Upload
medienfabrik-media-group
View
196
Download
12
Embed Size (px)
DESCRIPTION
Das Manuskript der Autorin Sarah Schmitz in Arbeit. Die erste Formatierung wurde gemacht wobei wir händische Formate in Formatvorlagen bringen, um in der anschließenden crossmedialen Verarbeitung effizienter arbeiten zu können. Es sind alle eingeladen, das Manuskript am Weg zum Buch mitzuverfolgen. Achtung: es stehen noch einige Arbeitsschritte aus.
Citation preview
1
Ausweglos 1
Das Spiel mit und gegen Menschen 2
Sarah Schmitz 3
4
5
Manuskript in Arbeit 6
Erstformatierung abgeschlossen 7
8
2
1
2
3
4
5
6
7
8
“Stell dir vor, 9
es kann nur einen treffen. 10
Aber es wird einen treffen. 11
Und dieser eine bist du.” 12
3
Prolog 1
Sie lauert dir auf, dir alleine. Wartet in der alles in 2
ihrem Zorn zerquetschende Tiefe. Mörderisch scharf umzingeln 3
die tosenden Fluten deine dürren Knöchel, wollen dich unter 4
die Wasseroberfläche zerren. Glatt ist sie, glatt wie die 5
Klinge eines Schwertes, vollkommen glatt, haltlos. In dieser 6
Nacht vermag nicht ein einziges, klägliches Licht am Himmel 7
zu leuchten, der wie ein Leichentuch über die Welt gespannt 8
ist. Den Tag, der auf diese Nacht folgen würde, wenn die 9
Flammen des glühenden Morgenrots jemals im Osten die 10
Dunkelheit vertrieben, würdest du nicht mehr erleben. 11
Verzweifelt versuchst du, dich zu wehren, doch die 12
unbarmherzige Kälte des Atlantiks hat deinen Körper gelähmt, 13
für immer versteinert. Salz brennt in deinen vor Angst weit 14
aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen. Deine Schreie hört 15
niemand, weder das Schiff dort drüber in einigen tausend 16
Meter Entfernung, noch das hübsche, blasse Mädchen, welches 17
regungslos neben dir im Wasser treibt. Langsam erstirbt auch 18
dein Widerstand. Erschöpft flattern deine Lider, während 19
dein Körper herab in die Tiefe sinkt. Luftbläschen streifen 20
dein zerschlagenes Gesicht, als du qualvoll den Mund 21
aufreißt, um Atem zu schöpfen. Das Letzte, was du bewusst 22
wahrnimmst, ist das Wasser, das nun in deine ausgepumpten, 23
zum Zerreißen gespannten Lungen, flutet 24
4
1. Kapitel 1
Verdorrte Bäume standen in Flammen. Ein Rudel Hyänen, auf 2
der Suche nach etwas Essbarem, jagte in die niemals enden 3
wollende Wüste davon. Aasgeier kreisten über dem Kadaver 4
eines toten Schimpansen, rissen grobe Stück Fleisch mit 5
ihren gefräßigen Schnäbeln aus Bauch, Schultern und Beinen. 6
Ein Jeep schoss über die menschenleere Landstraße hinweg, 7
in Richtung Süden, der togolesischen Hauptstadt Lomé 8
entgegen. 9
Ich kauerte mich tiefer in den Sitz, meinen Kuscheltier 10
Löwen dicht an mich gepresst. Staub brannte in meinen Augen. 11
Die ungewohnte Februarhitze machte mir zu schaffen. Doch ich 12
wagte nicht zu nörgeln, denn sonst würde Papa mich in eines 13
dieser deutschen Kinderheime geben. Ohne Freunde, ohne 14
Spielsachen, ganz alleine. An die Hitze Afrikas würdest du 15
dich gewöhnen, an die Einsamkeit niemals. 16
Ein Tiger Python. Python molurus. Eine der größten und 17
gefährlichsten Würgeschlange der Welt schlängelte sich vor 18
deinen Augen über die Straße. 19
Sekunden später spritzte Blut gegen die niedrige 20
Windschutzscheibe. Papa hatte das Steuer nicht mehr 21
herumreißen können. Er grinste. Das Grinsen eines Irrens. 22
„Willkommen in Afrika, mein Sohn!“, lachte er, und blickte 23
mich an. 24
Fressen oder gefressen werden… Das einzige goldene Gesetz 25
in Afrika. 26
Wilde Tiere hatten ihre Spuren hinterlassen, als sie in 27
der Nacht in das Dorf eingefallen waren, welches sich nun in 28
einiger Entfernung abzeichnete. Rot spiegelte sich Blut in 29
5
der Mittagshitze. Fliegen und Moskitos stachen ihre langen 1
Rüssel in Haut der kleinen Kinder, die vor den teils 2
hölzernen, teils aus Stein gebauten Hütten im Schlamm 3
spielten. 4
Nach kurzem Beobachten stieg Papa aus, woraufhin ich ihm 5
zögernd folgte. Die Finger meiner rechten Hand verkrampften 6
sich in seiner großen Hand.Mit der anderen langte ich nach 7
dem Kuscheltier-Löwen. Augenblicklich umringten uns 8
Menschen, die in schmutzigen Gewändern wie schwarze 9
Gespenster wirkten. Über uns hellhäutige Fremdlinge schienen 10
sie zu staunen. Lediglich ein älterer Mann mit einem 11
lustigen Bart und einem freundlichen Gesichtsausdruck 12
räusperte sich vernehmlich, um Papa etwas ins Ohr zu 13
flüstern. Voller Spannung senkte ich meinen Blick, drückte 14
mein Kuscheltier fester an meine Brust. 15
Obwohl ich die togolesische Landessprache sehr wohl 16
verstand, irritierte mich das, was die beiden Männer 17
besprachen. Vielleicht war ich damals noch zu jung, um zu 18
begreifen, vielleicht wollte ich es auch gar nicht. 19
Papa hatte immer Forscher sein wollen, berühmt und reich, 20
doch bis jetzt hatte das nicht geschafft, was nicht zuletzt 21
meine Schuld war. Wäre meine Mutter nicht schwanger 22
geworden, hätte er vermutlich ein Projekt in Haiti bekommen. 23
Dieses Dorf jedenfalls wurde unser neues Zuhause. Man zeigte 24
uns eine verlassene Hütte, in der vor wenigen Tagen noch 25
eine fünfköpfige Familie gewohnt hatte. Über ihr Schicksal 26
sprach man kaum, eher verachtete man sie. Warum, wusste ich 27
nicht. Ich fragte auch nicht danach. Papa hätte mir die 28
Wahrheit sowieso nie verraten. 29
6
In der Hütte war es dunkel. Durch die Holzklappen vor dem 1
Fenster fiel kaum Licht und elektrischen Strom gab es 2
keinen. Ich zitterte. Im Fernsehen hatte ich oft Horrorfilme 3
mit meinem Vater ansehen müssen. Es kümmerte ihn nicht, wenn 4
ich nachts vor Angst Albträume hatte oder weinte. Selbst 5
dann nicht, als meine Lehrerin ihn darauf ansprach. Nun 6
tauchten diese schrecklichen Bilder wieder in meinen 7
Gedanken auf. Blutüberströmte Leichen. Abgehackte Finger. 8
Folter. Tiere, die Menschen überfielen. 9
„Na, wieder der kleine Scheißer?“ Papa stand plötzlich 10
neben mir. Die Taschenlampe strich über mein Gesicht. 11
Erschrocken schüttelte ich den Kopf. 12
„Okay, dann kannst du ja vorgehen.“, meinte er grinsend. 13
Ich nickte. Was sollte ich auch anders tun? Tat ich nicht 14
das, was er verlangte, würde er mich auslachen oder 15
schlagen. Wie immer. Das war seine Erziehung. 16
Langsam setzte ich einen Fuß vor den andern. Über die 17
gesamte Fläche einer alten Holztheke war zerbrochenes 18
Porzellan verstreut. Ein umgekippter Stuhl lag auf dem 19
knarrenden Fußboden. Es stank nach Schweiß und Kot. 20
Krabbeltiere sammelten sich über den Essensresten. In das 21
enge Kinderschlafzimmer waren drei Betten gezwängt, bezogen 22
mit dünnen Laken, mit dünnen, blutverschmierten Laken. Mein 23
Magen zog sich merklich zusammen. Die Bilder brannten sich 24
in mein Gedächtnis. Ich würde sie nie wieder vergessen 25
können. Obwohl mir die Kälte und der Tod nun zu schaffen 26
macht, erinnere ich mich an den Tag, an dem ich vom 27
Beifahrersitz des Jeeps kletterte, um in diesem Dorf ein 28
neues Leben zu beginnen. Vielleicht hätte ich weglaufen 29
sollen, damals, als ich die Chance dazu gehabt hatte. 30
7
Vielleicht hätte ich in ein Kinderheim gehen sollen, um als 1
normaler Teenager aufwachsen zu können. Vielleicht wäre es 2
manchmal sogar besser gewesen, wenn ich gar nicht auf dieser 3
Welt lebte. Vielleicht. 4
Aber es ist nicht so. Ich bin hier draußen, einsam, 5
verlassen, alleine. Das ist mein Leben. 6
Unruhig wälzte ich mich im Halbschlaf auf dem schmalen 7
Bett. Durch die geöffneten Fenster schwirrten Moskitos 8
herein. Der Lattenrost meiner Pritsche knarrte bei jeder 9
Bewegung. Weit ab dem Dorf heulte ein Tier seine gruselige 10
Melodie. Neuartige Geräusche, die mir Angst einjagten. 11
Einmal wollte ich zu Papa tapsen, über das dunkle Holz des 12
Fußbodens, das wie ein Loch unter mir klaffte, aber ich tat 13
es nicht. 14
„Aufstehen, Sohn! Heute wird ein anstrengender Tag!“ Papa 15
stand neben meinem Bett und öffnete die Fensterläden. Er war 16
ausgeruht wie seit langem nicht mehr und schien sichtlich 17
gut gelaunt. Seine freundliche Art beunruhigte mich, und ich 18
war froh, dass er mich nicht schlug, als ich zu spät zum 19
Frühstück erschien. Lächelnd erzählte er mir, er wolle in 20
die nächste Stadt fahren, um mich in einer Schule anzumelden 21
und Besorgungen zu machen. Ob es schlimm wäre, wenn er mich 22
für den Vormittag alleine ließe. Ich schüttelte stumm den 23
Kopf. Es war das erste Mal, dass er nicht über mich 24
entschied, sondern mit mir. 25
Erschöpft von der langen Nacht räumte ich den 26
Frühstückstisch ab. Das Haus mochte nicht sonderlich groß 27
sein, vermutlich sogar kleiner als unsere Wohnung in Köln, 28
dennoch kam ich mir verlassen vor. Monster lauerten im 29
Schatten. Gefräßige Bestien, mit großen, bösen Augen und 30
8
scharfen Zähnen. Wie so oft, wenn ich alleine war, hatte ich 1
Angst vor etwas, das nur in meiner Fantasie existierte. 2
Laut vor mich hin pfeifend, um die Monster fernzuhalten, 3
spielte ich mit den wenigen Legosteinen, die ich besaß. 4
Plötzlich ließ mich ein Schrei zusammenzucken. Erschrocken 5
spähte ich aus dem Fenster in meinem Zimmer. Regungslos lag 6
ein Junge mit dem Gesicht im Schlamm, vollkommen regungslos. 7
Blut strömte aus einer Wunde am Oberarm. Meine Angst vor den 8
Monstern war mit einem Mal vergessen. Achtlos sprang ich vom 9
Bett, stolperte, schlug mir die Knie blutig. Doch 10
seltsamerweise spürte ich den Schmerz überhaupt nicht. 11
Damals hatte ich nur an den da draußen gedacht. Vielleicht, 12
weil er mich ein bisschen ein mich selber erinnerte und mir 13
nie jemand geholfen hatte. Der fremde Junge bewegte sich 14
immer noch nicht, als ich mich neben ihn in den Dreck fallen 15
ließ. 16
„Hey…!“ Mit aller Kraft drehte ich ihn auf den Rücken. 17
Sein knochiges Gesicht war zerkratzt. Unter dem schmutzigen 18
Leinenhemd, welches er trug, konnte man die Rippen zählen. 19
„Hey…!“ Verzweifelt gab ich ihm eine Ohrfeige, eine leichte, 20
dann eine etwas härtere. Keine Regung. Nicht einmal ein 21
Zeichen, das mir sagte, dass er noch lebte. Eine Haustüre 22
wurde zugeschlagen. Hastig wollte ich davon rennen, doch ein 23
eisiger Griff hielt mich am Boden. „Niemand schlägt 24
Mathieu.“ Sekunden später hatte man mir die Beine weggezogen 25
und mich zu Boden geworfen. Widerstand war zwecklos. Als ich 26
versuchte, aufzustehen, wurde ich in den Matsch gedrückt, 27
bis ich keine Luft mehr bekam. Schließlich gab ich auf. Der 28
eben noch regungslos daliegende Junge reichte mir 29
anerkennend die Hand. Hast dich gut geschlagen, Neuling, 30
9
meinte er. Hinter ihm standen noch zwei weitere 1
dunkelhäutige Jungen, beide etwa zwölf Jahre alt, und ein 2
hellhäutiges Mädchen. Mit ihren haselnussbraunen Haaren, dem 3
Poloshirt und der kurzen braunen Hose wirkte sie älter als 4
neun Jahre. „Wollen wir für immer Freunde sein?“, fragte 5
mich der Junge, dem ich geholfen hatte. 6
Ich nickte. „Ja“ 7
Erst später begriff ich, dass „für immer“ eine sehr lange 8
Zeit sein kann. Eine Zeit, die man nicht planen konnte. Doch 9
damals waren für mich „für immer“ nur zwei Worte. 10
Wir vertrauten einander vom ersten Augenblick an. 11
Jedenfalls lud ich Mathieu, Kay, Karim und Benjim zu mir 12
nach Hause ein. Die vier würden von ihren Familien bis zum 13
Abend nicht vermisst werden. 14
Meine wenigen Spielsachen, die Legosteine, der 15
Kuschellöwen, die Modellautos und mein Gameboy Color wurden 16
zur Hauptbeschäftigung des Tages. Bisher ist mir nie bewusst 17
aufgefallen, welch ein bewundernswertes Leben ich - trotz 18
der ständigen Schläge - führen durfte. Denn außer Kay und 19
mir besaß niemand überhaupt solche „wertvolle Schätze“. Die 20
Familien der einheimischen Kinder waren oft sogar zu arm, um 21
sich richtig zu ernähren. An „schlechten“ Tagen, wenn die 22
harte Arbeit nicht genügend Lohn erbrachte, gab es nicht 23
einmal Ignames, das ein gestampfter Getreidebrei. Nur Wasser 24
oder Spenden, die seine älteren Geschwister aus der Stadt 25
mit nach Hause brachten, meinte Karim. Auch er ginge bald in 26
die Stadt, um zu betteln, denn trotz eigentlicher 27
Schulpflicht war eine Bildung zu teuer. Benjims Geschichten 28
waren ähnlich. Sie machten mich wütend und verlegen. Die 29
reichen Europäer warfen ihr Geld für einen teuren Fernseher 30
10
aus dem Fenster und Kilometer entfernt verhungerten 1
Menschen. Aber mein Zorn richtete sich vor allem gegen mich 2
selbst. Denn ich gehörte zu diesen Menschen. Wegen mir wären 3
meine neuen Freunde gestorben. Ich bot sofort an, meine 4
Spielsachen zu verkaufen. 5
Mathieu beruhigte mich. Es sei nicht meine Schuld. Seine 6
Eltern wären bei einem Unfall ums Leben gekommen. Selbst 7
wenn ich den Gameboy verkaufen würde, würde das seine Eltern 8
nicht zurückholen. 9
Fassungslos starrte ich in Mathieus aufrichtiges Gesicht. 10
Er hatte alles verloren, was ihm im Leben wichtig gewesen 11
war. Eigentlich hätte er einen Hass auf diese Menschen haben 12
müssen, einen Hass auf Menschen wie mich. 13
Doch er blieb ganz ruhig. „Eines Tages verschwinde ich von 14
hier und gehe nach Spanien…“ Spanien war der einzige Ort, 15
den er kannte. „… bis dahin wohne ich bei meinem Cousin 16
Karim.“ 17
An diesem Tag schworen wir alle, eines Tages aus dem Dorf 18
zu verschwinden, in eine Welt, in der es genügend zu essen 19
gab und niemand leiden mussten. 20
Doch was wir nicht ahnten war, dass dieser Tag schneller 21
kommen würde, als uns allen lieb war… 22
Mein Vater verbrachte nun mehr Zeit außerhalb des Dorfes. 23
Mir machte das nichts aus. Ich hatte Freunde zum Spielen 24
gefunden. In unserer Freizeit kletterten wir als Indianer 25
getarnt auf Bäume, um die Mütter nach dem Wasserholen zu 26
erschrecken, wenn wir nicht selbst zum Baden an den Fluss 27
liefen. Manchmal hockten wir auch im Schatten der Häuser und 28
erzählten Geschichten oder malten uns Abenteuer aus, die wir 29
eines Tages erleben wollten. Es war eine wunderschöne Zeit, 30
11
eine, wie ich sie selten erlebt hatte in der schmutzigen 1
Hochhaussiedlung im neunten Stock. In Köln hatte man nach 2
dem Kindergarten gemeinsam vor der Play Station oder einem 3
anderen Spielgeräten gesessen. Geradezu alle Spielplätze in 4
der Gegend waren nach geraumer Zeit asphaltiert oder zu 5
Wohnparks umgestalten worden. Grau, grau, alles nur grau. 6
Meine Freunde existierten nur auf dem Bildschirm. Visuell, 7
eine andere Verbindung gab es damals nicht zwischen uns. 8
Das Leben im Dorf war entbehrungsreich – vor allem für 9
meine Freunde. Doch ich genoss es, auch wenn Papa noch 10
weniger Zeit für mich zu haben schien. Wenn er wieder einmal 11
mitten in der Nacht nach Hause kam, schenkte er mir als 12
Entschuldigung meistens etwas Belangloses: Süßigkeiten, eine 13
Batterie für meinen Gameboy Color oder einen Kugelschreiber 14
- Dinge, die ich im Dorf weitergab. Schließlich hatten 15
einige bisher noch nie einen Lolli probieren können. 16
Mein Leben hätte nicht besser sein können. Schule, spielen 17
mit den Freunden im roten Paradies. Doch es kam der Tag, an 18
dem alles ein Ende finden sollte. Es war der 25. Mai, ein 19
besonderer Tag im Dorf. Keenan feierte Geburtstag. 20
Beim Frühstück meinte mein Vater, er müsse dringend 21
jemanden treffen, noch heute und könne mich nicht zur Schule 22
in die Stadt bringen. Mir war dies recht. So konnte ich 23
helfen, das Fest am Abend vorzubereiten. Wir saßen bis tief 24
in die Nacht um das Lagerfeuer im Dorf herum. Ein älterer 25
Mann spielte auf seiner Panflöte Volklieder, die ich nicht 26
kannte, die anderen sangen vergnügt mit. 27
Die Flammen vollführten ihren unendlich langen Tanz. Ich 28
gähnte herzhaft. Kay stieß mich von der Seite an und 29
lächelte unsicher. „Hast du Mathieu irgendwo gesehen?“ Ich 30
12
schüttelte den Kopf. „Nein, warum? Er meinte, er wolle 1
fischen.“ 2
„Es ist dunkel. Wie soll er da etwas fangen?“ 3
„Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er auch bei Karim. 4
Keine Sorge.“ Beruhigend legte ich ihr den Arm um die 5
Schulter. Sie war für mich zu einer kleinen Schwester 6
geworden, die beschützt werden musste. Eine der wichtigsten 7
Personen für mich in meinem neunjährigen Leben. 8
„Das ist es nicht, Tim.“ Ihre Stimme klang heiser an 9
meinem Ohr. „Ich habe solche Kopfschmerzen.“ 10
Besorgt starrte ich in ihre blauen Augen „Ist dir 11
schlecht? Hast du Bauchweh? Kay, sag doch irgendwas!“, 12
flüsterte ich erregt. 13
Merklich begann sie zu zittern. „Nein, nur diese 14
Kopfschmerzen.“ Ihre Lider flatterten. Sie drohte, nach 15
hinten zu kippen. Schweißperlen rannen über ihr heißes 16
Gesicht. Ohne zu zögern, riss ich sie vom Boden hoch. 17
Willenlos ließ sie es zu, vom Lagerfeuer weg Richtung Häuser 18
geführt zu werden. Es war eine sternenklare Nacht. Dunkel 19
und gefährlich. 20
„Tim“ Kays warmer Atem berührte meine Wangen. „Ich, ich 21
habe Angst.“ 22
Ein schwarzer Vogel, in der Dunkelheit nur als ein 23
Schatten erkennbar, schoss auf uns herab. Sekunden konnte 24
ich in die blutunterlaufenen Augen sehen, die voller Gier 25
auf ihr nächstes Opfer warteten. Aasgeier, sie waren immer 26
da, wenn jemand starb. Zu dieser Zeit machte ich mir noch 27
wenig Gedanken über solche Dinge. Erst später, als ich mich 28
oft mit dem Tod auseinandersetzen musste, verstand ich 29
allmählich. Im Dorf war es still, totenstill. Die Lieder 30
13
waren verstummt. Nur das gelegentliche Krächzen der Geier 1
durchbrach das Schweigen. 2
In meinem Hals kitzelte leichter Brechreiz, doch ich 3
unterdrückte meine Panik. Kay brauchte jemand, der sie 4
beschützte. Ich klopfte an ihrer Haustür, in der Hoffnung 5
ihre Eltern seien daheim; ich irrte. Meine Verzweiflung 6
wuchs mit jedem Augenblick, in dem wir alleine waren. Wäre 7
doch nur Papa hier! Papa, der lieber mit Fremden im Cafe 8
saß, anstatt mir zu helfen. Der Schlag traf mich mitten ins 9
Herz, doch er zeigte mir, wohin ich gehen musste: Nach 10
Hause. Hastig packte ich Kays Arm und zerrte sie zur Hütte 11
Sollte Papa mich nur am Morgen schlagen! Wie ein großer 12
Bruder legte ich meine Freundin auf das freie Bett in meinem 13
Zimmer, deckte sie zu und betete, dass sie wieder gesund 14
werden würde. 15
Ich selbst legte mich ins Bett, beobachte wie sich ihr 16
Bauch langsam unter der Decke senkte. 17
Stimmen. Schritte. Mit geöffneten Augen blieb ich einen 18
Moment völlig bewegungslos auf dem Rücken liegen. Kratzen, 19
ein Klopfen. Drei Uhr. Noch mehr Stimmen. Vorsichtig rollte 20
ich mich vom Bett und schlich schlaftrunken zum Fenster. 21
Wilde Schatten strichen über die Wände. Das Dorf war in das 22
harte, weiße Licht eines Scheinwerfers getaucht. Ein 23
entsetzter Schrei. Was war bloß los? 24
Meine aufsteigende Angst wandelte sich in Unbehagen. 25
Wieder ein Raubtierüberfall? 26
Halb verborgen im Schatten beugte ich mich etwas weiter 27
hervor, um besser sehen zu können. Einige Dorfbewohner 28
versammelten sich um einen Jeep. Die Art, wie sie sich 29
bewegten, beunruhigte mich. Zu hektisch. Eine Mutter drängte 30
14
ihre Kinder ins Haus zurück. Langsam kletterte ich durch das 1
geöffnete Fenster, bedacht Kay und meinen Vater dabei nicht 2
aufzuwecken. Meine rechte Hand tastete nach dem hölzernen 3
Wassertank neben dem Haus. Leere, nichts als Leere. 4
Verzweifelt versuchte ich, Halt zu finden. Ohne Erfolg. 5
Rasend stürzte ich in die braune Tiefe hinab. Ich wollte 6
nach Hilfe rufen, doch mein Schrei wurde in der Kehle 7
erdrückt. 8
Der harte, plötzliche Aufprall trieb mir alle Luft aus der 9
Lunge, sodass ich glaubte, sämtliche Rippen gebrochen zu 10
haben. Ich japste. Blut rann aus meinem Mundwinkel. Das 11
kalte Licht berührte meine brennenden Wangen. Ein langer, 12
dunkler Tunnel öffnete sich mir. Tausende Farben 13
explodierten in meinem Kopf. Magentarot, violett, jadegrün, 14
blau, türkis, goldbraun,… 15
Atme… Entsetzt schlug ich die Augen auf. Atme… Wohltuend 16
sog ich die kühle Luft in meine Lungen, wobei ich mich mit 17
schmerzverzerrtem Gesicht aufsetzte. Die Menschenmenge 18
lauschte seit meinem Sturz bewegungslos einem Todesengel, 19
wie ich ihn später nannte. 20
„… keine Rettung… unser herzliches Beileid…“ 21
Die Wahrheit traf mich plötzlich wie ein Schlag. Ich 22
konnte sie an der Haltung der beiden Polizisten ablesen, die 23
verlegen und unglücklich vor ihrem Jeep standen. Und an dem 24
Tonfall der Menschen, einen, den sie anschlagen, wenn sie 25
eine schreckliche Nachricht überbringen müssen. 26
Doch erst Stunden später, als ich neben Kay am Fluss saß 27
und beobachtete, wie sich das blutrote Morgenlicht über die 28
schlammigen Wege des Dorfes ergoss, begann ich allmählich zu 29
begreifen. Mein Papa war im Himmel. Bei den Engeln und dem 30
15
lieben Gott. Der Mann, der mich jahrelang geschlagen hatte, 1
diesen Mann gab es nun nicht mehr. Einen Unfall, hatten die 2
schwarzen Engel gemeint, ein tödlicher Unfall. Wegen zu 3
hoher Geschwindigkeit hätte Marc River die Kontrolle über 4
den Wagen verloren und einem näher rasenden Baum am 5
Straßenrand nicht mehr ausweichen können. Die staubige und 6
einsame Landstraße, umgeben von tausend Pflanzen, deren 7
Namen nicht einmal ein Professor kennen mochte, überall mit 8
denselben Unebenheiten. In Deutschland hatten sie Papa nicht 9
ein einziges Mal wegen zu schnellem Fahren angehalten. Mein 10
Vater war ein vorsichtiger Fahrer. Warum also sollte er die 11
Kontrolle verloren haben? Je mehr ich darüber nachdachte, 12
desto weniger glaubte ich, dass Papa bei dieser letzten, 13
tödlichen Fahrt wirklich verunglückt war. 14
„Tim?“ 15
Erstaunt blickte ich auf und merkte, dass Kay mich von der 16
Seite anstarrte. Offenbar hatte sie mich etwas gefragt. 17
Verlegen strich ich mit der Hand über meine Stirn. „…Ähm… 18
was?“ Das Mädchen seufzte. „Hab ich dir doch schon dreimal 19
gesagt, Tim. Meine Eltern wollen mit mir in die Stadt 20
fahren.“ Vorsichtig stand sie auf. „Danke, dass du gestern 21
für mich da warst. Du musst auch mal bei mir schlafen“ 22
Ich nickte knapp. Die Enttäuschung, ganz alleine zu sein, 23
schmerzte sehr. Erst Mama, dann Papa und jetzt verließ mich 24
auch noch Kay. Niemand war mehr für mich da, wenn ich Hilfe 25
brauchte. Wenn ich fiel und mir die Knie blutig schlug. Wenn 26
eines meiner Modelautos kaputt ging. Wenn ich weinte oder 27
Angst im Dunkeln hatte. Ich war alleine. Alleine, alleine. 28
Lieber Gott, warum? Tränen liefen über meine Wangen. Warum? 29
Meine Hände verkrampften sich im heißen Sand. Ich fiel auf 30
16
die Knie und weinte vor Zorn und Verzweiflung. Die Sonne 1
brannte unbarmherzig auf mich herab. 2
„Timmy?“ Verwundert sah ich auf. Eine Frau strich mir 3
zärtlich das Haar aus der Stirn. Sie war meine Mutter und 4
ich wusste es. Ich versuchte, aufzustehen, doch meine Beine 5
gaben nach. Mama! Die Frau lächelte traurig. Erneut 6
versuchte ich, ihre Hand zu greifen, doch irgendetwas zog 7
mich zurück. Langsam verblasste die Gestalt. Mama! Nein, ein 8
faltiges Gesicht schob sich vor meines. Mama! Wo bist du? 9
Raue Hände rissen mich hoch, aber ich war zu erschöpft, um 10
Widerstand zu leisten… 11
Mama, Papa! Wo seid ihr? Eine unerwartete Stille hatte 12
eingesetzt, tödliches Schweigen. Dann der dumpfe Aufprall 13
eines Buches auf dem Holzboden, wieder gefolgt von 14
unaufhörlicher Stille. 15
„Tim...?“ Eine rauhe Hand strich mir sanft über die 16
brennende Wange. 17
Diese zitternde Stimme... Kay? Erleichtert wollte ich mich 18
aufrichten, doch eine Hand drückte mich zurück. 19
Kopfschütteln. 20
„Hör zu, Tim. Ich möchte mit dir reden.“ Eine geduldige 21
Männerstimme. 22
Im Winkel meines Blickfeldes bemerkte ich, wie Kays Vater 23
seine Tochter widerstrebend aus der Hütte führte. Sekunden 24
später fiel die Tür ins Schloss. 25
Mein Blick wanderte zu Keenan, dem Dorfältesten, der auf 26
dem Boden neben meiner Decke kauerte. Wir schwiegen eine 27
Weile, vermutlich, weil der Mann nach den richtigen Worten 28
suchte. Seine Hände zitterten. 29
17
„Tim“, meinte er nach einiger Zeit, „Es tut mir leid, was 1
mit deinem Vater passiert ist.“ Ich schüttelte stumm den 2
Kopf. Niemand konnte etwas für den Tod von Papa. Gott 3
alleine hatte es so gewollt. 4
„Ich habe ihn sehr gemocht. Genauso wie ich dich mag, Tim“ 5
Er stockte unsicher, dann fuhr er fort: „In meinem Leben 6
habe ich sehr viele Menschen verloren, an denen ich hing. 7
Meine Eltern starben an einer Krankheit, als ich gerade mal 8
zehn Jahre alt war, also ein wenig älter war als du. Diese 9
Krankheit, Aids, ist unheilbar. An ihr sind später auch zwei 10
meiner jüngeren Schwestern gestorben, weil sie Männer in der 11
Stadt vergewaltigt haben. Ich weiß, das alles ist sehr 12
schwer zu begreifen für einen Jungen in deinem Alter. Für 13
dich ... für dich hat das Leben doch gerade erst begonnen!“ 14
Keenan streichelte mir lächelnd über die Wange. Ein 15
Zittern durchfuhr meinen Körper 16
Es waren nicht die Wörter, die mir Angst einjagten, 17
sondern der Tonfall, den der Älteste angeschlagen hatte. 18
„Was wird jetzt aus mir?“, fragte ich leise, obwohl ich 19
wusste, dass mir die Antwort nicht gefallen würde. 20
„Da du in Deutschland geboren bist, wird man dort deine 21
Verwandten benachrichtigen und dich zurückfliegen lassen, 22
wenn jemand gefunden worden ist, der dich aufnimmt.“ 23
„Ich habe keine Verwandten. Meine Oma ist vorletztes Jahr 24
gestorben und die Familie meiner Mama ist weggezogen, als 25
ich noch sehr klein war.“, erklärte ich, wobei ich mich 26
bemühte, nicht zu weinen. Es war mir peinlich, wie ein 27
kleines Kind zu schluchzen. 28
„Das, das tut mir leid.“ 29
„Schon okay . Ich komme alleine klar.“ 30
18
„Wie alt bist du, Tim?“, fragte Keenan und setzte sich 1
neben mich auf die Decke. 2
„Neun Jahre und 10 Monate.“ 3
„Weißt du, es gibt nicht viele Kinder in deinem Alter, die 4
so tapfer sind wie du. Einige verändern sich. Werden wütend 5
oder verkriechen sich dauerhaft. Ich möchte dir helfen.“ 6
„Danke! Es ist nur so, dass ich Angst davor habe, alleine 7
zu sein.“ 8
„In Deutschland soll es schöne Kinderheime geben, in denen 9
sich immer jemand um dich kümmern kann…“ 10
„Nein, Keenan, ich will hier bleiben.“ Innerlich ich 11
fühlte mich wie betäubt. Nicht schon wieder aufgeben. Kay, 12
Mathieu, ich brauchte sie doch so. 13
Keenan legte mir den Arm um die Schulter. Seine Fürsorge 14
beruhigte mich ein wenig. 15
„Wegen Kay?“ 16
Ich nickte langsam. „Sie ist so etwas wie meine kleine 17
Schwester, glaube ich.“ 18
„Dachte ich mir doch, dass ihr aneinander hängt. Sag, wie 19
kommst du mit ihren Eltern klar?“, erkundigte sich der Mann. 20
„Ganz gut. Sie sind nicht oft zuhause. Aber mein Papa hat 21
sie gut gekannt. Arbeitet Josefine nicht in einem Hotel in 22
Lomé?“ 23
„Ja. Ich werde mit Kays Vater reden. Vielleicht lässt sich 24
eine Möglichkeit finden, dass du doch nicht zurück nach 25
Deutschland musst.“ 26
Verschwörerisch zwinkerte mir Keenan zu und erhob sich 27
ächzend. „Kay? Nicolai?“ 28
Sofort stürmte Herr Brown in die Hütte, dicht gefolgt von 29
seiner Tochter, die jedem meiner Blicke auszuweichen 30
19
versuchte. Der Mann, seltsamerweise nicht in Arbeitskleidung 1
sondern in weißem Hemd und kurzer Hose, schenkte mir ein 2
erleichtertes Lächeln. Seinen gestressten Gesichtsausdruck 3
schien er allerdings auch nicht in seiner Freizeit ablegen 4
zu wollen. Widerwillig hockte sich Kay neben mich auf die 5
Decke, während die Erwachsenen das Zimmer verließen, um 6
ungestört über meine Zukunft reden zu können. 7
Wir schwiegen. Mit jedem Augenblick, der verstrich, stieg 8
meine Nervosität. Würden sie mich in Deutschland in eines 9
dieser riesigen, dunklen Häuser stecken? In denen man auf 10
den Fluren die Schreie immer wieder hören kann? In denen man 11
durch eine Mauer von den anderen Spielplätzen und Kindern 12
weggesperrt wird? Und in denen man sich immer wieder 13
verlief? 14
Ich spürte, wie Kay meine Hand nahm. „Wirst du jetzt auch 15
weggehen?“ Ihre Stimme zitterte. Zum ersten Mal sah sie mich 16
direkt an. In ihren Augen bildeten sich Tropfen, die man 17
Tränen nannte. Unbeholfen legte ich den Arm um ihre 18
Schulter. Wie Bruder und Schwester. „Wirst du weggehen?“, 19
flüsterte sie nach einer Weile in mein Ohr. Kopfschüttelnd, 20
gleichzeitig nickend zuckte ich die Achseln. Verwirrung, 21
Verzweiflung, Angst. Ich wusste es nicht, ich wusste es 22
einfach nicht. Die dumpfen Stimmen der Erwachsenen erklangen 23
hinter der Holztüre. Aufgebracht schlug jemand mit der Faust 24
auf einen Tisch. Kay stand zögernd auf und legte meine Hand 25
auf ihre Brust. „Du bist immer da drin, egal wo du bist.“ 26
Durch den dünnen Stoff ihres T-Shirts spürte ich ihren 27
leichten Herzschlag. Es war ein bedeutender Augenblick in 28
meinem Leben. Warum, verstand ich nicht. Doch ich wusste, 29
dass ich ihn nie vergessen würde. „Und du bist mein 30
20
allerbester Kumpel.“, fügte ich seltsam aufgeregt hinzu. 1
Stille. Nur unsere Herzschläge. Schließlich griff Kay in 2
ihre Hosentasche und zog einen kleinen Holzschwan hervor. 3
„Den kannst du haben.“ Ich schüttelte entsetzt den Kopf. 4
Dieses Tier bedeutete ihr genauso viel wie mir mein 5
Kuscheltierlöwe! „Du kannst ihn haben. Wirklich!“ Sie rieb 6
mit einer Hand ihr Auge, mit der anderen drückte sie mir ihr 7
Spielzeug an die Brust. Es war ein wunderschöner Schwan, aus 8
weißen Holz geschnitzt und mit großen braunen Augen, die 9
erwartungsvoll in die Zukunft blickten. Augen, wie Kay sie 10
hatte. Damals habe ich mir immer wieder eingebildet, diese 11
komische Liebe gäbe es nur zwischen Erwachsenen, nicht 12
zwischen uns. Aber es war wahr, ich habe es nur nicht 13
begriffen. Ich habe dieses Wesen vor mir geliebt, geliebt 14
nicht nur wie eine Schwester. 15
In meinem Blickwinkel bemerkte ich den Löwen. Meinen 16
Löwen. Den Löwen, den Mama mir geschenkt hatte, kurz bevor 17
sie uns verlassen hatte, um zu den lieben Engeln in den 18
Himmel zu gehen. Sollte ich…? 19
Ruckartig wurde die Türklinge herunter gedrückt. Die 20
beiden Erwachsenen senkten den Kopf, um mich nicht ansehen 21
zu müssen. Doch ihre Haltung machte mir bewusst, dass ich 22
verloren hatte. Mama, Papa und Kay. 23
„Dad! Tim darf doch bei uns bleiben, oder?“ Herr Brown sah 24
seine Tochter mit einem Gemisch aus Verständnis und 25
Gleichgültigkeit an. Dadurch, dass er die Frage nicht 26
beantwortete, schien sie auch nicht aus dem Raum zu 27
verschwinden. Immer und immer wieder tauchte sie in meinen 28
Gedanken auf. Tim darf doch bei uns bleiben, oder? Diese 29
Ungewissheit machte mich nervös. Ich musste es wissen. 30
21
„Du willst mich nicht, stimmt‟s?“, fragte ich trotz meiner 1
Angst, die Wahrheit zu erfahren. Solange es nicht 2
ausgesprochen war, blieb mir wenigstens die Hoffnung. 3
Verzweifelt wanderte Herr Browns Blick zu Keenan, der 4
bewegungslos in der Tür stehen geblieben war. 5
„Tut mir leid, Tim. Es geht nicht.“, flüsterte der alte 6
Mann mitfühlend. Ich nickte knapp. Nicht entsetzt, nur ein 7
wenig verwirrt. Vielleicht, weil ich damals noch nicht 8
verstanden habe, was dieses „Es geht nicht“ bedeutete. Für 9
mich war es ein „Es geht nicht“ gegen ein Spiel oder eine 10
Süßigkeit. Nicht ein „Es geht nicht“ für immer. Ich hatte es 11
geahnt und doch immer wieder verdrängt. Erst Kay zeigt mir, 12
wie ernst es war. Ihren Körper durchfuhr ein Zucken, wie 13
das, wenn man mit der Zunge über eine Batterie leckt. 14
„Was!?“, schrie sie aufgeregt. 15
Die Grüne eines Froschs stieg ihr ins Gesicht. Sie drohte; 16
sich zu übergeben. Ich wollte ihr helfen, doch meine Hände 17
fühlten sich seltsam taub an. Auch meine Füße wollte mir 18
nicht mehr gehorchen. Speichel tropfte auf den Fußboden. 19
Herr Brown stürzte auf seine Tochter zu und führte sie 20
wehrlos aus dem Haus, Richtung Wagen. 21
„Warum?“, fragte ich leise, „Warum darf ich nicht bei Kay 22
bleiben?“ 23
Ein Automotor heulte auf. Durch das Fenster konnten wir 24
erkennen, wie Kays Vater den Rückwärtsgang einlegt. 25
Augenblicke später Staub wurde aufgewirbelt. Als er 26
verschwand, war Kay wie die Sandkörner davon geblasen 27
worden. Widerstandslos. Einfach weg. 28
„Wenn du erwachsen bist, wirst du es verstehen.“ Tröstend 29
wollte Keenan den Arm um mich legen, doch ich stieß ihn von 30
22
mir. Sie hatten mir das Letzte genommen, was mir noch 1
geblieben war: Meine Freunde. Wenn du erwachsen bist - ist 2
die Welt immer noch so, wie sie ist. Rund und mit vielen 3
ekligen Menschen, die dir nicht helfen können oder wollen! 4
Ich hasse euch! Euch alle! Meine Angst wandte sich zur 5
dumpfen Wut, die mir langsam in den Kopf stieg. Niederlagen 6
häuften sich. Erbost stand ich vor Keenan, mit aufgeplatzten 7
Lippen, geöffnete zu einem Schrei, der augenblicklich in 8
meiner Kehle erstickt wurde. 9
Tränen schossen mir in die Augen, doch diesmal 10
unterdrückte ich sie nicht. Sollten diese Monster doch nur 11
denken, was sie wollten! Ich war doch erst neun! In Keenans 12
Blick lag etwas Mitfühlendes, doch das war mir egal. Er hat 13
mir nicht geholfen, als es nötig war, also brauchte er mich 14
auch jetzt nicht, zu bemitleiden. 15
„Tim, es…“, fing er mit seiner rauen Stimme an. Ich 16
wusste, was er sagen wollte. Instinktiv wusste ich es. Es 17
tut mir Leid. Aber davon konnte ich meinen Vater und Kay 18
auch nicht zurückholen. Erst jetzt begann ich allmählich 19
wirklich, um Papa zu trauern. 20
Bisher war es für mich ein Traum, ein Albtraum, doch ich 21
verstand, dass es ein Albtraum war, aus dem ich nie wieder 22
erwachen würde. Nie wieder. 23
Warum? Reichte es dir nicht, Gott, dass du schon Mama und 24
Oma hattest? Brauchtest du auch noch Papa? Warum hilfst du 25
mir nicht? Bin ich dir nicht so viel wert wie andere? Okay, 26
ich gebe zu, ich habe einige schlechte Dinge im Leben getan. 27
Ich habe das letzte Weihnachten versaut, weil ich Mamas 28
Engel fallen gelassen habe. Papa hat mich fürchterlich 29
geschlagen und gesagt, du würdest mich dafür bestrafen. Aber 30
23
ich wollte das doch alles gar nicht! Und das mit Hendriks 1
Rittersporttäfelchen. Die hatte ich auch nicht klauen 2
wollen. Wirklich nicht. Ich bin doch kein Dieb! Wenn du böse 3
auf mich bist, warum hast du dann Papa genommen und nicht 4
mich? Er hat nie etwas Ungerechtes getan, Gott. Er war doch 5
mein Papa! 6
Warum hast du ihn tot gemacht? Sag es mir! Warum? 7
„Tim? Kleiner, beruhige dich. Alles wird gut.“ 8
Augenblicklich kehrte ich in die Wirklichkeit zurück und 9
mit mir meine Wut. 10
Papa ist tot. Und ihr alle, ihr seid schuld daran! Ich 11
konnte nicht mehr. Aus, aus, aus. Das Spiel ist aus. 12
Deutschland ist nicht Fußballweltmeister. Erbost schnappte 13
ich mir den Kuscheltierlöwen und stürmte aus der Hütte, ohne 14
von Keenan aufgehalten zu werden. 15
Im Dorf war niemand zu sehen. Benjim und Karim waren mit 16
den älteren Kindern zum Betteln in die Stadt gelaufen, 17
während ihre Eltern auf dem Feld arbeiten. Mathieu trieb 18
sich seit Tagen am Fluss herum, um zu angeln, sowie es sein 19
Vater getan hatte, bevor auch Gott ihn in den Himmel geholt 20
hatte, obwohl er bisher kaum etwas Bedeutendes fing. 21
Der heiße Sand brannte unter meinen Füßen, als ich jetzt 22
zum Fluss rannte, zu dem Einzigen, der mich neben Kay noch 23
verstand. Schweiß rann über mein Gesicht. 24
In der kahlen Krone eines alten Baumes hockten die 25
Aasgeier. Kreischend lauerten sie auf ihr Opfer. Versteckt 26
in einer Nichte, streckten die Jungen ihre Hälse und 27
bettelten um Futter, bis die Eltern mit Fleisch zurückkamen. 28
Karim und Benjim hatte einmal Steine nach den Vögeln 29
24
geworfen und eines der Tiere erwischt. Dafür habe ich sie 1
gehasst. 2
Mathieu hockte auf einem Stein. Als ich hinter einem Baum 3
hervortrat, verfolgten seine klugen, dunklen Augen neugierig 4
jede meiner Bewegungen. Grinsend klopfte er neben sich auf 5
den Boden. Seine offene Art unterschied ihn deutlich von den 6
anderen Dorfbewohnern, die sich gegenüber Fremde 7
misstrauisch und distanziert verhielten. Vermutlich, weil 8
sein großer Traum, eines Tages zu verschwinden, immer noch 9
existierte. 10
„Willst du mal sehen, was ich gefunden habe, Timothy?“ 11
Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung, als ich 12
mich neben ihn auf den Stein hockte. 13
Stolz hob er den Deckel einer alten Blechbüchse. Eine 14
Münze, ein wahrer Schatz für jemanden, der so arm war wie 15
Mathieu. 16
„Wenn ich morgen in die Stadt gehe, kaufe ich uns was 17
richtig Tolles zum Essen. Du kannst auch kommen, wenn du 18
willst.“ 19
„Okay.“ Reflexartig wandte ich mich ab. Denn ich wusste, 20
er würde bemerken, dass ich log, wenn er mir in die Augen 21
sah. Die Sonnenstrahlen, die vom Wasser zurückgeworfen 22
wurden, blendeten uns. 23
„Du kommst nicht, oder?“ Mathieus freie Hand umklammerte 24
meine Schulter. Weiß trat der Knochen durch die dünne, 25
hellbraune Haut hervor. 26
Schweigen. Was sollte ich auch sagen, wenn ich die Antwort 27
selber nicht einmal begriff? 28
Ich muss zurück nach Deutschland, weil die Erwachsenen es 29
so wollten? 30
25
Die Geier kreisten über uns. Einer schoss herab aufs 1
Wasser, bohrte seine Klauen in den Körper eines Fisches und 2
trug das hilflos zappelnde Tier davon. Mitfühlend sah ich 3
dem Fisch nach. Zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. 4
Er würde heute Abend nicht mehr zu seinen Eltern und Kinder 5
zurückkehren. Nie mehr. Dafür würde der Vogel überleben. 6
Fressen oder gefressen werden… 7
„Mathi ... Ich ... Mein Vater ist letzte Nacht gestorben 8
und Keenan will nicht, dass ich bleibe.“ Es fiel mir schwer 9
darüber zu reden, obwohl ich wusste, dass mein Freund mich 10
verstand. Seine Eltern sind irgendwann abends auch nicht 11
mehr von der Arbeit nach Hause gekommen, so wie viele 12
andere, die er aus dem Dorf kannte. Gerüchte, dass sie einen 13
Unfall gehabt hätten, waren herumgegangen. Mathieu jedoch 14
glaubte ihnen nicht. In seinen Gedanken leben seine Eltern 15
in einer besseren Welt mit viel Essen und wenig Angst. 16
„Du willst abhauen, ohne mich mitzunehmen? Was für ein 17
Feigling bist du denn?“ 18
Erbost rammte er mir den Ellbogen in den Bauch und sprang 19
auf. 20
„Ich bin kein Feigling.“, erwiderte ich verbittert. Mein 21
Magen verkrampfte sich an der Stelle, an der Mathieu mich 22
getroffen hatte. Ein Tränenschleier ließ das Bild 23
verschwimmen. 24
Mathieu war in einiger Entfernung stehen geblieben, den 25
Blick von mir abgewandt, als existiere ich nicht. „Ich 26
dachte, wie wären Freunde.“ Verzweifelt versuchte ich, ein 27
Schluchzen zu unterdrücken. Indianer weinen doch nicht! 28
Mathieu lachte. „Und da fragst du mich nicht, ob ich mit 29
dir abhaue?“ 30
26
„Du willst mitkommen?“ Mein verwirrtes Gesicht musste ihm 1
verraten haben, dass ich es ihm nicht abnahm. 2
„Klar. Großes-Spanien-Ehrenwort!“ Grinsend hob er Zeige- 3
und Mittelfinger zum Eid, sowie wir es immer getan haben, 4
als wir vor Wochen - oder waren es Monate gewesen? - im 5
Schatten der Häuser von den Abenteuer und Geschichten 6
erzählt hatten, die wir eines Tages erleben wollten. Wenn 7
ich heute darüber nachdenke, frage ich mich, warum damals 8
nicht einfach die Zeit hätte stehen bleiben können. Und 9
immer wenn ich mich danach gesehnt hätte, wieder auf Bäume 10
zu klettern und Indianer zu spielen, wären meine Freunde da. 11
Karim, Benjim, Mathieu und Kay. „Hör zu. Wir treffen uns um 12
Mitternacht hinter deiner Hütte. Pack ein paar Sachen 13
zusammen und Geld…“, fuhr der Junge fort, wobei er mit einem 14
Stock in den Sand malte. 15
„Aber ich kann doch nicht Papa beklauen!“, stieß ich 16
erschrocken hervor, widerwillig ablenkend, was ich da gerade 17
gehört hatte. Mathieu verlangte doch nicht etwa von mir, 18
dass ich zum Dieb werde! 19
„Dein Vater braucht das Geld, dort wo er ist, nicht mehr. 20
Aber da, wo wir hingehen…“ 21
„Wohin willst du?“ 22
Mathieu zuckte mit den Schultern „Weiß nicht. Einfach weg 23
von hier.“ 24
„Okay.“ 25
„Aber den anderen erzählen wir nichts davon.“ 26
„Auch nicht Kay?“ 27
„Nein. Die ist eine Petze.“ 28
Instinktiv wollte ich Kay beschützen, doch ich musste 29
widerstrebend zu geben, dass sie uns wahrscheinlich 30
27
tatsächlich aufgehalten hätte. In Dingen, wie diesen, waren 1
wir immer verschiedener Meinung gewesen. Vermutlich weil Kay 2
ein Mädchen war und zwar das Erste, mit dem ich je gespielt 3
habe. Wäre ich auch damals in Köln mit einer Freundin nach 4
Hause gekommen, hätte Papa mich lachend in der Tür empfangen 5
und spöttelnd gesagt: „So ein kleines Weichei und doch schon 6
eine Freundin.“ 7
Hier in Afrika schien es ihn nicht mehr zu interessieren, 8
mit wem ich zusammen war. 9
Überhaupt schien es ihm egal, was die Menschen von ihm 10
hielten. Hauptsache, niemand klaute ihm seine Pfeife, die er 11
seit unserer Ankunft beinahe immer zwischen den Zähnen trug. 12
Gelegentlich stieg eine betörende Rauchwolke auf, die mich 13
oft schläfrig gemacht hatte. Diese Pfeife sei nichts für 14
kleine Kinder, hat er mir immer wieder eingebläut. „Warum 15
nicht, Papa?“ Mein Vater hat sich abgewendet, die Pfeife an 16
seine Lippen genommen. Momente habe ich geglaubt, er werde 17
mich nun schlagen. Doch seine Muskeln haben sich entspannt 18
und er hat, ohne mich anzusehen, die Achseln gezuckt, 19
während erneut eine Wolke über seinem Kopf aufgestiegen ist. 20
„Weil es so ist, Tim.“, hat er ruhig gemeint, sich auch das 21
Bett gelegt und auf dem Rücken liegend zur Decke gestarrte, 22
„Geh jetzt spielen. Deine Freunde warten sicher schon auf 23
dich.“ 24
Allmählich habe ich begriffen, dass mein Vater zuerst 25
Haschisch und später auch Marihuana abhängig gewesen war. 26
Dies ist für mich der wahre Grund, warum er sterben musste. 27
„Tim? Hey, bist du da?“ 28
Mathieus Stimme holten mich aus meinen Erinnerungen 29
zurück. Mit besorgter Miene klopfte er auf meine Schulter. 30
28
„Wenn es unbedingt sein muss, kannst du es Kay sagen. Aber 1
nur Kay, verstanden?“, fuhr er seufzend fort und holte 2
erneut die leere Leine ein. 3
Ich nickte. „Okay.“ 4
Ein Geier landete unmittelbar vor unseren Füßen. Wie ein 5
König, schritt er, das braune Gefieder angelegt, wie einen 6
teuren Mantel, über das Sandmeer, welches sich wie ein 7
Königreich unter seinen scharfen Krallen beugte. In seinem 8
gierigen Schnabel hingen blutige Fetzen des letzten Opfers. 9
Mein Blick folgte dem listigen Vogel, einem Tier, das sich 10
den Tod eines anderen zu Nutzen machte. Widerwillig musste 11
ich zugeben, dass es mich faszinierte. Die Geier fraßen nur 12
diejenigen, die schon tot gemacht worden waren. Ob sie auch 13
Papa stückweise in ihren hungrigen Mäulern trugen? 14
Augenblicklich kitzelte der Brechreiz in meinem Hals. 15
Rasch sprang ich auf. „Ich muss gehen. Bis um Mitternacht 16
dann.“ Der bittere Geschmack lag immer noch auf meiner Zunge 17
„Aber verschlaf nicht! Sonst wachst du einen Kopf kurzer 18
wieder auf.“ 19
Ich grinste. Diesen Spruch hatte ich schon öfters gehört, 20
nur mit dem Unterschied, dass Papa ihn immer ernst genommen 21
hatte. Im Blickwinkel bemerkte ich einen Aasgeier, 22
denselben, der noch zuvor über den Sand stolziert war. Nun 23
landete er mit solcher Eleganz auf dem Wasser, dass er mir 24
beinahe wie ein Mensch vorgekommen wäre. Die klugen, dunklen 25
Augen spähten auf die glitzernde Wasseroberfläche. Scheinbar 26
zufrieden räkelte er die Feder im Licht der glühenden Sonne 27
und stieß einen Schrei aus. 28
„Kann Kay nicht mitkommen?“, fragte ich im Fortgehen. Mir 29
gefiel die Vorstellung nicht, dass sie alleine 30
29
zurückzulassen. Bei diesen dummen, ekligen Menschen, die uns 1
sowieso nicht verstanden. 2
„Glaubst du, ihr Vater würde sie gehen lassen?“ 3
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber…“ Aber wenn er Kay 4
wirklich lieben würde, dann ja. Dann würde er auch 5
verstehen, wie sie sich fühlt, wie ich mich fühle. 6
„Siehst du.“, unterbrach mich Mathieu achselzuckend und 7
warf erneut die Leine aus. Ehrgeizig wie beim ersten Mal, 8
obwohl er ahnen musste, dass er nichts fing. 9
„Du magst sie nicht, oder?“ Warum bist du immer so 10
abwertend gegenüber Kay? Weil sie aus Schottland kommt und 11
mehr besitzt als du? Warum hasst du dann nicht auch mich, 12
Mathieu? 13
„Sie ist ein Mädchen und Mädchen sind nun mal… anders. 14
Seltsam halt. Sie brauchen ständig einen Beschützer und, 15
glaub mir, für Kay ist es das Beste, wenn sie uns nicht 16
folgt. Da draußen gibt es böse Menschen, die ihr wehtun 17
könnten und…“ 18
„Kay kann prügeln.“ Energisch hob ich mein T-Shirt und 19
deutete auf einen langen Kratzer am Rücken: „Hier.“ 20
„Du bist blöd, Tim, wenn du denkst, es ginge nur ums 21
Prügeln. Dein Vater… Bist du sicher, dass er einen Unfall 22
hatte?“ 23
Seine Frage irritierte mich. Dein Vater… Bist du sicher, 24
dass er einen Unfall hatte? 25
„Lass Papa aus dem Spiel!“, brüllte ich zornig. 26
„Schon gut. Reg dich nicht gleich so auf. Aber ich würde 27
mal darüber nachdenken.“ 28
„Nur weil deine Eltern dich im Stich gelassen haben, 29
müssen meine dies nicht auch tun!“ 30
30
Ohne ein weiteres Wort wandte Mathieu sich ab und starrte 1
schweigend auf die wie ein Diamant glänzende Wasserschlange 2
herab, die sich Richtung Norden davon schlängelte. 3
Es war seltsam, dass er nichts sagte. Kein Wort. Ich 4
wartete, doch er schwieg. Ob er traurig war, weil seine 5
Eltern ihn alleine gelassen haben? 6
„Ich gehe. Bis heute Abend.“ 7
Immer noch keine Regung. "Mathieu, rede mit mir!", formten 8
meine Lippen, doch ich bekam keinen Ton heraus. Surrend 9
landete ein Insekt auf dessen brauner Haut, stach den langen 10
Rüsseln in das Fleisch und saugte, wie ich am Strohhalm 11
eines Capri Sonne, genüsslich das rote Sirup. 12
13
Die Hütte erschien mir leer, seit Vater fort war. Niemand 14
erwartete mich, um mir zu sagen, dass ich großen Ärger 15
bekommen würde, weil ich zu spät nach Hause kam. Niemand lag 16
auf dem alten, abgenutzten Sofa und rauchte an der Pfeife, 17
während ich am Tisch saß und in dem Essen von gestern 18
herumstocherte. 19
Das Holz knarrte unter meinen bloßen Füßen. Die 20
verbleichte Blumentischdecke, die als Vorhang diente, 21
flatterte im aufkommenden Wüstenwind. An der Wand neben der 22
Küchenuhr hing noch der Kalender mit den teuren Autos. 23
Vorsichtig nahm ich ihn zur Hand und kletterte auf das Sofa. 24
In viele Kästchen waren fremde Namen gekritzelt. Meinen 25
eigenen entdeckte ich nirgends. Der 25. Mai war rot umkreist 26
und in seiner Mitte stand eine wirre Kombination aus 27
Buchstaben und Zahlen. Kamikaze. Papa hatte oft seltsame 28
Zaubersprüche gesagt oder geschrieben, seit er 29
herausgefundenen hatte, dass ich besser lesen und schreiben 30
31
konnte, als normale Kinder in meinem Alter. Daheim in 1
Deutschland habe ich immer geglaubt, mein Vater sei ein 2
Zauber, wenn er sich in seinem Arbeitszimmer einschloss, um 3
ungestört zu sein. Manchmal habe ich deshalb an der Tür 4
gelauscht und Gespräche mit einem komischen Mann 5
mitbekommen. Einen Papagei, wie ich ihn nannte. Er hat immer 6
alles nachgeplappert, was Papa ihm erzählte, und damit 7
später richtig Kohle gemacht. Jedes Mal wenn dann Papa von 8
der Arbeit nach Hause gekommen ist, hat er seine Wut an mir 9
ausgelassen und mir eingebläut, nicht irgendwelchen 10
Hohlköpfen zu vertrauen. Warum er doch immer wieder auf die 11
Tricks reinfiel, wie ein dummes, kleines Kind, habe ich nie 12
verstanden. Hätte er doch die Papageie schlagen sollen! Die 13
waren doch Schuld, dass Papa plötzlich mit einem Stängel 14
zwischen den Zähnen unsere Wohnung verdampft und mich dafür 15
verantwortlich machte, dass aus ihm ein Vater geworden ist, 16
zu dem nur einer aufschaut und nicht alle anderen. 17
Als Erinnerung schrieb ich mir den Spruch in die 18
Handfläche und riss die Seite mit dem teuren Ferrari 19
Porsche, den Papa immer hatte fahren wollen, aus dem 20
Kalender. Kamikaze - was das wohl bedeutete? Vielleicht 21
konnte man damit die Zeit zurückdrehen. Nein, vermutlich 22
nicht. Dann hätte Papa längst Mama von den Engel 23
zurückgeholt und Oma auch. 24
Schließlich hat er abends im riesigen Ehebett geweint und 25
geschrien wie ein Baby, dem man seinen Schnuller weggenommen 26
hatte. Wenn ich ihn nach Mama fragte, ist er immer 27
verletzlich gewesen. 28
Während ich den Kalender achtlos auf den Tisch warf, blieb 29
mein Blick an dem zerknitterten, verblassten Foto auf der 30
32
Kommode hängen. Es zeigt eine glückliche, junge Familie am 1
Strand. Hinter ihnen verschwindet die Sonne langsam vom 2
Horizont. Der Vater, ein gepflegter Mann, Mitte dreißig, in 3
Hemd und Shorts gekleidet, hält ein wunderschöne, schlanke 4
Frau im Arm. Mit dem langen, blonden Haar, welches vom 5
frischen Meerwind erfasst wird, und dem luftigen, weißen 6
Sommerkleid wirkt sie beinahe wie ein Engel. Ein kleiner 7
Junge, in der einen Hand ein Surfbrett haltend, schaut zu 8
ihnen auf, während Wellen sanft seine Füße umspielen. Das 9
hellbraune Haar klebt nass in seiner Stirn… Es war ein 10
Augenblick voller Bedeutung gewesen. Ich habe ihn nie 11
vergessen. Es sollte einer der letzten gemeinsamen 12
Erinnerungen sein. Für immer. Mama, warum hast du Papa und 13
mich alleine gelassen? Wir brauchten dich doch so sehr. Ich 14
brauche dich. 15
Erschrocken fuhr ich plötzlich hoch. Die Küchenuhr schlug 16
zwölf Mal, dann war es wieder ruhig. Gestern war Papa noch… 17
Nein, ich wollte nicht darüber nachdenken! Ich durfte nicht! 18
Das Denken war es, was ihn durcheinander gemacht hatte und 19
was nun auch mich durcheinander machen würde. Was wäre wenn… 20
Ich hatte das Spiel oft genug mit Kay gespielt. Was wäre, 21
wenn ich ein Vogel wäre… Was wäre, wenn ich du wäre und du 22
ich… Kopfschüttelnd sprang ich vom Stuhl und rannte, das 23
Foto, die Kalenderseite und den Kuscheltierlöwen immer noch 24
in der Hand, in mein Zimmer. An der Tür hing mein blauer 25
Eastpack-Rucksack Über einen Legostein stolpernd riss ich 26
ihn vom Hacken und sah mich verzweifelt im Zimmer um. Es 27
herrschte wie immer Chaos. Wenn Papa jetzt hier wäre, hätte 28
er wieder einen Grund gehabt, mich zu schlagen und 29
anzuschreien, obwohl er selber ein noch größerer Chaot war. 30
33
Erneut ertappte ich mich im Nachdenken und seufzte. Das 1
musste doch endlich mal ein Ende habe! Vorsichtig, ohne über 2
ein Modelauto oder die Steine zu fallen, schlich ich zu 3
meinem Bett und zog die Schublade meiner grob zusammen 4
gezimmerten Kommode auf. In ihr lagen der Gameboy Color und 5
jede Menge Krimskrams, der sich dort mit der Zeit angestaut 6
hatte. Mit beiden Händen nahm ich die Sachen heraus und 7
begann sie zu durchsuchen. Eine kaputte Benjamin Blümchen-8
Uhr, abgelaufene Lollis, ein altes Freundebuch, Taschenlampe 9
und -Messer, Schachfiguren, die Indianerfeder und das 10
Wichtigste: Mamas Ring. Papa hat ihn in einer winzigen 11
Porzellantruhe aufbewahrt und beschützt, wie ein Drache 12
seinen goldenen Schatz. Als wir hierher nach Afrika zogen, 13
hatte er ihn auf den weißen Marmorgrabstein gelegt, damit 14
Mamas Geist sich nicht verirrte und ruhelos in der Gegend 15
herumstreunte, ohne uns zu finden. Aber ich habe Mama 16
zurückgeholt. Ich konnte sie doch nicht Deutschland alleine 17
lassen, bei all dem Lärm der Autos und dem grellen Licht der 18
Laternen! Behutsam wog ich den silbernen Ring in meiner Hand 19
und bettete ihn dann in meine Dose, die mir die Zahnfee 20
geschenkt hatte, weil ich so tapfer gewesen bin, als ich mir 21
den ersten Zahn an der Tischkante ausschlug. Zusammen mit 22
dem Gameboy, der Taschenlampe, dem Messer, der Kalenderseite 23
und zwei meiner Lieblingsautos warf ich sie in den Rucksack. 24
Auf einen Stuhl kletternd langte ich nach Papas Geldkassette 25
auf dem Küchenschrank. "Ich bin doch kein Dieb!", meldete 26
sich mein Gewissen. Augenblicklich zuckte meine Hand zurück. 27
"Nimm es!", befahl mein Egoismus. Widerstrebend musste ich 28
zugeben, dass Papa dort wo er jetzt war, dass Geld 29
tatsächlich nicht mehr brauchen würde. Die Kassette war mit 30
34
einem kleinen Schloss versehen; den Schlüssel versteckte er 1
in der Zuckerdose. Ich hatte ihn oft heimlich dabei 2
beobachtet, wie er immer wieder viele Scheine herausnahm, 3
aber nur selten welche zurücklegte. Vorsichtig drehte ich 4
den Schlüssel herum und lauschte dem befriedigenden Klicken. 5
Das Innere der Kassette war zur Hälfe mit CFA-Scheinen 6
gefüllt, darunter lagen zwei Sparbücher, eines von meinen 7
Eltern und eins von mir. Unsicher nahm ich ein Bündel 8
Scheine heraus, ließ es durch meine Finger fahren und legte 9
es in das vordere Fach meines Rucksackes. Noch nie hatte ich 10
so viel Geld besäßen. Was ich mir dafür alles kaufen könnte! 11
Mehr Legosteine, ein neues Gameboy-Spiel und… und nichts. 12
Mit jeder Münze, die ich wegwarf, würde ich auch Papa ein 13
Stück weit verkaufen. Ein Klopfen ließ mich hochstecken. 14
Hastig stopfte ich das letzte Bündel in den Rucksack und 15
sprang vom Stuhl. Während ich fieberhaft überlegte, ob ich 16
die Tür öffnen sollte, trat ich die Tasche unter das Sofa. 17
Erneut klopfte es, diesmal härter und energischer. „Tim? Ich 18
weiß, du bist da drin und mich nicht sehen möchtest. Das 19
musst du auch gar nicht, aber hör mir bitte zu, ja?“, 20
erklang ein durch das Holz der Tür gedämpfte Männerstimme. 21
Neugierig sank ich hinter der Tür zusammen. Warum kamen 22
Erwachsene im Nachhinein, um sich zu entschuldigen, obwohl 23
sie es nicht so meinen? „Es tut mir Leid, Tim. Das mit 24
deinem Vater und mit Kay. Herr Brown ist in die Stadt 25
gefahren, um mit der deutschen Botschaft zu sprechen. Doch 26
ich denke, bis sie deinen Pass neu beantragen und alles 27
geklärt haben, bleiben uns noch ein, zwei Tage. Wir könnten 28
ein kleines Abschiedsfest feiern, wenn du möchtest. Mit 29
35
Panflöten. Du magst doch, Panflöten, nicht wahr?“ Ich 1
antwortete Keenan nicht. Ein, zwei Tage… 2
„Du bist ein lieber Kerl, Tim. Ich bin mir sicher, du 3
wirst in Deutschland neue Freunde finden. Stell dir einfach 4
vor, das alles wäre ein böser Traum gewesen.“ 5
Ein böser Traum, aus dem ich nie wieder erwache… Meine 6
Hände begannen merklich zu zittern. Ich versuchte, mir Kay 7
vorzustellen, wie sie morgen zurück in diesen Traum gestoßen 8
würde, wenn sie herausfand, dass Mathieu und ich abgehauen 9
waren. Arme, Kay! 10
„Tim? Tim!“ Keenan hämmerte erneut gegen die Tür, wie ein 11
wildes Tier in seinem Käfig. Nach einigen Sekunden beruhigte 12
er sich wieder und seufzte tief. „Ich lasse dich jetzt 13
alleine. Wenn du Hilfe brauchst, egal welche, komm einfach 14
rüber, okay?“ Ächzend stemmte er sich hoch. Der Sand ließ 15
seine Schritte schnell verklingen. Hastig eilte ich zum 16
Fenster und spähte im Schutz des Vorhangs heraus. 17
Regenbogenfarbenes Benzin spiegelte sich im Licht der Sonne. 18
Irre Reifenspuren zeichneten sich am Boden ab. Ob Kay noch 19
heute Abend nach Hause kam und mich besuchte? Oder hatte man 20
es ihr verboten, weil ich ein schlechter Umgang für sie war? 21
Der weiße Schwan kratzte in meiner Hosentasche. Weiße Feder 22
und kluge, braune Augen. Augen voller Trauer und 23
Gerechtigkeit. Gab es überhaupt so etwas wie Gerechtigkeit? 24
Ich zweifelte daran. Wenn es Gerechtigkeit gäbe, wäre Mama 25
nicht tot. Außerdem: Mathieu und die anderen glaubten nicht 26
an den Gott. Warum sollte es ihn also geben? Vielleicht war 27
alles nur eine Illusion, eine erfundene Geschichte, um 28
jemanden die Schuld zu zuschieben, wenn man etwas verbrochen 29
hatte. Ich wusste es nicht. Niemand wusste es. Gott, wenn es 30
36
dich gibt, hör mir zu. Mein Ruf hallte durch die leeren 1
Räume des Hauses. Du hast Mama, Oma und Papa zu dir geholt. 2
Und Strupi, mein Meerschweinchen. Das war meine Familie. 3
Jeden Einzelnen von ihnen hast du mir weggenommen. Warum? 4
Weil es für dich wie ein Computerspiel ist? War das der 5
Grund? Oder Eifersucht, weil du ständig alleine bist? Mir 6
ist es egal, wer du bist oder wie sehr dich alle bewundern, 7
Gott. Meinetwegen schick mich in die Höhle oder sonst wohin. 8
Ich werde nie aufhören, für das zu kämpfen, was sich 9
Gerechtigkeit nennt. Und noch in tausenden Jahren wirst du 10
an mich denken und bereuen, welchen Fehler du damals gemacht 11
hast, als du sie alle zu dir nahmst… 12
Verstollen warf ich einen Blick auf das Holzkreuz über dem 13
Sofa. Was ich genau erwartete, wusste ich nicht. In manchen 14
Horrorfilmen wäre jetzt vielleicht ein schwarzes Loch 15
erschien und eine Hand, die mich in die niemals enden 16
wollende Finsternis zog. Aber das hier war nichts 17
Erfundenes. Das war die Realität. 18
Der zerknitterte Brief in meiner Hosentasche gab mir das 19
Gefühl, eine scharfe Bombe bei mir zu tragen. Am liebsten 20
hätte ich ihn einfach zerrissen, doch ich unterdrückte 21
diesen Impuls. Hastig ließ ich meinen Blick über die 22
ausgebrannte Feuerstelle schweifen. Ein riesiger Schatten 23
verdeckte für Sekunden die untergehende Sonne. Ein Aasgeier 24
segelte über den rot, blauen Himmel davon. Die Küchenuhr 25
hatte fünf Mal geschlagen, aber in dieser Welt hätte es 26
genauso sieben sein können. Dieses Paradies war zeitlos. 27
Gestern war es rot, heute ist es rot, morgen wird es rot 28
sein. Ein letztes Mal vergewisserte ich mich, dass mich 29
niemand beobachtete, dann rannte ich nach Norden. Es war 30
37
nicht schwer die Bucht zu finden, wenn man den Weg kannte. 1
Und meine Füße liefen von alleine. 2
Zu meinen Schuhen gesellte sich ein weiteres Paar. Das 3
Herz pochte wild in meiner Kehle, doch ich blieb nicht 4
stehen, um nach Luft zu schnappen. Bald erreichten wir die 5
Stelle, an der die Wasserschlange einem Knick machte. 6
Atemlos blieb ich stehen. Kays Hand verkrampfte sich in 7
meiner und wir starrten Augenblicke lang in den Himmel. 8
Leise murmelte das Wasser seine Melodie dazu. Kay zitterte 9
ein wenig, vor Aufregung, vielleicht auch vor Angst. 10
Schließlich war es die Echsenbucht gewesen, zu der wir 11
laufen konnten, wenn uns die anderen geärgert hatten. Die 12
Steine waren noch warm vom Licht der Sonne. Kay hinter mir 13
herziehend, stieg ich den Hang zum Fluss herab. Erschrocken 14
huschten einige Salamander in ihre Verstecke. Als wir das 15
erste Mal an diesem Ort gewesen waren, hatten wir versucht, 16
sie zu zählen und zu fangen, doch immer wenn wir glaubten, 17
einen gehabt zu haben, floh er aus unseren Händen. Daher 18
hatten wir diese Bucht benannt. Ich mochte die Echsen. Diese 19
kleinen geselligen Tiere. Sie hassten uns Menschen und 20
trotzdem hatte ich jedes Mal das Gefühl. als lauschten sie 21
uns, versteckt in ihren Unterschlüpfen. Mit einem letzten 22
Aufblitzen verschwand die Sonne hinter dem Horizont, wartend 23
auf einen neuen Tag. Meine Hände fühlten sich seltsam taub 24
an, wenn ich an den Morgen dachte. Doch merkwürdigerweise 25
war ich nicht ängstlich. Nur ein wenig verwirrt. Irgendwie 26
hatte ich geahnt, dass es so weit kommen würde. 27
Erschöpft ließ ich mich am Wasser zu Boden sinken und 28
malte mit dem Finger im Sand. Kay lächelte - wie immer, wenn 29
sie nicht wusste, was sie zu tun oder zu sagen hatte. 30
38
Schließlich legte sie ihren Kopf auf meine Brust und drückte 1
meine Hand fest, als wolle sie diese nie wieder loslassen. 2
Ein Stein bohrte sich zwischen meinen Schulterblättern, doch 3
ich fand nicht den Mut, mich erneut aufzurichten. „Weiß du 4
was! Sulkan hat mich gefragt, ob ich mit ihm spielen will, 5
als ich heute in der Schule erzählt habe, dass du 6
weggehst.“, meinte Kay nach einiger Zeit. Ihre Atmung ging 7
gleichmäßig, jedenfalls hatte es den Anschein, als sei sie 8
ruhig. Doch tief im Inneren war sie wütend und enttäuscht. 9
„Was hast du ihm gesagt?“ 10
„Dass er bäh ist und so. Ständig läuft ihm der Sabber aus 11
dem Mund. Ich hasse diesen Schnösel. Bloß, weil seine Eltern 12
eine Weberei besitzen! Und außerdem bist du mein bester 13
Freund und das ändert sich auch in tausend Jahren nicht.“ 14
Ich nickte und war froh darüber, dass Kay in der 15
Dunkelheit nicht sah, wie ich errötete. Behutsam legte ich 16
einen Arm um sie. Wir schwiegen und trotzdem verständigten 17
wir uns auf eine seltsame Art und Weise. Instinktiv wusste 18
ich, was sie dachte und empfand, und ich glaubte, dass sie 19
es auch tat. „Tim, du darfst nicht weggehen. Deutschland ist 20
so weit und…“, flüsterte Kay. Ihre Tränen kitzelten auf 21
meiner Brust. Momente rang auch ich um meine Beherrschung. 22
Gemeinsame Erinnerungen rauschten an mir vorbei. Das 23
Fußballspiel mitten in der Wüste mit dem dreckigen 24
Wollknäuel. Karim und Benjim, die Steine nach den Aasgeiern 25
warfen. Panflötengesang. Kay in ihrem kurzen afrikanischen 26
Rock, wie sie versucht, Mathieu das Schreiben beizubringen. 27
Der Tanz der Flammen. 28
Ruckartig hob ich den Kopf. Die Nacht senkte sich wie ein 29
großes schwarzes Tuch mit vielen Lichtern über die Welt. 30
39
„Kay, ich…“ Kopfschüttelnd brach ich ab. Ich konnte es ihr 1
nicht sagen. Hastig langte ich nach dem Brief, den ich nach 2
dem Packen geschrieben hatte. 3
„Du hast das nicht ernsthaft alles aufgeschrieben? Kannst 4
du mir das denn nicht selbst sagen?“, erwiderte sie, bemüht 5
einen lockeren Ton in ihre Stimme zu bekommen. 6
Ich zwang mir ein Grinsen auf. „Mrs. Abbey hat doch immer 7
gesagt, wir sollen üben.“ 8
Auch Kay lachte. „Schon mal dumme Sprüche abgeschrieben?“, 9
kicherte sie. 10
„Nein, von wem auch?“ 11
„Von dir natürlich, Löwchen.“ 12
„Gibt‟s „Löwchen„?“ 13
Das Mädchen runzelte ratlos die Stirn, als habe man ihm 14
eine blöde Rechenaufgabe gestellt. 15
„Weiß nicht. Du bist jedenfalls eines.“, meinte es 16
schließlich und zuckte mit den Schultern. 17
„Und du bist ein Spatz.“ 18
„Ein Spatz?“ 19
„Ja. Du schnatterst immer wie ein Wasserfall.“ 20
„Heißt das, dass ich dich nerve?“, entgegnete Kay und 21
schnappte entsetzt nach Luft. Ihre Schauspielkünste waren 22
einfach unglaublich. Sie musste nur mit den großen Augen 23
zwinkern und ihren schottischen Charme spielen lassen. Dann 24
schmolz jeder Junge und sogar jeder Erwachsene 25
augenblicklich dahin. 26
„Nein, überhaupt nicht.“, lachte ich. Sekunden später 27
spürte ich den ekligen Sandgeschmack im Mund und spie 28
entsetzt aus. „Das wirst du mir büßen, Spätzchen!“ Bevor ich 29
mich jedoch hochstemmen konnte, wurde ich erneut zu Boden 30
40
gedrückt. Kay saß auf meinem Rücken und rieb mein Gesicht in 1
den Dreck. 2
„Das will ich sehen, Löwchen. Winsle um Gnade!“ Sofern es 3
meine Lage zuließ, streckte ich unbemerkt den linken Arm aus 4
und riss im gleichen Augenblick mit aller Kraft meinen 5
Körper herum: „Niemals!“ 6
Kay schrie entsetzt auf. Im Fall traf ihr Ellenbogen 7
versehentlich meine Nase. Augenblicklich taumelte auch ich, 8
halb aufgesprungen, zurück und landete erschöpf neben ihr im 9
Sand. Ein feiner Nebel aus Blut sprühte hervor. Den Kopf 10
schief gelegt, rappelte sich das Mädchen auf, um meine Nase 11
begutachten 12
„Jetzt hast du auch ein Abschiedsgeschenk von mir.“, 13
murmelte es achselzuckend. 14
Zwei Stunden später richtete sich Kay schließlich auf, 15
weil sie Angst bekam, ihr Vater könnte wieder einmal 16
ausrasten. Der Hausarrest war ihr egal, selbst wenn es 17
Wochen gewesen wären. Mit solchen Werten konnten wir kaum 18
etwas anfangen. Sie waren nicht wichtig. Zeit verstrich 19
jeden Augenblick und mit ihr veränderte sich die Welt. Vor 20
tausend Jahren zum Beispiel gab es die Ritter, jetzt gibt es 21
uns… und was danach? Außerirdische? 22
Zudem waren ihre Eltern tagsüber ebenso selten zu Hause 23
wie Papa, sodass Keenan zumeist die Verantwortung für uns 24
trug, obwohl dies den alten Mann kaum scherte, da wir seiner 25
Meinung nach alt genug wären, alleine zu entscheiden. 26
„Kommst du nicht mit?“, fragte sie leise und reichte mir 27
ihre Hand. 28
Kopfschütteln. 29
41
„Du kannst dich nicht ewig vor ihnen verstecken, Tim. Das 1
weißt du. Irgendwann werden sie dich finden und…“ Sie 2
unterbrach sich und starrte in den sternenübersäten Himmel. 3
Ich folgte ihrem Beispiel. Sie hatte Recht, indem was sie 4
sagte. Alleine würde ich wahrscheinlich nicht einmal drei 5
Tage hier draußen überleben. Und selbst wenn es mir gelänge, 6
würden Keenan und die anderen versucht, Kay zu erpressen, 7
bis sie ihnen erzählt, wo ich mich versteckte. Dies wäre 8
schlimmer, als mich selber aufzugeben. Niemand sollte für 9
mich leiden. 10
„Aber was soll ich denn machen?“ 11
Kay sah mich nicht ein einziges Mal mehr an. „Geh mit 12
Mathieu. Hau ab. Verschwinde!“ In ihrer Stimme lag ein 13
harter Unterton, doch ihr Zittern verriet anders. Vorsichtig 14
wollte ich den Arm um sie legen, aber sie stieß mich wortlos 15
zurück. „Denk an dich, Tim. Denk daran, was für dich das 16
Beste ist. Nicht für mich, Mathieu oder sonst irgendwen. 17
Verdammt, verstehst du das denn überhaupt nicht?“ 18
„Großes Spanien-Ehrenwort?“, fragte ich leise. Meine Nase 19
tat immer noch weh, dort wo mich ihr Schlag getroffen hatte. 20
Im Licht des vollkommenen Stück Käses am Himmel mochte ich 21
aussehen wie ein Monster mit den dunklen Flecken auf Händen, 22
Gesicht und T-Shirt. 23
„Was?“ 24
„Versprichst du mir, dass du mich nicht vergisst und immer 25
mein allerbester Kumpel bleibst?“ Heimlich holte ich hinter 26
meinem Rücken den Kuscheltierlöwen hervor. Es war eine 27
schwere Entscheidung, ihn einfach fort zu geben, aber ich 28
wusste, Kay würde besser auf ihn aufpassen können als ich. 29
Stumm redete ich auf ihn ein, wie so oft, wenn ich alleine 30
42
daheim im Bett gelegen hatte und Papa abends zu einem 1
„Meeting“ gefahren ist. Leo war dann meistens der Einzige, 2
mit dem ich sprach. Jetzt schien er aufgeregt, jedenfalls 3
bildete ich mir das ein. Keine Sorge! Kay ist eine ganze 4
Liebe. Die hat viele Kuscheltiere, weißt du. Ein Schaf und 5
zwei Diddel-Mäuse. Auch ein kleines Häschen. Du darfst denen 6
aber nichts tun, hörst du? Erschrocken hielt ich inne. Wenn 7
ich wieder da bin… Sekunden dachte ich darüber nach, 8
schüttelte ich dann hingegen den Kopf. Nein, nicht „wenn“ 9
ich wieder komme. Ich komme wieder! So schnell werdet ihr 10
mich nicht los! 11
„Das weißt du doch.“, erwiderte das Mädchen mit einem 12
fragenden Blick auf den Löwen. 13
„Ich will, dass du es sagst, Kay. Ich möchte es von dir 14
hören!“ Energisch riss ich an ihrem T-Shirt. Plötzlich war 15
diese Angst da, alles zu verlieren, was mir noch wichtig 16
war. Sie stürzte sich herab, wie ein Geier auf sein 17
hilfloses Opfer, und zerriss es innerlich. Ein 18
unkontrollierte Panik, die mich immer wieder heimsuchen 19
würde, kämpfte ich nicht gegen sie an. Mit schweißnassem 20
Gesicht stierte mich das Mädchen an. Es war, als sähen wir 21
uns das allererste Mal. Hektisch strich es sich eine Strähne 22
aus seiner Stirn im Versuch, ruhig zu bleiben. Dabei lag in 23
seinem Blick dieselbe Verzweiflung. 24
„Ja.“, sagte meine Freundin schließlich in die Stille 25
hinein, „Großes-Spanien-Ehrenwort... Aber dann musst du mir 26
auch etwas versprechen.“ 27
Ich nickte und bemerkte im gleichen Augenblick, dass ich 28
immer noch den warmen, weichen Stoff ihres Oberteils in der 29
Hand hielt. 30
43
Kay lächelte in die Schwärze der Nacht. „Ich hau mit dir 1
ab.“ 2
„Nein.“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihr, „Für 3
dich ist das Beste, wenn du uns nicht folgst. Dort draußen 4
gibt es böse Menschen, die dir wehtun können.“ Erstaunt 5
schloss ich den Mund. Das war nicht ich, der dies sagte, 6
sondern Mathieu und Mathieu hatte recht. Für ein Mädchen war 7
es zu gefährlich in der Wildnis. 8
„Wie immer. Die großen, tollen Jungs. Ihr seid ja so stark 9
und mutig! Wenn ihr abhaut, werde ich aller Welt erzählen, 10
wie feige ihr seid.“, zischte Kay böse. 11
Auch ich wurde allmählich wütend. „Das hat nichts mit 12
feige zu tun! Sondern mit…“ 13
„Womit? Sag‟s mir. Womit?“ 14
„Ähm… Ich… Ich hab Angst, dass wir nie mehr zusammen 15
spielen können, wenn sie mich nach Deutschland in irgendein 16
Heim stecken. Du hast noch Eltern. Schön, sie sind nicht 17
immer die Besten, aber sie sind noch da. Für dich, Kay.“ 18
Ein verlegendes Schweigen hatte eingesetzt, sodass ich 19
ihrem schwachen Herzschlag lauschen konnte. Mein Eigener, 20
schnell und unregelmäßig, gesellte sich hinzu. 21
„Ich hab auch Angst, Tim. Hast du schon mal „Angriff der 22
Säbelzahntiger‟ oder „Tarzan‟ gesehen? Stell dir vor, dir 23
passiert…“ Sie schluckte vernehmlich. Wir hatten eindeutig 24
zu viele Filme gesehen, schätze ich. 25
„So was gibt‟s nur im Märchen. Und wenn, werde ich der 26
Erste sein, der sie alle besiegt.“, erwiderte ich, bemüht 27
meine Stimme optimistisch klingen zu lassen. 28
„Löwchen.“ 29
„Was?“ 30
44
„Löwchen. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht 1
lügen.“, kicherte Kay. 2
„Warum lachst du?“ 3
„Die Vorstellung, wie du mit einer Liane in Lendenshorts 4
über den Fluss schwingst, um mich vor den bösen Monstern zu 5
retten… Zu komisch“ 6
Ich grinste. „Traust du mir das etwa nicht zu, Jane?“, 7
fragte ich mit dem letzten bisschen Ernst, der mir noch 8
geblieben war. 9
„Irgendwie nicht.“ 10
Die Wut aufeinander war ebenso plötzlich wieder 11
verschwunden, wie sie gekommen war. Zu einem lauten 12
Tiergebrüll angestiftet, klopfte ich mir mit beiden Fäusten 13
auf die Brust und ahmte einen Gorilla nach, indem ich auf 14
Händen und Füßen vorwärts kroch. Kay hüpfte leichtfüßig 15
hinter mir her und spielte die hilflose Jane, die vor 16
Schreck beinahe ohnmächtig wurde. 17
Plötzlich stieß sie einen Schrei aus, der einem das Blut 18
in den Adern gefrieren ließ. Im Glauben, dieser gehöre zum 19
Spiel, tapste ich in meinem Affengang über die rauen Steine 20
zur Wiese, dem einzigen, grünen Feld in der Umgebung. Das 21
hohe Gras, welches hier so dicht wuchs, dass man 22
augenblicklich an ein schwarzes Meer erinnert wurde, bewegte 23
sich leicht im aufkommenden Wüstenwind… doch irgendetwas 24
ließ mich zögern. Es war die falsche Stille: tot und 25
endgültig. Ich spürte diese Gefahr, bevor ich sie wirklich 26
