lässt er ihnen Freiheiten. Für den Juniorprofessor ist es sehr wichtig, seine Leute zu motivieren. Das macht er nicht, indem er „Gummi bär- chen verteilt“, wie er es ausdrückt, son-dern mit spannenden Themen, an denen die jungen Forscher Spaß haben.

    08.159.4510.0010.3011.0012.0013.3014.1515.30E i n Ta g i m L e b e n E i n b l i c k

    13.30 Uhr

    Spontanes Gruppenmeeting im Groß-raum büro von Szameits Team. Einer der Postdocs schreibt Zahlen und Formeln an die Tafel. Er hat ein Problem. Die Ergeb-nis se von optischen Experimenten eines russischen Kollegen kann er mathema-tisch nicht nachvollziehen. Deshalb fragt er die anderen um Rat. Es wird diskutiert, Fakten werden hin und her geworfen. „Das verstehe ich nicht“, ruft Alexander Szameit zwischendurch. Er ist keiner, der sich all-wissend gibt, bleibt mit seinen Leuten immer auf Augenhöhe. „Es ist mir sehr wichtig, dass ich mit den Studenten ein kollegiales Verhältnis habe“, sagt er. „Das sind Kolle gen, auf deren Meinung und Sichtweise ich sehr viel Wert lege.“ Soziale Kompetenz spielt für ihn eine große Rolle. Die könne man nicht von der Forschung trennen, meint der junge Professor, denn Wissen schaft ler, die unfähig sind, mit anderen zusammenzuarbeiten, seien in den meisten Fällen erfolglos.

  • E i n b l i c k E i n Ta g i m L e b e n

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    14.15 Uhr

    Der Boden vor dem Labor ist klebrig, und im Regal liegen kleine blaue Plastik-klümp chen aus Füßlingen. Wir fummeln ein paar heraus und ziehen sie uns über die Schuhe. Die empfindliche und teure Technik im Optiklabor soll so vor dem Straßenschmutz geschützt werden. Auf schwarzen Tischen sind optische Instru-mente aufgebaut, durch die Laserlicht dringt, das man mit bloßem Auge nicht sehen kann. Ulrike Blumröder erwartet ihren Chef schon. Die Doktorandin will wissen, wie einer der ganz neuen Laser funktioniert und wie man Licht in den Glas-Chip einkoppelt – in den Star-Trek- Chip, den Szameit entwickelt hat. Auch wenn er mittlerweile nur noch selten im Labor steht, ist er hier in seinem Element. „Für mich ist das ein Traumjob“, sagt er. „Stellen Sie sich mal vor: Man geht ins Labor und sieht einen Effekt, den noch nie jemand zuvor gesehen hat. Das ist ein neues Stück Wissen, das man in die Welt bringt. Das ist wahnsinnig toll!“ Seine sonst so ruhige Stimme ist etwas aufge-regter geworden, als er das sagt, und seine Augen leuchten.

    15.30 Uhr

    Sein Tag endet im Büro. Ein bis zwei Stunden wird Alexander Szameit noch am Schreibtisch sitzen. Die Unter schrif-ten mappe muss er noch durchgehen, Mails beantworten und sich um organisa-torische Dinge kümmern, bevor er nach Hause geht. Seit sein Sohn auf der Welt ist, hält es ihn nicht mehr so lange im Büro. Nur manchmal, wenn er gerade neue Ideen entwickelt und mit seinen Leuten diskutiert, vergisst er schon mal die Zeit. Wenn er weiter so gute Ergebnisse be -kommt, die hochrangig veröffentlicht werden, wird er eine tolle Habilitation abgeben können. An der arbeitet er momen tan. Und was dann? „Dann schaue ich, wo es mich hinverschlägt“, sagt er und zuckt mit den Schultern. „Ich möchte schon sehr gerne in Deutschland bleiben, aber ich muss halt eine Stelle finden, das ist nicht ganz einfach.“ Wir drücken jeden falls die Daumen. Vielleicht klappt es ja sogar in Jena – für den Wissenschafts-standort wäre er sicher ein Gewinn!