gesehen hatte. Sie war da. Irgendwo da draußen und wartete 27
auf mich. Mein Instinkt verriet mir, zu verschwinden - und 28
zwar schnell. Warum? Verwirrt blickte ich auf. Die im Mond 29
matt glitzernde Wasserschlange. Äste der Bäume, die 30
45
schlafend in der warmen, trockenen Nachtluft schwankten. 1
Darüber der mitternachtsblaue Himmel, an dem eine Fledermaus 2
auf der Suche nach etwas Essbarem davonjagte. Dabei war ihr 3
hoher Ruf kaum vernehmbar und… Hatte sich dort drüber nicht 4
etwas bewegt? Bedrohlich und wachsam. Verzweifelt kauerte 5
ich mich tiefer ins Gras und fingerte im selben Augenblick 6
nach einer Waffe. Mein Herz schlug bis zum Hals, doch es 7
gelang mir, meine aufkommende Panik und das Verlangen, 8
einfach durch die Wüste davonzurennen, zu unterdrücken. Wenn 9
jemand mich anzugreifen versuchte, wäre ich dem in der 10
freien Wildnis hilflos ausgeliefert. So jedenfalls hätten 11
Helden, wie James Bond oder Tarzan, reagiert. Im Schatten 12
der Bäume oder der Türen drängten sie sich langsam an ihren 13
Feinden vorbei, ohne von den Bösen bemerkt zu werden. 14
Kays hoher Schrei klang in meinen Ohren nach und 15
verstummte schließlich. Ich wartete auf einen weiteren, doch 16
es folgte keiner mehr. „Kay? Das ist nicht lustig! Komm, wir 17
gehen heim.“ Gegen meinen Instinkt sprang ich aus dem 18
sicheren Versteck und wollte zurück zu der Stelle laufen, an 19
der wir vor Minuten noch gestanden hatten. Doch erneut 20
zögerte ich für den Bruchteil einer Sekunde - und genau dies 21
rettete mir vermutlich das Leben. Ein hundeähnliches Wesen 22
erschien in meinem Blickfeld. Die kurzen Pfoten trugen den 23
dunklen, schlanken Tierkörper elegant über das Feld. Im 24
einfallenden Mondlicht wurden seine spitzen Zähne 25
reflektiert, die wie Messer aus dem offenen Maul ragten. 26
Schon jetzt konnte ich spüren wie diese in meine Haut 27
schnitten. Mein Gott, SO war das mit dem „in die Höhle 28
schicken“ nicht gemeint… Okay, schon aber… nicht wirklich 29
so. Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Weichei du doch 30
46
bist, Tim, wenn du ständig anfängst, zu jammern und zu 1
irgendjemandem sprichst, den es vielleicht nicht einmal 2
gibt. Sei endlich ein Mann und steh‟ zu deiner nicht 3
vorhandenen, großen Klappe! Vor Kay behauptest du, du wirst 4
der Erste sein, der sie alle besiegt. Jetzt hast du die 5
Chance, dies zu beweisen… Entsetzt realisierte ich das 6
Verschwinden des Tieres. Dort, wo es eben noch schnüffelte, 7
waren nur noch Fußspuren, die… die genau auf mich zuliefen! 8
Im selben Augenblick bemerkte ich etwas Warmes, welches über 9
meinen Hals rann, und auch ohne nachzusehen, wusste ich, 10
dass es Blut war. Dunkelrotes Blut. Die Krallen der Bestie 11
hatten mich gestreift. Hektisch wandte ich mich im Kreis, 12
eine Hand auf die Wunde drückend, um einem neuen Angriff 13
auszuweichen, doch in der Dunkelheit konnte ich kaum sehen. 14
Erneut zuckte eine Schmerzwelle durch meinen Körper. 15
Geistesgegenwärtig riss ich das rechte Bein hoch und gab dem 16
Hund einen Tritt. Erst jetzt konnte ich ausmachen, dass es 17
sich um eine Hyäne handelte. Eine Hyäne, die normalerweise 18
nur in Rudeln jagte! 19
„Kay…? Kay!“, brüllte ich panisch, als mir bewusst 20
wurde, in welcher Gefahr wir uns befanden. Ein Schatten im 21
Blickwinkel. Blitzartiges warf ich mich zur Seite, sodass 22
das Tier Zentimeter über meinem Kopf hinwegfegte: Ein 23
Angriff, der mir vermutlich den Gar ausgemacht hätte. Ohne 24
nachzudenken, kam ich auf die Beine und rannte zurück. Über 25
die Schulter erkannte ich zwei Hyänen, die wie wild 26
gewordene Kampfhunde hinter mir herpirschten. Ein kurzes 27
Knurren war zu hören, dann tauchte eine vor mir auf, schnitt 28
mit den Krallen durch das hohe Gras und raste mit weit 29
aufgerissenem Maul auf mich zu. Wieder warf ich mich in 30
47
letzter Sekunde zur Seite, krachte auf den sandigen Boden, 1
renkte mir dabei beinahe die Schulter aus. Speichel triefte 2
auf mein Gesicht. Ich musste irgendwo in Deckung gehen und 3
dies bevor mich die Messer aufgespießten. Kurz blieben meine 4
Gedanken an Kay hängen. Hat man sie erwischt oder konnte 5
sie sich selbst befreien und war heim gerannt? Ich hoffte, 6
dem wäre so, denn hinter mir tauchten die Tiere erneut auf. 7
Dabei mochten sie näher sein, als mir lieb warm und 8
verfolgten mich dieses Mal gemeinsam. Verzweifelt rannte ich 9
durch das Gras, dessen scharfe Halme meine Unterschenkel 10
zerschnitten. „Kay!“ Ein kaum vernehmbares Stöhnen neben mir 11
genügt, um meinen Überlebenswillen anzukurbeln. Ihr blöden 12
Köter! So schnell kriegt ihr mich nicht! Vorsichtig, immer 13
ein Bein nach dem anderen setzend, machte ich zwei Schritte 14
rückwärts - und spürte etwas Hartes im Rücken. Endstation… 15
Meine freie, linke Hand ertastete Rinde. Ein Baum! Kurz 16
irrte mein Blick über das Schattenreich, aber es gab keine 17
Möglichkeit, mich selbst und Kay vor den blutrünstigen 18
Tieren zu verstecken, die jeden Augenblick durch das zackige 19
Gras brechen konnten, welches mich wie eine Mauer 20
umzingelte. Es gab nur diesen Baum, einsam und traurig in 21
der dunklen Landschaft. Der Ruhe zur Folge mochten die 22
Hyänen noch etwa hundert Meter entfernt sein, vielleicht 23
auch näher. Auf jeden Fall blieb mir ein wenig Zeit, die ich 24
nicht vergeuden durfte. Aber was sollte ich tun? In meinen 25
Gedanken tauchten mehrere Filme auf und glitten 26
durcheinander. Tarzan. Die „Star Wars„-Trilogie. Sing mir 27
das Lied vom Tod. Der, der mit dem Wolf tanzt. Vielleicht 28
hatten all die Albträume nach diesen Filmen doch etwas Gutes 29
an sich, denn mir kam eine absolut absurde Idee. Hastig 30
48
prüfte ich die Verletzungen an Hals und Knie, bevor ich auf 1
den Baumstamm zustürzte. Die Rinde war morsch, von Bakterien 2
zerfressen, aber sie würde meinem Gewicht standhalten müssen 3
- anderenfalls wäre meinem Plan schnell ein Ende gesetzt. 4
Mit einer Hand den nächsten Ast umklammernd, zog ich mich 5
langsam hoch. Freilich hätte ich schnell klettern müssen. 6
Jedoch, auf die Gefahr hin, zu fallen, hielt ich des Öfteren 7
inne, um die Balance wieder finden, wobei ich den Impuls 8
unterdrückte, nach unten zu sehen. In zwei Meter Höhe zu 9
baumeln, erforderte all meine Aufmerksamkeit. Tim River, du 10
hast wieder einmal eine rekordverdächtige Punktzahl in den 11
Aufgaben erreicht, wie bring ich mich am besten im möglichst 12
kurzer Zeit selber um. Unter mir im Gras raschelte es. 13
Sekundenspäter tauchten mehrerer Schatten auf. Jetzt waren 14
die Biester also schon zu fünft! Wird heute noch ein 15
wahrlich tolles Kaffeekränzchen! Ich lachte. Je auswegloser 16
die Situation, desto bescheuerter wurde meine Witze. 17
Wenigstens hielten mich meine Gedanken davon ab, zu schreien 18
oder mich zu übergeben. Dennoch schlug das Herz hart gegen 19
meine Rippen, sodass ich das Gefühl hatte, mein Brustkorb 20
könne jeden Augenblick zerreißen. Knurrend sprangen die 21
Tiere an der Rinde hoch, rutschten jedoch immer wieder ab. 22
Für den Augenblick war ich in Sicherheit, bis Kay in meinen 23
Erinnerungen auftauchte. Kay, die möglicherweise verletzt 24
dort unten in der Gruft lag und von den Hyänen zerfleischt 25
werden würde, wenn diese sie fänden. Widerstrebend musste 26
ich zugeben, dass ich nicht die ganze Nacht hier oben in der 27
Baumkrone hocken durfte und warten auf die ersten 28
Sonnenstrahlen konnte, mit denen die Dorfbewohner zur Arbeit 29
kämen. Denk nach, zwang ich mich, denk nach. Mit all dem 30
49
zusammengefassten Mut, erhob ich mich und balancierte 1
freihändig über den dicken Ast, als eines der Tiere die 2
Krallen in die Rinde schlug. Plötzlich geriet ich ins 3
Straucheln, fiel. Hilfe suchend streckte ich die Hände aus. 4
Leere, nichts als Leere. Verzweifelt versuchte ich, Halt zu 5
finden. Ohne Erfolg. Rasend stürzte ich in die schwarze 6
Tiefe hinab. Blätter strichen hart über meine Wangen. Die 7
einzelnen Halme des Meeres waren unheimlich nahe und mit 8
ihnen die scharfen Messer. Der harte, plötzliche Aufprall 9
trieb mir alle Luft aus der Lunge, sodass ich glaubte, 10
sämtliche Rippen gebrochen zu haben. Ich blinzelte. Wo 11
blieben die Zähne, die mich wie ein Gummibärchen zerfetzten? 12
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich über dem Boden hing. Ein 13
Ast hatte meinen Sturz abgefedert, falls man das so nennen 14
konnte, sodass ich zu meiner Überraschung nicht tief 15
gefallen war. Etwa einen Meter unter mir schnappten die 16
Hunde immer noch nach meinem baumelnden Bein, als sei dieses 17
ein Stück Wurst. Dennoch hatte ich wie immer unverschämt 18
viel Glück gehabt. 19
Mit böser Grimasse brach ich einen Zweig über meinem Kopf 20
und ließ ihn auf die Tiere herunterfallen. Erschrocken von 21
dem ungeahnten Angriff streunten sie für Sekunden 22
auseinander und knurrten sich gegenseitig an. Innerlich 23
musste ich lachen. 1:1, Gleichstand. Was sagt ihr nun, ihr 24
dummen Kläffer? Abermals langte ich mit nach hinten 25
gestreckter Hand nach einem Ast, zielte. Und dann erblickte 26
ich sie. In mitten des schwarzen Meeres. Kay. Ihr hübsches, 27
kantiges Gesicht war unmenschlich verzerrt und von einem 28
Schatten umhüllt. An ihrem Kopf klaffte eine offene Wunde, 29
doch wie durch ein Wunder hatten die Hyänen von ihr 30
50
abgelassen. Selbst wenn sie in ganz anderen Dimensionen 1
schweben mochte, schien sie für den Augenblick in 2
Sicherheit. Mein Blick wanderte zurück zu dem Ast in der 3
zitternden Hand, dann wieder zu Kay. Ich hatte nur eine 4
einzige Möglichkeit. Eine Einzige. Der Zweig schnitt hörbar 5
durch die Luft. Fand sein Ziel. Jaulend jagte das 6
Raubtierrudel davon. Doch ich hatte keines der Tiere 7
getroffen, sondern bewusst eine der weitest entfernten 8
Stellen vom Baum weg angepeilt. Zufrieden lächelte ich vor 9
mich hin, während ich mich langsam zu Boden gleiten ließ. 10
Ein wenig Zeit war gewonnen. Genügend, um Kay Huckepack zu 11
nehmen und schleunigst zu verschwinden. Jedenfalls hoffte 12
ich das. Mit angewinkelten Beinen sprang ich von dem letzten 13
Ast, wobei ich sicherheitshalber geduckt in Deckung ging. 14
Schließlich hatte ich keine Ahnung, wie schnell die Viecher 15
bemerkten, dass sie einem weniger köstlichen Ast nachgerannt 16
waren. Im Schatten des Baumes schlich ich, bemüht nicht zu 17
hektisch zu werden, zu Kay und zerrte ihren dünnen Körper 18
hoch. Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit 19
gewöhnt, sodass ich zumindest ausmachen konnte, in welche 20
Richtung ich zum Achthundert-Meter-Sprint ansetzen musste. 21
Ein Glück, das mein Vater mich in Deutschland zum 22
Leichtathletiktraining genötigt hatte. 23
Tief ein - und ausatmend, um den Sauerstoffgehalt im Blut 24
zu erhöhen, lugte ich ein letztes Mal aus dem Versteck 25
hervor. Hoffentlich lauerten mir die Hyänen nicht schon 26
hinter der nächsten Ecke auf. Ohne einen weiteren Gedanken 27
daran zu verschwenden, rannte ich um mein Leben. Betend, 28
dass ich die Entfernung richtig eingeschätzt hatte. 29
Andernfalls wäre es ein sehr kurzes Wettrennen, doch ein 30
51
Zurück gäbe es nun nicht mehr. Jämmerlich würden wir in den 1
schleimigen, dunklen Abgründen ertrinken und nie wieder 2
auftauchen, zerrissen von der unbarmherzigen Kraft der 3
Todesmesser. Ich konnte mir einen schöneren Abgang von 4
dieser Welt verstellen. Außerdem wollte ich keinen 5
Freifahrtschein für einen unvergesslichen Besuch in der 6
Höhle. So etwas hätte Kay nicht verdient. Mit 7
zusammengebissenen Zähnen verfluchte ich den Tag, an dem 8
sich Gott in mein Leben eingemischt hatte. Aber vielleicht 9
konnte ich unser Pech, noch zu Besserem wenden. Schließlich 10
mussten wir es ebenso schaffen wie die Kinohelfen in ihren 11
Abenteuern. Atmen, laufen, atmen. Mein Puls stieg, die linke 12
Seite begann bereits zu stechen. Auch das ungewohnte Gewicht 13
auf dem Rücken machte mir mehr zu schaffen, als ich erwartet 14
hatte. Dennoch verlangsamte ich die Geschwindigkeit nicht. 15
Atmen, atmen. Die Halme schnitten brutal in die 16
ungeschützten Unterschenkel, doch ich wagte nicht, einen Weg 17
aus dem Feld anzuschlagen. Sich zu verirren, würde alles nur 18
noch schlimmer machen. Wie lange mochte es noch dauern, bis 19
die Tiere bemerkten, dass ihre Lieblingsspeise verschwunden 20
war? Ich spürte, dass mir nur noch Sekunden blieben. Hinter 21
mir war bereits das Fletschen der Zähne vernehmbar. Hektisch 22
sprang ich über eine Grube, stolperte - und vertrat mir 23
leicht das Knie. Atmen, atmen, laufen, laufen. Du schaffst 24
es… Ich schaffe es… 25
Nein. Meine Kraft reichte gerade noch aus für paar Meter. 26
Ein Schrei explodierte in meinem Kopf. Gib auf… Gib auf! 27
Da erhellte plötzlich ein Licht die Dunkelheit. Ein 28
kleines, Licht in naher Ferne. Und noch eines. Mein 29
52
ausgetrockneter Mund öffnete sich und sog gierig die kühle 1
Nachtluft ein. 2
„Siehst du das Dorf dahinten? Wir haben es geschaffen, 3
Kay.“, murmelte ich leise, obwohl ich wusste, dass sie mich 4
nicht hören konnte. Mit letzter Kraft jagte ich aus dem Feld 5
heraus auf die Lichter zu. Doch noch hatten wir nicht 6
gewonnen. Ich hätte mich selbst belogen, wenn ich dies 7
glaubte. Ein Schatten schnappte nach meinem verletzten Bein. 8
Sekundenspäter rissen die Zähne eines Weiteren ein kleines 9
Stück Fleisch heraus, über welches die Tiere gierig 10
herfielen. Mit Tränen in den Augen vor Schmerz schrie ich 11
auf. Blut strömte aus der offenen Wunde, vermischte sich 12
mit Dreck. Über die Schulter erkannte ich, wie das Rudel 13
erneut die Verfolgung aufnahm. Verzweifelt trat ich nach 14
hinter aus - und fiel kurz vor dem Ziel zu Boden. Es war 15
aus. Ich hatte verloren. Alle anderen Läufer überholten mich 16
und jubelten vor Freude. Doch seltsamerweise ließen sich die 17
Hyänen beim Zerlegen ihre köstliche Beute Zeit. Wie ich wohl 18
schmecken mochte? Hoffentlich nicht allzu gut. Immer enger 19
umkreisten uns die Tiere. Speichel tropfte auf mein T-Shirt. 20
Eine der Bestie drückte ihre Nase gegen die mein. Hektisch 21
schlug ich mit geballter Faust zu, sodass das Tier jaulend 22
zurückwich. So leicht kriegt ihr mich nun auch wieder nicht! 23
Bis zum Ende würde ich mich mit Händen und Füßen dagegen 24
wehren. Mein Blick schweifte von einer Hyäne zur nächsten. 25
Seltsam, dass sie nicht angriffen. Ihre Augen waren nur auf 26
meine Freundin gerichtet. Erst jetzt wurde mir drohend 27
bewusst, dass die Bestien es nicht auf mich, sondern viel 28
mehr auf Kay abgesehen hatte, die regungslos neben mir im 29
Sand liegen geblieben war. Hyänen ernährten sich 30
53
hauptsächlich von Aas, nur selten jagten sie Lebendes, was 1
bedeutete, dass sie Kay für ein totes Tier halten musste. 2
Der Rudelführer pirschte sich heran und öffnete geradezu 3
genüsslich sein Maul, um den ersten Bissen zu kosten. Die 4
anderen Tiere warteten geduldig, mich durch ihre gelben 5
Augen beobachtend. Die Angst hatte meinen Körper erstarren 6
lassen. Mein Glück hatte mich verlassen. Das Führertier 7
stürzte sich mit einem Knurren aus tiefster Kehle auf Kay. 8
Seine Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen vollständig 9
verschwunden. 10
Es knallte zweimal, hart und trocken in der Dunkelheit. 11
Aber merkwürdigerweise spürte ich keinen Schmerz. Eigentlich 12
hätte Blut aus der tiefen Bisswunde am Rücken hervor 13
schießen müssen. Dafür schwankte die Hyäne plötzlich und 14
fiel mit ihrem Körper auf meine Beine. In ihrer Brust waren 15
zwei Einschüsse. Die übrigen Tiere jagten erschrocken in die 16
Wüste davon. 17
Schritte erklangen in der Ferne. Ein einziger Mann, 18
Keenan, näherte sich betroffen. In seiner Hand hielt er 19
immer noch die Pistole, mit der er ein Leben ausgelöscht und 20
eines gerettet hatte. Ohne ein Wort zu verlieren, tippte er 21
mit der Schuhspitze vorsichtig den Kadaver an, beugte sich 22
dann hinunter und untersuchte ihn kurz. Schließlich nickte 23
er zufrieden und schob die Waffe in seine Hosentasche. 24
Zitternd erhob ich mich und machte einen Schritt auf ihn zu. 25
Es war als bemerkte der alte Mann erst jetzt, dass noch 26
jemand da waren. 27
„Keenan…“ 28
Der Genannte nickte ruhig, erwiderte jedoch nichts. Sein 29
Blick fiel auf die Kay, die schlafend im Gras lag. Seufzend 30
54
hob er sie an den Schultern hoch und trug sie Richtung Dorf 1
davon. 2
„Warum? Warum hast du das getan?“ Ich war bemüht, mit ihm 3
Schritt zu halten. 4
Abrupt blieb Keenan stehen, um mich einen Augenblick lang 5
anzustarren. „Du warst wirklich tapfer, Tim, aber…“ 6
„Aber?“ 7
Der alte Mann zuckte mit den Schultern. „Dumm. Warum 8
verdammt noch mal seid ihr abgehauen? Ich halte dich für 9
klug genug, zu wissen, wie gefährlich es dort draußen ist.“ 10
„Ja… Was wird jetzt aus mir?“, fragte ich und senkte den 11
Kopf. 12
Keenan musterte mich von oben bis unten, als wolle er 13
abschätzen, wie viel ich wert war. 14
„Erst einmal werden wir dich verarzten.“ 15
Ich blieb wie angewurzelt stehen und warf einen flüchtigen 16
Blick zurück zu dem toten Tier, welches von dem Mond in ein 17
weißliches Licht getaucht wurde. Eigentlich hätte ich jetzt 18
doch liegen müssen. Kurz schloss ich die Augen, dann wandte 19
ich mich abrupt ab und folgte humpelnd dem alten Mann. 20
„Los, Tim, mach die Augen auf.“ 21
Die Stimme klang ungeduldig und weit entfernt. Ich 22
stöhnte. Mein ganzer Körper schien wie betäubt. Durch den 23
weißen Schleier, der meine Sicht vernebelte, erkannte ich 24
Kays Vater, Doktor Nicolai Brown. Kurz nickte er mir zu, 25
dann wandte er sich an eine weitere, ein wenig gekrümmt 26
dastehende Gestalt. 27
„Die Tablette, die ich ihm gegeben habe, verliert langsam 28
ihre Wirkung. In gut einer Stunde wird die Betäubung kaum 29
noch zu spüren sein.“ 30
55
„Okay . Ich werde mich solange um ihn kümmern. Wie geht es 1
deiner Tochter?“ 2
Ich blinzelte in die nackte Glühbirne über mir. Allmählich 3
konnte ich wieder klarere Umrisse erkennen, was bedeutete, 4
dass meine Wahrnehmung schärfer wurde. Gerüche von süßlichem 5
Desinfektionsmittel und Schweiß hüllten mich ein. Langsam 6
drehte ich den Kopf zur Seite und ließ meinen Blick benommen 7
durch das Zimmer schweifen. Kays Vater stand in seinem 8
weißen Mantel am Fenster und betrachtete schweigsam den 9
dunklen Nachthimmel. In seiner Hand hielt er eine polierte, 10
kleine Tasse, aus der er sich dann und wann einen Schluck 11
Tee gönnte. Seine Muskeln spannten sich merklich an. Genauso 12
wie bei Papa, kurz bevor er mich schlug. Keenan hingegen 13
hockte auf einem der Stühle am Tisch und faltete ruhig die 14
Hände auf der gestrickten Decke. Die Eichenholzuhr über dem 15
dunklen Regal, in dem sich Bücher, jeglicher Art und Größe, 16
stapelten, schlug neun Mal. Durch die offene Zimmertüre 17
konnte ich den abgemagerten Körper eines Mädchens ausmachen, 18
der sich langsam unter einer Decke hob. Mit Ausnahme des 19
weißen Verbandes um seinen Kopf schien es unverletzt. 20
„Besser.“, erwiderte Nicolai Brown knapp und fuchtelte 21
wild mit den Armen in der Luft. „Der Junge hat behauptet, 22
Hyänen hätten sie angegriffen. Das ist doch absoluter 23
Schwachsinn. Wenn man schon lügt, sollte man es wenigstens 24
klug tun. Jedes Kind weiß, Hyänen gehören zur Gruppe der 25
Aasfressern.“ 26
Mein Blick wanderte zu dem Ältesten, der um seine 27
Beherrschung ringen musste. Nur selten hatte ich ihn so 28
aufgebracht und wütend gesehen. 29
56
„Ihr Europäer glaubt doch auch alles, was im Internet zu 1
finden ist. Hier zu Land greifen die Tiere an, wenn sie 2
hungrig sind.“ 3
Vom Fenster abgewandt pilgerte er wie ein Tiger durch den 4
Raum. „Du solltest auf die beiden aufpassen! Es war deine 5
Aufgabe, dich um sie zu kümmern.“, brachte er knurrend 6
hervor. 7
„So, meine Aufgabe? Die Kinder sind alt genug, um auf 8
sich selbst Acht zu geben. Ich bin doch kein Kindermädchen! 9
Schau dir Tim an. Er hat sich alleine verteidigen können.“ 10
„Der Junge ist ein schlechter Umgang für meine Tochter. 11
Hätte er sie nicht dazu angestiftet, wäre es erst gar nicht 12
zu diesem… diesem Unfall gekommen.“, herrschte der Arzt den 13
aufgesprungen Keenan an. 14
Ich schüttelte den Kopf. Das Papiertaschentuch in meiner 15
Nase blähte sich merklich auf. Warum konnte Erwachsene nicht 16
zugeben, dass sie einen Fehler gemacht hatten? Außerdem, was 17
hatte dies mit ihnen zu tun? Wir sind es, die die Folgen des 18
Angriffs ausbaden mussten, nicht sie. 19
Ein Stöhnen aus dem Nebenzimmer war vernehmbar. Kay rieb 20
sich den scherzenden Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunden 21
trafen sich unsere Blicke. Sie zwang sich ein Lächeln auf 22
und erhob sich zögerlich aus ihrem Bett, meinen 23
Kuscheltierlöwen im Arm haltend. Als sie nun das Zimmer 24
betrat, verfolg die Wut ihres Vaters für einen kurzen 25
Augenblick. 26
„Schatz, geht es dir besser?“, erkundigte er sich mit 27
einem besorgten Unterton in der Stimme. Ganz in die Rolle 28
des fürsorglichen Papas verfallen, wollte er sie auf den Arm 29
nehmen, doch Kay wehrte ab. Sie sah nicht einmal auf. 30
57
„Nein, Dad.“, entgegnete sie abweisend, „Du bist das absolut 1
widerlichste, das ich kenne, wenn du immer anderen die 2
Schuld daran gibst, dass du scheiterst. Vor ein paar Wochen 3
hast du mal gesagt, Tims Vater wäre ein Irrer, weil er 4
seinen Sohn schlägt. Dabei bist du auch nicht besser. Ich 5
war einmal stolz auf Mum und dich, weil ihr anderen Menschen 6
helft, nach vorne zu sehen. Menschen, die nichts mehr im 7
Leben haben. Immer habe ich so werden wollen wie ihr. Aber 8
jetzt bist du der größte Idiot: Du schickst Tim weg.“ 9
Kay hatte sich in ihre Wut hineingesteigert. Jetzt sank 10
sie neben mich in den weichen Stoff des Sofas und 11
verschränkte die Arme wie ein trotziges, kleines Kind vor 12
der Brust. Ich lächelte. Im Geheimen bewunderte ich sie für 13
ihr Erwachsen sein. 14
Fassungslos starrte Nicolai Brown seine Tochter an. Ich 15
spürte, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, 16
bis dieser Mann die Beherrschung verlor. Mein 17
Beschützerinstinkt veranlasste mich dazu, mich verteidigend 18
vor Kay zu stellen. Doch augenblicklich erfasste mich ein 19
plötzlicher Schwindel. Benommen taste ich, wild mit den 20
Armen ruderten, nach Halt. Keenan, der sofort herbeigestürzt 21
war, packte mich, kurz bevor ich auf dem Boden aufschlug. 22
„Soll eine Verschwörung werden, wie?“, knurrte Herr Brown 23
böse und biss hörbar die Zähne zusammen. „Sind wohl in 24
diesem Dorf nicht mehr erwünscht. Wie du willst, Keenan, wir 25
werden verschwinden. Noch heute, für immer! Glaub ja nicht, 26
dass du jemals eine Postkarte von der Familie Brown 27
erhältst! Nicht einmal, wenn du längst im Grab liegst!“ 28
Mit einer solchen Brutalität, dass diese beinahe vor 29
Schreck gestürzt wäre, führte der Mann seine Tochter aus dem 30
58
Haus. Kay trat verzweifelt um sich und schrie, aber der 1
eiserne Griff ihres Vaters löste sich nicht. „Lass mich 2
los!“, brüllte sie, bevor sich die in einen Handschuh 3
gehüllte Hand über ihre leicht geöffneten Lippen legte. Mit 4
letzter Kraft biss sie in 5
die Hand und lief über das Meer, welches uns trennte. 6
„Tim…“, murmelte sie mit heiserer Stimme und drückte mich 7
fest an sich. Ihre Atmung ging schneller. Tränen 8
verschleierten ihren Blick. „Du bist der beste Bruder, den 9
man sich wünschen kann. Großes-Spanien-Ehrenwort. Ich…“ 10
Energisch wurde sie zurückgerissen. Mein Blick wanderte zu 11
Keenan, der teilnahmslos das Spiel beobachtete. 12
„Tu doch etwas!“, schrie ich im verzweifelten Versuch, 13
Kays Hand festzuhalten. Dabei trafen sich unsere Blicke. Für 14
Sekunden schien die Zeit still zu stehen. Nichts jedoch ist 15
ewig. Denn unsere Verbindung brach ab, als Brown seine 16
Tochter aus dem Haus, Richtung Auto zerrte. Türenknallen, 17
Motorheulen. 18
Das Letzte, was ich von meiner besten Freundin sah, war 19
das vom Wind erfasste, afrikanische Kleid, welches sich um 20
ihren zarten, dünnen Körper schmiegte. 21
59
2. Kapitel 1
Das leuchtende Stück Käse am Himmel starrte unentwegt auf 2
mich herab, geradezu als wollte es jeden meiner Schritte 3
beobachten. Vielleicht hockte dort oben tatsächlich der 4
kleine Mann im Mond. Früher als kleines Kind hatte Mama mir 5
oft vor dem Schlafengehen sein Lied vorgesungen. Sie war 6
hübsch, meine Mama, beinahe wie Schneewittchen oder 7
Dornröschen. Auf jeden Fall so schön wie ein Prinzessin, nur 8
mit einer dreckigen Schürze anstatt einem Kleid. Papa musste 9
glücklich sein, eine solche Frau gefunden zu haben. Einen 10
Schatz, so hatten sie sich oft begrüßt. Als ich nun hier 11
saß, alleine im kalten Wüstensand, versteckt im Schatten des 12
Hauses und in den Sternen übersäten Himmel starrte, wurde 13
mir klar, dass ich in gewisser Hinsicht meinem Vater 14
ähnelte. Auch ich lief davon, weil ich meinen Schatz 15
verloren hatte. Ich rannte fort, versuchte loszulassen, doch 16
das, was ich suchte, war die ganze Zeit über an meiner Seite 17
gewesen. 18
„Hey, Heulsuse! Schade, hast ja doch nicht verschlafen. 19
Ich wäre zu gerne einen Kopf größer gewesen als du.“ Mathieu 20
verzerrte das Gesicht zu einer Grimasse. Langsam erhob ich 21
mich, klopfte den Sand von der fransige Jeans. „Wo sind 22
deine Sachen?“ 23
„Was hast du erwartet?“ 24
„Dass… Du hast doch gesagt…“ 25
„Ja? Was soll ich deiner Meinung nach mitnehmen? Das 26
selbst geschnitzte Holzauto oder die Figuren?“ 27
„Und mit dem Geld? Ich habe meinen Vater bestohlen!“, 28
schrie ich erbost. 29
60
Plötzlich wurde eine Tür aufgeschlagen. Hastig legte sich 1
eine Hand über meine leicht geöffneten Lippen. „Psst, willst 2
du das ganze Dorf wecken?“, zischte Mathieu, ganz wider 3
seine Art nervös zu werden, wobei er mir signalisierte, ihm 4
zu folgen. Den Rucksack über die Schulter geworfen, krochen 5
wir nebeneinander durch den Sand. Immer darauf bedacht, 6
möglichst am Boden zu bleiben. Bereits nach Minuten brannten 7
meine Augen, mein Mund war ebenso ausgetrocknet wie die 8
Wüste, doch ich wagte nicht zu husten, weil ich befürchtete, 9
allein mein Atem könnte Keenan auf uns aufmerksam machen. In 10
gewisser Hinsicht fühlte ich mich wie ein Gefangener, der 11
aus dem Gefängnis ausbrach. 12
Vorsichtig warf ich einen Blick über die Schulter zurück 13
und stellte erleichtert fest, dass die Lichter auf die Größe 14
eines Sterns am Himmel geschrumpft waren. Auf Widerstehen, 15
Keenan, Karim, Benjim, Leo Löwe und ihr alle! 16
Plötzlich drehte sich Mathieu auf den Rücken, zuckte die 17
Achseln. „Okay, ich gebe zu, ich habe gelogen.“, pflichtete 18
er mir bei, „Aber ich konnte doch nicht das Wenige nehmen, 19
wofür mein Onkel wochenlang in der Hitze geschuftet hatte. 20
Meine Familie wäre meinetwegen verhungert. Sorry, Timothy.“ 21
Ich nickte. „Schon okay. Und was willst du jetzt machen?“ 22
„Ich hab von der Münze eine Landkarte gekauft.“ 23
„Und kannst du eine Karte lesen?“ 24
Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Nope, eigentlich 25
nicht. Du etwa?“ 26
„Ich weiß, wo Norden ist und ich weiß, wo Süden ist. Da 27
gibt es einen Spruch. Nie ohne Seife waschen.“ Auf gut Glück 28
deutete ich in den Sternenhimmel „Norden, Osten…“ Hielt den 29
mit Speichel angefeuchtet Finger in die Luft, ebenso wie 30
61
Papa es mir einst beigebracht hat, als wir gemeinsam in den 1
Berg wandern waren. „…Süden, Westen. Die Flagge hat eben 2
nach Süden geweht, also müssten wir nach unten, schätze 3
ich.“ 4
„Besserwisser. Dann brauchst mich wohl nicht mehr.“ 5
„War doch nicht böse gemeint.“, erwiderte ich schnell, um 6
einem Streit aus dem Weg zu geben. 7
„Und du glaubst, du findest den Weg in die große Stadt?“ 8
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich kann‟s versuchen.“ 9
„Okay, ich zähl auf dich.“ Mit einem verlegenen Blick auf 10
meinen Rucksack, fügte er hinzu: „Aber erst einmal müssen 11
wir einen Versteck für die Sachen finden. Ich bin müde.“ 12
Ich schlief kaum in dieser ersten Nacht unter freiem 13
Himmel. Vor allem lag es an der Angst, angegriffen zu 14
werden. „Hier streunen viele Tiere und böse Menschen herum. 15
Am besten hält einer von uns beiden Wache, ja?“, hatte 16
Mathieu mit seinem manchmal unverständlichen Akzent 17
genuschelt und den Kopf ein Stück aus dem Sand gehoben. Den 18
Schlafsack, mit dem wir uns zudeckten, schlang er eng um 19
seinen Körper. Ein letztes Gähnen, dann schlossen sich seine 20
Augen. Von diesem Moment an hatte ich mich von links nach 21
rechts, von rechts nach links gerollt, auf den Bauch, auf 22
die Seite, auf den Rücken, doch schlafen konnte ich nicht. 23
So bestand das größte Abenteuer darin, mir nicht vor Angst 24
in die Hose zu machen. Ich zählte die Sterne am Himmel, 25
malte mir irre Gestalten aus, die ich mit den Fingern in der 26
Luft zu zeichnen versuchte, während ich unentwegt dem leisen 27
Kreischen der Aasgeier lauschte. Bis zum Morgengrauen. 28
Der beißende Geruch von Rauch stieg mir in die Nase. 29
Erschrocken fuhr ich aus dem Sand hoch. Mathieu hockte neben 30
62
einem kleinen Feuer aus wenigen Stöcken und Blättern. Locker 1
drehte er eine an einem Ast aufgespießte Wüstenmaus über dem 2
Feuer. Augenblicklich kitzelte der Brechreiz in meinem Hals. 3
Blut spiegelte sich in der aufgehenden Sonne. „Ich weiß, 4
eigentlich sollte man keine Tiere töten… aber ich hatte 5
Hunger. Und auf Grünzeug mag ich nicht sonderlich.“, brüllte 6
Mathieu von der Feuerstelle herüber. Ich lächelte verlegen. 7
Es würde seine Zeit dauern, bis wir uns verstanden, doch der 8
erste Schritt war gemacht. 9
Energisch schüttelte ich den Kopf. Wenig später war mein 10
Gesicht von einer Sandwolke umhüllt. Ich hustete. Die groben 11
Körner kratzten in meinem ausgetrocknet Hals, der nach 12
Wasser schrie. 13
„Sollen wir schwimmen gehen?“, fragte ich ein wenig 14
heiser. 15
Mathieu wandte sich ab. Ohne mich anzusehen, erwiderter 16
er: „Typisch Ausländer!“ Kopfschütteln. „Können kein 17
bisschen Dreck vertragen!“ Zwischen seinen Zähnen hing noch 18
ein Fleischstück, welches er nun gierig mit der Zunge in 19
seinen Rachen zog. 20
„Typisch Einheimische! Sehen aus wie der letzte Dreck!“ Es 21
war wirklich nicht böse gemeint, doch ich wunderte mich über 22
die heftige Wirkung auf meinen Freund. 23
Drohend, das Gesicht vor Wut unmenschlich verzerrt, setzte 24
er einen Fuß vor den anderen, bis seine Nase meine beinahe 25
berührte. Wie in einer Manege, umjubelt von tausenden von 26
Menschen aus Sand und Staub, umringten wir uns, starrten 27
einander in die Augen, weit vor Zorn aufgerissene Augen. 28
Plötzlich, die Hand zur Faust geballt, schlug Mathieu zu. 29
Blut sprühte aus meiner bereits verletzten Nase hervor. 30
63
Reflexartig riss ich das linke Knie hoch, im selben Moment 1
bemerkend, wie ich das Gleichgewicht verlor. Mein Sturz 2
wurde von dem weichen Sand ein wenig abgefedert, dennoch 3
spürte ich den stechenden Schmerz in der Schulter. Mathieu, 4
den ich im Fall in den Magen getroffen hatte, lachte 5
belustigt: „Na, schmeckt der Sand?“ Er bückte sich und ließ 6
die Körner über meinen Kopf rieseln. Wehrlos lag ich 7
hingestreckt am Boden. Zurückschlagen konnte ich nicht. 8
Einmal hatte ich es gegen Benjim versucht, als wir eines 9
unserer Indianer-Cowboy-Spiele gespielt hatten - und war 10
dabei kläglich gescheitert. Nein, es musste einen anderen 11
Weg geben, meinem Freund zu zeigen, dass ich kein Feigling 12
war. Immerhin besaß ich einen Vorteil: In jedem unserer 13
Kämpfe habe ich ihn besäßen: Ich konnte mir schnell viele 14
Dinge merken. Mathieu mochte der Bessere von uns beiden 15
sein, doch seine Angriffe kamen in jedem Kampf ähnlich. 16
Rechte Hand, präzise auf das Gesicht gerichtet, langsame, 17
meist wenige Bewegungen. Kurzum ich war in der Lage, ihn 18
einzuschätzen. Auch meine Mama und Papa waren zunächst 19
skeptisch gewesen, als die Lehrerin erklärte, ich hätte 20
innerhalb von Minuten ein Arbeitsblatt bearbeitet, für 21
welches die meisten Kinder eine Stunde brauchten. Ab dem Tag 22
kam es häufiger vor, dass auch Papa sich neben mich ans Bett 23
setzte und wir über richtige Männerdinge redeten. Mama 24
lehnte die ganze Zeit über lächelnd gegen den Türrahmen. 25
Irgendwann nahm sie dann neben meinen Vater auf der 26
Bettkante Platz und las uns eine Gutenachtgeschichte vor. 27
Später, als Papa so viele Taschentücher verbrauchte, habe 28
ich ihm diese Geschichten erzählt, von tollkühnen Rittern, 29
die ihre wunderschönen Prinzessinnen aus den von Drachen 30
64
bewachten Türmen befreiten, oder von fleißigen 1
Heinzelmännchen. 2
Dennoch wusste ich nicht wie. Ich wusste nicht, wie ich 3
dies machte, aber wusste, dass ich es konnte, wenn ich 4
wollte: Das Einschätzen und richtige Reagieren. 5
Niesend senkte ich den Kopf, als wolle ich aufgeben. Meine 6
Augen huschten wachsam über Mathieus gebräunte Beine nach 7
oben. „Verlierer…“ Weiter kam er nicht. Die Worte würden für 8
immer auf seinen Lippen ruhen. Mit aller Kraft hatte ihm 9
gegen seine Knie getreten, die nun umknickte, wie ein 10
abgebrochener Grashalm. Dabei verengten sich Mathieus Augen 11
zu einem schmalen Schlitz. Wie ein Chinese, so sah er 12
beinahe aus, wie ein wütender Chinese. Oder wie ein Stier, 13
die Hörner gesenkt, kurz bevor er sich auf das rote Tuch 14
stürzte. In der Staubwolke konnte ich kaum die Hand vor 15
Augen sehen. Das Herz pochte wild in meiner Brust. Es war 16
nur eine Frage der Zeit, bis einer den anderen von hinten 17
überfiel. Eine Frage der Schnelligkeit. Vorsichtig rollte 18
ich mich von Mathieu weg. Ruhig, ermahnte ich mich, ruhig. 19
Gebannt beobachteten die Menschen den Kampf, wissend, dass 20
ich mich weitaus besser geschlagen hatte, als sie jemals zu 21
denken vermocht hatten. Und ich würde gewinnen, denn ich war 22
schnell. Bewegungslos hielt ich inne, wartend bis sich die 23
Wolke aus Sand und Staub verzogen hatte. Von Mathieu keine 24
Spur. Dann plötzlich begann der Himmel zu weinen. Große 25
Tränen, kleine Tränen fielen wie gläserne Diamanten zu 26
Boden. Mathieu, den ich nun neben mir erblickte, grinste, 27
nicht verächtlich, sondern belustigt. „Was hast du wieder 28
angerichtet, Heulsuse?“ Er legte den Kopf in den Nacken und 29
lief umher, um jeden Einzelnen dieser Tropfen auf seinem Weg 30
65
zur Erde zu begrüßen. Jubelnd tat ich es ihm gleich. Daheim 1
hatte ich den Regen gehasst, weil ich dann nie zum Spielen 2
herausgehen durfte, doch in diesem Land schien alles ein 3
wenig anders. Upside down, hatte Kay einmal gesagt. 4
Auch in weiter Ferne konnten wir Punkte ausmachen. 5
Menschen, die auf die Straßen gegangen waren, um den warmen 6
Regen auf ihrer Haut zu spüren. Die ersten Blitze schossen 7
wie Aale über den nachtschwarzen Himmel. Das Wasser schoss 8
Löcher in den Sand. 9
So etwas hast du noch nie erlebt! 10
„Hast du eine Flasche? Damit könnten wir etwas davon 11
auffangen!“, schrie Mathieu über den grollenden Donner 12
hinweg zu mir herüber. Nickend blickte ich mich nach meinem 13
Rucksack um, den ich schließlich einige Meter entfernt 14
liegen sah. Glücklicherweise war sein Inneres zum größten 15
Teil trocken. Hektisch brachte ich Flaschen, Dose, alles, 16
was wir gebrauchen konnten, zum Vorschein. Deren Inhalt, 17
Brot, Süßigkeiten und Ähnliches, sammelte ich auf der 18
bereits durchnässte Decke. Mathieu, der nun zu mir herüber 19
kam, schnappte sich eine der Dose und hielt sie mit beiden 20
Händen in den Himmel. Sekunden später schwappte die 21
durchsichtige Flüssigkeit beinahe über den Rand hinweg. Mit 22
einem letzten Ächzen verzogen sich die Wolken ebenso 23
plötzlich, wie sie gekommen waren. Der Himmel hatte 24
aufgehört zu weinen. Die Sonne strahlte wieder. 25
„War das nicht eine gute Dusche?“, fragte Mathieu, während 26
er sich neben mich kniete, um mir beim Einpacken zu helfen, 27
welches uns nun größere Schwierigkeiten bereitete. 28
„Die Beste, die ich jemals hatte.“, stimmte ich ihm 29
nickend zu und legte ein Brot in den bereits überfüllten 30
66
Rucksack. Dabei lastete Mathieus argwöhnischer Blick auf 1
meinen Schultern. „Das bekommst aber selbst du nicht in die 2
Tasche!“ 3
„Nein, das werden wir so trägen müssen.“, erwiderte ich 4
und schloss den Reißverschluss. 5
„Wie denn?“ 6
Ich verzog den Mund, zuckte mit den Achseln, während ich 7
überlegte. „Wir können die Decke als Sack nehmen!“ In meinen 8
Gedanken tauchte das Bild meines Vaters auf, der als 9
Weihnachtsmann verkleidet, einen Sack über den Schulter 10
trug. Wenn du nicht artig bist, steck ich dich darein, hat 11
er durch seinen wattweißen Bart genuschelt. Mein erstes 12
Weihnachten, welches ich bewusst miterlebt habe, nicht nur 13
von Fotos her kannte. Es soll auch unser letztes gemeinsames 14
Weihnachten gewesen sein. Damals habe ich noch stundenlang 15
am offenen Fenster sitzen und immerzu in den Himmel starren 16
können, ständig in der Hoffnung der Christkind würde kommen. 17
Bei jedem Hubschrauber, jedem Flugzeug, ja sogar bei jedem 18
Sterne, der in dieser schwarzen Nacht zu leuchten vermochte, 19
mochte ich jenes Strahlen in den Augen gehabt haben. Mama, 20
Papa, habe ich aufgeregt gerufen, Mama, Papa, der goldene 21
Schlitten und Rudolf, das Rentier, mit der roten Nase, sind 22
da oben. Doch dem war nicht so, nicht ein einziges Mal. 23
Mathieus Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Es brauchte 24
einige Sekunden, bis er meine ganze Aufmerksamkeit vollenden 25
wieder hatte. 26
„Wie der Weihnachtsmann.“ 27
„Den kenne ich nicht. Läuft der auch wie blöd mit einem 28
Sack über der Schulter?“ 29
67
Ich seufzte. „Keiner zwingt dich dazu, es zu tun. Hier, 1
nimm den Rucksack.“ Um nicht erneut etwas zu sagen, was ich 2
binnen Minuten bereuen konnte, presste ich schnell die 3
Lippen aufeinander, reichte ihm den Rucksack, den dieser 4
nach kurzem Abwiegen sinken ließ. „Was bitte hast du darein 5
gestopft? Von Steinen war nicht die Rede!“ 6
„Vieles.“, entgegnete ich knapp, während ich die Ecken des 7
ausgebreiteten Schlafsacks zusammenlegte. Im Blickwinkel 8
bemerkte ich Mathieu, der sich an dem Reißverschluss zu 9
schaffen machte. Mamas Ring glitt aus seiner Hand. 10
Sekundenspäter konnte ich sein Glitzern im Sand kaum noch 11
vernehmen. 12
Energisch wühlte ich in den groben Körner des goldbraunen 13
Meeres, die meine Erinnerung immer mehr zu verschlucken 14
drohten. „Was machst du da!?“ Blind, den Blick nur auf 15
Mathieu gerichtet, der sich nicht an der Suche beteiligen 16
scheinen zu wollen, wühlte ich im Sand, als die Finger 17
meiner linken Hand etwas Metallisches ertasteten und ich 18
erleichtert den Ring an meine Brust drückte, als wäre dieser 19
der größte Schatz dieser Erde. 20
„Jetzt da du ihn wiederhast, können wir ja entscheiden, 21
was wir hier lassen.“ 22
Erbost starrte ich Mathieu an. „Entscheiden, was wir hier 23
lassen?“, fuhr ich ihn an, ganz gegen meine Art wütend zu 24
werden, „Hast du eine Ahnung, wie viel mir die Sachen 25
bedeuten? Aber nein, woher auch! Du hast ja nichts, was dir 26
wichtig ist!“ Ich erwartete, ein Gegenwehr oder zumindest 27
etwas, womit er sich zu verteidigen versuchte. Die Worte 28
kreisten wie die Geier über uns. Wie Geister, diese 29
unausgesprochenen Wörter. Ich hätte vieles sagen können, 30
68
wollen in diesem Augenblick. Und dennoch bewegte ich nur 1
lautlos die Lippen. Mathieu, ich rede mit dir! Ich mochte 2
seine verletzenden Sprüche hassen, hassen, doch immerhin war 3
er mein Freund, der dort ungewohnt ruhig vor mir stand. 4
Mathieu, Mensch, sag was! Ja, ja, ja, ich mag auch Mist 5
gelabert haben, aber du… Ach, komm vergiss es, Okay? Lass 6
uns endlich Spaß haben. Nur wir beide, du und ich, gegen den 7
Rest der Welt. 8
„Ja.“, murmelte Mathieu nach einer Weile, „Irgendwie hast 9
du recht. Es wäre wirklich dumm, so einen Ring hier im Sand 10
zu vergraben, wo man doch vielleicht in der Stadt echtes 11
Geld dafür kriegen könnte!“ 12
Ich lächelte zögerlich, unwissend, ob er das mit dem 13
Verkaufen ernst gemeint hatte. Aber zum Glück war für diesen 14
Zeitpunkt alles wieder in Ordnung. „Ähm… Stadt?“ Ich drehte 15
mich fragend im Kreis. Mathieu hielt mich an der Schulter 16
fest und ein wenig entsetzt folgte mein Blick seiner Hand, 17
die mitten in einen Urwald deutete. „Das ist der schnellste 18
Weg.“ 19
Verneinend schüttelte ich den Kopf. „Der schnellste Weg in 20
den Selbstmord.“ Auf keinen Fall gehst du dadurch, Tim! 21
„Feigling.“, meinte Mathieu achselzuckend, wobei er meinen 22
Rucksack über die Schulter warf. „Nach dem Regen kann das 23
Wetter plötzlich umschlagen. Gut möglich, dass wir in einen 24
Sturm geraten. Ein Cousin meines Onkels hatte einmal das 25
Vergnügen. Einmal.“ 26
„Und das sagst du mir erst jetzt?“ 27
Erneut zuckte Mathieu die Schultern. „Du hast mich nicht 28
danach gefragt.“, erwiderte er. 29
69
Ich spürte, wie sein Blick mich von hinten zu durchbohren 1
schien. Natürlich, dachte ich verärgert, hast du nicht 2
gefragt, wer, wann, was, wie, wo getan hatte. Theoretisch 3
interessiert es dich nicht einmal. Theoretisch nicht, 4
praktisch schon. Denn jetzt bist du es, der durch dieses 5
Mienenfeld zu laufen hat. 6
„Wir hätten über die Straße gehen sollen.“, schlug ich 7
wenig überzeugend vor. Wenn Mathieu erst einmal eine Sache 8
begonnen hatte, konnte man ihn nur selten davon abbringen, 9
diese nicht auch zu beenden. So mal ich es war, dem er in 10
dieser Hinsicht nicht sonderlich oft recht gab. 11
„Tim, Tim, Tim. Du bist einfach zu gutgläubig. Und 12
außerdem…“ Er rieb mir mit seiner freien dreckigen Hand über 13
das Gesicht. „…musst du dich anpassen.“ 14
Angewidert fuhr ich mir durch die Haare, dann über die 15
rauen Wangen. „Warum?“ 16
„Dummerchen, weil sonst jeder weiß, dass du nicht von hier 17
bist. Und Menschen, die nicht von hier sind, haben Geld. Und 18
Geld ist etwas, was jeder Einheimische gut gebrauchen kann. 19
Denn hier gilt nur ein Gesetz: Gefressen oder gefressen 20
werden…“ 21
„Du meinst…?“ 22
„Ja, wenn die in Kpalimé herausfinden, wer du bist, dann 23
würde ich dir wünschen, nicht geboren zu sein.“ 24
Ich bemühte mich, nicht allzu gestockt zu reagieren. Doch 25
mein Gesichtsausdruck musste mich wieder einmal verraten 26
haben. „Du machst mir Angst.“ 27
„Hey, das heißt nicht, dass du jetzt bei jedem, den wir 28
treffen, gleich in Panik ausbrechen musst. Verhalte dich 29
ganz unauffällig, klar? 30
70
Ich nickte zaghaft, wobei ich die letzte Ecke des 1
Schlafsacks zusammenlegte. „Okay, aber du hast mir immer 2
noch nicht gesagt, warum wir ausgerechnet durch die Wüste 3
müssen.“ 4
Mathieu schüttelte abwehrend den Kopf. „Das wirst du noch 5
früh genug herausfinden.“ 6
Herausfand ich es auch, nur früher als mir lieb war. 7
Ich habe mich damals oft gefragt, warum Mathieu mir nie 8
die Wahrheit gesagt hatte. Warum er mir alles verschwieg, 9
was er über den Tod meines Vaters wusste, was er über mich 10
wusste. Ständig habe ich nur versucht, zu begreifen, wer er 11
war, dieser Junge, mit dem kurz geschorenen Haar und den 12
vielen Narben auf Armen und Beinen. Ständig habe ich nur 13
versucht, zu verstehen, und tat es dennoch nie. Nicht einmal 14
dann, als ich in die dunklen, fast schwarzen Augen sah, die 15
wie durch die Splitter einer eingeworfenen Fensterscheibe in 16
mein Inneres blickten. Die wirkliche Frage dahinter, die war 17
es, die ich nie verstehen oder begreifen wollte. 18
Außer Atem, keuchend stürzte ich das Wasser in der Kehle 19
herunter. Meine Haut brannte wie Feuer, obwohl ich jede 20
halbe Stunde stehen geblieben war, um sie erneut 21
einzucremen. 22
„Mathieu…?“, schrie ich heiser, doch ich spürte, dass das, 23
was mir von den Lippen ging, kaum mehr als ein Flüstern sein 24
mochte. Kraftlos sank ich auf die Knie. Ich würde keinen 25
Schritt mehr weiter tun. „Mathieu…!“, rief ich noch einmal, 26
erhielt erneut keine Antwort. Ein Husten in der Nähe oder 27
etwa weit, weit entfernt? Mittlerweile mochte das Einzige, 28
was ich realisierte, die Tatsache sein, dass wir uns 29
verlaufen haben mussten. 30
71
„Tim? Tim!“ Blinzelnd setzte ich mich auf, beobachte 1
missbillig den auf einem Bein springenden Mathieu, der mir 2
zu rief, er habe etwas gefunden. 3
Für den Fall, dass du mich jetzt weckst, nur um mir zu 4
zeigen, dass du eine alte Bierdose gefunden hast, kannst du 5
froh sein, wenn du mit einem fehlenden Zahn davon kommst. 6
Gähnend stolperte ich herüber - und war mit einem Schlag 7
hellwach. Eine Tasse, halb bedeckt vom Sand. Nichts 8
besonders, eigentlich hatte sie kaum Wert. Und dennoch 9
irritierte mich deren Aufschrift “LC Köln”, die von 10
überdimensionalen, leicht verblassten rot-schwarzen 11
Buchstaben und dem Läufer noch unterliniert wurden. Ich 12
kannte diese Tasse, denn es war meine eigene gewesen - bis 13
ich sie meinem Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Seither 14
trank er jeden Morgen seinen Kaffee daraus. Kaffe, 15
maschinell gemahlen in Brasilien, schwarz, dazu die Zeitung. 16
„Hey!“ Mathieu stieß mich behutsam in die Seite. Ich 17
beachtete ihn nicht, wog nur diese Tasse in meinen Händen. 18
Sie hier im Sand zu finden, fernab von Deutschland, war ein 19
Wunder. Sanft strich ich mit den Fingern über den Läufer. 20
Eine andere Welt, wie aus einem Traum. Mein erstes Leben, so 21
anders als das hier und jetzt. Dabei hatte ich noch nicht 22
einmal begonnen, richtig zu leben. 23
„Hast du noch mehr davon gefunden?“, fragte ich leise, 24
weil ich mich plötzlich vor meiner eigenen Stimme fürchtete, 25
die mich aus diesem Traum wecken konnte. Obwohl Mathieu den 26
Kopf schüttelte, beugte er sich herunter, um mit beiden 27
Händen im Sand zu wühlen. Ich tat es ihm gleich, wenn auch 28
ein wenig hektischer. Allerdings musste ich mir schon nach 29
Minuten eingestehen, dass meine Finger schmerzten, als hätte 30
72
ich einen kompletten Nordseestrand mit Muscheln und kleinen 1
Steinchen umgegraben. Dabei war das Loch kaum mehr als zehn 2
Zentimeter tief. Mathieu buddelte noch einige Zeit weiter, 3
wenn auch nur, um mir zu beweisen, dass er besser war, wie 4
ich vermutete. „Da, wo du herkommst, lernt man so was 5
scheinbar nicht.“, meinte er Stirn runzelnd und betrachtete 6
die vielen, zum Teil wieder vom Sand verwehten Gräben. 7
„Selbst wenn wir die ganze Nacht so weiter machen, glaub ich 8
nicht, dass wir noch irgendetwas finden. Es sei denn, es 9
fällt vom Himmel.“ Insgeheim musste ich ihm recht geben. 10
Vielleicht hatte Papa die Tasse einfach bei einer Pause an 11
dieser Stelle vergessen oder versucht, einen “LC-Köln“-12
Tassenbaum zu pflanzen, ebenso wie ich es oft heimlich mit 13
Gummibärchen oder mit meinem Schnuller getan hatte. 14
Vielleicht, doch mein Instinkt verriet mir anderes. Es war 15
dasselbe unbestimmte, aber sichere Gefühl wie am gestrigen 16
Morgen. Das Gefühl, dass es kein Unfall gewesen sein konnte. 17
Aber wenn Papa nicht verunglückt war, was…? Unschlüssig 18
musterte ich die Tasse, an deren Rand noch ein kläglich, 19
brauner Kaffeerest haftete. Ich wollte den Gedanken nicht zu 20
Ende führen. Dein Vater ist tot, Tim, t-o-t. Wie er 21
gestorben ist, spielt keine Rolle. Doch ich wusste, dass 22
das, was ich mir einzureden versuchte, nicht wahr war. Denn 23
das Verlangen, endlich einmal die Wahrheit zu erfahren, 24
wuchs mit jedem Augenblick, der sinnlos verstrich. 25
„Lass uns nach Kpalimé gehen.“, murmelte ich mehr zu mir 26
selbst, als zu meinem Freund. Vor seinem Tod hatte Papa 27
hatte sie oft besucht, die Stadt. Zumindest hatte er es oft 28
behauptet. Wenn ich demnach Hinweise finden wollte, wäre es 29
vermutlich klug, dort den Anfang zu machen. Vor allem auch 30
73
Mathieu wegen, dem ich nicht zumute konnte, sämtliche Wüsten 1
zu durchkämen, in der ständigen Hoffnung Gründe im Sand der 2
Unterwelt zu finden. 3
Dieser nickte zustimmend, lenkte, dass wir nur meinetwegen 4
überhaupt Halt gemacht hätten. 5
Kpalimé - eine kleine, aber erstaunlich belebte Stadt in 6
mitten eines vom Licht der Sonne in einen sanften rot-grün 7
Stich getauchten Ozeans. Die Häuser mochten alle 8
unterschiedlich sein: Hütten oder Gebäudekomplexe, Holz 9
oder Ziegelstein, modern oder altertümlich, bildeten jedoch 10
einen eng miteinander verbundenen Kreis. Auf den Straßen 11
tummelten sich Menschen jeglicher Art und Größe, manche in 12
kleineren Gruppen, andere alleine. Unter ihnen auch viele 13
aufdringliche Händler, die ihre Waren anpriesen, und 14
bettelende Kinder, die am Straßenrand kauerte. 15
„Beste Zigarren. Sehr billig.“ 16
„Frischer Fisch!“ 17
„Bitte, bitte. Ich hab Hunger. Bitte…!“ 18
Ein überladender, klappernder Bus schoss über die Straße 19
hinweg, ohne auf die Menschen Rücksicht zu nehmen, die nun 20
erschrocken zur Seite sprangen. Staub wurde aufgewirbelt. 21
Eine Gruppe Männer, mit schmutzigen Hemden und Strohhütten 22
bekleidet, hob brüllend die Fäuste. Frauen in langen 23
Kleidern nahmen ihre spielenden Kinder bei der Hand. Eine 24
überreifte Wassermelone zersprang auf dem Boden. Sekunden 25
später war sie von einer Meute hungriger Menschen umzingelt, 26
die gierig über sie herfiel. 27
Dies war Kpalimé - ein bunter, zugleich schwarzer Fleck 28
inmitten eines leeren Herzens. 29
74
Ein letztes Mal wandte ich mich dem rotgrünen Gebirge zu. 1
Unsere Fußspuren waren beinahe verweht. Ich seufzte. Nun gab 2
es kein Zurück mehr, wenn es denn jemals eines gegeben 3
hätte. Für niemanden von uns. Großes, Spanien-Ehrenwort, du 4
bist die beste Freundin, die ich mir wünschen kann. Großes 5
Spanien-Ehrenwort, kleine Schwester, ich werde dich wieder 6
finden. 7
Ich werde dich finden, in dieser neuen Welt, das 8
verspreche ich dir, Kay. 9
Dann wagte ich den Schritt über die Klippe hinaus. 10
Auf einmal war es ganz leicht, einen weiteren zu machen 11
und noch einen. Meine Füße folgten meinem Herzen 12
bedingungslos. 13
Mathieu lachte. „Du siehst aus wie der Surfer auf deinem 14
T-Shirt…“ Er zuckte belustigt mit der Schulter. „… kurz vor 15
dem Absturz.“ 16
Ich blieb abrupt stehen. Wir hatten die Stadt erreicht. 17
75
3. Kapitel 1
„Yovo, Yovo!“ 2
Erstaunt blickte ich mich nach allen Seiten um. Eine 3
ältere, in ein buntes Gewand gehüllte Frau humpelte aus 4
einem Gebäude. Internetcafé stand in unleserlichen, 5
handgeschriebenen Großbuchstaben über der Eingangstür. Durch 6
die verschmierten, von schmutzigen Pappestreifen in den 7
verschiedensten Farben behangenen Fensterscheiben ließen 8
sich die wenigen, vermutlich in Europa längst überholten 9
Computer ausmachen. Das Internet war langsam, zu langsam, 10
doch wenn man die Verhältnisse nicht kannte, fiel es einem 11
kaum auf. Als Mathieu mich am Arm weiterziehen wollte, 12
schüttelte ich den Kopf. Yovo Junior hatte die Frau gerufen, 13
die nun durch ein rostiges Brillengestell zu uns 14
herüberschielte. Kleiner Weißer… Das musste bedeuten, dass 15
auch einmal Yovo Maximo, große Weiße, hier gewesen sein 16
mochten. Vielleicht nicht gestern oder vorgestern, sondern 17
vor einer geraumen Zeit. 18
„Mathieu, gehst du schon mal vor.“ 19
„Wohin?“ 20
„Etwas kaufen.“ 21
„Irgendetwas? Einfach so? Von deinem Geld?“ 22
„Ja!“ 23
Verwirrt zuckte Mathieu mit den Schulter, ließ mich aber 24
nach kurzem Überlegen dennoch mit der Bitte, ich solle ja 25
nichts Böses anstellen, alleine zurück, während er über den 26
Markt davonlief, auf dem sowohl Gemüse und Früchte als auch 27
Zahnbürsten oder T-Shirts angeboten wurden. Schon 28
Augenblicke später hätte ich mich ohrfeigen können für die 29
76
Dummheit, diesen Jungen mit meinem Hab- und Gut quer durch 1
ganz Kpalimé zu schicken. Wer wusste schon, ob es nicht 2
zufällig einen Händler für Gameboys oder Modelautos gab. 3
Dafür jedoch war es nun zu spät, schätzte ich achselzuckend. 4
Die alte Frau zwinkerte verführerisch, beinahe wie eine 5
Hexe, wirkte sie. Geheimnisvoll, doch ich ließ mich darauf 6
ein, von ihr in ihr Häuschen aus Zuckerstangen und 7
Lebkuchen, zusammengehalten von kaum mehr als ein paar 8
Tupfern herrlich süße duftendem Klebstoff, entführt zu 9
werden. „Yovo!“, kicherte sie noch einmal mit ihrer tiefen, 10
fast männlich klingenden Stimme und winkte, als ich zögernd 11
über den Weg zu ihr schlich, dabei das Foto aus der 12
Jackentasche kramend. Die Borsten ihres Besens strichen 13
rhythmisch zu einem alten Lied über den staubigen Holzboden. 14
Eine junge Frau erschien kurz, einen zur Hälfte mit Wasser 15
gefüllt Eimer in der einen Hand schwenkend. Auch sie nickte 16
mir freundlich zu, wandte sie dann aber ab, um einen 17
kräftigen Riesen zu begrüßen. Sein herablassender Blick 18
irrte umher und blieb schließlich merklich an mir hängen: 19
Zarin, der Mann von Keenans verstorbenen Schwester Ismen, 20
der spurlos für Stunden, manchmal sogar für Tage aus dem 21
Dorf verschwand. Vom Erdboden verschluckt oder der drückt 22
sich nur vor der Arbeit und treibt es mit anderen Frauen, 23
hieß es aus vielen wütenden Mündern der Dorfbewohner. Keenan 24
hatte jedes Mal stumm den Kopf geschüttelt. Ich habe 25
gesehen, wie er litt, sooft habe ich es in seinen leeren, 26
grauen Augen gesehen. Zarin nun auf dem Markt von Kpalimé 27
anzutreffen, wunderte mich nicht. Es jagte mir vielmehr 28
einen heißkalten Schauer über den Rücken. Sekunden betete 29
ich, dass er mich nicht erkennen mochte, doch meine Hoffnung 30
77
wurde jäh zerstört, als er die Hand hob, um die Frau zum 1
Schweigen zu bringen, und einen Schritt auf mich zu machte. 2
Hastig senkte ich den Kopf und begann angeregt eines der 3
Plakate am Fenster zu studieren, während ich mich 4
unauffällig bückte, um mir ein wenig des zusammengefegten 5
Drecks ins Gesicht zu reiben. Zufrieden betrachtete ich 6
meinen Zwillingsbruder im matten Glas der Fensterscheibe, 7
als sich die Fingernägel einer schmutzigen Hand in meine 8
Schulter bohrten. Mit gespielten Erstaunen wandte ich mich 9
um und erwiderte, geradezu erbost, dass man mich vom Lesen 10
abhielt: „Ja?“ Ich versuchte, möglichst selten den Mund 11
aufzumachen, denn ich war mir schon damals als Neunjähriger 12
sicher, dass mein Akzent mich verraten würde. 13
Reden ist Silber. Schweigen ist Gold. Glücklicherweise 14
hatte ich nach geraumer Zeit die Aussprache der Kinder im 15
Dorf nachgeahmt, sodass ich, wie Mathieu einmal behauptete, 16
nicht als Ausländer aus hundert Meter Entfernung gerochen 17
werden konnte. 18
Ich grinste, wenn ich an diese Zeit zurückdachte, in der 19
wir uns, flach auf den Boden gepresst, an die Mütter 20
herangepirscht oder einfach im Schatten Sandburgenbauen 21
hatten, die wir nach hitziger Verteidigung selbst 22
zerstörten. Wir haben viel voneinander gelernt. Dinge, die 23
für jeden von uns bedeutend werden würde, unabhängig davon, 24
wie der Würfel fiel. 25
„Darf ich dich etwas fragen, Kleiner?“ Seine Worte wurde 26
durch den französisch-afrikanischer Dialekt dieser Gegend, 27
den sie Ewe nannten, fast unverständlich. 28
„Ich bin nicht klein.“, entgegnete ich so im selben 29
Tonfall, dabei beleidigt das Gesicht verziehend. 30
78
„Okay.“ Der Mann zuckte gleichgültig die Schulter. „Weißt 1
du, ich bin auf der Suche nach zwei Jungen. Beide etwa in 2
deinem Alter. Ein Weißer, ein Togolese. Du siehst dem einer 3
sogar sehr ähnlich. 4
„So sieht aber fast jeder hier aus.“ 5
„Die beiden heißen Tim und Mathieu.“ 6
Es fiel mir nicht schwer, überrascht zu wirken. „Ach, den 7
Deutschen meinst du? Dem sein Vater gestorben ist.“ 8
„Ja.“ Der Riese nickte eifrig. „Du kennst ihn?“ 9
Der Impuls des Lachens überkam mich, doch es gelang mir, 10
ihn zu unterdrückt. Warum lachst du? - Weil es so lustig 11
ist, dass du nicht merkst, dass ich mit dir Katz und Maus 12
spiele. Du glaubst immer noch, das Gummibärchen in der Hand 13
zu haben, dabei schläft es längst in meinem Bauch. 14
„Warum nicht?“, erwiderte ich unschuldig, wobei ich 15
versuchte, das Kratzen des Staubs in meinem Hals zu 16
vergessen. Würde ich husten, wäre meine Tarnmaske 17
augenblicklich vom Winde verweht. 18
„Hast du ihn gesehen? Es ist wichtig, weißt du, Tim musst 19
sofort zurück nach Deutschland.“ 20
Ich stutzte, ließ es mir jedoch nicht anmerken. Warum war 21
ein erwachsener Mann bereit, seine Zeit zu opfern, um einen 22
weniger bedeutsamen Jungen aus dem Land fortzuschaffen? Was 23
für ein Sinn mochte all dies haben? Ich stand am Tor eines 24
immer größer werdenden Labyrinthes mit vielen ineinander 25
verzweigten Gängen, ganz ohne Karte, Kompass oder 26
irgendetwas, was mir Auskunft darüber geben konnte, wohin 27
dieser Weg führte. 28
79
„Vor ein paar Tagen hab‟ ich noch mit ihm Fußball 1
gespielt. Warum muss der denn jetzt weg? Kommt der dann gar 2
nicht wieder?“, fragte ich, bemüht unparteiisch zu klingen. 3
„Wahrscheinlich nicht. Es ist zu seinem Besten. Ihm könnte 4
vielleicht etwas zustoßen, bliebe er hier. Du hast ihn also 5
seitdem nicht mehr gesehen?“ 6
„Nein. Er hat mir nicht einmal gesagt, dass er abhauen 7
will.“ 8
Zarin stöhnte, dann wandte er sich ohne ein Wort des 9
Abschieds oder Dankes ab und stolzierte über den Markplatz 10
davon, bis er in der bunten Menschenmenge verschwand. 11
Erleichtert atmete ich auf, wartete jedoch noch einige 12
Minuten mit dem Abwaschen des Drecks, aus Angst der Mann 13
könnte zurückkommen. Das Gemisch aus Sand und Staub klebte 14
wie Beton auf meinem verschwitzten Gesicht. Energisch sah 15
ich mich nach Wasser um und erspäht schließlich den Eimer, 16
in den die jüngere Frau in unregelmäßigen Abständen einen 17
Stoffrest tauchte, um die Fenster zu putzen. Kurzer Hand 18
kniete ich mich trotz ihres irritierten Blickes neben diesem 19
nieder und begann mein rotes Gesicht zu reiben. Das Wasser 20
verdampfte augenblicklich auf meiner Haut, dennoch waren die 21
kleinen aufsteigender Wolken wohltuend. Erneut bemerkte ich 22
die junge Afrikanerin, der ich scheinbar eine Erklärung 23
schuldig war. „Das war ein Spiel. Ich wollte einmal 24
ausprobieren, ob jemand bemerkt, dass ich ein ‚Weißer‟ bin. 25
Tut mir leid.“ 26
Ich seufzte. Wie ich es hasste, lügen zu müssen! Aber die 27
Wahrheit hätte die Frau nicht verstanden. Wieso auch, wenn 28
ich es selbst nicht begreifen konnte oder wollte, dass die 29
Erde sich rechts herumdrehte und nicht links. 30
80
„Schon in Ordnung.“ Sie lächelte amüsiert, während sie mit 1
der freien Hand unbemerkt ausholte, um mir Wasser ins 2
Gesicht zu spritzen. 3
„Shayne!“ Augenblicklich wandte sich die junge Frau ab, um 4
ihrer Arbeit nachzugehen. „Shayne!“ Die alte Herrin stürmte 5
mit wild umherfuchtelnden Armen und einem vor Zorn 6
verzerrtem Gesicht aus dem Gebäude. Als sie mich erblickte, 7
verflog ihre Wut. „Yovo! Was kann ich für dich tun?“, rief 8
sie und legte mir freundlich die Hand auf die Schulter. In 9
ihrer oberen Zahnreihe fehlten zwei Zähne, was meine 10
anfängliche Hexenvermutung nun noch bekräftigte. 11
Hastig ließ ich meinen Blick umherschweifen, um sicher zu 12
sein, dass mich niemand beobachtete, dann holte ich das 13
zerknittere Foto aus meiner Jackentasche hervor. 14
„Ich suche jemanden.“ Mit dem Finger deutete ich auf den 15
Mann, während ich der alten Frau das Bild in die Hand 16
drückte, die es aufmerksam betrachtete. Dann und wann wiegte 17
sie den Kopf, sagte jedoch nichts. Schließlich nickte sie. 18
„Ich meine, ihn ein paar Male hier gesehen zu haben. War 19
sogar beim mir im Geschäft. Netter Mensch, hat zwei der 20
Computer repariert und dafür lediglich verlangt, ab und zu 21
alleine im Café zu sein. Warum, sagte er mir nie. Aber es 22
schien ihm wichtig, das spürte ich.“ Sie machte eine 23
vornehme Atempause, wobei sie einladend den Arm ausstreckte, 24
um mir den Vortritt in ihr Haus zu gewähren. 25
Vorsichtig huschten meine Augen durch das von einer 26
einzigen, kalten Glühbirne spärlich erhellte Zimmer. Gegen 27
eine der nackten Holzwände waren zwei Tische geschoben, auf 28
denen die staubigen Bildschirme dreier Computer standen, 29
alle sehr nahe aneinandergerückt. Ihnen gegenüber erstreckte 30
81
sich eine verhältnismäßig riesige Theke, über deren Fläche 1
schmutziges Geschirr verstreut war. Auf jedem der metallenen 2
Barhocker hatte man ein selbst gestricktes Kissen gelegt. 3
„Setz dich doch.“, forderte mich die alte Frau auf, während 4
sie hinter dem Tresen verschwand. Kurze Zeit später war das 5
Klirren von Gläsern zuhören. Verlegen ließ ich mich auf 6
einem der Stühle nieder. Es fühlte sich seltsam an, hier zu 7
sitzen, in einem Café mit einer Frau, deren Namen ich nicht 8
einmal kannte. Es fühlte sich seltsam an, aber nicht fremd, 9
vielmehr vertraut. Beinahe so, als sei es etwas ganz 10
Natürliches. Etwas, das in Deutschland nie geschehen würde. 11
Jedenfalls nur äußerst selten. 12
„Einmal habe ich ihn nach seinem Namen gefragt.“, fuhr die 13
Frau fort, ohne sich von dem von einer Plane bedeckten Boden 14
zu erheben, „Einmal, aber er zuckte nur die Schultern: Namen 15
hätten für ihn keine Bedeutung. Warum, habe ich nachgehackt, 16
ein wenig entsetzt, will ich meinen. Warum? Weil sie 17
unwichtig seien. Namen sind bloß Worte, wie tausende und 18
abertausende auf dieser Welt. Man sollte Lebewesen nicht nur 19
unter einem Begriff kennen, sie dadurch unterscheiden, 20
sondern durch das, was sie tun, im Guten wie auch im 21
Schlechten. Das hat er gesagt und ich habe es bis heute 22
nicht vergessen, denn ich wusste, dass er recht hatte. 23
Dieser weise Mann aus dem fernen, fernen Land.“ Sie 24
kicherte, wobei sie strahlend die Flasche Mangosaft 25
hochhielt, nach der sie gesucht hatte. „Frisch zubereitet.“, 26
erwiderte sie beim Eingießen, „Hilft gegen böse Seele. 27
Trink, Kindchen, trink.“ 28
Ich spürte, ihren Blick, der versuchte, in mich 29
hineinzusehen. Unruhig, wie ein aufgescheuchter Vogel 30
82
drückte ich mich fester gegen die Lehne meines Stuhles, ohne 1
die ich sicherlich gestürzt wäre. Tim, beruhige dich. Das 2
bildest du dir nur ein. Doch ich wusste, dass dem nicht so 3
war. Das Glas mit der gelblichen Flüssigkeit war meinen 4
blauen Lippen plötzlich nahe. „Trink, Kindchen.“ Ein irres 5
Lachen. „Trink!“ 6
Wie in einem Albtraum, in dem die Hexe versuchte, ihr 7
Opfer zu vergiften. Nein…! 8
„Alles in Ordnung? Ich hatte keine Ahnung, dass du 9
Mangosaft hasst.“, entgegnete die Frau entschuldigend. 10
Ich schüttelte geistesabwesend den Kopf. Was war passiert? 11
„Die meisten meiner Gäste mögen ihn.“ 12
Hastig ließ sie die Flasche unter der Theke verschwinden 13
und betrachte mich aufmerksam durch ihre grünen Augen. 14
„Woher kennst du eigentlich diesen Mann?“ 15
Immer noch ein wenig verwirrt, wiegte ich den Kopf. Ihr zu 16
erzählen, dass er mein Vater war, konnte ein Fehler sein. 17
Schließlich hatte sie mir alles preisgegeben, was sie 18
wusste, ohne eine einzige Frage zu stellen. „Ein Freund 19
meiner Eltern. Er sagte, ich solle dir schöne Grüße 20
ausrichten, weil er für ein paar Wochen wegginge. Ich hatte 21
gehofft, ihn noch einmal zu sehen.“ Bevor die Frau etwas 22
einwenden konnte, sprang ich von dem Stuhl und erkundigte 23
mich grinsend, ob ich einen der Computer benutzen dürfte. 24
Sie willigte ein, etwas erstaunt, wie es schien. Als ich ihr 25
zudem noch einen CFA-Schein in die Hand drückte, breitete 26
sich ein freudiges Lächeln auf ihren runzeligen Lippen aus. 27
Ich wartete, bis sie pfeifend aus dem Zimmer verschwand, 28
dann startete ich eines der Geräte. Daheim in Deutschland 29
hatte Papa immer den Computer für geschäftliche Zwecke 30
83
genutzt. So jedenfalls behauptete er es, um einen Verwand zu 1
haben, mir auch dieses Spiel verbieten zu können. Doch, wenn 2
ich ehrlich war, alles Geheimnisvolle lockte mich magisch 3
an. Schon bald fand ich eine Möglichkeit, unbemerkt an 4
diesen Roboter zu gelangen. Auf dem Bildschirm erschienen 5
mehrere kleine Bilder. Unter ihnen ein kleines, blaues, mir 6
wohl bekanntes ‚e‟ für Internet. Ich wusste nicht genau, 7
wonach ich suchte oder was ich erwartete, doch ich wusste, 8
dass ich es hier finden konnte, wenn ich wollte. Mit dem 9
Zeigefinger nach den Buchstaben suchend, tippte ich Papas 10
Passwort in das Eingabefenster eines Email-Kontos ein. 11
Sylvie, genau wie meine Mama. Ich seufzte. Warum… Mama, 12
warum? Meine linke Hand verkrampfte sich um die Maus. "Warum 13
kannst du nicht endlich verschwinden aus meinem Leben, wenn 14
du mich schon alleine gelassen hast?", schrie ich, bemüht 15
nicht zu weinen. Wie ein Geier über seine Beute kreiste mein 16
zitternder Zeigefinger über der Eingabetaste. Sekunden 17
verstrichen, bevor sich der Bildschirm langsam verfärbte. 18
"Hallo Marc!", blinkte es in kursiv gedrückter, bläulich 19
leuchtender Schrift, darunter zwei ungelesene Nachrichten, 20
beide von demselben, namenlosen Absender. Die Letzte war 21
heute früh abgeschickt worden. Augenblicke zögerte ich. Das 22
ist nicht deine Angelegenheit, Tim. Das hat nichts mit dir 23
zu tun. Fahr den Computer herunter und hau ab. Doch ich 24
schüttelte den Kopf. Ich würde nicht noch einmal wie ein 25
Feigling davonlaufen. 26
Ohne es recht zu wollen, vollführten meine Finger den 27
entscheidenden Mausklick. Eine Seite öffnete sich, als mir 28
plötzlich der Atem stockte. Das Blut gefror in den Adern. 29
84
Mein Körper schien wie betäubt. Es kribbelte, stach in 1
meiner Brust. 2
Kamikaze erhob sich in bedrohlich blutfarbenen, umrahmten 3
Buchstaben von den restlichen, ebenfalls roten Zeichen. Ich 4
habe es schon einmal gesehen, trug es sogar in jedem 5
Augenblick bei mir, dieses Wort. Trug es bei mir, ohne die 6
Bedeutung zu kennen, einfach so. 7
Hektisch strich ich mir eine Strähne aus der Stirn, wobei 8
ich mich aufmerksam umsah, um sicher zu gehen, alleine im 9
Café zu sein. Dann holte ich die Kalenderseite hervor. In 10
verschmierten, fast unleserlichen Buchstaben strahlte es 11
etwas unnatürlich Starkes aus. Etwas Gefährliches, das mir 12
einen Schauer über den Rücken jagte, obwohl ich nicht einmal 13
das wirkliche Ausmaß dieses Wortes erahnen konnte: Kamikaze. 14
Unwiderruflich begann ich zu lesen. Meine Zunge verschlang 15
jedes der Worte, schmeckte jeden Buchstaben, ja sogar den 16
einzelnen Farbklecks, auf der blassen, weißen Wand, bis mein 17
Blick in tausend Splitter eines Mosaiks zerschlagen wurde. 18
Der Brief war in einer seltsamen, den meisten Menschen in 19
diesem Land fremden Sprache verfasst, doch es war eine 20
besondere Sprache, zumindest für uns beide: Es war unsere 21
Sprache, Kays und meine. Englisch. Dennoch irritierte es 22
mich, das, von dem ich geglaubt hatte, es verloren zu haben, 23
hier wieder zu finden. Schließlich mochte es in Kpalimé 24
weniger Ausländer geben, als beide Hände Finger haben. So 25
jedenfalls hatten wir es bisher immer angenommen, Kay und 26
ich. Wenn es tatsächlich noch jemanden gäbe, wäre es 27
sicherlich nicht schwer, ihn oder sie zu finden. Eine Suche 28
konnte nicht schaden, jedenfalls glaubte ich es zu dieser 29
Zeit noch. Wie hätte ich auch mein Schicksal erahnen können, 30
85
dessen Weg ich bereits eingeschlagen hatte? Ein letztes Mal 1
huschten meine Augen über den kaum verständlichen Brief, bis 2
sie an den Initialen ‚M.S.‟ hängen blieben. Die Kürzel eines 3
Namens, die diesen unweigerlich verfremdeten. M.S, ein Mann 4
oder eine Frau, vielleicht sogar eine Firma oder ein andere 5
Gegenstand. Auf jeden Fall, ein weiterer, von dornigen 6
Ranken verdeckter Wegweiser, dessen Hand in den dunklen Wald 7
hineindeutete. Ich fühlte mich ein wenig, wie Rotkäppchen, 8
das sich in das weit aufgerissene Maul des Wolfes stürzte, 9
mit der einzigen Ausnahme, dass ich mich nicht mit Haut und 10
Haar verschlingen lasen würde. Plötzlich legte sich eine 11
knöchrige Hand auf meine Schulter. Erschrocken fuhr ich 12
herum, in das verlegende Gesicht der jungen Frau starrend. 13
„Zarin ist da. Er möchte mit dir sprechen, glaube ich.“ 14
„Nein…“, stieß ich hervor. Im Winkel meines Blickfeldes 15
bemerkte ich den Schatten, den das Licht der Sonne in das 16
Gebäude warf. Hörte gleichzeitig die dumpfen Schritte an der 17
Türe, unterbrochen von einer tiefen, brummenden Stimme, die 18
einem Bären ähnlich sein mochte. Spürte dasselbe Kribbeln 19
auf der Haut, wie damals bei den Versteckspielen auf dem 20
Spielplatz, nur stärker. Und wusste, dass ich noch nicht 21
verloren hatte. Hastig verbarg ich mich hinter einem 22
afrikanischen Perlenvorhang, der einen Hinterausgang 23
verdeckte, flüchtete jedoch aus Angst, jemand anderes könne 24
mich verraten, nicht sofort. Die junge Frau starrte mir 25
verstollen nach, musste jedoch die Angelegenheit für ein 26
abgekartetes Spiel halten, denn sie begann ohne ein weiteres 27
Wort, die Gläser mit einem dreckigen Lappen zu polieren. Der 28
Perlenvorhand bewegte sich kurz, dann hing er wieder still 29
86
und unberührt herab. Eine Sekunde später und Zarin hätte 1
mich erwischt. 2
„Wo ist der Junge? Einfach abzuhauen, dieser Bursche! 3
Dabei hat ich ihn warnen wollen!“, brüllte der Mann, wobei 4
er sich verärgert auf einem der Stühle niederließ. Stille. 5
Schluckend versuchte ich, den Atem anzuhalten. Ich befand 6
mich nur Zentimeter von Zarin entfernt, nur durch einen 7
dünnen Vorhang getrennt. „Der Junge ist…“ Er erstarrte 8
plötzlich. Suchend nach einem Opfer huschten seine Augen 9
durch den Raum, als warnte ihn ein sicherer Instinkt, dass 10
er belauscht worden war. Kurz blieb sein Blick an dem 11
Vorhang hängen und für Sekunden glaubte ich, er hätte das 12
Schlagen meines Herzens gehört, wie es meine Brust zu 13
zerreißen drohte. Poch… Poch, poch… Leise und langsam, dann 14
wieder lauter und schnell. Poch, poch, poch… Ich schloss die 15
Augen, unfähig, zu atmen oder zu denken, versteinert, 16
gelähmt von der aufkommenden Angst. Poch… Poch, poch… Lauf 17
weg, Tim, lauf… Doch selbst wenn ich mich hätte bewegen 18
können, wäre ich nicht davongerannt. Wohin auch? Im 19
gleißenden Licht der Sonne würde ich, solange dieser Mann 20
auf der Suche nach mir war, kaum zwei Minuten unentdeckt 21