    „Ich möchte schon sehr gerne

    in Deutschland bleiben, aber ich

    muss halt eine Stelle finden,

    das ist nicht ganz einfach.“

  • 31

    Alexander Szameit wurde in Halle geboren. Er studierte und promovierte in Physik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Während und nach seiner Promotion war er als Gastwissenschaftler an der Universität der Mongolei in Ulan-Bator, im australischen Canberra und in der israelischen Hafenstadt Haifa, wo er als bester Postdoc ausge-zeichnet wurde. Am Institut für Astronomie in Hilo auf Hawaii arbeitete er ein halbes Jahr mit an der Entwicklung des James-Webb-Space-Teleskops und baute sogar ein Teil des supermodernen Instruments: das Scharnier am Gehäuse des Infrarot-Detektors.

    Er hat bereits diverse Auszeichnungen bekommen, u. a. den Promotionspreis der Deutschen Physika-lischen Gesellschaft und den Preis der Deutschen Wissen schaftsgemeinschaft für Laser techno logie. Seit 2011 leitet er als Juniorprofessor eine Nachwuchs for-schungs gruppe am Institut für Angewandte Physik in Jena, die zum ZIK „ultra optics“ gehört. Er beschäftigt sich mit der Ausbrei tung von Licht und quantenme-chanischen Gesetz mäßig keiten. Alexander Szameit ist verheiratet und hat einen Sohn.

    8.15–

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    Auf hochaufgelösten Satellitenbildern wie diesem aus kirgisisch-usbekischem Grenzgebiet können Potsdamer For scher Hangrutschungen entdecken – und so detaillierte Gefährdungskarten erstellen.

    Auf hochaufgelösten Satellitenbildern wie diesem aus kirgisisch-usbekischem Grenzgebiet können Potsdamer For scher Hangrutschungen entdecken – und so detaillierte Gefährdungskarten erstellen.

    Erdbeben in Bischkek, Bergstürze in Indien oder ein steigender Meeresspiegel in Lübeck – wo Naturgefahren und Klimawandel die Menschen bedrohen, ist der Potsdamer Forschungsverbund PROGRESS nicht weit. Zugleich zeigt PROGRESS exemplarisch die Wirkungen, die das BMBF-Programm „Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern“ in den vergangenen fünf Jahren entfacht hat.

    Erdbeben in Bischkek, Bergstürze in Indien oder ein steigender Meeresspiegel in Lübeck – wo Naturgefahren und Klimawandel die Menschen bedrohen, ist der Potsdamer Forschungsverbund PROGRESS nicht weit. Zugleich zeigt PROGRESS exemplarisch die Wirkungen, die das BMBF-Programm „Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern“ in den vergangenen fünf Jahren entfacht hat.

  • P R O G R E S S S c h w e r p u n k t

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    Excellent Work in PROGRESS

    Sie erinnert an die Packungsbeilage eines rezeptpflichtigen Vita- min präparats – abstrakt, sperrig, ein literarischer Leckerbissen allenfalls für Anhänger des präzisen, von Komposita durchsetz-ten Nominalstils. Dennoch ist eine Auseinandersetzung mit ihr unverzichtbar, um in den Genuss der gewünschten Wirkung zu kommen: die Förderrichtlinie.

    Im Falle des BMBF-Programms „Spitzenforschung und Inno-vation in den Neuen Ländern“ gibt die Förderrichtlinie etwa das Gesamtziel aus, „über eine weiträumige, organisationsübergrei-fende, themenorientierte Kompetenzbündelung die Inno va-tions fähigkeit in den Neuen Ländern zu stärken“, bevor sie eine Reihe von Einzelzielen auflistet. Dass sich aber hinter trockenen Formulierungen durchaus spannende Forschungsprojekte ver-stecken können, beweist die Initiative PROGRESS. Seit vier Jahren wird der „Potsdam Research Cluster for Georisk Analysis, Environmental Change and Sustainability“ vom BMBF gefördert.

  • S c h w e r p u n k t P R O G R E S S

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    Popula�onin millions >0.1 >1 >5 >10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 %

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    lat

    SpitzenforschungSpitzenforschung

    Rund zwei Milliarden Städter auf der Welt könnten sich zu einem hohen Anteil mit Le bens-mitteln versorgen, die in der Nähe produziert werden (links) – und so einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Für diese Erkenntnisse haben Jürgen Kropp (rechts) und seine Kol le-gen vom Potsdam-Institut für Klimafolgen-forschung (PIK) weltweit mehr als 2.800 Groß-städte analysiert.

    Hungrige Städte und rutschende Hänge – Spitzenforschung aus Potsdam

    Es ist irgendein unbekannter Tag im Jahr 2008, und doch mar-kiert er einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit: Zum ersten Mal leben weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land, und ihre Zahl wächst: Statt 3,4 Milliarden im Jahr 2008 werden es bis 2030 schon 5 Milliarden sein, rechnet der UN-Bevölkerungsfonds vor. „Und sie alle haben Hunger“, fügt Pro- fessor Jürgen Kropp vom Potsdam-Institut für Klima folgen-forschung (PIK) hinzu. Weil der Transport der Lebensmittel zum Verbraucher Treibhausgase verursacht, gehen Kropp und seine Kollegen der Frage nach: Ist es möglich, dass sich Städte mit in der Nähe produzierten Nahrungsmitteln selbst versorgen? „Dafür haben wir uns auf die Hauptnahrungsmittel – darunter sieben Getreidearten – konzentriert und mit einem eigens entwickelten Modell mehr als 2.800 Städte weltweit analysiert“, erklärt Kropp, der die PIK-Abteilung „Klimawandel und Nachhaltigkeit“ leitet.

    „Rund zwei Milliarden Städter könnten heute auf diese Weise versorgt werden; das würde einen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten“, sagt Kropp. Gleichzeitig könnte auch der anfallende organische Abfall in der dann lokalen Landwirtschaft als Dünger Verwendung finden. Erwärmt sich die Erde allerdings weiter, bestehen diese Optionen vielerorts nicht mehr.

    Im Gegensatz zur Klimaerwärmung können wir Menschen eine Naturgefahr nicht beeinflussen, die immer wieder Gebäude, Straßen und Menschenleben zerstört: schwere Erdbeben. Die Erschütterungen entstehen meistens an den Bruchfugen der Erdkruste und geben der Wissenschaft bis heute Rätsel auf. „Wir können Erdbeben nicht präzise vorhersagen“, sagt Professor Jochen Zschau vom Deutschen GeoForschungsZentrum (GFZ) der Helmholtz-Gemeinschaft in Potsdam. Ein wichtiges Hilfs -mittel sind noch immer die klassischen Gefährdungskarten. Für Istanbul weisen sie zum Beispiel ein Risiko von 25 Prozent aus, mit dem sich in den nächsten 30 Jahren ein schweres Beben der

    (Fortsetzung auf S. 37)

  • P R O G R E S S S c h w e r p u n k t

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    Besonders starke Monsun-Jahre machen den trockenen Bergregionen in Nord -westindien (oben) zu schaffen: Die Wahrscheinlichkeit für Bergstürze steigt (unten links). Auf der Basis von Satellitenbildern können Manfred Strecker (unten rechts) und seine Kollegen von der Universität Potsdam erstmals die Wahrscheinlichkeit für künftige Bergstürze bewerten.

  • S c h w e r p u n k t P R O G R E S S

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    VernetzungVernetzung

    „Vom System Erde zum System Erde–Mensch“

    „Vom System Erde zum System Erde–Mensch“

    Mit PROGRESS und GeoEn ist das Deutsche GeoForschungs - Zen trum (GFZ) der Helmholtz-Gemeinschaft gleich an zwei „Spitzen forschung und Innovation“-Initiativen vertreten. „Unternehmen Region“ hat mit dem GFZ-Leiter Professor Reinhard Hüttl gesprochen.

    Mit PROGRESS und GeoEn ist das Deutsche GeoForschungs - Zen trum (GFZ) der Helmholtz-Gemeinschaft gleich an zwei „Spitzen forschung und Innovation“-Initiativen vertreten. „Unternehmen Region“ hat mit dem GFZ-Leiter Professor Reinhard Hüttl gesprochen.

    Herr Professor Hüttl, was macht das GFZ aus? Wir erforschen auf der ganzen Welt das „System Erde“ und die Prozesse, die im Erdinneren und an der Oberfläche ablaufen. Das umfasst sämtliche Arten von Naturkatastrophen wie Hoch-wasser, Erdbeben oder Tsunami. Im Indischen Ozean haben wir federführend das Tsunami-Frühwarnsystem aufgebaut. Daneben beobachten und analysieren wir unsere Erde auf der Basis von Satellitenbildern, stellen Tiefenbohrungen an und befassen uns mit der Nutzung des unterirdischen Raumes. Dazu gehören die Forschung zur Geothermie, zur Speicherung von Kohlendioxid oder zum Fracking.