bleiben. „Der Junge ist tatsächlich fort.“, erwiderte Zarin 22
seltsam belustig, wobei er den Blick mühsam von dem Vorhang 23
abwandte und an einem Glas Wasser zu nippen begann. „Aber er 24
war hier.“ Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. 25
Zarin wollte mich warnen - aber wovor und warum? Am liebsten 26
hätte ich dem Mann nun diese Fragen gestellt, doch es war 27
unmöglich. Unsicher schob ich den Perlenvorhang beiseite und 28
verließ das Internetcafé durch den Hintereingang, froh, dass 29
der Weg von dem Marktplatz wegführte, um endlich alleine zu 30
87
sein. Ohne zurückzuschauen, lief ich fort, immer der 1
glühenden Sonne entgegen, ließ mich von meinen Füßen führen, 2
bis sich meine Arme um einen Baumstamm schlangen. Den Kopf 3
gegen die harte Rinde gepresst, verharrte ich für Minuten, 4
vielleicht auch länger. Papa… Meine Gedanken kreisten wie 5
Magnete über ein und demselben Wort, stießen sich ab und 6
zogen sich dennoch magisch an: Papa… Es tut mir Leid, dass 7
ich wie ein Feigling fortgelaufen bin. Ich war und bin nicht 8
der tapfere Sohn, den du immer erhoffst hast. Wahrscheinlich 9
werde ich auch nie so mutig sein, wie du es warst. Denn 10
manchmal wünsche ich mir, oben bei euch zu sein, obwohl ich 11
weiß, dass es Mama traurig machen würde. Ich schaffe es 12
nicht. Aber es gibt noch eines, was ich wissen muss: Warum? 13
Helfe mir, nur dieses eine Mal. Bitte… 14
Zaghaft riss ich den Mund auf, erst jetzt bemerkend, dass 15
ich die ganze Zeit über die Luft in meinem Körper gefangen 16
gehalten hatte, ebenso wie meine Gefühle, die nun zu den 17
Sternen jenseits des Horizontes schwebten. Wenn ich in 18
diesem Moment überhaupt etwas fühlte. Die Dornen stachen in 19
meine Hände, doch diese waren seltsam taub, kribbelten nur 20
gelegentlich. Meine Hände schliefen und von diesem Schlaf 21
wurden allmählich auch meine Arme, Füße und Schultern 22
befallen. Doch fühlen, nein, fühlen konnte ich nicht. Es war 23
beinahe, als hätte jemand versucht, die Erinnerung aus 24
meinem Herzen zu schneiden, sie dabei aber lediglich noch 25
vertieft. Papa… Mama… 26
Etwas berührte mich plötzlich am Rücken, leicht und doch 27
vernehmbar. Hastig fuhr ich herum, im selben Moment in die 28
schwarzen Augen einer Schlange starrend. Ihr Kopf mit der 29
immer wieder hervorzischenden, nach vorne gespaltenen Zunge 30
88
legte sich wie eine Hand beinahe vertraut auf meine 1
Schulter. Ich spürte, wie sich ihr Körper um meinen Hals 2
wandte, spürte, wie mir das Atmen immer schwer fiel. Panisch 3
schlug ich um mich, wälzte mich im Sand - vergebens. Die 4
Schlange zog ihre Schlinge fester, wobei sie mit der Zunge 5
geradezu genüsslich über meine Wangen streifte. Papa, 6
bitte…! Ich möchte noch kein Engel werden, wie ihr, auch 7
wenn ich euch dann endlich wieder sehen könnte! Ich darf 8
einfach nicht. Bitte… Es gibt hier unter den Wolken noch 9
jemanden, für den es sich lohnt, zu kämpfen. Dem ich es 10
sogar versprochen habe. Und Versprechen sollte man nicht 11
brechen, Papa, auch wenn du es damit nie genau genommen 12
hast. Ich tue es! Bitte, Papa… 13
Erstaunt hielt ich inne, kaum mehr als einen Meter von 14
einem gähnenden, schwarzen Abgrund entfernt, der mich für 15
immer verschluckt hätte. Wie auf einer Achterbahn, die 16
unerwartet eine Kurve machte, wurde ich zurück an den Baum 17
mit der Schlange geworfen. Das Tier lächelte zufrieden, 18
obwohl es gleichzeitig ein wenig gekünstelt wirkte. Ich war 19
mir jedenfalls keineswegs sicher, ob es nur vorgab, gut zu 20
sein, oder ob es wirklich einen liebevollen Charakter besaß. 21
Mit letzter Kraft löste ich die Schlinge um meinen Hals und 22
wich soweit zurück, dass die Schlange mich nicht noch einmal 23
erreichen konnte. Daran, fortzulaufen, dachte ich nicht. Ich 24
wusste nicht genau, was es war, dass mich an die Schlange 25
band, doch ich wusste, dass es mich hier hielt. Blinzelnd 26
schloss ich die Augen für einen Moment. Als ich sie wieder 27
öffnete, war das Tier verschwunden. Spurlos, wie vom 28
plötzlich aufkommenden Nordwestwind verweht. Zurück blieb 29
einzig die hauchdünne Spur eines langen Körpers im Sand, die 30
89
Richtung Süden deutete. Vorsichtig kniete ich mich an der 1
Stelle nieder, fuhr mit den Finger langsam die Schuppen 2
nach, bis die Konturen allmählich verblassten. Doch ich 3
hatte mir das Bild eingeprägt, wie eines der Memorykärtchen. 4
Es blieb nur noch die Frage, ob ich es wagen sollte, einer 5
Schlange zu folgen, die möglicherweise reinzufällig nach 6
Süden verschwand. Dabei stand meine Entscheidung von der 7
ersten Minute an fest. Würde ich es nicht tun, hätte ich 8
Papa wieder enttäuscht. Und das könnte ich mir niemals 9
verzeihen. Was nützt einem Feigling Intelligenz, wenn er 10
sich ständig hinter seiner Angst versteckt, die ihn 11
vielleicht manchmal beschützt, aber meistens davon abhält, 12
ein Held zu sein? Nur die Mutigen können etwas verändern, 13
mein Sohn, hatte Papa immer behauptet und mir dabei 14
spöttelnd auf die Schulter geklopft, du nicht, du nicht. Es 15
ist ein bisschen, wie Krieg spielen im Garten mit 16
Erbsenpistolen und Holzschwertern. Diejenigen, die 17
riskierten selbst erschossen zu werden, ernteten Ehre und 18
bekamen von den Verlieren Gummibärchen. Zu ihnen zählte ich 19
nie, weil ich mich immer auf dem Boden zusammengekauert 20
habe, aus Angst, ich könnte meine Freunde verletzen. Damals 21
habe ich mich oft gefragt, warum meine Mutter stolz darauf 22
war, dass ich nicht gekämpft hatte, wenn sie mich mit einem 23
blauen Auge oder Kratzern abholen musste. Warum sie stolz 24
auf jemanden war, der so feige war, wie ich. 25
Nein, dieses eine Mal wollte ich tapfer sein. Spring über 26
deinen Schatten! Sei tapfer, weine nicht! 27
„Hab ich dich endlich gefunden! Dass du auch immer gleich 28
abhauen musst, wenn„s brenzlig wird! Auf dein Versteckspiel 29
hab ich echt keine Lust mehr!“ Erschrocken zuckte ich 30
90
zusammen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass noch jemand 1
in der Nähe war. Wie Mathieu, dessen Gesicht nun hinter 2
einem Baum auftauchte, hätte auch jeder andere den Weg 3
herunter kommen können, ohne dass ich es gemerkt hätte. 4
„Weißt du eigentlich, dass ich durch ganz Kpalimé gelaufen 5
bin, um dich zu suchen?“ 6
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Durch ganz Kpalimé?“ 7
„Na ja, fast.“ Mathieu zuckte die Achseln.“ Ich hab‟ 8
Hunger.“ 9
In Gedanken hing ich immer noch der merkwürdigen 10
Schlangenzeichnung im Sand nach, die alles andere zu 11
verdrängen versuchte. Geh nach Süden, dort wirst du die 12
Wahrheit finden, zischte die Schlange, als wolle sie mich 13
beschwören, geh nach Süden, wie dein Vater es wünscht. Geh, 14
nimm deine Sachen. Wenn du daran glaubst, werden dich die 15
Vögel am Himmel leiten, ebenso wie die Sterne und alles, was 16
dich umgibt. Ich sehe dein Zögern, doch lasse dir gesagt 17
sein, wenn du zurückgehst, wirst du für immer alleine sein, 18
mein Sohn. Für immer. Ich schüttelte den Kopf. Nein…! 19
„Schon gut. Ich halte Abstand, damit dein zartes 20
Näschen den Fischgeruch nicht riecht.“ 21
Beleidigt wich der Junge drei Schritte zurück und legte 22
einen rohen Fisch einige Meter entfernt auf die Decke. „Nur 23
wenn die Geier ihn holen, bist du schuld.“ 24
„Er ist gestorben. Nicht meinetwegen. Vielleicht hat er 25
ein Familie, Frau, Kinder, die jetzt traurig durch den Fluss 26
schwimmen, ständig auf der Suche nach ihm.“ 27
„Hast du jetzt etwa Mitleid? Mit einem Fisch?“ 28
Verständnislos schüttelte Mathieu den Kopf. „Du könntest ihn 29
begraben, wenn es dir dann besser geht. Aber dann hätten wir 30
91
hier bald einen Fischfriedhof. Schwierig würde es erst bei 1
den Moskitos.“ 2
„Warum nicht?“ 3
„Das meinst du nicht ernst. Was hätten wir davon? Und 4
überhaupt! Du hast dich nicht einmal entschuldigt.“ 5
„Tut mir leid.“ 6
Auch Mathieu schien keinen Gefallen an dem Kampf zu 7
finden, wenn ich nicht mitspielte, denn anstatt mich 8
freundschaftlich in die Seite zu boxen, überreichte er mir 9
grinsend eine runde, rotgelbe Frucht. „Aber na gut, ich will 10
nicht so sein. Immerhin konnte ich dank dir endlich wieder 11
einmal eine Orange kaufen. Hier iss. Kein Fisch, kein 12
Fleisch, alles Grünzeug, versprochen! Großes-Spanien-13
Ehrenwort.“ 14
„Die wachsen überall.“, widersprach ich, wobei ich mich 15
neben Mathieu in den Sand fallen ließ. 16
„Ja, aber das heißt nicht, dass man sie auch bekommt, 17
oder?“ Genüsslich wollte er in die Orange beißen, als ich 18
sie ihm hastig entriss. „Was ist denn nun schon wieder?“, 19
entfuhr es ihm genervt. 20
„An der Schale können noch Giftstoffe sein. Die machen 21
krank.“ 22
„Die Weißen vielleicht. Mich aber niemals. Und jetzt gib 23
mir endlich die Orange zurück!“ 24
Seufzend begann ich die Schale einer Frucht mit den 25
Fingernägeln zu lösen, ohne Mathieu aus den Augen zu lassen. 26
„Dann schäle ich sie für dich.“, meinte ich achselzuckend, 27
als mich meine Gedanken erneut einholten. „Im Süden gibt es 28
doch Orangenplantagen, oder?“ 29
92
Es war als ob jemand anderes diese Frage gestellt hatte, 1
jemand der mich zu manipulieren versuchte. 2
„Klar… Ein wenig abseits der Stadt. Die Größte gehört 3
einem Britten. Scott, glaube ich.“ 4
Augenblicklich wurde ich wach. Ein Brite, der im Süden 5
wohnte? Ein plötzlicher Schwindel erfasste mich. Die Orange 6
fiel aus meiner Hand, rollte kurz über den Sand. Finde die 7
Wahrheit…! 8
„Tim?“ 9
„Wir müssen zu dieser Plantage.“ Ein einen mechanisch 10
klingender Unterton lag in meiner Stimme. Unkontrolliert 11
beugte ich mich herunter, um die Orange aufzuheben, wusch 12
sie grob an meinem T-Shirt ab und biss herein - ohne sie zu 13
schälen! Tränen schossen mir in die Augen, im selben Moment 14
begann ich zu lachen. Mathieu schüttelte entsetzt den Kopf. 15
Er glaubte, ich hatte den Verstand verloren und in gewisser 16
Hinsicht hätte er recht behalten. Ich war, wenn auch 17
unbewusst, zur Handpuppe geworden, oder würde es vielmehr 18
noch werden. 19
„Zarin… Er ist auf der Suche nach uns. Wenn… Wir dürfen 20
nicht in Kpalimé bleiben.“ Warum konnte ich Mathieu nicht 21
die Wahrheit sagen? Dass ich wissen wollte, wie mein Vater 22
gestorben war? „Im Süden, auf dieser Plantage, da könnten 23
wir uns verstecken.“ 24
Mathieus Zögern erstaunte mich. Er war ein Junge, der das 25
tat, was er für richtig hielt, ohne eine einzige Sekunde 26
daran zu verschwenden, darüber nachzudenken. „Nein.“, 27
entgegnete er schließlich. 28
„Was?!“ 29
93
„Nein, Tim. Glaub mir, der Mann ist einer Häscher. Seine 1
Leute lauern überall.“ 2
Ein Häscher? Ein Mensch, der einen anderen versucht, mit 3
einem Netz zu fangen? Dieser Mann? 4
„Dann geh ich eben alleine.“ Trotzig wandte ich mich ab, 5
wobei ich den Rucksack über die Schulter warf. Im 6
Augenwinkel bemerkte ich den Jungen, der mich an der Hüfte 7
zurückzog. „Wenn wir gehen, gehen wir zusammen.“, erwiderte 8
er achselzuckend. Die Orange fest zwischen die Zähne 9
gepresst, sodass Fruchtsaft von seinem Kinn tropfte, kniete 10
er nieder, um den Fisch zu den Brotstücken und der anderen 11
Nahrungsmittel zu legen, die er auf dem Markt erworben 12
hatte. Durch den Spalt, den die Hand bot, die ich über die 13
Augen gelegt hatte, um sie vor der Sonne zu schützen, 14
betrachte ich den afrikanischen Waisenjungen. Erneut 15
beschlich mich das Gefühl, dass er mehr wusste, als er 16
preisgeben wollte. Viel mehr. Du wirst es noch früh genug 17
erfahren, hatte er gemeint. Ich konnte nur hoffen, dass es 18
dann noch nicht zu spät wäre. 19
Schmetterlinge, jeglicher Art, Größe und Farbe, schwebten 20
in einem niemals enden wollenden Tanz um den kleinen See, 21
dem der Mond, der sich irgendwo über den riesigen Bäumen 22
versteckte, einen bläulichen Schimmer verlieh. Das Farnmeer, 23
welches sich im frischen Nachtwind sacht bewegte, schmiegte 24
sich an dessen Ufer. Von den langen, Federn ähnlichen 25
Blättern perlten dann und wann ein glasklarer Wassertropfen, 26
der meine vom Sand rauen Füße wohltuend befeuchtete. 27
Verborgen im Schatten einer Felswand, die bis in den Himmel 28
reichen mochte, erklang das leise Murmeln einer Quelle, die 29
sich Augenblicke später in einem farbendvollen, fesselnden 30
94
Schauspiel in den See hinunterstürzte. Ein verzauberter Ort, 1
beinahe wie in einem Märchen, nur umwerfender, schöner. Ein 2
Ort, wie ich ihn noch nie zuvor in meinem Leben gesehen 3
hatte. Der Schmetterling tauchte unmittelbar vor meinem 4
Gesicht auf, sodass ich für Sekunden dessen Fühler auf 5
meiner Haut spüren konnte. Die riesigen, bunten Flügeln, die 6
derart elegant durch die Luft strichen, als haben sie Angst, 7
diese aus ihrem Schlaf zu wecken, ließen das Insekt wie eine 8
Fee mit leicht erröteten Wangen wirken, deren zarter Körper 9
von einer glitzernden Wolke umarmt wurde. Immer größer 10
werdenden Kreise zogen sich über die am Ufer ruhige 11
Wasseroberfläche, als sich plötzlich eine Schildkröte mühsam 12
an Land ziehen wollte, gefolgt von ihrer Familie, bestehend 13
aus Vater, Mutter und vier Kindern. Die Krallen eines der 14
Kleinen rutschen jedoch in der matschigen Erde ab, sodass es 15
von den geheimnisvollen Tiefen des Sees verschluckt wurde. 16
Ich seufzte, wenn ich an meine eigene Familie dachte. Ein 17
Grab auf dem Friedhof und eine Kaffeetasse, noch staubig vom 18
Sand. 19
„Der Klouto, einer der schönsten Ort Kpalimés, jedenfalls 20
bevor die Menschen begannen, die Tieren zu fangen und an 21
irgendwelche Europäer zu verkaufen, für die sie als 22
Wandschmuck herhalten müssen, bis sie verstaubt oder 23
glanzlos in Tüten gepackt und in den Müll geworfen werden. 24
Dafür sollte niemand sterben. Kein Tier der Welt.“ 25
Erst jetzt bemerkte ich die roten Blumen am Ufer, deren 26
prächtigen Blüten zum Teil achtlos von den Hälsen abgerissen 27
worden waren, sowie die abgebrochenen Äste und die 28
Fußstapfen im Farn, die ihre Spuren nicht nur äußerlich 29
hinterließen. In einem Netz, welches dem einer Spinne 30
95
ähnelte, zappelte ein hilfloser Schmetterling, bis auch sein 1
verzweifelter Widerstand langsam erstarb, wie der der 2
bereits ermordeten anderen Insekten. Erwartete auch ihn das 3
Schicksal, als Mitbringsel missbraucht zu werden? Musste er 4
aus diesem Grund sterben, ebenso wie die getrockneten 5
Seepferdchen, die man in beinahe jedem deutschen 6
Souvenirladen an der Nordsee erwerben konnte? Ich mochte 7
vielleicht noch ein Kind sein, doch als Kind hatte ich 8
immerhin noch ein Gefühl für Werte. Man durfte ein 9
Lebewesen, das fühlt, nicht einem toten Gegenstand 10
gleichsetzen. „Lass uns diese Netzte kaputt machen.“, schlug 11
ich vor und überraschenderweise pflichtete mir Mathieu bei. 12
„Aber nur wenn du vorher die Schuhe ausziehst.“, fügte er 13
grinsend hinzu, wobei der die Riemen seiner Sandalen löste. 14
Der Farn kitzelte meine Zehen bis hinzu zur Ferse, wobei es 15
mich beinahe über seinen weichen Teppich trug. Es war ein 16
angenehmes Gefühl, geradezu befreiend. Mathieu schüttelte 17
belustigt den Kopf. „Wenn du dich über so eine Kleinigkeit 18
freust.“ Er zwinkerte verschmitzt. „kann ich mir ja dein 19
Geburtstagsgeschenk sparen.“ 20
Mit seinem Taschenmesser, einem der wenigen Gegenstände, 21
den er ständig bei sich trug, durchschnitt er, den Rücken 22
fest an die morsche Rinde gepresst, eine Masche nach der 23
anderen, ohne ein einziges Mal inne zu halten, um die 24
Schneide neu anzusetzen oder Luft zu holen. Ich, auf der 25
Wurzel eines tropischen Urwaldriesen hockend, beobachte ihn 26
ehrlich beeindruckt, da ich die dicken, geknoteten Schlingen 27
kaum voneinander trennen konnte. Obwohl ich nicht aufgeben 28
wollte, musste ich widerstrebend einsehen, dass ich meinem 29
Freund keine Hilfe war. Auch Mathieu schien sich dies 30
96
einzugestehen. „Geh dort drüber einmal nachsehen, ob du 1
etwas findest, wo wir uns verstecken können.“ Seine freie 2
Hand deutete kurz in die Richtung des Dickichts unterhalb 3
des Flusses, dann wandte er sich wieder dem Netz zu. 4
Seufzend zuckte ich mit den Achseln, wobei ich mein 5
Taschenmesser neben der Wurzel niederlegte und leichtfüßig 6
über das Farnmeer schwebte. Ich würde ohnehin keine andere 7
Wahl haben, als das zu tun, was er befahl. Mein Weg führte 8
mich von der Lichtung weg, immer tiefer in den Urwald 9
herein, sodass ich mich hätte Ohrfeigen können, für die 10
Dummheit, keine Taschenlampe mitgenommen zu haben. Hinter 11
jedem Baum zeichneten sich böse Augen ab, die mich zu 12
beobachten schienen. Hände streckten sich gierig nach mir 13
aus, zerkratzen mein Gesicht, ebenso wie die ungeschützten 14
Stellen meines Körpers. Hastig warf ich einen Blick über die 15
Schulter zurück, doch in der Dunkelheit konnte ich kaum den 16
See ausmachen. Lediglich das Rauschen des Wassers lenkte 17
mich ein wenig. Vorsichtig tastete ich mich voran, unwissend 18
wonach ich eigentlich suchte oder was mich erwartete. 19
Mathieu hatte überzeugend gewirkt, als er behauptete, hier 20
wäre etwas zu finden. Und… Ein riesiges Tier schoss auf mich 21
nieder. In Panik stolperte ich über eine Wurzel, ruderte 22
wild mit den Armen, um Halt zu finden, doch es gab keinen. 23
Leere, nichts als Leere. Rasend stürzte er in die schwarze 24
Tiefe hinab. Blätter zerschnitten meine Wangen. Mein Schrei 25
wurde in der Kehle erdrückt, ebenso wie das Denken und 26
Fühlen. Der ganze Körper versteifte sich, gleichzeitig 27
versuchte er, sich gegen den Fall zur Wehr zu setzen. 28
Erfolglos, bis ein harter, plötzlicher Aufprall ihm alle 29
Luft aus den Lungen trieb, sodass ich glaubte, sämtliche 30
97
Rippen gebrochen zu haben. Ich japste. Blut rann aus meinem 1
Mundwinkel. Ein langer, dunkler Tunnel öffnete sich. 2
Tausende Farben explodierten in meinem Kopf. 3
Ich sterbe… Entsetzt schlug ich die Augen auf. Ich sterbe… 4
Nein, ich will nicht sterben. Atme, verdammt, atme… Die 5
Schmerzen unterdrückend riss ich den Mund auf. Der neue 6
Druck in den Lungenflügeln raubte mir beinahe das 7
Bewusstsein. Speichel tropfte auf den staubigen Boden neben 8
mir, gemischt mit Blut und Erbrochenem. Meine Hände 9
verkrampften sich im Sand, der weich wie Pulver, die Erde 10
bedeckte und den Sturz so abgefedert hatte. Ich lebe… Ich 11
bin nicht tot… Jedenfalls nicht ganz, nur halb. Aber 12
immerhin lebe ich noch. Nur wo? Stöhnend hob ich den Kopf 13
ein Stück aus dem Sand, kniff dabei die brennenden Augen 14
zusammen, doch in der Dunkelheit konnte ich lediglich ein 15
Loch am Himmel erkennen, durch welches der Mond seine 16
Schatten auf mich hinunter warf. Falls dies die Hölle war, 17
sollte es auch einen Aufzug geben. Schließlich konnte man 18
nicht von jedem gefallenen Engel erwarten, dass es ihm Spaß 19
machen würde, sich alle Knochen zu brechen. 20
Vorsichtig kroch ich wie ein verletztes Tier in die 21
Richtung, in der ich einen Fels vermutete. Das Gestein war 22
alt und wies bereits unzählige Risse auf, wie ich bemerkte, 23
als meine Finger über etwas Hartes fuhren. Gelegentlich 24
tropfte Wasser von dem wie die Zähne einer Schlange 25
aussenden Zapfen. Die Geräusche hallten als Geister durch 26
die Höhle, wurden immer lauter und verstummten plötzlich. 27
Tief ein und ausatmend kauerte ich mich an einem Felsen 28
nieder, zog die Knie näher zu Körper heran. Den Kopf legte 29
ich den Nacken. Im Mondlicht tanzen die Schatten. Monster, 30
98
Bestien, mit gefräßigen Mäulern und Klauen, die mich zu 1
packen versuchen. Augen, riesige, gelbe Augen, starren mich 2
aus der Dunkelheit heraus an. Zerrissene, abstehende Ohren 3
horchen dem Schlagen meines Herzens in der Brust, meinen 4
leisen Atemstößen. Rose Elefanten, die aus Knochen zusammen 5
gefädelte Röcke um ihre Hüften tragen, marschieren vor. In 6
ihrer Mitte führen sie einen riesigen, ebenfalls aus Knochen 7
erbauten Käfig, der auf den ersten Blick leer erscheint. Bei 8
genauerem Hinschauen lässt sich jedoch ein ängstliches Küken 9
ausmachen, welches versucht, sich in einer Nichte 10
verbergen. Flammen züngeln die drückende Luft. Ein tiefes 11
Trommeln zum Rhythmus einer grausamen, dunklen Melodie 12
erklingt von dem höchsten Turm herab. Das Tor zum Käfig 13
öffnet sich ächzend. Das Küken in seinem Innern beginnt zu 14
piepsen, langsam und verängstigt. Ein Schnabel, noch 15
blutgetränkt von dem letzten Opfer, drängt das kleine Tier 16
zurück. Es piepst. Es piepst, es piepst. Dann wird es 17
plötzlich totenstill. Das Trommeln erstirbt, ebenso wie der 18
aufgekommene, tosende Sturm. Das Küken ist tot. 19
Schweißgebadet riss ich die Augen auf, völlig 20
orientierungslos. Wo war ich? Mein Nacken war steif, der 21
restliche Teil meines Körpers schmerzte ebenfalls. Bei jeder 22
Bewegung rieselte Sand von meinen verklebten Haaren herab, 23
sodass ich unwillkürlich husten musste. Wo war ich? Rot-24
violettes Licht überflutete die Höhle. Der muntere Gesang 25
der Vögel irgendwo hoch über mir in einer Baumkrone begrüßte 26
die Sonne, die langsam gegen die Nacht ankämpfte. 27
Bald würde sie unsere Haut verbrennen, bald würde sie ihre 28
Strahlen wie Pfeile auf uns herab schießen. Und sie würde 29
lachen, immer zu lachen. Wie jeden Tag. Doch mich beschlich 30
99
das unbestimmte Gefühl, dass heute nichts wie jeden Tag war. 1
Mein Zwillingsbruder in der Wasserlärche schien mich warnen 2
zu wollen. Eine Falle, formten seine rauen Lippen, eine 3
Falle. Sekunden zweifelte ich daran, ob es tatsächlich ein 4
Fehler war, hierher zu kommen. Auch Mathieu hatte sich 5
dagegen gewehrt. Warum? Schließlich war es dieser Weg, den 6
mein Vater mir gezeigte hatte. Ein Weg, dem ich vertraute. 7
Dennoch ein wenig zögernd zog ich mich an dem Gestein hoch, 8
wobei ich meinen Blick durch die kleine Höhle schweifen 9
ließ. Wurzeln durchbrachen zum Teil die Felsen und 10
verankerten sich auf seltsamste Weise ineinander. Durch die 11
morgendliche Hitze wurde die Luft unter der Erde mit jeder 12
Minute drückender. Neue Schweißperlen bildeten sich auf 13
meiner Stirn. Vorsichtig machte ich einen Schritt auf das 14
Loch zu, das linke Bein ein wenig hinterher ziehend. Die 15
bloßen Füße versanken im Sand, als mich plötzlich etwas 16
Scharfes ins Fleisch schnitt. Fluchend sprang ich zur Seite. 17
Warum musste so etwas immer nur mir passieren? Zum Glück war 18
die Wunde nicht tief, wie ich beim Hochheben des Beines 19
erleichtert bemerkte. Der Staub hatte das Bluten sofort 20
unterdrückt. Trotzdem kniete ich an der Stelle nieder, 21
begann im Sand zu wühlen, bis eine silberne Haarspange zum 22
Vorschein kam. Hastig wusch ich sie an meinem T-Shirt ab. 23
Sie mochte noch nicht lange hier liegen, anderenfalls wäre 24
ihre Farbe verblasst. Auch die Diamanten, die in 25
regelmäßigen Abständen in Form von perfekten, runden, 26
gleichgroßen Kreisen auf der Oberfläche angebracht worden 27
waren, funkelten noch im Sonnenlicht. Ein langes, 28
dunkelbraunes Haar wehte sacht im Wind. Es musste sich wohl 29
verfangen haben, als seine Besitzerin die Spange hier 30
100
verloren hatte. Nur wem gehörte sie? Kaum jemand mochte so 1
viel Geld haben, was es einfach machte, das Mädchen zu 2
finden. Denn ich hatte bereits mit meinem Gewissen 3
vereinbart, den Versuch zu starten, der jungen Frau ihr 4
Eigentum zurückzubringen. Vielleicht könnte sie mir zum 5
Danken einen Hinweis darauf geben, wo ich die 6
Orangenplantage des Briten fand, oder mich selbst dort 7
hinführen. Vorausgesetzt, ich schaffte es jemals zurück ans 8
Tageslicht. Die Decke mochte nicht hoch sein, doch hoch 9
genug, um mich hier festzuhalten. Schnell musste ich 10
einsehen, dass es ohne Hilfe beinahe unmöglich war, herauf 11
zu klettern. Zwar boten die rissigen Steine mir eine Art 12
Leiter, aber die Gefahr, dass Stücke heraus brachen, war 13
groß. 14
Seufzend ließ ich die Haarspange in meine Hosentasche 15
gleiten und formte mit den Händen einen Trichter vor den 16
Mund. Mir würde nichts anderes übrigen bleiben, als Mathieu 17
zu rufen, der sich irgendwo dort oben belustigt über meine 18
Dummheit im Farn wälzte. Doch merkwürdigerweise setzte eine 19
unheimliche Stille ein. Die Vögel waren verstummt. Lediglich 20
mein Schrei hallte durch den Wald. „Mathieu!“ Dies hätte mir 21
zu denken geben müssen. „Mensch, Mathieu! Das ist nicht 22
witzig!“, stöhnte ich, wobei ich wütend über mich selbst auf 23
den Boden stampfte. Plötzlich regte sich etwas, bedrohlich, 24
zaghaft. Sekunden später glitt ein grob, geknotetes Seil zu 25
mir herunter. Gott, warum hast du mich nicht gewarnt, vor 26
diesem Fehler, den ich nun beging? Warum hast du einfach zu 27
gesehen? Konntest du nicht ein einziges Mal, einen Kampf 28
ehrlich gewinnen? Im Himmel, dort oben bei dir und deinen 29
Engeln, dort ist alles weiß, hässlich weiß. Ein sanftes, 30
101
watteweiches Weiß für Unschuld in der tiefsten, verdammten 1
Schuld. Weiß, ich hasse weiß. 2
„Mathieu?“ Ein Räuspern. Ich stutzte. Unbehagen stieg in 3
mir hoch. Merkwürdig, dass er nicht lachte oder meine 4
unangenehme Situation kommentierte, wie es sonst seine Art 5
war. Achselzuckend umfassten meine Hände das Seil. Wie dem 6
auch sei. Mathieu mochte sicherlich böse sein, dass er die 7
ganze Nacht über alleine hatte arbeiten müssen. Dennoch 8
spürte ich die Gefahr. Sie war da, auch wenn ich sie aus 9
meinem Kopf zu verdrängen versuchte. Kurz schloss ich die 10
Augen, atmete tief durch. Über mir rauschten die Blätter im 11
Wind und vertrieben damit die tödliche Stille. Schlagartig 12
wurde mir bewusst, dass ich mich nicht ewig in diesem Loch 13
verstecken konnte, egal was passierte. Der Atem des 14
Urwaldes, nass, unberührt, kalt, stellte die hellen Härchen 15
auf meinen Armen auf. Ein erneutes Räuspern, diesmal etwas 16
lauter, beinahe nachdrücklich. Unsicher zog ich mich an dem 17
Seil hoch, wobei ich mich stark zügeln musste, nicht nach 18
unten zu schauen. Andernfalls hätte ich sicherlich 19
losgelassen und wäre zurück in die Tiefe geglitten. Nur noch 20
drei Meter, zwei, vielleicht auch weniger. Ein Bein löste 21
sich aus der Kletterstellung, baumelte für Sekunden frei in 22
der Luft. Losgescharrte Erde rieselte zu Boden. Mit 23
zusammengebissenen Zähnen kämpfte ich meine Panik nieder. 24
Tim, du fällst nicht, beruhigte ich immer wieder meine wild 25
durcheinander wirbelnden Gedanken. Es half mir, nicht völlig 26
den Verstand zu verlieren. Wahrscheinlich wollte Mathieu 27
dich nur ein wenig erschrecken, um dich einen Feigling 28
nennen zu können. 29
102
Blinzelnd ließ ich den Blick umherschweifen, als mein Kopf 1
die Höhle hinter sich gelassen hatte. Etwas Warmes rann mir 2
über die Rücken und auch ohne nachzusehen, wusste ich, dass 3
es Blut war. Dunkelrotes Blut. Entsetzt betrachtete ich, wie 4
aus den zu Beginn kleinen Bächen riesige Flüsse wurden. Doch 5
seltsamerweise spürte ich keinen Schmerz, eigentlich 6
überhaupt nichts. Ein Ast zerbrach. Hastig ließ ich den Kopf 7
herumschnellen und erkannte im selben Augenblick die nackte 8
Wahrheit. Das Blut gehörte einem Papagei, dessen Kopf man 9
mit einem Messer grob von dem bunten Federgewand abgetrennt 10
hatte. Es musste sehr schnell zu Ende vorüber gewesen sein. 11
Kurz und schmerzlos, sodass sich das Tier nicht einmal hatte 12
dagegen zur Wehr setzen könnten. Der Brechreiz kitzelte in 13
meinem Hals. Der Magen wollte sich mir umdrehen. Plötzlich 14
wurde ich unsanft an dem Kragen meines T-Shirts 15
hochgerissen. Ich schrie, versuchte mich loszureißen. Nein, 16
ich bin kein Papagei! Doch eiserne Hände zerrten mich wie 17
einen Sack über das Farnmeer in Richtung der Lichtung. Nein, 18
nein, nein…! 19
Verzweifelt trat ich um mich. Augenblicklich hielt der 20
Mann inne, drückte mich grob mit dem Rücken gegen einen 21
Baum. Ein Ast bohrte sich zwischen meine Schulterblätter. 22
Ich war zu schwach, um davonzulaufen. 23
„Wir wollen dir nichts tun.“, erwiderte der Dunkelhäutige 24
ruhig, aber sein Unterton klang warnend durch eine Art 25
Maske, wie sie oft die Einbrecher trugen, um nicht erkannt 26
zu werden. 27
Irgendwie fand ich die Kraft, den Kopf zu schütteln „Sie 28
haben einen Vogel getötet. Hätten Sie ihm nichts getan, 29
hätte ich Ihnen vielleicht geglaubt.“ 30
103
Verwundert fuhr der Gorilla herum und stieß mir den 1
Ellenbogen in den Magen. Ich zuckte, dann sank ich zusammen. 2
Der Schlag hatte mir alle Luft aus den Lungen getrieben. 3
Tränen traten in meine Augen. 4
„Das hättest du nicht tun sollen.“ 5
Die Mahnung des Mannes erklang dumpf in meinen Gedanken. 6
Idiot, Tim, warum widersetzt du dich? Jetzt ist nicht der 7
richtige Zeitpunkt, den Helden zu spielen. 8
Japsend stemmte ich mich hoch. 9
„Sie haben einen Vogel getötet…“, bekräftigte ich noch 10
einmal. 11
Ich schluckte. Tim, warum hältst du nicht einfach deinen 12
Mund? 13
Im Winkel meines Blickfeldes bemerkte ich ein weiteres 14
Paar schwarzer Stiefel. Sekunden später wurde ich vom Baum 15
weggerissen und gegen eine Wurzel geschleudert. Ich taumelte 16
zurück, schwankte wie ein tödliches getroffenes Tier. Noch 17
im Fall suchte ich instinktiv nach Halt. Ohne Erfolg. Der 18
dumpfe Aufschlag zuckte durch meinen Körper. Der Geschmack 19
von Blut füllte meinen Mund. Zu meinem Entsetzten wurde mir 20
bewusst, dass keiner die Gorillas Mitleid mit mir hatten, 21
nur weil ich ein neunjähriger, hellhäutiger Junge war. Kurz 22
blieben meine Gedanken an Mathieu hängen. Ob sie ihn 23
erwischt haben? Oder konnte er fliehen, fand jedoch nicht 24
mehr die Zeit, mich zu warnen. Ich schüttelte den Kopf. 25
Konzentrier dich, Tim. Du hast nur noch eine Chance. Benutze 26
deinen Verstand. Dafür hat dir Gott einen gegeben. Denk 27
daran, wie du Mathieu hättest besiegen können. 28
Tränen rannen über mein schmutziges Gesicht. Zögernd hob 29
ich die Hände, um den Männern zu signalisieren, dass ich 30
104
aufgab. Durch meine leicht zusammengekniffenen Augen 1
bemerkte ich das fiese Grinsen auf ihren Lippen, als sie 2
sich, die Hände immer noch zu Fäusten geballt, näher an ihr 3
Opfer heran pirschten. Drei,… Zwei,… Eins,… Im letzten 4
Moment warf ich mich zur Seite, trat ich mit aller Kraft 5
einem der Männer die Beine weg. Ein erstickender, 6
irritierter Schrei hallte durch den Urwald. Sand wurde 7
aufgewirbelt. Ohne zu zögern, kam ich auf die Beine und 8
rannte. Ich wusste, mir würden nur Sekunden bleiben, doch 9
ich war orientierungslos, geradezu blind. Mein Herz hämmerte 10
in der Brust. Die linke Seite begann zu stechen. Doch ich 11
rannte einfach. Immer weiter, weiter, davon überzeugt, dass 12
meine Jäger längst die Verfolgung aufgenommen hatten. Wie 13
ich nach einem Blick über die Schulter erleichtert 14
feststellte, schien dem jedoch seltsamerweise nicht so zu 15
sein. Wasser spritzte an meine Beine. Im Wald war es ruhig. 16
Unheimlich ruhig. Zu ruhig. Plötzlich stieß ich gegen etwas 17
Hartes. Entgeistert sah ich auf - in das Narben übersäte 18
Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes. Wütend runzelte er die 19
Stirn. Seine dunklen Augen zuckten verärgert. Ohne dass ich 20
reagieren konnte, schlangen sich seine dreckigen Hände um 21
meinen Hals. Ich keuchte, rang nach Luft. Verzweifelt 22
kämpfte ich dagegen an, nicht das Bewusstsein zu verlieren. 23
Erfolglos. Mir wurde schwarz vor Augen und hätte der Gorilla 24
mich nicht gestützt, wäre ich vorne über gefallen. Nein…! 25
105
4. Kapitel 1
Das Haus aus weißem Backstein, mit seinen schmalen, hohen 2
Fenstern und den verzierten Säulen, die sich wie Wächter an 3
der Tür erhoben, lag etwas abseits der Stadt. In der Mitte 4
einer riesigen, künstlichgrünen Rasenanlage erstreckte sich 5
ein gigantischer Swimmingpool. Die Sonnenstrahlen schienen 6
in das glitzernde Wasser ein, aber nie mehr auftauchen zu 7
wollen. Hinter den getönten Fensterscheiben des 8
Wintergartens saß ein Mann, die Beine lässig übereinander 9
geschlagen, auf einem Klavierstuhl und beobachtete zufrieden 10
ein zehnjähriges Mädchen, welches im Marmorbecken seine 11
Bahnen zog. Die Art, wie er rhythmisch mit dem rechten Fuß 12
auf den steinernen Fußboden klopfte, dabei den Rücken so 13
unmenschlich gerade, als würde dieser von einem unsichtbaren 14
Brett gehalten, war seltsam beunruhigend. Seine dunklen 15
Augen, die von der modischen Brille vergrößert wurden, 16
hatten für mich nur einen kurzen Blick übrig gehabt. Doch 17
ich spürte auch jetzt, dass sie versuchten, mich 18
einzuschätzen. 19
Das junge Mädchen zog sich am Beckenrand hoch und 20
schüttelte elegant das nasse, dunkelbraune Haar. Glasklare 21
Wassertropfen perlten von ihrer gebräunten Haut. 22
Kopfschüttelnd sah sie sich nach allen Seiten um, als merkte 23
sie, dass man sie heimlich beobachtete. 24
Plötzlich wandte sich der Mann ruckartig ab und stolzierte 25
mit den geschmeidigen Schritten eines Seiltänzers auf mich 26
zu. Ich wollte den Kopf senken, um Hilfe rufen, doch das 27
Klebeband auf meinem Mund unterdrückte jeden meiner Schreie. 28
Im selben Moment kam ich mir lächerlich vor. Dieses Haus 29
106
hätte aus einem Bilderbuch stammen können, erfunden und 1
absolut kalt. Das Einzige, was real war, waren meine 2
Schmerzen. Benommen von den Schlägen der Gorillas, die mich 3
außer Gefecht gesetzt haben mussten, versuchte ich mit dem 4
Zeigefinger über die merklich angeschwollene, linke 5
Gesichtshälfte zu streichen. Doch, wie ich entsetzt 6
bemerkte, waren meine Arme auf seltsamste Weise nach hinten 7
verdreht. Bei dem Versuch, mich zu fesseln, hatten sie mir 8
vermutlich sämtliche Knochen gebrochen. Langsam fuhr ich mit 9
der Zunge über die Zähne, um zu prüfen, ob welche fehlten. 10
Hoch über meinem Kopf blies unaufhörlich eine Klimaanlage. 11
Die Wanduhr schlug. Einmal. Zweimal. Dreimal. Mein Blick 12
fiel auf die schwarzen, polierten Schuhe und wanderte dann 13
nach oben. Kurze, dunkle Hose, Hemd. An der weißen, 14
knochigen Hand glitzerte ein goldener Ring. Das kurz 15
geschorene, leicht gräuliche Haar glänzte im matten Licht. 16
Der Mann war nicht sonderlich groß, dennoch strahlte er eine 17
gewisse Stärke und Überlegenheit aus, mit der er mich jetzt 18
wie ein hilfloses Insekt unter dem Mikroskop musterte. Dabei 19
lag weniger Wärme in seinem Blick als in dem eines Hais. 20
„Du hast großes Glück gehabt, dass meine Wächter dich 21
nicht in tausend Stücke zerrissen haben.“, fing er hüstelnd 22
an. Er sprach Englisch, eine der drei Sprachen, die ich 23
beherrschte. „Ich weiß nicht, wer du bist und was du dort 24
draußen zu suchen hattest. Es interessiert mich auch wenig. 25
Namen haben für mich keine Bedeutung. Viel mehr möchte ich 26
von dir wissen, ob du alleine gewesen bist.“ 27
Ruckartig riss er das Klebeband von meinem Mund. 28
„Ja.“, erwiderte ich unbeirrt und bemerkte im selben 29
Augenblick, dass ich gelogen hatte. Mathieu war bei mir 30
107
gewesen, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als die Gorillas 1
mich zu Boden warfen. Aber was war dann passiert? Hatten sie 2
auch ihn geschnappt und hierher gebracht in dieses Gefängnis 3
aus Gold und Silber? 4
„Du weißt genau, dass es nicht wahr ist, verdammt noch 5
mal. Bei dir war ein dunkelhäutiger Junge.“, brüllte der 6
Mann und schlug wütend mit der Hand auf den Tisch. 7
„Warum fragen Sie dann, wenn Sie es schon wissen?“ 8
Er zuckte mit den Schultern, als habe ich eine berechtigte 9
Frage gestellt. 10
„Na schön. Vielleicht haben wir falsch angefangen. Ich bin 11
Maurice Anthony Scott, Sir Maurice Scott. Was du hier 12
siehst, ist mein Haus. Aber, verstehe, hier draußen in der 13
Wüste treiben viele böse Menschen ihr Unwesen. Deshalb lasse 14
ich mein Anwesen stark bewachen und alles und jeden, der 15
mich angreifen könnte, gefangen nehmen. Dein Freund und du, 16
ihr beide, seid hierherum gestreunt, also habe ich annehmen 17
müssen, ihr wollet klauen.“ Seine Stimme verirrt keine 18
Gefühlsregung. Sie war absolut kalt. 19
Unauffällig beobachtete ich das Mädchen, welches immer 20
noch am Beckenrand stand und nachdenklich ins Wasser 21
starrte. Ihre Augen waren von einer Sonnenbrille bedeckt, 22
die ihr kindliches Gesicht ernst wirken ließ. Der blaue 23
Bikini rundete ihre hübsche Figur ab. Sie hätte genauso gut 24
Model einer Werbezeitschrift für Sportartikel sein können. 25
Kindlich, aber nicht zu kitschig. Keine Pferdchen, keine 26
rosa oder pinken Barbiepuppen. In gewisser Hinsicht ähnelte 27
sie Kay. Jedenfalls vom Äußerlichen. 28
„Das ist meine Tochter Tess.“, erwiderte Sir Scott, der 29
meinem Blick gefolgt war, ein wenig freundlicher. 30
108
Ich nickte knapp. Irgendwie beschlich mich das Gefühl, 1
dass der Mann mein Vertrauen gewinnen wollte, um so an die 2
nötigen Informationen zu gelangen. In mancher Hinsicht 3
verhielt er sich dabei wie ein Lehrer, der den Namen des 4
zweiten Straftäters herauszufinden versuchte, der sein Auto 5
mit Klopapier umwickelt, Wasser auf den Stuhl geschüttet 6
oder gegen die allgemeine Schulordnung verstoßen hatte. 7
Innerlich musste ich grinsen. Tut mir Leid, Sir, ich habe 8
Sie durchschaut. Sie sind nicht der Zauber oder 9
Weihnachtsmann, sondern bloß eine gute Fälschung. Ich habe 10
unter Ihrer Maske Ihr wahres, fieses Gesicht gesehen und Ihr 11
Lachen gehört. Dieses schreckliche, gemeine Lachen, das 12
alles verklingen lässt, was Ihnen missfällt. 13
„Sie möchte sicher wissen, wer du bist, wenn sie dich 14
sieht.“ 15
Ich nickte. „Dann kann ich es ihr ja selber sagen. Und 16
auch, dass Sie mich gegen meinen Willen hierher gebracht 17
haben.“, entgegnete ich, ein wenig verwundert über meine 18
plötzliche Schlagfertigkeit. 19
Auch der Mann zögerte für einen Augenblick, schien jedoch 20
unbeeindruckt. 21
„Ihr wolltet klauen, so ist es doch, oder?“ 22
„Nein. Ich bin rein zufällig hier vorbei gekommen.“ 23
„Ich mag Zufälle nicht.“, entgegnete Maurice Scott, den 24
Klavierstuhl heranziehend und an einem milchig aussehenden 25
Cocktail nippend, der ihm auf einem silbernen Tablett 26
serviert worden war. „Es gibt viele Menschen, die versuchen 27
sich gegen etwas zu wehren, was nicht abzuwehren ist. Nie. 28
Die meisten von ihnen liegen jetzt etwa zwei bis drei Meter 29
unter der Erde. Ich denke, dass du dich nicht zu ihnen 30
109
gesellen möchtest. Maden und Käfer werden deinen kleinen 1
Körper von innen heraus zersetzen wie ein totes Stück 2
Fleisch beim Metzger. Genussvoll bohren sich ihre gierigen 3
Mäuler zuerst in deinen Hals und wandern dann tiefer in 4
Magen, Leber und Darm. Und zum Schluss sezieren sie dein 5
Herz. Dabei werden sie nichts von dir übrig lassen, fürchte 6
ich.“ 7
„Sie sind ja…“ 8
Ruckartig ließ der Mann das halbausgeleerte, mit 9
glitzernden Steinen verzierte Glas auf den Tisch stoßen. Es 10
klirrte kurz, schwankte, dann stand es still. „Was bin ich? 11
Geistergestört? Nun, wenn es so wäre, verrate mir, warum 12
alle guten Menschen immer so früh sterben? Richtig, weil sie 13
dumm sind und sich für Dinge einsetzen, die sie nicht den 14
Dreck angehen. Du deckst deinen Freund, das ist mutig von 15
dir. Aber ich würde überlegen, ob er dasselbe für dich tun 16
würde.“, entfuhr es ihm. 17
„Ja.“, erwiderte ich unbeirrt. 18
„Du bist noch jung. Wie meine Tochter. Sag mir einfach die 19
Wahrheit und ich werde dafür sorgen, dass meine Männer dich 20
und deinen Freund verschonen. Aber, bitte, versuche nicht, 21
mich anzulügen.“ 22
„Okay . Ich heiße Tim… Tim River.“ 23
„Tim River?“ Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, 24
als überraschte es den Mann, meinen Namen zu hören. Sein 25
Blick glitt in weite Ferne, jedenfalls erweckte es den 26
Anschein, als wäre es so. Dann fasste er sich jedoch ebenso 27
schnell wieder: „Kannst ja doch sprechen, wie? Siehst du, es 28
ist gar nicht so schwer. Also, kommen wir zur nächsten 29
Frage: Warum bist du hier?“ 30
110
„Weil ich Ihren beschissenen Gorillas in die Arme gerannt 1
bin. Verzeihung, war nicht beabsichtigt.“ 2
„Halte mich nicht zum Narren, Junge.“ 3
„Tu ich nicht, Sir.“ Jetzt da er bereits meinen Namen 4
kannte, wusste ich, dass ich nur eine Chance hatte, wenn sie 5
auch noch so klein war. Ich musste den Mann reizen, mit ihm 6
Katz-und-Maus-Spielen. Dann würde er Fehler machen. Hoffte 7
ich jedenfalls. 8
„Tim…“ Seine Stimme zitterte vor Wut. Für Sekunden hatte 9
ich das Gefühl, er wolle mich schlagen. Doch überraschender 10
Weise hielt er inne, die Hand zur Faust geballt. 11
Meine Situation erinnerte mich düster an einen schlecht 12
inszenierten James Bond-Film, in dem ich fälschlicherweise 13
die Hauptrolle des gekidnappten Spions zu spielen hatte. Nur 14
kannte ich weder das Drehbuch, noch besaß ich irgendwelche 15
Waffen, mit denen ich mich verteidigen konnte. Explodierende 16
Schnürsenkel, eine Sonnenbrille, in der zwei blitzartige 17
Geschosse versteckt waren - Fehlanzeige. 18
Gerade als ich im Begriff war, mir ein neues Argument 19
zurechtzulegen, war ein Summen vernehmbar. Sekunden später 20
heulte ein starker Motor auf. 21
„Wenn das nicht mal dein Freund ist, Tim.“ Maurice Scott 22
jauchzte wie ein kleines Kind kurz vor der Bescherung. Sein 23
Zorn war mit einem Mal verflogen. 24
Bitte, lass es nicht Mathieu sein… Mit mir konnte dieses 25
Monster machen, was es wollte, aber nicht mit meinen 26
Freunden. Ein Glück, dass Kay wenigstens in Sicherheit war. 27
Maurice Scott, wieder mit einer Hand nach seinem Glas 28
langend, erhob sich, den Rücken gerade, die Nase gerümpft, 29
von seinem Stuhl. In gewisser Hinsicht ähnelte er einem 30
111
meiner Zinnsoldaten, die ihren Führer begrüßten. Links zwo, 1
drei, rechts, zwo drei. Waffen anlegen, Marschieren… 2
Ein Schrei hallte über den Flur, den ich nur zu gut 3
kannte. Mathieu! Sein Gesicht war blutverschmiert, die Beine 4
zu schwach, um ihn zu tragen. Seine Begleiter mussten ihn 5
widerwillig stützen, was sie mit wenig Zartgefühl taten. 6
Erneut heule mein Freund vor Schmerz auf. 7
„Mathieu!“ 8
Der Junge sah auf, lächelte zaghaft, als bemerke er erst 9
jetzt, dass noch jemand da war. 10
Ein feuchtes Glitzern im Augenwinkel. 11
„Mein lieber Tim.“, kicherte Maurice Scott freudig. 12
Nur schwer konnte ich den Blick von meinem Freund 13
abwenden. „Sie…!“ Weiter kam ich nicht, denn ich sah es in 14
den dunklen Augen des Mannes. Ich sah es, wissend, dass wir 15
verloren hatten, während sich hinter uns leise eine zweite 16
Türe öffnete. Im selben Augenblick packten mich zwei 17
beharrte Hände und rissen mich brutal vom Boden hoch. Ich 18
schrie, versuchte mich verzweifelt loszureißen. Im 19
Augenwinkel bemerkte ich den Stofffetzen, der sich langsam 20
über meinen geöffneten Mund legte, und das Klicken. Dieses 21
freche Klicken der Handschellen… Nein! Blitzartig ließ ich 22
den Kopf herumschnellen, wobei ich den Wächter am Kinnhacken 23
traf. Taumelnd stolperte er zurück, sodass ich für einige 24
Sekunden frei war. Doch was nun? Maurice Scott lächelte 25
gekünstelt und beobachtete den Kampf wie ein Zuschauer im 26
Kino. Nur das klebrige Popcorn zwischen Ihren hässlich, 27
weißen Zähnen fehlt! Im Winkel meines Blickfeldes bemerkte 28
ich, dass auch Mathieu sich zu wehren versuchte, als ein 29
112
Schlag seine Zähne aufeinander presste. Seine Lider falteten 1
kurz, dann brach er zusammen. 2
Nein! Mit letzter Kraft schlug ich um mich, doch ich 3
spürte, dass mir etwas ins Fleisch schnitt. Die Wächter 4
führten uns aus dem Wintergarten heraus in einen Raum, der 5
ebenso schwarz war wie die Seele des Mannes, der uns hier 6
einschloss. 7
Meine Angst nahm zu, je mehr Zeit ich in diesem Würfel 8
ohne Licht verbrachte. 9
Wasser rann über die rauen Wände des ehemaligen 10
Weinkellers. Nachdem die Eisentür hinter uns zugefallen war, 11
hatte ich den längsten Fluch meines Lebens ausgestoßen. Es 12
half mir, nicht völlig den Verstand zu verlieren, den ich 13
brauchte, um diese ausweglose Situation zu meistern. Mathieu 14
hatten sie auf ein Gestell gelegt, das wohl ein Bett sein 15
mochte. Der Schlag musste ihn in einen hundertjährigen 16
Schlaf versetzt haben. Ich konnte nur hoffen, dass er 17
schneller erwachte als Dornröschen, denn ich brauchte 18
dringend jemanden, mit dem ich reden konnte. Und zwar bevor 19
die Gorillas zurückkämen! Wenn sie uns denn irgendwann aus 20
diesem dreckigen Loch herauszogen, um uns zurück in die 21
Flammen gespickten Hände des Teufels zu spielen. Unruhig 22
drehte ich mich im Kreis, bis mir schwindelig wurde. Gott, 23
wenn es dich wirklich gibt, nicht nur als Kreuz oder in 24
irgendwelchen Gemälden, weißt du, dass ich gegen viele 25
Gebote verstoßen habe oder es noch tun werde. Aber dann 26
weißt du auch, dass du es ebenso getan hast, indem zuließt, 27
dass Menschen gegen deine Gesetze verstießen. Das Leben ist 28
ein Traum, vor dem wir uns nicht verstecken sollten, wir 29
beide. Du magst vielleicht mächtiger sein, kannst über uns 30
113
genauso entscheiden, wie ich über meine Spielzeugautos. Aber 1
ist Macht gleich Macht? Ich mag vielleicht einer deiner 2
Gegner sein, weil ich dich herausgefordert habe. Ich habe 3
gelogen, habe Fehler gemacht. Doch was ist mit Mathieu? Er 4
kann nichts dafür und trotzdem lässt du es zu, dass dieses 5
Schwein von Sir ihn schlägt. Mich kannst du in die Hölle 6
schicken oder sonst wohin. Es ist mir egal. Aber bitte, gib 7
ihm eine Chance… 8
Auf der anderen Seite der Tür wurde ein Schlüssel 9
herumgedreht. Sekundenspäter blinzelte ich in das grelle, 10
weißliche Licht einer Taschenlampe. Benommen stand ich auf, 11
Mathieus Hand festhaltend. Dabei konnte ich mein Herz hören, 12
wie es schnell und aufgeregt pochte. Stille. Das Bild 13
verschwamm, wurde hinter einem wässrigen Vorhang verfälscht. 14
Nicht weinen, dachte ich und tat es doch. Leise in mich 15
hinein. 16
„Sir Scott möchte dich sprechen.“ Die harte Stimme des 17
Mannes wurde zu einem Flüstern. Beruhigend streichelten 18
meine Finger über die Hand meines Freundes. Ich wollte sie 19
für immer festhalten. Schon so oft hatte ich loslassen 20
müssen. Mama, Papa, Kay… Nein, denk nicht an sie, Tim. Du 21
musst aufhören, in der Vergangenheit zu leben, wenn du in 22
der Zukunft eine Chance haben willst. Ich schüttelte den 23
Kopf. Schweißperlen rannen über meine Stirn. Wenn ich mit 24
dem Wächter fort ginge, wäre ich wieder alleine. Bliebe ich 25
hier, widersetzte ich mich dem Mann erneut und würde somit 26
weitere Schläge kassieren. Für uns beide. Wahllos ließ ich 27
meine Hand, Finger für Finger, aus der heißen meines Freunds 28
gleiten. Pass auf dich auf, Kumpel, flüsterte ich so leise, 29
dass der Wächter es nicht hören konnte… 30
114
Zum allerersten Mal konnte ich wirklich behaupten, einem 1
unheimlichen, kaltenherzigen Menschen begegnet zu sein. 2
Maurice Scott hockte aufrecht in seinem gepolsterten Sessel 3
und starrte unentwegt durch das riesige Fenster seines 4
Arbeitszimmers, welches zugleich als Schlafgelegenheit 5
genutzt werden konnte. Seit meinem Eintreten hatte er noch 6
kein einziges Wort gesprochen und auch jetzt drehte er mir 7
den Rücken zu. Neugierig sah ich mich um, unwissend, ob man 8
von mir Antwort auf eine unausgesprochene Frage erwartete. 9
Ein elegantes Himmelbett mit teuer aussehender Bettwäsche, 10
die perfekt glatt gestrichen war. Überhaupt schien alles in 11
diesem Raum übertrieben. Entweder hatten die Staubkörner 12
Angst oder sie waren von einem besonders guten Fänger 13
davongejagt worden, denn nicht ein einziges ließ sich auf 14
den Möbelstücken blicken. Ordnung, nichts zum Festhalten. 15
Nur auf dem gewaltigen Schreibtisch, an dem eine Schublade 16
herausgezogen worden war, herrschte Chaos. Die 17
verschiedensten Stifte, deren Farben nicht einmal ein 18
Künstler Namen zu ordnen konnte, waren über die gesamte 19
Länge der Tischoberfläche verstreut. Mitternachtsblau, 20
Tannengrün nur einen Hauch heller… Über dem schreiende Pink 21
auf dem Parkettboden lag ein zerbrochener, kleiner 22
Bilderrahmen. Die herrlich, frisch duftende Obstschale wurde 23
von einem Papierberg bedeckt. 24
„Setz dich oder willst du da Wurzeln schlagen?“, bot der 25
Mann ruhig an, doch sein eisiger Unterton klang warnend. Ich 26
schluckte, zog dann dennoch einen Stuhl heran. 27
Mit Schwung wandte sich Maurice Scott mir unerwartet zu. 28
Sein schmales Gesicht war ausdruckslos und wenn, so zeigte 29
es nur Gleichgültigkeit und Verachtung. 30
115
In dem teuren, dunklen Morgenmantel, den er jetzt trug, 1
wirkte er wie ein Priester. "Ein Priester des Teufels", 2
dachte ich unwillkürlich. Oder wie ein Schlachter, der 3
darauf wartete, dem Vieh den letztes Atemzug zu nehmen. Ich 4
wusste, wie sich die Tiere gefühlt haben mussten, denn ich 5
war dabei, als viele von ihnen ermordet wurden. Papa hat 6
mich zu diesem Hof mitgenommen, damit ich härter werde. So 7
hat er es jedenfalls behauptet. Stattdessen habe ich ab dem 8
Tag kein Stück Fleisch mehr angerührt. Bin immer dünner 9
geworden. Schrieb sogar Plänen nieder, wie ich die Schweine 10
und Hühner vor diesen Schändern befreien wollte. Doch kurz 11
vor dem Sieg zogen meine damaligen Freunde den Schwanz ein, 12
ließen mich im Stichen, machten mich sogar lächerlich, 13
während sie ihren Hamburger, triefend vor Fett, bei 14
McDonalds verschlangen. Allein der Anblick ... Ekelig. 15
Ich hatte keine Ahnung, warum mir ausgerechnet jetzt diese 16
Niederlage einfiel. Vielleicht weil ich nun eines der 17
tausend Hühner war, dessen Kopf man vom Körper trennen und 18
dann zur Belustigung im Kreis laufen lassen würde, bis die 19
letzten Zuckungen endlich erstarben. Oder ein Schwein, ein 20
rosafarbenes, kleines Schweinchen, das schon kurz nach der 21
Geburt als festlich verzierter Braten im Backofen schmoren 22
musste. 23
„Du wunderst dich sicher, warum ich dich nicht geschlagen 24
habe.“ 25
„Weil Sie sich nicht ihre Hände dreckig machen wollen? Wie 26
überaus nett von ihnen.“, erwiderte ich schnell und wandte 27
ruckartig den Kopf herum, weil mir mein Instinkt verriet, 28
dass ich beobachtet wurde und dies nicht nur von Sir Maurice 29
Scott. Mein Blick begegnete dem eines Jungen, der dasselbe 30
116
dreckige, alte T-Shirt mit dem Surfer trug, dazu die 1
fransige Jeans. Seine verschiedenfarbigen Augen, grün und 2
braun, waren zusammengekniffen. Die leicht geöffneten 3
Lippen, von denen noch Momente zuvor Worten auf ihren Weg 4
geschickt worden waren, waren nun leer. Blut tropfte in 5
unregelmäßigen Abständen aus einer kleinen Schnittwunde an 6
der Wange. Mein Zwillingsbruder, zweifellos. Du bist kein 7
Huhn und auch kein Schwein, Tim! Du bist ein Menschen und 8
vielleicht… vielleicht bleibt dir deswegen so ein Schicksal 9
erspart, wenn du aufhörst zu trauern und endlich anfängst zu 10
denken. Ich lächelte ihm dankbar zu, denn er verstand mich 11
besser als irgendjemand anderes. Der Junge war einfach 12
überall, verfolgte mich, amte meine Gangart nach und hörte 13
mir zu, wo immer ich auch sein mochte. Nur ihn selbst sah 14
ich nie, weil er in einer ganz anderen Welt lebte als ich. 15
„Du bist anders, als die meisten Kinder, die für mich 16
arbeiten…“ 17
Widerwillig drehte ich dem einzigen Vertrauten in diesem 18
Raum den Rücken zu, nur um feststellen zu müssen, dass die 19
dunklen Augen mein Gesicht so eingehend studierten, als 20
wollen sie davon ein Porträt im Gitternetz zeichnen. 21
„Für Sie will jemand arbeiten?“, fuhr ich ungehalten 22
dazwischen, um von mir selbst abzulenken, als mir die Worte 23
eines alten Kellners einfielen, der mich, nachdem ich meine 24
Cola über das weiße Kleid einer reichen Dame verschüttet 25
hatte, anwies, sich stets höflich zu entschuldigen: „Ich 26
meine, es ist nett hier. Der riesige Swimmingpool, alles 27
sauber und so. Sicherlich ist es eine Ehre für Sie zu 28
arbeiten und…“ 29
117
„Tim, Tim, Tim.“ Scotts Stimme hatte jetzt den Unterton 1
eines kritisierenden Lehrers. „Sie haben keine andere Wahl, 2
verstehst du. Nun, ich denke, du hast viele Frage. Leider 3
bin ich nicht befugt, dir auf alles eine Antwort zu geben.“ 4
„Warum nicht?“ 5
„Warum? Warum?“, äffte er mich nach, „Darum. Und bitte 6
unterbrich mich nicht oder ich werde gezwungen sein, dich 7
zum Schweigen zu bringen.“ 8
„Okay.“ 9
Wie aufs Wort klopfte es an der Tür, erst leise, dann 10
etwas fester und energischer. Ein kleiner, kahlköpfiger 11
Mann, in das alberne Kostüm eines Pinguins gesteckt, welches 12
sich merklich über seinem Bauch spannte, trat ein und 13
vollführte tatsächlich ein bizarre Verbeugung vor seinem 14
Herren. Das Füße küssen haben Sie noch vergessen, hätte ich 15
beinahe gemeint, doch glücklicherweise war mein Gehirn 16
schneller als meine Zunge. Der muskulöse Bodyguard streckte 17
die öffnete Hand aus und ließ ein Stück Papier auf den 18
Schreibtisch segeln. Erstaunt hob ich die Augenbrauen, 19
unverständlich. Maurice Scott hingegen wandte den Fetzen 20
prüfend im Licht der Lampe und allmählich dämmerte es mir, 21
dass es sich dabei um eine Kalenderseite handelte. 22
„Danke, Bruce. Sie dürfen gehen.“ 23
Der dunkelhäutige Mann nickte, machte auf dem Absatz kehr. 24
Doch scheinbar schien ihm noch etwas eingefallen zu sein, 25
denn er wandte sich abermals um. „Was sollen wir mit dem 26
Jungen machen, Sir?“, fragte er in gebrochenem Englisch. Ich 27
vermutete, dass alle Menschen die Sprache ihres Meisters zu 28
sprechen hatten. 29
118
„In die Baracke. Er soll sich auskurieren, damit ich ihn 1
morgen aufs Feld mitnehmen kann.“ 2
Feld? Baracke? Was läuft hier eigentlich? Frischen wir 3
einen längst überholten Westernfilm aus dem 18. Jahrhundert 4
auf? Wenn der Mann mir nicht schon von der ersten Begegnung 5
seltsam vorgekommen war, so änderte ich jetzt meine Meinung 6
vollkommen. Seltsam… Dieser Typ war nicht seltsam, 7
ungewöhnlich, merkwürdig oder komisch. Er war… nun ja… was 8
war er eigentlich? Verrückt? 9
Scotts Miene war gelangweilt, geschäftsmäßig kühl. 10
Gleichzeitig aber auch drohend, raubtierhaft. Sogar die 11
Hyänen, die Kay angegriffen hatten, haben mehr Gefühle 12
gezeigt. Kay… Erneut tauchte in meinen Erinnerungen dieser 13
Stoff ihres Kleides auf… Nur das Gesicht… Ich habe ihr 14
Gesicht vergessen. Fieberhaft durchwühlte ich das Labyrinth 15
meines Gehirnes. Das konnte doch nicht wahr sein! Die Mauern 16
waren vermodert, mit Efeu und anderen Schlingpflanzen 17
bewachsen, sodass die rauen Steinwände kaum noch zum 18
Vorschein kamen. Grau, grün, farblos. Hektisch rannte ich 19
durch den Gang, ohne mich von der Stelle zu bewegen. Ich 20
schrie ihren Namen und doch war es totenstill. Außer Atem, 21
keuchend, blieb ich stehen, umfasste eine Liane, die sich 22
über meinen Kopf in den schwarzen Himmel erhob. Einen 23
Himmel, ohne Sonne oder Sterne. Kay…! Verzweifelt zerrte ich 24
an der Pflanze, aber je höher ich stieg, desto weiter fiel 25
ich in die Dunkelheit herab. Irgendwo über mir, in naher 26
Ferne, erklang ein Lachen, gleichzeitig ein Schrei aus 27
tiefster Kehle. Kay…? Keine Antwort, Stille. Kay…! 28
Entschlossen kletterte ich weiter, nicht aufgebend. Halte 29
durch, Kay… Und du, wer immer du auch bist, lass die Finger 30
119
von ihr! Da, plötzlich, ein Fünkchen, ein Aufblitzen, 1
vielleicht nur für einen Augenblick. Dann schnitt jemand das 2
Seil durch, unsere Verbindung, und ich fiel zurück in die 3
Hände jenes Teufels, der sie gierig nach mir ausstreckte. 4
Nein…! 5
„Nein…!“, schrie ich und zog den erstaunten Blick des 6
Mannes auf mich, der nun die Kalenderseite zurücklegte und 7
mich aufmerksam betrachtete. 8
„Alles in Ordnung, Junge? Jag mir doch nicht gleich so 9
einen Schreck ein.“ Er reichte mir das Stück Papier über den 10
Tisch. „Ist das deine Schrift? Oder die jemandes, den du 11
kennst?“ 12
Irritiert von der plötzlichen Frage und dieser hilflos 13
ausgeliefert, nickte ich. „Ja. Mein Vater. So schreibt er. 14
Das heißt, schrieb. Denn jetzt…“ Ich konnte nicht weiter 15
sprechen und ich glaube, der Mann hat mich auch ohne 16
Erklärung verstanden. 17
„Wer war dein Vater, Tim?“ 18
„Marc River.“ 19
„Seltsam. Mir gegenüber hat er nie einen Sohn erwähnt. 20
Jedenfalls nicht, dass ich es wüsste. Doch es scheint so, 21
als habe er gelogen. River musste wohl nicht sehr stolz auf 22
dich gewesen sein. Verständlich. Wenn meine Kinder, meine 23
Geschäfte belauschten und…“ 24
„Hören Sie auf!“, brüllte ich aufgebracht dazwischen. Papa 25
mochte in vielerlei Hinsicht nicht der Beste gewesen sein, 26
doch er war immer noch mein Vater. Den Einzigen, den ich 27
jemals haben würde. 28
„Er ist tot, sagst du. Also ich es wahr.“ 29
„Was ist wahr?“ 30
120
„Siehst du, vor vier Tagen ist die Übergabe in der Nähe 1
eines Dorfes drastisch schief gelaufen.“ Maurice Scott 2
schlug mit geballter Faust auf den Tisch. Sein Gesicht war 3
Wut verzerrt. „Zwei meiner Männer waren darin verwickelt. 4
Der eine kehrte zurück, unversehrt, den anderen sah ich nie 5
wieder. Dachte schon, er habe sich mit dem Geld aus dem 6
Staub gemacht.“ 7
„Übergabe? Wovon reden Sie überhaupt? Mein Vater war ein 8
ehrlicher Forscher. Warum um alles in der Welt sollte er für 9
jemanden wie Sie arbeiten?“ 10
„Deshalb.“ Scott zog eine Schublade auf und warf mehrere 11
durchsichtige Tütchen auf den Tisch. Ihr Inhalt war völlig 12
identisch, beinahe so als hätte man sie exakt kopiert: Gras. 13
Erstaunt hob ich die Augenbrauen Die meisten Neunjährigen 14
hätten dieses ineinander verwickelte Kraut tatsächlich für 15
Gras gehalten, doch ich wusste es besser. Marihuana und 16
Haschisch, daneben die Pfeife. Der Kreis schien sich 17
allmählich zu schließen und lief nun hier zusammen. Papa, 18
warum? Was ist so toll daran, so ein Zeug zu rauchen? Ist es 19
wie Gummibärchen essen oder Schokolade? 20
„Dein Vater war in der Tat Forscher… bevor wir uns kennen 21
lernten. Doch Ehrlichkeit verleiht einem keinen Ruhm, eher 22
schadet sie.“ Scott machte eine vornehme Atempause, um das 23
gespritzte Gift wirken zu lassen. „Dies habe ich früh 24
begriffen. Wenn man immer allen alles gerecht macht, wer 25
macht es dann einem selbst gerecht? Hast du darüber einmal 26
nachgedacht? In deinem mickrigen Gehirn? Oder warum nur ein 27
Teil nehmen, wenn man doch auch alles haben kann? Komm 28
schon, sieh mich nicht so an. Du weißt, dass es wahr ist.“ 29
„Aber… warum?“ 30
121
„Dein Vater hatte immer Forscher sein wollen, berühmt und 1
reich. Ich habe ihn damals, vor neun, zehn Jahren, 2
getroffen. Es ging um ein Projekt in Haiti, welches er aber 3
schließlich ablehnen musste… und mir überließ. Einen Grund 4
nannte er mir nicht, doch ich war ihm dankbar für diese 5
Entscheidung und versprach, ihm in Zukunft zu helfen. Wir 6
haben dann und wann miteinander telefoniert und uns 7
ausgetauscht, privat sowie geschäftlich. Das Vertrauen 8
zwischen uns wurde trotz des großen Teiches, der zwischen 9
uns lag, immer größer. Während mein Vermögen und Ansehen 10
stieg, sank er auf den Grund der gegebenen Realität zurück. 11
Der Grund dafür war der Tod seiner Frau. Nun hielte ihn 12
nichts mehr hier, meinte er. Sogar über Selbstmord habe er 13
schon nachgedacht. Glücklicherweise konnte ich ihn davon 14
abhalten und bat ihm an, nach Afrika zu ziehen, um mein 15
Assistent zu werden.“ 16
Unverständlich schüttelte ich den Kopf. „Warum Afrika? 17
Warum ausgerechnet hier? Und nicht Amerika?“ 18
„Afrika ist - nun ja es gibt kein besseres Wort dafür - 19
vogelfrei. Nur wenig Gesetz, die einen an der Arbeit 20
hindern. Zwar nicht der perfekte Ausgangspunkt für eine 21
Karriere, aber trotzdem. Sieh dir dieses Haus an! Sieh es 22
dir genau an, Tim! So ein Haus wäre in Amerika oder Europa 23
nicht bezahlbar.“ 24
„Wenn Sie so viel Geld haben, warum hat mein Vater dann 25
nie welches besessen?“, erwiderte ich. In meinen Gedanken 26
tauchte die zur Hälfe gefüllte Geldkassette auf. Ein Schein 27
war umgerechnet gerade einmal fünfzehn Cent wert. Ein 28
Kaugummi oder ein Lolli in Deutschland, hier ein Vermögen. 29
Allmählich begann ich zu begreifen. 30
122
„Er wollte es nicht. Nur Haschisch und Marihuana.“ 1
„Warum?“ 2
Maurice Scott stöhnte genervt „Mensch, Junge. Warum, 3
warum?“ 4
„Ich will es wissen, Sir.“ 5
„Dein Vater glaubte, die Drogen würden ihn vergessen 6
lassen.“ Er hob abwehrend die Hände. 7
„Sie haben meinen Vater ausgenutzt! Sie wusste, wie 8
schlecht es ihm ging und haben ihn benutzt… für… „, 9
flüsterte ich fassungslos, fast kläglich. Mein Zweifeln, an 10
dem, was der Mann behauptete, war verflogen. Widerwillig 11
musste ich zugeben, dass er die Wahrheit sagte. In den 12
letzten Wochen hatte Papa für diesen… diesen… Ich spürte, 13
wie mein Blick in tausende, winzige Splitter verschlagen 14
wurde, die verrannen. Hörte am Ende des Tunnels die kalte 15
Stimme des Mannes, der sich zu verteidigen versuchte: „Das 16
ist aber nicht sehr nett, Tim. Ehrlich, ich bin doch kein 17
schlechter Mensch. Ich habe ihm nur das gegeben, was er 18
wollte.“ 19
„Dann beweisen Sie es. Beweisen Sie mir, wer Sie wirklich 20
sind. Lassen Sie Mathieu gehen. Er hat nichts damit zu tun.“ 21
„Das geht leider nicht.“ 22
„Was?“ Meine Hände verkrampften um das Glas Wasser, 23
welches mir der Mann aufgenötigt hatte. Die Knöchel traten 24
weiß hervor. 25
„Tut mir leid. Er hat sich in Dinge eingemischt, die ihn 26
nicht den Dreck angehen. Dafür wird er ebenso wie du seinen 27
Preis zahlen müssen.“ Maurice Scott lächelte entschuldigend, 28
doch ich sah ihm an, dass ihm nie etwas leid tat. 29
123
„Was wollen Sie tun? Uns quälen? Die Polizei wird bald 1
hier sein und…“ 2
„Das glaube ich kaum. Wie dem auch sei, ich denke, wir 3
führen unser Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt fort. 4
Sicherlich willst du das Haus kennen lernen.“ 5
Ich stutzte. „Was?< 6
„Hat mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen, Tim. Du 7
hast mir wirklich sehr geholfen… Tess? Schatz!“ 8
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Erschrocken fuhr 9
ich zusammen. Es war dasselbe Mädchen, das eben seine Bahnen 10
im Pool gezogen hatte. Nun stand sie plötzlich hinter mir, 11
das noch feuchte Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre 12
Flip-Flops sanken in den weichen Teppichstoff. Den nassen 13
Bikini musste sie anbehalten haben, denn ihr blaues T-Shirt 14
wies dunkle Flecken auf. Die weiß lackierten Finger 15
verkrampften sich um ihre Sonnenbrille, die sie nun abnahm, 16
um mir einen feindseligen Blick zu zuwerfen. „Ja, Dad?“ 17
„Schatz, sei so lieb und zeig Tim das Haus, ja?“ 18
„Aber, Dad. Du hast versprochen, dass…“ 19
„Morgen.“ 20
Das Mädchen schnitt eine Grimasse. „Immer morgen. Wer ist 21
er überhaupt? Er stinkt und…“ 22
„Tess!“ Maurice Scott schien keine weiteren Diskussionen 23
mehr zu dulden. „Du nimmst ihn mit. Basta, finito, Schluss!“ 24
Tess Gesicht verfinsterte sich. Wenn sie mich nicht 25
ohnehin schon hasste, so würde sie es spätestens jetzt tun. 26
„Dann komm.“, meinte sie schließlich, als sie alle Gedanken 27
durchgespielt haben musste und zu dem Entschluss gekommen 28
war, dass es keine andere Möglichkeit gab. Dabei lag ein 29
arroganter, überheblicher Unterton in ihrer Stimme. Maurice 30
124
Scott erhob sich, reichte mir die Hand zum Abschied. „Ihr 1
werdet sicher gut miteinander auskommen.“, lenkte er wenig 2
überzeugend ein. 3
„Hey, brauchst du immer eine extra Aufforderung? Soll ich 4
dich vielleicht noch durch das Haus tragen?“ 5
Ich seufzte. Wie der Vater, so die Tochter. Tim, in 6
weniger als einer Stunde bist du mit Mathieu in der 7
nächstbesten Wüste auf und davon. 8
Aber es wurde länger als eine Stunde. Viel, viel länger… 9
„Kannst du schwimmen?“ 10
„Ja.“ 11
„Schade. Ich hätte dich zu gerne ertrinken gesehen.“ 12
Tess warf ihr Haar elegant in den Nacken. Kurz schloss sie 13
ihre grünen, von schwarz-silbrig getuschten, langen Wimpern 14
umrahmten Augen. Sie war ein hübsches Mädchen, bestimmt 15
humorvoll und offen - hätten wir uns unter anderen Umständen 16
kennen gelernt, in einem dieser schmutzigen, grauen 17
Hochhausfluren etwa oder auf dem von Hundescheiße 18
verdreckten Spielplatz. Jedenfalls wäre sie dann weniger 19
fies zu mir gewesen. 20
„Ich bin übrigens Tim. Freut mich…“ 21
„Was soll ich nun deiner Meinung nach mit dieser 22
Information anfangen?“ 23
„Jetzt könntest du vielleicht etwas netter zu mir sein.“ 24
„Wieso?“ 25
„Wieso?!“ 26
Ohne mich weiter zu beachten, legte sie die Finger an die 27
Lippen. Der Pfiff war leise, kaum vernehmbar. Dennoch hörte 28
ich Sekunden später das Tappen von Pfoten auf den Fliesen. 29
Aus dem Schatten einer Palme sprang ein rotbrauner Hund 30
125
hervor, der bei meinem Anblick sofort die Nackenhaare 1
sträubten. Mit gebleckten Zähnen knurrte er mich böse an, 2
wobei er sich schützend vor sein Frauchen stellte. 3
Wunderbar, jetzt hast du auch noch einen Hund am Hals, der 4
dir am liebsten an die Kehle springen mochte. 5
„Kalli! Mach dir nicht die Pfoten an ihm schmutzig!“, 6
befahl Tess, die nun neben ihrem Hund niederkniete und 7
liebevoll seine weichen Ohren kraulte. 8
Das Tier fiepte freudig. Mich schienen beide vergessen zu 9
haben, was mir gelegen kam. 10
„Das ist Tim. Der schmeckt sicherlich schrecklich, hörst 11
du?“ Kallis Zunge fuhr über das Gesicht seines lachenden 12
Frauchens. „Hey, das kitzelt.“ Sie kicherte belustigt, wobei 13
sie dem Hund einen Kuss auf die spitze Schnauze gab. 14
Ich stutzte. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass 15
sie jemanden derart gerne haben könnten. 16
„Willst du mit uns kommen?“, fragte das Mädchen mit einem 17
herablassenden Blick auf mich. Ein kurzes, freudiges Bellen 18
zur Antwort. „Das heißt ja. Aber wir dürfen uns nicht von 19
Dad erwischen lassen, verstanden?“ Knurrend sprang der Hund 20
auf und stierte mich mit zur Seite gelegtem Kopf durch seine 21
bernsteinbraunen Augen an. Hastig wisch ich einen Schritt 22
zurück, bemerkte aber gleichzeitig das Gestein einer Säule 23
im Nacken. 24
„Wenn du uns nicht verpfeifst, werde ich dafür sorgen, 25
dass Kalli dir nicht nur ein bisschen weh tut.“, erwiderte 26
Tess achselzuckend und stolzierte über den gefliesten, 27
leeren Flur davon. Ich folgte ihr in gebührendem Abstand, 28
beeindruckt von dem Labyrinth aus Glas und Marmor. Der 29
Korridor war zu einer Seite offen, welches einen Bilderbuch 30
126
ähnlichen Ausblick auf die grünen Wiesen oder den Urwald vor 1
den Toren ermöglichte. So einen Baustil hatte ich schon 2
einmal gesehen - nur wo? Auch die aus Staturen, die dem 3
Besitzer wie aus dem Gesicht geschnitzt waren, die 4
gepflegten Blumenbete und der Springbrunnen verlieh dem Haus 5
eine gewisse Macht. 6
Tess stieß eine Flügeltüre auf. „Das Speisezimmer.“, 7
erklärte sie in dem Tonfall einer genervten Reiseleitung. 8
Der Raum war mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt, der 9
farblich an das Muster der Tapete angepasst worden war. In 10
seiner Mitte erstreckte sie ein polierter Tisch, an den 11
sechzehn Stühle geschoben worden waren. Jedoch ließen sich 12
nur drei Gedecke ausmachen, bestehend aus mehreren Messern, 13
Gabeln und Löffeln, zwei Tellern und einem im Licht der 14
Sonne funkelnden Glas. Auf der gegenüberliegenden Seite 15
befand sich eine weitere Flügeltüre, hinter der Geschirr 16
klimperte. Hatte Papa hier mit Maurice Scott gesessen, 17
gelacht, bei einem Glas herrlich prickelnden Wein, während 18
ich Kilometer entfernt alleine im Sand spielte? Es war wie 19
einen Schlag in den Magen. Ein überwältigender Schmerz 20
packte mein Herz, mein Nacken kribbelte, und plötzlich hatte 21
ich einen Kloß im Hals, der mich fast zu ersticken drohte. 22
Abgesehen von dem gelegentlichen Rauschen der Spülmaschine 23
und dem leisen Hecheln des Hundes war es still. Ich war 24
alleine. Für immer. Das war die schreckliche Gewissheit. Für 25
immer. 26
„Tim?“ Tess legte mir zögernd die Hand auf die Schulter. 27
Ihre Stimme klang weit entfernt, beinahe wie aus einer 28
anderen Welt. „Dort drüber ist ein Gästezimmer. Zieh dich 29
um, wasch dich. Du stinkst.“ 30
127
Ich erblickte den Stapel Papier, der dem schiefen Turm von 1
Pisa glich, daneben die Vielzahl an bunten Stiften - 2
Kugelschreiber, wahlweise mit blauer, schwarzer, roter und 3
grüner Tinte, je nachdem wie man gelaunt war, Filzstifte, 4
die an beiden Enden zwei verschieden große Farbpinsel 5
hatten, sowie edle, silberne Füller, schlichte viereckige 6
Textmarker und 7
Buntstifte - alle in einer unbestimmten Ordnung 8
beieinander gelegt. 9
Auf dem glatt gestrichenen Bettlacken hatte eine Dienerin 10
bereits die Kleidung in chronologischer Reihenfolge - erst 11
Unterwäsche, dann T-Shirt, Hose und zum Schluss die Schuhe - 12
präpariert. Seufzend ließ ich mich in den Ledersessel sinken 13
und lauschte der bedrückenden Ruhe auf dem Korridor hinter 14
der Eichenholztüre. Tess schien verschwunden zu sein und 15
seltsamerweise bedauerte ich es ein wenig. Denn, wenn ich 16
ehrlich war, mochte ich sie trotz ihrer Art und der 17
Tatsache, dass sie die Tochter des Mannes war, der den Tod 18
meines Vaters zu verantworten hatte. Aber Kinder suchen sich 19
ihre Eltern bekanntlich nicht aus. Vielleicht würde Tess 20
mich irgendwann einmal akzeptieren… Moment mal! Ich 21
schüttelte den Kopf. Nein, Tim, es gibt kein irgendwann. Du 22
musst Mathieu unter den Arm packen und verschwinden. Sofort. 23
Das ist kein Spiel mehr, falls es denn jemals eines war. Ihr 24
seid die Gefangenen eines vollkommen Wahnsinnigen. Wer weiß 25
schon, was dieser Mann beabsichtigte. Wenn ihr nicht abhaut, 26
liegt ihr bald vielleicht auch unter der Erde mit all den 27
Maden und Käfern. Auf diese Bekanntschaft kannst du 28
verzichten. 29
128
Mein Blick wanderte erneut zu der Kleidung auf dem Bett. 1
Ich würde einen Ersatz für mein zerrissenes T-Shirt 2
brauchen, ebenso wie eine kurze Dusche. Diese Zeit müsste 3
ich mir nehmen. Hastig schlüpfte ich aus T-Shirt und Hose. 4
Der harte Wasserstrahl schoss auf meine bereits nach einer 5
Minute erröteten Schultern herab. Es erinnerte mich an den 6
Regen vor ein paar Stunden - oder waren es Tage gewesen? 7
Doch auch dieser gehörte in eine andere Zeit, in die Zeit 8
der Wirklichkeit, außerhalb dieses Märchenschlosses. Mit 9
geschlossenen Augen langte ich nach einer der 10
Shampooflaschen auf dem Sims, der eigens für die Dusche in 11
einem schwarz funkelnden Marmor errichtet worden war. Der 12
Duft von Mango und anderen exotischen Fürchten stieg auf. 13
Ich schnupperte. Derselbe Geruch wie auf einem Marktplatz, 14
nur intensiver. Die rötliche Flüssigkeit tropfte auf meine 15
dreckigen Haare. Daheim hatte ich mir nie viel aus Waschen 16
gemacht. Schließlich war es im Gegensatz zum Play Station 17
und Fußballspielen ein reines Zeitverschwenden. Doch hier 18
fühlte es sich beinahe befreiend an, sauber zu sein. Wieder 19
prickelte das Wasser auf meiner Haut, brannte ein wenig in 20
den unzähligen Wunden, die ich bisher größtenteils nicht 21
einmal realisiert hatte. Erst, als ich nun in den mannshohen 22
Spiegel schräg gegenüber starrte, wurde mir bewusst, dass 23
ich aussah, als wären hunderte von Aasgeier auf mich herab 24
geschossen und hätte mich zerfleischt. Blutergüsse. Kratzer, 25
einiger tiefer, andere nur oberflächlich, spickten meinen 26
Körper. Eine geschwollene Nase. Rote, wie Armbänder 27
aussehende Striemen umringten meine Handgelenke. Dennoch 28
gefiel ich mir. Ich sah härter aus. Der kleine, ängstliche 29
Junge aus Deutschland war zumindest äußerlich wie 30
129
weggewischt. Stolz wickelte ich mir eines der teuren, weißen 1
Handtücher um die Hüfte und trat aus der Duschkabine heraus. 2
Die Fliesen waren eiskalt und es jagte mir augenblicklich 3
einen Schauer über den Rücken, als meine Zehen sie 4
berührten. 5
„Bist du ein Mädchen, oder was? Nein, Moment, das wäre 6
eine Diskriminierung. Niemand braucht so lange!“ Tess Stimme 7
klang gedämpft durch die Tür, gegen die sie nun mit beiden 8
Fäusten zu hämmern begann. 9
„Ja, ja…“ Seufzend ließ ich mich auf dem Klodeckel nieder 10
und streifte mir die Socke über den linken, noch feuchten 11
Fuß. Gleichzeitig ließ ich meinen Blick durch das Zimmer 12
schweifen auf der Suche nach Zahnbürste und passender 13
Zahnpasta: Fand sie in drei verschiedenen Geschmäckern auf 14
einem polierten Glasbrett, an dessen Rand in Goldfarben die 15
Initialen eines mir fremden Mannes eingraviert waren. 16
„Nicht ja, ja“ 17
Ein warmer Windstoß bauschte den weichen Stoff der 18
Vorhänge. Erschrocken stolperte ich aus dem Badezimmer, 19
stand da, nackt, nur mit dem Handtuch um die Hüften, mit 20
nassen Haaren, Zahnbürste im Mund, und starrte sie entsetzt 21
an. 22
„Was machst du hier?“ Ich bemühte mich, den Ekel 23
erregenden Pfefferminzgeschmack nicht runterzuschlucken. 24
„Du hättest dich wenigstens anziehen können, bevor du 25
hier rein platzt.“, entgegnete sie unberührt, wobei sie sich 26
demonstrativ im Schreibtischstuhl sitzend von mir abwandte. 27
Ich ging ins Bad zurück, spie die Zahnpasta ins 28
Waschbecken, spülte den Mund kurz um. Das durfte doch nicht 29
wahr sein! 30
130
„Was ziehst du überhaupt an? Doch nicht etwa das hier!“ 1
Angewidert hob Tess eines der gefalteten T-Shirts auf dem 2
Bett hoch. Sie marschierte zu dem Kleiderschrank, ging 3
schnell mit den Fingern die Bügel durch, zog ein Oberteil 4
heraus und warf es vor meinen Füßen auf den Boden, dann noch 5
eins und noch eins. „Probier' die mal.“ 6
Leise fluchend wandte ich mich ab. Eines Tages bringe ich 7
dich um! Es konnte doch nicht sein, ich mich von diesem 8
Mädchen derart beeinflussen lasse! Dennoch zog ich ein grün-9
braun kariertes Hemd über, dazu Jeans. Zähneknirschend 10
musste ich zugegeben, dass Tess es bei der Wahl ins Schwarze 11
getroffenen hatte. Auf Socken tänzelte ich über die Fliesen, 12
betupfte dabei mit einem Feuchtentuch den kleinen Blutfleck 13
am Kinn. 14
„Gar nicht mal schlecht.“ Tess lehnte gegen den Türrahmen, 15
den Kopf wiegend. „Ein Glück, dass mein Bruder nicht all 16
seine Sache mitgenommen hat.“ 17
Augenblicklich erstarrte sie, als sie bemerkte, dass sie 18
bereits zu viel von sich preisgegeben hatte. 19
Ich lächelte ihr im Spiegel zu. „Du hast einen Bruder?“, 20
hakte ich nach. 21
Schweigen. Eine Wolke verdeckte die Sonne, deren warme 22
Lichtstrahlen durch den Spalt fielen, den der Vorhang bot. 23
Ein flüchtiger Blick auf die rötlich leuchtenden Ziffern des 24
Radiowecker: 16.23 Uhr. Die Millisekunden liefen in einem 25
endlosen Band, gaben ihre Macht der Zeit an die Sekunden 26
weiter, die an die Minuten, Stunden, Tage. Immer vorwärts, 27
nie rückwärts. Ich lebte irgendwo zwischen. 28
„Oh! Schon so spät!“ Das Mädchen schlug mit gespieltem 29
Entsetzen die Hand vor den Mund. „Meine Tanzstunde fängt in 30
131
zwanzig Minuten an. Komm endlich!“ Ihre knochigen Finger 1
umfassten mein rechtes Handgelenk, als sie versuchte, mich 2
von der Toilette hochzureißen. Für den Bruchteil einer 3
Sekunde berührten sich unsere Hände. Unfreiwillig. Doch der 4
Hamster im Laufrädchen rannte weiter, blieb nicht stehen. 5
Eine Umrundung, eine weitere, dann noch eine. 6
„Ich warte draußen.“, entschied Tess eilig. Im Fortgehen 7
fügte sie hinzu: „Beeil dich. Oder du bist einen Kopf 8
kürzer, verstanden?!“ 9
Das Schloss knackte, als sie die Türe hinter sich zuzog. 10
Gleichzeitig bäumte sich der Vorhang erneut auf. In der 11
Dusche tropfte in unregelmäßigen Abständen Wasser auf den 12
Boden. Hastig schlüpfte ich in den rechten Turnschuh, band 13
ihn zu. Dasselbe mit dem linken. Zwei Minuten waren 14
vergangen. Ich wollte aufspringen, als mein Blick an dem 15
Stapel Papier hängen blieb. Vielleicht würde ich welches 16
brauchen, wenn ich fliehen wollte. Das Ohr fest gegen das 17
Holz der Tür gepresst, lauschte ich den Schritten auf dem 18
Korridor, um sicher zu sein, dass niemand plötzlich den Raum 19
betrat. Stille. Innerlich zählte ich bis zehn, dann schlich 20
ich zum Schreibtisch. Meine Fingerkuppen strichen über die 21
Stifte. Ohne zu zögern, langte ich nach einem 22
Kugelschreiber. Das Blatt faltete ich, sodass ich beides in 23
die Hosentaschen gleiten lassen konnte. Tief ein- und 24
ausatmend stieß ich die Tür auf. Ich konnte nur hoffen, dass 25
niemandem etwas auffallen würde. 26
Du bist Tim, Tim River. Dein Vater ist Forscher gewesen, 27
der aus einem Grund, den du immer noch nicht kennst, sterben 28
musste. Er wollte vergessen, selbst wenn dies zu bedeuten 29
132
schien, seinen eigenen Sohn, dich Tim, zu verlieren und 1
letztlich auch seine Seele. Es gibt ein Spiel, welches sich 2
Kamikaze nennt, aber von dessen Regeln du nur so viel weißt, 3
dass sie unfair sind. Ebenso wie jener Führer, Maurice 4
Scott. Dem Mann ohne Gewissen. Tim, du musst vorsichtig 5
sein, falls du dieses Spiel überleben willst. Du hast 6
bereits einmal einen Weg eingeschlagen, der im Netz einer 7
Spinne endete, indem du nun zappelst wie einer der 8
Schmetterlinge. Hilflos. Verzweifelt. Aber nur wenn du das 9
aufgibst, woran du glaubst, nur dann wird dich dieses 10
schwarze Tier fressen. Denke daran. Bleib stark, wenn dich 11
der tosende Wirbelsturm zu Boden drücken will. Denn am Ende 12
wirst du immer noch aufrecht stehen. In dir, tief in dir, 13
bist du der kleine Junge, der mit seiner Angst, andere 14
Menschen von jener befreien kann. Dies wirst du eines Tages 15
begreifen… 16
Die funkelnden Diamanten auf ihrem weinroten T-Shirt 17
verwandelten den einzig durch eine riesige Diskolampe 18
erhellten Raum bei jeder ihrer Bewegungen in eine 19
regenbogenfarbene Lichtsäule, in der sie wie eine Fee zur 20
leisen Melodie eines Klavierstücks im Kreis schwebte. 21
Ihre weißlackierten Zehen berührten dabei das helle 22
Parkett nur vorsichtig, als seien unter ihnen glühende 23
Flammen oder die Wellen, aufgewühlt von einer sanften Brise, 24
nicht aber das tote Holz. Ich beobachtete sie von meiner 25
Insel aus, die Füßen in ihr Meer tauchend. Kalli neben mir 26
legte seine spitze Schnauze in meinen Schoß, sodass ich 27
unwillkürlich zusammenzuckte, aus Angst, er könne mich 28
beißen. Der Rhythmus wurde merklich schneller. Tess 29
133
vollführte eine Drehung, noch eine - und erstarrte. Leises 1
Trommeln, manchmal unterbrochen durch die Laute eines 2
Xylophons. 3
„Was machst du mit meinem Hund?“, brüllte sie, die Musik 4
übertönend, wobei sie, drohend, zurück in ihr Element 5
gestoßen, ein paar Schritte auf mich zu machte. Ihre Stimme 6
triefte vor Verachtung. 7
„Ähm… Nichts.“ Hör auf dich für etwas zurechtfertigen, 8
woran du nicht Schuld trägst! „Du tanzt gut. Wie eine 9
Ballerina… Oder so ähnlich…“ 10
„Du hast großes Glück, mir dabei zuzusehen. Eigentlich 11
dürftest du nämlich nicht hier sein. Aber gut.“ Sie zuckte 12
die Schultern. „Einen lästigen Sonnenstich fängt man sich 13
ebenso schnell ein, wie er auch wieder verschwindet.“ 14
Ich spürte, die aufsteigende Wut, die wie Magma aus dem 15
Vulkan ausbrechen wollte. Es brodelte, kochte. Immer größer 16
werdende Blubberblasen wölbten die heiße, alles verbrennende 17
Oberfläche der Flüssigkeit. Ich konnte ihn nicht mehr 18
zurückhalten, den Zorn, dafür hatte sich in den letzten Tag 19
zu viel Leid in meinem Inneren angesammelt, welches nun 20
langsam überquirlte. Entgegen meiner Art stieß ich Tess 21
gegen die Schulter, sodass sie erstaunt zurück taumelte und 22
beinahe gestürzte wäre, hätte ich ihren Arm nicht 23
umklammert. Auch Kalli sprang erschrocken auf, schien jedoch 24
irritiert darüber, auf wessen Seite er zu stehen hatte. 25
„Bei dir wird dieser Sonnenstich es wohl nie tun, schätze 26
ich.“ Ihre Gestik kopierend zuckte ich mit den Schultern. 27
„Du kannst froh sein, dass dir überhaupt irgendjemand 28
Aufmerksamkeit schenkt, Tess - wenn du denn so heißt! Denn 29
in meinen Augen bist du nichts weiter als eine einsame, 30
134
kleine Wichtigtuerin. Mir ist es egal, wie toll du tanzen 1
kannst, wie reich du bist! Denn ich habe meine Eltern 2
verloren. Meinen bester Freund haben die Wächter deines 3
Vaters bewusstlos geschlagen und anstatt jetzt bei ihm zu 4
sein, bin ich hier. Bei dir.“ 5
Seltsamerweise schien Tess, mir nicht widersprechen zu 6
wollen. Es wunderte mich. Sie war ruhig, hörte mir geradezu 7
aufmerksam zu, völlig bewegungslos, als sei dies nur die 8
kurze Unterbrechung eines Tanzes, um Atem zu schöpfen oder 9
eine neue CD aufzulegen. 10
„Sie haben uns entführt! Diese Männer! Obwohl wir 11
unschuldig sind! Einfach so entführt!“, fuhr ich fort, als 12
meine Wut plötzlich wie durch eine Mauer gedämpft wurden, 13
„Ich mag vielleicht nicht der Beste sein. Mag vielleicht 14
nicht tanzen können, habe ständig Angst.“ 15
„Tim.“ Ihre Worte waren zu einem fast unverständlichen 16
Flüstern geworden, was mich zwang, den Abstand zwischen uns 17
zu verringern, der wie ein schwarzes Loch vor meinen Füßen 18
klaffte. „Du bist kein lästiger Sonnenstich…“ Mit dem 19
ernsten Gesichtsausdruck eines Politikers, der in einem 20
Blitzlichtgewitter, umgeben von einer Meute Reporter, eine 21
Ansprach hält, strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. 22
Die Tiefe ihrer grünen Augen verschluckte mich unweigerlich. 23
„Du bist viel schlimmer.“ Ein Grinsen huschte über ihre 24
Lippen. „Sehr viel schlimmer.“, ergänzte sie belustigt. 25
Unschlüssig trat ich von einem Bein auf das andere. Ich 26
hatte mit allem gerechnet: Bei Wutausbrüchen angefangen bis 27
hin zu rührenden Entschuldigungen. Nur darauf, dass sie mich 28
gelassen überspielte, darauf war ich nicht vorbereitet 29
gewesen. 30
135
„Wie ‚viel schlimmer‟?“, stammelte ich und musste mir im 1
nächsten Moment die Hand vor den Mund halten, um nicht 2
selbst zu lachen. Unbemerkt war es Tess gelungen, auch 3
diesen Kampf für sich zu entscheiden, indem sie einfach nach 4
dem Auslaufen des Wassers aus dem Rohr den Hahn zugedreht 5
hatte. 2:0 für ein Mädchen. Dafür konnte ich ihr nicht 6
einmal böse sein! 7
„Ich weiß nicht, warum du hier bist oder warum mein Vater 8
dich entführt haben soll. Schließlich bist du nichts weiter 9
als ein dreckiger Junge, genau wie die anderen auf den 10
Feldern. Versteh mich nicht falsch, aber ich hasse sie, 11
diese Leute. Aber noch mehr hasse ich meinen Dad.“ Sie 12
setzte sich auf die Tischkante, wobei sie sich mit den Armen 13
abstützte. 14
„Ehrlich?“ 15
„Ja, wenn ich es doch sage. Und auch all diejenigen, die 16
ihm helfen. Überhaupt alle. Bis auf Kalli.“ 17
„Du kannst mir vertrauen.“ Zögernd stellte ich mich neben 18
Tess, legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. „Ich 19
möchte nur hier weg, glaub mir. Warum um alles in der Welt 20
sollte ich deinem Vater helfen, wenn ich nicht einmal weiß, 21
wobei?“ 22
„Ja, aber wie lange?“ 23
Die Türe wurde aufgestoßen. Eine junge Afrikanerin mit 24
fliederfarbenen Kopftuch und gleichermaßen gemustertem Kleid 25
wirbelte auf Schuhen mit hohem Absatz herein, auf denen sie 26
das Gleichgewicht besser halten konnte als manch anderer auf 27
dem Boden. 28
„Tess, wir… wer ist das denn?“ Sie sprach Französisch, 29
obwohl ich angenommen hatte, Sir Scott hätte es verboten. 30
136
Lächelnd zwinkerte sie mir zu. Kurzes Händeschütteln. „Ich 1
bin Suleika, Tess Tanzlehrerin.“ 2
Bevor ich die Möglichkeit bekamen, etwas zu entgegnen, 3
sprang das Mädchen auf, um mich als Sohn eines Forschers 4
vorzustellen, der für ihren Vater arbeitete. 5
Überrascht nickte ich. Wenn ich eines in meinem 6
neujährigen Leben nicht verstanden, dann waren es Mädchen. 7
Sie konnte einem ins Gesicht lächeln und mit der gleichen 8
Bewegung ein Messer in den Rücken stecken, falls sie diese 9
Absicht besaßen. Mathieu hat dies einmal gemeint, als ich 10
ihn dabei erwischt habe, wie er Mirja, eine hübsche 11
Togolesin, anhimmelte. In dieser Sache sollte er recht 12
behalten. Die meisten von diesen Wesen waren, nun ja, 13
seltsam. Auch Kay und Mama in gewisser Weise - selbst wenn 14
ich es mir nie hätte eingestehen wollen. 15
„Schön dich kennen zu lernen. Ich darf doch ‚du‟ sagen, 16
oder? Kannst du Französisch?“ 17
„Ja, meine Mutter kommt aus Frankreich. Mein Vater ist 18
Deutscher.“ 19
„Oh, ein deutsch-französischer, junger Mann. Es freut 20
mich.“ Suleika machte einen vornehmen Knicks, wobei sie Tess 21
bat, sich aufzuwärmen. Zögernd setzte sich das Mädchen auf 22
eine Isomatte vor einer Spiegelwand, die mir bisher noch 23
nicht aufgefallen war, weil sie zum Teil von einer Pflanze 24
bedeckt wurde, die derart unnatürlich grün wirkte, als sei 25
sie ein Imitat aus Kunststoff. Mit einem letzten Blick über 26
die Schulter zurück signalisierte sie mir, dass ein falsches 27
Wort mich den Kopf kosten könnte. Ich biss mir nervös auf 28
die Unterlippe bei dieser Vorstellung, schmunzelte aber zu 29
gleich. 30
137
„Du bist sicherlich zu Besuch bei Sir Maurice Scott.“ 1
Ich wiegte unsicher den Kopf. „So könnte man es auch 2
nennen.“ Ein forsches Zucken in Tess Richtung, die in einer 3
Dehnübung vertieft war. „Ihr Vater hat mich wortwörtlich 4
aufgesammelt.“, fügte ich hinzu, als mir plötzlich ein 5
anderer Gedanke kam.“ Kanntest… kennst du einen Mann namens 6
River, Marc River? Das ist mein Papa.“ 7
Nachdenklich verzog die junge Afrikanerin das Gesicht. 8
„Ich meine, ihm einige Mal auf dem Flur begegnet zu sein. 9
Wenn ich mich recht entsinne, hat er ein Büro im ersten 10
Stock. Aber, dass er einen Sohn hat, davon wusste ich 11
nichts. Und noch dazu einen so reizenden.“ 12
Enttäuscht lehnte ich mich gegen die Wand. Vor allem und 13
jedem hatte Papa mich geheim gehalten. Warum? Scott 14
behauptete, er wäre nicht stolz auf mich gewesen, hätte mich 15
nicht wie sein Eigenblut geliebt. Sagte er wirklich die 16
Wahrheit, Papa? Oder war es etwas anderes? 17
Ich seufzte. Ein Zimmer im ersten Stock… Schlagartig wurde 18
ich wach, rieb mir wie nach einem kurzen Schlaf den Staub 19
des Sandmanns aus den Augen. Ein Zimmer im ersten Stock! Das 20
war meine Chance, endlich herauszufinden, womit mein Vater 21
gehandelt und warum man ihn umgebracht hatte! Meine letzte 22
Chance. Aber dafür würde ich widerstrebend Tess Hilfe 23
benötigen, denn sicherlich käme es Sir Scott ungelegen, wenn 24
ich zu viel wüsste. Allein die Tatsache, dass ich hierher 25
gefunden hatte, musste ihm zum Denken geben. 26
„Wärm dich auf, Tim.“, forderte mich Suleika lächelnd auf, 27
wobei sie hinter einer Musikanlage verschwand. 28
„Was?!“ 29
138
„Aufwärmen. Auch die Muskeln eines Tänzers müssen für den 1
Sport vorbereitet werden. Sonst hast du schnell eine 2
unangenehme Zerrung.“ 3
„Aber Tim tanzt doch gar nicht!“, mischte sich Tess hastig 4
ein, wobei sie uns im Spiegel musterte. 5
„Es kann ihm nicht schaden, schätze ich. Tanzen befreit 6
die Seele. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Tess hätte 7
endlich mal wieder einen Partner und…“ 8
Die Lautsprecher knackten vernehmlich. Das wilde Spiel 9
eines Schlagzeugs löste die ruhige Melodie des Klaviers ab. 10
„Cha-Cha-Cha, ein aus Kuba stammender Tanz. Sehr beliebt, 11
sehr einfach. Ich denke, Tim, das bekommen wir hin, nicht?“ 12
Unschlüssig nickte ich, schüttelte gleichzeitig den Kopf, 13
wobei ich mich zur Belustigung der Frauen auf den Boden 14
kniete und Liegenstützen machte. Auch Tess, die nun zu mir 15
kroch, um mein Schnaufen zu imitieren, konnte sich das 16
Lachen nur schwer verkneifen. 17
„Wenn du so anfängst, bekommst du höchstens beim Fußball 18
Spitzennoten.“, behauptete sie. „Vielleicht sollten wir 19
tatsächlich einmal versuchen, dir etwas Ausdauer 20
anzutrainieren. Du keuchst wie eine Oma im Treppenhaus oder 21
wie eine Lokomotive… Tiefer runter, du Weichei!“ Mit aller 22
Kraft drückten ihre Hände auf meinen Rücken, sodass meine 23
Lippen im selben Augenblick den Boden berührten. 24
„Können wir nicht eine Runde laufen?“, erwiderte ich 25
stöhnend, wobei mich aufrappelte. 26
„Ich wette, bevor du zurück bist, küsst der Mond die 27
Sonne." 28
Ich schnitt eine Grimasse. „Küsst der Mond die Sonne? Was 29
ist das denn für ein dämlicher Spruch?“, entgegnete ich mit 30
139
nachgeäfftem Tonfall, stemmte die linke Hand in die Hüfte, 1
wippte leicht mit dem Fuß. „Ich bin gar kein übler Läufer.“ 2
Bevor einer von uns beiden reagieren konnte, drückte mir 3
Suleika, die seufzend zu uns getreten war, die junge Britin 4
an die Brust. Ich spürte ihren Atem, der wie ein sachter 5
Windstoß über meine Wangen strich. 6
„Cha-Cha-Cha, ein aus Kuba stammender Tanz.“, erklärte die 7
Tanzlehrerin nochmals, wobei sie Tess Hand auf meine 8
Schulter legte, meine um deren Taille. Die verschwitzende 9
Innenfläche hinterließ winzige Flecken auf ihrem T-Shirt und 10
schmunzelnd bemerkte ich, dass mein Gegenüber ebenfalls 11
seltsam nervös wirkte. 12
Widerstand - wenn wir uns denn hätte zur Wehr setzen 13
können - schien zwecklos. 14
„Der Herr beginnt rechts seitwärts, die Dame links 15
seitwärts. Seit, Schritt, Platz, Cha-Cha. Seit, Schritt, 16
Platz, Cha-Cha.“ 17
Stille. Nur mein leises Schnaufen, vermischt mit ihren 18
kleinen Schrittchen auf dem Parkett. Keine Zuschauer, außer 19
den in den Korallenriffen versteckten Nixen, die ihre 20
prächtigen, farbenfrohen Schwänze im Gleichklang mit der 21
Melodie von rechts nach links, von West nach Ost, 22
schwankten. Über ihren Köpfen schlugen die Wellen gegen die 23
Felsen, mal langsamer, mal schneller. 24
Das erneute Trommeln. Klavier. Basslaute. Ich schloss die 25
Augen, wünschte mich plötzlich in die Arme eines anderen 26
Mädchen weit, weit weg. In die Arme eines Mädchens, das ich 27
vielleicht nie wieder sehen würde. Nein…! 28
Ruckartig riss ich die Lider auf, stolperte über Tess 29
rechtes Bein. 30
140
Sie wollte fluchen, doch als sie in mein verzweifeltes 1
Gesicht sah, hielt sie inne. „Kann jedem einmal passieren.“ 2
Ich nickte unbeteiligt. Noch ist sie in Sicherheit. Und 3
deshalb musst du sie vergessen, so schwer es dir auch fallen 4
mag. Denn nur so kannst du sie retten. 5
Blut pochte hart gegen meine Schläfe, sodass mich 6
augenblicklich ein Schwindel erfasste. Tim, vertraue auf 7
deinen Gefühlen. Widerstrebens verdrängte ich sie aus meinen 8
Gedanken, versuchte mich in die neu einsetzende Musik 9
einzugliedern. 10
„Du hast den Takt im Herzen, mein Junge.“ 11
Suleika, gegen das Klavier gelehnt, klatschte dem Rhythmus 12
entsprechend in die Hände, wobei sie mir aufmunternd zu 13
zwinkerte. 14
Seit, Schritt, Platz, Cha-Cha. Meine Fußsohlen strichen 15
sacht über das kalte Holz. Tess hatte den Kopf zur Seite 16
gelegt. Nur gelegentlich ein Wimpernschlag, ansonsten schien 17
sie völlig Teil des Stückes geworden zu sein. Auch ich 18
spürte, wie meine Anspannung bei jeder Umdrehung merklich 19
nachließ. Es war wie das kurze Schöpfen nach einem langen 20
Lauf. Der Atem nach Freiheit. 21
Das soll nie wieder aufhören. Nie wieder… 22
Noch eine Umdrehung. Ein Tor, durch welches das Mädchen 23
hindurchschwebte. 24
Cha-Cha-Cha. Du kannst tanzen. Warum kannst du tanzen?! 25
Der Stolz schwemmte auch die übrigen Lasten meiner Seele 26
fort. 27
Drehung, Drehung, Cha-Cha-Cha. 28
Dann plötzlich brach die Welle über mir zusammen und ich 29
ertrank in dem schwarzblauen Wasser, umgeben von tausenden 30
141
Nixen, die gierig nach mir langten und mich langsam immer 1
tiefer hinab zogen mit ihren scharfkantigen, 2
flossenähnlichen Händen. 3
„Mister River? Sir Scott bittet Sie in sein Büro.“ Einer 4
der Diener erschien in der Türe. Durch das schwarze Jackett, 5
welches er trug, wirkte er wie ein Racheengel, geschickt vom 6
Teufel persönlich. 7
„Aber wir sind mitten in einer Tanzstunde.“ 8
„Dad kann warten.“ 9
Erleichtert bemerkte ich, dass sowohl Suleika als auch 10
Tess mir den Rücken stärken wollten, wofür ich ihnen ein 11
dankbares Lächeln schenkte. Dennoch war mir schmerzlich 12
bewusst, dass Scott immer noch die Fernbedingung in seiner 13
Hand hielt. Der Meister wünschte dies, der Meister wünschte 14
das - und so es geschah. 15
„Schon in Ordnung. Ich habe nichts verbrochen.“ 16
Ich versuchte, optimistischer zu wirken, als mir in diesem 17
Augenblicke zu Mute war, um Tess nicht zu beunruhigen, 18
selbst wenn ich mir sicher sein konnte, dass sie kaum mit 19
der Wimper zucken würde, bestrafe mich Vater. Zögernd ließ 20
ich ihre verschwitzte Hand aus meiner gleiten, ohne sie ein 21
weiteres Mal anzusehen. Vielleicht, schoss es mir durch den 22
Kopf, vielleicht tanzen wir nie wieder zusammen. Auch das 23
Mädchen wich meinem Blick aus. Mit aufeinander gepressten 24
Zähnen flüsterte ich, den Kopf ein Stück gesenkt: „Bringen 25
Sie mich zu ihm.“ 26
„Sehr wohl.“ Eine elegante Verbeugung. Dann das Öffnen der 27
riesigen Flügeltür. Sich entfernende Schritte. Tief atmete 28
ich ein, schloss kurz die Augen. In meinen Ohren hallte 29
immer wieder dieses Versprechen: Ich werde der Erste sein, 30
142
der sie alle besiegt. Kay vertraute mir. Ich durfte sie 1
nicht ein zweites Mal enttäuschen, nicht wieder ihre Hand 2
loslassen, wenn sie mich brauchte. Kay… 3
Kalte Finger umklammerten mein Handgelenk. Verwirrt fuhr 4
ich herum, in Tess grüne Augen starrend. 5
„Ich habe Tim noch nicht das Haus gezeigt! Och 6
herrjemine!“ Mit gespieltem Entsetzen japste das Mädchen 7
nach Luft „Dad hatte es doch erwünscht!“ 8
Erstaunt hielt der Diener inne. „Es ist nur mein Befehl 9
von Sir Scott, den Jungen zu ihm zuführen.“ Die weiße Seide 10
seiner Handschuhe streifte meinen Arm. „Komm endlich.“ 11
Widerstrebend folgte ich ihm auf den Flur. Wie ein Mensch, 12
der seinen letzten Atemzug tat, so ächzte auch die Türe, die 13
nun hinter mir zufiel. 14
Der Kadaver eines Zierfisches trieb in der Strömung des 15
Filters, dessen Rädchen wie ein Sägeblatt durch das Wasser 16
schnitt. Die glasigen, beinahe grauen Augen waren starr, 17
gleichwohl die Schwanzflosse noch gelegentlich zuckte, um 18
sich gegen dieses Ende, nun von den Artgenossen genüsslich 19
verspeist zu werden, zur Wehr zu setzen. Ich kauerte auf dem 20
weißen Ledersofa - den Rücken gegen die riesigen Scheiben 21
des Aquarium gedrückt, welches mich wie ein Meer im 22
Halbkreis umzingelte - und nippte an dem Glas Wasser, das 23
Maurice Scott mir aufgezwungen hatte. Der Mann seinerseits 24
hockte in dem Sessel gegenüber, jetzt in einem teuren weißen 25
Anzug mit einer schwarzen Sonnenbrille, die in seiner 26
rechten Jackettasche steckte. Auf dem Glastisch hatte eine 27
Dienerin das Mahl serviert, welches hauptsächlich aus 28
Chinchillabeinen, umwickelt von goldbraun gebackenem Teig, 29
bestreut mit einem Hauch von scharfen Gewürzen, bestand. 30
143
Ganz auf seinen Wunsch reichte man ihm dazu süße Früchte und 1
Wein - Ein Speisen wie die Könige jener längst vergessenen 2
Zeit. Genüsslich leckte er sich über die Lippen, während er 3
sorgfältig das Beinchen mit der Gabel zerteilte, um zu 4
prüfen, ob dieses nach seinen Vorstellungen gegart und 5
zubereitet worden war. Scheinbar zufrieden wiegte er den 6
Kopf, als er die Gabel an den Mund führte und das Fleisch 7
zwischen den perfekten, weißen Zähnen zermalmte. Dabei 8
betrachtete er mich mit höflichem Interesse, versuchte 9
wieder einmal, mich einzuschätzen. Nervös rutschte ich auf 10
meinem Platz hin und her. Irgendetwas stimmte nicht. Warum 11
sonst sollte sich ein derart beschäftigter Mensch für einen 12
Jungen Zeit nehmen? 13
„Du hast mir eine Frage noch nicht beantwortet, Tim. Die 14
Frage nach dem Warum.“ 15
Er legte Gabel und Messer beiseite, betupfte vorsichtig 16
mit einer weißen Serviette sein Kinn. „Warum bist du 17
hierhergekommen, wo du dort draußen frei hättest leben 18
können! Jeder andere Junge wäre verzweifelt nach Hause 19
zurückgeflogen oder Tage lange durch die Weiten des Urwalds 20
gestreunt ohne jegliches Ziel vor Augen. Du aber findest den 21
Weg, schaffst es tief in mein Land einzudringen - warum?“ 22
Erneutes Kauen, dann das verärgerte Zucken im Gesicht des 23
Mannes. Das Chinchillafleisch hatte eine zu niedrige 24
Temperatur. Nicht exakt fünfzig Grad. Diese Tiere würden 25
nicht mehr im Magen eines Sirs verdaut werden, sondern 26
höchstens in denen der Köche. Leise fluchend schob Scott die 27
Beine mit dem Messer auf das Tablett zurück, wobei er nach 28
einer hübsch mit einem Goldrand verzierten Schale langte. 29
144
„Es lohnt nicht, es zu verleumden, Tim.“, fuhr der Mann 1
nach einer Weile der Stille fort, welches lediglich von dem 2
leisen Plätschern des Wassers unterbrochen wurde. „Wir 3
wissen bereits, dass du einen der Computer in der Stadt 4
Kpalimé benutzt hast, um herauszufinden, für wen dein Vater 5
gearbeitet hat. Ich muss schon sagen, intelligent, 6
intelligent. Doch du wurdest überrascht, wodurch du keine 7
Zeit mehr hattest, das Emailkonto vollendend zu schließen.“ 8
Ich schwieg. Meine Hände verkrampften sich um das Glas, 9
sodass die Knöchel weiß hervortraten. Was hätte ich auch 10
erwidern sollen, jetzt da der Mann bereits Kenntnis davon 11
hatte, dass einen Teil seiner Aase im Ärmel aufgedeckt 12
worden war? 13
„Es gibt vieles, womit ich gerechnet habe. Nur nicht 14
damit, dass ein Junge wie du innerhalb kürzester Zeit einem 15
Geheimnis auf die Schliche kommt, in dessen Schatten eine 16
ganze Nation im Dunkeln tappt. Die meisten Menschen schöpfen 17
nicht einmal den Verdacht, dass im Untergrund etwas 18
existiert. Darum gestehe ich, dass ich dich ehrlich dafür 19
bewundere, und dir, so wahr ich hier sitze, versprechen 20
will, dass ich dir nichts tun werde. Vorausgesetzt, du 21
hilfst mir.“ 22
Verwirrt zog ich die Augenbrauen hoch. „Ihnen helfen?“, 23
entfuhr es mir. 24
„Ich möchte nur von dir wissen, was du über ‚Kamikaze‟ 25
erfahren hast.“ 26
Ich zögerte, presste den Rücken fester gegen das raue 27
Glas, sodass einige der neugierig heran geschwommenen Fische 28
erschrocken zurückwischen. 29
145
Ein Lächeln huschte über Scotts Lippen, doch es war 1
absolut kalt und unberührt. Siegessicher thronte er auf 2
seinem Sessel, das Weinglas an den Mund führend. 3
Hastig wandte ich meinen Blick von der blutfarbenen 4
Flüssigkeit ab. Denk nach, denk nach. Dabei stand meine 5
Entscheidung bereits fest. Der Mann mochte wissen, dass ich 6
kein schlechter Spion gewesen war - doch wie viel ich 7
herausgefunden habe, wusste er nicht. Der Vorteil war 8
deshalb noch auf meiner Seite. Ihn leichtsinnig wegen eines 9
leeren Versprechens zu verspielen, wäre das, womit Sir Scott 10
rechnete. Denn dann könnte er mich endlich wie die letzte 11
Perle einer Kette einfädeln. 12
„Nein.“, flüsterte ich, fügte noch etwas bestimmter hinzu: 13
„Sie können mich nicht dazu verlocken.“ 14
Maurice Scott lachte leise, beinahe wie über einen Witz. 15
„Stimmt. Verlocken kann ich dich nicht - aber zwingen. 16
Vielleicht wirst du dann begreifen, dass du nie eine Wahl 17
hattest.“ 18
Wie auf ein unsichtbares Kommando wurde die Tür 19
aufgestoßen. Zitternd vor Angst stolperte ein dreckiger, 20
dunkelhäutiger Junge etwa in meinem Alter herein, begleitet 21
von einem Gorilla, der ehrfürchtig vor seinem Meister 22
niederkniete. „Nummer 273.“ Den Kopf immer noch gesenkt, 23
deutete er auf den jungen Togolesen, der verzweifelt meinen 24
Blickkontakt suchte. 25
Scott erhob sich und ging mit den geschmeidigen Schritten 26
eines Seiltänzers zu ihnen herüber, mich im Augenwinkel 27
beobachtend. „Wie ist dein Name, Nummer 273?“ 28
„Kassian… Kassian Broelski, Sir.“ Der Junge biss sich auf 29
die Unterlippe. Blut tropfte, gemischt mit Dreck und 30
146
Schweiß, auf sein zerrissenes Leinenhemd herab. An dessen 1
Ärmel und der Brusttasche war eine Kennnummer angebracht. 2
Namen haben keine Bedeutung. Sie sind nur Worte, wie 3
tausende und abertausende auf dieser Welt. Man sollte 4
Lebewesen nicht nur unter einem Begriff kennen, sie dadurch 5
unterscheiden, sondern durch das, was sie tun, im Guten wie 6
auch im Schlechten. Ein weiteres Puzzleteil rückte an seinen 7
Platz. Wenn es wirklich Papa gewesen war, der diese Worte 8
gesagt haben soll, kurz bevor die Todesengel ihn geholt 9
hatten, musste er sich gegen diese Art von Seelenraub 10
gewehrt haben. 11
Scott hüstelte. „Tim!“, brüllte er, wobei er zurück zu dem 12
Tisch stolzierte. „Das ist Kassian. Hast du gehört?“ Dann 13
plötzlich, ohne dass wir hätten reagieren können, griff er 14
nach dem Messer auf dem Tisch und hielt es dem jungen Mann 15
an die Kehle. „Möchtest du, dass ich ihn töte?“ 16
Wie versteinert wanderten Kassians Augen nach unten zu der 17
Schneide, die jeden Moment seine Halsschlagader durchtrennen 18
mochte. Flehend warf er mir einen Blick zu, während er leise 19
betete. 20
„Nein!“ Ein Hauch von Kameradschaft flackerte 21
augenblicklich in mir auf. Ohne auch nur eine Sekunde daran 22
zu verschwenden, nachzudenken, sprang ich auf, wollte dem 23
Mann das Messer aus der Hand schlagen, doch eisernen Hände 24
verdrehten mir die Arme auf den Rücken. Verzweifelt trat ich 25
um mich, musste schnell einsehen, wie aussichtslos meine 26
Lage war. 27
„Dachte ich mir. Nun, Tim, wenn dein dunkelhäutiger Freund 28
leben soll, musst du wohl oder übel den Mund aufmachen. Sag 29
mir endlich, was ich wissen möchte!“ 30
147
„Nein!“, stieß ich hervor, bei dem Versuch, meine Gedanken 1
zu ordnen. 2
Es war mir bewusst, dass Scott den Sklaven töten würde, 3
wenn es ihm half, seine Ziele zu erreichen. Was kümmerte es 4
ihn schon, ob er ein Werkzeug weniger zu Hand hätte? 5
Schließlich wäre binnen Stunden frische Ware besorgt. 6
Ich selbst stand auf einer Waage. Entweder konnte ich 7
schweigen, um Widerstand zu leisten, oder ich konnte dem 8
Jungen das Leben retten, indem ich alles preisgab, was ich 9
wusste, und somit meinen Vorteil bei der Flucht verspielen. 10
Welche Seite überwog? 11
„Eins… zwei… drei…“ 12
Das Messer zuckte, berührte beinahe Kassians Kehle. 13
„Nein… Bitte!“ 14
„Vier… fünf…“ 15
„Tun Sie es nicht. Bitte, tun Sie es nicht. Bitte!“, 16
flehte ich. 17
„Sechs…“ 18
Ein Schwindel übermahnte mich. Was mochte Kassians Mutter 19
sagen, wenn sie erfuhr, dass ihr Sohn meinetwegen getötet 20
worden war? Mochte sie schreien, weinen, zusammenbrechen, so 21
wie ich damals, als ich meine Mama verloren hatte? Bis in 22
alle Ewigkeit… Amen. Nein, selbst wenn ich keine Chance mehr 23
hatte, durfte ich Kassian nicht wie eine Schachfigur 24
leichtsinnig verspielen. Ich würde sein Leben brauchen, um 25
den schwarzen König auf der anderen Seite des Feldes 26
schachmatt zu setzen. 27
„Okay, ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß. Aber 28
bitte, beenden Sie diesen Wahnsinn. Das ist kein Spiel, bei 29
dem Sie jemanden abschlachten sollen!“ 30
148
„Ich werde den Jungen erst dann freilassen, wenn ich das 1
gehört habe, was ich will.“ 2
„Okay. Es gab einen Eintrag. Am 25. Mai. Die Kalenderseite 3
dazu haben ihre Leute in meinem Rucksack gefunden. An dem 4
Tag, an dem er gestorben ist, hatte mein Vater das Wort 5
Kamikaze hineingeschrieben. Auch in der Email war diese 6
Buchstabenkombination.“ 7
„Kennst du ihre Bedeutung?“ 8
Ich schüttelte resigniert den Kopf. Nein, Tim, du weißt 9
gar nichts, rein gar nicht. Weder über Scott noch über 10
Kamikaze oder den Tod deines Vaters. 11
Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, dass der Mann dem 12
zitternden Jungen das Messer noch näher an die Kehle hielt. 13
„Sieben… Acht…“ Wie eine Bombe zählte er die Zeit hinunter. 14
„Ich… Ich glaube, es ist eine Art Geheimbund.“, fügte ich 15
hinzu, mehr ratend als darüber nachdenken, was ich in aller 16
Eifer und Panik faselte „Irgendetwas mit Forschung und 17
Schmuggel. Keine Ahnung. Verdammt. Ich weiß nur, dass mein 18
Vater etwas damit zu tun hatte… Ist das der Grund, weshalb 19
er sterben musste?“ 20
„Gute Arbeit, Tim. Gratuliere. Du hast dich wahrlich 21
hervorragend geschlagen, muss ich zugeben. Findest du, ich 22
sollte dich belohnen?“ 23
Ich zögerte unschlüssig, wobei ich mich auf das Sofa 24
fallen ließ und mit den Händen durch die Haar fuhr. 25
Eigentlich hätte ich stolz darauf sein müssen, Kassians 26
Leben für das Erste gerettet zu haben, doch mir fehlte der 27
Mut, weiterzukämpfen. Wieder einmal hatte ich Papa 28
enttäuscht, weil ich zu feige gewesen war, mich zu wehren. 29
149
„Ich verstehe: Du willst mir die Entscheidung überlassen. 1
Wie überaus höflich von dir.“, spottete Scott, der den 2
Sklaven von einem der Gorillas in Fessel legen ließ. Die 3
Beine des Jungen gaben sofort nach, sodass der Mann ihn 4
stützen musste, was er mit wenig Zartgefühl tat. 5
„Ich möchte dir etwas vorschlagen. Arbeite für mich. 6
Arbeite für Kamikaze.“ 7
Erstaunt hob ich den Kopf. Es war eine Gabe, die sowohl 8
Maurice Scott als auch seine Tochter Tess beherrschten: Die 9
Schlagfertigkeit. 10
„Warum um alles in der Welt sollte ich das tun? Sie sind 11
schuld daran, dass mein Vater tot ist.“ 12
„Du wirst noch früh genug begreifen, dass ich ab jetzt 13
dein Meister bin - oder ich werde Methoden anwenden müssen, 14
die für dich weniger angenehm sein möchten, wenn bei dir 15
auch nur der geringste Zweifel an meinen Befehlen besteht, 16
mein Junge.“ 17
„Nein. Ich helfe niemandem, der so fies ist wie Sie.“, 18
entgegnete ich verzweifelt. Im Augenwinkel registrierte ich 19
Kassians niedergeschlagenen Blick. 20
Du kannst mir vertrauen - Ja aber wie lange? Allmählich 21
begriff ich, was Tess gemeint hatte. Sir Scott war 22
unbesiegbar. Die Klugen gaben auf. So konnte sie wenigstens 23
das eigene Leben retten - ständig in der irrsinnigen 24
Hoffnung, endlich befreit zu werden. Doch wer befreit einen, 25
wenn alle vergaßen? Das Leben hatte erst dann einen Wert, 26
wenn man es auch lebte. Für den Mann mochte ich nur ein 27
kleiner Junge sein, aber ich war ein kleiner Junge, der für 28
etwas kämpfte. Und das, wofür es sich zu kämpfen lohnte, 29
150
überstieg all die Furcht wie den riesigen, weiß gepuderten 1
Gipfel eines Berges. 2
„Du wirst für mich übersetzen. Keine Widerrede. Oder muss 3
ich zu Waffen greifen?“ 4
Wenn Sie sich ohne nicht verteidigen können, hätte ich am 5
liebsten geantwortet, doch ich wusste, dass Kassian nur 6
darunter leiden würde. „Nein. Aber…“ 7
„Kein Aber.“ 8
Ich ignorierte seinen Einwurf. „Aber ich weiß nicht, was 9
genau Sie von mir verlangen, Meister.“ 10
„Obwohl ich es verboten habe, ist Französisch die 11
Landessprache der meisten meiner Arbeiter. Ich möchte, dass 12
du für mich ihre Worte wiedergibst und andersherum. Als 13
Gegenleistung werde ich deinen Freund verschonen - 14
vorausgesetzt, du schadest mir nicht. Ich werde dich 15
beobachten lassen und schon bei dem geringsten Verdacht 16
eines Widerstandes wird er leiden müssen.“ Das zuvor noch 17
geschmeichelte Lächeln auf seinen Lippen war verschwunden. 18
Stattdessen rückte er nun mit den Fingern seine Brille 19
zurecht, wobei er wohl versehentlich das Glas berührt haben 20
musste, denn seine Augen verengten sich zu einem Schlitz. 21
Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch, dann auf die 22
Glocke des kleinen Beistelltisch. Bevor ich auch nur mit der 23
Wimper zucken konnte, erschien eine Dienerin aus dem 24
Nebenraum. Sie war mit ein figurbetontes, rotweißes Kleid 25
mit einer Schürze, wie ich es nur aus alten Filmen des 20. 26
Jahrhunderts kannte, dazu eine perfekt abgestimmte 27
Haarspange und weiße Sandalen bekleidet. Mit äußerster 28
Vorsicht hob sie die Brille an der Nasenbrücke hoch und trug 29
151
sie wie ein zerbrechliches Porzellanstück in das Zimmer, aus 1
dem sie gekommen war. 2
„Nun, Tim? Was sagst du dazu?“ 3
Eine lange Pause entstand. Meine Gedanken überstürzten 4
sich. Scott betrachte mich über den vergoldeten Rand des 5
Weinglases hinweg, während Kassian unruhig das Gewicht von 6
einem Fuß auf den anderen verlagerte, bevor der Gorilla ihm 7
etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin sich der Junge 8
augenblicklich in einen Statur aus Stein verwandelte, deren 9
Augen nur zögerlich durch das Zimmer huschten. Stille, nur 10
das gelegentliche Rauschen des Filters, sodass man glaubte, 11
das Schweigen der Fische hören zu können. 12
„Nein.“, murmelte ich erlösend mit vor der Brust 13
verschränkten Armen „Nein. Sie können mich einmal 14
kreuzweise! Ihnen zu helfen, wäre das Letzte, was ich tun 15
will. Allein schon jeden Tag ihr überhebliches Gehabe hören 16
zu müssen, würde mich krank machen. Öffnen Sie das Tor, 17
lassen Sie uns frei! Dann versprechen ich Ihnen, dass ich 18
Ihnen keinen Ärger bereiten werde.“ 19
Tief ein und ausatmend, um nicht sofort die Geduld zu 20
verlieren, massierte der Mann seine Ohrläppchen. Mit der 21
anderen, freien Hand gestikulierte er wild in der Luft, 22
sodass er der eintretenden Dienerin die Brille aus den 23
Fingern schlug. Das Glas klirrte auf dem Boden, zerbrach 24
jedoch nicht. Erschrocken kniete die junge Frau nieder, aber 25
Scott riss sie mit der Reaktionsschnelle eines Geiers hoch. 26
Eine Ohrfeige. Stille. Leises Wimmern. Dem Blick ihres 27
Meisters ausweichend, hielt die Dienerin die errötete Wange. 28
Vorsichtig erhob ich mich, wollte sie verteidigen, als mir 29
bewusst wurde, dass es den Mann erneut erzürnte. 30
152
„Geh mir aus den Augen!“, brüllte er mit einem knurrenden 1
Unterton in der Stimme. Ohne ihr weitere Beachtung zu 2
schenken, wandte er sich mir zu, hielt etwa einen Meter vor 3
mir inne, um abzuschätzen, ob ich seine Mühen wert war. 4
„Weißt du“, erwiderte er, mir seine rechte, knöcherne Hand 5
auf die Schulter legend, „Weißt du noch, was ich dir über 6
die Menschen erklärt habe, die sich mir widersetzten. Ich 7
könnte dafür sorgen, dass du deinen Papa wieder siehst, dort 8
unter der Erde. Möchtest du das? Der einzige Grund, weshalb 9
ich dich noch nicht getötet habe, ist der, das du der Sohn 10
eines großartigen Forschers bist, der Sohn eines guten 11
Freundes. Wäre ich der Ansicht, du wärst wertlos für mich, 12
glaub mir, dann säßest du nicht mehr auf diesem Sofa.“ 13
Im Winkel meines Blickfeldes vernahm ich eine ruhige 14
Bewegung. Etwas wurde im matten Lichtschein reflektiert. Ein 15
Messer. Nein…! Sekunden später spürte ich, wie die Klinge in 16
mein Fleisch schnitt. Mein Schrei peitschte durch das 17
Zimmer. Etwas Warmes rann über meinen Arm und auch ohne 18
nachzusehen, wusste ich, dass es Blut war. Dunkelrotes Blut. 19
Ein kurzer Augenblick nackter Gewalt. Der Mann will dich 20
umbringen, Tim! Mit aller Kraft trat ich gegen dessen 21
Schienbein und wich einige Schritte zurück, dabei den 22
verletzen Arm unter die Achseln gedrückt. Blut tropfte zu 23
Boden, hinterließ winzige Spuren. 24
„Pass auf!“, brüllte Kassian zu mir herüber, bevor sein 25
Zurufen durch die Hand auf seinem Mund unterdrückt wurde. 26
Aber es war bereits zu spät. Ich schlug mit dem Hinterkopf 27
gegen das harte Glas, wobei ich mir unwillkürlich auf die 28
Zunge biss. Blut füllte meine Mundhöhle, doch ich zwang 29
mich, nicht zu schlucken. Scotts Arm legte sich wie eine 30
153
Schlinge um meinen Hals, sodass jegliche Gegenwehr unmöglich 1
war, wobei er sein Werk vollendete. „Nummer 448. Ab dem 2
heutigen Tag wirst du deinen Namen vergessen - oder nur noch 3
benutzen, wenn ich es dir ausdrücklich erlaube. Hältst du 4
dich nicht daran, werden meine Männer dich nachts solange 5
über das Feld laufen lassen, bis zu dich übergibst - und 6
dann vielleicht noch etwas länger.“, erklärte der Mann 7
lächelnd und reinigte die Wunde grob mit einem 8
Papiertaschentuch. „Willkommen bei Kamikaze, Nummer 448!“ 9
154
5. Kapitel 1
Im Osten geht die Sonne auf, so heißt es. Doch in diesem 2
Haus mochte es den glühenden Stern nur auf Gemälden geben, 3
der, in den Hintergrund gedrückt, lediglich dazu diente, 4
einen Heiligenschein auf das Haupt des Herren, unseres 5
Meisters, zu zaubern. 6
Der Wächter deutete mit der rechten Hand auf die im 7
Schatten verborgene Eisentreppe und gestikulierte, dass ich 8
ihm ohne Widerrede zu folgen hatte. Nervös kaute ich auf der 9
Unterlippe. Der stechende Schmerz im Oberarm hatte 10
nachgelassen, dennoch schien er mich zu betäuben. Betäubte 11
meinen Körper, der sich wie ein Roboter bewegte. Betäubte 12
meine Gedanken mit dem Gift der Gewissheit, dass Maurice 13
Scott mich hätte töten können. 14
Eine stabile Stahltür glitt zischend auf, gab den Blick 15
frei auf einen weiteren Korridor, kahl, steril, wie der 16
Vorhergegangene. Klimatisierte Luft schlug uns entgegen. Die 17
Gitter der Luftschächte glänzten mattsilberig im grellen 18
Neonlicht. Ein rhythmische Rattern, woraufhin ein Mann um 19
die Ecke bog, einen Wagen mit Laborutensilien vor sich 20
herschiebend. An jeder Abzweigung und Türe ein 21
Plastikschild. 22
Erstaunt ließ ich meinen Blick umherschweifen. Wofür 23
brauchte der Brite solch ein unterirdisches - ja, was war es 24
eigentlich, was ich sah? Die Flure erinnerten mich an Star 25
Wars oder die andere Science Fiction Filme, die ich im Kino 26
gesehen hatte. Vielleicht sogar ein wenig an ein 27
Krankenhaus. Schlug etwa hier das Herz von Kamikaze? 28
155
Ohne von seiner Akte, die er eifrig studierte, 1
aufzuschauen, trat ein hagerer Mann in einem weißen Mantel 2
zu uns. Sein Gesicht, welches zu großen Teilen von einer 3
Atemschutzmaske entstellt wurde, zeigte keinerlei 4
Gefühlsregung, nicht einmal dann, als der Gorilla ihm mit 5
knappen Worten die Lage schilderte. Schließlich 6
verabschiedete sich der Wächter und ließ mich in dem 7
Labyrinth aus ineinander verschachtelten Gängen zurück, aus 8
dem ich alleine nieder wieder an das Sonnenlicht finden 9
würde. 10
Vielleicht sollst du das auch gar nicht, Tim, schoss es 11
mir blitzartig durch den Kopf, für Kamikaze arbeiten zu 12
müssen, konnte auch bedeuten, als „Doktor Bibber-13
Versuchsspielzeug“ in Szene gesetzt zu werden. Die wollen 14
dich aufschnibbeln und schauen, wie lange du durchhältst, 15
bis dein Herz versagt. Oder die wollen irgendein Gift an dir 16
testen, mit demselben Effekt, nämlich dem, dass du ihn nicht 17
überleben wirst. 18
Sekunden starrten wir einander an, dann langte der Mann 19
nach hinten, brachte etwas metallisch Glänzendes zum 20
Vorschein. Was es war, wusste ich nicht. Es machte in diesem 21
Augenblick auch wenig Sinn, genauer hinzuschauen, denn so 22
wäre es das Letzte, was man jemals sehen würde. 23
Renn, Tim, Renn! 24
Ich rannte. Den Gang hinunter. Klappernde Schritte. Stieß 25
einen Pendeltür auf, noch eine. Das Rauschen einer 26
Klimaanlage. Schoss links um die Ecke. Wo bin ich? Noch ein 27
Korridor. Gleich weiß. Rechts um die Ecke. Wo sind die 28
Eisbären? Die Hoffnung, dass sie mich gehen lassen würden, 29
keimte in mir auf, wurde jedoch im selben Augenblick jäh 30
156
zerstört. Eine in den Ohren schmerzenden Sirene heulte auf. 1
Die hohen Töne schienen überall. Ich konnte sie nicht 2
ordnen, selbst wenn es gewollt hätte, ich konnte es nicht. 3
Du findest hier nie mehr heraus. Bewusst, dass ich mich 4
bereits verlaufen hatte, drückte ich den Rücken fest gegen 5
den kalten Stahl einer Türe und verbarg mich gleichzeitig in 6
dessen Schatten, um Atem zu schöpfen. Drei Gestalten jagten 7
um die Ecke. Hielten bewegungslos inne, als könnten sie mein 8
Herz in der Brust pochend hören. Suchend glitten ihre Blicke 9
über die kahlen Wände, blieben kurz an einem geöffneten 10
Schrank schräg gegenüber der Tür hängen. 11
Bitte, nicht! Meine Entdeckung stand unmittelbar bevor. 12
Lauf weg! Lauf, so schnell dich deine Beine tragen können! 13
Doch ich war wie betäubt, unfähig, mich zu rühren. Hätte 14
mich nun jemand mit dem kleinen Finger angetippt, wäre ich 15
mit großer Wahrscheinlichkeit vorne über gekippt. 16
Theoretisch hatte ich keine Chance. Dafür waren vor allem 17
die Kräfte zu ungleich verteilt. Der Gegner besaß mehr 18
Figuren auf dem Spielfeld und hatte den eigenen Würfel so 19
manipuliert, dass dieser nur Fünfen oder Sechsen zeigte. 20
Zudem besaß er Kenntnisse über sämtliche Geheimtunnel. Meine 21
Lage war aussichtslos. Und trotzdem… Trotzdem konnte ich 22
nicht aufgeben. Sich Maurice Scott und dessen kranken Plänen 23
zu unterwerfen - Nein, niemals! Nicht in tausenden von 24
Jahren! Es würde mich krank machen, für solch einen Menschen 25
mein Leben zu opfern. Zwanghaft zu opfern, denn opfern 26
alleine klang zu selbst bestimmend. 27
Von dem winzigen Hoffnungsschimmer getrieben, dass die 28
Weißmasken mich übersehen würden, presste ich meinen Körper 29
auf Zehenspitzen fester gegen die Türe - als diese plötzlich 30
157
nachgab. Völlig überrascht kippte ich hinten über - direkt 1
in die Arme eines Mannes, der sie gierig nach mir 2
ausstreckte. 3
Ich schrie. Tonlos, übertönt von der Sirene. Doch selbst 4
wenn ich laut genug gerufen hätte - hier unter der Erde 5
würde mich nie jemand finden. Niemand vermisste mich, 6
höchstens Tess oder Mathieu vielleicht, doch auch ihnen 7
würden sie einen Lüge über meinen plötzlichen Verbleib 8
auftischen: Tim? Nein, nie von gehört. Verschwunden? 9
Bedaure, dies muss ein Irrtum sein. Wir haben keinen Jungen 10
in den Katakomben herumstreunen sehen und wenn, so ist es 11
seine eigene Schuld, wenn er sich verlaufen hat, Lady Scott. 12
Natürlich versichern wir Ihnen, ihn sofort zurückzubringen, 13
für den Fall, dass wir ihn finden. Selbstverständlich. 14
Machen Sie sich keine Sorgen… 15
Du musst hier weg! Sofort! Doch ich spürte bereits den 16
Einstich einer Nadel in meinen rechten Oberarm. Ein kurzer 17
Pieck mit einer ungeahnten Wirkung. Zunächst kitzelte es 18
nur, dann durchzuckte ein Juckreiz meinen Körper, von oben 19
bis unten, von links nach rechts, beinahe so als ob tausende 20
von Ameisen mit ihren winzigen Beinchen über meine Haut 21
marschierten. Meine Pupillen weiteten sich, sodass ein 22
Nebelschleier meinen Blick augenscheinlich trübte. Die 23
Gestalt stemmte mich unter den Achseln hoch und schleppte 24
mich wie einen nassen Sack Kartoffeln durch die Türe. 25
Grelles Neonlicht flutete den weißen Raum und mit ihm all 26
die scharfkantigen Waffen der Ärzte, die nach ihrer Größe 27
und Gefährlichkeit aufsteigend in einem Regel sortiert 28
worden waren, sowie auch die verschieden farbigen 29
Flüssigkeiten, die in den wie Hexenkessel aussehenden 30
158
Gefäßen vor sich hin brodelten. An der freien Wand gegenüber 1
hatte man Infrarot und Ultraschallgeräte installiert. Einer 2
der Bildschirme flackerte, die anderen waren schwarz. 3
Zu meinem Entsetzen tauchten aus einem Nebenzimmer zwei 4
weitere Eisbären auf, ebenfalls mit Masken, sodass es schwer 5
war, sie überhaupt als Menschen zu identifizieren, 6
geschweige denn nach Geschlechtern zu unterscheiden. Gegen 7
meinen Willen zerrten sie mich auf den riesigen Tisch, wobei 8
einer von ihnen meine Brust mit aller Kraft auf die 9
metallische Fläche drückte und zum allerersten Mal ein Wort 10
mit mir sprach. „Die Schmerzen werden bald unerträglich 11
werden, doch wenn du die Muskeln entspannst, wird es nur 12
halb so sehr wehtun. Vielleicht hast du auch das große Glück 13
und verlierst du das Bewusstsein. Ansonsten finde dich damit 14
ab, dass du mit deinem Einverständnis die Welt ein Stück 15
weit verbessern kannst.“ 16
„Ich war nicht einverstanden.“ 17
Die Weißmaske ignorierte meinen Einwurf. Dass ihr 18
Versuchskaninchen, welches wie auf der Schlachtbank vor 19
ihnen zappelte, nicht als Festtagsbraten herhalten wollte, 20
schienen sie - wenn überhaupt - nur nebensächlich zu 21
registrieren. „Lehne dich zurück, denke an etwas Schönes.“ 22
Friss das Unkraut, mein Häschen. Friss, damit du fett 23
wirst, um mir viel Fleisch zu geben. 24
Mit aller Kraft hob ich den Kopf ein Stück von der 25
Tischplatte, aber die erste Injektion hatte mich derart 26
geschwächt, dass mich augenblicklich eine Welle der 27
Mündigkeit erfasste. Du musst wach bleiben, Tim. Nicht die 28
Schäfchen am Himmel zählen… 29
159
Die Gestalt öffnete erneut den Mund, als wolle sie 1
sprechen, doch ihre Worte klangen gedämpft. „Denn für den 2
Fall, dass du nicht überleben wirst, wird dies deine letzte 3
Erinnerung im Jenseits sein, mein Junge. Dich über auf die 4
Risiken einer solchen freiwilligen Untersuchung aufzuklären, 5
erscheint mir als überflüssig.“ 6
„Ich habe mich nicht freiwillig gemeldet.“, erwiderte ich 7
lahm. Meine Lider flackerten. Nicht einschlafen… Tim! Nicht… 8
einschlafen… 9
„Die anderen auch nicht. Und doch haben sie Professor 10
Doktor Sir Maurice Anthony Scott geholfen, sowie auch du uns 11
nun helfen wirst.“ 12
Mit diesen Worten streifte er die Gummihandschuhe über, 13
vergewisserte sich ob seine OP-Kleidung und der Mundschutz 14
perfekt sahen. Meilen weit weg, vielleicht einen Meter von 15
meinem Kopf entfernt, plätscherte Wasser aus dem Hahn in das 16
Becken. Feuchte Finger strichen über meinen Arm, wurden 17
abgelöst von dem Tupfern eines Wattebausches. Der Geruch von 18
Desinfektionsmittel. Ein Räuspern unter der Maske. Dann zog 19
die Gestalt das zehn Zentimeter lange Röhrchen mit der 20
spitzen Nadel hervor - und stach zu. 21
Wie spät ist es? 22
Du weißt es nicht. 23
Wie viele Tage sind vergangen? 24
Du weißt es nicht. 25
Wie bist du hier hergekommen? 26
Du weißt es nicht. 27
Wie viele Weißmasken sind es gewesen, die dich derart 28
zugerichtet haben? 29
Du weißt es nicht. 30
160
Wie sehr haben sie dich und deinen Körper missbraucht? 1
Du weißt es nicht. 2
Völlig regungslos lagst du auf dem Operationstisch, die 3
Augen zusammengekniffen. Deine Arme waren zu beiden Seiten 4
mit Gurten an der Liege festgeschnallt worden. Durch den 5
durchsichtigen Schlauch in deinem Hals rann eine gelbliche 6
Substanz. Auf dem Bildschirm eines Gerätes pulsierte dein 7
Herzschlag: Der einzige Beweis dafür, dass in dir zumindest 8
noch ein Fünkchen Leben steckte. 9
Oder bist du, der Junge mit dem Narben übersäten, kleinen, 10
abgemagerten Körper - bist du, dieser Junge dort unten, - 11
bist du schon längst dort, wo du nicht hingehörst? 12
Du weißt es nicht. Du weißt es nicht. Du weißt es nicht. 13
Du weißt es einfach nicht. Doch ich, ich weiß es. Ich 14
weiß, dass die Schmerzen beinahe unerträglich sind. Ich 15
weiß, dass ich nicht so bin, wie du dort unten. Dass ich in 16
gewisser Weise über dir schwebe. Denn ich weiß, dass in mir 17
kleinem Feigling noch mehr Leben steckt, als in einer 18
Plastikpuppe, die sie der Länge nach aufgeschnitten hatten, 19
bloß um festzustellen, wie leer ihr Inneres ist. 20
Gegen meinen Willen schlug ich die Lider, nur um sie 21
gleich darauf wieder zu schließen, weil das grelle Licht 22
mich erblinden wollen zu schien. Es war wie der Fall von 23
einem Kettenkarussell, vielleicht auch wie das langsame 24
Auftauchen aus den schwarzen Tiefen des Meeres, zurück in 25
eine Welt, in der es Wärme gab - zumindest physikalisch 26
gesehen. 27
Erneut zwang ich mich, die Augen zu öffnen, und zählte 28
langsam bis fünf. Immer abwechselnd auf, zu, auf, zu, auf, 29
zu, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Auch mein 30
161
restlicher Körper erwachte allmählich aus dem 1
Dornröschenschlaf, in den mich die Spritze versetzt haben 2
musste. Vorsichtig drehte ich den dröhnenden Kopf ein Stück, 3
nur soweit, dass ich über die Tischkante hinweg, einen 4
großen Teil des Raumes überblicken konnte. 5
Alles weiß, perfekt weiß: Die Skalpelle und Werkzeuge 6
waren poliert, ebenso wie die Spritzen und Glasbehälter. Ein 7
ausgeleerter, silberner Mülleimer unter dem Waschbecken, in 8
dem sich kein überschüssiger Tropfen Wasser spiegelte. Kein 9
Staub auf den Neonlampen oder den Ablageflächen der 10
Schränke. Kein Geruch nach Schweiß. Sogar die Mäntel hingen 11
versteckt hinter einem sauberen, weißen, halbzugezogenen 12
Vorhand in Reih und Glied. 13
Ein beunruhigendes Bild der Ordnung aus einem bittersüßen 14
Albtraum, den ich tatsächlich für einen solchen gehalten 15
hätte, ließen sich nicht die schmerzenden Spuren an meinem 16
ganzen Körper finden. Kraftlos zerrte ich an den 17
Lederstriemen. Das ist einfach nicht fair! Sollte ich etwa 18
drauf warten, dass die Weißmasken zurückkamen?! 19
Wie die Sanduhr bei dem Gesellschaftsspiel „Tabu“ tropfte 20
die gelbliche, leicht säuerliche Flüssigkeit aus Tropf über 21
mir. 22
Ein Schäfchen springt über den Zaun,… zwei Schäfchen 23
springen über den Zaun… drei Schäfchen… vier… vier Schäfchen 24
springen über den Zaun… fünf… 25
Erschrocken riss ich die Augen auf. Meine Situation hatte 26
sich seit meiner geistigen Abwesenheit nicht verändert. Halb 27
nackt, mit aufgeknöpftem Hemd, sodass die vielen Narben auf 28
Oberkörper und Armen sichtbar wurden, und einem kratzigen 29
Schlauch im Rachen lag ich hilflos hingestreckt auf einer 30
162
Metallplatte. Würde man dich von oben fotografieren, könnte 1
man die Fotos als Jesus-Christus-Imitation des 21. 2
Jahrhunderts verkaufen. 3
Vielleicht… Schritte. Viele Schritte. Hektisch versuchte 4
ich eine Hand freizubekommen, doch ich war zu schwach. Bitte 5
nicht! Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder, schloss 6
sie. 7
Mühevoll kämpfte ich meine aufkommende Panik nieder. Ein 8
Schatten verdeckte das Neonlicht. Leises Gemurmel. „… 9
Zustand stabil… Blutgruppe AB… Negativ, minus… 10
Transplantation erfolgreich… Durchtrainierter Körper… Hohe 11
Lungenkapazität… Sechs, Sieben Monate… Keine Allergien…“ 12
Ein zufriedenes Räuspern ganz nahe an meinem Ohr. 13
„Perfekt!“ 14
Widerwillig schlug ich die Lider auf. Maurice Scott, in 15
einen roten Mantel gehüllt, umringt von drei Weißmasken, 16
beugte sich über mich. Seine kalten Finger strichen über 17
eine rote Beule am Arm, sodass ich augenscheinlich 18
zusammenzuckte. 19
„Guten Morgen, Nummer 448! Na, hast du gut geschlafen?“ 20
Ich schwieg, wobei ich demonstrativ den Kopf in die andere 21
Richtung drehte. Selbst wenn ich ihm hätte antworten wollen, 22
der Schlauch würde jedes meiner Worte im Keim ersticken. 23
Außerdem war der allgegenwärtige Meister der Letzte, den ich 24
jetzt sehen wollte. Sein warmer, salziger Atem strich über 25
meine Wange. Angewidert verzog ich das Gesicht. 26
„Vegetarier?“ Mit einem prüfenden Blick durch seine 27
aufgesetzte Brille überflog der Mann kurz eine Akte, die man 28
ihm reichte. 29
163
„Ja, Sir.“, fügte eine Eisbärin hinzu, die sich mit hinter 1
dem Rücken verschränkten Armen leicht verbeugte. „Der Junge 2
ernährt sich in der Tat ausschließlich von pflanzlichen 3
Produkten.“ 4
„Ab heute wirst du das Essen, was du bekommst, Nummer 448. 5
Wir werden sehen, wie lange du dem qualvollen Schrei eines 6
Körpers widerstehen kannst. Vielleicht zwei Tage, vielleicht 7
auch eine Woche. Hast du Hunger, mein Junge? Ja? Knurrt dein 8
Magen genau an dieser Stelle?“ Grob massierte er meine 9
Bauchdecke. „Wie schön wäre es jetzt, in der Sonne zu 10
sitzen, die Beine hochgelegt, einen Korb auf dem Schoß, 11
gefüllt mit den am besten duftenden Früchten, die du dir 12
vorstellen kannst? Deine Hand langt nach einer Orange, du 13
beißt genüsslich hinein.“ Seine freie rechte Hand ballte 14
meine Hand zu einer leicht geschlossenen Faust. „Der 15
Furchtsaft, so süß und klebrig, tropft aus deinen 16
Mundwinkeln, fließt in einem glasklaren Bächlein zu deinem 17
Kinn hinunter. In deinem Arm hältst du ein Mädchen, welches 18
mit einer Blüte im nussbraunen Haar den Kopf auf deine 19
Schulter drückt und leise ein altes Kinderlied säuselt. Ein 20
hübsches Mädchen, so jung wie eine unreife Erdbeere, so zart 21
und doch so voller, bunter, einzigartiger Lebensfreude, 22
nicht wahr, Nummer 448? Oder bist du für die Liebe noch ein 23
wenig zu… kindlich?“ 24
Während seiner hypnotisierenden Rede hatten seine 25
Handlager mich vorsichtig von dem kratzenden Schlauch im 26
Hals befreit. Aus Angst, ich könnte vor der Beschwörung des 27
Meisters flüchten oder ihnen sonst Unannehmlichkeiten 28
bereiten, zogen sie es jedoch vor, die Lederriemen nicht zu 29
lösen. 30
164
Mit einer dringlichen Handbewegung befahl Scott einem der 1
Eisbären das Weglegen der Akte, wobei er den roten 2
Mundschutz abnahm, kurz in der Mitte faltete und schließlich 3
in der Tasche seines Mantels verschwinden ließ. Dann erst 4
nahm er mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem 5
herbeigezogenen Stuhl Platz, die zwei verbliebenen 6
Weißmasken wie treue Fans mit ihm Seite an Seite. 7
„Ab dem heutigen Tage, Nummer 448, bist du ein offizielles 8
Mitglied von Kamikaze. Du hast wirklich ein beachtliches 9
Glück gehabt…“ 10
„Glück?!“, entgegnete ich heiser. 11
„Ja, Glück, dass ich dich in den Kreis des ewigen 12
Bündnisses aufgenommen habe.“ 13
„Sie haben mich nie danach gefragt. Sie haben mir nie die 14
Wahl gegeben, zu entscheiden.“ 15
„Es wäre auch lediglich Zeitverschwendung gewesen, die wir 16
uns ersparen konnten. Wie viel sind eigentlich 13 17
multipliziert mit 15, dividiert durch 5?“ 18
Ein wenig verwundert über die plötzliche mathematische 19
Aufgabe dachte ich drei Sekunden nach. 13 mal 15, geteilt 20
durch 5... „39!“ 21
„Anfängerglück“, kommentierte der Mann achselzuckend, die 22
Ellbogen auf die Schenkel gestützt. „Und 1476 addiert mit 23
596, dividiert durch 8?“ 24
Wieder spielte ich die Zahlenkombination kurz im Kopf 25
durch. 1476 plus 596, geteilt durch 8... „259!“ 26
„Richtig! Erstaunlich. Der Junge ist beinahe so begabt wie 27
Sie, Sir!“ Einer der Weißmasken klatschte begeistert in die 28
Hände, wofür er augenblicklich einen vernichtenden Blick 29
165
seines Meisters kassierte. „Ich meine natürlich… Sie 1
verstehen…“ 2
Nachdenklich rückte Maurice Scott die Brille auf seinem 3
Nasenrücken zurecht und runzelte die Stirn. Die Spitze 4
seiner weißen Ledersandalen tippten immer wieder auf den 5
gefliesten Boden. 6
Erneut ertappte ich ihn darin, wie er mich einzuschätzen 7
versuchte. Doch dieses Mal hielt ich seinem kalten Blick 8
stand, auch wenn er einen Eissturm aussandte, der die Erde 9
zum Zittern brachte, die Sonnenstrahlen zu gläsernen Zweigen 10
erstarren ließ, auch wenn er die Dunkelheit über uns senkte, 11
die Sterne und den Mond vom Himmel entführen ließ, ja sogar 12
dann, wenn er, den Hass in die Herzen einpflanzen ließ - 13
hielt ich seinem kältesten Blick stand. 14
Seine braungrünen Augen wurden hinter den entspiegelten 15
Gläsern seines gleichfarbigen Brillengestells wie unter 16
einem Mikroskop vergrößert. Ein flüchtiger Blick auf die 17
goldene Uhr eines amerikanischen Designers. 18
„Werten Sie Ihre Ergebnisse aus. Ich übertrage Ihnen die 19
Verantwortung, für meinen jungen Freund Sorge zu tragen.“ 20
Meinen Freund. Ich bin nicht Ihr Freund, Meister, sondern 21
ihr größter Feind. 22
Sommer, 1999. Vor fünf Jahren. 23
„Liebe Eltern, bitte verlassen Sie die Startbrücke. Ich 24
rufe nun den Laut 2 auf: 25
Bahn 1:Julian Kremer… Bahn 2:Max Paulus… Bahn 3:Felix 26
Meier… Bahn 4:Tim River…“ 27
166
Auf der Aschenbahn flimmert die Hitze der Sonne. Am Rand, 1
direkt hinter der metallischen Absperrung, werden wilde 2
Zurufe und letzte Glückwünsche laut. Auch Mama in ihrem 3
weißen Top mit der französischen Nationalflagge entdecke ich 4
in Mitten des chaotischen Menschenhaufens. Sie zwinkert mir 5
verschwörerisch zu, drückt mir die Daumen. Die anderen 6
Jungen, ebenfalls in viel zu langen Trikots, warten in 7
Starthaltung auf den Pfiff. Nur ich nicht: Ich warte auf 8
Papa. Auf meinen Papa, der am Tag meines ersten 9
Leichtathletikwettkampf dringend in einem Labor Test an 10
Jahrhunderte alten Blubbergetränken durchführen muss. Die 11
können nicht warten, meint er, bevor er mir zwanzig Pfennig 12
in die Hand legt, kauf dir ein Eis dafür, ja? Doch ein Eis 13
kostet dreißig Pfennig. 14
Ein letzter Blick in die Menge aus bunten T-Shirts und 15
Hütten. Auf die Platze… Der Schiedsrichter hebt die 16
Trillerpfeife an den Mund. Kamerablitze der anderen Eltern, 17
aufgeregtes Murmeln. Fertig… Papa kommt bestimmt noch. Ganz 18
sicher… Los! Der Pfiff ertönt schrill und laut in meinem 19
Ohr, reißt mich aus meinen Gedanken. Max Paulus geht in 20
Führung, dicht gefolgt von Felix Meier. Der rundliche 21
Schweizer hinter ihnen, Julian Kremer, beginnt zu humpeln, 22
schwankt, weint. Ich höre Mama rufen, aber nicht Papa. Lauf, 23
Tim, lauf. Ich nicke. Papa kommt bestimmt noch. Dann jage 24
ich los, nehme die Verfolgung der Spitze auf. Atmen, laufen, 25
atmen. Mein Knöchel schmerzt, weil ich, anstatt mich 26
aufzuwärmen, vor dem Tor gewartet habe, damit Papa den Weg 27
auf die Anlage findet, falls er kommt. Aber ich gebe nicht 28
auf. Aschestaub wird aufgewirbelt. Eine Kurve. Nur noch 29
167
wenige Meter bis zum Ziel. Lauf! Mit allerletzter Kraft 1
gelingt es mir, Felix einzuholen. Zweiter! Mama jubelt, doch 2
ich jubele nicht. Papa ist nicht da. 3
168
6. Kapitel 1
Ein lauter Paukenschlag unmittelbar neben meinem Ohr ließ 2
mich hochfahren. Mit gespreizten Beinen stand einer der 3
Gorilla über mir, eine im japanischen Kampfsport verbreitete 4
Trommel in der Hand haltend. Ich selbst lag zusammengerollt 5
wie ein Welpe auf einer dünnen Strohmatte, durch die ich 6
jedes einzelne Sandkorn im Rücken spüren konnte. Gong, Gong. 7
Erneut ein Schlag, der meinen Körper erzittern ließ. „Grüße 8
nicht den Abend, bevor du nicht den Morgen grüßt!“, knurrte 9
der dunkelhäutige Wächter, wobei er den in eine schmutzige 10
Decke eingewickelten Mann neben mir mit einem Tritt gegen 11
das Schienbein bestrafte. Mühsam streckte ich meine 12
schmerzenden Gliedmaßen, rieb mir wortwörtlich den Sand aus 13
den Augen, wobei ich mit der Müdigkeit um meinen 14
Orientierungssinn kämpfte. 15
Die Sonne flutete die steinernen Treppenstufen, die vom 16
anderen Ende des Raumes nach oben führten, ansonsten war es 17
dunkel. Husten, leises Ächzen, unterbrochen von dem 18
gelegentlichen Trommeln des Wächters. Es stank nach Urin, 19
wie auch nach Schweiß, faulem, feuchtem Stroh und 20
Essensresten - nach etwas unbeschreiblichen stank es. Es war 21
mir auch gleich, wie es stank. Gleich, wo immer ich auch 22
sein mochte - ob in einem Weinkeller auf der Rux de Assamble 23
in Paris, einem Bunker im Irakkrieg oder in einem 24
Friedhofsgrab. Egal, alles gleich. Ich war am Ende meiner 25
Kräfte. Ich konnte nicht mehr. Nicht mehr. Nicht mehr… 26
„Junge!“ Eine knöchrige Hand umkrallte meine linke 27
Schulter, zerrte mich von der Matte hoch. Ich versuchte, 28
mich zu wehren, trat, schrie - war zu schwach. 29
169
„Psst, mein Junge.“ Die andere Hand legte sich über meine 1
leicht geöffneten Lippen. „Stell dich nicht so an. Oder 2
willst du, dass dir der Wächter eins überzieht?“ 3
Der dunkelhäutiger Mann stützte sich auf eine Hacke, die 4
Beine gekreuzt, einen Strohkorb auf dem gekrümmten Rücken. 5
Sein kurz geschorenes Haar war von einem Kopftuch bedeckt, 6
wie auch sein restlicher, abgemagerte Körper. Hektisch ließ 7
er seinen Blick umher schweifen, um sicher zu gehen, alleine 8
zu sein. 9
„Beruhige dich, Kleiner. Ich will dir nichts tun, ich 10
möchte dir helfen. Tim ist dein Name, nicht?“ Seine zu einem 11
Flüstern gewordene Stimme, sein warmer Atem nahe an meinem 12
Ohr. Als ich ihm nickend etwas entgegnen wollte, legte er 13
den Skelett artigen Zeigefinger auf meine Lippen. Wir hätten 14
keine Zeit für Fragen. Ich solle ihm einfach vertrauen. Er 15
bückte sich nach einem Tuch, band es mir um den Kopf. „Gegen 16
die Sonne.“, verkündete er lächelnd. In seiner Oberzahnreihe 17
fehlten zwei Zähne. „Folge mir.“ 18
Zögernd stieg ich die Treppenstufen herauf in das 19
gleißende Sonnenlicht. Drückend, schwül und doch seltsam 20
kalt schlug mir die Luft entgegen, ließ mein Hemd im Wind 21
flattern. Mit vor die Augen gelegter Hand begann ich zu 22
husten. Staub kratzte in meinem Hals, an meinem ganzen 23
Körper. Wo bin ich? 24
Ein flüchtiger Blick nach rechts, nach links, wieder nach 25
rechts. Eine Plantage, wie aus dem 17. Jahrhundert in den 26
Vereinigten Staaten von Amerika: Orangen, prächtige, runde 27
Früchte mit rotgelber Schalte, süß im Geschmack, hingen wie 28
leuchtende Lampions an den mannshohen Bäumen. Überall ein 29
frisches Dunkelgrün, gemischt mit einem goldbraun Ton, der 30
170
über den ungepflasterten Wegen und dem Feld lag, welches bis 1
in den tiefblauen Himmel reichen zu schien. Der Atem der 2
Freiheit strich mir sacht über die Wangen. Friedlich, still, 3
beinahe harmonisch im Einklang mit der Natur. Männer mit 4
großen Körben auf ihren Rücken. Frauen, die ihre 5
Neugeborenen stillten, sie in den Schlaf wiegten, 6
fürsorglich ihre Stirn küssten, bevor sie sie unter Zwang 7
zweier Wächter in ein quadratisches Backsteinhaus bringen 8
mussten. Kinder. Sie alle marschierten wortlos wie eine 9
Meute Tiere zu ihren Arbeitsbezirken, manche auf das Feld, 10
andere in die Verpackung oder die Wäscherei. 11
Ein Maschendrahtzaun war mit Ausnahme eines Wachturms das 12
Einzige, was die Grenzen der Plantage kenntlich machte. 13
Irritiert wanderte mein Blick über das metallische Geflecht. 14
Es schien zu niedrig, um die Menschen hier einzusperren - 15
und doch riskierte niemand die Flucht. Warum? Ein Mann, wie 16
Maurice Scott, einer war, ein Mann, der am liebsten 17
kontrollieren wollte, wann man atmet oder schluckt, dieser 18
Mann hatte an dieser Stelle seine Klauen kaum ausgefahren. 19
Was bedeutet… Du bist nicht mehr gefangen! Irgendwie, 20
irgendwer hat dich gerettet. Du bist frei. Irgendwo, nur wo? 21
Egal, ganz egal. Von dem diesem Glückgefühl getrieben wollte 22
ich davon stürmen. Seltsamerweise hielt mich niemand zurück, 23
niemand schrie, niemand machte auch nur die Anstalt, mich 24
festzuhalten. Verwirrt blieb ich stehen, warf einen Blick 25
über die Schulter. Der Afrikaner war verschwunden, vom Winde 26
verweht. Nur der Bunker klaffte wie ein Loch in dem 27
rotbraunen Boden. Dunkel war es dort unten, dunkel, heiß, 28
beengend. Lauf, Tim, lauf! Ein letzter fragender Blick, 29
Schulterzucken. Tief atmete ich ein, aus, wieder ein. Lauf 30
171
weg, einfach weg! Auf einem alten Holzklappstuhl hockte 1
einer der Gorillas vor den Treppenstufen, die ebenfalls 2
einem Bunker gehören mussten. Er blätterte in einem Buch, 3
völlig in das Lesen vertieft, und schien mich nicht einmal 4
bemerkt zu haben. Gebückt, im Schatten eines Orangenbaumes, 5
schlich ich an ihm vorbei, Richtung Maschendrahtzaun, der 6
Grenze zur endgültigen, normalen Welt - wenn normal der 7
richtige Ausdruck war. Denn was war schon normal? War es 8
normal, dass ein Einzelner über viele andere herrschen 9
durfte? Sicherlich nicht. War es normal, dass sich die 10
Unterdrückend nicht zur Wehr setzten? Sicherlich nicht. Und 11
war es normal, dass man einem Feind so einfach das 12
Schlachtfeld übergab und ihn ziehen ließ? Sicherlich… Nein! 13
Ich wäre naiv, wenn ich dies geglaubt hätte. Maurice Scott 14
hatte immer ein Aas im Ärmel. Immer. Warum also nicht jetzt? 15
Ein Aas, welches er heimlich unter dem Tisch hervorholte, 16
wie aus dem Nichts herbeigezaubert, plötzlich, ohne, dass 17
man ihn hätte davon abhalten können. Ein Aas, welches er 18
herabsegeln ließ, welches wie ein Geier auf die übrigen 19
Karte herab schoss. 20
Noch versteckte es sich oberhalb des Ellenbogens, wie ein 21
Baby in den Schlaf gewogen zwischen den Knochen und 22
angespannten Muskeln. Dort, ganz ruhig, still unschuldig, 23
dort lag es, eingebettet in die feinen, braunen Härchen und 24
der nach einem Gemisch aus Schweiß und teurer Seife 25
riechender Haut. Bis es erwachte, zuerst die großen, 26
schwarzroten, gefährlich funkelnden Augen, dann die 27
witternde Nase, die sich wie die Blüte einer 28
Fleischfressenden Pflanze aufblähte, und zuletzt der ganze, 29
abstoßende Körper mit ausgefahrenen Krallen, bereit 30
172
jederzeit sein Opfer zu zerreißen. Ein Aas. Verunsichert 1
umklammerte ich das heiße Metall. Blick nach rechts, nach 2
links, wieder nach rechts. Nur dieser eine Wächter, der in 3
sein Buch vertieft war, sonst niemand. Wo war das Aas? Wo 4
lauert es mir im dunklen Wald auf, so wie der böse Wolf dem 5
Rotkäppchen auflauert oder die Katz auf die Maus? 6
Vorsichtig, immer wieder umherschauend, setzte ich den 7
linken Fuß in die Masche, die in meine Sohle schnitt. 8
Unwiderruflich schossen mir die Tränen in die Augen, 9
salzige, braune Tränen. Mit zusammengebissenen Zähnen 10
kletterte ich weiter. Nur noch ein kleines Stück, Tim. Du 11