    Ihre Themen sind sehr aktuell. Werden die Geo- und Klima wissen schaften immer wichtiger? Die Entwicklung führt uns vom System Erde hin zum System Erde–Mensch. Die Bedeutung unseres Lebens- und Gestaltungs -raums wird immer klarer. Wir Menschen leben auf und von der Erde; von Wasser, Luft, der Biomasse und den Rohstoffen. Gleich-zeitig sind immer mehr Menschen von Naturgefahren wie Erdbeben oder Überschwemmungen bedroht. Deswegen müssen wir aus der Erdgeschichte Schlüsse für unsere Zukunft ziehen. Zugleich spielen die Anpassung an veränderte Bedingungen und generell gesellschaftliche Aspekte eine zunehmend wichtige Rolle.

    Aus diesem Grund arbeiten wir am GFZ fächerübergreifend und im Systemkontext.

    Welche Rolle spielt dabei das Programm „Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern“? PROGRESS und GeoEn haben die Interaktion mit den Sozial-wissenschaften enorm vorangebracht. An der Universität Potsdam sind auf diese Weise u. a. die Studiengänge „GeoGover nance“ und „Geoenergie“ entstanden. Insgesamt bringen die beiden Initiativen dem GFZ einen deutlichen Erkenntnisgewinn und haben die Region Potsdam als exzellenten Forschungsstandort gestärkt – gemeinsam übrigens mit anderen Netzwerken wie etwa PEARLS, in dem sich 19 führende Forschungseinrichtungen der Region Potsdam zusammengeschlossen haben.

    Was haben Sie als Nächstes vor? Mit PEARLS konzentrieren wir uns gerade darauf, geologi-sche und biologische Prozesse in neuer Form zusammenzuführen. Das Stichwort ist „tiefe Biosphäre“, in der – wie wir heute schon wissen – mindestens ebenso viel Biomasse lagert wie an der Erdoberfläche. Parallel dazu wollen wir die Entwicklungen von PROGRESS und GeoEn weiterführen – denn die beiden Projekte werden nachhaltig sein.

  • P R O G R E S S S c h w e r p u n k t

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    (Fortsetzung von S. 34)

    Stärke 7,0 oder größer ereignet. „Solche Karten berechnen aller-dings wichtige Faktoren nicht mit ein – etwa die Zeit oder Spannungsverlagerungen durch weiter entfernte Beben“, erklärt Zschau. Deshalb hat das GFZ eine Methode entwickelt, die physi-sche Spannungsberechnung, Statistiken und eine andere als die heute oft angenommene Zufallsverteilung von Erdbeben einbe-zieht. „So kommen wir für Istanbul auf eine Wahrscheinlichkeit von 60 statt 25 Prozent“, sagt Zschau. Diese Wahrscheinlichkeit sagt allerdings nichts über mögliche Folgen eines Bebens für Menschen, Gebäude oder die wirtschaftliche Entwicklung aus – in der Fachsprache „Vulnerabilität“ genannt. Im Rahmen von PROGRESS und bei anderen Projekten haben die GFZ-Forscher deshalb einen innovativen Ansatz entwickelt, um die Gebäude-vulnerabilität in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek zu quanti-fizieren: „Wir kombinieren Satellitenbilder mit 360-Grad-Auf-nah men, die wir mit unserem eigenen Fahrzeug auf den Straßen machen“, erklärt Zschau. „Auf dieser Basis können wir in Kombination mit Gefährdungsanalysen für jedes Gebäude das Risiko für Erdbebenschäden angeben.“

    Die Identifikation von Risiken spielt auch in Manfred Streckers Arbeit eine entscheidende Rolle. Der Inhaber des Lehrstuhls „Allgemeine Geologie“ an der Universität Potsdam (UP) unter-sucht, wie sich die Bewegungen der Erdkruste, das Klima und Erosionsprozesse gegenseitig beeinflussen. Im Rahmen von PROGRESS haben Strecker und seine Kollegen u. a. Satellitenbilder der vergangenen zwölf Jahre analysiert, die den Niederschlag in Nordwestindien tagesgenau ausweisen und die Erdoberfläche darstellen. „In Jahren mit einem besonders starken Monsun kommt es zu Starkregen in sonst sehr trockenen Bergregionen“, erklärt Strecker. Die Folge sind Oberflächenerosion, Fluss ein-schneidungen und Bergstürze. „Wir haben nun