hast es geschafft… Beinahe geschafft, denn plötzlich, gerade 12
als ich im Begriff war, ein Bein über den Zaun zu schwingen, 13
begann mein rechter Oberarm zu pulsieren. Die Haut 14
verkrampfte sich wie nach einer Impfung, juckte derart 15
bestialisch, als würden tausende von Mücken an dieser einen 16
Stelle ein Kaffeekränzchen veranstalten. Komm, Tim, nur noch 17
dieses eine Stück… Doch das Bedürfnis, mich zu kratzen, 18
überwog. Die eine Hand um das metallische Geflecht 19
geklammert, fuhren die abgekauten Fingernägel der anderen 20
über den Arm, hinterließen rote Striemen. Widererwarten 21
wurde der Juckreiz unkontrollierbar größer, sodass ich bald 22
die Zähne hinzunehmen musste. Tim, klettere weiter. 23
Verdammt, du Feigling. Klettere endlich weiter! Das ist bloß 24
ein Stich, ein kleiner unbedeutender Stich. 25
Der Blick in die Ferne schenkte mir neue Kraft. Kay wartet 26
dort draußen auf dich! Sicherlich haben ihre Eltern etwas 27
gegen dieses Kribbeln. Einen Zaubertrank vielleicht. Kay… 28
Wie ein achtzigjähriger Mann hob ich das Bein über den 29
Zaun. Mathieu, der arme Mathieu, den du befreien musst, der 30
173
vielleicht zusammengeschlagen auf einem Bett lag ohne 1
Matratze und alleine zu schwach war, sich nicht gegen den 2
Meister zu wehren, braucht dich ebenfalls. 3
Nochmals streiften die Zähne über meine errötete Haut, 4
dann schwang ich unter Stöhnen das zweite Bein herüber. Das 5
Pochen wurde noch energischer, ließ mich beinahe wahnsinnig 6
werden. Zum ersten Mal begutachtete ich den Arm genauer. Zu 7
meinem Entsetzen war die Haut an dieser einen Stelle auf die 8
Größe eines Tischtennisballes angeschwollen - und dehnte 9
sich augenscheinlich aus. Schwindel erfasste mich. Plötzlich 10
schien die Erde so weit entfernt zu sein. 11
Der Wächter, der nun herbeieilte, schrumpfte auf 12
Ameisengröße. „Junge!“, brüllte er auf Französisch, „Sieh es 13
ein. Es hat keinen Sinn. Du wirst es nicht schaffen. Komm 14
runter!“ 15
Widerwillig schüttelte ich den Kopf, bereit für den 16
entscheidenden Sprung. 17
„Nein!“ 18
„Du hast keine Chance, zu entkommen, Junge! Komm zurück. 19
Ich werde dir diese einmal noch helfen.“ 20
„Nein…“ Zögernd löste sich die eine Hand von dem Geflecht. 21
Tim, verdammt, spring! Ich schluckte. Wie tief würde ich 22
fallen? Würde es wehtun? Nein, Tim, du darfst nicht darüber 23
nachdenke. Spring endlich! Die zweite Hand legte sich 24
besänftigend auf die juckende Stelle. Bestimmt würde ich mir 25
alle Knochen brechen, wenn ich spränge. Vielleicht gäbe es 26
auch einen anderen Weg… Nein, Tim, nur noch dieses eine 27
letzte Stück. Dann bist du frei. Tu es für Kay, für Mathieu 28
und auch für Tess, damit sie dich nicht länger ertragen 29
174
muss. Tu es einfach. Tief atmete ich durch. Ja, einfach tun. 1
Nicht denken. Streck diesem fiesen Aas die Zunge raus. 2
„Junge, glaubst du wirklich, du bist der Einzige, der 3
versucht, zu fliehen? Ich kenne dich nicht, doch ich weiß, 4
dass du ein Narr sein müsstest, wenn du sprängst.“ 5
Ich zögerte. „Egal.“ 6
„Vielen Menschen vor dir hat die Version der Freiheit dort 7
draußen den Kopf verdreht. Mir auch. Selbst wenn du es 8
schaffen solltest, diesen Zaun zu überwinden, wird ein 9
weiterer auf dich warten. Aber mit einem gebrochenen Bein 10
wirst du es nie schaffen, auch diesen zu besteigen.“ 11
Erneut zögerte ich. „Egal.“ 12
„Denke an die Männer, Frauen und Kinder. Kannst du es mit 13
deinem Gewissen vereinbaren, dass sie, wenn sie heute Abend 14
müde und erschöpft von den Feldern heimkehren, auf ihre 15
Mahlzeit verzichten müssen. Deinetwegen. Einige sind 16
vielleicht zu schwach. Ihre Körper schreien nach Essen, 17
selbst dann, wenn es nur eine Orange oder ein Brot ist. 18
Deinetwegen, nur deinetwegen, könnten sie den morgigen Tag 19
nicht mehr erleben. Bist du wirklich bereit, dies aufs Spiel 20
zu setzen, Junge?“ 21
Ich zögerte ein drittes Mal, nur kurz, dann sprang ich von 22
dem Zaun herab zur Erde zurück. 23
Was bist du nur für ein Idiot, Tim? Wütend über meine 24
Dummheit scharrte ich mit den Füßen in der lockeren Erde, in 25
der im Laufe der Zeit ein größeres Loch entstanden war. 26
Wahrscheinlich würde hier an dieser Stelle bald ein neuer 27
Orangenbaum zu stehen kommen. 28
Ich hätte mich Ohrfeigen können. Genauso, wie der Wächter 29
es mit seinen beschwörenden Worten beabsichtigt hatte, war 30
175
ich auf die falsche Seite gesprungen, direkt in den Schoß 1
des Mannes zurück. Meine einzige und vorläufig vielleicht 2
sogar letzte Chance zur Flucht in die Freiheit war somit 3
wieder einmal verspielt. Wie konntest du nur so… so naiv 4
sein? Wieder mal hast du die Anleitung exakt befolgt, ganz 5
wie man es von dir erwartet. Meine auf dem Rücken 6
verschränkten Arme strichen über die heiße Haut. Einen 7
Sonnenbrand, großartig! Wenigstens hatte das Jucken auf 8
mysteriöse Weise aufgehört, sodass mich lediglich die roten 9
Striemen daran erinnerten, dass es nicht bloße Einbildung 10
gewesen war. Mein Blick wanderte zu dem Maschendrahtzaun. 11
Von hier unten sah es nach einem Katzensprung aus, aber von 12
dort oben… Seltsam. Mich beschlich das Gefühl, dass Scott 13
seine Finger im Spiel hatte, sogar dann, wenn er weit 14
entfernt, jenseits des Zauns, in seinem Büro hockte, die 15
Schneekugel leicht schüttelnd, damit genau 69 16
Plastikfassetten auf uns herabrieselten. Nur, wenn dem so 17
war, hätte ich dann überhaupt auch nur einen geringen 18
Vorteil, den ich nutzten konnte, bevor der Mann jenen 19
ebenfalls enttarnte? Es musste doch einen Weg. Es musste 20
einfach. 21
„Wie heißt du?“ 22
Verwundert, dass man mit mir sprach, wandte ich den Kopf 23
in die Richtung, in der ich die Stimme vermutete. Sie 24
gehörte einem kleinen Mädchen, das sich neben die Holzkiste, 25
an die sie mich gekettet hatten, niederkauerte und 26
vorsichtig im Schneidersitz zu schaukeln begann. 27
Ich zögerte. Was sollte ich ihr antworten? Nummer 448 28
oder…? „Tim. Und du?“ 29
„Nummer 274.“ 30
176
„Und dein richtiger Name?“, hakte ich nach. 1
„Nummer 274.“ 2
Augenblick ballte ich die Fäuste hinter dem Rücken. Wer 3
gab diesem Mann das Recht, einem anderen Menschen das 4
Einzige zu nehmen, was er noch besaßen: Seinen Name? 5
Plötzlich kam mir eine Idee. Eine Idee, wie ich nicht nur 6
der Kleinen endlich eine Identität verschaffen konnte, 7
sondern auch eine, wie ich mich Scotts Tyrannei ein wenig 8
widersetzen konnte. 9
„Was hältst du davon, wenn ich dich…“ Ich betrachte die 10
Kleine aufmerksam. Ihr Haar, zu zwei Zöpfen geflochten, 11
schimmerte im Licht der Mittagssonne dunkelbraun mit 12
rötlichen Strähnchen. „…wenn ich dich Reni nenne?“ Dabei 13
dachte ich an meine Kindergärtnerin Renate. Eine 14
liebenswerte Seele, zu allen gerecht, gleich wie oft man 15
auch in die Hosen gemacht oder mit Sand geworfen hatte. 16
„Reni? Das ist ein toller Name.“ 17
„Wir heißen einfach Tim und Reni, einverstanden? Aber es 18
muss vorerst unser Geheimnis bleiben, ja?“ 19
Das Mädchen zwinkerte verschwörerisch und legte den 20
Zeigefinger auf ihre rosigen Lippen, als ein Schatten ihr 21
Gesicht bedeckte. Stille. Dann ein dumpfer Schlag, gefolgt 22
von einem erstickenden Schrei. Der Wächter, mit der einen 23
Hand immer noch wild in der Luft wedelnd, zerrte sie vom 24
Boden hoch. 25
„Habe ich dir nicht ausdrücklich befohlen, mit Nummer 268 26
und 257 die Kisten zu säubern, Nummer 274!“, knurrte er 27
böse, wobei er sie derart grob von sich stieß, dass die 28
Kleine stürzte, wofür sie erneut einen Hieb dieses Mal in 29
ihr knochiges Gesicht kassierte. 30
177
„Lassen Sie sie in Ruhe!“, brüllte ich, im Versuch die 1
Kette zu lösen, was natürlich sinnlos war. Tatenlos musste 2
ich zusehen, wie der Mann mit einem spöttischen und zugleich 3
hasserfüllten Grinsen das Mädchen vor sich her zurück zu 4
einer Kiste zog. Sie selbst schien nicht einmal Anstalt zu 5
machen, sich zu wehren. Unter Tränen kniete sie neben einer 6
Box mit dem Aufdruck einer riesigen Orange nieder und 7
schenkte mir lediglich einen letzten traurigen Blick. Nun 8
baute sich der Wächter vor mir auf, sodass ich mir wie ein 9
Insekt vorkam, dass Sekunden später von einem Schuh 10
zerquetscht werden würde. Dennoch… Ich kam mir mit einem Mal 11
stärker vor. Aufrichtig starrte ich in die dunklen Augen und 12
erkannte hinter der Fassade etwas, worüber Maurice Scott 13
sicherlich entrüstete gewesen wäre, wenn jemand ihn darauf 14
aufmerksam gemacht hätte: die Unsicherheit. Freilich, der 15
Wächter war ein Afrikaner. Dieses Mädchen könnte seine 16
Tochter sein. Sie zu verletzten, kostete selbst ihn 17
Überwindung. „Nummer 448“ Er zuckte gleichgültig die 18
Achseln. „Die Geduld des Meisters hat auch ein Ende.“ 19
Ich seufzte. „Schätze Sie haben Recht, Ingo.“ 20
„Ingo?!“ 21
„Ich nenne Sie einfach Ingo, wenn Sie damit einverstanden 22
sind.“ 23
„Was?“ Der Mann starrte mich mit offenem Mund an, 24
unwissend, ob er mich ernst nehmen sollte. 25
„Das nehme ich als ‚Ja‟, Ingo.“ 26
„Ingo? Moment… Was?“ 27
„Irgendjemand muss Ihnen doch einen Namen gegeben haben. 28
Einen Richtigen. Nicht einen wie Ihr großartiger Meister.“ 29
178
„Meine Mutter…“ Er dachte kurz nach. „Ja, ich erinnere 1
mich. Jabali. Jabali, nach meinem Großvater. Aber seit ich 2
für Sir Scott arbeite, benutze ich nur noch meine 3
Erkennungsnummer.“ 4
„Wieso?“ 5
„Ich… Ich muss dringend zurück an die Arbeit.“ 6
„Okay, Jabali, wir sehen uns. Ich kann dir ja nicht 7
nochmals davonrennen, Jabali. Jabali, pass gut auf dich auf, 8
ja, Jabali? Oder könntest du mich nicht losbinden? Die Kette 9
schneidet so. Aua, Jabali. Bitte, ich werde dir auch keine 10
Unannehmlichkeiten bereiten. Versprochen! Großen Ehrenwort.“ 11
Meine Worte zeigten Wirkung. Nach kurzem Überlegen 12
willigte der Wächter schließlich ein. Mich durchfuhr ein 13
stechender Schmerz, als sich ein Splitter des Metalls in 14
mein Handgelenk bohrte. Dann jedoch sprang die Handschelle 15
endlich auf. Ich war frei! Für einen Augenblick überkam mich 16
erneut das Verlangen, sofort das Weite zu suchen. Vielleicht 17
konnte ich es ein zweites Mal wagen, über den Zaun zu 18
klettern. Vielleicht würde ich es dieses Mal schaffen. 19
Vielleicht… Nein. Ich durfte das Vertrauen des Mannes nicht 20
missbrauchen. Selbst dann nicht, wenn es noch so schwierig 21
war. „Danke, Jabali.“ Lascher Händedruck. Zwinkern. „Ich 22
werde dir bestimmt nicht zur Last fallen.“, beteuerte ich 23
noch mal mit einem leichten Lächelnd auf den Lippen. 24
Der Wächter nickte, wenn auch ein wenig verunsichert, wie 25
es schien. Hatte er einen Fehler begangen, diesen Jungen 26
einfach laufen zu lassen? 27
Nein, dachte ich, du hast genau das Richtige getan, 28
Jabali. Denn unbewusst hast du dich auf die Seite des 29
Feindes deines Meisters geschlagen. 30
179
Mit ihrem heißen Atem drückte die Luft alles nieder. Das 1
Glas des Thermometers schien förmlich schmelzen zu wollen. 2
Träge schleppte ich mich zu einem Orangenbaum. Mein Blut 3
kochte, der Schweiß verdampfte noch auf meiner Haut. Jabali, 4
der mit zwei weiteren Männern die Essensausgabe bewachte, 5
blinzelte zu mir herüber. Die Afrikaner waren an die Hitze 6
gewöhnt. Munter genossen sie ihre Mahlzeit - Ignames, einen 7
Brei, der ähnlich wie Kartoffelpüree schmeckt, dazu eine 8
Schale Wasser - und unterhielten sich leise miteinander. Die 9
Mütter säugten ihre Babys, wickelten sie. Obwohl bei solchen 10
Bedingungen - harter körperlicher Arbeit, geringer Pause, 11
schlechtem Essen, das in etwa der Energiezufuhr eines 12
Müsliriegels entsprach - jeder Europäer sofort das Handtuch 13
weggeworfen und erbitterten Widerstand geleistet hätte, 14
muckste sich hier auf der Plantage niemand. Nicht einmal die 15
hungrigen Kinder stibitzten heimlich eine Orange. Seufzend 16
lehnte ich mich gegen den Stamm des Baumes. Eine Frucht 17
kullerte neben mir zu Boden. Die Versuchung, genüsslich 18
hineinzureißen, war groß, denn wenn man nicht arbeitete, 19
bekam man nicht einmal das Wenige. „Nimm sie.“ 20
Erstaunt sah ich auf. Mathieu stützte sich auf seine Hacke 21
und betrachtete stolz den Korb, in dem er eifrig die Orangen 22
gesammelt hatte. Grinsend sprang ich auf, fiel ihm 23
überglücklich um den Hals. 24
„Mach mal langsam. Du musst mich ja nicht gleich 25
erdrücken.“ Er lachte, tätschelte mir zwinkernd den Kopf. 26
„Hallo, Heulsuse.“ 27
Zu gerne hätte ich ihm etwas entgegnet, ihn in die Seite 28
geboxt, doch die Freude, ihn endlich wieder zu sehen, 29
überwältigte. „Wie hast du mich gefunden?“ 30
180
„Immer dem größten Chaos nach. Nein, ernsthaft. Die Leute 1
reden schon über dich.“ 2
„Ehrlich?“ 3
„Ja. Ich frag mich, was die an so einem Feigling finden. 4
Kann doch keiner behaupten, dass du auch nur ansatzweise 5
mutig bist, oder? Ich meine, die kleine Heulsuse und…“ 6
Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich bemerkte, 7
wie mich alle anstarrten. Freilich, ich war der einzige 8
Hellhäutige hier. Der Einzige, der drei Sprachen sprechen 9
konnte. Der Einzige, der vielleicht das große Pech gehabt 10
hatte, die Tochter des Sirs persönlich kennen zu lernen. Der 11
Einzige, der nur zufällig das Richtige getan hat, indem er 12
Kassian rettete. Der Einzige, der naiv genug sein konnte, zu 13
fliehen. Der Einzige, der einem kleinen Mädchen einen Namen 14
gab… 15
Der Einzige, der Widerstand leistete, unabhängig davon, 16
wie sinnlos es auch war. 17
Ich schüttelte den Kopf. Aber all dies hatte weder etwas 18
mit Mut, noch sonderlich großem Kampfgeist zu tun. Sondern… 19
ja womit? Mit dem Willen endlich, frei zu sein, vielleicht, 20
mit dem Willen, sich noch nicht ganz mit seinem Schicksal 21
abgefunden zu haben, wie der eigene Vater es getan hatte. 22
Vor allem gab mir ein Mädchen Kraft, selbst wenn ich es nie 23
hätte zu geben können: Kay, mein bester Kumpel, meine kleine 24
Schwester, die sogar im Streit hinter mir gestanden hat. 25
„Mathieu, ich muss…“ 26
„Nummer 289. Ich weiß zwar auch nicht, warum, aber ist 27
ganz witzig, endlich einmal einen neuen Namen zu haben.“, 28
lenkte mein Freund wie auf Knopfdruck ein. 29
181
Entsetzt klappte ich den Mund auf und zu. „Ganz witzig… 1
Was?!“ 2
„Wenn du noch keine Namen hast, musst du es sagen. Sonst 3
kriegst du nachher riesigen Ärger. Die meinen, wir sollten 4
unseren alten vergessen. Deshalb: Nummer 289, falls du mich 5
mal suchen solltest.“ 6
„Du also auch! Ich habe gedacht, ich könnte dir vertrauen, 7
Mathieu!“ 8
„Nummer 289, merk‟s dir.“ 9
„Du bist völlig übergeschnappt! Du bist krank, wie all die 10
anderen auch. Sie hätten dich fast umgebracht. Sie sind 11
schuld, wenn wir nicht nach Spanien kommen. Das war doch 12
dein größter Traum, erinnerst du dich? Oder hat dir dieser 13
scheiß bescheuerte Typ von Sir das Gehirn gewaschen? Kniest 14
du schon vor ihm nieder? Küsst du seine Füße? Vielleicht 15
hast du das große Glück, dass dein Kopf irgendwann einmal in 16
seinem dritten Abstellraum hängt!“ 17
Beruhigend legte Mathieu mir die Hand auf die Schultern, 18
doch ich stieß ihn von mir. Tränen liefen mir über die 19
Wangen, rann salzig in meinen leicht geöffneten Mund. Grob 20
wusch ich sie weg. Es hat keinen Sinn. Er ist verloren, Tim. 21
Nein, nicht auch Mathieu… Nein! Ich japste. Der bittere 22
Geschmack der Niederlage lag mir auf der Zunge, gemischt mit 23
einem anwallenden Stück Wut, Verzweiflung und Frust. Maurice 24
Scott, dafür bringe ich Sie um…! 25
„Hey, nur weil ich einen neuen Namen habe, heißt das 26
doch noch lange nicht, dass ich nicht mehr dein Freund bin!“ 27
Mathieus Stimme klang seltsam, beinahe so, als ob es jemand 28
anders war, der dort die Lippen bewegte. 29
182
In kleinen Fetzen werde ich Sie zerreißen, wie einen Ast 1
in meinen Händen zerbrechen. Maurice Scott, das schwöre ich 2
Ihnen. Ich… Nein! Ich konnte nicht. Ich bin zu schwach… 3
Ein letztes Mal begegneten sich unsere Blicke. Mein bester 4
Freund… Großes Spanien-Ehrenwort. Dann stürmte ich davon. 5
Mathieu wollte mir folgen, doch Jabali hielt in an der 6
Schulter zurück. „Lass ihn alleine.“, hörte ich ihn 7
flüstern. 8
Ja, lasst mich alle in Ruhe! Ich hasse euch! Schluchzend 9
kauerte ich mich in einem Dickicht nieder, zog die Beine 10
näher an meinen zerkratzten Körper heran. Was war bloß mit 11
mir geschehen? Ein Insekt krabbelte über meinen Rücken. Die 12
Blätter rauschten im Nordwestwind, Richtung der spanischen 13
Küste. Und mit ihm kam die traurige Erkenntnis: Du bist 14
schuld. Denn du hast nicht nur dich, sondern auch Mathieu, 15
in Gefahr gebracht, indem du so egoistisch und versessen 16
darauf gewesen bist, endlich die Wahrheit zu erfahren. Und 17
zu welchem Preis? Du bist in die Fänge eines Wahnsinnigen 18
geraten - bloß, weil du deinem Vater vertraut hast, der 19
nicht ein einziges Mal in deinem Leben für dich da gewesen 20
war… Nein, das stimmte auch nicht. Papa war und ist ein 21
großartiger Mensch. Ein perfekter Mann, der dir viel 22
beigebracht und der sich immer mutig für alle anderen 23
eingesetzt hat. Ein Held. Du bist derjenige, der niemals 24
perfekt ist. Denn du bist ein selbstsüchtiger Feigling, weil 25
du nicht an Mathieu gedacht hast. Dir würde ich auch nicht 26
mehr vertrauen. Du hast es verdient, dass Scott dich dafür 27
bestraft… Nein. Niemand hat es verdient, nicht einmal du, 28
der größte Idiot, den die Welt kennt. Vielleicht kannst du 29
alles wieder gut machen. Vielleicht kannst du diese Menschen 30
183
befreien… Nein, Tim, du hast keine Chance. Du bist alleine, 1
ganz alleine. Sogar Mathieu steht auf der Seite des Sirs. 2
Alle deuten sie herablassend mit dem Finger auf dich, sogar 3
die grünen Marsmensch oder die Götter, Zeus, Venus, Jupiter. 4
Niemand, nicht ein Einziger im ganzen Weltraum oder noch 5
weiter entfernt, ist bereit, dir zu helfen. Womöglich wäre 6
es besser, wenn du eine Ameise wärst, ein rotbraunes 7
Krabbeltierchen in einem nach totem Fleisch und faulem, 8
feuchtem Erdboden stinkenden Hügel, überfüllt von einer 9
riesigen, gut organisierten Gemeinschaft, die lediglich von 10
der Königin, der größten von allen, unterdrückt wird. Oder 11
ein süßer Welpe, in einer Familie, die dich jeden Tag bei 12
Wind und Wetter am Halsband hinter sich her über den Gehweg 13
zerrt. Oder aber ein Meerschweinchen, ein weiches Fellknäul, 14
im Käfig eines Kindes, ständig um Futter oder um 15
Streicheleinheit bettelnd, die immer geringer werden. 16
Vielleicht auch eine Gazelle in der Wüste, ständig in der 17
Angst bei einem Löwenangriff zu sterben. Ein Fisch in von 18
dem Öl verschmutzten, abgestandenen Hafengewässer. Ein Vogel 19
in einer Großstadt… Nein, Tim. Verdammt! Meine Hand krallte 20
sich um eine Wurzel. Ich durfte mir nicht weiter den Kopf 21
darüber zerbrechen, was wäre wenn. Das brächte Mathieu auch 22
nicht wieder zurück. Verdammt, du tust, als sei er völlig an 23
Scott verloren! Du brauchst ihn nicht. Warte ab! Irgendwann 24
kommt er sicherlich zu dir und bittet dich um Verzeihung, so 25
lang konnte er gar nicht schmollen. Bestimmt nicht. 26
Irgendwann boxt er dich wieder in die Seite und alles ist 27
okay. Irgendwann… Hoffte ich jedenfalls. 28
Die Sonne ging auf, ging unter. Ein Tag. Die Sonne ging 29
auf, ging unter. Zweiter Tag. Und immer dann, wenn die Sonne 30
184
aus ihrem Schlaf erwachte, begann die Arbeit. Und immer 1
dann, wenn die Sonne gähnend in ihr Bettchen huschte, endete 2
die Arbeit. Jeden Tag, jeden Tag aufs Neue. Die ganze Woche, 3
immer von vorne, immer dasselbe. Außer sonntags, da hatte 4
man zu lernen: Englische Wörter, um sich mit dem 5
hochwohlgeborenen Meister unterhalten zu können, der sich 6
jeden zweiten Tag einmal auf der Plantage blicken ließ. 7
Meistens, um eine Ration Essen zu streichen, weil wir zu 8
langsam arbeiteten, oder um aus Spaß ein wenig die Peitsche 9
zu schwingen, wenn nicht alles exakt nach seinen Wünschen 10
von statten ging. Nur Tess erschien nie auf dem Feld. Einige 11
der Kinder bezeichneten mich sogar Spinner, als ich 12
erzählte, dass Sir Scott eine Tochter in ihrem Alter hat. 13
Freilich, sie kannten nur, schlafen, essen, arbeiten, essen, 14
schlafen. Alles andere war ihnen fremd. Die Welt jenseits 15
des Zaunes, gleich dem Himmel so fern, so unerforscht. 16
Sofort am Morgen des dritten Tages, noch vor der 17
Dämmerung, hatte ich erneut zu fliehen versucht. Dieses Mal 18
an einer Stelle weiter im Norden. Aber wieder hielt mich 19
dieser verfluchte Juckreiz davor zurück, den Sprung zu 20
wagen. So fand ich mich damit ab, noch einige Zeit auf 21
dieser Plantage verbringen zu müssen. Nachdem Jabali 22
zufällig herausgefunden hatte - wie wusste ich auch nicht - 23
dass ich für mein Alter enorm clever war, bat er mich des 24
Öfteren um den ein oder anderen Gefallen, zu denen vor allem 25
das Führen von verschiedenen Listen und organisatorischer 26
Krimskrams gehörte. Obwohl mein Nebenjob als 27
„Taschenrechner“ zeitweise bedeutete, früh aufstehen zu 28
müssen, damit Scott nichts von alle dem mitbekam, half ich 29
ihm trotz des herrschenden Misstrauens gerne. Schließlich 30
185
saßen wir alle irgendwie in demselben Boot. Einer leitete 1
das Schiff durch den gefährlichen Riff, der andere versuchte 2
sich beim Segeln. Dennoch: Der größte Teil der Afrikaner 3
hielt gebührenden Abstand von mir, da sie mich wohl für 4
einen Spion, einen Dummkopf oder etwas derart halten mochte. 5
Denn was hatte ein hellhäutiger Junge, der lediglich die 6
„leichte“ Aufgabe übernahm, zu übersetzen, und nicht auf dem 7
Feld mitarbeitete wie alle anderen auch, was hatte dieser 8
unter ihnen verloren? Mathieu, mittlerweile vom Sammler zum 9
stolzen Ernter aufgestiegen, würdigte mich wider Erwarten 10
keines Blickes mehr. Dafür Reni umso mehr. Das kleine 11
Mädchen wich mir an keinem Abend von der Seite. Ständig 12
bettelte sie darum, dass ich mit ihr spielte oder ihren 13
Freunden Namen gab. Dabei war mein Kopf leer. Ich konnte 14
kaum noch denken, lief manchmal ziellos am Zaun entlang. Das 15
Gefühl, mich nicht wehren zu können, machte mich schier 16
wahnsinnig. So erfreute es mich auch, dass ich einmal in der 17
Gegenwart des Meisters absichtlich falsch übersetzte und es 18
daher Stunden bedurfte, alle Schwierigkeiten und 19
Missverständnisse zu beseitigen. Jeden Tag, selbst wenn die 20
Hitze mich noch so niederdrücken zu wollen schien, erkundete 21
ich mein Gefängnis. Nach einer Woche hatte ich mir jeden 22
Baum eingeprägt und wenn jemand seine Gruppe verlor, konnte 23
ich ihn sicher zurückleiten. Eifrig fertigte ich Skizzen 24
dieser neuen Welt an, markierte Stellen, an der der Zaun 25
brüchig war oder die sich wegen der lockeren Erde besonders 26
gut für einen Tunnelbau eigneten. Denn, obwohl Maurice Scott 27
glaubte, mich endlich auf seine Perlenkette gefädelt zu 28
haben, kullerte ich immer noch auf dem Regalbrett herum. 29
186
Am Morgen des vierzigsten Tages, dem 9. Juli 2004, mitten 1
im afrikanischen Winter, wurden wir von einem Sturm 2
überrascht. Die Äste der Orangenbäume knickten ab, 3
verletzten die darunter pflückenden Menschen. Kisten und 4
andere lose Gegenstände wirbelten umher. Kinder schrien, 5
jammerten zusammengekauert in den unterirdischen Baracken. 6
Obwohl es Scott sicher missfallen hätte, die Arbeit 7
niederzulegen, stieg Jabali auf die wacklige Leiter zum 8
Wachturm herauf, um die Warnglocke zu läuten. Verzweifelt 9
klammerte er sich an der Sprosse fest, schlug jedoch mit 10
eiserner Willenskraft gegen das Metall. Ich bewunderte ihn 11
von den Treppenstufen aus. Instinktiv wollte ich ihm 12
Beistand leisten, aber sein Befehl, hier zu warten, war 13
ausdrücklich und unwiderruflich gewesen. Ein Afrikaner, 14
einen anderen stützend, humpelte auf die Baracke zu. Nummer 15
171 und 192 hackte ich auf der provisorisch 16
zusammengestellten Liste ab, die ich zu führen hatte. 17
Vorsichtig fuhr ich mit dem Kugelschreiber über die 18
einzelnen Namen. Baracke eins - vollständig, gezählte 19
fünfzehn Personen. Baracke zwei und drei ebenfalls. Und 20
vier… eins, zwei, drei, vier, fünf… vierzehn! Kopfschüttelnd 21
betrachte ich die kleinen Haken. Bestimmt hast du dich 22
verrechnet. Unmöglich, das… Vierzehn! Entsetzt ließ ich 23
meinen Blick über die Schatten im Inneren schweifen. Ein 24
Blitz schoss über den nachtschwarzen Himmel. Regen peitschte 25
mir ins Gesicht. 26
„Rein mit dir Junge!“, brüllte Jabali, den Sturm 27
übertönend, wobei er mich an der Schulter mitreißen wollte, 28
„Gut gemacht.“ 29
„ Es… Es sind nur vierzehn.“ 30
187
Wie versteinert hielt der Wächter inne, ungläubig auf das 1
karierte Blatt Papier starrend. 2
„Nummer 274... Sicherlich ein Missverständnis.“, erwiderte 3
er wenig überzeugend, lehnte sich gegen das Gemäuer, die 4
Hand vor Augen gelegt und sah hinaus in die Finsternis. Doch 5
ich wusste, dass er log. Selbst wenn ich es zu verdrängen 6
versuchte: Es irrte noch jemand dort draußen umher. Alleine, 7
völlig in Panik. Und als ob Gott es so gewollt hätte, 8
tauchte eine weinende Afrikanerin auf. „Meine Tochter…“ 9
„Sicherlich ein Missverständnis.“, wiederholte Jabali 10
nochmals mit gequälter Stimme. 11
Nummer 274... Nummer 274... Reni! Das kleine Mädchen, das 12
mich in den letzten Wochen immer wieder mit ihrem 13
unschuldigen Lachen daran erinnert hatte, dass es Zuneigung 14
gab, die Scott nicht zerstören konnte, dieses Mädchen 15
fehlte. Hektisch wandte ich mich um. Reni, du kennst den 16
Weg. Du bist hier aufgewachsen. Warum…? „Ich habe Angst, 17
wenn es da oben Bum-Bum macht.“ Natürlich! 18
„Es ist zu gefährlich. Niemand kann…“ 19
Doch, ich konnte sie finden. Wie oft hatte ich sie beim 20
Arbeiten besucht, ihr das ein oder andere Mal beim Pflücken 21
geholfen, wenn ihr Arme schmerzten. 22
„Ich werde sie suchen.“, entgegnete ich bestimmt, wobei 23
ich Jabali den Zettel in die Hand drückte und die Treppe 24
immer zwei Stufen auf einmal nehmend heraussprang. 25
„Nein, Junge.“ Der Mann packte den Stoff meines T-Shirts, 26
drehte mich zu sich herum. „Sei vernünftig. Es hat keinen 27
Sinn. Wir müssen abwarten.“ 28
188
Mein Blick blieb an Renis Mutter hängen, die die Hände vor 1
die Augen geschlagen hatte. Ihre kleine Tochter… Ich musste 2
ihr helfen. 3
Mit aller Kraft stieß ich ihn von mir und wurde 4
augenblicklich von der Dunkelheit verschluckt. Völlig 5
orientierungslos stolperte ich über zurückgelassene Kisten 6
und Macheten. Reni, wo bist du? Es erschien mir eine 7
Ewigkeit, seit ich zuletzt Licht gesehen hatte. Meine 8
Kleidung war durchnässt, die Lampe bereits erloschen. Nass 9
klebte das Haar in meiner Stirn. Wasser spritzte an meinen 10
Bein hoch, als ich in einen Pfütze trat. Erneut zuckte ein 11
Blitz über den Himmel, dicht gefolgt von einem Ohr 12
betäubenden Donnergrollen, als wollen beide gleichzeitig am 13
Horizont zerschellen. 14
„Reni!“, brüllte ich in die Schwärze hinein, „Reni, Reni!“ 15
Keine Antwort. „Reni!“ Mit dem Kopf stieß ich gegen etwas 16
Hartes, vermutlich einen Ast. Schmerzend rieb ich die Stirn, 17
tastete mit den Händen den Gegenstand ab. Feucht, sehr 18
feucht. Das musste bedeuten, dass ich… dass ich in der Nähe 19
des Weges war. Denn ansonsten würden die übrigen Bäume einen 20
Teil des Regens abgefangen, sodass die Äste nahe dem Boden 21
kaum hätten nass werden können. Auf den Knien krabbelte ich 22
über die Erde, gleich, ob ich nun wie ein Monster aussehen 23
mochte. 24
„Reni, wo bist du?“ Kies, festere Erde. Von irgendwoher 25
wurde kurzzeitig etwas reflektiert. Der Zaun! Gut, Tim, du 26
bist auf dem richtigen Weg! Dort drüben ist die Stelle, zu 27
der du Reni heute Morgen ein Stück begleitet hast. „Hey… 28
Nummer 274!?“ Wieder keine Antwort. Das durfte doch nicht 29
wahr sein! Vielleicht hatte Jabali recht gehabt und es 30
189
handelte sich lediglich um ein Missverständnis. Unmittelbar 1
über mir krachten die Wolken aneinander. Erschrocken kauerte 2
ich mich unter einem Baum nieder, erstarrte. Was bist du nur 3
für ein Feigling? Wie sollst du so ein kleines Mädchen 4
retten können? Das Verlangen, nicht noch einmal zu versagen, 5
trieb mich plötzlich an. „Reni!“ Leises Wimmern. „Wo bist 6
du?“ Ein atemloses, heiseres „Hier drüben“. Donner, der Ruf 7
des Himmels. Eine Orange traf mich hart am Kopf, als ich 8
mich erheben wollte. Sofort geriet ich ins Taumeln. Ein 9
Blitz, wie ein Aal sah er aus, kräuselte sich in der Nacht. 10
Jemand schrie, aber es war nicht Renis Schrei. Bevor ich 11
auch nur verstand, was dies bedeutete, wurde ich grob zu 12
Boden geschleudert. „Hey!“ Angewidert verzog ich das 13
Gesicht. Matsch war nicht gerade meine Leibspeise. „Bist du 14
verrückt!?“ 15
„Spiel dich nicht so auf, Heulsuse! Muss ein Feigling wie 16
du immer gegen den Strom schwimmen?“ 17
Ungläubig runzelte ich die Stirn. „Mathieu?“ 18
Doch als Antwort erhielt ich lediglich einen Schlag auf 19
den Rücken, der meine Zähne aufeinander presste. „Lernst 20
wohl nie dazu, wie? Nummer 289! Dachte, du wärst der kleine 21
Besserwisser. Oder ist das auch wieder eine deiner Lügen? 22
Aber, ich muss dir für diesen ganzen Scheiß hier danken.“ 23
Grob zog er mich hoch, schüttelte mich wie eine Puppe. 24
„Jetzt weiß ich wenigstens, wo ich hingehöre.“ 25
„Niemand gehört hier hin.“ Ich zögerte kurz. „Mathieu!“ 26
„Nenn mich gefälligst, Nummer 289!“ 27
„Nein, Mathieu. Ich wüsste nicht wieso.“ 28
Als ich seinen Handrücken erneut verspürte, wollte ich 29
zurückweichen, doch dieses Mal tat ich es nicht. Denn 30
190
unbewusst war ich stärker als mein ehemaliger bester Freund. 1
Glaubte ich jedenfalls. Die eine Hand zur Faust geballt, 2
hätte ich den längsten Fluch meines Lebens aussprechen 3
können… als jemand meine Arme auf den Rücken presste und mir 4
ins Ohr brüllte: „Prügelei im Gewitter?“ Jabali, Gott sei 5
Dank! 6
„Er hat mich angegriffen. Sofort ist er auf mich 7
losgegangen.“, winselte Mathieu und schlüpfte somit 8
unerwartet die Rolle des armen Jungen, dem Unrecht getan 9
wurde. 10
Kopfschüttelnd starrte ich ihn an. „Nein… Ich habe bloß… 11
Ich meine, ich…“ 12
„Mir ist es gleich, wer angefangen hat. Ihr habt gegen die 13
Vorschriften verstoßen und euch und andere zudem in Gefahr 14
gebracht. Deshalb kommt ihr jetzt zum Meister… Alle beide!“ 15
„Willkommen!“ 16
Maurice Scott, in einem maßgeschneiderten, olivgrünen Hemd 17
und einer Dieseljeans, nippte an einer Tasse Tee, stellte 18
sie jedoch sofort zurück auf ihren Unterteller, um mit einem 19
Fingerschnipsen zu verdeutlichen, dass man auch unsere 20
Gläser zu füllen hatte. Die Situation schien absurd. Wie 21
alte Freunde saßen wir an einem runden Tisch im 22
Wintergarten, mit einem aufgenötigten Getränk in der Hand 23
und warteten auf unser Todesurteil. Unser Henker seinerseits 24
wirkte vollkommen gelassen und entspannt. Dabei traf uns 25
jedes Wort wie ein kleines Messer tief in den Brustkorb. 26
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr euch gegen sämtliche 27
meiner Gebote aufgelegt habt. Freilich, vielleicht ist einer 28
von euch unschuldig. Diesem kann ich nur raten, die Wahrheit 29
zu sagen. Denn sonst wir es beide treffen und zwar harter 30
191
als euch lieb ist, meine Freunde“ Lächelnd ließ der Mann den 1
Blick über unsere Gesichter schweifen. „Nun?“ 2
„Er war‟s, Sir. Als er anfing, zu knallen, haben wir uns 3
in Sicherheit gebracht. Es war zu gefährlich, glauben Sie 4
mir. Nur er…“ Mein bester Freund machte eine Atempause. „Er 5
hat einen Fehler gemacht. Auf seiner Liste war Nummer 274 6
abgehakt. Zum Glück fiel mir auf, dass das kleine Mädchen 7
noch draußen umherirrte und so rannte ich heraus, um sie zu 8
suchen. Beinahe wär‟s mir auch gelungen, hätte er nicht auf 9
mich eingeschlagen. Vermutlich alles, damit sein Fehler 10
nicht auffiel.“ 11
Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte Mathieu mich nur 12
derart belasten? 13
„Nun, Nummer 448?“ Maurice Scott nickte mir zu, ohne 14
genauer auf die Aussage des Afrikaners einzugehen. „Was 15
sagst du dazu?“ 16
Ich zögerte. „Das ist nicht wahr…“, stotterte ich, 17
bewusst, wie gering meine Chancen standen, hier jemals 18
lebend raus zu kommen. Verdammt! Warum stotterst du? Wie 19
soll er dir denn so glauben? 20
Doch bevor der Mann endgültig mein Todesurteil 21
unterschreiben konnte, klopfte es an der milchigen Glastür. 22
Für Sekunden schöpfte ich neue Hoffnung, als ich erkannte, 23
um wen es sich bei dem unerbeten Gast handelte: Reni, eine 24
Decke über die Schultern gelegt, schlich mit gesenktem Kopf, 25
zitternd vor Furcht und Kälte, zu uns herüber, dicht gefolgt 26
von einem Gorilla und Tess. Letztere stützte die Ellbogen 27
auf den Tisch und lächelte mit derselben kühlen, sachlichen 28
Miene wie ihr Vater in die Runde. „Nummer 274 ist Zeugin.“, 29
mischte sie sich ein, ohne vorher von den Ereignissen in 30
192
Kenntnis gesetzt worden zu sein. „ Ich schätze, es ist 1
interessant und von hoher Priorität für uns, wie sie das 2
Vorgefallene bewertet.“ 3
Tess nickte dem Mädchen kurz zu, wobei sie ihre Rolle als 4
Staatsanwältin allerdings nicht ablegte. Reni schluckte 5
merklich. Endlich kommt die Wahrheit ans Licht. Aber die 6
Worte, die die Kleine aussprach, waren alles andere als 7
befreiend. 8
„Er“ Sie deutet mit ihren dünnen Finger auf mich. „Er hat 9
ihn überfallen. Ich hab‟s gesehen, weil ich mich versteckt 10
habe. Ich hatte so große Angst, dass ich mich nicht bewegen 11
konnte… und er, ja er, er hat den da geschlagen.“ 12
Triumphierend, aber auch ein wenig verwundert, riss 13
Mathieu die Arme hoch. 14
„Sehen Sie‟s, Sir. Ich bin unschuldig. Er war‟s, nicht 15
ich.“ 16
Fassungslos starrte ich Reni an. Nein, das ist alles ein 17
Traum. Ein böser, böser Traum. Ganz, ganz sicher bist du im 18
falschen Film. 19
193
7. Kapitel 1
Die Fleischmesser hingen blank poliert über dem Herd, auf 2
dem in einer Keramikpfanne ein herrlich duftendes 3
Reisgericht zubereitet wurde. Trotz des Spülmittels rochen 4
ihre Klingen nach bereits geronnenem Blut, ebenso wie der 5
weiße, geflieste Boden des beinahe fensterlosen Raumes roch, 6
die verschiedenen Geschirrsets oder die schwarzen 7
Ablageflächen. Der Geruch lag wie der verzweifelt 8
weggewischte Staub auf den Regalen, den Schränken, 9
vielleicht sogar auf der hohen, weißen Kochmütze des Mannes, 10
der mir nun in den Weg trat. 11
„Was hast du hier zu suchen?“ 12
„Ihr Meister schickt ihn. Er steht ab heute in Ihrer 13
Schuld.“ 14
Erstaunt wandte ich mich um. Tess lehnte gegen den 15
Innenrahmen der Tür, die sie nun hinter sich zuzog. „Das ist 16
Tim, Tim River. Sohn eines guten, leider kürzlich 17
verstorbenen Freundes meines Vaters. Nur…“ Sie machte einige 18
Schritte auf uns zu. „Nur hat er es mit seinen irrwitzigen, 19
typisch männlichen Streichen etwas zu weit getrieben. Sehen 20
Sie zu, welche Drecksarbeit Sie ihm aufnötigen können.“ 21
Der Koch grinste, wobei er den Kopf senkte. „Danke, Miss. 22
Soll ich dir zu dem Reis eine Muschelsuppe servieren? 23
Frisch, nach Mailänder Art.“ 24
Tess kicherte. „Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, aber: 25
Nein, danke.“ Die Hände ineinander gefaltet wandte sie sich 26
ab, doch ich spürte, wie sie noch einen kurzen Blick über 27
die Schulter zu mir zurück warf. 28
194
Sehen zu, welche Dreckarbeit Sie ihm aufnötigen können. 1
Tess hatte nicht übertrieben, als sie dies sagte. Der Mann, 2
ein hochnäsiger Tyrann in der Küche und ein Schwanz 3
wedelndes Schoßhündchen des Meisters, mit dem Namen Kurt 4
Mallium, versuchte fortan, mir jeden Tag zur Höhle zu 5
machen, sodass ich manchmal in den schlimmsten Stunden darum 6
betete, dass Scott mich endlich ans Kreuz über dem Kamin 7
nagelte. Vor allem das Abtrennen des Kopfes eines noch 8
zappelnden Fisches und das anschließende Ausnehmen wurden 9
zur Qual. Dennoch, irgendwie überlebte ich den Tag und den 10
darauf folgenden. Auch den nächsten und übernächsten. Erst 11
gegen Mitternacht, wenn ich mich erschöpft auf den 12
Kartoffelsack zwischen den stinkenden Müllcontainern 13
zwängte, wurde mir klar, wie sehr sich mein Leben verändert 14
hatte. Von dem kleinen Kinderzimmer in der Hochhaussiedlung 15
in Köln nach Afrika, zuerst in ein Dorf, dann in die Weiten 16
des Urwaldes und schließlich in dieses Gefängnis, aus dem es 17
keinen Ausweg zu geben schien. Die einzigen Menschen, denen 18
ich noch vertraute, haben mich im Stich gelassen. Dabei 19
kenne ich die Wahrheit, den Grund, weshalb ich eigentlich 20
hier verdamme, immer noch nicht. Oft hatte ich versuchte, 21
die Luft anzuhalten, bis ich erstickte. Aber jedes Mal, als 22
meine Lungen schmerzten, riss ich den Mund auf, Tränen in 23
den Augen. Es war eine schreckliche Zeit, schrecklicher als 24
die auf dem Feld, schrecklicher als alles, was ich bisher 25
erlebt habe. Doch auch diese Zeit würde vorüber gehen. Nach 26
drei Tagen schien es mir gleich, wie viele Tiere ich 27
umbrachte. Täte ich es nicht, täte es jemand anderes. 28
Ermordet werden würden sie sowieso. Versalzte ich die Suppe 29
absichtlich, müsste ich den ganzen Kessel bis zum letzten 30
195
Tropfen auslöffeln und anschließend eine neue aufsetzen, 1
ganz egal, wie schlecht es mir ginge. Je mehr ich mich dem 2
fügte, was der Koch von mir verlangte, desto weniger Schläge 3
bekam ich. Denn mittlerweile hatte ich eines begriffen: Die 4
konnten mir zwar meinen Körper nehmen, nicht aber meine 5
Gedanken. Dort oben war ich völlig frei. 6
Es war der Morgen des 17. Julis, eines warmen Samstags. 7
Gähnend rieb ich mir die Augen und bemerkte entsetzt, dass 8
ich beim Aufräumen der Küche eingeschlafen sein musste. Denn 9
mit der freien linken Hand umkrallte ich bereits den 10
Geschirrlappen. Hastig streckte ich meine Gliedmaßen aus, 11
bloß, um mit dem Kopf gegen den Herd zu krachen. 12
„Noch zu blöd, um richtig aufzustehen, was?“ 13
„Tess! Oh, mein Gott… Was… was machst du denn hier?!“ 14
Eifrig strich ich die altmodische Laufburschenuniform 15
gerade, bemüht, nicht allzu enttarnt zu wirken. 16
„Alles Gute zum Geburtstag.“ 17
„Du gratulierst mir zum Geburtstag?“ Träumte ich oder 18
stand gerade tatsächlich die Tochter des Sirs vor mir in der 19
Küche und streckte mir zögernd die Hand aus? 20
„Irrtum. Reine Höflichkeit. Ich gratuliere dem Tag, das es 21
nun einer weniger ist, den ich dich ertragen muss.“ 22
Unschlüssig rappelte ich mich vom Boden hoch. Meinte sie 23
das wirklich ernst? 24
„Danke.“ 25
„Nichts zu danken.“, erwiderte sie, wobei sie den Blick 26
durch den Raum schweifen ließ. „Bist du alleine hier?“ 27
Ich imitierte ihr hektisches Umherschauen. „Nein, hier ist 28
der Heilige Geist, weißt du. Und die Spinne hinter dem 29
Schrank. Ich nenne sie Spider.“, 30
196
„Sehr witzig. Wirklich sehr witzig.“, zischte sie böse und 1
stemmte die Hände in die Hüften. „Also: Wer ist außer deinem 2
Spinnchen und dem Heilige Geist noch in diesem Raum? Etwa 3
der Weihnachtsmann? Mag sein, dass dieser sich in der 4
Jahreszeit vertan hat.“ 5
„Okay, okay. Es tut mir Leid. Ich bin alleine. Die anderen 6
sind zum Markt gefahren. Sie kommen in etwa einer Stunde 7
zurück.“ 8
„Gut.“ Tess lächelte. „Hast du Lust, dass ich dir 9
Gesellschaft leiste?“ 10
Zu meinem Erstaunen beträufelte sie den zweiten Lappen mit 11
etwas Spülmittel und begann den Herd zu scheuern. „Was 12
guckst du denn so? Wir haben eine Menge zu tun.“ 13
Nach etwa einer halben Stunde blitzte die Küche wie neu. 14
Obwohl ich es nie für möglich hielt, war die Tochter des 15
Sirs tatsächlich eine großartige Hilfe gewesen, ohne die ich 16
zugegebenermaßen am Abend vermutlich wieder Schläge kassiert 17
hätte. Wir sprachen nicht viel miteinander. Eigentlich gab 18
es auch nichts, worüber wir hätten reden können. Still, ohne 19
das Warum zu kennen, genoss ich endlich einmal nicht im 20
Stich gelassen zu werden. Selbst, wenn mich Tess höchst 21
wahrscheinlich nach der Arbeit um den Verstand brachte und 22
sich darüber beschwerte, dass ihr Toast nicht eine Minute, 23
sondern nur fünfundfünfzig Sekunden geröstet wurde. Denn 24
dieses Mädchen war das Unberechenbarste von allen. 25
„Danke. Ich schätzte, ich bin dir was schuldig, oder? 26
Warum bist du wirklich hierhergekommen? Soll ich dem Koch 27
ausrichten, dass du demnächst den Pfannkuchen mit einem 28
Mickie Maus-Gesicht haben möchtest oder etwa in 29
Kleeblattform?“ 30
197
Sie wrang den nassen Lappen über dem Waschbecken aus. „Wie 1
kommst du darauf, dass ich irgendetwas verlange?“ 2
„Das tut dein Vater auch immer.“ 3
Ihre Augen verengten sich zu einem schmalen Schlitz. „Ich 4
bin nicht mein Vater, verstanden?“, knurrte sie böse, wobei 5
sie das Handtuch aus meinen Händen riss und einige Schritte 6
entfernt in einen Wäschekorb gleiten ließ. „Ich habe deinem 7
besten Freund das Leben gerettet.“ Irritiert zog ich die 8
Augenbrauen hoch. Was meinte sie damit? „Als ich davon 9
erfuhr, was auf dem Feld vorgefallen war, habe ich das 10
kleine Mädchen dazu gebracht, für mich zu lügen“, fuhr sie 11
fort, „Ja, ich weiß, ich bin eine blöde Ziege. Aber was 12
glaubst du, hätte Dad mit deinem Freund gemacht? Ihn so 13
harmlos entkommen lassen wie dich?“ 14
„Harmlos?! Das nennst du harmlos?“ All das war von Anfang 15
an geplant! Ich hätte es ahnen müssen. 16
„Du bist hier, weil ich es so will.“ 17
„Und was hindert mich daran, alles zu verraten?“ 18
„Nichts. Aber was willst du ihnen erzählen? Niemand wird 19
dir glauben. Du bist alleine. Weglaufen kannst du nicht. Was 20
willst du meinem Dad petzen? 21
„Schon gut. Ich habe verstanden. Was soll ich tun?“ 22
Wie zur Antwort warf sie mir eine Magnetchipkarte zu. 23
Hastig fing ich sie auf und wandte sie in meiner Handfläche. 24
Sie war leicht, kaum größer als eine Payback-Karte. Auf 25
ihrer Rückseite, oberhalb des ein Zentimeter dicken 26
Magnetstreifens schimmerte im Licht eine Nummer, daneben ein 27
Name, der meinen Atem stocken ließ: Nummer 08, Marc River. 28
„Keine weiteren Fragen, kapiert? Nimm es als 29
Geburtstagsgeschenk, wenn du magst.“ Im Fortgehen zwinkerte 30
198
Tess mir über die Schultern zu. „Morgen Abend bekommt Dad 1
Besuch. Sicherlich werden auch viele Wachen dort sein.“ 2
Behutsam ließ ich die Karte zwischen meinen Fingern hin 3
und her tanzen, bevor ich sie sicher zurück in meine 4
Hosentasche steckte. Seltsam, etwas in den Händen zu halten, 5
was zuvor nur einem einzigen, anderen Menschen gehört hatte. 6
Verträumt kauerte ich mich auf dem alten Kartoffelsack 7
zusammen. Morgen würde ich die Wahrheit erfahren, warum man 8
dich tötete, Papa. Die Wahrheit über das Kamikaze-Projekt. 9
Die Wahrheit, weshalb ich hier bin. Ich musste es nur bis in 10
den ersten Stock schaffen, die Karte durch den schmalen 11
Türschlitz ziehen, mir einen Aktenordner aus dem drei Meter 12
langen Regal fischen und es mir beim Lesen auf deinem Leder 13
überzogenen Schreibtischstuhl gemütlich machen. Das konnte 14
nicht schwer sein, jetzt da ich den Schlüssel bereits 15
gefunden hatte. Oder handelte es sich bei alldem doch um 16
eine Falle? Gaukelte mir Tess etwa nur vor, auf meiner Seite 17
zu stehen? Vielleicht bekam sie von ihrem Daddy einen neuen, 18
gigantischen Schminkkoffer oder ein süßes Pony, wenn sie 19
mich direkt in seine Arme lotste. Hatte ich überhaupt eine 20
andere Wahl als mitzuspielen? Denn, wenn ich ihr nun nicht 21
vertraute, würde ich es nie mehr tun können. Lieber einmal 22
riskieren, enttäuscht zu werden, als ewig alleine zu sein. 23
Ich lächelte in die Dunkelheit hinein. 24
Alles Gute zu deinem ersten runden Geburtstag, Tim. 25
„Gute Nacht. Träum was Süßes, mein Kleiner. Ach, und sei 26
so lieb und leg schon alles für morgen früh bereit, bevor du 27
zu Bett gehst… oder sollte ich besser zu Sack gehst sagen?“ 28
Mallium spie diese Worte förmlich aus, als seien sie eine 29
Ekelerregende Flüssigkeit und ich ihr Behälter. 30
199
Von unserer ersten Begegnung an hatte er mich gehasst. 1
Dessen war ich mir sicher. Er schien lediglich auf den 2
Moment zu hoffen, an dem ich einmal versagte. Doch diesen 3
Gefallen würde ich ihm nicht tun. Noch nicht. Mit 4
zusammengebissenen Zähnen stemmte ich mich von dem 5
Kartoffelsack hoch und fingerte pfeifend nach dem Griff der 6
Schublade, in der sich die Glasbrettchen befanden. Im 7
Augenwinkel bemerkte ich den skeptisch und zugleich wütenden 8
Blick, mit dem der Koch zur Tür hinausjagte. Ich blieb 9
alleine in der Küche zurück. 21.37, sieben Minuten nach 10
halb zehn. Die Party draußen musste in vollem Gange sein. 11
Soweit ich wusste, hatte Maurice Scott eine Reihe 12
wohlhabender Gäste eingeladen, die auch für diese Nacht in 13
den zahlreichen Gästezimmern untergebracht werden würden. 14
Einem langen Abend stand demnach nichts im Wege. Ich 15
grinste. Wenn ich es geschickt anstellte - was ich natürlich 16
tun würde - könnte ich in den nächsten zwei Stunden die 17
ganze Wahrheit herausfinden. Bei dem Gedanke daran wurde mir 18
heiß. Zweifel keimten auf. Willst du das überhaupt? - Ja, 19
ich will… sehr sogar. 20
Aufgeregt zog ich die Schubladen auf und verteilte deren 21
Inhalt, wie befohlen, auf der Arbeitsfläche. Dann erst 22
löschte ich das Licht und tappte im Dunkel zu meinem „Bett“. 23
Auch wenn es mir noch so schwer fiel, ich musste warten. 24
Warten, bis Mallium um zehn Uhr nochmals zurückkam, um mich 25
zu kontrollieren. Wie immer. Tatsächlich wurde Punkt zehn 26
die Tür rücksichtslos aufgestoßen. Der Koch stolperte 27
herein. Misstrauischer Blick. Gähnend räkelte ich mich, als 28
hätte ich bereits geschlafen. Da alles ordnungsgemäß an 29
seinem Platz lag und der Mann zufrieden schien, verließ er 30
200
schnell wieder den Raum. Schließlich durfte er auf solch 1
einer Party nicht fehlen! Zur Vorsicht zählte ich dennoch 2
bis hundert, bevor ich auf leisen Sohlen ebenfalls zur Tür 3
schlich, kurz hinausspähte, ob die Luft rein war, und mich, 4
den Rücken gegen die Wand gedrückt, zu den Treppen 5
vorankämpfte. Mittlerweile kannte ich die Villa gut genug, 6
um mich in den verwirrenden Korridoren zu Recht zu finden. 7
Ich wusste, wo sie Kameras installiert hatten, wo 8
Bewegungsmelder angebracht worden waren oder welche Tür zu 9
welchem Zimmer führte. Auch wusste ich, dass die Aufzüge 10
strenger bewacht wurden als die Treppen. Um in den Keller zu 11
fahren, benötigte man einen anderen Magnetchip. Versuchte 12
man trotzdem, dort unten einzudringen, stach der Oberarm 13
derart stark, dass niemand der Qual länger als drei Schritte 14
standhalten konnte. Überhaupt musste Scott sein Anwesen in 15
verschiedene Bereiche eingeteilt haben: Die Plantage war 16
einer, gefolgt von dem Keller, dem Erdgeschoss, zu dem auch 17
die Küche und die Gästezimmer zählten, dem ersten Stockwerk 18
und Scotts Büro, dem Thronsaal, wie es manche nannten. Wie 19
der Meister es jedoch geschaffte hatte, ein so komplexes 20
Überwachungssystem zu errichten, war mir bislang immer noch 21
ein Rätsel. 22
Langsam steckte ich den Kopf um die Ecke. Hier waren sie. 23
Hier waren die Aufzüge nach oben. Doch sie würde ich nicht 24
benutzen. Sicherheitshalber nicht. Denn, obwohl keine Wachen 25
zu sehen waren, konnte ich nicht hundertprozentig 26
ausschließen, ob mich nicht oben jemand in Empfang nehmen 27
würde. Auf Zehenspitzen wollte ich die Treppen hinauf 28
schleichen, als sich eine Hand plötzlich auf meine Schultern 29
legte. Für Sekunden setzte mein Herz aus. Das Blut gefror in 30
201
meinen Adern. Sie haben dich erwischt, Tim. Jetzt bist du 1
tot. Aber nichts geschah. Erstaunt wandte ich mich um. 2
Niemand war da. Hatte ich mich getäuscht oder…? Einbildung, 3
alles Einbildung. Du bist nervös. Das ist alles. Doch ich 4
hätte schwören können, dass mir jemand folgte. Und dieser 5
jemand klebte ganz dicht an meinen Fersen… 6
202
8. Kapitel 1
Zimmer 8. Dritte Tür von links. Vorsichtig ließ ich meinen 2
Blick durch den schwach 3
erleuchteten Gang schweifen. Bisher hatte ich lediglich 4
zwei Wachen bemerkt, die sich über irgendein Fußballspiel im 5
Fernsehen unterhielten. Glücklicherweise schienen sie so in 6
ihrem Gespräch vertieft zu sein, dass sie ihre Arbeit nicht 7
sonderlich ernst nahmen. 8
Seufzend hielt ich vor einer Tür inne. Alle Zimmer waren 9
nummeriert. Keine Namen, nichts, was in irgendeiner Form 10
etwas über die Menschen aussagte, die hier arbeiten. Nur 11
weiße Ziffern auf schwarzem Plastik. Für Sekunden spielte 12
ich mit dem Wunsch, einfach die Karte einzustecken und alles 13
zu vergessen. Man sollte nicht von etwas wissen, was man 14
nicht wissen sollte. Doch zum Umkehren war es bereits zu 15
spät. Mit einem befriedigenden Klick, sprang das Schloss 16
auf. Tief atmete ich ein, aus, wieder ein. Komm schon, Tim. 17
Raum 8 - ein großes, quadratisches Büro mit zwei 18
mannshohen Fenstern, durch die man von dem Lederstuhl aus 19
das Treiben im Innenhof beobachtet konnte. Denn der große 20
Schreibtisch mit den vielen, beschrifteten Schubladen und 21
dem riesigen, schwarzen Monitor stand mit dem Rücken zur 22
Türe, obwohl Papa sich nie für die Außenwelt interessiert 23
hatte. Nun hingen die weißen Vorhänge schlaff hinunter und 24
schienen seit einiger Zeit bereits nicht mehr zurückgezogen 25
worden zu sein. Überhaupt war die Luft abgestanden und 26
stickig. Staub sammelte sich auf den wenigen Möbel. Leer und 27
tot. Lediglich der Kühlschrank in der einen Ecke, 28
unmittelbar neben einem roten Sofa ohne Kissen, rauschte 29
203
noch schwach. Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen. 1
Du solltest nicht hier sein. Du solltest nicht. Es ist 2
falsch, irgendwie falsch. Dann ließ ich mich auf den roten 3
Lederstuhl fallen. Mein Magen rumorte. Einen Moment lang 4
glaubte ich, ich müsse mich übergeben. In einem winzigen, 5
silbernen Rahmen bemerkte ich das Foto einer blonden Frau in 6
einem weißen Kleid und ihrem Bräutigam. Beiden strahlten 7
glücklich in die Kamera. Der 3. Oktober 1990. Keine Märchen-8
Hochzeit wegen des schlechten Wetters, aber dennoch einer 9
der schönsten Tage ihres kurzen, gemeinsamen Lebens. Mama 10
und Papa. In der oberen Ecke steckte ein kleines Bild - Ich 11
im Alter von drei, vier Jahren. Es fiel mir schwer, nicht zu 12
weinen, und noch schwerer fiel es mir, zu glauben, dass es 13
diese Menschen nicht mehr in meinem Leben geben würde. 14
Dennoch blieb mir keine Zeit, nun um meine Eltern zu 15
trauern. Wenn ich etwas herausfinden wollte, musste ich es 16
jetzt tun. 17
Hastig riss ich eine Schublade auf. Fünf oder sechs Akten 18
kamen zum Vorschein, keine davon beschriftet. Ich nahm die 19
erste zur Hand, blätterte sie durch. Maschinengeschriebene 20
Blätter, zum Teil in Folie. Auch die übrigen vier Akten 21
erschienen wie die eines gewöhnlichen Forschers. 22
Unauffällig, langweilig. Ohne größere Hoffnung etwas 23
Nennenswertes zu finden, öffnete ich den sechsten Ordner. 24
Auf den ersten Blick glich er den anderen. Dasselbe weiße, 25
ausdruckslose Deckblatt ohne Überschrift. Enttäuscht wollte 26
ich ihn zuschlagen, als ich bemerkte, dass die untere, 27
äußere Ecke geknickt war. Ebenso, wie Papa es bei seinen 28
Bücher getan hatte. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe, 29
wobei zu lesen begann. Doch das, was ich da las, war 30
204
verwirrender und entsetzlicher als alles, was ich mir hätte 1
vorstellen können: 2
3
Februar 2004 4
„Ich, Marc River, geboren am 22. November 1964, erkläre im 5
Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass ich darum gebeten 6
habe, ein Mitglied des Projektes Kamikaze unter der Obhut 7
meines Meister, Sir Maurice A. Scott, zu werden. Des 8
Weiteren werde ich ab diesem Tage lediglich den Vorschriften 9
Folge leisten und im Falle eines Verrates durch meinen 10
eigenen Willen die Konsequenzen dafür auf mich nehmen…” 11
12
____Marc River, Nummer 8____ 13
14
Schluckend ließ ich die Akte sinken. Das konnte nicht wahr 15
sein. Papa hätte sich unmöglich zu einer Marionette dieses 16
Wahnsinnigen gemacht. Vielleicht hatte er das alles nie 17
gewollt. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht… 18
19
3. März 2004 20
„Hiermit ernennen wir feierlich unser 8. Mitglied, den 21
Forscher Marc River, geboren am 22. November 1964, zu dem 22
Leiter des Projektes Kamikaze unter der Obhut unseres 23
Meister, Sir Maurice A. Scott. Im Falle eines Verrates durch 24
den eigenen Willen wird diese Ernennung unwirksam und der 25
Ankläger kann je nach Tat mit dem Tode oder der 26
vollständigen Ausschließung bestraft werden …” 27
28
Clemens Henkel Vasco Igmanias 29
205
Manfred Giebels 1
Lorenzo Goldmann Ana-Cornelia Paulus 2
Nora Valencia 3
Maurice A. Scott 4
5
Blut tropfte von meinem Kinn. Erst jetzt bemerkte ich den 6
pochenden Schmerz in meiner Unterlippe, so sehr war ich in 7
dieses Ereignis verwickelt gewesen. Ich konnte Papa vor 8
meinen Augen sehen, umringt von den anderen sechs fremden 9
Menschen. Sir Scott seinerseits verbeugte sich kurz zur 10
Anerkennung, überreichte ihm anschließend in aller Stille 11
den Vertrag. Getrieben von Stolz und Eifern hatte Papa der 12
Versuchung sicherlich nicht lange widerstanden und auch 13
dieses Teufelspapier unterzeichnet. Ahnte er, welche Aufgabe 14
ihm zu kam? Wusste er vielleicht sogar, dass er sterben 15
würde? Nein… Wie auch? Niemand konnte mit so etwas 16
gerechnet. Bestimmt nicht. Jedenfalls nicht bewusst. Doch… 17
Was genau war Kamikaze eigentlich? „Irgendetwas mit 18
Forschung und… Schmuggel. Keine Ahnung. Verdammt. Ich weiß 19
nur, dass mein Vater etwas damit zu tun hatte… Ist das der 20
Grund, weshalb er sterben musste?“ Schmuggel und Forschung. 21
Steckte hinter dem Wort Kamikaze tatsächlich solch ein 22
Verbrechen? War es damals etwa Intuition, als ich blind 23
riet? Die Antwort hielt ich nun in den Händen. Zumindest 24
einen Teil von ihr. Kurz schloss ich die Augen, wünschte 25
mich weit, weit weg von hier. Wünschte mich an den Strand 26
von Mallorca, an dem ich Mama in dem körnigen Sand eingrub 27
oder mich mit Papa um die lila Luftmatratze stritt. Aus dem 28
Wunsch wurde eine Sehnsucht. Die Sehnsucht, endlich ein 29
206
normaler neunjähriger Junge zu sein. Nicht einer, der sich 1
mit Dingen rumschlagen musste, die in die Welt der 2
Erwachsenen gehörte, die man sowieso nicht verstand. „Wenn 3
du erwachsen bist, wirst du es verstehen.“ Keenan hatte 4
recht. Ich spielte einen Achtzehnjährigen, aber verstehen 5
tat ich trotzdem nichts. Ruckartig öffnete ich die Augen, 6
enttäuscht darüber, dass alles wieder einmal nur ein Traum 7
bleiben würde, und schlug die Seite um. Stickpunktartig 8
hatte mein Vater die folgenden Tage, Wochen und Monate 9
dokumentiert: 10
11
5. März 2004 12
Nummer(n): 201 (weiblich) 13
Blutgruppe(n): rh+ A 14
Arbeit: Entnahme einer Niere. 15
Verkauf für 43.000 US-Dollar. Empfänger unbekannt. 16
Übergabe erfolgreich. 17
18
14. März 2004 19
Nummer(n): 418 (männlich), 371 (männlich) und 374 20
(männlich) 21
Blutgruppe(n): ohne Angaben. 22
Verkauf für 10.000 US-Dollar als Arbeiter nach Brasilien. 23
Empfänger unbekannt. 24
Übergabe erfolgreich. 25
26
27. März 2004 27
Nummer(n): 128 (weiblich) 28
Blutgruppe(n): ohne Angaben. 29
207
Entnahme des Neugeborenen (Nummer 507, männlich). Verkauf 1
an portugiesisches Ehepaar für 17.000 US-Dollar. Übergabe 2
erfolgreich. 3
4
11. April 2004 5
Nummer(n): 206 (männlich) 6
Blutgruppe(n): rh+ 0 7
Anmerkung: Tod nach Zusammenbruch auf der Plantage; 8
Ursache: 9
Hoher Blutverlust 10
Entnahme der Leber, der Lunge, beider Nieren, der Milz, 11
des Herzens, sowie des Knochenmarks und des Blutes 12
Verkauf für 98.000 (geschätzt). Empfänger unbekannt. 13
Übergabe erfolgreich. 14
15
16
30. April 2004 17
Nummer(n): 422 (weiblich) und 356 (weiblich) 18
Blutgruppe(n): ohne Angaben. 19
Verkauf für je 4.000 US-Dollar nach Europa. Empfänger: 20
Jürg (Striplokalinhaber). Übergabe erfolgreich. 21
22
Ein prickelndes Gefühl durchzog meinen linken, 23
eingeschlafenen Arm. Erstaunt sah ich auf. Auch wenn die 24
Einträge unpersönlich und kalt erschienen, so erzählte jeder 25
von ihnen dennoch seine eigene, grausame Leidensgeschichte. 26
Eine Mutter, die ihr Kind verliert. Zwangsarbeiter. 27
Prostituierte. Organraub. Versuchskaninchen, die ihr Leben 28
für ein Medikament opfern mussten. Und immer ging es nur um 29
208
das ganz große Geld. Was aber das Schlimmste von allem war: 1
Papa war der Leiter dieses Projektes. Er war es, der die 2
Menschen quälte. Mein eigener Vater. 3
Niedergeschlagen blätterte ich weiter, die Hand zur Faust 4
geballt. Ich wollte es nicht lesen. Denn wenn ich las, 5
kehrten die jammernden Geister in diesen Raum zurück, als 6
mochten sie mich Anstelle von Papa dafür verantwortlich 7
machen. Auf der letzten Seite angekommen, atmete ich 8
nochmals tief durch. Es gab nur noch eine Sache, die ich 9
wissen musste. Was geschah am 25. Mai, dem Tag, an dem Vater 10
starb? 11
12
25. Mai 2004 13
Nummer(n): 255 (männlich) 14
Blutgruppe: rh- AB 15
Verkauf für 3.000 US-Dollar als Testperson. Empfänger 16
Labor, Name und Ort unbekannt. 17
18
… und weiter? Erstaunt kniff ich die Augen zusammen, als 19
hätte ich etwas übersprungen. Im Gegensatz zu den anderen 20
Tagen war an diesem letzten Tag in Papas Leben die Übergabe 21
nicht bestätigt worden. „Siehst du, vor vier Tagen ist die 22
Übergabe in der Nähe eines Dorfes drastisch schief 23
gelaufen.“ Natürlich! Etwas ist derart außer Kontrolle 24
geraten, dass dieser Fehler für jemanden so unverzeihlich 25
war, dass Vater dafür bestraft werden musste… Aber… Mir 26
stockte der Atem. Konnte… Konnte es wirklich sein…? Nein, 27
ausgeschlossen. Tim, das ist völliger Unsinn. Dass du… Nein, 28
vergiss es. Ich schüttelte den Kopf. Vergiss es einfach. 29
209
Absolut bescheuert auch nur einen weiteren Gedanken daran zu 1
verschwenden! „Im Falle eines Verrates durch den eigenen 2
Willen wird diese Ernennung unwirksam und der Ankläger kann 3
je nach Tat mit dem Tode oder der vollständigen 4
Ausschließung bestraft werden …“ Aber - wäre es nicht 5
möglich? Rein theoretisch gesehen. Wäre es nicht möglich, 6
dass Scott Papa umgebracht hat? Nein, das ist nicht 7
bewiesen. Möglich ist auch, dass Meerschweinchen vom Himmel 8
fallen oder dass ich von einem König zum Ritter geschlagen 9
werde. Ich hatte nur eine Chance, es herauszufinden. Unruhig 10
trommelte ich mit den Fingern auf der Tastatur, wobei mein 11
Blick an dem schwarzen Bildschirm des Computers hängen 12
blieb: Ich musste den Mann finden, der sich hinter der 13
Nummer 255 verbarg. 14
Morgen, sagte ich mir, morgen ist auch noch ein Tag. Denn 15
jetzt, wo ich es einmal soweit gebrachte hatte, wollte ich 16
meinen kleinen Erfolg nicht mit einem grimmigen Wächter in 17
dem feuchten Weinkeller bei einer Schüssel Wasser feiern 18
oder gar mit den irren Forschern, die mich mit irgendwelchem 19
Brodelzeugs vollpumpten. Für diese Nacht hatte ich genug 20
herausgefunden, dass ich stolz auf mich sein konnte. Sicher 21
wäre es Mama auch. Und Kay. Papa nicht. Bestimmt nicht. Der 22
war nie stolz, selbst dann nicht, wenn ich ein Fußballgott, 23
der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und ein 24
Star wie Michael Jackson in einer Person gewesen wäre. 25
Obwohl… dann vielleicht schon? Wer wusste das schon? Diese 26
Frage würde ich ihm nie mehr stellen können, damit musste 27
ich mich abfinden. Nie mehr. Vorsichtig lugte ich um die 28
Ecke. Niemand da. Gut. Noch einen weiteren Blick, bevor ich 29
mich zur Treppe schob. Die Wächter waren tatsächlich 30
210
verschwunden, wie ich erstaunt bemerkte. Seltsam. 1
Unwiderruflich blieb ich stehen. Ein unbestimmtes Gefühl 2
verriet mir, dass hier etwas nicht stimmte, aber dann hörte 3
ich erneut die leisen Gitarrenklänge aus dem Speisesaal und 4
atmete erleichtert auf. Was immer auch in der Zwischenzeit 5
gesehen war, unten hatten Scott nichts von alle dem 6
mitbekommen. Hoffte ich jedenfalls. Dennoch löste sich meine 7
plötzliche Anspannung nicht. So wachsam wie möglich nahm ich 8
eine Stufe nach der anderen, hielt jeweils ein paar Sekunden 9
inne, um sicher zu sein, dass mir niemand auflauerte, und 10
wagte mich zögernd noch tiefer in die Ungewissheit hinein. 11
Irgendwie gelang es mir, den Weg zurückzufinden. Wie, weiß 12
ich nicht. Egal, Hauptsache ich hatte es geschafft. Das Wie 13
interessierte nicht. 14
211
9. Kapitel 1
In der Küche brannte kein Licht und auch sonst schien 2
alles unverändert. Auf den ersten Blick zumindest. Denn 3
jemand musste in meiner Abwesenheit hier gewesen sein… oder 4
war sogar noch hier! Bei dem Letzteren stockte mir der Atem. 5
Geradezu als Bestätigung streifte ein Schatten mein Gesicht, 6
tanzte über die rustikalen Wände. Panisch wollte ich zur 7
Türe hinausstürmen, doch eine Gestalt versperrte mir den 8
Weg. Nein, nein. Bitte nicht. Lasst mich in Ruhe! Ich habe 9
das alles nicht gewollt! Bitte, glauben Sie mir. Im selben 10
Moment kam ich mir lächerlich vor. Niemand konnte wissen, wo 11
ich gewesen war, vorausgesetzt ich verplapperte mich nicht. 12
Also… Was sollten sie dir schon antun, Tim? Trotzdem kostete 13
es mich einiges an Überwindung, die Augen zu öffnen. Zaghaft 14
blinzelte ich und prustete los. Vor mir stand lediglich 15
Tess. Um ihren Hals schlang sich ein buntes Tuch, das 16
perfekt bei der ansonsten schwarzen Bekleidung, einer 17
Bolerojacke über einem elegant gemusterten Cocktailkleid, 18
zur Geltung kam. Mit den hochgesteckten Haaren und dem 19
leichten Make-up wirkte sie wie eine Sechszehnjährige. Dies 20
wurde durch ihr selbstbewusstes Auftreten noch untermalt. 21
„Hi.“ 22
Ich zögerte verunsichert. „Äh… Hi! Ähm… Was… Was machst du 23
denn hier?“ 24
„Hast du etwas herausgefunden?“, setzte sie dagegen, ohne 25
auch nur auf meine Frage einzugehen. 26
„Was?“ 27
„Ob du etwas herausgefunden hast, Dumpfbacke?“, 28
wiederholte das Mädchen noch einmal, wobei sie mit dem 29
212
linken Fuß auf den Boden klopfte, um mir zu verdeutlichen, 1
dass sie langsam die Geduld verlor. 2
„Ähm…“ 3
„Wer ist mein Vater? Was ist seine Arbeit? Mach schon den 4
Mund auf. Na los.“ 5
Jetzt war die Katze endlich aus dem Sack. Allmählich 6
begann ich, zu begreifen, was hier vor sich ging: Die 7
Erkenntnis blitzte plötzlich wie ein Lämpchen in meinen 8
Gedanken auf. Natürlich! Ich hätte es wissen müssen. Das 9
angebliche Geburtstagsgeschenk. Die freundliche Hilfe beim 10
Aufräumen. Das Augenzwinkern, mit dem sie mir verriet, wie 11
ich am leichtesten in den ersten Stock gelangte. Freilich, 12
kein Zufall. Tess hatte all das geschickt eingefädelt und 13
mir die ganze Zeit vorgespielt, sie sei meine Freundin. 14
Dabei… 15
„Du hast mich ausgenutzt, um an die Informationen zu 16
kommen!?“ 17
„Wie hätte ich es denn sonst machen sollen? Hätte Dad mich 18
beim Schnüffeln erwischt…“ 19
Grob schnitt ich ihr das Wort ab. „Hätte er mich erwischt, 20
könnte ich jetzt tot sein. Hast du darüber mal nachgedacht?“ 21
„Nein.“ Tess zuckte gleichgültig die Achsel. „Wieso auch? 22
Wärst du geschnappt worden, wäre niemand auch nur 23
ansatzweise darauf gekommen, dass ich mit dir in Verbindung 24
stehe. Alle hier wissen, dass dein Vater für meinen 25
gearbeitet hat. Wenn wundert es demnach, dass der Sohn ihm 26
nachspioniert. Und außerdem hast du mir sozusagen freiwillig 27
geholfen…“ Mit dem Schal zog sie mich ganz nahe zu sich 28
heran: „… nicht wahr, Timmiboy? So ist es doch gewesen, 29
oder?“ 30
213
Im Affekt wollte ich mich losreißen, hielt es jedoch nach 1
kurzem Überlegen für sinnlos. Diese Hartnäckigkeit lag in 2
der Familie Scott und momentan war ich nicht stark genug, um 3
ihr länger standzuhalten. Vor allem, da meine Wut 4
seltsamerweise mit jedem Augenblick verflog, wie ausradiert 5
wurde. Denn, obwohl ich Tess hasste, entwickelte ich dennoch 6
so etwas wie Verständnis. Verständnis dafür, wie sie sich 7
fühlte. Schließlich waren wir einander in einer Sache einig: 8
Wir hatten beide die falschen Väter. Und deshalb beschloss 9
ich nun, dem Mädchen alles zu erzählen, was ich wusste: 10
„Okay, Tess. Wenn du danach die Fliege machst und mich in 11
Ruhe lässt, verrate ich dir alles, was ich weiß. 12
Versprochen?“ 13
Die Tochter des Sirs wiegte den Kopf, schließlich nickte 14
sie. „Ich wäre sowieso keine Sekunde länger als nötig mit so 15
einem… übel stinkenden Typen zusammen geblieben.“ 16
Als Tess sich umdrehte um auf einem Hocker Platz zunehmen, 17
roch ich rasch an meinen Achseln. Übel stinkend? Zugegeben, 18
sie hatte recht. Mal wieder. Vielleicht sollte ich mir 19
demnächst von ihr mein erstes Deo wünschen? 20
„Ich habe es tatsächlich geschafft, irgendwie in den 21
ersten Stock zu kommen.“, begann ich zu berichten, „Da waren 22
eine Menge Ordner. Alle unbeschriftet. In einem ging es um 23
ein Projekt, das sich Kamikaze nennt. Ich weiß nicht, ob den 24
Namen schon einmal gehört hast.“ Prüfend sah ich in Tess 25
Richtung, die den Kopf schüttelte. „Mein Vater leitete es. 26
Zusammen mit noch sieben weiteren Mitgliedern. Dein Dad 27
gehört auch zu ihnen, ist im Grund so etwas wie der Big 28
Boss. Jedenfalls…“ Wieder ein kurzer Blick in ihre Richtung. 29
„Willst du das wirklich hören?“ 30
214
„Hör mal, nur weil ich ein Mädchen bin, heißt das noch 1
lange nicht, dass ich eine Memme bin. Du scheint die 2
Wahrheit verkraftet zu haben, als tue ich es schon lange.“ 3
Für einen Moment überlegte ich ernsthaft, ob ich ihr eine 4
scheuern sollte. Sie war diejenige, die etwas von mir wollte 5
und, anstatt mir dankbar dafür zu sein, dass ich sie so nett 6
aufnahm, diskriminierte sie mich. 7
„Sie handeln mit Menschen. Verkaufen Babys Forschen mit 8
ihrem Blut nach neuen Medikamenten. Oder schneiden den armen 9
Leuten draußen auf der Plantage Körperteile raus, damit es 10
irgendwelchen reichen Europäern besser geht.“ So, das war‟s. 11
Kurz und schmerzlos auf den Punkt gebracht. Dabei war es mir 12
seltsamerweise fast ohne größere Bemühungen über die Lippen 13
gegangen. Gespannt beobachte ich nun Tess Reaktion. Würde 14
sie jetzt in Tränen ausbrechen oder lediglich mit den 15
Achseln zucken und zur Türe hinaus marschieren, als wüsste 16
sie von alle dem nichts? 17
„Ist ja eklig.“, kommentierte das Mädchen. Mehr nicht. Ich 18
wartete auf weitere Erläuterungen von „ist ja eklig“, doch 19
sie blieben aus. Stumm hatte sie die Beine übereinander 20
geschlagen und starrte mich an. So schwiegen wir. Jeder für 21
sich und trotzdem wir beide zusammen. Viel Denken tat ich 22
dabei nicht, außer, dass es tatsächlich eklig war, was Papa 23
getan hatte und immer noch tun würde, wäre es nicht… Wieso 24
mussten ihn die Todesengel holen? 25
„Tess? Ich brauche deine Hilfe.“ 26
Lächelnd sah sie mich an. Ein feuchtes Glitzern im 27
Augenwinkel. „Brauchst du wieder jemanden, der dir zum 28
Einschlafen ein Gute-Nacht-Lied singt?“ Ihre Stimme klang 29
selbstbewusst, aber tief innerlich konnte man ein leichtes 30
215
Zittern vernehmen, welches verriet, dass sie die Geschichte 1
nicht kalt ließ. 2
„Ich will herausfinden, warum mein Vater sterben musste.“ 3
Unbeholfen legte ich ihr einen Arm um die Schultern und 4
erstaunlicherweise stieß sie mich dieses Mal nicht von sich, 5
sondern griff nach dem alten Taschentuch, welches ich ihr 6
reichte. 7
„Okay, klar natürlich. Du hast etwas gut bei mir… Ist 8
meine Schminke verlaufen?“ 9
Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Nein. Sonst alles in 10
Ordnung bei dir?“ 11
„Ja, ich denke schon. Danke, ich bin die Tochter eines 12
Sirs. Die weint doch nicht wegen ein paar dummen Sklaven.“ 13
Hastig wusch sich Tess eine Träne von der Wange. „Also, was 14
hast du vor?“ 15
„An dem Tag, an dem Papa getötet wurde, sollte ein Mann an 16
ein Labor in Europa verkauft werden. Nummer 255. Vielleicht 17
finde ich ihn im Namensverzeichnis auf dem Computer deines 18
Vaters.“ 19
„Das ist riskant.“ 20
„Ich weiß, Tess, ich weiß. Aber es ist die einzige 21
Möglichkeit.“ 22
„Na gut. Es ist nicht mein Problem, wenn du dabei drauf 23
gehst. Mir ist egal, wenn du so Selbstmord süchtig bist. Ich 24
schätze, ich kann dich nicht davon abhalten. „ 25
Ich schüttelte unschlüssig den Kopf, woraufhin Tess 26
seufzte. „Pass auf, folgendes...“ Ihre Stimme war nun zu 27
einem Flüstern geworden. „Dad sollte morgen früh in seinem 28
Büro sein, zweiter Stock, in den nur Familienmitglieder oder 29
ausgewählte Gäste Zutritt haben. Bei dir würden sie schon 30
216
nach zehn Sekunden erkennen, dass du dort einbrechen willst. 1
Also…“ Sie legte mir beiden Hände auf die Schultern und sah 2
mir direkt in die Augen. „Vergiss es. Du hast keine Chance. 3
Ich werde an deiner Stelle morgen mit meinem Vater sprechen, 4
während du dir etwas einfallen lässt, um ihn abzulenken. In 5
der Zeit gebe ich mein Bestes.“ Das Mädchen hielt den 6
Zeigefinger an die Stirn und ließ dann den Kopf leicht 7
kreisen. „Hoffentlich mache ich nicht gerade den größten 8
Fehler meines Lebens.“ 9
Erstaunt hob ich die Augenbraue. „Das würdest du für mich 10
tun?“, hackte ich ungläubig nach. 11
„Ja, bevor ich es mir anders überlege. Gute Nacht, 12
vorausgesetzt du kannst jetzt schlafen, wo du das mit den…“ 13
Sie stockte. „Das mit den Körperteilen… Du weißt schon.“ 14
Dann knipste sie das Licht aus und verschwand auf den 15
hellen erleuchteten Flur. 16
Sie sind groß, kräftig, wiegen das Dreifache von dir. Aber 17
wenn du schnell wärst, könntest du es schaffen. Die Türe, 18
die Rettung ins Freie, befindet sich unmittelbar hinter 19
ihnen, den Monstern ohne Gesicht. Hektisch lässt du den Kopf 20
hin und her schnellen, kämpfst mit den Tränen. Du bist 21
gefangen, ohne zu wissen, was sie von dir wollen oder was du 22
ihnen getan hast. Das Brett, auf dem du liegst, ist aus 23
hartem, glattem Kunststoff und an seiner rechten Seite hatte 24
man eine Röhre angebracht, die viele dunkle Flecken aufweist 25
- Blut, geronnenes Blut. Panisch willst du aufschreien, 26
zerrst an deinen Gurten, als einer von ihnen dir einen 27
Stofffetzen in den Mund drücken, der dir den Atem nimmt. Die 28
Übrigen versammeln sich um dich und beginnen mit ihren 29
Messern deinen Bauch aufzuschneiden… 30
217
Schweißgebadet fuhr ich hoch, wälzte mich unruhig auf dem 1
Kartoffelsack und trat dabei schluchzend mit den Beinen in 2
die Luft, wie ein Käfer, den Kinder absichtlich auf den 3
Rücken gedreht hatten. Immer noch zappelnd warf ich einen 4
Blick aus dem Fenster. Der Wald erwachte langsam wieder zu 5
neuem Leben, selbst wenn ich davon in dem Gefängnis kaum 6
etwas mitbekam. Jedes größere Tier, etwa ein Papagei oder 7
eine Ratte, welches sich hier blicken ließ, wurde umgehend 8
entsorgt. Dabei war entsorgt noch gelinge gesagt. Nun 9
beobachte ich schmunzelnd, wie eine kleine Wüstenmaus 10
verzweifelt versuchte, sich durch die schmale Öffnung des 11
Fensters zu zwängen. Sie musste entweder clever sein oder 12
ungeheuer viel Glück gehabt haben. Erfreut über die 13
abwechslungsreiche Gesellschaft schob ich das Fenster ein 14
weiteres Stück auf, sodass das Nagetier in meinem Schoss 15
landete. Die Pfoten streiften meinen Bauch, die Nase stupste 16
mich zaghaft an. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr Schwanz, 17
fast so lang wie das Tier selbst, zerbissen und zum Teil 18
völlig abgerissen war, ebenso wie zwei Krallen ihrer 19
hinteren Pfote. Wahrscheinlich waren das die einzigen 20
Gründe, warum die Wüstenmaus nicht sofort die Flucht 21
ergriffen hatte. Ich grinste. Eine Maus in der Küche. 22
Mallium wäre davon sicher überaus begeistert. Sollte ich dem 23
Mann tatsächlich einmal in seinem Leben so einen Spaß 24
gönnen? Leise kicherte ich in mich hinein und langte nach 25
einem alten Stück Brot unter dem Kartoffelsack, das ich 26
heimlich aufbewahrt hatte, für den Fall, dass ich wieder mal 27
hungrig zu Bett gehen musste. Die Maus fiepte, wich zögernd 28
zurück. Doch ihr Magenknurren übertönte die Angst und sie 29
begann gierig zu knabbern. 30
218
„Chef, mir fehlt die Petersilie!“ 1
Erstaunt, dass jemand sprach, hob ich den Kopf und hielt 2
in der Arbeit inne, wofür ich sofort einen bösen Blick von 3
Mallium kassierte, der mit einem Fußtritt andeutete, dass 4
ich weiter zu kehren hatte. 5
„Hol‟ welches aus der Speisekammer.“, knurrte er zu seinem 6
Adjutanten herüber, der das Fleisch zubereitete. 7
Nummer 167 war ein kleiner Afrikaner, dem seit einem 8
Raubtierangriff die rechte Hand fehlte. Nun wand sich ein 9
rot kariertes Küchentuch um die Wunde. Dennoch hatte er 10
immer noch Schmerzen und er war mir - im Gegensatz zu 11
Mallium - stets dankbar, wenn ich das ein oder andere für 12
ihn erledigte. Denn auch in der Küche war jeder meist auf 13
sich alleine gestellt. 14
„Ich kann nicht, Chef, sonst brennt mir das Fleisch an. 15
Könnten Sie…?“ 16
Genervt ließ Mallium den Kochlöffel sinken und atmete 17
mehrmals tief durch, wobei er in die vor sich hin kochende 18
Béchamelsouce starrte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, 19
sein Mund öffnete sich bereits, um zu einem fürchterlichen 20
Gebrüll anzusetzen. Doch bevor es aus ihm herausbrechen 21
konnte, fügte ich schnell hinzu: „Ich geh schon für Sie, 22
Meister“ 23
Meister war eines seiner Lieblingswörter. Augenscheinlich 24
hob sich seine Stimmung und er nickte mir beinahe freundlich 25
zu. „Na gut. Aber wehe dir, du treibst irgendwelche Unfug. 26
In zwei Minuten bist du wieder hier!“ 27
„Natürlich, Meister.“ 28
Mehr würde ich auch nicht benötigen. Die Speisekammer 29
befand sich lediglich einen Türe weiter, ein hoher Raum mit 30
219
vielen Regalen, auf denen sich Lebensmittel jeglicher Art 1
stapelten. Gewürze. Brot, wahlweise hell oder dunkel 2
gebacken. Nudeln, Kartoffel, Reis. Gemüse. Obst, von 3
Kokosnüssen bis hin zu Bananen, Kiwis oder Mangos. Glasige 4
Fischaugen starrten mich durch eine hauchdünne Glasscheibe 5
an, daneben teils noch ganze Tierkörper oder bereits 6
verarbeitete Rückensteaks und Lebern. Ich hasste diesen 7
Anblick, aber nun musste es sein. Kurz warf ich einen Blick 8
auf die Uhr über der Türe. Kurz vor elf. Würde Scott bereits 9
in seinem Büro sein? Ich hoffe es. Wir hatten nur einen 10
einzige Versuch, nur ein Los. Die Chance stand eins zu… 11
Nicht nachdenken. Einfach tun. Mit einem Fußtritt kickte ich 12
die Türe hinter mir zu und kletterte auf die Leiter, um nach 13
der Petersilie zu suchen. Ich musste etwas inszenieren, 14
damit Maurice Scott gezwungen war, hier unten nach dem 15
Rechten zu sehen. Doch wie lange würde Tess brauchen? Fünf 16
Minuten? Zehn? Vielleicht auch eine halbe Stunde? Hastig 17
zählte ich die winzigen Gefäße mit dem teils körnigen, teils 18
mehligen Gewürze ab. Majoran… Chili… Ja, hier Petersiele, 19
vierte Reihe, das fünfte von links, wieder einmal 20
nummeriert. Ich stöhnte. Vermutlich hatten auch die 21
Klorollen in diesem Haus eine Nummer. Das weiße Papier mit 22
den pinken Kreisen musste in den 2. Stock, das mit den 23
pinken Klecksen in das Untergeschoss. Wundern würde es mich 24
jedenfalls nach allem, was ich bisher in dieser Irrenanstalt 25
erlebt hatte, nichts mehr! 26
Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht etwas nach links, 27
um nach der Petersiele zu greifen, als ich plötzlich ins 28
Taumeln geriet. In Panik schrie ich auf, versuchte mich an 29
dem Regalbrett festzuhalten. Dabei riss ich zwei weitere 30
220
Gefäße mit. Ein Drittes schwankte bedächtig. Wie an einer 1
Felskluft klammerte ich mich an das letzte Ästchen, was sich 2
mir bot. Unter mir zerschellten die bereits hinunter 3
gefallenen Töpfe. Draußen, in der Küche war es seltsam still 4
geworden. Ich ahnte, was nun passieren würde, und so geschah 5
es auch: Mallium, mit vor Zorn verzerrte Miene, rauschte in 6
die Speisekammer, dicht gefolgt von seinem Adjutanten, der 7
sich bei meinem Anblick ein Lachen verkneifen musste. Da 8
baumelte nun der Küchenjunge über ihren Köpfen, in Mitten 9
eines Chaoshaufens, der wohl auf seine Rechnung gehen 10
musste. Doch die Aufmerksamkeit des Kochs war nicht auf mich 11
gerichtet, sondern auf das kleine Lebewesen, das genüsslich 12
ein Pfefferkorn verspeiste: Mickie, die Maus. Fassungslos 13
deutete Mallium mit seinen zittrigen, dicken Fingern auf 14
sie. Stille, nur das Knirschen von Glas unter ihren Füßen. 15
Dann brach sich die Welle von Ereignissen auf dem Festland. 16
Der Küchenchef eilte hinaus, mehr verzweifelt als wütend, um 17
den Meister über den Vorfall zu informieren, während Nummer 18
167 dem „Ungeziefer“ den Gar ausmachen sollte. Ich 19
meinerseits ließ mich zu dem Afrikaner hinunterfallen und 20
half ihm, die Wüstenrennmaus einzufangen, aus Angst, Scott 21
könne sie tatsächlich töten. Bevor ich den verwirrten Mickie 22
hastig aus dem Speisezimmer schaffte und unter meinem 23
Kartoffelsack verbarg, besah ich mir belustigt das Chaos, 24
was ich angerichtet hatte. Mein Teil des Plans war bis 25
hierhin erfüllt. Tatsächlich würde es den Anschein erwecken, 26
es sei ein Unfall gewesen. Und eine Maus hat es nie gegeben. 27
Diese existierte nur in der Fantasie des Kochs, der 28
vielleicht etwas mit seiner Verantwortungsbewusstsein 29
übertrieben hatte. 30
221
Scott runzelte nachdenklich die Stirn, wobei er den Blick 1
zwischen mir und Mallium hin und her wandern ließ. 2
Tatsächlich war er kurze Zeit später in der Küche 3
aufgetaucht, um mein Werk aus nächster Nähe zu begutachten. 4
Doch seltsamerweise hatte er bisher noch nicht ein einziges 5
Wort gesprochen, sondern lediglich mehrmals tief durchatmen 6
müssen. Ein Zeichen dafür, dass er innerlich vor Wut bebte. 7
„Ich kann mir das nicht erklären“, faselte der Koch, „Da 8
war eben eine Maus in der Speisekammer…“ Er warf sich 9
nochmals auf die Knie, um unter allen Schränken und Regalen 10
nach dem Ungeziefer zu suchen, als der Meister ihn grob an 11
der Schulter hochriss. Es konnte nicht wahr sein, dass er 12
sich derart vor seinem Gott blamierte? 13
„Eine Maus wie? Ich sehe aber keine.“ 14
„Aber, ich versichere Ihnen…“ 15
Beschwichtigend hob Scott die Hände, um ihn zum Schweigen 16
zu bringen, wobei er sich an mich wandte: „Ich muss schon 17
sagen, Nummer 448, du bereitest mir mehr Ärger, als ich 18
erwartet hatte.“ Er beobachte mich mit höflichem Interesse. 19
„Dein Vater war mir wesentlich angenehmer.“ 20
„Nur weil er nicht erkannt hat, was Sie für ein… ein 21
kranker…“ Gerne hätte ich den längsten Fluch meines Lebens 22
ausgestoßen, doch nun wollte mir einfach kein Schimpfwort 23
einfallen. Im Grunde wäre es auch überflüssig gewesen, denn 24
als ich den Mann ohne „Sir“ und noch dazu „unerzogen“ 25
ansprach, spürte ich augenblicklich Malliums Handrücken an 26
meiner Wange. „Wie redest du mit deinem Meister, Junge!“, 27
brüllte er und wollte abermals ausholen, doch Scott hielt 28
ihn zurück. 29
„Lass gut sein. Nummer 448...“ 30
222
Hastig schnitt ich ihm das Wort ab. „Tim. Ich heiße Tim.“ 1
Im selben Moment hätte ich mich Ohrfeigen können. Wie konnte 2
ich nur so dämlich sein, mich dem Mann derart offensichtlich 3
zu widersetzen. Mein Teil des Plans war es, ihn abzulenken, 4
aber nicht indem ich mich umbringen ließe. 5
„Also gut… Tim. Du bist ein wahrlich hartnäckiger Fall. 6
Von Glück kannst du sagen, dass mir an dir etwas liegt, denn 7
sonst…“ 8
„Sonst hätten Sie mich in Stücke geschnitten und einzeln 9
in Päckchen nach Europa geschickt?“ 10
Verflucht seiest du, Tim! Halt endlich einmal deine 11
Klappe! 12
„Aber nein. Wie kommst du denn auf so eine absurde Idee?“ 13
Er lachte ohne Emotionen, als ob ich gerade einen Witz von 14
mir gegeben hätte, der nur höflicherweise belächelt werden 15
sollte. Mit einer Hand winkte er ab. „Das Chaos wird 16
beseitigt. Auf der Stelle!“ 17
Obwohl der Mann nicht weiter auf mich einging, spürte ich 18
dennoch seinen durchdringenden Blick. Unruhig verlagerte ich 19
mein Gewicht auf den anderen Fuß. Wusste er etwa, dass ich 20
das richtige Hütchen des Hütchenspielers auf den La Ramblas 21
in Barcelona aufgedeckt und das winzige rote 22
Plastikkügelchen, das so unscheinbar klein im Verborgenen 23
wartete, gefunden hatte? Wenn ja, dann war ich ein Idiot. 24
Doch darüber würde ich mir später Gedanken machen müssen. 25
Erst einmal zwang mich Mallium mit einem noch finsteren 26
Blick als gewöhnlich auf die Knie. Freilich, schließlich 27
hatte ich ihn gerade vor seinem Herrn gedemütigt. Dieser 28
seinerseits verschwand ohne Abschiedsworte, aber auf seinen 29
hoch angezogenen Schultern saß das Auge aus Stahl. 30
223
Die Tage schlichen schier endlos dahin und lediglich 1
Mickie, die Maus, spendete mir etwas Trost, wenn ich abends 2
völlig erschöpf auf meinem Kartoffelsack zusammensackte. 3
Gewöhnlich schlief ich Sekunden später ein - ganz im 4
Gegensatz zu den ersten Nächten, an denen ich noch lange 5
wach gelegen hatte und an denen ich vor allem auch am 6
nächsten Morgen vor Sonnenaufgang munter gewesen war. Nun 7
taumelte ich benommen durch die Küche und registrierte nicht 8
einmal mehr, wenn Mallium mich schlug oder mich in diesen 9
vier Wänden gefangen halten wollen zu schien. Nummer 448, 10
kehre den Boden, bis er glänzt - Ich tat es. Nummer 448, 11
wisch den Herd ab - Ich tat es. Nummer 448, der Meister 12
wünscht, dass du ihm das Fleisch zu bereitest - Ja, auch das 13
tat ich. Es machte mir nichts aus, in diese starren, grauen 14
Augen zu sehen. Was aber noch viel, viel schlimmer war als 15
diese Machtlosigkeit, waren die Schnittwunden oder Einstiche 16
in Arm und Bein, von denen ich weder wusste woher, noch wie 17
lange ich sie schon hatte. Manchmal, in den Stunden, in 18
denen ich mich fit fühlte, drang mir ins Bewusstsein, dass 19
etwas nicht stimmte. Irgendjemand oder irgendetwas versucht 20
dich auszuschalten, Tim. Doch ich konnte mich nicht wehren, 21
ich konnte nicht. Es erschien beinahe zum Verrückt werden. 22
Dies rührte zudem auch daher, dass sich Tess nicht mehr hat 23
blicken lassen. Hatte sie etwas herausgefunden oder war sie 24
von ihrem Vater beim Schnüffeln erwischt worden? Wurde sie 25
für ihr Verbrechen bestraft, vielleicht sogar verletzt? 26
Scott traute ich einiges zu. Auch, dass er seiner eigenen 27
Tochter wie ein gieriges Insekt, welches nicht zu 28
befriedigen war, das Blut aussaugen würde. So sehr ich Tess 29
Art auch hasste, ich betete inständig darum, dass es ihr gut 30
224
gehen mochte - vorausgesetzt, ich befand mich in der Lage 1
dazu. Gott, lieber Gott, hör‟ mich an, wenn es dich irgendwo 2
dort draußen geben sollte. Ich weiß, in den letzten Wochen, 3
Monaten, habe ich nur selten freundlich zu dir gesprochen… 4
Zugegeben, ich habe mehr geschrien und gemeckert, als dir 5
dafür zu danken, dass es mir noch gut geht… einigermaßen 6
jedenfalls. Ich bin wütend, verstehst du? Wütend darauf, 7
dass du mir all das genommen hast und mich nicht davor 8
warntest, hier herzukommen… Für einen Augenblick unterbrach 9
ich mich. Sicherlich wäre ich trotzdem in dieses Drecksloch 10
hineingestampft. Davon hätte mich niemand abbringen können, 11
selbst dann nicht, wenn er mir noch so viel Süßkram und 12
Ähnliches bot. Auf alle Fälle, Gott, möchte ich dich wissen 13
lassen, dass nicht ich dich brauche, sondern Tess. Sie ist… 14
hm ja… Was ist sie? Meine Freundin, schätze ich. Sie hat 15
viel für mich riskiert… Indirekt zumindest. Und… 16
Und dann eines Tages öffnete sich die Tür ein Stück weit 17
und das wohl gebräunte, kantige Gesicht einer jungen Frau 18
kam zum Vorschein. Ihr zu winzigen Löckchen gedrehtes, 19
dunkelbraunes Haar strich sie mit ihren dünnen Fingern 20
elegant hinters Ohr. Mallium, der einem Dessert den letzte 21
Schliff verlieh, indem er die Sahne mit türkisen Streuseln 22
verzierte, legte beinahe im Akkord die Schüssel zur Seite, 23
streifte die Arbeitshandschuhe von den Händen und reichte 24
sie der Lady mit einem leichten Knicks. Tess erwiderte die 25
Geste höflichen. „Ich soll Ihnen von meinem lieben Herrn 26
Vater ausrichten, dass er in einer Woche verreisen wird und 27
Sie daher bereits jetzt alles dafür Notwendige vorbereiten 28
sollen.“ Ihr Lipgloss glänzte im Licht und verlieh ihrem 29
Lächeln etwas Verführerisches. Nur schwer konnte ich meinen 30
225
Blick von ihr ablenken, um mit der Arbeit fortfahren. 1
Schließlich durfte niemand bemerken, dass wir sozusagen 2
Komplizen waren. Unauffällig beobachte ich sie dennoch 3
weiterhin im Augenwinkel, als sie bei der Übergabe eines 4
Briefes stürzte, ohne dass irgendjemand im Raum sie hätte 5
auffangen können. Glücklicherweise landete das Mädchen auf 6
meinem Kartoffelsack. 7
„Mylady… Was für eine Tragödie! Ich muss sofort deinen 8
Vater darüber informieren. Oh je, welch ein Unglück. Hast du 9
dich verletzt?“ 10
Stöhnend rieb Tess sich den Kopf und begann, den Staub aus 11
ihrer Lunge zu husten. 12
„Ich glaube nicht.“, flüsterte sie mit zittriger Stimme, 13
wobei sich an Malliums Ärmel hochzog. „Danke.“ 14
„Soll ich dir helfen?“ 15
Sie schüttelte den Kopf und zwinkerte dem Koch beruhigend 16
zu, bevor sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen, die 17
Küche verließ. 18
Ich stutzte. Doch zu meiner Verblüffung mischte sich Wut 19
und Enttäuschung. Hatte Tess mich etwa wieder einmal nur 20
ausgenutzt, um ihrem Vater zu zeigen, auf wessen Seite ich 21
stand? Lief sie vielleicht sogar zu ihm nach jedem 22
Geheimnis, welches ich ihr preisgab? Warum hatte ich 23
Dummkopf ihr schon zum dritten Mal vertraut, obwohl ich 24
geahnt hatte, dass sie mich erneut betrog? So wie sie es 25
bereits bei der Geschichte mit Mathieu oder der Nacht getan 26
hatte, in der ich in Papas altes Arbeitszimmer eingebrochen 27
bin… 28
226
Aber bevor ich zu einem Entschluss kam, verschwamm das 1
Bild vor meinen Augen und begann sich wild im Kreis zu 2
drehen. 3
Bald erreichst du den Fluss. Kühles Nass befeuchtet 4
wohltuend deine Sohlen. Atemlos lässt du dich auf die Knie 5
fallen, die Hände im halbverdorbenen Gras verkrampft. Der 6
Kadaver eines Fisches treibt in der Strömung des 7
Wasserrades, welches wie ein Sägeblatt durch das Wasser 8
schneidet. Seine glasigen, beinahe grauen Augen sind starr, 9
gleichwohl die Schwanzflosse noch gelegentlich zuckt, um 10
sich gegen dieses Ende, nun von den Artgenossen genüsslich 11
verspeist zu werden, zur Wehr zu setzen. Über der Türe des 12
Fischerhäuschens weht eine Flagge im Wüstenwind. Die Mauern 13
des Hauses sind vermodert, mit Schlingpflanzen bewachsen, 14
sodass die rauen Steinwände kaum noch zum Vorschein kommen. 15
Rot, schwarz, farblos. Wie ein Welpe rollst du dich im Sand 16
zusammen, den Rücken gegen die Überreste eines gestrandeten 17
Bootes gepresst. Zitterst, wimmerst tonlos. Du bist alleine, 18
ganz alleine... 19
Panisch ließ ich meinen Blick durch die dunkle Küche 20
huschen, im verzweifelten Versuch dieser Einsamkeit zu 21
entkommen. Wo seid ihr alle? Wo? Erst nach wenigen Minuten 22
wurde mir klar, dass ich wieder einmal einen Albtraum gehabt 23
haben musste. Sie schienen mich regelrecht zu verfolgen, 24
diese Träume: Einmal in meine Vergangenheit zurück, ein 25
anders Mal an einen unbekannten Ort. Doch am Ende war ich 26
jedes Mal alleine. Und seltsamerweise vergaß ich diese 27
Träume nicht, wie man es sonst immer tat. Nein, jedes Detail 28
- die Fahne, die Aschenbahn, das Licht - alles tauchte 29
wieder und wieder in meinen Gedanken auf. 30
227
Ich gähnte herzhaft und wollte mich mit einem flüchtigen 1
Blick auf die Uhr umdrehen, um weiter zu schlafen. Wollte… 2
Als ich plötzlich ein leises Rascheln vernahm. Verwundert 3
tastete ich mich in dem schwachen Lichtschein ab, dann den 4
Kartoffelsack. Dabei musste ich Mickie wohl mit dem Finger 5
fort gestupst haben, denn die Wüstenrennmaus jagte 6
verwundert davon. Schnell entschied ich mich ebenfalls 7
auszuspringen, um sie wieder einzufangen, als mich etwas 8
zögern ließ. Ein Stück Papier etwa in der Größe eines 9
Abziehbildes segelte zu Boden. Im Normalfall hätte ich es 10
zerknüllt und weggeschmissen. Im Normalfall. Nun spielte 11
diese Geschichte aber nicht in Deutschland in einer 12
Etagenwohnung im neunten Stock in dem Kinderzimmer eines 13
zehnjährigen Jungens, auf dessen Schreibtisch sich die Hefte 14
und Blöcke mit den Hausaufgaben stapelten. Nein, die 15
Geschichte spielte tausende Kilometer entfernt in der Küche 16
eines Hauses, in dem selbst der letzte Winkel besenrein war. 17
Nicht auszudenken, dass sich dort ein Zettel auf 18
Wanderschaft befand. Neugierig klappte ich das Papier auf - 19
und erstarrte. In seiner Mitte waren lediglich wenige, wegen 20
der Dämmerung schwer lesbare Worte mit Bleistift gekritzelt: 21
Also: Nummer 255:Zarin K. zurzeit: Be- und Entladung von 22
Waren / Kurierdienste 23
Tess 24
Hastig wandte ich den Zettel in meiner Handfläche, als 25
würden dadurch neue Informationen hinzukommen, die ich 26
vielleicht überlesen hatte. Aber nein, es blieb bei den elf 27
Wörtern, den zweiundsiebzig Zeichen, davon drei Zahlen, drei 28
Doppel- und zwei normalen Punkte. Doch dieser winzige Zettel 29
reichte aus, um einen gerade mal zehnjährigen Jungen völlig 30
228
aus der Bahn zu werfen. Zarin, der Mann, der an dem Tag an 1
ein Labor verkauft werden sollte, an dem Papa starb, war 2
niemand anderes als der Ehemann von Keenans verstorbener 3
Schwester Ismen. An den Riesen im Dorf konnte ich mich noch 4
gut erinnern, gleich wohl er manchmal ohne ein Wort 5
verschwand und ich ihn daher nicht oft zu Gesicht bekommen 6
habe. Nun schien auch dies zum Teil einen Sinn zu ergeben, 7
wenn man bedachte, für wen er gearbeitet hatte und immer 8
noch arbeitete. Kurz tauchte in meinen Gedanken das Bild des 9
Internetcafés auf, in dem ich mich vor ihm verstecken 10
musste. Damals - es erschien mir wie eine Ewigkeit - hatte 11
Zarin mich verzweifelt gesucht, um mich zurück nach 12
Deutschland zu bringen. Zu meinem Besten, damit mir nichts 13
zustoße. 14
Irgendwie musste der Mann schon vor Scott gewusst haben, 15
dass ich entweder dem Business auf der Website 16
www.leber_im_sonderangebot.de ein Dorn im Augen sein würde 17
oder Zarin hatte mich tatsächlich aus irgendwelchen Gründe 18
davor bewahren wollen, dieses Fehler zu begehen. Ich 19
seufzte, wobei ich den an mir hochkletternden Mickie 20
vorsichtig am Schwanz anhob und zur Strafe ein wenig in der 21
Luft baumeln ließ. Leise fiepend zappelte er und in seinen 22
winzigen, schwarzen Mausaugen lag etwas Flehendes, welches 23
das Herz eines jeden Tierliebhabers sofort erweichte. Bitte, 24
bitte, lieber Tim, lass mich runter. Lächelnd legte ich mich 25
zurück auf den Kartoffelsack und verstaute den Zettel sicher 26
in einer Ritze, damit ihn niemand finden würde. So gut es 27
ging, kuschelte ich mir auf das Kissen, formte für das Tier 28
eine Art Nest und setzte es sanft am Kopf streichelnd 29
hinein. Wenigstens du hast keine Probleme außer Essen und 30
229
Schlafen, erwiderte ich in einer lautlosen, fremden Sprache, 1
die lediglich die Maus verstand. 2
Es war hell, als ich erwachte. Die ersten Sonnenstrahlen 3
fluteten bereits durch die wenigen Fenster die Küche. 4
Gähnend räkelte ich mich. Die Ereignisse der Nacht schienen 5
mehr wie ein böser Traum und erst, als ich das Stück Papier 6
heimlich in einem unbeobachteten Moment auseinanderrollte, 7
begriff ich, dass es weder Traum noch Scherz war. Viel mehr 8
ähnelte es einem Puzzle, welches man nicht zu Ende 9
zusammensetzen wollte, weil einem das Motiv missfiel. Ich 10
bräuchte Zeit, die ich nicht hatte, um dies alles zu 11
verstehen. 12
Heute musste ein großer Teil für Scott vermeintliches 13
Verreisen vorbereitet und anschließend in hochgradigen 14
Schüsseln verpackt und verstaut werden. Bisher habe ich (wie 15
jedes anderen Kind meines Alters wahrscheinlich auch) die 16
Eltern die Koffer hieven oder den Urlaub planen lassen, 17
während man sich selbst pfeifend, mit Gameboy oder Buch 18
bewaffnet, vom Acker machte, damit sie dabei ihre Ruhe 19
haben. Als Dank wird man dann im Auto oder Flugzeug ständig 20
angefaucht, wenn man lieb und nett zum siebten Mal fragt, ob 21
hinter den Bergen endlich die Nordsee ist. 22
Nun begutachte ich argwöhnisch die Liste unseres 23
Meisters, verblüfft, wie viel eine einzelne Person für eine 24
Woche an Proviant benötigte. Mit dem Essen könnte locker 25
meine Grundschulklasse in der Jugendherberge satt werden. 26
Glaubte ich jedenfalls. Vielleicht würde es auch noch für 27
die halbe Parallelklasse reichen. Wer wusste das schon 28
genau? Für Scott wäre es auf alle Fälle zu viel, 29
230
vorausgesetzt er will nicht Afrikas neue Hoffnung im 1
Schwergewichte werden, was ihm durchaus zu zutrauen war. 2
Mit Hilfe von Malliums Adjutanten verstaute ich in 3
Plastiktüten gepacktes Obst und Gemüse in einem Karton und 4
klebte ihn an beiden Enden zu. Die exakte Beschriftung 5
erfolgte durch einen hageren Mann Mitte sechzig, der in 6
seinem Leben scheinbar schon einige Kisten für Scott hatte 7
schleppen müssen. Gekrümmt hievte er den schweren Karton 8
hoch, wobei er unter dem Gewicht taumelte. Ohne dass der 9
Küchenchef eingreifen konnte, fasste ich den Entschluss, dem 10
Alten zu helfen. Dankbar lächelte er mir ein wenig schief zu 11
und gemeinsam schleppten wir die Kisten über den Kiesweg in 12
Richtung eines warteten, weinroten Cabrios. An seine 13
Kupplung befestigte gerade in diesem Augenblick ein weiterer 14
Mann den Anhänger, über dessen Fläche eine weiße Plane mit 15
dem Aufdruck einer lachenden Orange gespannt war. Diese 16
reichte ein weißer Mann - mit erstaunlicher Ähnlichkeit zu 17
Scott - einem Farbigen. Unter dem Logo, fein säuberlich 18
durch eine regenbogenfarbene Linie abgetrennt, waren in 19
goldgelber Schnörkelschrift die Buchstaben M.A.S für 20
Miteinander am Sonnenplatz projiziert wurden. Scott spielte 21
sich doch tatsächlich als Wohltäter auf! Und vermutlich 22
kaufte ihm der größte Teil Afrikas dieses Spiel auch noch 23
ab, wenn er dafür ein oder zwei Orangen in die Hand gedrückt 24
bekam? Bei diesem Gedanken würde mir speiübel. Tief sog ich 25
die frische Luft ein und vergaß augenblicklich alles um mich 26
herum. Ein Schmetterling, der sich vermutlich von dem Klouto 27
hierher verirrt hatte, tanzte im Sonnenschein um mich herum 28
und flatterte dann weiter zu den Blumenbeeten herüber. 29
Wassertropfen der Bewässerungsanlage der Rasenflächen 30
231
sprenkelten meine nackten Beine, ebenso wie der Brunnen 1
zwischen dem Hauseingang und dem Tor zur Außenwelt mein 2
Gesicht. Der Karton erschien plötzlich federleicht, der Kies 3
stach nicht unter meinen Füßen, sondern führte mich wie auf 4
kleinen Kissen fortan - bis ein Schatten die Sonne 5
verdeckte, ein Windstoß die bunte Welt fortfegte. 6
Der zweite Mann erhob sich, als er bemerkte, dass wir 7
unser Gut in dem Anhänger lagern wollten, der mit den 8
unverderblichen Lebensmitteln bereits zu einer kleinen 9
Speisekammer angereichert war - und erstarrte in seiner 10
Bewegung. Immer noch gehockt, die Augen weit aufgerissen, 11
wusch er sich mit den dreckigen Hand einmal übers Gesicht. 12
„Nummer 255?“ Der Alte stieß ihn leicht mit dem Fuß an, 13
nachdem er die Kiste vor sich auf den Boden abgestellt 14
hatte. Doch der Genannte reagierte kaum, sondern starrte 15
mich weiterhin mit ausdrucksloser Miene an, dass mir ein 16
wenig unbehaglich zu Mute wurde. Zarin, in einem weißen 17
Hemd, welches sich über seinen seltsam durchtrainierten 18
Bauch spannte, und hellblauer Jeans, wirkte mit den etwas 19
längeren, ordentlich gekämmten Haaren wie ein Sekretär. An 20
dem Ringfinger seiner rechten, großen Hand trug er immer 21
noch den kleinen Hochzeitsring. Auch wenn der Mann über den 22
Tod seiner Frau und dem seines neugeborenen Sohnes gut 23
hinweggekommen zu schien, konnte man dennoch erkennen, wie 24
sehr er litt. 25
„Nummer 255? Der Junge hat mir bloß beim Tragen 26
geholfen. Nicht schlimm. Unser Meister wird es nicht 27
erfahren.“ Der Alte sprach mit dem für Togolesen typischen 28
Akzent Eve, den ich, was er nicht wusste, auch zum Teil 29
232
beherrschte. Ich musste. Schließlich hätte ich sonst niemals 1
beim Indianerspielen eine Chance gehabt. 2
„Er sollte nicht hier sein.“, brummte Zarin mehr zu sich 3
selber als zu dem alten Afrikaner, bevor er sich mit einem 4
letzten Blick wieder der Kupplung zuwandte. 5
Wütend stampfte der Mann mit dem Fuß auf, dann hinkte er, 6
ohne mich weiter zu beachten, zurück in die Küche. 7
Seufzend sah ich ihm nach. Was ging hier eigentlich vor 8
sich? Warum sollte ich nicht hier sein? Was verschwieg Zarin 9
mir? Unbeholfen marschierte ich von links nach rechts über 10
den Kiesweg, wohl bedacht, dabei viel Lärm zu machen, damit 11
der Riese gezwungen sein würde, mir Aufmerksamkeit zu 12
schenken. So hatte mein Freund Phil es in der Schule auch 13
immer geschafft. Und irgendwie hat er die Lehrerin nach 14
seinen Papierkügelchenwürfen gegen die Tafel jedes Mal dazu 15
gebracht, ihn früher gehen zu lassen. Je lauter man ist, 16
desto eher wird man gehört. 17
Tatsächlich… Es funktionierte! Nach wenigen Minuten drehte 18
sich der Mann genervt zu mir um. „Was willst du hier?“, 19
brummte er, „Du hast hier nichts zu suchen, verstanden?“ 20
Meine Augen wurden zu einem Schlitz. Am liebsten hätte ich 21
den Afrikanern nun in die Seite geboxt, so wütend war ich. 22
„Glaubst du eigentlich, ich bin freiwillig hier, Zarin!?“, 23
fauchte ich zurück, als sich eine Hand über meinen Mund 24
legte und mir die Arme auf den Rücken drehte. Nein, nicht 25
mit mir! Zornig begann ich, um mich zu treten, in die Hand 26
zu beißen. So schnell würde ich nicht Ruhe geben! Da müsst 27
ihr euch schon etwas Besseres einfallen lassen! Mit aller 28
Kraft lehnte ich mich nach vorne, als sich der eiserne Griff 29
unerwartet löste. Bei dem unvermeidbaren Sturz auf den Kies 30
233
renkte ich mir alle Knochen aus. Tausende von kleinen 1
Steinchen bohrten sich durch das dünne Oberteil zwischen 2
meine Schulterblätter. Staub brannte ihn meinen Augen. Doch 3
damit war noch nicht genug. Der vermeintliche Angreifer 4
baute sich vor mir auf und zog mich am Gürtel zu sich hoch. 5
„Sei still… Tim.“ Hastig ließ Zarin seinen Blick 6
umherschweifen, stieß mich nach kurzer Zeit von sich. „Mit 7
dir habe ich nicht gerechnet. Es tut mir leid. Dir sollte 8
dies erspart bleiben.“ 9
Mit angezogenen Schultern hockte er sich auf die Kante des 10
Anhängers, vergrub das Gesicht in den Händen. 11
„Was sollte mir erspart bleiben? Dass ich weiß, dass…“ 12
„Kannst du dort raus?“ Er deutete mit einen Kopfnicken auf 13
die Küchentüre, in der der alte Mann wieder erschien. Ich 14
wiegte den Kopf, schließlich schüttelte ich ihn 15
niedergeschlagen. Nein, ausgeschlossen dort abzuhauen, auch 16
wenn ich darin mittlerweile Übung hatte. Falls es mir 17
tatsächlich gelingen würde, heimlich aus der Küche ins Freie 18
zu fliehen, wäre ich drei Sekunden später im Rahmenlicht. 19
Dann könnte ich sehr wahrscheinlich ein Lied davon singen, 20
wie sie mich Stück für Stück auseinander nehmen. Nein, viel 21
zu riskant. 22
Auch Zarin schien dies einzusehen, denn er malte 23
nachdenklich mit dem Finger im Kies. „Ich schätze, du wirst 24
dich gedulden müssen. Zwar nicht eine deiner Stärken, aber…“ 25
Er hielt kurz inne, um dem älteren Mann beim Verstauen des 26
Kartons zu helfen, der ihm einen vernichtenden Blick zu 27
warf, woraufhin der Togolose die Stirn krauste. „Verschwinde 28
jetzt besser, Junge! Siehst du denn nicht, dass ich zu tun 29
habe?“, brüllte er, dass selbst die Papageie, die sich in 30
234
der kugelförmig geschnittenen Baumkrone versteckt hatte, 1
aufgeregt davon flatterten. Eine elegante, bunte 2
Schwanzfeder segelte dabei langsam zu Boden. Beide Hände in 3
die Hüften gestemmt, pustete ich einmal in die Luft, drehte 4
dann mich fort, langte im Gehen nach der Feder, die ich mir 5
wie die eines Indianers ins Haar steckte, und rannte zurück 6
in die Küche, in der mich ein ziemlich mürrisch 7
dreinschauender Koch empfing. 8
„Wo warst du, Bursche?“, knurrte er, tippte dazu im Takt 9
mit dem Fuß auf die Fliesen. 10
Ich schwieg. Egal, was ich geantwortet hätte, es wäre 11
immer falsch gewesen. 12
Geduld war genau das richtige Stichwort… 13
235
10. Kapitel 1
Und so wartete ich. Und wartete und wartete. Ohne 2
eigentlich konkret zu wissen, worauf ich wartete. Ich 3
wartete einfach. Manchmal alleine, manchmal gemeinsam. Die 4
einen Stunden vergingen im Flug, andere schienen ein 5
unendlich langer Bann von Sekunden und Minuten. Aber ich 6
wartete dennoch. Vom Morgengrauen bis zum Mittag. Vom Mittag 7
bis zur Dämmerung. Von der Dämmerung bis zur Stunde null. 8
Und von der Stunde null bis zur Morgendämmerung. Warten, 9
gedulden. Von Montag bis Dienstag, dann von Dienstag bis 10
Mittwoch, bis Donnerstag, bis Freitag. Von Freitag bis 11
Samstag und Sonntag. Solange, bis dieses Warten ein Ende 12
haben würde, wenn es denn eines hätte. 13
Das weinrote Cabrio mochte seit vier Tagen verschwunden 14
sein; eines Morgens, als ich beim Erwachen einen flüchtigen 15
Blick aus dem Fenster geworfen hatte, war er wie vom 16
Erdboden verschluckt. Und Scott mit ihm. 17
Doch dies änderte kaum etwas an der Tatsache, dass der 18
Meister nicht ein halbes Dutzend Stellvertreter unter Obhut 19
haben musste, die seine Rollen hervorragend nacheiferten. 20
Diese Kopien konnte vor allem noch um einiges harter 21
bestrafen, was ich des Öfteren bemerkte. Einmal erlaubte 22
sich ein Dienstmädchen den Fehler, die schwarzen 23
Spannbetttücher von Zimmer Nummer 16 und 17 zu vertauschen. 24
Schließlich hätte es nie jemand bemerkt, da die Bettwäsche 25
jeden zweiten Tag um dieselbe Uhrzeit gewechselt wurde und 26
sich zu dieser Zeit niemand in dem Raum aufhalten sollte. 27
Und selbst wenn… wer konnte zwei völlig identische, schwarze 28
Lacken voneinander unterscheiden? Über diese Frage konnte 29
236
die junge Frau noch etwas länger grübeln, als sie mit dem 1
Freifahrtschein zur Hölle in der Hand in den Keller geführt 2
wurde. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war ein 3
erstickender Schrei. 4
Nummer 167, der zweite Koch, hatte mich bereits im 5
Flüsterton davor gewarnt, Scotts Abwesenheit auszunutzen. 6
Dort, meinte er, wo sonst nur zwei Augen lauern, dort sind 7
nun zwölf oder mehr. Vielleicht hast du Glück, mein Junge, 8
vielleicht hast du es nicht. Aber ich an deiner Stelle würde 9
nichts riskieren. Bei dieser Ansprache nickte ich lediglich, 10
selbst wenn ich schon einige Gedanken an Flucht verschwendet 11
hatte. Ich wusste, indem, was er sagt, hat der Mann recht. 12
Wahrscheinlich wäre ich ohnehin zu feige gewesen, nun etwas 13
zu unternehmen. 14
Und so habe ich gewartete, immerzu gewartet. Wie sonst nur 15
auf das Glöckchen des Christkindes. Nur ahnte ich damals, 16
dass es wieder einmal ein neues Plastikparkhaus, das 101. 17
Kuscheltier oder später ein Gameboy-Spiel sein würde. Auf 18
alle Fälle zählte die Vorfreude auf Weihnachten. Doch nun 19
stützte ich mich Tag für Tag ins Ungewisse. Was würde 20
geschehen? Würde dieses XY mir helfen oder mich nur weiter 21
zerstechen? Fragen über Fragen, nichts als Fragen… 22
… Bis dieser Tag kam oder einer dieser Tage. Der 31. Juli 23
2004, grau, ohne Sonnenschein, kühler bei 22 Grad Celsius. 24
Wenn man davon absah, dass an diesem letzten Samstag im Juli 25
mit Atakpamé in der togoischen Region Ogou das Ernte-26
Festival der Süßkartoffeln, das Odon-Tsu, gefeiert wird, 27
hätte man annehmen können, es sei ein Tag wie jeder andere 28
auch. Dennoch, als ich heute die Orangen auspresste, 29
bemerkte ich eine Veränderung: Der Meister war von seinem 30
237
Ausritt um die Welt zurückgekehrt: Mallium jagte wie ein 1
gescheuchtes Tier unter der Peitsche durch die Küche, rührte 2
mal hier im Tee, füllte mal da eine Schüssel mit Obst und 3
Cornflakes, das einzige Ungesunde, was Lady Tess zu sich 4
nehmen durfte. Hinter der Tür hörte ich gelegentlich das 5
leise Klirren von Besteck, den Staubsauger. Auf dem Hof 6
polierte bereits jemand den Wagen, auch wenn Scott erst vor 7
wenigen Minuten ausgestiegen sein mochte. Den Anhänger hatte 8
man von der Kupplung gelöst, jedoch nicht fortgefahren, 9
vermutlich weil dies wegen des vielen Inhalts nur für drei 10
Herkulese zu bewältigen war. Dessen Plane hing mit mehreren 11
Riemen festgeschnürt straff herunter, bläute sich nur 12
gelegentlich seltsam merkwürdig auf. Verwirrt rieb ich mir 13
die Augen. Eben, vor etwa drei Sekunden, war da links noch 14
eine Delle gewesen… Nein, ausgeschlossen. Sicher spielte dir 15
nur jemand einen Streich. Wie sollte sich die Plane bewegen, 16
wenn es derart windstill ist? 17
„Nummer 448!“ Geistig abwesend zuckte ich zusammen. 18
Mittlerweile hatte ich mich zwar an diesen Namen gewöhnt, 19
aber es brauchte einige Augenblicke, bis ich registrierte, 20
dass man mich meinte. 21
„Jawohl, Sir!“ 22
„Brüll mich nicht so an, Junge!“, knurrte Mallium böse 23
zurück, wobei er sich, ein Obstmesser in der Hand, 24
bedrohlich näherte, „Mach dich einmal nützlich und helfe 25
Nummer 255 beim Entladen des Gepäcks.“ 26
Zarin! Zarin ist wieder da! Hastig ließ ich das Messer 27
meinerseits auf die Ablagefläche klirren und setzte bereits 28
zum Sprint nach draußen an, als der Küchenchef mich an der 29
Schulter zu sich herum riss. „Und wehe dir, du machst mir 30
238
Ärger. Dann kannst du dafür beten, dass ich dir nur das 1
Genick breche. Hat dein kleines Hirn das da oben k-a-p-i-e-2
r-t?“ Mit zusammengekniffenen Augen schlug er mir seine 3
Handfläche auf den Rücken, „Und nun verschwinde endlich!“ 4
Noch bevor Mallium etwas entgegnen konnte, rannte ich, die 5
Küchentüre im Lauf aufstoßend, auf den Hof, wo mich bereits 6
jemand sehnsüchtig erwartete. Der alte Mann, dem ich schon 7
einmal geholfen hatte, zwinkerte mir freudig zu. Sein 8
anderes Auge zuckte dabei unkontrolliert. 9
„Es nicht viele Junge gibt, die helfen wollen hier.“ Es 10
fiel ihm sichtlich schwer, die Worte selbst in seiner 11
Sprache zu richtigen Sätzen zusammenzufügen. Bei jedem 12
Buchstaben verzog sich sein Gesicht wie bei einem Theater. 13
Mal saß die Brille oben auf dem Nasenrücken, mal rutschte 14
sie in derselben Bewegung derart tief, das man fürchtete, 15
sie könne herunter fallen. 16
Ich wiegte den Kopf, erwiderte jedoch nichts, aus Angst, 17
Mallium beobachte mich. 18
Vorsichtig begann ich die Plane des Anhängers zu lösen, 19
als mir plötzlich eine Hand auf die Finger schlug. Zarin in 20
voller Lebensgröße, mit ärgerlichem Gesichtsausdruck und 21
einem Zigarrenstängel zwischen den Lippen, den er nun auf 22
den Boden austrat, bäumte sich neben mir auf. „Lass das! Du 23
bist lediglich hier, um das zu tragen, wozu wir dich 24
beauftragen.“, brummte er, aber in seinem Blick lag etwas 25
Mitfühlendes. 26
Wütend trat ich gegen die Kiessteine auf dem Weg. Zum 27
Schleppen bin ich euch gut genug, wie?! Euch werde ich es 28
zeigen, selbst wenn es mich noch so viel kostete! Ohne dass 29
einer der beiden Männer hätte reagieren können, riss ich an 30
239
dem letzten, bereits halbgelösten Riemen und lugte ins 1
Innere, welches auf den ersten Blick leer erschien. Auf den 2
ersten Blick. 3
Vorsichtig zwängte ich mich zwischen den Körben hindurch 4
auf die Ladefläche, als mein Herzschlag für ein paar 5
Sekunden aussetzte. Meine Lungenflügel zogen sich zusammen, 6
sodass ich röchelnd nach Luft schnappen musste. Gleichzeitig 7
übergab ich mich über einer Kiste mit Orangen, fiel auf die 8
Knie. Nein… Bitte nicht! Mit Tränen in den Augen stieß ich 9
einen Schrei aus, der um die gesamte Welt zu wandern schien. 10
Von New York bis nach Sydney. Vom Nordpol bis in die 11
Antarktis. Meine Hände verkrampften sich an der Kiste, meine 12
Beine wollte mich nicht mehr tragen, konnten nicht mehr 13
weiter. Das Bild des Mädchens, welches blutverschmiert in 14
seinem blauen, schottischen „Hardrock-T-Shirt“, mit 15
zusammengefalteten Händen, zur Seite gedrehtem Kopf, 16
schlief, wurde in tausende Splitter zerschlagen. Sein 17
haselnussbraunes Haar war länger, ein wenig verfilzt und 18
zerzaust. Die Haut um einiges dunkler, aber dennoch heller 19
als die eines Afrikaners. Zweifellos - ich würde es noch so 20
verleugnete können - es war meine beste Freundin, die dort 21
vor mir auf der Ladefläche des Anhängers meines größten 22
Feindes lag. Kay, von der ich gehoffte hatte, sie niemals an 23
diesem furchtbaren Ort wieder zu sehen. Mein Schwesterchen. 24
Nein, das muss ein böser Streich sein, ein Albtraum. 25
„Tim?“ Zarin, der hinter mir her geklettert war, legte mir 26
sanft die Hand auf die Schulter. „Es tut mir so leid. Ich 27
habe es verhindern wollen, wirklich. Ich habe es verhindern 28
wollen.“ Als ich schwieg, fuhr er murmelnd fort: „Da war ein 29
Dorf in der Region um Ogou, das Erntedank feierte. Um ihr 30
240
Vertrauen zu gewinnen, hat der Meister ihnen Orangen und 1
andere Lebensmittel geschenkt. Genauso wie damals in unserem 2
Dorf. Wir haben es alle geglaubt, verstehst du? Alle haben 3
wir es geglaubt, uns täuschen lassen. Auch ich, auch Keenan, 4
wir alle. Das Mädchen wollte an diesem Nachmittag mit einer 5
Schulfreundin spielen, die in diesem anderen Dorf lebte. Sie 6
musste wohl auf Klo. Anders kann ich es mir jedenfalls nicht 7
erklären, warum der Meister ein Kind ‚zur Flucht in ein 8
neues Paradies‟ entführt.“ 9
Er machte eine Atempause, damit ich die Möglichkeit bekam, 10
zu begreifen, und mir nicht zu viel auf einmal zumutete. 11
Aber ich sah ihn nicht an, nur Kay. Wie konnte so etwas bloß 12
passieren? Kay, hörst du mich? Ich bin‟s Tim… Der Tim, der 13
an allem schuld ist. Erinnerst du dich? Wenn nicht… Ich kann 14
es verstehen. Auch, dass du mich jetzt vermutlich hasst. 15
Ich bin ja, zu nichts zu gebrauchen! Immer mache ich alles 16
falsch. Es tut mir leid, Kay Linn. 17
Behutsam hob ich ihren kleinen Kopf an, streichelte ihr 18
über das zerzauste Haar, in dem noch ein braunes Haarband 19
steckte. 20
„Wo sind die anderen?“, fragte ich mit erdrückender 21
Stimme, sodass ich kaum einen Laut herausbekommen mochte. 22
„In einem Essenzimmer. Der Meister wird ihnen ihre Aufgabe 23
erklären und was sie dafür tun müssen, damit sie immer 24
genügend zu essen haben. Das mag sich für einen Jungen wie 25
dich seltsam anhören, aber diese Menschen sind derart 26
verzweifelt, dass der Meister für sie tatsächlich so etwas 27
wie ein Messias, ein Heiliger ist, der ihnen einen Weg aus 28
dem Nichts bietet. Jeder glaubt ihm, auch ich habe ihm 29
Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort geglaubt. Und den 30
241
meisten geht es hier besser. Du hast überhaupt keine Ahnung, 1
wie das hier in Afrika läuft! Frauen werden vergewaltigt. 2
Draußen in Kpalimé verhungern die Kinder auf der Straße!“ 3
„Nummer 255!“ 4
Zarin atmete tief durch, damit sich seine Stimme nicht 5
überschlug. „Ja?“, erwiderte er etwas gefasster, wobei er 6
den Kopf aus dem Anhänger steckte und leise mit dem alten 7
Mann zu flüstern begann, der scheinbar draußen gewartet 8
haben musste. Ich gab mir keine Mühe, sie zu belauschen, 9
sondern versuchte, Kay zu schultern. Unter gar keinen 10
Umständen würde ich sie alleine lassen! 11
„Was machst du da?“, fauchte der Togolese, der mich im 12
Blickwinkel zu beobachten schien. Ohne ihm etwas zu 13
entgegnen, wollte ich gebückt an ihm vorbei krakeln, als er 14
mich grob zurückstieß, sodass Kays Kopf beinahe auf der 15
Kiste aufgeschlagen wäre, hätte ich sie nicht 16
geistesgegenwärtig gefangen. 17
„Bist du denn völlig übergeschnappt?“ Der Finger des 18
Mannes näherte sich drohend. „Wo willst du sie hinbringen?“ 19
Ich überlegte kurz. „In Sicherheit.“ 20
„Und wo ist es deiner Meinung nach sicher?“ 21
„Aber ich kann sie doch nicht einfach hier liegen 22
lassen.“, murmelte ich niedergeschlagen. Ein feuchtes 23
Glitzern im Augenwinkel. 24
Während Zarin nacheinander die Kisten und Körbe zum 25
Ladeflächenrand schob, besah er sich das kleine Mädchen zum 26
ersten Mal genau. Sie wirkt so zierlich, so schwach, beinahe 27
zerbrechlich, wie sie hilflos da lag. Obwohl sie unverletzt 28
schien, überkam mich erneut dieses Bedürfnis, sie zu 29
beschützen. Ich konnte sie nicht verlassen… 30
242
„Bitte, Zarin. Du musst ihr helfen, bitte.“ 1
„Ich kann nicht.“, erwiderte Zarin grob, dann kletterte er 2
von der Ladefläche herab. Unten angekommen streckte er 3
nochmals den Kopf hinein: „Und du auch nicht, Tim. Das weißt 4
du! Komm endlich! Sei ein braver Junge, sei vernünftig. 5
Komm.“ 6
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich will bei ihr bleiben.“ 7
Es klang bestimmt und hartnäckig, verzweifelt. 8
Der Togolese stöhnte. Genervt kletterte er nochmals in den 9
Anhänger zurück, sah mich von oben bis unten an. „Du wirst 10
jetzt mit mir kommen“ 11
„Nein, ich mag bei Kay bleiben.“ 12
Ohne dass ich mich wehren konnte, packte Zarin mich unter 13
den Armen, schleifte mich wie eine Puppe zum Ladeflächenrand 14
und stieß mir den Ellenbogen in den Rücken, sodass ich vorne 15
überfiel. Wild ruderte ich mit den Armen, schrie, als ich 16
unsanft im Kies landete. Kleine Steinchen hatten ihre 17
Druckstellen auf meinem Körper hinterlassen, aber anstatt zu 18
weinen, rappelte ich mich auf, um erneut zu meiner besten 19
Freundin vorzubringen, was in Anbetracht dessen, dass der 20
Afrikaner sich wie eine riesige, schwarze Wolke vor mir 21
aufbäumte aussichtslos war. „Dein Vater hat dich nie 22
erwähnt, Tim. Nie. In seiner Welt existiertest du nicht. Ich 23
habe mich immer gefragt, warum. Jetzt weiß ich es: Du 24
bereitest einem nichts als Ärger.“, zischte er. Diese 25
unerwartete Wendung des Gesprächs irritierte mich für einen 26
Moment. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die aneinander 27
gereihten Zeichen in meinem Gehirn wie eine geheime 28
Botschaft entschlüsselt werden konnte. Doch selbst als aus 29
den Zeichen Buchstaben, aus den Buchstaben Wörter, aus den 30
243
Wörter Sätze wurde, selbst dann begriff ich den Sinn dieser 1
Nachricht nicht. Weshalb erzählte der Mann mir nun von Papa? 2
Von Papa, der mich gehasst hat? 3
„Nein… Nein, das ist nicht wahr.“ Tränen liefen mir über 4
die Wangen. Hektisch zwinkerte ich mich den Augen, rieb 5
dabei mit dem Zeigefinger über das Lid. 6
„Doch.“, entgegnete Zarin, wobei er mich am Handgelenk 7
fasste und zerrte mich über den Kies zurück zum Gebäude. 8
„Nummer 448?“ 9
Erstaunt hob ich den Kopf, drehte ihn in Richtung Türe. 10
Mallium, der gleich agierte, erhob sich von seiner Arbeit, 11
die Schubladen neu einzusortieren. Tess mit einer schwarzen, 12
weiten Hip-Hop-Hose und einer roten Trainingsjacke 13
bekleidet, erschien unerwartet auf der Bildfläche. Ohne dem 14
herbeieilenden Küchenchef Beachtung zu schenken, 15
gestikulierte sie mir, dass ich ihr unverzüglich folgen 16
sollte. „Ich versichere Ihnen, es ist alles in Ordnung. 17
Nummer 448 soll lediglich auf Wunsch meines Vaters in dessen 18
Arbeitszimmer erscheinen.“. 19
Ich erschrak. Um nichts in aller Welt würde ich nochmals 20
dieser Zimmer betreten! Doch Tess ließ mir keine Wahl. Kurz 21
warf ich einen Blick über die Schulter zurück. Nein, bitte, 22
ich würde auch noch ein paar Kartoffeln schälen. Mallium, 23
der mit jedem Meter schrumpfte, sah mir nicht nach. Er 24
schien mich bereits vergessen zu haben, noch bevor die Türe 25
überhaupt hinter uns zu schlug. Draußen auf dem Flur blieb 26
das Mädchen stehen. 27
„Tim.“, erwiderte sie mir den Rücken zugewandt, wobei sie 28
auf nackten Füßen über den kalten Fliesenboden davon 29
tänzelte. „Ich weiß nicht, was Dad mit dir vorhat. Tut mir 30
244
Leid.“ Mit einer eleganten Drehung fiel sie mir flüchtig um 1
den Hals. „Pass auf dich auf, ja? Sonst habe ich niemanden 2
mehr, den ich ärgern kann.“ 3
Mehr sagte sie nicht, jetzt nicht und auch nicht später. 4
Es blieb bei diesen Worte, die hart und kalt klangen, 5
teilnahmslos. Doch ich spürte, dass sie sich unbehaglich 6
fühlte. Wie eine Prinzessin, die einen Freund zum Galgen 7
führen musste. Anderseits konnte Tess auch ein Drache sein, 8
der mich an einer goldenen Kette in den Vulkan stoßen 9
mochte. 10
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich sie nicht kannte. Weder 11
die eine Tess, noch die andere. Ich mochte beide und ich 12
glaubte, sie mochte mich auch ein bisschen mehr, als sie zu 13
gab. Vielleicht hätten wir einander besser kennen lernen 14
müssen, vielleicht reichte es aber auch, dass wir nun den 15
gleichen Weg hatten. Ich wusste es nicht, auch wenn ich es 16
gerne tun würde. Dann könnte ich sie wenigstens darum 17
bitten, für Kay zu sorgen. Und für Mathieu. Dass ihnen 18
nichts passierte. Aber dafür war es nun zu spät, als ich 19
mich vor dem Schreibtisch jenes Monsters wieder fand, das 20
sich Sir Maurice Anthony Scott nannte. 21
„Nummer 448! Was für eine Überraschung!“ Der Sprecher 22
breitete mit gespielter Freude die Arme aus, wobei er auf 23
mich zu stolzierte, als wären wir alte Freunde, die einander 24
zufällig wieder gefunden hatten. Dabei musterte er mich mit 25
einem Blick, den ich wohl nie vergessen würde. Ein Blick, 26
der vielleicht Neugier zeigte, vielleicht auch so etwas wie 27
Zufriedenheit. Aber gleich, welche Gefühle es auch sein 28
mochten, in diesem Blick. Sie waren kalt, eingefroren, 29
gefangen hinter einer undurchdringbaren Eisschicht. Nicht 30
245
einmal der bunte Überwurf, wie er meist bei afrikanischen 1
Festen getragen wurde, ließ sie schmelzen. 2
Um diesem vernichtenden Blick auszuweichen, ließ ich 3
meinen eigenen durch das Zimmer schweifen. Auch wenn ich 4
mich noch genau an die Einrichtung, die Farben, erinnern 5
konnte, bewunderte ich den Architekten. Dieser Raum könnte 6
direkt aus den Seiten eines teuren Lifestyle-Magazins 7
stammen. Alles perfekt. Die gleichen Farbtöne. Die Nippes 8
waren Millimeter genau voneinander aufgereiht. Die Gemälde 9
brachte alles in einen seltsam harmonischen Einklang. Kein 10
Staub und selbst das Sonnenlicht, welches durch das Fenster 11
einfiel, wirkte fast künstlich, so als sei es nur da, um 12
alles, was es streifte, in noch besserem Licht erscheinen zu 13
lassen. 14
Mit einer Handbewegung gestikulierte Scott mir, auf einem 15
der beiden Ledersessel Platz zu nehmen, während er mich 16
höflichem Interesse fragte, wie es mir ginge. Dabei faltete 17
er die Hände aufmerksam auf dem Tisch. 18
Ich erwiderte nichts auf diese Anspielung. Obwohl ich 19
nicht wusste, weshalb ich hier saß, ahnte ich, dass sich 20
hinter der freundlichen Fassade eine Falle verbarg. 21
„Dein Hals scheint trocken. Möchtest du etwas trinken? 22
Eine Cola vielleicht? Auch wenn ich dieses Zeug ungesund 23
finde, aber nun gut. Ich gönne jedem den Erfolg dieser 24
sinnlosen Erfindung.“ 25
Als ich erneut schwieg, zuckte der Sir mit den Achseln, 26
wobei er einen scheinbar unter dem Tisch versteckten Knopf 27
betätigte, woraufhin sich der Kühlschrank öffnete, eine Dose 28
auf einem hinter einer Leiste versteckten Band zu uns 29
246
herüberrollte und von einem weiteren auf die Oberfläche 1
befördert wurde. 2
„Eine sinnvolle Erfindung, findest du nicht auch?“, 3
erklärte der Meister stolz, wobei er zischend die Dose 4
öffnete und mir in einem ebenfalls herbei gerollten Glas den 5
Inhalt exakt bis zu der 200 Milliliter-Markierung einfüllte 6
und sich mit einem Lächeln auf den Lippen nach Strohhalm und 7
Eiswürfeln erkundigte. 8
„Kommen wir zum Wesentlichen: Möchtest du mir nicht etwas 9
erzählen, mein junger Freund? Ich bin für all deine Probleme 10
offen. Du kannst mir dein Herz ausschütten, wenn du diesen 11
Drang verspürst. Ich werde dir bis zum Ende zu hören.“ 12
Etwas Gefährliches lag in seiner Stimme, etwas das mich 13
zögern ließ. Gleich, wie ich reagieren würde, der Mann war 14
mir wieder einmal haushoch überlegen. Wenn ich schwieg, 15
würde er einen seiner Gorillas bestellen, der mich 16
ausquetschte wie eine Orange. Aber selbst wenn den Mund 17
aufmachte… Das Ergebnis wäre in jenem Fall dasselbe. 18
„Nein, Sir, ich wüsste nicht, was.“ Dies entsprach der 19
Wahrheit. Ich ahnte tatsächlich bis zu diesem Zeitpunkt 20
nicht, weshalb er mich zu sich befohlen hatte. 21
„Nun gut. Ich will dir auf die Sprünge helfen.“ Seine 22
rechte Hand langte nach einer Akte unter dem Tisch, die er 23
auf den Tisch schlug. Papas Akte… Die Akte, die ich in 24
seinem Arbeitszimmer gefunden hatte! Meine Gedanken 25
überschlugen sich und mir fiel es sichtlich schwer, den 26
Blick von ihr abzuwenden. 27
„Ich schätze, du kennst den Inhalt ebenso gut wie ich, 28
Nummer 448.“, fügte der Meister triumphierend hinzu. Seine 29
Finger glitten über jede Seite, bis sie auf der letzten 30
247
angelangten. „Dein Vater war wahrlich ein ordentlicher Mann. 1
Wahrlich intelligent.“ 2
„Intelligenter als Sie? Ist das der Grund, weshalb Sie ihn 3
mir weggenommen haben?“ 4
Nun da der Mann schon herausgefunden hatte, dass ich in 5
das Arbeitszimmer eingebrochen und die Akte gelesen habe, 6
wäre es ohnehin zu spät gewesen, es zu verleumden. 7
Scott betrachte mich von oben bis unten. „Lass uns ein 8
Spiel spielen. Ein sehr, sehr einfaches Spiel. Du 9
beantwortest all meine Fragen und ich all deine, 10
einverstanden?“, schlug er vor, ohne auf meine Frage 11
einzugehen, „Und ich an deiner Stelle würde mir überlegen, 12
ob ich lügen würde. Denn…“ Sein Zeigefinger berührte kurz 13
einen weiteren Knopf, der dem einer Klingel glich. Zu meinem 14
Entsetzten öffnete sich augenblicklich eine Tür, aus dessen 15
Rahm ein fluchender Afrikaner auf den Boden gestoßen wurde. 16
Den kahl rasierten Kopf anhoben starrte er mich durch seine 17
blutunterlaufenen Augen für einige Sekunden unentwegt an. 18
„Ihr kennt euch, wie ich sehe?“ Scott erhob sich, um den 19
Mann mit einem Fußtritt gegen die Schläfe auf den Rücken zu 20
drängen. Ohne zu zögern, sprang ich ebenfalls auf, um meinem 21
Freund zur Hilfe zu eilen. Ich konnte ihn doch nicht einfach 22
im Stich lassen! Doch weit kam ich nicht. Eiserne Hände 23
zerrten mich von dem Meister weg. Ich schrie, versuchte 24
verzweifelt, mich loszureißen. Sinnlos. Aus dem Augenwinkel 25
bemerkte ich einen Stofffetzen, der sich langsam über meinen 26
Mund legte. Mir wurde übel. Der Schrei wurde in meiner Kehle 27
erdrückt. Meine Kräfte ließen nach. Nein, Sie…! Im Begriff, 28
das Bewusstsein zu verlieren, ließ ich den Kopf blitzartig 29
herumschnellen, wobei ich den Angreifer hart am Kinnhaken 30
248
traf. Der Gorilla taumelte. Für einige Sekunden war ich fei. 1
Aber was nun? Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen. 2
Maurice Scott, ein Tisch, die Coladose, Zarin… Alles 3
wirbelte durcheinander. Von links nach rechts, drehte sich. 4
Ruhig, Tim. Konzentrier dich! Nein, du kannst nicht. Meine 5
Lider flackerten. Du schaffst es… 6
Mein kleiner Aufstand war vollkommen töricht gewesen war, 7
aber zum Aufgeben war es noch zu früh. Dumpfe Schritte 8
erklangen auf dem Teppich. Ich konnte sie nicht ordnen. 9
Näherten sie sich von Norden, von Süden? Im Winkel meines 10
Blickfeldes nahm ich eine ruhige Bewegung war. Hektisch fuhr 11
ich herum. Zu spät. Zwei funkelnde Augen starrten mich 12
wutentbrannt an. Die Faust, die zu ihnen gehörte, schnellte 13
wie ein Geschoss hervor, versetzte mir einen 14
Handkantenschlag mitten ins Gesicht, sodass ich das Gefühl 15
hätte, ich wäre gegen eine Betonwand gelaufen. Ich spürte 16
jeden einzelnen Knochen. Weißes Licht blendete mich, 17
explodierte hinter meinen Augen. Dann brach ich zusammen. 18
249
11. Kapitel 1
„Los, mach die Augen auf, Nummer 448.“ 2
Ich hörte diese Worte wie auf weiter Ferne. Stöhnend hob 3
ich mein schmerzendes Gesicht von dem weichen Lederbezug der 4
Rückbank. Für einen kurzen Moment flammte in mir die 5
Hoffnung auf, endlich gerettet zu sein. Doch dann, als sich 6
die Gestalt auf dem Beifahrersitz zu mir umdrehte, erkannte 7
ich, dass meine Situation dieselbe war. Unverändert. 8
Lediglich der Ort war ein anderer: Ein Cabrio mit 9
verdunkelten Scheiben und Verdeck. Vorsichtig drückte ich 10
den Kopf in den Nacken, bis es knackte. Ich konnte von Glück 11
sagen, dass er noch dran war, selbst wenn er noch so zu 12
zerspringen drohte. 13
Langsam stürzte ich aus der Schwerelosigkeit des 14
Universums zurück auf die grelle, harte Erde. Der Aufprall 15
trieb mir kurz die Luft aus den Lungen, dann öffneten sich 16
die Poren wie winzige Tore und auf einmal fiel es mir 17
leicht, einen Atemzug zu tun, einen zweiten und auch noch 18
viele weitere. 19
Scott beobachte mich bei jeder meiner Bewegungen amüsiert. 20
„Du faszinierst mich. Das muss ich immer wieder zugeben.“ 21
Schmunzelnd reichte er mir einen Keks, den ich dankbar 22
annahm. Obwohl ich einige Zeit geschlafen haben musste, 23
verspürte ich dennoch ein plötzlich aufsteigendes 24
Hungergefühl. Gierig knabberte ich an dem selbstgebackenen, 25
mit Orangenmarmelade gefüllten Gebäck, stopfte es mir 26
schließlich in den Mund und langte nach einem weiteren, 27
diesmal in Form einer Schnecke, mit Schokostreuseln 28
verziert. Als meine Zähne aufeinander prallten und ich mich 29
250
an den übrigen Krümeln verschluckte, drang mir ruckartig ins 1
Bewusstsein, dass es sich hierbei nicht um einen Ausflug 2
handelte. Sofern es meine missgünstige Lage zuließ, hob ich 3
den Kopf, um ausmachen zu können, wo wir uns befanden. 4
Wir mussten bereits ein ganzes Stück gefahren sein. 5
Vermutlich in die entgegen gesetzte Richtung. Das blutrote 6
Abendlicht ergoss sich über dem schlammigen, uneben 7
asphaltierten Weg, der scherzhafter Weise als Landstraße 8
bezeichnet wurden. An dessen grob gekennzeichnetem 9
Fahrbahnrand erstreckte sich zu beiden Seiten der Wald. 10
Zeitweise auch hoch über dem Verdeck, sodass es den Eindruck 11
verschiedener, kleinerer Lichttunnel erweckte. 12
„Du magst dich sicher fragen, wo wir sind.“ Scott ergriff 13
derart unerwartet das Wort, dass ich zusammenzuckte. „Ich 14
will es dir sagen, mein Junge. Wir befinden uns im 15
südlicheren Teil des Forstes, exakt achtzehneinhalb 16
Kilometer von meinem Anliegen entfernt und weitere 17
siebenundzwanzig von dem nächstgrößeren Dorf. Dich 18
verunsichert unsere Spazierfahrt wahrscheinlich. Ich 19
jedenfalls würde dir dies nicht verübeln.“ Er lachte 20
versuchsweise, aber es klang kalt und emotionslos, während 21
er dem Fahrer mit einem knappen Handzeichen verdeutlichte, 22
unmittelbar vor der Kurve zu halten. 23
„Wieso bringen Sie mich hierher?“ Was mochte dem 24
Meister gerade an dieser Stelle liegen? Bäume, soweit das 25
Auge reicht, nur mäßiger Verkehr… Allmählich näherte sich 26
der Finger dem Lichtschalter. Die Glühbirne flackerte kurz, 27
dann begann sie grell aufzuleuchten. Doch die Gedanken am 28
Horizont der Dämmerung jagten mir einen Schauer über den 29
Rücken. 30
251
„Steig aus!“, befahl Scott barsch, wobei er den 1
Sicherheitsgurt löst. Langsam setzte ich mich auf, rieb mir 2
behutsam mit den Fingern über die pochende Schläfe. Ich 3
wollte nicht aussteigen. Unter gar keinen Umständen! Wenn 4
ich das Auto verließ, könnte der Mann mich sofort töten, 5
noch ehe ich überhaupt registriert hätte, was geschehen war. 6
Würde er es hier drinnen tun, müsse er anschließend das Blut 7
von den Sitzen scheuern. Sicherlich eklig, die ganzen 8
winzigen, rotbraunen Flecken. Na, wenigstens würden sie sich 9
dann einmal ernsthafte Sorge um dich machen, dachte ich 10
verbitterte. Von außen wurde die Tür aufgerissen, das 11
Verdeck zurück gefahren, sodass ich dem völlig ausgeliefert 12
war. Okay, soviel zu deinem Plan… Widerwillig kletterte ich 13
daher aus dem Cabrio, als ich erstaunt ein weiteres Fahrzeug 14
bemerkte, welches ebenfalls am Straßenrand parkte: Ein 15
Kleinlaster mit ausgebeulten Türen, einem zersprungen 16
Spiegel, verdreckten Scheiben. Der Fahrer, ein 17
Dunkelhäufiger mit verfilztem Bart, sprang aus seiner 18
Kabine. Ihm folgte der Geruch von Zigarrenrauch und Schweiß, 19
der wohl noch drei Meilen entfernt zu riechen sein würde. 20
Faszinierend, wie der zweite Mann, der nun einen gefesselten 21
Dritten hervorzerrte und ihn neben sich über die Straße zu 22
uns herüberführte, diesen Gestank überleben konnte. Aber ich 23
schätzte, dies wäre mein wahrscheinlich kleinstes Problem. 24
Im Grunde stand ich schutzlos am Rand einer Kurve und wurde 25
von allen Seiten umzingelt. Hinter mir die Fahrzeuge, 26
rechts, wo man nun Zarin mit dem Rücken gegen die Rinde 27
presste, die Bäume, links das Stinktier und der gepflegte 28
Fahrer des Cabrio. Und vor mir, vor mir wurde die Sicht 29
durch einen durchtrainierten Oberkörper verdeckt, zu dem ich 30
252
nun gezwungen war, aufzusehen. Aussichtslos, meine Chancen 1
aus dieser Lage unbeschadet herauszukommen, standen gleich 2
null. Alleine zumindest. Hilfe suchend sah ich zu Zarin 3
herüber, der abweisend den Kopf schenke, als wolle er nicht 4
sehen, was nun geschah. Aber was, was wollte er verbergen? 5
Und warum? Was war passiert? Weshalb hatte man nun auch ihn 6
hierher gebracht? Oder besser, warum waren wir überhaupt 7
hier? Das ergab doch alles keinen Sinn. Den Meister kostete 8
es lediglich Zeit, Zarin womöglich sein linkes Augen. 9
„Wieso bringen Sie mich hierher?“, fragte ich deshalb ein 10
zweites Mal, während ich unruhig das Gewicht von einem Fuß 11
auf den anderen verlagerte. Mir missfiel diese Situation. 12
Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Etwas war faul und 13
es waren nicht die Zähne des Fahrers. Weshalb veranstaltete 14
Scott einen derartigen Aufstand, bloß, um mit dir einen 15
Ausflug in den Wald zu unternehmen? Wohl kaum, um die 16
Blätter der verschiedenen Pflanzen zu sammeln. All dies 17
stand in keinerlei Zusammenhang. Oder etwa doch? 18
„Sei nicht so ungeduldig.“, erwiderte der Sir, auf einen 19
Baum zu wandernd. „Siehst du diese Kratzer dort an der 20
Rinde?“ 21
Verwirrt kniff ich die Augen zusammen, mich ebenfalls der 22
bestimmte Pflanze nähernd, auf die er mit dem Zeigefinger 23
seiner rechten Hand deutete. Natürlich, sie waren kaum 24
übersehbar, vorausgesetzt man mochte nicht blind sein. 25
„Lackspuren. Kratzer. Zwar ein wenig verwischt, aber 26
dennoch deutlich sichtbare Kennzeichnungen eines Unfalls. 27
Vermutlich ist der Fahrer bei zu hoher Geschwindigkeit in 28
dieser Kurve ins Schleudern geraten und frontal mit diesem 29
Baum zusammengestoßen. Den Verletzungen der Rinde zur Folge 30
253
musste der Mann oder die Frau kaum Überlebenschancen gehabt 1
haben. Vor allem, da man hier draußen niemanden findet.“ 2
Papa! Keinen Sicherheitsgurt angelegt. Die Kontrolle über 3
den Wagen verloren. Konnte dem sich rasend nähernden Baum 4
nicht mehr ausweichen. Zu spät. Hier also, hier ist Papa… 5
Nein! Nein, ich wollte den Gedanken nicht zu Ende führen. 6
Nein. Niemals. Papa lebt. Bestimmt hat der den Unfall 7
genutzt, um unterzutauchen, und wollte mich später holen. 8
Ja, genau so musste es sein. Er ist schließlich ein Held und 9
Helden sterben nie. 10
Scott, der meine Gedanken gelesen haben zu schien, zuckte 11
mit den Achseln. „Dein Vater war auf der Stelle tot…“, 12
entgegnete er, ohne seinen Blick von der wilden Struktur der 13
Lackspuren zu lösen. Kurz rauschten lediglich die Blätter im 14
Wind, ansonsten war es ungewöhnlich still. Beinahe so, als 15
ob all das Leben aus diesem Ort gewichen war. Totenstille, 16
betroffenes Schweigen. Dann ein plötzliches Räuspern. „…aber 17
bereits vor dem Aufprall.“ 18
Der Meister sah mich unbeteiligt von der Seite an, um 19
meine Reaktion auf diese Worte abzuschätzen. Doch es gab 20
keine Reaktion, weil ich nicht verstand. Dein Vater war auf 21
der Stelle tot, aber bereits vor dem Aufprall. Wie sollte 22
ein Mensch… Wie sollte ein Mensch bei einem Autounfall 23
sterben, ohne dass es einen Autounfall gegeben hat? Sogar 24
jedes Baby wusste, dass ein Fahrzeug erst nach einen Crash 25
mit einem anderen kaputt sein würde. Jeden Sonntag konnte 26
man es bei der Formel 1 mitverfolgen. Im Fernsehen, im 27
wahren Leben auf den deutschen Straßen. Jeden Tag. Nun 28
stellte der Sir all das Logische in Frage, indem er das 29
Gegenteil behauptete. Dein Vater war auf der Stelle tot, 30
254
aber bereits vor dem Aufprall. Auf der Stelle tot vor dem 1
Aufprall. Ich fuhr mir mit der verschwitzten Hand über die 2
Stirn. Unmöglich. Völlig unmöglich. Papa vor dem Aufprall 3
tot. Ich habe dich tausende von Wegen sterben lassen, Papi. 4
Tausende Bilder, Skizzen habe ich gemalt. Immer nach dem 5
dasselbe Muster. Eine scharfe Kurve. Mal musstest du einem 6
Tier ausweichen, mal nahmst du einen letzten Schluck Kaffee 7
aus deiner Tasse. Jedes Mal habe ich in deine weit 8
aufgerissenen Augen gestarrt, Papa, jedes Mal bevor du 9
bemerktest, dass du sterben würdest. Jedes Mal habe ich 10
hilflos auf dem Rücksitz gekauert, habe dich warnen wollen. 11
Aber kein Mal, nicht ein einziges Mal, habe ich einen 12
Gedanken daran verschwendet, dass es ein anderes Bild sein 13
könnte, das ich zeichnen musste. 14
„Das hast du nicht gewusst, wie? Nun, ich denke, dein 15
Freund hat dir etwas verschwiegen.“ Scott stolzierte zu 16
Zarin herüber, presste ihm den Zeigefinger unters Kinn, 17
damit er aufsah, wobei er mit einem Kopfnicken befahl, die 18
Fesseln zu lösen. „Vielleicht solltest du ihn danach fragen. 19
Nur zu, ich erlaube es dir, mein Junge.“ 20
Entsetzt ließ ich meinen Blick zwischen den beiden Männer 21
hin und her wandern. Verständnislos. „Zarin?“ 22
Der Genannte hob traurig den Kopf, erwiderte jedoch 23
nichts. 24
„Was ist wahr? Was ist passiert? Was verschweigst du mir?“ 25
„Es tut mir Leid, Tim. Es tut mir so leid.“ Zarin strich 26
mir mit seiner dreckigen Hand über die Wange, doch ich stieß 27
ihn von mir. 28
„Was?“, fragte ich beinahe schreiend. 29
255
Scott lächelte, über den Stein, den er ins Rollen gebracht 1
hatte. „Los sag‟s ihm.“ 2
Sag‟s mir, Zarin. Bitte, sag„s mir… 3
Tief holte der Togolese Luft. Ein feuchtes Glitzern im 4
Augenwinkel. 5
„Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnern kannst. An den 6
Tag, an dem ihr in unserem Dorf um Aufenthalt betteltet. Ein 7
heißer Februartag. Es war kein Zufall, selbst wenn es dir 8
vielleicht so vorgekommen sein musste. Noch bevor ihr 9
überhaupt einen Fuß auf afrikanisches Land gesetzt hattet, 10
hat der Meister mir befohlen, euch ständig zu beobachten. 11
Wir trauten deinem Vater nicht. Nicht, dass er nicht ein 12
großartiger, intelligenter Mensch gewesen ist, der von 13
ungeheurer Wichtigkeit für die Zukunft von M.A.S war. Nein. 14
Aber wer wusste schon, welche Absichten er besaß? Ich 15
jedenfalls…“ Zarin machte eine Atempause. Es fiel ihm 16
sichtlich schwer, das Gesehene in Worte zu fassen. „Ich 17
hatte die Aufgabe, herauszufinden, wer er war, mit wem er in 18
Verbindung stand. Wie er die Gabel an den Mund führte. Ob er 19
Links- oder Rechtshänder war. Ob er irgendwelche Schwächen, 20
irgendwelche körperlichen oder geistigen Beschwerden hatte. 21
Diabetes, Allergien, Rückenschmerzen, abhängig vielleicht? 22
Das Letztere traf leider zu. Jeder Körper hat eine Schwäche, 23
weißt du. Sie liegt meist tief verborgen. Doch findet man 24
sie, ist es leicht, sie demjenigen zum Verhängnis zu 25
machen.“ 26
„Du bist also ein Spion? Wie James Bond?“ 27
„Sozusagen ja. Auch wenn ich James Bond nicht kenne.“ 28
Ich nickte langsam. Ein weiteres Puzzleteil rückte an 29
seinen Platz. Aber… „Aber, wenn du alles wusstest, warum 30
256
wusste der Meister, als er mich sah, nicht, dass Papa einen 1
Sohn gehabt hat?“ 2
Zarin lächelte. „Er hat mich nie danach gefragt.“ 3
„Ich hätte niemals damit gerechnet, dass River ein Kind in 4
die Welt gesetzt hatte.“ Scott, der auf einem für ihn 5
aufgestellten Klappstuhl Platz genommen hatte, erhob sich 6
nun. „Bis du vor mir hocktest.“ Mit der Hand wedelnd, um die 7
Moskitos zu vertreiben, signalisierte er dem Afrikaner, dass 8
dieser weiter zu sprechen hatte. 9
„Dein Vater hat zunächst von dieser Beschattung nichts 10
bemerkt. Alles lief nach Plan. Dann dieses… dieses 11
Missgeschick…“ Hoffnungsvoll warf er Scott einen flehenden 12
Blick zu, damit er die Geschichte zu Ende erzählte, aber 13
dieser wich mit einem Kopfschütteln aus. „Irgendwie musste 14
River dahinter gekommen sein. Meine Deckung flog auf. Ich 15
hatte versagt. Dafür, für diesen Fehler, sollte ich… sollte 16
ich an ein Forschungsinstitut verkauft werden. Dein Vater 17
selbst leitete diesen ‚Handel‟. Zuverlässig, skrupellos. 18
Perfekt im Dunkeln. Aber, als er erkannte, wen er an diesem 19
Tag, dem 25. Mai, zum Schlachter führte, welches arme 20
Schwein, verweigerte er den Befehl. Wie dumm von ihm. Das 21
kommt einem Verrat gleich. Und bei Verrat…“ 22
„Im Falle eines Verrates durch den eigenen Willen wird 23
diese Ernennung unwirksam und der Ankläger kann je nach Tat 24
mit dem Tode oder der vollständigen Ausschließung bestraft 25
werden.“ Diese Zeilen des Vertrages tauchten plötzlich in 26
meinen Gedanken auf. 27
„Sehr gut, Nummer 448.“ Begeistert klatsche der Meister in 28
die Hände. „Ein Jammer, das er das Kleingedruckte nicht 29
257
gelesen hatte, bevor der dieses Bündnis mit Kamikaze 1
einging.“ 2
Dein Vater war auf der Stelle tot, aber bereits vor dem 3
Aufprall… und sein Mörder war nicht die Kurve gewesen, 4
sondern… „Sie haben ihn getötet! Sie haben mir meinen Vater 5
genommen!“ 6
Ich hatte es gespürt, lange bevor es in greifbare Nähe 7
rückte. Unbewusst trug ich dieses grausame Geheimnis in 8
meinem Herzen. Wie eine tickende Bombe, eine Sanduhr. In 9
gewisser Weise schockierte mich die Wahrheit nicht. Papa war 10
ermordet worden. Ermordet, wie sonst nur die fremden 11
Menschen bei einem Tatort oder einem Fernsehkrimi. So 12
manches Kind wäre sicherlich an meiner Stelle 13
zusammengebrochen - doch ich konnte nicht. Meine Gedanken 14
waren leer, völlig kalt. Papa… 15
„Nein, ich habe ihn nicht umgebracht.“, entgegnete Sir 16
Scott, abwehrend die Hände gehoben. „Das hat er selbst 17
gemacht, indem er diesem Mann…“ Er deutete auf Zarin. „Indem 18
er diesem Mann das Leben schenkte.“ 19
Ein überladener Bus näherte sich von Süden der Kurve. 20
Hupend grüßte der Fahrer und auch die anderen Insassen 21
winkten, überrascht, hier Menschen anzutreffen. Scotts 22
Wächter ihrerseits gestikulierten dem nun langsam werdenden 23
Transporter, dass dieser sich nicht weiter um sie scheren 24
sollte. Alles sei in bester Ordnung. Nein! Von einem inneren 25
Zwang getrieben wollte ich auf die willkommene Hilfe zu 26
stürzen. Aber damit hatte der Meister gerechnet. Unauffällig 27
stellte er sich hinter mich, um mir drohend ins Ohr 28
flüstern, dass ich auf der Stelle tot sein würde, riskiere 29
ich auch nur den vagen Versuch, zu fliehen. Ich nickte 30
258
seufzend. Es hätte keinen Sinn. Der Mann wäre tatsächlich zu 1
allem fähig. Und wenn ich die Businsassen mit einbezöge, 2
würde ich ihre Sicherheit ebenfalls gefährden. So musste ich 3
widerwillig zu sehen, wie der Fahrer ein letztes Mal hupte 4
und schließlich seinen Weg fortsetzte. 5
Als der Bus beinahe am Horizont verschwunden war, wandte 6
sich Scott uns lächelnd zu: „Das war es dann wohl, schätze 7
ich. Sieh es ein, mein Junge, du bist dazu verdammt, alleine 8
zu sein. Für immer. Ich weiß, wie das es ist. Es ist kein 9
schönes Gefühl, sicher. Stell dir vor, es kann nur einen 10
treffen. Aber es wird einen treffen. Und dieser eine bist 11
du.“ 12
„Das gilt vielleicht für Sie. Ich bin nicht alleine. Ich 13
habe Freunde.“, erwiderte ich bestimmt. Kay. Tess und ihre 14
Tanzlehrerin. Jabali, der Wächter. Reni. Keenan, die anderen 15
Dorfbewohner. Mathieu, vielleicht. Und Zarin. Sie alle waren 16
in Gedanken immer bei mir. Immer. Ermutigten mich, gaben mir 17
Kraft. Immer. Sie beschützten mich. Vor allem Mama und Papa, 18
wenn er nicht im Himmel dort oben ebenfalls etwas Wichtiges 19
zu tun hatte. 20
„So? Wo denn? Tolle Freunde, die einen verraten, findest 21
du nicht auch?“ 22
„Nur weil man Sie im Stich gelassen hat, heißt das nicht, 23
dass es für mich auch zu trifft!“ 24
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Nummer 255 möchten Sie 25
dem Jungen nicht sagen, wie sein Papi gestorben ist?“ 26
Erschrocken fuhr Zarin zusammen. „Ich…“, stotterte er, den 27
Rücken gegen den Baum gepresst. „Ich… Ich kann nicht.“ Sein 28
linkes Auge zuckte. Tränenflüssigkeit, gemischt mit Blut, 29
bildete darüber eine winzige Nebelschicht. 30
259
„Wie? Was haben Sie gesagt? Ich habe es nicht verstanden.“ 1
„Ich kann nicht.“ 2
„Natürlich, natürlich. Ich könnte einem Kind auch nicht 3
erzählen, dass ich seinen Vater umgebracht hätte.“ 4
„Was?!“, brach es lautlos aus mir heraus. „Du?!“ 5
„Man ließ mir keine andere Wahl.“ 6
Getroffen sank ich auf die Knie, die Hände im Gras 7
verkrampft, um nicht zu weinen. Zarin hat Papa… Nein… Wie 8
konnte Zarin so etwas nur tun? Dein Freund, der dich vor dem 9
Meister, vor der bösen Welt dort draußen, hat warnen wollen. 10
Wie konnte man so tun, als ob all dies nie geschehen wäre? 11
Hatte er Papa erschossen, erstickt? Deinen Papa. Bitte, Tim, 12
bitte wach aus diesem Albtraum auf. 13
„Es tut mir Leid, Tim. Ich habe es nicht gewollt.“ 14
„Du hast mir meinen Vater gestohlen! Meinen Vater!“ 15
„Es tut mir Leid.“ 16
„Davon kann ich Papa auch nicht zurückholen. Die Engel, 17
die haben ihn. Denen hast du ihn geschenkt. Und geschenkt 18
ist geschenkt.“ 19
Tief atmete ich durch. Ich hatte nur noch eine Frage. Eine 20
Einzige. Ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich wissen 21
wollte, aber… „Wie ist Papa gestorben?“ 22
„Es ging alles sehr schnell. Ich bin mir sicher, er hat es 23
kaum gespürt.“ Aufgewühlt kratzte Zarin über seinen Arm. 24
Innerlich wie äußerlich erlebte er dieses schreckliche 25
Ereignis ein zweites Mal durch. „Dein Vater hat mich laufen 26
gelassen. In der Nähe von Kpalimé. Ich weiß noch, wie er zu 27
mir sagte, ich solle mich verstecken. Jemanden anrufen. Er… 28
Er würde sich darum kümmern, dass niemand je erfuhr, was 29
geschehen sei. Dann war er weg, wohin sagte er nicht. 30
260
Einfach weg. Und ich? Ich streunte immer noch schockiert, 1
ziellos, über den Markt, über die Straßen. Vermutlich hatte 2
ich Glück, dass mich dabei kein Bus erwischt… Oder Pech. 3
Jedenfalls fand ich ein Internetcafé. Dasselbe, indem ich 4
dich getroffen habe. Sah das Telefon auf dem Tresen und 5
wählte - die erste Nummer, die mir einfiel.“ Er schluckte, 6
japste nach Luft. „Es war die von dem Meister. Und als ich 7
mir dessen bewusst wurde, war es bereits zu spät. Natürlich 8
ahnte man in der Villa sofort, dass die Übergabe gescheitert 9
sein musste. Schließlich wäre ich andernfalls niemals dazu 10
in der Lage gewesen, zu telefonieren. Damit habe ich selbst 11
das Todesurteil des Menschen unterzeichnet, der mir das 12
Leben gerettet hatte. Aber… Aber es wurde noch schlimmer. 13
Sie fanden mich schreiend gegen eine Häuserwand gepresst. 14
Ich dachte, jetzt sei es aus. Jetzt töteten sie dich doch, 15
Zarin. Doch seltsamerweise behandelte man mich wie einen 16
Helden. Damals habe ich dies nicht verstanden. Ich war 17
schließlich ein geflohener Versager. Ein Niemand. Nun aber, 18
als sie mich in dem Kleinlaster zurück zu dem Anliegen 19
brachten, feierte man mich. Wieso, fragte ich mich, wieso. 20
Erst hinterher wurde es mir klar. Ich hatte einen Aufgabe: 21
Ich sollte deinen Vater töten, den größeren Verräter von uns 22
beiden. Anfangs weigerte ich mich gegen diesen Befehl, doch, 23
als sie mir damit drohte, mich zu ertränken, willigte ich 24
ein. Ich weiß, Tim, du hältst mich für einen Feigling. Und 25
der bin ich auch. Aber ich hatte Angst, verstehst du? Ich 26
hatte Angst, zu sterben, wie Ismen, meine Frau. Ich war noch 27
nicht bereit dafür. Und so… So stellte ich deinem Vater eine 28
Falle. Hier, hier in dieser Kurve. Wir wussten, River würde 29
dort vorbeikommen, wenn er in Lomé untertauchen wollte. So 30
261
wartete ich. Zehn Minuten, zwanzig, vielleicht auch länger. 1
Ich habe jedes Gefühl von Zeit verloren, überhaupt spürte 2
ich weder Schmerz noch Trauer. Nichts, nur die Kälte, die 3
spüre ich.“ Seine Hände zitterten merklich. „Noch heute, 4
wenn ich daran zurückdenken“, fügte er hinzu, bevor er im 5
Flüsterton weiter sprach. „Siehst du das Dickicht dort 6
drüber? Dort habe ich gelegen, versteckt, lauernd. Alleine. 7
Nur die beiden Messer in meinen tauben Händen. Wie Freunde 8
umklammerte ich sie. Es musste gegen Abend gewesen sein. Ja, 9
in der Dämmerung des 25. Mais. Das Cabrio deines Vaters 10
schoss heran. Ich sah ihn, deinen Papa, jedes einzelne Haar, 11
die kleine Falter auf seiner Stirn. Beinahe mechanisch hob 12
ich die rechte Hand. Nein, ich konnte nicht. Nicht werfen, 13
dachte ich noch, auf gar keinen Fall, als sich plötzlich 14
meine Finger um die beiden Messer lösten. Zu spät. Das Erste 15
bohrte sich in den Hals, das Zweite grub sich in den linken, 16
hinteren Reifen, sodass das Auto ins Schleudern geriet und… 17
und gegen den Baum stieß. Gesehen habe ich es nicht. Ich 18
konnte nicht. Wollte nicht sehen, was ich getan hatte. Ich 19
habe einen Menschen getötet. Einen Mann mit einem kleinen 20
Kind. Gehört habe ich lediglich diesen dumpfen, 21
entsetzlichen Schrei, dann den lauten Zusammenprall wie 22
einen Donner. Und dann… dann ganz plötzlich nichts mehr. 23
Stille, unheimlich Stille. Tot, vermutlich war dies das 24
richtige Wort dafür. So jedenfalls fühlte ich mich. T-o-t. 25
In gewisser Weise bin ich in dem Moment gestorben, als das 26
Messer aus dem Dickicht auf mich zu schoss. In Gedanken war 27
ich der Fahrer gewesen und nicht dein Vater. So wäre es 28
gerecht. Erst, als sich die Nacht über den Tag senkte, wie 29
ein schwarzes Leichentuch mit vielen, funkelnden Sternchen, 30
262
traute ich mich, in den Spiegel zu sehen, indem ich… indem 1
ich von mir selber aus dem Fahrzeug gezogen und ins Gras 2
gebetet wurde. Überall Blut, auch an meinen Fingern, meinem 3
ganzen Körper. Was in den folgenden Stunden passierte, weiß 4
ich nicht mehr. Irgendwann so gegen Mitternacht tauchte ein 5
Polizist auf, daran erinnerte ich mich noch. An seinen 6
lustigen Schnurbart.“ Zarin lächelte versuchsweise. „ Dem 7
habe ich erzählt, der Mann neben mir hätte einen Autounfall 8
gehabt - das wonach es den Anschein erweckte. Keine Fragen. 9
Freilich glaubte er mir und so fuhr er fort, um auf meine 10
Bitte hin die traurige Nachricht im Dorf zu verkünden. Es 11
war das Letzte, was ich tun konnte. Kurz habe ich dabei auch 12
an dich gedacht. An Rivers kleinen Sohn, dem ich den Vater 13
genommen hatte… Tim, ich weiß, du glaubst mir nicht. Aber 14
ich habe in jener Nacht geschworen, dass ich auf dich 15
aufpassen werde. Heimlich. Ich war dabei, als du Kay vor den 16
Hyänen rettetest. Das war mutig von dir. Rührend. Ich war 17
stolz auf dich, stolz wie auf ein eigenes Kind. Für eine 18
Weile habe ich durch dich dieses Erlebnis verdrängt - bis 19
ich eines Morgens feststellte, dass du mit Mathieu geflohen 20
warst. An jenem Morgen, an dem ich dich sicher nach 21
Deutschland zurückbringen wollte. Ganz, wie ich es deinem 22
Vater versprochen habe. Zunächst habe ich all dies nicht für 23
möglich gehalten. Warum sollten zwei kleine Jungen von zu 24
Hause weglaufen? Doch, als ich dich dann später in Kpalimé 25
wieder fand und erkannte, dass du Rivers Email geöffnet 26
hast… Ich habe versucht, dich aufzuhalten, aber bevor ich 27
reagieren konnte, war es zu spät. Zum zweiten Mal in meinem 28
Leben zu spät. Du bist den Spuren deines Papas gefolgt. Bis 29
hierher, Tim.“ 30
263
Schweigen. Es gab nichts mehr zu sagen. Die Geschichte war 1
erzählt. Die Geschichte meines Papas, eines Helden. Jedes 2
Wort, jeder Tonfall, jedes Bild, welches dabei in meinem 3
Kopf entstanden war, brannte sich in mein Gedächtnis. In 4
gewisser Weise betete ich, dass es sich bei dem tatsächlich 5
um eine Lüge handelte. Dass Zarin plötzlich losprusten würde 6
und mit einem jodelnden Applaus, Papa auf die Bühne bat. 7
Aber dem war nicht so. Dem sollte nie so sein, nie mehr. 8
Vielleicht ist es Schicksal, bestimmt ist es die Wahrheit. 9
Du bist alleine, Tim. Für immer alleine. Alleine in diesem 10
dunklen, verlassenen Erdloch, fern ab deiner Heimat, fern ab 11
deines Hauses mit den alten Holzstufen, die jeden Abend beim 12
Zubettgehen wie die Rasseln eines Gespenstes knirschten, 13
oder der Küche, aus der es immer so gut gerochen hatte, wenn 14
Mama lachend den Kochlöffel im Kreis führte und dir ein 15
Kinderlied vorsang, wobei du auf dem Spielteppich neben der 16
Sitzbank knietest und mit die Autos und Legomännchen durch 17
die Landschaft fuhrst. Manchmal, wenn Papa gut gelaunt war, 18
trugt ihr auch ein Rennen auf den Stoffstraßen aus. Diese 19
Zeit würde nie wieder zurückkommen. 20
Ich zitterte. Ein Zucken durchfuhr meinen Körper. Tränen 21
liefen mir über die Wangen, blutige Tränen. Ich wollte 22
aufstehen, vergessen, weglaufen vor mir, vor dem gesamten 23
Universum. Doch ich konnte nicht. Wohin auch? In den Urwald 24
hinein vielleicht, wenn ich es schaffte… was bei den 25
Aasgeieraugen geradezu unmöglich schien? Zögernd hob ich den 26
Kopf ein Stück, wobei sich Zarins und mein Blick kurz 27
trafen. Der Afrikaner zwang sich ein müdes Lächeln auf, 28
obwohl er ebenso wie ich wusste, dass kein Lächeln dieser 29
264
Welt das wieder gut machen konnte, was er mir angetan hatte. 1
Du hast mir Papa genommen. 2
Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegen, schloss ihn 3
jedoch wieder. In der Ferne donnerte es und die ersten 4
Tropfen prasselten auf meine Schultern. Sehr bald würde ein 5
Gewitter losbrechen. Scott, der die Hände in den Himmel 6
gehoben hatte, als könne er so die Wolken teilen, 7
gestikulierte seinen Wächtern, uns zu fesseln und zu den 8
Fahrzeugen zu führen, gereizt, dass etwas nicht nach seinen 9
Vorstellungen verlief. Niedergeschlagen kroch ich auf allen 10
Vieren rückwärts, den Blick nicht von den sich bedrohlich 11
nähernden Männern abwendend. Lasst mich in Ruhe! 12
Verschwindet! Zarin, der mich immer noch ansah, rührte sich 13
nicht. Lediglich seine aufgeplatzten Lippen formten ein 14
„Vergib mir.“ Ein Gemisch aus Blut und Wasser lief in seinen 15
Mund. Blitze jagten über den nachtschwarzen Himmel. Bäume 16
bogen sich im aufkommenden Wind. Die warmen Tropfen schoss 17
wie die Kugeln einer Pistole auf uns herab. Schützend hielt 18
ich mir die Hand vor Augen. die Beine nahe an meinen Körper 19
heranziehend. Vielleicht wäre es besser, freiwillig 20
aufzugeben. Sowie Zarin, der die Hände hob. Er hatte 21
versagt. Zum zweiten Mal. Mit eisernem Griff wollte einer 22
der Gorillas mich hoch zerren. Ich wehrte mich nicht, 23
kauerte mich nur wie ein kleines Tier zusammen. Es wäre 24
ohnehin sinnlos gewesen, Widerstand zu leisten. Der Mann war 25
größer und um einiges stärker als ich. Dennoch hielt er 26
plötzlich inne. Entsetzt schoss sein Kopf herum. Ich folgte 27
seinem Blick verwundert. Obwohl die Sicht verschwommen war, 28
konnte ich eine Gestalt ausmachen, die sich auf eine weitere 29
Abgewandte stürzte. Zarin! Ein Schrei. Donnergrollen. Ohne 30
265
mich länger zu beachten, rannte der Wächter seinem Meister 1
zur Hilfe. Erschrocken rappelte ich mich auf, beobachtete 2
den ungleichen Kampf. Die drei Gorillas schlugen auf den nun 3
am Boden liegenden Afrikaner ein. Traten ihm gegen den Kopf, 4
in den Bauch. Scott seinerseits presste sich die Hand auf 5
die Stirn, humpelte fluchend davon. Zarin, nein! Ihr tut ihm 6
weh! Ich wollte ihn verteidigen - gleich was er getan hat, 7
gleich, ob er mir den Vater genommen hat - aber meine Beine 8
gehorchten mir nicht mehr. Verdammt, lasst mich zu ihm! Seht 9
ihr nicht, dass sie ihn totschlagen?! Anstatt nachzugeben, 10
trugen sie mich in die andere Richtung davon. Immer 11
schneller, immer weiter. Braun, dunkelgrün, schwarz. Nur 12
grobe Farbtupfer in Mitten einer endlosen Landschaft. Im 13
Lauf sprang ich über eine Wurzel, stolperte, fiel ins Laub. 14
Mein Herz drohte, meinen Brustkorb zu zerreißen. Mit 15
ausgestreckte Armen lag ich da, den Kopf zur Seite gedreht, 16
um Atem zu schöpfen. Der Ekel erregende Geschmack von Blut 17
füllte meinen Mundraum und, als ich die Lippen öffnete, 18
sprudelte das Rot hinaus, verfärbte den Boden neben mir. Es 19
donnerte noch, ansonsten war es still. Von Zarin und den 20
Männern war nichts mehr zu hören. Kein Schrei, keine dumpfen 21
Schläge. Ob die Engeln auch ihn bereits geholt hatten? Oder 22
kämpfte er noch dagegen an, wovor er die ganze Zeit über 23
Angst gehabt hat? Immer noch auf dem Bauch liegend faltete 24
ich die zitternden Hände zum Gebet. Lieber Gott, wie viele 25
meiner Freunde möchtest du noch zu dir holen, um mich 26
endlich zum Schweigen zu bringen? Zarin war kein guter 27
Mensch, schätze ich. Er hat Papa ermordet und derjenige, der 28
mordet, verstößt gegen eines der zehn Gebote. Aber das 29
konnte er nicht wissen! Er glaubt an einen anderen Gott. Und 30
266
außerdem, du dort oben im Himmel, hätte ich ihm verziehen. 1
Nun ist es zu spät. Deinetwegen. Nun wird auch er bald an 2
dein Tor klopfen. Bitte lass ihn herein. Hier unten ist es 3
kalt und er hat es nicht verdient, zu frieren. Bitte, lieber 4
Gott, wenn es dich wirklich geben sollte als den gerechten 5
Herrscher, bitte… 6
Wie ein Soldat robbte ich ein Stück durch das Laub, den 7
Blick bei jedem Meter prüfend umherschweifen lassend. Vor 8
Scotts Männern wäre ich erst einmal sicher. Vermutlich haben 9
sie noch nicht bemerkt, dass ich geflohen war, so sehr 10
mochten sie mit dem Verarzten ihres heiligen Meisters und 11
dem Fortschaffen des leblosen Körpers beschäftigt sein. 12
Hoffte ich jedenfalls. Und selbst wenn sie es bemerkten, 13
würden sie Zeit brauchen, um den Wald zu durchforsten, wozu 14
sie frühestens in den Morgenstunden aufbrechen konnten, denn 15
sogar der Sir musste einsehen, dass es geradezu unmöglich 16
wäre, einen Jungen bei Dunkelheit im dichten Unterholz 17
aufzuspüren - vorausgesetzt, er wollte nicht mit Flutlicht 18
und Helikoptern nach mir suchen lassen. Seufzend rappelte 19
ich mich auf. Dieser Urwald war das reinste Chaos, schlimmer 20
als jedes Maislabyrinth und viel schlimmer als aus der Sicht 21
eines Playmobilkindes in meiner Spielkiste. Wenn ich mich 22
hier verlief, würde ich nie wieder zurückfinden. Das wäre 23
das Schrecklichste, was ich mir vorstellen konnte. Nur einen 24
falschen Schritt… Ich wollte es mir nicht ausmalen. Doch 25
welcher Weg war der richtige? Oder besser, wohin wollte ich 26
eigentlich? Der Wald war riesig, endlos groß. Also… wohin? 27
Weg, einfach nur weg von der Straße, schoss es mir durch den 28
Kopf, weg von Scott, ganz, ganz weit weg. Zögernd lief ich 29
los, immer wieder einen Blick über die Schulter 30
267
zurückwerfend. Der Dschungel Afrikas hatte mich bereits wie 1
eine Tablette im Mund verschluckt. Turmhohe Bäume 2
umzingelten mich wie Zähne; dazwischen spannte sich die 3
schwüle Luft. Gelegentlich konnte man auch den Atem hören, 4
wenn ein Papagei kreischte oder ein Affe von Ast zu Ast 5
schwang. Moskitos, die meinen Schweiß gerochen haben musste, 6
summten vor meinem Gesicht. Hastig versuchte ich, nach ihnen 7
zu schlagen. Ohne Erfolg. Plötzlich berührte mich etwas 8
leicht am Rücken. Kaum vernehmbar, aber dennoch bewegte sich 9
etwas. Ich wusste es erst mit Sicherheit, dass da etwas war, 10
als es über meine Schulter und den Poloshirtkragen auf 11
meinen Nacken kroch - aber das war es bereits zu spät. 12
Vorsichtig drehte ich den Kopf zur Seite. Und dann sah ich 13
sie im äußersten Winkel meines Blickfeldes: Eine Spinne. Sie 14
hing seitlich an meinem Nacken, knapp unterhalb meines 15
Kiefers. Ich schluckte. Nicht, dass ich Angst vor diesen 16
Viechern gehabt hätte. Nein, es war etwas anderes, das mich 17
entsetzte: Die Tatsache, dass es sich bei dieser hier um 18
keine Hausspinnchen, sondern eine im afrikanischen Urwald, 19
handelte. Wie eine reife Orange auf haarigen Beinen, 20
schwarz, ohne Kopf, absolut hässlich, kletterte sie über 21
meine linke Gesichtshälfte. Augenblicklich versteifte sich 22
mein Hals, lediglich die Ader pochte wild. Ohne mir das Tier 23
genauer anzusehen, ahnte ich, dass ihr Gift tödlich war. Wie 24
so ziemlich alles auf diesem Kontinent. Panisch wollte ich 25
dieses eklige Ding mit der Hand weg schlagen. Vielleicht 26
hätte ich Glück. Doch wenn ich Pech hätte, wären zwei, 27
winzige, rote Punkte auf meiner Haut zu sehen sein, bisse 28
sie dabei zu. Schnell würde sich das Gift in meinem Körper 29
268
verteilen. Innerhalb einer Stunde geriete ich in Atemnot 1
und, 2
während ich taumelnd durch den Wald irrte, wären die 3
Krämpfe nicht auszuhalten. Irgendwann schliefe ich ein und 4
erwachte nie wieder - mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit. 5
Nein! Ich hatte es nicht bis hier her geschafft, um mich 6
dann von dieser grauenhaften Kreatur fertig machen zu 7
lassen! So mal ich zwanzig Köpfe größer war. Dennoch konnte 8
ich nicht klar denken. Ein Bein berührte meine trockenen 9
Lippen. Sofort zuckte ich zusammen, sodass das Tier 10
zurückwich. Nein, nicht beißen! Kerzengerade stand ich da. 11
Die Spinne machte es sich an meinem Hals bequem, um 12
genüsslich meine Ader zu beobachten, als liefe dort ein 13
spannender Kinofilm. Innerlich atmete ich erleichtert auf. 14
Bewegungslos huschten meine Augen von dem Insekt durch den 15
Urwald. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, bis es sich 16
entschied, dieses Nervenspiel zu beenden. Und ich hatte nur 17
eine einzige Chance. Wir hatten in der Schule die Spinnen 18
erst später durchnehmen wollen - zu spät. Vermutlich wäre 19
mir sowieso nichts mehr eingefallen. Im Blickwinkel erkannte 20
ich den Baumstamm, von dessen Ästen das Tier 21
heruntergefallen sein musste. Dann kam mir plötzlich eine 22
Idee, die derart lächerlich war, dass es sinnlos wäre, auch 23
nur einen weiteren Gedanken an ihr zu verschwenden. Behutsam 24
legte ich den Kopf zu Seite. Es musste funktionieren! Es 25
musste einfach! Eins… zwei… Bis drei konnte ich nicht mehr 26
zählen. Energisch krachte mein Gesicht gegen die harte 27
Rinde. Blut spritzte über meine Wange. Ein Spinnenbein 28
klebte noch dort, wo das Insekt gehangen hatte. Der übrige 29
Körper war zerfetzt von der Wucht des plötzlichen Aufpralls. 30
269
Langsam fuhr ich mit dem Zeigefinger über die Stelle. Ob die 1
Spinne gebissen hatte? Fühlen konnte ich es nicht, nur 2
hoffen, dass dem nicht so war. Als ich mich über eine Pfütze 3
beugte, fiel mir ein Stein von Herzen. Nichts zu sehen. 4
Trotzdem würde ich nicht einen einzigen Schritt weiter tun. 5
Lieber sollte Scott mich quälen, als irgendein Krabbeltier 6
oder womöglich eine Schlage, die sich um meinen Hals legte, 7
wenn ich erschöpft zusammensackte! Denn nach Stunden des 8
Umherirrens würde ich unachtsam werden und der Urwald wusste 9
ohnehin, wo ich war. Seine Augen, seine gelben, 10
blutunterlaufenen Augen, lauerten im Unterholz auf mich. 11
Aber diesmal würde ich keine so leichte Beute abgeben! 12
Achtsam tastete ich mich voran, kontrollierte jeden Meter 13
mit dem Fuß, den Blick dabei prüfend umherschweifen lassend. 14
Den Gedanken, dass dies im Notfall nicht ausreichen mochte, 15
verdrängte ich. Wenn ich nun noch unruhiger wurde, würde ich 16
Fehler machen. Fehler, die mich mehr als nur ein paar Euro 17
kosten würden oder eines meiner Modelautos. Vor allem die 18
wallende Dunkelheit erschwerte mir die Sicht. Jede länger 19
ich lief, desto mehr verlor ich die Orientierung. Bald 20
musste ich mich vollendend auf meinen Instinkt verlassen. 21
Wie bei einem „Blindenspiel“ nur ohne Führer torkelte ich 22
umher, bis ich schließlich in einiger Entfernung Stimmen 23
hörte. Der Wille, einfach loszulaufen, überkam mich, doch es 24
gelang mir, ihn nieder zu kämpfen. Reiz dich gefälligst 25
zusammen! Du darfst Scott nicht einfach in die Arme rennen, 26
ihm womöglich noch vor die Knie fallen und betteln, dass er 27
dich zurück zur Villa mitnimmt! Das hätte Zarin nicht 28
gewollt. Dafür sollte er nicht gestorben sein. Streng dein 29
Gehirn an, Tim! Denk nach. Ich nickte, wobei ich mich 30
270
zusammengerollt in einem Erdloch verbarg und durch einen 1
Blättervorhang auf der Straße hinausspähte. Überrascht 2
bemerkte ich, dass der Kleinlaster verschwunden war. 3
Lediglich das Cabrio, vor dem der Meister, ein Tuch an die 4
Schläfe pressend, auf dem Klappstuhl kauerte, parkte noch. 5
Der Fahrer suchte im Standlicht des Wagens das umliegende 6
Waldstück ab und kniete schließlich nieder, um ein Zelt 7
errichtet. Allem Anschein nach wollte der Sir an dieser 8
Kurve übernachten. Dass er persönlich geblieben und nicht 9
aufgrund seiner Verletzungen zurück zur Villa gefahren war, 10
ließ mich stutzen. So mal es in der Wildnis durchaus 11
gefährlich sein konnte. Unberechenbar, was Maurice Scott 12
hasste. Doch der Wille, mich aufzuspüren und auseinander zu 13
nehmen, schien größer. Bedacht keinen Lärm zu machen, zog 14
ich mich ein wenig zurück. Mein Blick fiel erneut in den 15
Wald. Ich hatte keine Chance. Würde ich hier bleiben, würden 16
sie mich sofort finden. Würde ich zum zweiten Mal dort 17
hineinlaufen, würde der Wald sein Übriges tun, um mich zu 18
erledigen. Oh Mann! Ich stöhnte. Warum konnte das Spiel 19
nicht einmal fair sein? Hatte ich überhaupt eine 20
Würfelkombination, die mich sicher ins Ziel brächte? 21
Vermutlich nicht. Erneut lugte ich unter den Blättern 22
hervor. Die Situation hatte sich nicht verändert mit der 23
Ausnahme, dass der Fahrer das Aufbauen des Zeltes beendete 24
und nun ein paar Lebensmittel aus dem Kofferraum auf eine 25
Decke beförderte. Leise plärrte dabei Musik aus dem Inneren 26
des Autos, zu der der Mann zu summen begann. In gewisser 27
Weise erweckte es den Eindruck zweier, alter Campgenossen, 28
die gemeinsam auf Rucksacktour waren. Vielleicht könnte ich 29
mich einfach zu ihnen setzen, wenn wir für kurze Zeit keine 30
271
Feinde wären. Mein Magen knurrte bei dem Gedanken an die 1
knusprigen, gebackenen Bananen oder den anderen 2
Köstlichkeiten. Die Kekse auf dem Beifahrersitz… ein Genuss. 3
Ohne nachzudenken und von dem Hungergefühl angetrieben, 4
schlich ich gebückt zu dem Cabrio herüber. Inzwischen war es 5
so dunkel, dass ich kaum erkennbar sein würde, wenn ich 6
nicht in das Licht träte. Tatsächlich ahnte Scott nicht, 7
dass er seinem Opfer näher war, als er jemals für möglich 8
gehalten hätte. Meine Hand streifte jenen Baum, gegen den… 9
Ich hielt zögernd inne, malte mit dem Finger das 10
Kreuzzeichen an die Rinde. Im Namen des Vaters und des 11
Sohnes und des Heiligen Geistes Amen. Geh hin in Frieden. So 12
hatte ich es oft in der Kirche an Sonntagen gehört, kurz 13
bevor ich endlich zum Spielen hab auf die Straße gehen 14
können. Ich habe nie verstanden, was der alte Mann in dem 15
Gewand erzählt hatte, aber diese Abschiedsworte bedeuteten, 16
dass es Zeit war, zu gehen. Papa… Mögest du hingehen in 17
Frieden. Meine Lippen berührten vorsichtig die kalte Rinde, 18
dann wich ich einen Schritt zurück, faltete die Hände, den 19
Kopf gesenkt. Dabei vergaß ich alles um mich herum. Selbst 20
die Angst, entdeckt zu werden, verschwand. Ich stand einfach 21
nur da. Bilder meines Vaters rauschten an mir vorbei. Wie 22
wir im Winter über den zugefrorenen See im Stadtpark 23
gelaufen sind. Als er mir half, die Schleifennudel aus 24
meiner Nase zu ziehen, die ich hineingesteckt hatte, um 25
auszuprobieren, ob sie da hineinpasste. Das Fußballgucken 26
auf Papas Schoss, wobei ich bei jedem Tor, egal für welche 27
Mannschaft, meine kleine Kölnfahne schwenkte. Meinen ersten 28
Schluck Bier, bei dem er mich heimlich erwischte, um 29
anschließend meinen kleinen Kopf beim Erbrechen zu halten. 30
272
Unseren Besuch im Phantasialand, einem der größten 1
Vergnügungsparks in der Nähe von Köln. Ich grinste bei dem 2
flüchtigen Gedanken an das schwarzweiße Schaukelpferd namens 3
Fiona auf dem zweistöckigen Karussell, das mir einen 4
derartigen Schrecken eingejagt hatte, dass ich um ein Haar 5
über die Brüstung gefallen wäre, hätte Papa mich nicht in 6
aller letzter Minuten aufgefangen. Mein Papa, mein Held. 7
Daran, dass er mich geschlagen hatte oder dass ich wegen 8
diesem ekligen Qualm immer weniger Spielzeug bekam, wollte 9
ich mich nicht erinnern. Nein, mein Vater, der war jemand, 10
der perfekt war. Mutig, schlau vor allem und alles andere, 11
was man von mir nicht behaupten konnte. Ich seufzte leise. 12
Komm zurück, Papa. Ich brauche dich. Dich und Mama… 13
Plötzlich spürte ich einen warmen Luftzug an meinem Ohr. 14
Augenblicklich versteifte sich mein Körper. Meine Muskeln 15
spannten sich an. Mit angehaltenem Atem versuchte ich, im 16
Winkel meines Blickfeldes auszumachen, was geschehen war. 17
Musik drang noch aus dem Radio. Gelegentlich konnte ich auch 18
das Schnaufen des Meisters ausmachen - nur viel, viel näher! 19
Zu nah, unmittelbar hinter mir. Hau ab! Verschwinde! Aber 20
presto, presto. Ich gehorchte. Ohne einen weiteren Gedanken 21
zu verschwenden, schoss ich über die Straße hinweg. In der 22
Dunkelheit war ich völlig orientierungslos und erst, als ich 23
den harten Untergrund bemerkte, ahnte ich, dass ich in der 24
Falle saß. Sie würde nur das Licht des Wagens auf die Kurve 25
lenken müssen und, obwohl sie nur zu zweit waren, wäre es 26
ein Leichtes, mich einzukesseln. Ich war hilflos. Scott 27
näherte sich. Sein Lächeln wirkte im Schatten wie eine 28
grausame Grimasse. 29
273
„Da bist du ja endlich, Nummer 448! Ersparst mir die Mühe, 1
dich zu suchen. Nett, muss ich sagen, äußerst 2
entgegenkommend. Willst du dich nicht zu uns setzen? Ich 3
habe hier auch einen extra großen Keks für dich. Also, mein 4
Junge?“ Er wedelte mit einem Gebäck in der Luft, wobei er 5
einen weiteren Schritt auf mich zu machte. Ich blinzelte zu 6
dem Cabrio herüber. Der Fahrer beobachtete die Szene 7
entspannt, da er sicher sein mochte, dass ich aufgeben 8
würde. Erneut sah ich zu dem Meister auf. Der Geruch von 9
frischem Mehl stieg mir in die Nase. Lecker mit Marmelade. 10
Mein Magen knurrte. Nimm endlich den Keks, meldete er. Nur 11
das Gebäck vor Augen leckte ich mir mit der Zunge über die 12
Lippen und stolperte wie hypnotisiert darauf zu. 13
„Ja, Nummer 448, komm. Ich habe auch noch welche mit 14
Schokosplittern.“, behauptete Scott, die Hand nach mir 15
ausstreckend. Ruckartig blieb ich stehen. Hast du vollkommen 16
den Verstand verlassen? Reiz dich gefälligst zusammen. Es 17
gibt noch viel köstlichere Kekse auf der Welt! 18
Hastig löste ich meinen Blick von dem Mann ab, der wie 19
eine männlich wirkende Hexe Hänsel und Gretel zum 20
zuckersüßen Häuschen lockte. Und rannte, noch bevor jemand 21
reagieren konnte. Meine Fußsohlen tippten nur flüchtig auf 22
die Erde. Ich sprang über einen umgekippten Baumstamm am 23
Fahrbahnrand. In den Wald wagte ich mich nicht mehr, zumal 24
mir auch der Schatten der Bäume am Rand ausreichend Schutz 25
bot. So konnte ich sicher sein, dass die Männer mich nicht 26
mit dem Auto verfolgten und es schwerer hatten, mich zu 27
finden. Wie nach einem Tausendmeterlauf ich hechelte nach 28
Luft, lief jedoch weiter. Hinter mir hörte ich Schritte. 29
Wie viele wusste ich nicht, aber es war auch nicht wichtig. 30
274
Es war nur eine Frage der Zeit. Wer hielt länger durch? 1
Maurice Scott oder ich? Derjenige hätte gewonnen. Ich die 2
Freiheit, jedenfalls vorläufig, mein Gegner den Spaß beim 3
Quälen eines neuen Feindes. Bäumen flogen an uns vorbei wie 4
Markierungen, die auf das Ziel zu liefen. Nur, dass es bei 5
diesem Rennen kein Ziel gab. Ich spürte bereits, wie meine 6
Gelenke zu schmerzen begannen, meine Seite stach. So 7
gleichmäßig wie möglich atmete ich ein und aus. Atmen, 8
laufen, atmen. Aus, ein, wieder aus. Vielleicht hätte ich 9
das Glück und ein Bus oder jemand, der mich half, käme 10
vorbei, doch ich bezweifelte dies. Wer sollte schon ohne 11
erdenkbaren Grund selbst in Afrika nachts unterwegs sein? 12
Aber es würde bald etwas passieren müssen. Irgendetwas. 13
Allmählich konnte ich jede einzelne Faser in meinem Körper 14
spüren, vor allem, da ich mich nicht aufgewärmt hatte. Meine 15
Geschwindigkeit und der Abstand zu Scott wurden mit jedem 16
Meter geringer. Langsamer, als ich durfte, joggte ich 17
weiter. Dennoch würde ich auch dieses Tempo nicht mehr 18
halten können, vorausgesetzt, ich wollte nicht umkippen. 19
Verdammt, wie konnte der Meister nur ein derart guter Läufer 20
sein? Und noch dazu verletzt! Vorsichtig riskierte ich einen 21
Blick über die Schulter. Der Mann war unmittelbar hinter 22
mir, doch zu meinem Erleichtern verlor auch er an 23
Schnelligkeit und taumelte bereits - als er plötzlich vor 24
meinen Augen zusammenbrach. Noch im Lauf beobachtete ich, 25
wie seine Knie einknickten, die Hände sich auf den rauen 26
Boden pressten. Du hast gewonnen, Tim! Er hat dich nicht 27
gekriegt! Erneut sah ich zurück. Zu meinem Entsetzten fiel 28
der Sir zur Seite und blieb regungslos auf dem Rücken 29
liegen, wobei sich sein Brustkorb immer unregelmäßiger 30
275
senkte. Tief Luft holend blieb ich stehen, wandte mich 1
vorsichtig um. Nun, dachte ich verbittert, nun sehen Sie wie 2
es ist, wenn man am Boden kriecht! Ein tolles Gefühl, nicht 3
wahr? So viele Leute haben Sie niedergedrückt und selbst, 4
als sich diese flehend vor Ihnen wälzten, haben Sie nochmals 5
zugetreten, bis auch das Betteln ein Ende hatte! Genauso 6
soll es Ihnen jetzt auch ergehen! Sie Schwein, Sie haben den 7
Befehl gegeben, meinen Papa zu töten! Unbeirrt wollte ich 8
weiterlaufen, aber etwas hielt mich zurück. Stöhnend hob ich 9
die Schultern, senkte sie. Geh schon! Hau endlich ab! Zum 10
dritten Mal schweifte mein Blick zu dem Meister herüber. Den 11
Kopf zu Seite gedreht, die Lippen leicht geöffnet versuchte 12
er, sich aufzurichten, sackte jedoch sofort wieder in sich 13
zusammen. Sein Oberkörper verkrampfte sich, sodass der Mann 14
nach Luft schnappte. Es entsetzte mich, Scott derart hilflos 15
zu sehen. Bisher lebte er in einer Welt, die er voll und 16
ganz kontrollierte, doch nun? Das ist nicht dein Problem, 17
Tim. Der Meister würde dich auch dort verbluten lassen - 18
aber ich bin nicht der Meister! Ohne einen weiteren Gedanken 19
daran zu verschwenden und mich ohrfeigend, schlich ich 20
zögerlich zurück, kniete mich neben den Kopf des Sir. Dessen 21
Augen schlossen sich, auf, zu, auf, jedoch verlangsamt und 22
unregelmäßig. Des Weitern erkannte er mich - wenn überhaupt 23
- nur flüchtig. Nun, in dem Moment, jetzt, wo ich neben 24
diesem Menschen kauerte, verspürte ich den Hass, der in mir 25
aufkeimte wie eine Bohne im Wasser, züngelnd wie Flammen in 26
der Nacht. Sie haben mir alles genommen! Alles, was mir 27
etwas bedeutete! Zum einen meinen Papi, den Sie erpresst 28
haben. Nicht etwa mit Gummibärchen, sondern mit diesem 29
ekligen Gras von irgendeiner Wiese, abartig, absolut eklig. 30
276
Vor allem der Rauch. Wegen Ihnen ist mein Papa zu so 1
Stinktier geworden, das sich einen Dreck um die anderen 2
schert. Ihr Abbild. Und dann Mathieu, meinen besten Freund? 3
Der, der mit mir nach Spanien wollte, aber seinen Traum aus 4
den Augen verloren hat. Wegen Ihnen. Oder Zarin? Tot, wegen 5
Ihnen. Oder Jabali, der Wächter, der gegen seinen Willen 6
seine Freunde schlagen muss, die kleine Reni zum Beispiel? 7
Wegen Ihnen. Oder Kay, mein Schwesterchen, das fröhlichste 8
Mädchen, das ich kenne? Okay, sie hat sich vielleicht in 9
Angelegenheiten eingemischt, die sie nichts angehen, aber… 10
Ihre Eltern machen sich Sorgen. Wegen Ihnen. Und was ist mit 11
Tess? Mit Tess, Ihrer Tochter? Haben Sie auch ein einziges 12
Mal in Ihrem Leben an sie gedacht? Vermutlich nein. Nein, 13
Ihnen ist ja alles egal. Alles außer Ihnen selbst! Sie sind 14
ein Monster, ein verdammter… Ich hasse Sie! 15
„Nummer 448...“ Scotts Stimme klang völlig emotionslos, 16
als er dies flüsterte. 17
Ich hasse Sie…! „Ja…?“ Vorsichtig öffnete ich den Mund des 18
Mannes ein wenig, damit dieser besser atmen konnte. Sie 19
ahnen gar nicht, wie sehr ich Sie hasse! „Ich bin hier.“ 20
Der Sir blinzelte. Für den Bruchteil einer Sekunde 21
berührten sich unsere Hände, als er in die Dunkelheit hinein 22
tastete. Seine war völlig kalt. Erschrocken wich ich zurück, 23
mit dem Finger eine Strähne aus der Stirn streichend. Fassen 24
Sie mich nicht an! Der Mann hob zögernd einen Mundwinkel an 25
und im Schein des halben Stücks Käse am Himmel wirkte sein 26
Kopf wie ein Totenschädel. Die Brille musste er verloren 27
haben und als ich mich umsah, entdeckte ich sie tatsächlich 28
in ein paar Meter Entfernung. Ihre Gläser reflektierten im 29
Licht wie zwei glasige Splitter. Seine sorgfältig gezupften 30
277
Augenbrauen verdeckten die kleine Platzwunde, aus der eine 1
rötliche Säure schoss, die auch meine Hände verätzte. 2
Dennoch zog ich mein T-Shirt aus, um es dem Meister unter 3
den Kopf zu legen, einen Teil des Stoffes auf die Blutung 4
drückend. Bah! Ist das eklig! Ich spürte das Kitzeln im 5
Hals. Ein bitterer Geschmack füllte meinen Mundraum. 6
„Nummer 448...?“ Scott versuchte, erneut aufzustehen, die 7
Hand zur Faust geballt. Doch ein Schwindel musste ihn 8
erfasst haben, denn er fiel zurück auf die Straße. Grunzend 9
wie ein Monster. Dann übergab er sich, nach Luft röchelnd. 10
Ob er an sich selbst erstickte? Hoffentlich, hoffentlich tat 11
er das. An dem letzten Stück Fisch, der für ihn sterben 12
musst! Behutsam klopfte ich auf seinen Rücken, als er 13
gellend aufschrie. Warum kommt denn niemand? Wo bleibt 14
dieser Idiot von Gorilla? Wenigstens gute Leute anstellen, 15
hätte der Meister können müssen, wenn er schon sonst so ein… 16
Verdammt, ich hasse Sie! Warum bin ich überhaupt noch hier?! 17
Mein Blick wanderte zu dem Mann, wobei ich mich aufrappelte. 18
Wie ein verletztes Tier krümmte er sich zusammen, der Big 19
Boss, der King, vollkommen hilflos. Lauf, Tim, lauf! 20
„Tim…“ Ja, jetzt fällt Ihnen mein Name wieder ein! Jetzt, 21
wo Sie sich nicht mehr wehren können, Sie, Sie…! Gott, was 22
sind Sie nur für ein Mensch?! 23
Über den Nachthimmel hoch über unseren Köpfen schoss ein 24
Geier, wilde Rufe ausstoßend, auf der Suche nach seinen 25
Opfern. Auf der Jagd nach Tieren, die sich nicht wehren 26
konnte. Ständig lag er auf der Lauer, getarnt als Wohltäter, 27
indem er nur das fraß, was bereits nicht mehr zu retten war. 28
„Tim…“ Sprechen Sie nicht meinen Namen aus! Sie widern mich 29
an! Sie hätten meinem Vater helfen müssen! Aber nein, 30
278
stattdessen haben Sie ihn umgebracht! Und stattdessen 1
wollten Sie auch mich umbringen! 2
Seufzend fuhr ich mir mit den Händen durch das zerzauste 3
Haar. Der Wind ließ mich frösteln. Kurz sah ich zu meinem T-4
Shirt hinunter, welches nun dem Teufel als Kopfkissen 5
diente. „Tim…“ Mit dem knöchrigen Finger gestikulierte er 6
mir, dass ich näher herankommen sollte. Ich gehorchte. 7
Wieso, weiß ich nicht. Auch nicht, warum ich nicht 8
weggelaufen bin, ich Feigling. Langsam setzte ich mich neben 9
den Mann, brachte in die stabile Seitenlage, wie ich es oft 10
im Fernsehen gesehen hatte. Ob es richtig war, keine Ahnung, 11
aber etwas Besseres fiel mir in diesem Moment nicht ein. Ein 12
weiteres Mal erbrach er, diesmal hielt ich seinen Kopf, 13
damit die Ekel erregende Flüssigkeit hinauslaufen konnte. 14
Mehr konnte ich nicht tun, außer warten. Warten darauf, dass 15
jemand kam, der uns half. Gleich, ob es für mich wieder 16
quälende Stunden in der Gewalt Malliums bedeutete. Das Leben 17
des Meisters hatte höhere Priorität. Schließlich war er 18
trotz allem ein Mensch und ein Mensch bedurfte Hilfe, ganz 19
egal, um wen es sich dabei handelte. So stand es in der 20
Bibel und so war es Gesetz. Auch wenn es ein ziemlich blödes 21
Gesetz ist, Gott, und du dich selbst nicht einmal daran 22
hältst. Ich tue es, denn ich bin anders als du. Anders, 23
einfach anders… 24
Erschöpft kauerte ich mich ebenfalls auf den Boden, auf 25
den kalten Asphalt, die Knie nahe an den nackten Oberkörper 26
herangezogen, das Kinn dort abgestützte. Das Letzte, was ich 27
erkannte, bevor ich in das noch schwärzere Loch fiel, war 28
der blutgetränkte Schnabel des Aasgeiers, der ein zappelndes 29
Küken mit sich riss. 30
279
12. Kapitel 1
In eine wattweiche Decke eingemummelt lag ich auf dem 2
rustikalen, aber dennoch geschmackvollen Doppelbett. Obwohl 3
das Zimmer nicht sonderlich groß zu sein mochte, wirkte es 4
warm und freundlich, was nicht zuletzt auch den zwei Raum 5
hohen, leicht geöffneten Fenstern zu verdanken war, durch 6
die man einen herrlichen Blick auf den Urwald hatte. Gähnend 7
räkelte ich mich auf der Bettkante, wobei ich mir den Sand 8
aus den Augen rieb. Auf der Nachtkommode stand ein goldener 9
Wecker, der ein Uhr anzeigte. Dies stimmte exakt mit meinem 10
knurrenden Magen überein. Zeit zum Mittagessen. In schwarzen 11
Boxershorts tapste ich zur Tür, rüttelte an dem Griff - aber 12
sie blieb verschlossen. Verdammt! Natürlich alles hatte 13
wieder einmal einen klitzekleinen Hacken! Stöhnend fuhr ich 14
mir mit der Hand über das Gesicht. Mir würde nichts anders 15
übrig bleiben, als zu warten. Gelangweilt zog ich eine der 16
Schubladen der Kommode auf. Zeitschriften von Mickie Maus, 17
englische Kinderbücher. Zumindest etwas, um die Zeit 18
totzuschlagen, bis jemand kam. Daher begann ich zu lesen und 19
bemerkte wegen meiner Vertiefung nicht einmal das leise 20
Klicken des Schlüssellochs, mit dem sich die Tür öffnete. 21
„Hey! Was liest du denn da?“ 22
Erschrocken fuhr ich zusammen. Langsam, ganz langsam, 23
drehte ich den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme 24
erklang. Fassungslos. Kay legte lachend die gestapelte 25
Kleidung auf einen Stuhl, dann fiel sie mir um den Hals, 26
sodass ich das Gleichgewicht verlor und auf der Matratze 27
landete, das Mädchen über mir. Für eine Ewigkeit presste ich 28
sie an meine Brust, wollte sie nie wieder loslassen. Ihr 29
280
Atem strich warm über meine Wangen. „Ich kriege keine Luft 1
mehr.“, flüsterte sie mir schließlich sanft ins Ohr. 2
Widerwillig löste ich meinen Griff ein wenig, starrte sie 3
nur an, als sei sie ein Engel. So überirdisch war sie. 4
Einfach wunderschön, ihre blauen Augen, ihr dünner, zarter 5
Körper, von dem sie immer behauptete, er sei muskulös, wenn 6
ich sie damit neckte, und die feinen Fingernägel, auf die 7
sie früher Symbole gezeichnet hatte, irgendwelche mystischen 8
Zeichen. Aber noch außergewöhnlich war der liebenswerte, 9
aufgeweckte Geist, der in ihrem Körper wohnte. 10
Vorsichtig richtete wir uns auf, hockten gemeinsam auf der 11
Bettkante, glücklich darüber, einander wieder gefunden zu 12
haben. Kay, mein Schwesterchen. Ich legte ihr den Arm um die 13
Schulter, zog sie näher an mich heran, aber sie stieß mich 14
behutsam von sich. 15
„Hallo Tim.“, murmelte das Mädchen, wobei es mir die 16
Kleidung reichte. „Mein Meister befielt, dass du dies 17
anziehen sollst. Er erwachtet dich zum Essen.“ Traurig 18
senkte sie den Kopf, doch ich hob ihr Kinn leicht an, damit 19
sie aufsah. 20
„Kay…“ Ich wollte ihr so viel erzählen in diesem Moment. 21
Dass ich endlich wusste, wie mein Papa gestorben war. Wie 22
wir durch die Wälder gezogen sind, Mathieu und ich, bis man 23
uns entführte. Dass es mir Leid täte, was ich ihr angetan 24
habe. Von der Arbeit auf der Plantage und in der Küche. Dass 25
ich sie vermisse. Aber in diesem Moment sagte ich nichts 26
dergleichen und auch nichts, als er verstrichen war, dieser 27
Moment. Ich schwieg, versank in der Tiefe ihrer Augen. 28
Obwohl ich Mädchen immer blöd gefunden hatte, dieses Mädchen 29
mochte ich mehr als alles andere auf dieser Welt. Zögernd 30
281
näherten sich meinen Lippen ihrer heißen Stirn. Nein, igitt, 1
du küsst doch nicht deinen besten Kumpel! Aber da war es 2
bereits zu spät. Kay lächelte verschmitzt, sich eine Träne 3
aus dem Augenwinkel reibend. Dann wandte sie sich abrupt ab 4
und schloss die Tür hinter sich. Alleine blieb ich zurück, 5
dem Ticken der Uhr lausend. Gott, wie schlecht bist du nur 6
in diesem Sabberspiel! Jetzt hast du sie verjagt, Tim. Die 7
arme Kay. Sie musste sicherlich denken, du bist genau wie 8
dieser schreckliche Sulkan aus der Schule, der ständig 9
gebettelt darum gebettelt hat, mit ihr spielen zu dürfen. 10
Langsam öffnete ich die Lippen, schloss sie wieder. Ein paar 11
ihrer salzigen Schweißperlen vermischten sich mit meinem 12
Speichel. Ich grinste schief in den Spiegel gegenüber, der 13
an der Tür des kunstvoll geschnitzten Kleiderschranks hing. 14
Kay, Kay, Kay… 15
Meine Hände strichen leicht über die gefaltete Kleidung 16
auf meinem Schoß. Augenblicklich versteifte sich mein 17
Nacken, meine Fingerkuppen pochten beinahe taub. Erst 18
langsam wurde mir bewusst, dass mich die Realität wieder 19
eingeholt hatte. Kay und ich befanden uns nicht auf Mallorca 20
in einem Hotel mit Meerblick. Auch nicht auf dem Spielplatz 21
oder dort, wo wir tatsächlich hätten sein sollen. Nein, wir 22
steckten gemeinsam im Nest eines Geiers, der uns zum Essen 23
erwartete. Zögernd richtete ich mich auf, die Kleider auf 24
dem Bett ausbreitet. Mir war nicht klar, worauf ich mich 25
einließ, aber ich beschloss, erst einmal mitzumachen - vor 26
allem, weil ich einen Bärenhunger hatte. Staunend 27
betrachtete ich mich im Spiegel, drehte mich nach links, 28
nach rechts, wobei ich versuchte, auch meinen Rücken zu 29
begutachten. Man hatte für dieses Mittagessen ein teures, 30
282
weißes Hemd mit Kragen gewählt, dazu eine knielange, 1
dunkelblaue Jeans. Die weißen Turnschuhe von Nike, die zwar 2
zwei Nummer zu groß und bereits getragen schienen, ergänzten 3
gemeinsam mit einer Designeruhr das Outfit des schnicken 4
Stiefsohnes. Ebenfalls dabei lag eine Bürste und eine Tube 5
Gel, die ich nun misstrauisch beäugte. Den Mund zu einem 6
Schmollen verzogen, drehte ich den Schraubverschluss auf und 7
leerte den Inhalt auf meiner Handfläche. Ich hasste Gel. 8
Diese durchsichtige, relativ feste Masse fühlte sich 9
unglaublich fies an, verklebte jedes Haar. Schon früher als 10
wir an Weihnachten in die Kirche gingen, klatschte Mama mir 11
das Zeug auf den Kopf. Es nun auf der eigenen Haut zu 12
spüren… Ich wollte nicht weiter drüber nachdenken. 13
Angewidert strich ich den Glibber dennoch mit einem Finger 14
auf eine Strähne, entschied mich dann jedoch, es bleiben zu 15
lassen, als es erneut an der Tür klopfte. Hoffnungsvoll 16
stürmte ich herbei, um die Klinge mit dem Handrücken 17
hinunter zu drücken. Bitte lass es Kay sein! Aber es war 18
nicht Kay. Auch nicht Tess oder ein anderes Dienstmädchen. 19
Es war ein Wächter, der mich zum Essen rief. Seufzend hob 20
ich die Schultern und deutete auf das Gel, um zu 21
demonstrieren, dass ich noch etwas Zeit benötigte. 22
Nein, keine Zeit mehr. Gut, auch gut. Dann eben auch kein 23
Geld. Auf der Suche nach einem Waschbecken, in dem ich die 24
Hände säubern konnte, ließ ich meinen Blick umherschweifen. 25
Ohne fündig zu werden, wusch ich das Gel grob an den 26
Boxershorts ab, spülte mit Spucke nach. Kleben tat es immer 27
noch, aber daran würde sich wohl scheinbar vorläufig nichts 28
ändern. Ich konnte nur hoffen, dass ich dieses eine Mal dem 29
Meister die Hand geben musste. Widerwillig folgte ich dem 30
283
Mann durch den Flur hinüber zu dem riesigen Speisesaal. 1
Flüchtig erinnerte ich mich an dieses Zimmer. Dunkelroter 2
Teppich, ein polierter Glastisch mit sechzehn Stühlen. Doch 3
etwas hatte sich an dem verlassenen Raum verändert, wie ich 4
erstaunt bemerkte: Er lebte. Sein Atem pulsierte förmlich. 5
Farbspektren durchfluteten ihn. In meinem Kopf begann es, 6
sich zu drehen. Ich spürte, wie jemand mir anerkennend auf 7
die Schultern klopfte, hörte die leisen Klänge der Musik im 8
Hintergrund. 9
„Tim!“ Tess sprang von ihrem Stuhl hoch. Der Löffel, mit 10
dem sie gespielt hatte, klirrte auf den Tellerrand. So 11
neutral wie möglich schritt sie auf mich zu, ihr 12
geflochtenes Haar über die Schulter werfend. Unmittelbar vor 13
mir blieb sie stehen, sah zu mir auf. „Tim.“, wiederholte 14
sie nochmals grinsend, bevor sie mir den Arm um die Schulter 15
legte, um mich zum Tisch zu führen. „Tim, Tim, Tim, was 16
machst du nur für Sachen?“ Erst, als sie einen Stuhl neben 17
sich zurückzog, bemerkte ich den Meister, der bisher kein 18
Wort gesagt hatte - nicht einmal zu dem unangemessenen 19
Verhalten seiner Tochter. Mit der genähten Platzwunde über 20
der Augenbraue und dem Veilchen wirkte er wie ein 21
niedergeschlagener Boxer. Er reagierte kaum, als ich Platz 22
nahm, nickte lediglich. Außer Familie Scott befand sich 23
niemand in dem Zimmer, obwohl für sechs weitere Menschen 24
gedeckt war. Ich fühlte mich unbehaglich und verlassen an 25
dem großen Tisch, unwissend, ob ich etwas auf eine 26
ausgesprochene Frage erwidern oder schweigen sollte. So 27
starrte ich auf den gefüllten Brotkorb vor mir, bei dessen 28
Anblick mein Magen augenblicklich zu knurren begann. Lecker, 29
diese knusprige Kruste, der lockere, sicherlich noch 30
284
lauwarme Teig. Gerade als ich mich dazu durchgerungen hatte, 1
mir eines zu genehmigen, räusperte sich der Mann. Sofort 2
zuckte meine Hand zurück. 3
„Schon gut, bediene dich. Iss so viel du möchtest.“, 4
erklärte der Meister mit ruhigem, heiser klingendem 5
Unterton, wobei er auf einen Knopf am Tisch drückte, 6
woraufhin Sekunden später Mallium in der Tür zur Küche 7
erschien. Bei meinem Anblick verfinsterte sich sein Gesicht. 8
Wir werden wohl nie Freunde werden, dachte ich und streckte 9
ihm zur Provision heimlich die Zunge raus. Tess kicherte, 10
bemüht, nicht zu lachen. Hinter dem Küchenchef tauchte 11
dessen Adjutant auf, der strahlend den Daumen hob. Erstaunt 12
hob ich die Augenbraue. Was wurde hier für ein übles Spiel 13
mit mir gespielt? Weshalb durfte ich mit dem Meister zu 14
Mittag essen? Und weshalb waren alle mir gegenüber derart 15
freundlich? Nun gut, ich konnte damit leben, endlich einmal 16
etwas Richtiges zwischen die Zähne zu bekommen, daher 17
stellte ich keine dieser Frage, wunderte mich lediglich. 18
Vorsichtig nippte in an meinem mit winzigen Diamanten 19
verziertem Glas, welches zur Hälfte mit herrlich 20
erfrischendem Wasser gefüllt war, das auf meiner Zunge 21
sprudelte. Gierig schnappte ich mir dabei eines der Brote 22
und tauchte es in die Suppe, die ein Dienstmädchen als 23
Vorspeise servierte. 24
Schweigend sah ich in Runde. Tess führte den Löffel an den 25
Mund. „Lecker.“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu 26
ihrem Vater, dem sie halb den Rücken zuwandte. 27
Scott nickte beipflichtend. „Wirklich, exquisit. Findest 28
du nicht auch, mein Junge?“ 29
285
Erschrocken darüber, dass man mit mir sprach, verschluckte 1
ich mich an dem Stück Brot. „Ja, ja… Echt super.“ 2
„Weißt du, Tim, ohne dich könnte ich diese Suppe heute 3
vielleicht gar nicht mehr genießen.“, meinte der Sir nach 4
einer Weile des Schweigens. 5
Ich hustete, nachdem mir die Krümel bei dieser Ansprache 6
im Hals stecken geblieben waren. Was? Unruhig rutschte ich 7
auf meinem Stuhl hin und her, bemüht mit Tess Blickkontakt 8
aufzunehmen, aber diese aß unbeteiligt weiter. 9
„Ja, Tim, du hast mir in der vergangen Nacht vermutlich 10
das Leben gerettet. Das war äußerst heldenhaft von dir.“ 11
Ich wiegte nachdenklich den Kopf. Du dem Sir das Leben 12
gerettet? Unmöglich, völlig ausgeschlossen. Du hast doch 13
deinen Vater, Zarin und all den anderen Menschen rächen 14
wollen! Stattdessen hast du nun dafür gesorgt, dass dieses 15
Monster weiterhin quält. Großartig, Tim! Wirklich eine 16
Spitzenleistung! 17
„Meine Assistenten, die sechs anderen Mitglieder von 18
Kamikaze, jedenfalls sind dieser Meinung. Auch sie erkennen 19
deinen Mut an.“ Der Meister klatschte in die Hände. „Mister 20
Henkel?“ 21
Daraufhin wurde die Tür geöffnet und sechs gut gekleidete 22
Gestalten, vier Männer und zwei Frauen, betraten 23
nacheinander den Speisesaal. „Clemens Henkel… Vasco 24
Ignamias, Manfred Giebels… Lorenzo Goldmann… Ana-Cornelia 25
Paulus und zu guter letzt Nora Valencia. Alles mir treu 26
ergebene Freunde. Aber ich bin mir sicher, ihre Namen kennst 27
du bereits.“ 28
286
Ich nickte knapp, während ich misstrauisch beobachtete, 1
wie die übrigen Mitglieder ihre Plätze einnahmen. Jeder von 2
ihnen nickte mir aufmerksam zu, sagte jedoch nichts. 3
„Ich dachte mir, dass es dich interessiere, einmal ihre 4
Gesichter zu sehen, bevor…“ 5
Ich lauschte auf, doch seinen Worten folgten keine 6
weiteren mehr. „Bevor was?“, hackte ich daher nach und 7
senkte den Löffel. 8
„Nichts. Jedenfalls nichts von belangen für uns.“ Scott 9
lächelte. „Lasst uns alle gemeinsam speisen!“ Er hob sein 10
Glas, die anderen taten es ihm gleich. 11
Mit diesen Worten öffnete sich die Küchentüre erneut. 12
Mallium, gefolgt von seinem Adjutanten, trug eine riesige 13
Fleischplatte herbei. Dazu wurde Gemüse und Nudel gereicht. 14
Angewidert beobachtete ich den toten Berg, von dem alle 15
einen Teil abschabten. Mir war mittlerweile der Appetit 16
vergangen. Angewidert rieb ich meine immer noch klebenden 17
Hände an der Tischdecke ab. Die sechs Kamikazemitglieder 18
grinsten mir zu, doch auch diese Aufmerksamkeit schien wie 19
eingefroren. Ob sie höflichkeitshalber jedem von Scotts 20
Feinden zu lächelten, bevor sie ihn auf dem Operationstisch 21
auseinander nahmen? 22
Ich schluckte. Daran wollte ich nun nicht denken. 23
Unauffällig huschte mein Blick zu Tess, der die Situation 24
ebenfalls zu missfallen schien. Skeptisch beäugte sie die 25
ihr fremden Menschen, dann zischte sie ihrem Vater etwas ins 26
Ohr, woraufhin dieser den Kopf wiegte. 27
„Meine lieben Freunde,“ verkündete er schließlich, „Als 28
Zeichen meines Dankes würde ich dem Menschen, dem ich es zu 29
verdanken habe, heute mit euch an diesem Tisch zu sitzen, 30
287
einen Wunsch erfüllen. Es ist ein Wunsch von Freiheit. Eine 1
lange Sehnsucht. Geradezu ein Schrei danach. Tim River, ich 2
möchte dir…“ 3
Die Anspannung pulsierte durch den Raum, als Scott sich 4
bückte, um etwas hervorzuholen. Man konnte förmlich spüren, 5
wie es die Luft aus allen Lungen heraus sog. Mein Herz 6
pochte wild. Einen Wunsch? Einen freien Wunsch nur für mich? 7
Gespannt kaute ich auf meinen Fingernägel, sodass ich 8
augenblicklich der bittere Geschmack des Gels meinen Mund 9
anfüllte. Fest schloss ich die Augen und, als ich sie 10
Sekunden später wieder öffnete, hielt ich ein Schiff in der 11
Flasche in der Hand. 12
Enttäuscht schüttelte ich es. Ein Schiff in einer Flasche? 13
Heute war nicht der erste April. Und nein, heute war auch 14
nicht Karneval oder ein anderer Tag, an dem man sich solche 15
üblen Scherze erlauben konnte. Nicht, dass ich viel erwartet 16
hätte, aber… 17
„Du siehst nicht glücklich aus, mein Sohn. Gefällt es dir 18
etwa nicht?“, bemerkte Scott und legte das Messer beiseite. 19
„Doch, doch.“ 20
„Warte nur, bis du das Original gesehen hast.“ Die ältere 21
der beiden Frau, die mir schräg gegenüber saß, zwinkerte mir 22
durch ihre moderne, randlose Brille zu. Sie trug 23
Freizeitkleidung, obwohl sie sich darin seltsam unwohl zu 24
fühlen schien. Ihrem ernsten, kritischen Gesichtsausdruck 25
entsprechend fand man sie wahrscheinlich die meiste Zeit 26
ihres Lebens in einem Labor, in dem sie jedes einzelne noch 27
so winzige Teilchen aufspürte und bis zu Perfektion 28
analysierte. 29
288
„Es liegt in Lomé vor Anker.“, fügte der Mann neben ihr 1
mit einem hörbaren Spanisch-Portugisischen Akzent hinzu, 2
„Dort ist der Heimathafen unserer Schiffe.“ 3
„Das Original?< 4
„Ja.“ Maurice Scott hielt kurz inne, um Mallium zu 5
gestikulieren, dass man seinen Gästen Wasser nachschenken 6
sollte. Auch mein Glas wurde von der nun herbeieilenden 7
Afrikanerin neu mit Wasser und Eiswürfel gefüllt, obwohl ich 8
es erst zur Hälfe geleert hatte. Dankend nickte ich ihr zu. 9
„Ich ermögliche dir, mit einem meiner Handelsschiff über die 10
Weltmeere nach Spanien zu segeln.“, fuhr Scott fort. 11
„Ich und segeln? Nach Spanien?“ 12
Es fiel mir nicht schwer, meine Verblüffung zum Ausdruck 13
zu bringen. 14
„Natürlich nicht alleine, versteht sich. Mit einer kleinen 15
Besatzung deiner Wahl.“ 16
„Cool!“ Mehr brachte ich in diesem Moment nicht hervor. 17
Wir könnten nach Spanien, nach Spanien, in das Land, in dem 18
niemand mehr hungern und leiden musste. In das 19
Schlaraffenland. Den ganzen Tag über würden wir im Wasser 20
plantschen können, ohne Angst vor giftigen Wesen haben zu 21
müssen, und nach einem Abendessen mit warmen Nutellabrötchen 22
und einen riesigen Auswahl an Cornflakes in dem abgekühlten 23
Sand Fußball spielen. Wir alle hätten ein großartiges Haus 24
unmittelbar am Stand mit kleinem Swimmingpool und jedes von 25
uns Kindern ein eigenes Zimmer, ausgestattet mit Fernseher 26
und einer Menge Spielzeug. Unser Traum wäre erfüllt und ich 27
hätte niemanden enttäuscht, nicht einmal Mathieu. 28
„Ich weiß nicht, wie ich dir anders danken sollte. Du bist 29
nicht weitergelaufen, hast mich nicht dort liegen lassen… 30
289
obwohl es für dich vielleicht besser gewesen wäre. Ich liebe 1
Ehrlichkeit. Sie ist das, was den meisten Menschen fehlt und 2
das bedauere ich.“ 3
Erstaunt über die plötzliche Veränderung des Sirs runzelte 4
ich die Stirn. Noch vor Tagen hätte er behauptet, dass 5
Ehrlichkeit einem keinen Ruhm verleiht, sondern eher 6
schadet. Dass man alles nehmen sollte, nur sich selbst 7
gerecht zu werden. Aber nun? Vergiss einfach, was der Mann 8
gesagt hat und was nicht. Es ist nicht mehr wichtig, sagte 9
ich mir und vielleicht übersah ich in meinem Glück deshalb 10
das Entscheidende. 11
„Du hingegen bist aufrichtig. Und aus diesem Grund sollest 12
du das bekommen, was du verdienst.“ Der Meister erhob sich 13
unter Applaus seiner Anhänger und reichte mir die Hand. „Ich 14
möchte dir die ewige Freiheit schenken, Tim River, Sohn 15
unseres achten Mitgliedes, Marc River, den wir alle in guter 16
Erinnerung behalten werden.“ 17
Misstrauisch beäugte ich die knochigen, skelettähnlichen 18
Finger. Los, nimm schon die Hand, gleich ob deine eigene 19
noch so sehr klebt. Alles wird wieder gut. So wie es vorher 20
war, nur besser. Doch auf einmal ließ mich ein unbestimmtes 21
Gefühl zögern. Mein Blick schweifte über die Köpfe der 22
Menschen hinweg, die sich ebenfalls erhoben hatten und 23
gespannt meine Reaktion beobachten. Nur Tess nicht. Tess 24
kauerte mit verschränkten Armen neben mir auf ihrem Stuhl. 25
Sicherlich war sie wütend, dass man ihr keine Aufmerksamkeit 26
schenkte, obwohl sie die Lady des Hauses war. Den Kopf ein 27
wenig schief gelegt, nickte ich langsam. Ja, Tim, du darfst 28
nach Spanien reisen, darfst alles hinter dir lassen, was in 29
den vergangenen Monaten geschehen ist. Wie einen bösen 30
290
Albtraum, aus dem du endlich erwachst. Ich lächelte. Und Kay 1
kann dich wieder auf die Nase boxen, wenn ihr zusammen eine 2
Burg aus weißen, feinen Sand baut, sie aber deinetwegen am 3
nächsten Morgen vom Wasser zurück ins Meer gezogen wird. 4
Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, ob es 5
das Richtige war - was war es überhaupt, was richtig war? - 6
schüttelte ich die Hand jenes Mannes, der mein Leben 7
zerstört hatte. 8
Frühling 2000. 9
Das Frachtschiff ist groß, welches in Travemünde an der 10
deutschen Ostsee vor Anker liegt. Größer als alles, was ich 11
bisher gesehen habe. Mich faszinieren die Kräne, die wie 12
Dinosaurier die Vielzahl der kleinen, bunten, viereckigen 13
Container von Bord tragen, ebenso wie es mich fasziniert, 14
dass der dunkelhäutige Kapitän mit dem wettergegerbten 15
Gesicht die Macht über dieses riesige Seeungeheuer besitzen 16
konnte. Dessen metallischen Seiten sind ausgebeult, der Name 17
„Tasarama I.” kaum mehr lesbar. Das Schiffe erweckt den 18
Anschein, als sei es von allen Geister dieser Welt verlassen 19
worden - mit Ausnahme seines Führers, der es durch die 20
sieben Weltmeere lenkt, ob im Sturm oder in Ruhe, in Kriegs- 21
oder Friedenszeiten, immer Meine Hände umklammern den 22
Maschendrahtzaun, bis mir das Metall in die Haut schneidet, 23
als ich an dem verschlossene Tor mit dem deutlichen, gelben 24
Hinweis „Schwergebiet. Kein Zutritt!” vergeblich rüttele. 25
Mama zieht mich sanft zu einer Bank herüber, auf der Papa 26
mit drei Kugel Eis wartet. Meins ist eines mit 27
Erdbeergeschmack. Aber ich reiße mich los, renne zurück zu 28
dem Zaun. 29
291
„Mami, Mami! Wenn ich groß bin, will ich mal auf so einem 1
Schiff fahren.“ 2
„Natürlich, Timmy.“ Mama streicht mir lachend eine Strähne 3
aus der Stirn, „Mein kleiner Seeräuber.“ 4
Diese Erinnerung, die nun in meinen Gedanken auftauchte, 5
als ich das Frachtschiff in der Flasche auf der bemalten 6
Truhe am Fußende des Bettes betrachtete, ließ mich 7
schmunzeln, stimmte mich jedoch zugleich traurig. 8
Geisterabwesend wandte ich den Blick ab, die Hände an dem 9
metallischen Geländer des Balkons abgestützt, und starrte in 10
den Sternenübersäten Himmel. Nur der Westwind der Nacht des 11
2. Augustes trug gelegentlich das gruselige Heulen eines 12
Tieres zu uns herüber, ansonsten schwieg die Erde, wie ein 13
in den Schlaf gewiegt Kleinkind, beschützt von den tausenden 14
und abertausenden Lichtern um es herum. Vorsichtig, bedacht 15
diese Ruhe nicht zu zerstören, zog ich die Jacke enger um 16
meine Schultern. Ich fror und eigentlich hätte ich mich 17
längst für die Reise erholen sollen, aber seltsamerweise 18
konnte ich nicht. Schon bald würde ich Afrika verlassen und 19
gemeinsam mit meinen Freunden auf einem Schiff nach Spanien 20
segeln. Ich, euer großer Sohn, Mama und Papa. Doch - selbst 21
wenn ich dort wäre, wo wärt ihr dann? Was, wenn ihr mich 22
nicht mehr findet, in all den Menschenmassen aus den Augen 23
verliert, sowie einst in dem riesigen Einkaufscenter. Bitte, 24
Mama, bitte Papa, ich brauche euch doch so sehr, kommt 25
zurück! Vergeblich wartete ich auf ein Zeichen. Die Sterne 26
standen bewegungslos am Himmel. Ja, leuchtet nur, ihr 27
Blöden, leuchtet, bis ihr zerplatzt. Euer Licht bringt 28
sowieso niemandem etwas, völlig schwachsinnig, dass ihr 29
überhaupt da seid! 30
292
„Läuft dort oben ein toller Film oder warum starrst du in 1
den Himmel?“ 2
Erschrocken fuhr ich herum. „Ähm... Nein. Eigentlich 3
nicht.“ 4
Tess schloss leise die Tür hinter sich, während sie mitten 5
im Zimmer inne hielt, um ihr weißes, kurzer Jäckchen über 6
dem rot gepunkteten Nachthemd zuzuknöpfen. Dabei blieb ihr 7
Blick an dem Schiff hängen. „Du willst also wirklich?“, 8
erkundigte sie sich nach einer Weile, als sie auf den Balkon 9
hinaustrat. 10
Ich zuckte, ohne mich umzudrehen, die Achseln, nickte 11
schließlich weniger überzeugt. 12
„Warum?“ 13
Warum war eine gute Frage. Wenn ich ehrlich bin, habe ich 14
keinen Grund. Ob ich nun in Spanien einsam wäre oder hier… 15
was machte dies schon für einen Unterschied? Hier hätte ich 16
wenigstens - auch auf die Gefahr hin, dass es dumm klingen 17
könnte - hier hatte ich ein Dach über dem Kopf, jemand der 18
sich um mich kümmert, etwas zu essen, saß nur selten alleine 19
im Boot… Warum also? Vielleicht, weil es ein Traum war. 20
Unser großer Traum. Der Einzige, an den ich mich noch 21
klammern konnte, der mir Kraft gab, nach vorne zu blicken. 22
Vermutlich aber trieb mich der Gedanke an Mama dorthin. An 23
unseren letzten, gemeinsamen Sommerurlaub. Und auch ein 24
bisschen die Hoffnung, meine Tante dort anzutreffen, die es 25
nach ihrem Studium auf die kanarischen Inseln gezogen hat. 26
Dies erwiderte ich der Tochter des Sirs, die daraufhin den 27
Kopf schief legte und ebenfalls nachdenklich in die Sterne 28
sah. „Dort draußen geht es einem besser, oder?“ 29
„Weiß nicht.“ 30
293
„Ich meine, gefährlich ist es. Was geschieht mit einem, 1
wenn man drüber ist? Wo wohnen, wo spielen? Glaubst du in 2
Spanien gibt es Tanzschulen?“ 3
„Weiß ich nicht, Tess.“ 4
Das Mädchen schluckte bedächtig, als wolle es noch etwas 5
sagen, kaute aber lediglich auf seinem Kaugummi. Unauffällig 6
beobachtete ich es von der Seite. Ich mochte Tess. Denn 7
trotz all des Misstrauens haben wir viel zusammen erlebt, 8
viel zusammen erreicht. Wir kennen beide die Wahrheit über 9
unsere Väter und waren darüber hinaus so etwas wie Freunde 10
geworden, selbst wenn wir es noch so abstritten und 11
feierlich zu jedem Anlass geloben würden, dass wir einander 12
nicht ausstehen konnten. Nur morgen oder übermorgen oder an 13
dem Tag danach werden wir uns niemals wieder sehen und ich 14
ahnte, dass ich sie ein klitzekleines bisschen vermisste. 15
Schließlich gehörte sie neben Kay, Mathieu, Jabali, dem 16
Wächter, Reni, Kassian, Enrique und deren Familien, 17
ebenfalls zur Besatzung. 18
„Willst du mitkommen?“ 19
Erstaunt stieß Tess sich von der Brüstung ab, um mit einem 20
Schwung eine Drehung auszuführen. „Was?“, fragte sie, als 21
hätte sie mich nicht verstanden. 22
„Ob du mitkommen willst. Mit nach Spanien.“, wiederholte 23
ich daher, mich ebenfalls von dem Balkon abwendend. 24
„Ich? Spinnst du, wie kommst du denn darauf?“ 25
„War nur eine Idee.“ Ich winkte ab. „Einer meiner 26
lächerlichen Einfälle.“ 27
Schweigen. Zögernd nahm ich ihre Hand, drückte sie fest, 28
während ich sie sacht unter meinem Arm durch eine weitere 29
Drehung tanzen ließ. Sie kicherte verlegen, seltsam 30
294
vergnügt, als sei sie auf einmal ein anderer Mensch 1
geworden. Als sei sie nicht die selbstsichere, eitle Tochter 2
eines Sirs, sondern ein Freund. In Gedanken zählte ich ein 3
eins, zwei und führte das Mädchen blindlings durch das 4
Gästezimmer. Musik und Takt entstanden in unseren Köpfen. 5
Wir tanzten – Seit, Schritt, Platz, Cha-Cha, bis es 6
plötzlich ruckartig in Mitten eines Tores stehen blieb und 7
mich anstarrte. Beinahe lautlos murmelte es: „Kay, ich habe 8
Kay vergessen!“ 9
Das Jäckchen über ihre Brust glatt streichend, stolzierte 10
Tess zur Türe. Bevor sie verschwand, drehte sie sich 11
nochmals im Hinunterdrücken der Klinke zu mir um: „Es war 12
kein lächerlicher Einfall, Tim.“ 13
Verwirrt kratzte ich mich am Kopf, ein wenig enttäuscht, 14
dass Tess mich im Stich ließ. Kay, ich habe Kay vergessen, 15
hatte sie behauptet, doch was meinte sie damit? Langsam 16
wollte ich ebenfalls einen Blick auf den Flur hinauswerfen, 17
als ich im selben Moment mit jemandem zusammenstieß. Das 18
Mädchen, das nicht mit dieser Kopfnuss gerechnet hatte, 19
taumelte zurück und wäre vermutlich gestürzt, hätte ich es 20
nicht im letzten Augenblick aufgefangen. Dankbar lächelte 21
Kay mich an, während ich sie behutsam zu mir hochzog und mit 22
dem Zeigefinger über ihre leicht gerötete Schläfe fuhr. Das 23
würde eine schöne Beule werden! Erst jetzt bemerkte ich die 24
Bluttropfen auf ihrer angeschwollenen Unterlippe. Tim, was 25
hast du wieder getan? 26
„Es tut mir Leid. Es tut mir Leid, Kay.“, stotterte ich 27
einige hundert Male und setzte sie auf einen der beiden 28
Stühle auf dem Balkon. Stöhnend rieb sie sich über ihr 29
295
Gesicht, scheinbar belustigt darüber, wie fürsorglich ich 1
wegen meines schlechten Gewissens sein konnte. 2
„Schon okay. Von dir hätte ich auch nichts anderes 3
erwartet.“ 4
Während ich ebenfalls einen Stuhl für mich heranzog, 5
betrachtete ich meine beste Freundin von oben bis unten. Ihr 6
haselnussbraunes Haar wurde von einer Spange festgehalten. 7
Dennoch fielen einige Strähnen eigensinnig heraus, 8
umspielten zart ihr kantiges, hübsches Gesicht. Sie trug ein 9
weites T-Shirt, dazu eine etwas ältere, kurze Jeans, sodass 10
ihr Tattoo in Form eines kleinen, springenden Delphins gut 11
zu Geltung kam. Auch ihre Zehennägel, die aufgrund der 12
Sandalen sichtbaren waren, wiesen eigenartige Hieroglyphen 13
auf. Was sie bedeuteten, wusste ich nicht, obwohl ich mich 14
das schon damals oft gefragt hatte, wenn sie im Schatten der 15
Bäume etwas auf ihren Block kritzelte, es anschließend 16
zerriss und von Neuem begann, während wir anderen 17
umhertollten. Kay war ein geheimnisvolles Wesen, 18
geheimnisvoller als jedes Schokoladenüberraschungsei oder 19
jede Wundertüte. Wahrscheinlich mochte dies der Grund sein, 20
weshalb ich sie so sehr liebte, auch wenn ein Junge 21
hinsichtlich der Zuneigung zu einem Mädchen nicht derart 22
schwach sein sollte. Männer weinen nicht, Männer sind 23
tapfer. Papa hat das mehrmals betont, wenn ich nachts an 24
sein Bett tapste, aus Angst vor den gruseligen Schatten an 25
den Wände oder den knurrenden Monstern unter der 26
Schlafcouch. Ich sei eine Heulsuse. Nicht einmal 27
Fruchtzwerge würden noch helfen, aus mir einen einigermaßen 28
großen und starken Jungen zu zaubern. 29
„Wie bist du eigentlich hierhergekommen?“ 30
296
Wie betört von ihren blauen Augen zog es mich in die 1
Realität zurück. Kay, die ein Bonbon lutschte, legte mit 2
einem fragenden Blick den Kopf ein wenig schief. 3
Zögernd räusperte ich mich, doch dann verspürte auch ich 4
plötzlich das dringende Bedürfnis, meine Erlebnisse zu 5
erzählen. Vielleicht, so dachte ich, würden die Worte, wenn 6
ich sie aussprach davon fliegen und nie wieder zurückkehren. 7
Ja, ich könnte meine Geschichte tatsächlich für etwas frei 8
Erfundenes halten, etwas, was nur in meinen Albträumen 9
geschehen war. Und so begann ich, ihr von der Flucht aus dem 10
Dorf zu erzählen. Oder im Grunde fing ich noch viel, viel 11
früher an: Damit, dass meine Mutter gestorben war. Dies 12
mochte der Auslöser dafür gewesen sein, weshalb ich nun hier 13
tausende Meilen von meiner Heimat entfernt neben ihr auf dem 14
Balkon einer fremden, weißen Backsteinvilla kauerte. Denn 15
wäre Papa mit Mamas Tod zurechtgekommen, hätte der Meister 16
ihn, - wenn überhaupt - nur schwer mit Drogen verführen und 17
für seine fiesen Pläne missbrauchen können. So reisten wir 18
nach Afrika, ich lernte dich kennen, Kay, mein 19
Schwesterchen, und bis zu dem Tag, an dem Papa diesen Unfall 20
hatte, war ich eines der glücklichsten Kinder im gesamten 21
Universums. 22
„Wie ist dein Dad gestorben?“ 23
„Autounfall. Er hat in der Kurve die Kontrolle über den 24
Wagen verloren und ist unangeschnallt gegen einen Baum 25
gekracht.“ Seltsamerweise floss mir diese Lüge leicht von 26
den Lippen. Theoretisch gesehen beinhaltete diese Aussage 27
lediglich das, was man mir vorgegaukelt hatte und, obwohl 28
ich Kay vertraute, hielt ich es für besser, wenn auch sie 29
297
sich an diese Fassade der Wahrheit klammern konnte. Alles 1
Übrigen würde sie vermutlich verunsichern und schockieren. 2
Und so beließ ich es dabei und berichtete mit Händen und 3
Füßen, wie es Mathieu und mir gelungen war, uns unbemerkt 4
nach Kpalimé durchzuschlagen. Wie ich herausfand, dass Sir 5
Scott mit dem Unfall in Verbindung stand und wie wir letzten 6
Endes hier gelandet sind. 7
Kay nickte gelegentlich, ansonsten lauschte sie schweigend 8
meinen Worten. 9
Dass mich irgendwelche irren Ärzte um ein Haar auseinander 10
genommen hätten, aber aus einem schleierhaften Grund daran 11
gehindert wurde. Die Narbe am Oberarm mochte die einzige 12
Spur dieser schrecklichen Nacht sein, die sie hinterließen… 13
obwohl ich im Nachhinein, bei meinem missglückten 14
Fluchtversuch über den Zaun der Plantage, auf der ich nun 15
arbeiten sollte, verstand, wieso. Das Haus ist in 16
verschiedene Zonen unterteilt, die man nur mit verschiedenen 17
Magnetchips betreten darf, die entweder unterhalb der 18
Hautschicht platziert werden oder in Form von Karten 19
auftauchen. Versucht man dennoch, auszubrechen oder in einen 20
verbotenen Teil zu gelangen, setzt ein Jucken ein, welches 21
bereits nach Sekunden kaum auszuhalten ist. 22
Bei diesem Gedanken musste ich mich augenblicklich 23
kratzen, als hätte mich eine Mücke gestochen. Mit den 24
abgeknabberten Fingernägeln rieb ich über die errötete 25
Stelle, während ich weitererzählte. Von meinen neuen 26
Freunden, die ich gefunden hatte, aber auch von den vielen 27
Feinde, die mir das Leben zur Höllen machten. Als ich 28
Mathieu auflistete, mit dem ich mich im Gewitter geprügelt 29
und wegen dem ich zum Glück nur in der Küche unter der 30
298
Fetische des absolut grässlichen Kochs Malliums Fischen die 1
Köpfe abschlagen musste, klappte sich Kays Mund auf und 2
wieder zu, doch mit einem Handzeichen verdeutlichte sie mir, 3
dass ich mich von ihr nicht weiter ablenken lassen sollte. 4
Ein wenig stolz berichtete ich von dem Einbruch in das 5
Arbeitszimmer meines Vaters. 6
Um sie vor den grausamen Details des Kamikazebündnisses zu 7
schonen, murmelte ich lediglich, dass sowohl Scott, als auch 8
Papa und die anderen Mitglieder vielen Menschen wehgetan 9
hätten. Sehr, sehr weh getan, ergänzte ich in Gedanken. 10
Glücklicherweise hackte Kay nicht weiter nach, sondern 11
schien sich viel mehr damit zufrieden zu geben, was ich ihr 12
preisgab. Mittlerweile lutschte sie ein weiteres Bonbon; aus 13
ihrer Richtung strömte ein herrlicher Duft nach Kirschen. 14
Ihre schmalen Lippen waren leicht bläulich vor Kälte, aber 15
ihr edler Schein verlieh auch ihnen einen überirdischen 16
Glanz. Bemühte, mich davon nicht beeinflussen zu lassen, 17
führte ich das Männchen namens Tim zum Ziel des 18
Spielbrettes. Lediglich die Felder, dass ich dich, Kay, 19
gemeinsam mit Zarin, der ebenfalls für den Meister arbeiten 20
musste, in dem Anhänger gefunden und bei einem Ausflug 21
zufällig das Leben dieser Monsters gerettet hatte, weshalb 22
dieser mir die Freiheit und das Schiff schenkte, mit dem wir 23
unseren Traum erfüllen konnte, fehlten. Ende. Aus, vorbei. 24
Die Geschichte war erzählte, zumindest bis hierhin. Oder 25
fast jedenfalls… Kurz überkam mich erneut das Verlangen, ihr 26
die vollständige Wahrheit nahe zu bringen, doch dann 27
entschied ich mich dagegen. Ich hätte sie nicht belogen, ihr 28
bloß einige Fakten verschwiegen. 29
299
Schweigend wartete ich auf eine Reaktion meiner besten 1
Freundin. Aber diese mochte völlig anderes ausfallen, als 2
ich jemals für möglich gehalten hätte. Ich wusste auch nicht 3
recht, was ich erwartet hatte. Eine anerkenne Umarmung 4
vielleicht, ein erleichtertes Aufatmen. 5
„Tess war bei dir, nicht wahr?“ 6
Die Frage traf ich unverhofft, sodass ich stutzte. Kay 7
lächelte, doch in ihren Augen erkannte ich, wie verzweifelt 8
sie dabei wirkte. 9
„Ja, Tess war bei mir. Warum?“, erwiderte ich irritiert, 10
während ich nach einem Bonbon langte, dass sie mir, ohne 11
mich eines Blickes zu würdigen, reichte. 12
„Magst du sie?“ 13
Zögernd wiegte ich den Kopf, nickte schließlich, wobei ich 14
das Bonbon in der Hand wog. „Ja, wieso auch nicht? Ich weiß, 15
sie ist manchmal eine angeberische Ziege, vollkommen 16
übergeschnappt, wenn du mich fragst, aber eigentlich nett.“ 17
Das durchsichtige Papierchen raschelte. „Ich habe sie 18
gefragt, ob sie mit uns kommen nach Spanien will.“ 19
Kay verschluckte sich an dem Zuckerklumpen in ihrem Hals, 20
sodass sie hustend nach Luft ringen musste. Panisch sprang 21
ich auf. Der Stuhl kippte hinten über, aber selbst wenn der 22
Krach den Meister oder jemanden geweckt haben sollte, so 23
wäre es mir egal. „Kay!“ Behutsam klopfe ich ihr auf den 24
Rücken. Einmal, dann zweimal etwas fester, bis sie das 25
schleimige Bonbon aus ihrem Rachen zurück auf den gefliesten 26
Boden des Balkons beförderte. „Alles okay?“ 27
Keine Antwort. Betroffenes Schweigen. Um mir auszuweichen, 28
drehte das Mädchen den Oberkörper ein wenig zur Seite und 29
300
starrte in den Himmel, als gäbe es dort, Wundervolles zu 1
entdecken. 2
„Alles okay bei dir? Rede mit mir!“ 3
Doch sie würde mir auf ewig eine Antwort schuldig bleiben. 4
Für den Bruchteil einer Sekunde strichen ihre Härchen am 5
Unterarm über die meine. Ihre dünnen, kalten Finger 6
verkrampften sich in meiner schweißnassen Hand, als wollten 7
sie diese nie wieder loslassen. Dabei bohrte sie einer ihrer 8
Nägel tief in mein Fleisch, doch dieser Moment war es nicht 9
würdig, von einem Aufschrei gestört zu werden. Leise, mit 10
einem sehnsuchtsvollen Blick in die Sterne, begann sie, ein 11
Lied zu summen. Sein Text wurde von einer Melodie untermalt, 12
die ebenso schön, wie traurig durch die Dunkelheit 13
davongetragen wird. Dennoch spürte ich in diesem Augenblick 14
nichts weiter als das überwältigende Gefühl von etwas, dass 15
ich nicht zu zuordnen vermochte, weil es kein Wort dafür gab 16
und vermutlich auch nie eines geben würde. Unbeschreiblich, 17
nannte ich es daher, obwohl diese wiederum eine Beschreibung 18
wäre, die das beschrieb, was nicht zu beschreiben war. Im 19
Grunde mochte es auch gleich sein, wie es hieß. Denn solch 20
ein Gefühl empfand jeder Mensch anders, schätze ich. Für 21
mich war es eine willkürlich zusammen gemischte Suppe aus 22
Glück, Pech, Hass, Liebe, Geborgenheit, Einsamkeit, Trauer, 23
Freude, Wärme, Kälte, Erleichterung, Angst, Sicherheit, 24
Verzweiflung, Leidenschaft, Unbehagen, Sehnsucht. Vor allem 25
aber Verwirrung, die wie ein Gewürz die kochende, wohl 26
riechende Flüssigkeit schmückte. 27
Mein Herz pendelte wie ein getroffenes Tier durch meinen 28
Brustkorb, sodass ich für Sekunden glaubte zu sterben. 29
Bewegungslos beobachte ich Kay im Blickwinkel, während ich 30
301
gespannt ihrer sanften Stimme lauschte, ohne den Sinn zu 1
verstehen. Kay, bitte sieh mich an! Als hätte es meine 2
Gedanken lesen können, brach das Mädchen seinen Gesang 3
abrupt ab. 4
„Ich komme nicht mit nach Spanien.“ 5
In diesem Moment ist für mich eine Welt zusammengebrochen. 6
„Ich komme nicht mit nach Spanien, Tim.“ Meine beste 7
Freundin, meine Schwester… Nein! Sicherlich hast du dich 8
bloß verhört. Es war unser Traum, unser gemeinsamer Traum, 9
etwas, für das wir gekämpft haben, wir alle zusammen. 10
Weshalb wollte sie dies plötzlich aufgeben? Das machte doch 11
keinen Sinn! 12
„Ich glaube an dich, Tim. An dich und Mathieu. Hoffentlich 13
werdet ihr es schaffen, aber für mich…“ 14
Energisch schüttelte ich sie an den Schultern, doch sie 15
wich mir aus, als sei ich nicht da, nur die Sterne hoch über 16
ihrem Kopf, das leise Plätschern des Brunnens, der 17
Nachtwind, der sacht durch ihr Haar fuhr. 18
„Warum?“, fragte ich beinahe brüllend. 19
„Ich kann nicht. Meine Eltern und … Ich habe Angst…“ 20
„Die haben wir alle. Aber egal was auch passiert, ich 21
werde dich niemals im Stich lassen, versprochen? Großes 22
Spanien-Ehrenwort, okay?“ 23
Zuversichtlich lächelnd hielt ich ihr meine Hand hin, wie 24
so oft, als wir geschworen hatten. Doch dies Mal griff sie 25
nicht danach, betrachtete sie nur. „Ich kann nicht.“, 26
wiederholte sie stattdessen noch einmal. „So viel Wasser. 27
Überall.“ 28
Natürlich! Plötzlich ergab alles in dem Labyrinth mit den 29
vielen, ineinander verworrenen Gängen einen sinnvollen Weg 30
302
hinaus. Deshalb war Kay niemals in den Fluss gesprungen, 1
sondern hatte sich wenn überhaupt nur zögerlich 2
hineingetastet, obwohl die anderen dann immer verächtlich 3
spotteten. Sie hatte schlicht und ergreifend panische Angst 4
davor in diesen dunklen, geheimnisvollen Fluten zu 5
ertrinken. Und du Tim, du hast ihr niemals geholfen, gleich, 6
obwohl sie deine beste Freundin ist. Du hast sie sogar 7
einmal absichtlich unter Wasser gedrückt. Was bist du nur 8
für ein Idiot? Vielleicht hättet ihr gemeinsam eine Lösung 9
finden können, einen Ausweg. Denn diesen mochte es immer 10
geben… jedenfalls theoretisch. 11
„Ich verspreche dir, dass dir nichts passieren wird. Wir 12
sind auf einem Schiff, das Wasser liegt ganz tief unter uns 13
und kommt nicht an dich ran. Und wenn… Ich werde auf dich 14
aufpassen!“ 15
Unbeholfen strich sie eine Strähne aus der Stirn, während 16
sie sich von dem Stuhl erhob, die Lippen zu einem schiefen 17
Lächeln verzogen. „Nein. Tut mir Leid…“ Ich spürte ihren 18
warmen Atem an meinem Hals, konnte förmlich ihrem 19
unregelmäßigen Herzschlag lauschen. Poch… Poch, poch… Oder 20
mochte dies mein Eigener sein? Poch, poch-poch, poch… Ich 21
wusste es nicht. Vielleicht war es auch ein Bündnis aus 22
unseren beiden - was machte dies schon für einen 23
Unterschied? Unschlüssig standen wir voreinander, ohne uns 24
anzusehen. Es gab nichts mehr zu sagen. Außer… „Du bist 25
meine bester Kumpel, Kay.“ 26
Das schottische Mädchen nickte, streichelte mir beruhigend 27
über den Unterarm. 28
„Du meiner auch, Tim.“ Schluckend wandte sie sich ab, 29
umklammerte das Geländer, als schenkte es ihr den fehlenden 30
303
Halt. Kay… Bitte, bitte komm mit nach Spanien. Ich will dich 1
nicht noch einmal verlieren… Nicht noch einmal… Ich mag dich 2
so sehr. Wie soll ich es nur ohne dich schaffen, etwas auf 3
die Beine zu stellen? Siehst du denn nicht, dass ich mich 4
selbst nur in Schwierigkeiten und Chaos stürze, wenn du 5
nicht da bist? Sanft schlang ich meinen Arm um ihre Taille, 6
legte meinen Kopf auf ihre Schultern, genauso, wie ich es 7
oft in den Filmen gesehen hatte. Frauen mochte das in der 8
Regel - mit Ausnahme von Kay. Diese stieß mich traurig zur 9
Seite. 10
„Nimm Tess mit.“, murmelte sie, „Ich bin sicher, ihr, du 11
und sie, werdet…“ Das Mädchen stockte. „…bessere Freunde.“ 12
Mit diesen Worten wollte sie davon stürmen, doch ich hielt 13
am Ellenbogen fest. 14
„Nein, Kay, das werden wir nicht.“, versicherte ich ihr, 15
wobei ich ihr Tränen überströmtes Gesicht an meine Brust 16
drückte. Eine Weile standen wir einfach nur da, bis sie alle 17
ihre salzigen Flüssigkeitsvorräte aufgebraucht hatte und 18
nach Luft ringen musste. „Wenn du einen Delphin siehst, 19
grüßt du ihn von mir, ja?“ 20
„Mach ich, Kay. Großes-Spanien-Ehrenwort. Und jetzt nicht 21
mehr weinen, klar?“ 22
Sie wiegte den Kopf, ein feuchtes Glitzern im Augenwinkel. 23
„Okay.“, gähnte sie, einen flüchtigen Blick auf den Wecker 24
werfend. „Ich muss schlafen gehen.“ 25
„Du kannst hier schlafen. Ich habe genug Platz. Dann 26
können wir noch etwas Mau-Mau spielen oder so.“, schlug ich 27
vor, wobei ich die Schublade aufzog und ein neues 28
Kartenspiel zu Tage beförderte. 29
304
„Mau-Mau? Du hast echt keine besseren Einfälle, als nachts 1
um 11 Uhr Mau-Mau zu spielen?“ Kay grinste. „Nein, 2
ernsthaft. Ich bekommen Riesenärger, wenn ich morgen früh 3
nicht da bin.“ Flüchtig umarmte sie mich zum Abschied und 4
schlich zwinkernd zur Tür. „Vielleicht einander Mal.“, fügte 5
sie beim Hinausgehen hinzu. 6
Vielleicht einander Mal. Doch es würde niemals einander 7
Mal geben. Das wussten wir beide in jener Nacht, auch wenn 8
wir nicht wagten, dies auszusprechen. 9
Vielleicht einander Mal. 10
305
13. Kapitel 1
Der abgebrochen Ast, der mir als Paddel dient, ist zu 2
kurz, das Kajak hoffnungslos wacklig. Als ich mein Gewicht 3
beim Abstoßen von dem Stein zu verlagern versuche, gerät 4
derart heftig ins Schwanken, dass es zu kentern droht. Im 5
letzten Augenblicklich, das Wasser läuft mir über das 6
Gesicht, fange ich es auf. Erneut, diesmal etwas 7
vorsichtiger, drücke ich mich ab und tatsächlich gelingt es 8
mir, dass Kajak, das sofort von der Strömung mitgerissen 9
wird, waagerecht auf den Fluten gleiten zu lassen. Immer 10
schneller entferne ich mich von der Villa. Aber jubeln kann 11
ich dennoch nicht, weil ich spüre, dass das, was mich nun 12
erwartet, eine noch größere Herausforderung sein würde. 13
Tosendes Wasser, irgendwo hinter der nächsten Biegung. 14
Vorsichtig tauche ich den Ast ins Wasser, um herauszufinden, 15
wie ich das Kajak lenken kann und wie es reagiert, wenn ich 16
im Fluss auf irgendwelche Hindernisse treffe. 17
Die Strömung ist stark, das Ufer steil, eine Möglichkeit 18
zum Anhalten gibt es nicht. Die Wurzeln der Bäume hängen von 19
den Felsen herab, verschwinden in der braunen Brühe, die von 20
den Steinen wie in einer natürlichen Rutsche eingegrenzt 21
wird. Weiß und wild säumt das Wasser, bahnt sich seinen Weg. 22
Ich will aufschreien, als das Kajak von der ersten 23
Stromschnelle beinahe gegen den Fels geschleudert wird, doch 24
die Ekel erregende Flüssigkeit in meinem Mund unterdrückt 25
dies. Und, obgleich ich nicht weiß, wohin mich meine Fahrt 26
führt, ahne ich, dass es zweifelsohne keine leicht werden 27
würde. Panisch rudere ich gegen den Storm, bis ich erschöpft 28
306
aufgebe. Es hat keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn gegen das 1
Mitreißen anzukämpfen. Die Fluten gewinnen immer. 2
Tief atme ich durch, presse die Lippen aufeinander, bis 3
sie weiß werden. Fest umkrallen meine Hände den Ast und 4
dann… Dann beginnt sich die Welt zu drehen. Nach links, nach 5
rechts, weiter nach rechts, nach links. Wasser klatscht mir 6
wie ein nasser Schwamm ins Gesicht. Erkennen kann ich nur 7
noch undeutliche Umrisse. Ein grünes Blätterdach über meinem 8
Kopf, Schatten zu allen Seiten. Ich weiß nicht mehr, wo ich 9
bin, weiß nicht mehr, wie lange ich schon fahre. Weiß nur, 10
dass es endlich aufhören soll, das Grauen. Gott, lass das 11
Boot kentern, lass mich ertrinken. Aber ich ertrinke nicht. 12
Irgendwie schaffe ich es, kann wieder sehen, wieder hören. 13
Egal, wie zerschlagen und erschöpft ich mich fühle: Ich habe 14
den Fluss besiegt. Ätsch, Sio River! Plötzlich erfasst mich 15
eine weitere Stromschnelle, wütender als die erste, und 16
reißt mich fort ins Ungewisse. 17
Verträumt starrte ich durch die Ritze, die die Plane bot, 18
zum Sio River hinüber, der neben der unebenen Straße her 19
Richtung Lomé treibt, den Kopf schwer auf die Hände 20
gestürzt. Ich hatte davon geträumt, einmal auf ihm davon 21
getragen zu werden, wie ein Reiter auf seinem Wasserpferd, 22
selbst wenn ich wusste, dass es nur den Mutigen dieser Welt 23
diese Ehre erweisen würde, zu denen ich zweifellos nicht 24
zählte. Ich wäre zu feige für solch ein Abenteuer. Als mir 25
der scharfe Motorqualm in die Nasse stieg, musste ich 26
husten. Kay, die eingepfercht zwischen zwei Holzkisten neben 27
mir auf der Decke hockte, die nur durch die dünnen 28
Ladefläche von dem rechten Hinterreifen getrennt wurde, 29
sodass wir jedes Schlagloch zu spüren bekamen, klopfte mir 30
307
sanft auf den Rücken. Angewidert verzog auch sie das 1
Gesicht. „Bah! Die armen Tiere da draußen. Die ersticken 2
bestimmt! Ist das eklig. Igitt.“ 3
Seltsamerweise sagte sie dies in Englisch und nicht in 4
Französisch, wie es angebracht gewesen wäre. Verständnislos 5
starrte Reni von dem Schoss ihrer Mutter aus zu uns herüber, 6
widmete sich dann jedoch sofort wieder Kassians 7
sechszehnjähriger und bereits verheirateten Schwester 8
Dominique. Ihr und ihrem an HIV erkranktem Ehemann Amani 9
hatte man den gemeinsamen Sohn genommen, was beide noch 10
nicht verkraften konnten. Mit der Trauer wurde die junge, 11
wieder schwangere Frau lediglich fertig, indem sie sich mit 12
anderen Kindern beschäftigt, so wie jetzt, als sie vergnügt 13
mit dem kleinen Mädchen spielte. Amani hingegen, der sich 14
angeregt mit Jabali, dem Wächter, und seinem Schwiegervater 15
unterhielt, schwor heimlich Rache - ein Grund dafür, weshalb 16
er zu den wenigen zählte, die nicht an mir zweifelten. 17
Suleika, Tess Tanzlehrerin, die kichernd ihren Mann Faraji 18
und Kassian beim Raufen zurecht wies, ließ ihre Finger auf 19
dem Metall tanzen, um der Tochter des Sirs die neuen 20
Tanzschritte zu erklären, die man sicherheitshalber auf den 21
Vordersitz des Lasters verfrachtet hatte, der durch eine 22
dünne Trennwand von dem übrigen Teil der Ladefläche 23
abgeschnitten wurde. Dabei legte die Frau den Arm schützend 24
um die Schultern eines älteren Mannes, der abwesend vor sich 25
starrte. Einen Namen mochte er nicht haben, auch kein 26
Gesicht, keine Stimme. Dennoch war er darüber nicht 27
sonderlich traurig. Vielmehr schien es ihm egal. So wie 28
alles, was um ihn herum geschah. Nur Kalli, Tess Hund, der 29
natürlich auch nicht vergessen wurde, konnte diesem 30
308
unnahbaren Menschen ein Lächeln auf die geschwollenen Lippen 1
zaubern. 2
Seufzend wanderte mein Blick über die Köpfe aller 3
Anwesenden hinweg, bis er an der letzten Person hängen 4
blieb, die fernab auf dem Rücken lag und stur schweigend die 5
Wölbung der Plane über ihrem Kopf betrachte: Mathieu, mein 6
bester Freund. Als ich ihm auf der Plantage beim Ernten 7
begegnet bin, hat er mich kaum beachtet und als ich auf ihn 8
zu gegangen bin, hat er mir kaum Antwort gegeben. Ich hatte 9
das Gefühl, er sei immer noch wegen dieser ganzen Geschichte 10
gereizt und sauer. Dennoch entschied er sich, mich auf 11
dieser Reise zu begleiten. Großes-Spanien-Ehrenwort, hat er 12
mit einem schiefen Grinsen gemeint, die einzigen 13
zusammenhängenden Worte, die wir über Wochen ausgetaucht 14
haben. Auch Kay gegenüber war er abweisend, hatte ihr bei 15
einem flüchtigen „Hey, Kay-Linny!“ die Zunge 16
herausgestreckt. Seither schwieg er beharrlich und ich 17
zweifelte ins Geheim schon meine Entscheidung an, ihn 18
überhaupt eingeladen zu haben. Trotz allem, flößte ich 19
meinem Gewissen ein, er sei mein Freund und Freunde ließe 20
man nicht im Stich. 21
Das also waren die Menschen, mit denen ich nach Spanien 22
reisen würde: Mathieu, Tess, Kalli, dem Hund, Kassian, 23
dessen Familie - bestehend aus seiner Schwester Dominique, 24
ihrem Ehemann Amani, ihrem ungeborenen Kind und dem Vater 25
Richard - Jabali, dem Wächter, Suleika, deren Freund Faraji, 26
Reni und ihrer Mutter, dem Mann ohne Namen und zu guter 27
Letzt auch Mickie, der Wüstenrennmaus. Nur die Wichtigste 28
fehlte… Kay. Von ihr würde ich mich in Lomé vor dem Hôtel 29
Sarakawa, wo ihre Mutter als Managerin arbeitete, 30
309
verabschieden müssen. Vielleicht könnten wir an unserem 1
letzten gemeinsamen Abend noch einmal die Boulevard du Mono 2
(die Hafenstraßen mit einem herrlichen Blick auf den Golfe 3
de Bénin) entlang spazieren oder die Cathédrale de Lomé 4
besuchen können, aber dann… Ich sah zu ihr herüber, ein 5
feuchtes Glitzern im Augenwinkel. Dann… Als ihr Kopf 6
ebenfalls verwundert zu mir herum schoss, trafen sich unsere 7
Blicke, als hätte sie meinen auf ihrer Haut spüren können. 8
Oh Gott, Tim, jetzt starr sie nicht so an! Du siehst sicher 9
aus wie ein durchgedrehter Professor, der unter einem dieser 10
Mikroskope etwas wundersam Spannendes entdeckt hat… Okay, 11
zugegeben, das mit dem durchgedreht stimmt, aber… Tim! 12
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich unbewusst ihr Handgelenk 13
mit meinen Finger umkrallte. Verlegen wollte ich sie lösen, 14
aber Kay legte sie vorsichtig in ihre warme und klappte 15
einen Finger nach dem anderen um. Die ganze Fahrt über und 16
selbst bei der Pause in Kéve, einer Stadt im Südwesten an 17
der Grenze Ghanas, brach dieses Bündnis nicht, sodass wir 18
gemeinsam auf die Toilette gingen, was in Anbetracht dessen, 19
dass sie groß musste, leicht problematisch wurde. 20
Nach einer vierzig Meilen langen Fahrt näherten wir uns 21
der Küste Togos. Bitte, lass uns auf ewig weiter fahren… 22
Kays Hand verkrampfte sich kurz in meiner, dann ließ sie 23
mich los, um durch ein Loch in der Plane auf der 24
gegenüberliegenden Seite neben Suleika hinauszusehen. Ich 25
senkte den Kopf, atmete tief durch. Tim, du wirst doch jetzt 26
nicht heulen, bloß weil du dich von diesem Mädchen 27
verabschieden musst! Immerhin hat sie dir oft genug 28
wehgetan. Nicht zuletzt die Nase! 29
310
Auch ich lugte durch eines der Löcher. Obwohl Lomé mit 1
seinen siebenhundertfünfzigtausend Einwohner das 2
Wirtschafts- und Handelszentrum des 56.785 3
Quadratkilometergroßen Landes in Westafrika sein mochte, so 4
erschien die Hauptstadt vor allem außerhalb ihres Kernes wie 5
ein Dorf: Niedrige, zumeist einstöckige Gebäude mit 6
hölzernen Vorbauten, an deren Stützen oder Balkan bunte 7
Tücher im Wind flatterten. Ein einem Container ähnlich 8
sehender Laden mit einer Telefonzelle, der durch alte 9
Autobatterien und Reifen vor Bodennässe geschützt werden 10
sollte, zwängte sich zwischen zwei Häuser. Vor dem einen 11
kauerten Kinder, die trotz des Staubes Kleider wuschen. Das 12
andere mochte eine Art Autowerkstatt sein, in der ein 13
Afrikaner mit großem Geschick ein Auto reparierte, welches 14
in Deutschland vermutlich längst auf dem Schrotthaufen 15
gelandet wäre. Gegenüber, nur durch eine breite, matschige 16
Straße getrennt, auf der sich das Wasser nach einem kurzen 17
Regenschauer gestaut hatte, war eine Bar mit dem Namen „Bel 18
Air“ zu finden, die sogar über einen Biergarten - ein 19
ovaler, liebevoll bemalter Tresen mit viereckigen Hockern - 20
verfügte. Dicht, manchmal nur durch Palmen oder andere 21
Pflanzen unterbrochen, die ebenfalls zum Aufhängen von 22
Schildern, Weiterleiten des Stromkabels, oder dergleichen 23
genutzt, erstreckte sich eine Siedlung. Ein beinahe 24
familiäres Miteinander, ähnlich dem Leben in Kpalimé. 25
Doch nachdem die Avenue de la Victoire den Kanal Lac 26
Ouest überquert hatte, musste ich mehrmals blinzeln, um das 27
zu glauben, was ich nun sah. Oder vielmehr, wovon ich nun 28
Teil wurde. 29
311
„Du siehst entsetzt aus.“, bemerkte Faraji. Grinsend legte 1
er mir die Hand auf die Schultern und schob die Planen ein 2
Stück weit zur Seite. „Das ist Lomé.“ 3
Ich wiegte den Kopf, spähte dann gebahnt zu der von 4
tausenden, verschiedenen Verkaufsständen verstopfte Kreuzung 5
herüber, auf der sich der Verkehr mühsam voran quälte. 6
Hupen, Fluchen. Hochbeladenen Fahrzeugen schlängelten sich 7
in rasanten Manövern durch die drückende Hitze hindurch. 8
Menschen - Frauen mit kunstvoll auf ihren Köpfen 9
aufgetürmten Bananenkörben, Männer, die auf wild zusammen 10
gezimmerte Gerüsten arbeiten, Kinder, die nach der Schule, 11
vorausgesetzt ihre Eltern können die 2300 CFA, umgerechnet 12
3,55 €, jährlich entbehren, ebenfalls an den Marktständen 13
mithelfen müssen - all diese Menschen ließen Lomé, von dem 14
Dach eines Hochhauses betrachtet, wie einen bunten 15
Ameisenhaufen wirken. Diese Vorstellung kam mir vor allem 16
dadurch in den Sinn, als ich in die Luft schnupperte. Es 17
stank. Nicht nach den Abgasen der alten Auto. Nicht nach 18
Schweiß… Nein, es stank nach Müll. Nach dem Müll, der aus 19
jedem Loch, aus jeder Bordsteinabsenkung wie ein Geschwür 20
hervorquoll. Denn diesen Luxus einer Müllabfuhr genoss man 21
in Togo nicht. Auch die Elektronik gehörte für viele 22
Familien, die in den engen Wohnungen der mehrstöckigen, 23
grauen, quadratischen Bauten lebten, zu einem Komfort, den 24
sie sich nicht leisten konnten, obgleich sie täglich an 25
ihren Ständen, bestehend aus einem abgenutzten Sonnenschirm 26
und grob getischlerten Regalen, ihre Waren anpriesen. 27
Verkauft wurde alles: Von Kleidung, über Früchte oder andere 28
Lebensmittel, zu Spielen oder, was ich als am grausamsten 29
empfand, zum Schlachten von Tieren auf offener Straße, 30
312
mitten im Dreck, im Abgas der Fahrzeuge. Ihre leblosen 1
Körper bluteten an Leinen aufgehängt aus. Abgeschlagene 2
Köpfe trat man, wenn sie nicht mehr weiterzuverarbeiten 3
waren, achtlos zur Seite. 4
Unser Laster kreuzte die Boulevard du Javier, setzte aber 5
nach einem Stau den Weg durch den Kern Lomés in Richtung 6
Hafen fort. Ich konnte zu meiner Rechten das hübsche Gebäude 7
des Siége du Parlement ausmachen, an dem die togolesische 8
Flagge im Wind flatterte, dann am Ende der Straße im weiter 9
Ferne den Palais de Justice. Keines dieser Häuser würde ich 10
jemals betreten. Warum auch? - Ich wusste nicht einmal, 11
wofür sie derart gut errichtet waren und die der armen 12
Menschen dort draußen derart armselig. Doch als wir nun nach 13
links auf die Hafenstraße abbogen, erschien es mir 14
unwichtig, darüber nachzudenken. Blau glitzerte das Meer vor 15
uns. Der Golfe de Bénin, wir hatten ihn erreicht. Die Küste 16
von Togo. Die Sonne strahlte. Palmen bogen sich sanft wie 17
Fächer im Wind. Weiße Bänder umspülten mit schlangenartigen 18
Bewegungen die tausenden, feinen, winzigen Perlen. Die 19
bunten Handtücher der Touristen verliehen dem Strand aus der 20
Sicht eines Papageis, der krähend in einer Baumkrone hockte 21
oder seinen Flügel ausbreitete, um sacht über unsere Köpfe 22
hinweg zu segeln, etwas Harmonisches. Verträumt schloss ich 23
die Augen, betend, dass ich niemals von hier fortgehen 24
musste. Wäre es nicht möglich, ein Haus unter diesen Palmen 25
dort drüben zu bauen? Wir sind doch in Togo, da ist alles 26
egal. Vogelfrei, warum nicht auch das? Warum nicht auch der 27
Traum, immer mit Kay zusammen bleiben zu können? Schön, es 28
mochte der zweite Traum sein, aber überwog dieser nicht 29
sogar den ersten? Nachdem du, Kay, mich am Morgen aus der 30
313
Hängematte, in der ich im Sonnenuntergang mit einem Comic in 1
der Hand eingeschlafen wäre, geworfen hättest, könnten wir 2
gemeinsam im Sand kochen. Ich kann gut kochen, finde ich. 3
Nudeln, geröstetes Brot, sicher auch dein Lieblingsgericht, 4
süße, gebratene Bananen. Versuchen kann ich es jedenfalls, 5
selbst wenn es bedeutet, dass ich mich wieder einmal in den 6
Finger schneide oder verbrenne. Tess, Mathieu und die 7
anderen besuchen uns immer und abends, wenn wir alle müde 8
von der Schule oder Arbeit heimkämen, sängen wir Lieder. 9
Vielleicht würde Amani mir beibringen, wie man Panflöte 10
spielt. Fragen konnte ich ihn ja einmal. Für dich Kay… Gott, 11
Tim, fängst du jetzt schon mit diesem Liebesgedusel an, 12
obwohl es dich in den Filmen derart aufgeregt hat, wenn das 13
Bild eines sich überschlagenen Autos durch einen dieser 14
ekligen Küsse geschnitten wurde?! Oje, eindeutig, du hast… 15
Fieber. Sicher, Fieber, natürlich Fieber - was auch sonst? 16
Plötzlich scherte der Lasten ruckartig aus. Panisch schrie 17
Reni auf. „Mami! Mami!“ Auch die übrigen Menschen krallten 18
sich an allem fest, was sich ihnen bot. Dabei traf mich 19
Farajis Ellenbogen hart am Kinnhacken, sodass ich 20
unkontrolliert gegen die Plane fiel. In meinem Kopf 21
wirbelten die Gedanken durcheinander. Chaos, pures Chaos. 22
Der Geschmack von Blut lag mir auf der Zunge und, als ich 23
ihn öffnete, tropfte tatsächlich rötlich gefärbter Speichel 24
auf mein Hemd. Was passiert da draußen? In weiter Ferne, wie 25
es schien, konnte ich Tess Stimme vernehmen, die etwas 26
angeschlagen klang, geradezu schockiert. Hupen. Noch immer 27
drohte das Fahrzeug zu kippen. Bitte nicht! Irgendwie gelang 28
es dem Fahrer mit einem Ruck das Steuer herumzureißen, 29
sodass der Transporter zurück auf die Fahrbahn fiel und 30
314
unter ächzendem Motor langsam neu startet. Ein tiefes Raunen 1
durchfuhr die Menge. 2
„Alles okay?“ erkundigte sich Amani, der sich als 3
Erster von dem Schock erholte und sich aufrichtete, um den 4
Blick prüfend über die Köpfe seiner entsetzten Mitreisenden 5
schweifen zu lassen. Als er erleichtert feststellte, dass 6
niemand schwer verletzt war, löste sich seine Anspannung. 7
„Wir sollten alle einmal ganz ruhig durchatmen. Bald sind 8
wir am Hafen.“, meinte er achselzuckend. 9
„Einmal durchatmen?“ Der erzürnte Jabali, der die kleine 10
Reni im Arm hielt, sprang ebenfalls auf. „Beinahe wäre wir 11
alle tot…“ 12
„Nur noch das eine Stück.“ Mit einem abschätzenden Blick 13
kniete er nieder, um mir mit einem alten Papierschnipsel das 14
Blut von der Lippe zu tupfen. „Nur noch dieses eine Stück.“ 15
315
14. Kapitel 1
Die regenbogenfarbene Fontäne schoss aus der Pore, 2
befeuchtete wohltuend unsere verschwitzten Gesichter. Drei 3
goldene Sterne blitzten in meinen funkelnden Augen. In 4
kursiv gedruckten Buchstaben erhob sich der Name von dem 5
weißen, plastischen Untergrund: Mercure Sarakawa. 6
Klimatisierte Luft schlug mir entgegen, als ich nun das 7
noble Hotel betrat, welches etwa fünf Minuten vom 8
Stadtzentrum entfernt inmitten eines 25 Hektar großen Garten 9
voller Kokosnuss-Palmen lag. Von ihrem Schreibtisch aus, auf 10
dem sich einige Unterlagen stapelten, lächelte mir eine 11
freundlich aussehende Afrikanerin zu, die sich aufrichte, 12
ihren knielangen Rock glatt streichend. „Gute Tagen! Was 13
kann ich für dich tun?“, erkundigte sie aufmerksam, „Suchst 14
du deine Eltern?“ 15
Hastig schüttelte ich den Kopf, doch bevor ich etwas 16
erwidern konnte, stolperte Kay ebenfalls durch die Drehtür 17
in weit geöffneten Eingangsbereich. „Meine Mum. Wir suchen 18
meine Mutter. Josefine Brown. Ist sie da?“ 19
Überrascht ließ die junge Frau den Blick zwischen uns hin 20
und her wandern, langsam nickend: „Selbstverständlich. Ich 21
werde sofort nachsehen, ob sie im Hause ist. Entschuldigt 22
mich einen Moment.“ Als sie sich mit einem höflichen Knicks 23
abgewandt hatte, begann Kay belustigt zu kichern. 24
„Hätte nicht gedacht, dass einmal jemand auf mich hören 25
würde. Komm, das nutzen wir aus.“ Verschwörerisch zwinkerte 26
sie mir zu. „Ich hab tierischen Durst.“ 27
Mich an der Hand hinter sich herziehend, schleifte sie 28
mich über den Gang in Richtung einer Bar namens Le Mono. 29
316
Nachdem wir einander gegenüber auf zwei Hockern Platz 1
genommen hatten, eilte ein Kellern herbei, um unsere 2
Bestellungen, zwei Colas, aufzunehmen. 3
„So habe ich mir Urlaub vorgestellt.“, flüsterte Kay, 4
wobei sie sich die Sonnenbrille, die einer der Gäste 5
vermutlich vergessen hatte, aufsetzte und den Kopf in den 6
Nacken legte. Ich wünschte, dem wäre so. Dass wir 7
tatsächlich im Urlaub wären und dort draußen vor diesen 8
Toren in der glühenden Hitze nicht zwölf weitere Menschen 9
und ein Hund in einem Laster auf uns warteten. 10
Unsere Getränke wurden serviert, beide herrlich gekühlt 11
mit Eiswürfel und einem bunten Strohhalm. Im Hintergrund 12
rauschte der Wasserhahn, den derselbe Keller scheinbar 13
vergessen hatte, zu zudrehen. Konzentriert verzierte der 14
Mann nun ein Cocktailglas, in das er eine milchige 15
Flüssigkeit füllte, und es dann auf einem Tablett auf die 16
geflieste Terrasse trug. Leise plätscherte das Wasser 17
regelmäßigen Abständen in die Schüssel, die bereits 18
überlief. Kostbares Wasser, lebensnotwendig für die meisten 19
Afrikaner, für die hier wohnend Touristen allerdings nur 20
überschüssiger Komfort, um den sie nicht einmal mehr baten. 21
Ich konnte kaum glauben, dass auch ich noch vor einigen 22
Monaten ebenfalls zu diesem gleichgütigen Haufen gehört 23
hatte. Daher sprang ich nun von meinem Hocker, um zumindest 24
einen Teil des Wassers zu retten. Als ich von meiner Mission 25
zurückkehrte, hielt mir Kay die Hand zur High Five hin. 26
„Vielleicht sollten wir den anderen auch etwas zu trinken 27
bringen.“, meinte das Mädchen nach einer Weile. „Oder ein 28
paar Schüsseln mit Wasser, damit sie sich waschen können. 29
Ich weiß nämlich nicht, ob es Mum Recht ist, wenn fremde 30
317
Leute den Pool benutzen.“ Es deutete auf den fünfzig Meter 1
langen Becken inmitten einer grünen Oase. „Du darfst 2
natürlich.“ 3
Plötzlich vernahm ich hinter mir einen piepsigen 4
Aufschrei. „Kay Linn! Oh mein Gott!“ 5
Josefine Brown stürmte auf ihre strahlende Tochter zu und 6
riss diese beinahe von ihrem Barhocker. „Gott, ich hatte 7
solche Angst um dich. Wo bist du gewesen? Und Tim…“ Sie 8
umarmte mich ebenfalls, tätschelte mir liebevoll den Kopf. 9
„Du bist ja auch hier. Keenan hat mir erzählt, du und 10
Mathieu seien abgehauen, als ich noch einige Dinge im Dorf 11
erledigen musste. Wirklich? Ist das wahr? Was habt ihr euch 12
nur dabei gedacht? Vor allem nach diesem Hyänenangriff. Du 13
kannst dir gar nicht vorstellen, wie unendlich erleichtert 14
ich bin, euch wieder in die Arme schließen zu können. Wo 15
habt ihr nur gesteckt?“ 16
„Dafür bin ich verantwortlich.“ 17
Entsetzt wandte ich mich um. Die Cola in unseren Gläsern 18
gefror. All die Wärme starb, ließ nur den eisigen Tod 19
zurück. Maurice Scott schritt gefolgt von der wütend 20
dreinschauenden Tess durch die Tür. 21
„Und Sie sind?“ Höflich streckte Josefine Brown dem 22
elegant gekleideten Herr die Hand aus, doch dieser erwiderte 23
die Geste mit einem unerwarteten Handkuss. 24
„Sir Maurice Anthony Scott. Britischer Großgutbesitzer und 25
Professor aus Kpalimé... Meine Tochter. Tess Ann-Caroline“ 26
„Oder einfach nur Tess.“, fuhr das Mädchen ungehalten 27
dazwischen, wobei sie neben mir auf einem Barhocker Platz 28
nahm. „Hi Tim.“ Ohne zu fragen, langte sie nach meiner Cola, 29
318
wofür sie von Kay einen abschätzenden Blick kassierte. „Hi 1
Kay.“ 2
„Fühlen Sie sich wie einer unsere Gäste, Sir Scott. Darf 3
ich Ihnen und Ihrer Tochter etwas zu trinken anbieten?“ 4
„Danke, nein.“ Mit einem flüchtigen Blick durch die leicht 5
getönten Fenster, fügte er hinzu: „Ich wollte mich nur 6
vergewissern, dass das Mädchen sicher nach Hause gelangt 7
ist.“ 8
„Ist es mir erlaubt, Sie zu fragen, was sie mit den 9
Kindern gemacht haben?“ 10
„Natürlich! Sie haben ein Recht darauf, alles zu erfahren. 11
Sehen Sie, Ihr Junge schlich mit einem seiner Freunde um 12
meine Villa, sodass ich habe annehmen müssen, er wolle mich 13
bestehlen, worin ich jedoch irrte. Einen ähnlichen Verdacht 14
erweckte Ihre Tochter, aber es bestätigte sich nach gewissen 15
Nachforschungen ebenfalls, dass diese nur versehentlich in 16
all das hineingeraten war. Leider war ich aufgrund meiner 17
Arbeit verhindert, die Kinder in ihre Familien 18
zurückzugeben. Aber seien Sie versichert, Mrs. Brown, wir 19
hatten unseren gemeinsamen… Spaß, nicht wahr Tim? Nicht wahr 20
Kay?“ 21
Verblüfft nickte ich. „Spaß hat es wirklich gemacht, 22
Josefine. Sir Scott hat ein tolles Haus mit einem 23
gigantischen Pool und einer riesigen Wiese.“ 24
„Einmal sind wir ausgeritten. Aber Tim ist vom Pferd 25
gefallen.“, ergänzte Tess leise, „Deshalb die ganzen Narben. 26
Und weil er mich ab und zu geärgert hat, wenn ich mit Kay 27
getanzt habe.“ 28
Kays Mutter lachte, wobei sie die Hände auf die Schultern 29
ihrer Tochter stützte. „Danke, Sir Scott.“, entgegnete sie, 30
319
eine ihrer blondierten Haarsträhnen hinter das Ohr 1
streichend. „Ich hatte solch eine Angst, den Kindern wäre 2
irgendetwas Schlimmes zugestoßen. Dort draußen sollen 3
allerlei böse gesinnte Menschen herumstreunen, die nur 4
darauf warten, Ausländer zu entführen und zu erpressen. Ich 5
weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann.“ 6
Am besten gar nicht! Tief durchatmend starrte ich in mein 7
halb ausgeleertes Glas, die Hände in den Stoff meiner Hose 8
gekrallt. Das durfte doch nicht wahr sein! Der Meister 9
verkauft sich tatsächlich als der Wohltäter, der Held, der 10
Hänsel und Gretel vor der Hexe gerettet hatte, sie aber 11
gleichzeitig in den Ofen stieß. 12
„Nicht der Rede wert. Sicherlich hätten Sie dasselbe für 13
meine Tochter getan.“ Maurice Scott streichelte mir 14
freundschaftlich über das Haar, dann nahm er meine Hand, um 15
mit Kugelschreiber eine Nummer auf die Innenfläche zu 16
kritzeln. „Nicht vergessen, Tim.“ Er ballte meine Finger zu 17
einer Faust. „Du kannst immer anrufen, wenn etwas sein 18
sollte. Wenn du einmal Rat brauchst, jemanden, der dir zu 19
hört… wie dein Vater. Ich weiß, ich werde ihn nie 20
zurückholen können, aber ich hoffe, ich kann ihn ein wenig 21
für dich ersetzen.“ Mit diesen Worten stolzierte er zu Kay 22
herüber und küsste sie vorsichtig auf die Wange. „Auf 23
Widersehen, meine Kleine. Du wirst mir fehlen, besonders 24
deine lebhafte Fantasie.“ 25
Angewidert verzog sie das Gesicht, bemüht ruhig zu 26
bleiben, obwohl sie innerlich zu beben schien. „Ich werde 27
Sie auch vermissen. Vor allem die leckeren Kekse.“, 28
behauptete sie mit gespielter Höflichkeit. 29
320
„Nun denn. Lebt wohl! Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages 1
einmal wieder. Ihr seid jeder Zeit willkommen! Sie im 2
Übrigen auch, Mrs. Brown und ihr Mann. Ich würde die Eltern 3
dieses netten, kleinen Mädchens zu gerne einmal näher kennen 4
lernen.“ 5
Josefine Brown zeigte dem Mann den Weg nach draußen. „Ich 6
werde Sie noch bis zur Türe begleiten. Eine angenehme 7
Heimreise! Und noch mal meinen Dank, dass Sie sich so gut um 8
die Kinder gekümmert haben.“ 9
„Tess! Kommst du, Schatz?“, rief Scott, ohne sich 10
umzudrehen, bereits hinter dem Türrahmen verschwunden. 11
„Ich möchte mich noch verabschieden, Daddy!“ 12
„Okay, ich werde im Wagen auf dich warten.“ 13
Anerkennend hob ich die Augenbraue. Du musst noch viel 14
über die Kunst des Schauspiels lernen, dachte ich seufzend, 15
Denn dies hier war ein Theaterstück der Meisterklasse. 16
Sowohl Tess, als auch Maurice Scott und Kay, hatten ihre 17
Rollen unabhängig voneinander eingeübt, sodass es Kays 18
Mutter sicherlich nicht schwer gefallen war, dass zu 19
glauben, was man ihr vorgetäuscht hatte. Immerhin hatte ihr 20
einer der reichsten Männer dieses Landes persönlich die Hand 21
geküsst, um sich zu entschuldigen, dass ihre Tochter 22
seinetwegen derart spät nach Hause kam! Nur du, Tim, 23
kanntest nicht einen einzigen Satz dieses Drehbuchs. Wie 24
immer. Was hast du anderes erwartet? 25
„Dein Dad weiß also nichts über deine Pläne nach Spanien 26
zu fahren?“ 27
Kays Frage riss mich aus meinen Gedanken. Verwirrt ließ 28
ich meinen Blick zwischen den beiden hin und her schweifen. 29
321
Der unterschwellig verächtliche Tonfall, den die Stimme des 1
schottischen Mädchens anschlug, war kaum zu überhören. 2
„Nein. Er würde mich niemals gehen lassen. Ebenso wenig 3
wie meine Mom. Deshalb haue ich ab. Nach Spanien. Von dort 4
aus fliege ich nach Amerika, wo mein Bruder lebt. Meinen 5
Pass habe ich. Geld auch. Und den Rest werde ich schon 6
regeln.“ 7
Den Rest werde ich schon regeln. Ins Geheim bewunderte ich 8
Tess selbstbewusste Art. Denn im Gegensatz zu mir hatte sie 9
so etwas wie einen Plan. Wenn ich nach Spanien käme, hätte 10
ich… nichts. Nichts, außer einem durchnässten Rucksack mit 11
ein paar Spielsachen drin. Kein Geld, keine Unterkunft, in 12
der ich leben könnte, keine Eltern, die mich wie nach einer 13
Klassenfahrt herzlich empfingen. Ich hätte absolut gar 14
nichts. 15
„Und wie bitte willst du das anstellen? Ich meine, willst 16
du dich einfach in Luft auflösen, ein paar Stunden warten 17
und dann auf das Schiff teleportieren.“ 18
„Zum Beispiel. Wäre doch eine Lösung, Kayli. Aber lass 19
das einmal meine Sorge sein. Auf gar keinen Fall werde ich 20
in diesem Land versauern.“ Mit dem Finger schnipste sie in 21
die Luft und rief dem herbeieilenden Kellern ihre 22
Bestellung, zwei Limonaden, zu. 23
Warum zwei? Wir sind doch zu dritt! Oder ist Tess derart 24
durstig, dass sie zwei Getränken unmittelbar hintereinander 25
in sich hinein kippen wollte? 26
Doch, als der Kellner nun die beiden herrlich 27
erfrischenden Limonadengläser, die mit seiner Orange und 28
jeweils einem Strohhalm verziert waren, auf den Tisch 29
stellen, bemerkte ich erstaunt, wie Tess mir ihr zweites zu 30
322
schob. „Lecker. Probier‟ mal.“, fügte sie grinsend hinzu, 1
wobei sie die Flüssigkeit an ihrem spiralförmigen, 2
durchsichtigen Strohhalm ansaugte. 3
„Und Kay?“, fragte ich, ohne meine Limonade anzurühren. 4
„Ist schon okay, Tim. Ich hatte sowieso keine Durst 5
mehr.“, erklärte das schottische Mädchen, sprang von ihrem 6
Barhocker, um die leeren Gläser zurück auf den Tresen zu 7
stellen und sich anschließend in die ausgebreiteten Arme 8
ihrer Mutter zu flüchten, die an der Tür erschien. Strahlend 9
küsste die Frau die Stirn ihrer Tochter, säuselte undeutlich 10
etwas. 11
Wie meine Mama wohl gewesen wäre. Ob sie sich auch 12
derartige Sorgen gemacht hätte. Für einen Moment schloss ich 13
die Augen, stellte mir vor, dass meine Mutter in der Tür 14
stände, mir lächelnd das Haar küsste. Dabei wäre es 15
unwichtig, was sie flüsterte. Allein ihre Wärme würde 16
ausreichen, um mich zu einem der glücklichsten Jungen zu 17
machen. Mama… 18
„Wo ist deine Mutter, Tess?“ 19
Das Mädchen zuckte die Achseln. „Irgendwo in den USA. Aber 20
wenn ich dort bin, werde ich meinen Bruder nach ihr fragen 21
und sie finden, da bin ich mir sicher.“ 22
„Meine Mama ist immer bei mir, egal wo ich bin.“, 23
erwiderte ich lautlos, mehr zu mir selbst, als zu Tess, die 24
den Blick von Kay abgewandt hatte und misstrauisch das 25
Gelände des Hotels betrachtete. Von ihren Liegen aus, 26
winkten ihr zwei ältere, hellhäutige Jungen zu, die das 27
Mädchen bemerkt haben musste. Der eine, ein Hagerer mit 28
blonden Locken und einer schwarzen, modischen Sonnenbrille 29
im Haar, zwinkerte. Tess ihrerseits tat das gleich, 30
323
gestikulierte mit den Finger ein Zeichen, woraufhin der 1
zweite belustigt den Daumen hob. 2
Seufzend wanderte mein Blick zurück zu Kay, die nun mit 3
ihrer Mutter auf uns zukam. 4
„Meine Mum fährt heute Abend nicht nach Hause, weil sie 5
sich um das Hotel kümmern muss. Wieso verstehe ich nicht. 6
Aber das war damals auch schon so, also von daher…“ Sie 7
zuckte die Achseln. „Einer der Tagungsräume ist frei. Darin 8
könnten wir für einen Nacht schlafen, vorausgesetzt, wir 9
bereiten Mum keinen Ärger. Und… Tess?“ 10
Widerwillig drehte sich die Genannte um. „Ja?“ 11
„Du auch, wenn dir das nicht zu… zu eklig ist. Mum meinte, 12
weil es unsere letzte gemeinsame Nacht ist, würde sie 13
versuchen, deinen Dad zu überzeugen. Morgen müsse sie 14
ohnehin in Kpalimé einige Besorgungen machen. Da könnte sie 15
dich auf dem Weg nach Hause bringen.“ 16
„Wirklich? Danke, Mrs. Brown, wenn Sie meine Anwesenheit 17
nicht stört.“ 18
Josefine Brown lachte. „Nein, Tess. Es ist das Mindeste, 19
was ich als Entschädigung für dich tun kann. Oder gäbe es 20
Problem mit der Schule? Mit Privatlehrern?“ 21
„Nein. Samstags habe ich keinen Unterricht.“ 22
„Okay, dann werde ich nochmals mit deinem Vater sprechen. 23
Kay, Schatz, könntest du bitte den Tagungsraum vorbereiten?“ 24
„Klar, Mum. Helft ihr mir?“ 25
Ich nickte. Der Gedanke, eine ganze Nacht über mit Kay 26
zusammen sein zu können, setzte in mir Glückgefühle frei, 27
die ich lange nicht mehr gespürt hatte. Im Grunde sogar sehr 28
lange nicht mehr. Auch wenn es nur ein paar Sekunden wären, 29
es wäre Sekunden, in denen ich vergessen konnte. In denen 30
324
ich vergessen konnte, was in dieser Villa geschehen, wie 1
Papa gestorben war, wie ich die Cola bezahlen muss, wann und 2
wo ich wieder zur Schule gehen werde. Ich bin frei, wenn sie 3
mich berührt, frei, wenn sie einfach nur in meiner Nähe ist, 4
dass ich ihren warmen Atem auf meiner Haut spüren, das 5
Flattern ihrer dunklen Wimpern hören kann. 6
Verheißungsvoll spreizte Tess die Lippen, ein wenig 7
enttäuscht, die beiden Jungen, die ihr nun eine Kusshand zu 8
warfen, verlassen zu müssen. Dennoch folgte sie Kay und mir, 9
drängelte sich zwischen uns, ihre Arme um unsere Schultern 10
gelegt. „Dann lasst uns mal aufräumen.“ 11
Kay breitete die Decke auf dem rot karierten Teppich aus. 12
„Fertig!“ 13
„Fertig!“, pflichtete ich ihr lachend bei, mit dem Rücken 14
einen Tisch gegen die Wand drückend, die in einem warmen 15
Gelb-orange gestrichen worden war. 16
Als hätten wir uns abgesprochen, schossen unsere Köpfe zu 17
dem anderen Mädchen herum, das damit kämpfte, einen Kasten 18
Wasser in den Raum zu schaffen, den Josefine Brown 19
großzügiger Weise spendiert hatte. Das Wiederauftauchen 20
ihrer Tochter musste sie derart glücklich stimmen, dass es 21
sogar ihren ansonsten oftmals geradezu krankhaften, 22
egoistischen Geiz verdrängte. So bemerkte sie zudem nicht 23
einmal mehr, dass die von ihr herbei getragenen 24
Nahrungsmittel zum größten Teil auf mysteriöse Weise 25
verschwanden. Auch mochte sie den zerbeulten Laster nicht 26
realisieren, der vor dem Hotel parkte. Vielleicht aber sah 27
Kays Mutter all dies, konnte sie jedoch keinen Reim darauf 28
machen. Wer wusste dies schon? Ich jedenfalls wusste es 29
nicht. 30
325
„Tess, bist du fertig?“, erkundigte sich Kay. 1
Das Mädchen zog eine Grimasse. Entkräftet schwang es sich 2
auf einen der Tisch und tupfte sich mit dem Ärmel seines T-3
Shirts den Schweiß von der Stirn. „Und wie fertig ich bin!“, 4
stöhnte es und ließ sich vollenden auf den Rücken fallen, 5
die Arme ausgebreitet. 6
Ich kicherte, Kay stimmte mit ein, wofür wir beide einen 7
beleidigten Blick kassierten, der Bänder sprach. 8
„Du bekommst gleich auch einen großen Lolli, Tess Ann-9
Caroline.“, stichelte ich sie an. 10
„Sag niemals diesen Namen!“, fauchte sie, sprang auf und 11
gestikulierte mir drohend mit dem Finger, wobei sie ein paar 12
Schritte auf uns zu machte. „Niemals, kapiert?“ 13
„Natürlich, Tess Ann-Caroline.“ 14
„Ich hasse dich!“ Wütend drehte sie sich weg. Als wir ihr 15
folgten, hob sie abwehrend die Hände. „Lasst mich in Ruhe!“, 16
rief sie zu einem Teil ernst, zum anderen belustigt. Dann 17
stürzte sie zur Türe hinaus, die hinter ihr zu fiel. 18
Ich wollte ihr nachlaufen, um mich zu entschuldigen, doch 19
Kay hielt mich an der Schulter zurück. „Lass sie. Sie wird 20
darüber hinweg kommen müssen. Glaubst du nicht, wir sollten 21
einmal nach Mathieu und den anderen sehen? Sonst haben sie 22
nachher den leckeren Pudding ganz alleine gegessen!“ 23
„Du sagst mir aber nicht erst jetzt, dass in dieser gelben 24
Schüssel Pudding war, oder?!“ Als sie mir die Frage mit 25
einem Nicken bestätigte, jagte ich augenblicklich davon. 26
„Pudding! Ich will Pudding!“ 27
Ein älteres, gut gekleidetes Ehepaar, welches mir in den 28
Weg trat, schüttelte irritiert den Kopf, flüsterte etwas in 29
einer fremden Sprache. 30
326
Heiße Luft schlug mir entgegen. Obwohl die silbernen 1
Zeigen der riesigen Uhr im Eingangsbereich erst sieben 2
anzeigten, trug der Himmel bereits sein rötliches 3
Abendkleid. Wie Schleifer warf die untergehende Sonne ihre 4
Schatten auf den kleinen Laster, aus dem nicht das kleinstem 5
Geräusch nach draußen auf den Parkplatz drang. Scheinbar 6
mochte Amani die anderen angewiesen haben, sich ruhig zu 7
verhalten, aus Angst, ein Hotelgast könnte auf sie 8
aufmerksam werden und sich im schlimmsten Fall über sie 9
beklagen. Vorsichtig ließ ich meinen Blick umherschweifen 10
und, als ich mir sicher war, dass mich niemand beobachtete, 11
öffnete ich die Plane und starrte in die elf mir 12
wohlbekannten Gesichter. 13
„Tim, Kay! Kommt rein!“ Dominique, die in diesem 14
Augenblick das Essen gerecht zu verteilen versuchte, winkte 15
mir verschwörerisch zu. 16
„Ist noch Pudding da?“ 17
„Ja, ein Rest. Warum?“ 18
„Weil Tim Angst hat, sein Pudding hätte Beine bekommen und 19
würde ihm weglaufen.“, antwortete Kay, wobei sie sich 20
atemlos auf einer Holzkiste neben Suleika nieder. 21
„Wenn das so ist.“ Kichernd hielt Dominique mir die 22
Schüssel hin. Ohne Besteck. 23
Dies war der Anfang eines amüsanten Abends, wie jeder von 24
uns ihn seit langem nicht mehr erlebt hatte. Von unseren 25
Decken am Boden aus, erzählten wir einander Witze und 26
Geschichten, aßen dabei mit den Finger, die wir anschließend 27
gierig ableckten. Obwohl es kaum ausreichte, um gesättigt zu 28
werden, fühlte ich mich, wie sich Jesus von Nazareth 29
vielleicht bei seinem letzten Abendmahl gefühlt haben 30
327
musste: Irgendwie verraten von der Welt, aber beschützt von 1
dem kleinen Kreis Freunde um mich herum. 2
„Hast du Lust, spazieren zu gehen?“ Kay beugte sich etwas 3
vor, um mir dies ins Ohr zu flüstern. Kurz überlegte ich. Im 4
Grunde wollte ich Farajis Geschichte weiterhin lauschen, 5
aber dann entschied ich mich, den Wunsch meiner besten 6
Freundin zu erfüllen. Unseren letzten gemeinsamen Abend. Der 7
Gedanken daran schnürte meinen Hals zu, sodass ich kaum Luft 8
bekam. Hastig verbahnte ich ihn in den hintersten Winkel 9
meines Gedächtnisses. Nicht jetzt. Noch war dieser Abend 10
nicht vorbei. 11
In gebührendem Abstand folgte ich ihr über den Parkplatz 12
ins Hotel hinein, dann durch das Le Mercure, ein 13
klimatisiertes Restaurant mit einem atemberaubenden Blick 14
auf die tropischen Pflanzen im Garten des Hauses. 15
Größtenteils europäische Urlauber speisten an luxuriösen, 16
holzfarbenen Tischen im sanften Licht der Abenddämmerung. 17
Leise klang Musik aus der Bar Sio unmittelbar daneben, in 18
der ein afrikanischer Künstler auf seiner Gitarre spielte. 19
Auch Tess entdeckte ich unter den Anwesenden. Angeregt 20
unterhielt sie sich mit den beiden Jungen, die sie bereits 21
von dem Nachmittag her kannte. Dabei genoss sie es 22
sichtlich, derart umschwärmt zu werden. 23
Ich gönnte es ihr. Wie lange hatte sie unter ihrem Vater 24
gelitten? Immer alleine, mit Ausnahme von Kalli, der sich 25
nun gähnend unter dem Tisch räkelte. 26
Kays beschleunigte ihre Geschwindigkeit, sodass es mir 27
schwer fiel, ihr zu folgen. Die Umgebung blendete ich völlig 28
aus - bis das Mädchen plötzlich anhielt. Neben ihr verlief 29
der 50 Meter lange, in ein bläuliches Licht getauchte Pool, 30
328
der von einem gefliesten Weg umrundet wurde. Die Liegen 1
musste jemand nach Ende der Badezeit feinsäuberlich alle in 2
eine Richtung gedreht haben, denn nicht ein einziger dieser 3
blauen Stühle war abgewandt. 4
„Tim…“ Kay drehte sich auf der Zehnspitze ihrer Sandalen 5
um ihre eigene Achse, wobei sie beinahe das Gleichgewicht 6
verlor, hätte ich sie nicht in letzter Minute festgehalten. 7
Dicht drückte ich sie an meine Brust. Ich erwartete, dass 8
sie mich von sich stieß, aber stattdessen verlagerte sie ihr 9
Gewicht zur Seite des Pools. Schwankend wurde ich im Kampf 10
um meinen Balance besiegt, denn, als ich das nächste Mal 11
etwas realisierte, tauchte mein Kopf durch die glatte 12
Wasseroberfläche. Für Sekunden verschwanden die Klänge der 13
Musik, das Rauschen der Bäume, es wurde totenstill. Ich 14
konnte nicht mehr sehen. Nur ein verschwommenes Blau. 15
Explodierend Luftblasen strichen über meine Wangen. Wo ist 16
Kay? Mein Blick schweifte hektisch über das Becken, während 17
ich zurück zum Beckenrand kraulte. Sie kann nicht schwimmen, 18
schoss es mir durch den Kopf. „Kay? Kay!“, brüllte ich. 19
Keine Antwort, kein Lebenszeichen. Im Begriff 20
zurückzutauchen, drückte mich jemand unter Wasser. „Glaub ja 21
nicht, ich hätte nichts gelernt, wenn ihr am Fluss wart.“ 22
Das Mädchen klammerte sich mit einer Spur von Respekt an den 23
Beckenrand, schien aber ansonsten munter. 24
„Wenn das so ist.“ Ich zuckte die Schultern, umklammerte, 25
ohne dass sie hätte reagieren können, ihre Taille und warf 26
sie ein Stück weiter ins Wasser, immer darauf bedacht, sie 27
jederzeit hinaus zu ziehen, für den Fall, dass sie in Panik 28
geriet. 29
329
Wie ein Küken in einer Schüssel Wasser ruderte sie wild 1
mit den Armen. In Gedanken zählte ich bis drei, dann kraulte 2
ich zu ihr herüber und zog sie an meiner Hand an den 3
Beckenrand zurück. „Alles okay?“, fragte ich besorgt, als 4
sie zu husten begann. Bitte, lass mich keinen Fehler gemacht 5
haben. Nicht bei diesem Mädchen, das niedlicher ist, als 6
Strupi, mein Meerschweinchen, damals als es gerade einmal 7
ein paar Wochen alt war und noch ganz weiches Fell hatte… 8
Tim, sie ist dein bester Kumpel! Sie muss so etwas 9
wegstecken können. 10
„Du bist gemein.“, erwiderte sie in einem bemühten, 11
ernsten Tonfall, der ihr misslang. 12
Ich schüttelte mein nasses Haar. „Ich weiß. Aber du wehrst 13
dich auch nicht.“ 14
Sie wiegte den Kopf. „Ich…“ Furchtvoll blickte sie auf die 15
glatte Wasseroberfläche, stellte sich vor, wie es wäre, 16
darin zu ertrinken, erdrückt von den Tonnen von Wasser über 17
ihr. 18
„Keine Angst. Ich bin ja bei dir. Es tut mir Leid. Ich 19
hätte es nicht tun dürfen.“ 20
„Warum?“ 21
„Warum?“ 22
„Weißt du, ich hatte überhaupt keine Angst… Jedenfalls 23
nicht mehr so viel. Weil ich wusste, du würdest mich nicht 24
im Stich lassen. Ich konnte sogar schwimmen.“, erklärte das 25
Mädchen stolz und ließ ihre Hand einige Mal auf das Wasser 26
klatschen, als wolle sie es schlagen. Ich tat es ihr gleich. 27
Immer größer werdende Kreise zogen, wölbten sich, 28
verschwanden. 29
330
„Warum kannst du nicht hier bleiben?“, fragte Kay nach 1
einer Weile. 2
Ich sah sie nicht an, starrte nur in das tiefe Wasser. 3
Warum kannst du nicht hier bleiben? Ja, warum? Warum konnte 4
ich es nicht? Ich wäre bei Kay, so wie ich es mir damals in 5
den Fängen des Meisters oft gewünscht hatte. Aber 6
irgendetwas in mir drängte mich dazu, diese Menschen nach 7
Spanien zu führen. Ohne mich würde sie… 8
„Sie können nicht ohne dich in See stechen, nicht wahr?“ 9
Erstaunt schüttelte ich den Kopf. Woher weiß sie, woran 10
ich denke? 11
Das Mädchen zog sich lächelnd am Beckenrand entlang zu 12
einer Leiter, um den Pool endlich zu verlassen. Nass hing 13
seinem Wickelrock und Top von seinem Körper herab. Nur die 14
linke Sandale, die fehlte. Kurzerhand tauchte ich unter und 15
nach dem dritten Versuch entdeckte ich ihre verschwommen 16
Umrisse. 17
„Du bist viel zu lieb, Tim. Ständig sorgst du dich um alle 18
anderen um dich herum. Bloß um dich selbst, sorgst du dich 19
nie.“, flüsterte sie auf einer Liege hockend, um ihre 20
Kleidung auszuwringen. Nachdem ich ebenfalls die Leiter 21
hinaufgeklettert war, setzte ich mich neben sie. „Ist das 22
schlecht?“ 23
Schweigen. „Nein.“, meinte Kay nach einer Weile, „Nein. 24
Das ist es, was ich so sehr an dir mag.“ Zögerlich näherten 25
sich ihre Lippen meinen, doch kurz vor der Berührung wandte 26
sie sich errötet ab. Verdammt, was ist die Liebe für eine 27
blöde Erfindung! Wer diese Art von Gefühl in einen Menschen 28
eingebaut haben musste, weil er es für eine großartige Idee 29
hielt, musste seinen Spaß an diesem Spiel haben. Ich hatte 30
331
in der Schule hoch und heilig geschworen, dass mich diese 1
komische Liebe niemals fangen könnte, nachdem ich wochenlang 2
einer meiner damaligen Freunde dahin schmelzen gesehen 3
hatte, wenn eines der Mädchen ihm einen Zettel mit einem 4
Filzstift „HDL“ zuwarf. Weil ich für sie viel zu schnell 5
wäre. Schließlich war ich einer der schnellsten Läufer 6
meines Alters. Warum also hätte ich mir Sorgen machen 7
sollen, wenn ich einfach davon rennen kann? Doch nun hatte 8
sie mich doch bekommen, schätzte ich, denn seltsamerweise 9
mochte ich Kay anders als Tess oder Reni. Anders, vielleicht 10
war dies der richtige Ausdruck dafür. Denn anders ist nicht 11
falsch. Anders ist… anders. Verschieden halt. Oh Mann! Warum 12
kann man nicht wenigstens davor verschont bleiben. Kay ist 13
doch dein allerbester Kumpel, ausgeschlossen, dass… Nein, 14
Tim. Hör endlich auf damit! Du bist zu langsam gewesen, 15
nicht schnell genug. Und nun verlässt du dieser Mädchen. Für 16
immer vielleicht. Nein, für immer klingt so lange, so 17
unendlich. Sagen wir für ein paar Jahre. Ein paar Mal 18
Silvester feiern. Ja, das klingt so, als wäre ich nur kurz 19
weg. Als käme ich wieder. Und dann wäre ich wie Papa. Älter, 20
nicht mehr zehn, sondern ein starker Mann. Mit einem Auto, 21
einem Porsche Cabrio in Stahlblau. 22
„Wollen wir heiraten?“, fragte ich Kay unvermittelt, 23
obgleich ich mich im selben Augenblick Ohrfeigen können 24
hätte. Tim, du bist ein Junge. Jungen fragen nicht, ob sie 25
ein Mädchen heiraten will - vor allem nicht, wenn es der 26
beste Kumpel ist! Verfluchter Mist! 27
„Ja.“, entgegnete sie grinsend. Mädchen antworten nicht 28
auf solche Fragen von Jungen - vor allem nicht, wenn es die 29
ihres beste Kumpel ist! Zweifach verflucht Mist! 30
332
„Okay.“ 1
„Okay... Und jetzt?“ 2
„Weiß nicht.“, gestand ich achselzuckend. „Ich habe so 3
etwas noch nie gemacht.“ 4
„Ich auch nicht.“ 5
„Hm… Dann sind wir jetzt einfach verheiratet.“ 6
„Okay.“ 7
Kay legte den Kopf schief, aber ich boxte sie lediglich 8
liebevoll in die Seite, woraufhin sie, ohne zu zögern, mit 9
ihrer kleinen Fäusten konterte. Außer Atem und prustend 10
landeten wir gemeinsam auf der Liege, als plötzlich ein 11
zornig dreinschauender Bademeister vor uns stand, der uns 12
befahl, wegen der Nachtruhe augenblicklich in den 13
Tagungsraum zurückzugehen. 14
Da keiner von uns beiden müde war, beschlossen wir 15
einstimmig, nochmals unsere afrikanische Familie zu 16
besuchen, doch mit Ausnahme des alten Mannes, der gegen die 17
Wand gelehnt vor sich hinstarrte, schlief diese bereits. 18
Lautlos glitt ein Gebet von seinen wulstigen Lippen. Völlig 19
vertieft in seinem Gespräch mit Mawu, der Göttin der Ewe, 20
realisierte er nicht einmal mehr, dass wir die Plane 21
zurückgezogen hatten und uns nun erschöpft zu unserem 22
Schlafnest begaben. Das Letzte, was ich spürte, bevor ich 23
einschlief, war Kays Hand, die die meine kurz drückte. 24
333
15. Kapitel 1
Eine Ratte schwamm aufgedunsen zwischen den vom Salz 2
zerfressenen und längst an Glanz verlorenen Rümpfen der 3
Schiffe in dem öligen, schwarzen Wasser - obwohl man dieses 4
Gemisch dort unter dem Steg nicht einmal mehr Wasser hätte 5
nennen dürfen. 6
Der moderne Tiefseehafen von Lomé ist von großer 7
Bedeutung. Denn das Transitland Togo gilt als eine 8
internationale Drehscheibe für den Drogenschmuggel. 9
Nun erinnerte ich mich an den Artikel in der Zeitung, den 10
ich einmal aus Langweile verständnislos überflogen hatte. 11
Weil Papa stolz darauf war, dass ich mich für die Welt der 12
Erwachsenen interessierte, hatte versucht, mir all dies zu 13
erklären, doch erst jetzt, als ich Teil dieses Artikels 14
wurde, verstand ich seine Worte. 15
„Das Schiff liegt dort drüben vor Anker.“, erklärte Sir 16
Scott, wobei er mir leicht die Kiste, die er trug, in den 17
Rücken stieß, damit ich weiterging. 18
Gemeinsam mit den anderen sechs Kamikazemitgliedern hatte 19
der Meister in den frühen Morgenstunden vor dem Hotel 20
Sarakawa auf mich gewartet, um uns persönlich zu dem Schiff 21
zu führen. Wie Kay vermutete, tat er dies wahrscheinlich 22
nicht aus Freundlichkeit, sondern vielmehr aus dem Interesse 23
daran, zu wissen, dass wir dieses Land wirklich endgültig 24
verließen. Unbehagen keimte ihn mir auf. Ein unbestimmtes 25
Gefühl begleitete mich über den Steg zu einem kleinen, 26
motorisierten Boot hinüber, welches zwischen zwei weiteren 27
Schiffen seiner Größe angekettet war. Man hatte es auf den 28
334
Namen Kamikaze 08 getauft, dessen verblasste Buchstaben sich 1
sowohl an der Seite als auch am metallischen Heck erhoben. 2
„Unser Schiff.“, flüsterte Reni gebannt ihrer Mutter ins 3
Ohr. Fasziniert ließ sie die Lebensmittel fallen und stürmte 4
über eine winzige Brücke auf das hölzerne Decke. Die anderen 5
Togolesen lachten verschmitzt, wobei sie einer nach dem 6
anderen ebenfalls ihre neue Hoffnung betraten. Nur ich 7
rührte mich nicht, blieb bewegungslos am Kai stehen, ohne 8
meinen Blick von dem Boot abzuwenden. Unser Schiff. Aber 9
würden wir damit die zu Spanien gehörenden, 3000 Kilometer 10
entfernten Kanarischen Inseln erreichen können? Diese Frage 11
beschäftigte mich seit einigen Stunden und je länger ich 12
darüber nachdachte, desto mehr begann ich, an meiner 13
Entscheidung zu zweifeln. Vor allem nachdem Kay mir von 14
ihrem Albtraum erzählte hatte, in dem ein Schiff in den 15
Fluten des Meeres versank, seine Besatzung mit sich in die 16
Tiefe riss und nie wieder auftauchte. Für immer verschluckt 17
von den tausenden, Milliarden Tonnen von Wasser. 18
„Tim! Worauf wartest du denn noch? Komm endlich!“, brüllte 19
Kassian über die Reling, hinter der auch Mathieu Kopf 20
schüttelnd auftauchte. 21
Geh schon, Tim. Es ist dein Schiff, es gehört dir, dir 22
alleine. Aber erneut ließ dieses unbestimmte Gefühl jede 23
meiner Bewegungen zu Stein erstarren. Du kannst es nicht. Du 24
kannst es einfach nicht. Mein Blick wanderte über die 25
strahlenden Gesichter der Kamikazemitglieder, die die Daumen 26
hoben, zu Maurice Scott, der mir beiden Hände auf die 27
Schultern legte, damit ich gezwungen war, ihm in die Augen 28
zu sehen. „Versprich mir, dass du diese Menschen sicher nach 29
Spanien bringst. Du bist immer ein starker Junge gewesen, 30
335
Tim. Genau wie dein Vater. Selbst wenn du mir diese 1
vermutlich nie glauben wirst, aber ich werde dich vermissen. 2
In den letzten Monaten habe ich durch dich so viel Neues 3
gelernt. Danke.“ Sich eine Träne aus dem Augenwinkel 4
reibend, fiel er mir um den Hals, als sei ich sein Sohn, der 5
für längere Zeit verreiste. 6
„Danke, Sir.“, entgegnete ich, dem Meister ausweichend. 7
Ich fühlte mich von ihm bedrängt, vor allem wenn man 8
bedachte, dass dieses Mensch uns derart lange in seinen 9
Klauen quälte und mich im Grunde längst hätte töten wollen, 10
wäre nicht dieser… unglückliche Unfall passiert. Hatte 11
dieses Erlebnis tatsächlich seine Sicht auf ein Leben in 12
Freiheit verändert? Seltsamerweise bezweifelte ich dies, 13
obgleich ich nicht wusste, weshalb. Im Augenblick schien mir 14
all dies auch völlig gleich. Es gäbe kein Zurück. Nie mehr. 15
Ich versank in ihren blauen, geheimnisvoll Augen. Immer 16
tiefer sank ich herab zum Grund, umschwärmt von tausenden 17
leuchtenden Seesternen. 18
„Kay…“ Unbeholfen kitzelte ich sie unter dem Kinn, damit 19
sie lachte. Aber dieses Mal blieb ihr trauriger Blick starr 20
an mir hängen. Kalt, bemüht, wenig Gefühl in ihre Stimme zu 21
legen, erwiderte sie leise: „Tim, du musste nichts sagen…“ 22
Weiter kam sie nicht. Die Tränen, die über ihre rosigen 23
Wangen liefen, unterdrückten jedes ihrer Worte. „Ich werde 24
dich vermissen.“, formte ihre glänzend roten Lippen immer 25
wieder. „Ich werde dich vermissen.“ Ihr zarter Körper 26
zitterte. Ihre Knie drohten, nachzugeben, doch, bevor sie 27
auf den verschmutzen Boden sinken konnte, presste ich sie 28
fest an meine Brust. Ich würde meine beste Freundin nicht 29
loslassen. Selbst dann nicht, wenn uns zwei Raketen 30
336
auseinander reißen wollten. Einmal hatten sie es geschafft, 1
damals in jenem Dorf in Kpalimé, aber nochmals würde sie es 2
nicht schaffen. Denn ich würde mich verbissen dagegen 3
wehren… Ich würde… 4
„Wir sind mit dem Einladen fertig.“ 5
„Das Schiff legt gleich ab, mein Junge. Du solltest dich 6
beeilen.“ 7
„Tim! Kommst du?“ 8
Wild wirbelten die Stimmen in meinen Kopf durcheinander. 9
Eindrücke - Gerüche, Geräusche, Berührungen -, alles 10
prasselte auf mich nieder, sodass ich mein kleines 11
Schwesterchen plötzlich nicht mehr spürte. Entsetzt schlug 12
ich die Augen auf. „Kay? Ich möchte dir noch etwas sagen.“ 13
Ich möchte dir sagen, dass ich dich mehr liebe als nur einen 14
besten Kumpel. Aber diese Worte erklangen lediglich wie 15
dumpfe Silben in meinen Gedanken. Es war zu spät. Amani 16
zerrte mich von dem Mädchen weg zur Brücke, obwohl ich mich 17
dagegen zu wehren versuchte. Nein, sie ist meine Freundin! 18
„Du musst sie loslassen, Tim.“, raunte er mir zu, aber ein 19
letztes Mal schüttelte ich ihn ab, stürzte zum Kai zurück. 20
Ich bleibe hier, ich werde nicht fortgehen. Nicht… 21
Die immer noch weinende Kay Linn starrte in das schwarze 22
Wasser. Als ich ihre Schulter streifte, drehte sie 23
überrascht den Kopf. In diesem Moment berührten sich unsere 24
Lippen. Leicht lagen sie aufeinander, leicht und warm. Der 25
süßliche Geschmack ihres Himbeerbonbons füllte meinen 26
Mundraum, kitzelte in meinem ganzen Körper. In meinen Ohren 27
konnte ich das gemeinsame Schlagen unserer Herzen hören. 28
Poch, poch. Ganz leise und harmonisch, als wären wir eins. 29
Zwei Seelen, die einander glich wie zwei Schokoladentafeln 30
337
derselben Marke, derselben Sorte. Erst langsam tauchte ich 1
aus diesem Traum auf und die Erkenntnis traf mich wie einen 2
Blitz. Ich hatte Kay geküsst! Meinen besten Kumpel! Gott, 3
wie konntest du nur? Küssen ist doch etwas für Ältere, für 4
Mamas und Papas! Als ich mich entschuldigen wollte, legte 5
Kay sacht ihren Zeigefinger auf meine noch feuchte 6
Unterlippe. Sie lächelte kopfschüttelnd. „Du musst nichts 7
sagen.“, wiederholte sie, „Ich bin dir nicht böse… deswegen, 8
denn…“ 9
Stöhnend packte Amani meinen Arm und riss mich endgültig 10
von meiner besten Freundin fort. Dieses Mal war meine 11
Gegenwahr sinnlos, ich zu schwach. An Bord des Schiffes 12
angelangt, legte dieses bereits vom Kai ab. Entsetzt rannte 13
ich zur Reling. Es waren nur wenige Meter. Wenn ich nun 14
sprang, könnte ich es schaffen. Auch wenn du dir dabei 15
vermutlich sämtliche Knochen brichst, ergänzte ich in 16
Gedanken. 17
Das schottische Mädchen inmitten der winkenden Erwachsenen 18
zwinkerte mir zu, wobei sie den Kuscheltierlöwen hochhielt, 19
den ich ihm geschenkt hatte, damit dieser mich ebenfalls 20
verabschieden konnte. Der zweite Teil meines Lebens, den ich 21
in diesem Land zurücklassen musste. Dass du mir gut auf sie 22
aufpasst, wies ich ihn tonlos an. 23
„Komm zurück!“, schrie meine beste Freundin, die über den 24
Kai hinter dem Schiff her rannte. „Komm zurück irgendwann!“ 25
Ich nickte. Ja, ich werde zurückkommen. Bestimmt. Großes-26
Togo-Ehrenwort. Versprochen. Irgendwann würden wir beide 27
einander wieder sehen. Vielleicht nicht jetzt, vielleicht 28
erst in ein paar Jahren, aber irgendwann, irgendwann ja. 29
Seufzend starrte ich, die Reling umklammert, zurück, bis ich 30
339
16. Kapitel 1
Auf dem Rücken liegend lauschte ich dem Rauschen des 2
Motors. Über mir spannte sich wie ein Tuch der Nachthimmel, 3
unter mir das schwarze Wasser, welches das Schiff von dem 4
Land dort drüben in weiter Ferne trennte. Beinahe bildete 5
ich mir ein die Lichter der Stadt San Pedro, Elfenbeinküste, 6
sehen zu können, obwohl dies unmöglich schien. 7
Seufzend beugte ich mich über den Plastikeimer, in dem 8
sich ein großer Teil meines Mageninhaltes angesammelt hatte. 9
Die drei Tage auf hoher See mochte nicht nur meine 10
Orientierung beeinträchtigen, sondern auch alle übrigen 11
Funktionen meines Körpers. Röchelnd spie ich in den Eimer, 12
wobei ich mich an der Reling hochzog, um ihn über dem Meer 13
zu entleeren. Doch mein Gleichgewichtssinn war ebenfalls 14
angegriffen, sodass ich zurücktaumelte, alles doppelt 15
sehend. Schwindel erfasste mich und hätte Dominique mich 16
nicht besorgt aufgefangen, wäre ich vermutlich gestürzt. 17
Behutsam legte mich die junge Afrikanerin auf die Decke 18
zurück, tätschelte mir den Kopf. „Alles wird wieder gut. 19
Ruhe dich erst einmal aus.“ 20
Dann half sie der schwach fluchenden Tess neben mir auf. 21
Ich hasse es, seekrank zu sein, hörte ich das Mädchen 22
stöhnend, bevor auch es sich erbrach. Ob es den übrigen 23
Passagieren ebenso erging wie uns beiden, wusste ich nicht. 24
Auch wusste ich nicht, wer das neun Knoten, umgerechnet 16,2 25
km/h schnellem Schiff steuerte, denn soweit ich mich 26
erinnern konnte, war niemand an Bord, der Erfahrungen als 27
Kapitän gesammelt hatte. Zu Beginn unserer Reise hatte 28
Faraji das Boot lenken wollen, aber als dieses sich nun 29
340
langsam fortbewegte, hatte Amani angeordnet, einen neuen zu 1
suchen. Seither mochten wir etwa 780 Kilometer zurückgelegt 2
haben, obwohl es mir aufgrund der Übelkeit weitaus mehr 3
vorkam. 4
Am vierten Tage hatte sich mein Körper an die ungewohnten 5
und neuen Gegebenheiten angepasst, sodass zum ersten Mal 6
wieder den Drang verspürte, etwas zu essen. Trotz der 7
unruhigen Nacht gelang es mir, mich langsam zu den 8
Nahrungsmitteln zu bewegen - oder dort, wo ich sie 9
vermutete hätte. Die Erkenntnis traf mich wie einen Schlag 10
in den Magen. Doch es war nicht die Tatsache, dass ich 11
seekrank war, die mich dazu veranlasste, mich über die 12
Reling zu beugen, um zu erbrechen, sondern vielmehr der 13
Schock. Obwohl wir erst vor vier Tagen in See gestochen 14
waren und noch mindestens drei oder vier weitere hier 15
draußen auf dem Atlantik ausharren musste, bis wir 16
spanisches Festland erreichten, mochten unsere Vorräte zu 17
Neige gehen. Hektisch schüttelte ich einen Wasserkanister 18
nach dem anderen. Spärlich lief einigen Tropfen in meinen 19
Mund. Sicherlich ein Irrtum. Amani hatte die übrigen 20
Kanister bestimmt zu einer anderen Stelle schaffen lassen, 21
als ich schlief. Dennoch, gleich wie sehr ich mir dies 22
einzureden versuchte, ahnte ich, dass Scott für uns noch ein 23
letztes Ass im Ärmel gehabt hatte, einen letzten durchaus 24
geglückten Spielzug. Wie konnte ich nur so dumm sein und 25
diesem Menschen trauen!? Es hätte mir auffallen müssen. Es 26
hätte… 27
„Tim? Weiß du, wo das Wasser ist?“ Reni lehnte mit einer 28
grob zusammengeflickten Puppe im Arm gegen die 29
Kapitänskajüte. Ihr rotbräunlich schimmerndes, langes Haar 30
341
fiel geflechtet über ihre schmalen Schultern. Sie wirkte so 1
zierlich, wie sie da stand, oberkörperfrei nur in ihrem 2
bunten Wickelrock. Und sie braucht das Wasser. Dringend. 3
„Nein, aber ich werde Amani danach fragen. Warte, ich bin 4
gleich wieder da.“, log ich, wobei ich mich an der Kleinen 5
vorbei drückte, um unseren Führer zu suchen. Denn Amani war 6
derjenige, der für mich noch eine Art Überblick hatte, den 7
wir übrigen längst verloren haben mussten. Kurz lugte ich 8
durch die verschmierte Scheibe der Kajüte, in der ich den 9
Afrikaner vermutete. Tatsächlich unterhielt er sich im 10
Inneren mit seinem am Steuer stehenden Schwiegervater. 11
Kassian hockte in einer Ecke und spielte mit dem Gameboy, 12
den ich ihm ausgeliehen hatte. Er schien von der Diskussion, 13
die seine Familie führte, vollkommen unberührt. Für einen 14
Moment zögerte ich, ob ich mich einmischen sollte, entschied 15
mich aber mit dem flüchtigen Blick auf einen der Kanister, 16
Amani schnellstmöglich davon zu berichten. Je früher, desto 17
besser. Vielleicht würden wir den Kurs noch ändern können 18
und spätestens am nächsten Morgen irgendwo in Liberia an 19
Land gehen. Was dort mit uns als illegale Einwanderer 20
geschehen würde, wäre egal. Denn bei dem Gedanken, zu 21
verdursten… 22
„Amani, Richard? Wir…“ Als mich die beiden erstaunt 23
ansahen, biss ich mir auf die Zunge. Wie um alles in der 24
Welt sollte ich ihnen sagen, dass…? „Wir haben ein Problem. 25
Ein ziemlich großes Problem.“ Komm endlich zur Sache, Tim. 26
Doch bevor ich fortfahren konnte, vernahm ich an Deck einen 27
plötzlichen, entsetzten Aufschrei. Im Winkel meines 28
Blickfeldes bemerkte ich Renis Mutter, die neben den 29
Wasserkanistern zu Boden ging. Dort, wo ihre Tochter 30
342
gestanden hatte. Ohne mir weitere Beachtung zu schenken, 1
stieß Amani mich zu Seite, drängelte sich durch die Menge 2
der anderen Passagier zu der Frau, die den Kopf des kleinen 3
Mädchens in ihren Schoss legte. Beschwörend flüsterte sie 4
etwas, strich ihm immer wieder das Haar aus der Stirn. Mach 5
die Augen auf, Reni. Los, mach endlich die Augen auf, 6
bettete ich, als ich mich ebenfalls neben ihr niederkniete. 7
Aber aus ihrem Mund rann lediglich eine durchsichtige 8
Flüssigkeit. Vor Minuten hatte sie noch mit mir gesprochen. 9
Was war bloß geschehen? Ihre dunkle Haut fühlte sich seltsam 10
an, heiß und… und ausgetrocknet! Verwunderte ließ ich meinen 11
Blick umherschweifen, der plötzlich an einem Eimer hängen 12
blieb, der umgekippt in einer Lache lag. Dessen Inhalt 13
musste sich vor nicht allzu langer Zeit auf dem hölzernen 14
Untergrund verteilt haben. Wasser? Die Kanister mochte alle 15
leer gewesen sein. Trotz der misstrauischen Augenpaare im 16
Rücken kroch ich zu der Lache herüber, tauchte meinen Finger 17
in die Flüssigkeit. Es war Wasser… Sehr, sehr salziges 18
Wasser! Und Reni, Reni hatte es getrunken. Im Zweifelsfalle 19
drei Viertel des Eimers. Entsetzt fuhr ich zu dem kleinen, 20
immer schwächer atmenden Mädchen herum. Sie würde 21
austrocknen, bekäme sie nicht bald etwas zu trinken. 22
„Holt Wasser!“, schrie ich aufgeregt, doch als sich 23
Suleika in Bewegung setzte, realisierte ich die Ironie, die 24
das Leben meiner Freundin bestimmte. Sie hatte Wasser 25
getrunken, damit der sie quälende Durst aufhörte und nun 26
drohte sie, an diesem zu ersticken. Und ich konnte nichts 27
dagegen tun. Ich fühlte mich vollkommen hilflos, alleine 28
gegen Gottes ungerechte Welt. 29
343
„Wir haben kein Wasser mehr.“, meldete Suleika tonlos und 1
sprach somit das aus, wozu ich nicht fähig gewesen sein 2
mochte, bevor es zu spät war. Nein, es ist noch nicht zu 3
spät! Noch nicht! Irgendetwas mussten wir doch für Reni tun 4
können. Irgendwas! Ich war kein Arzt, ich hatte verdammt 5
noch mal keine Ahnung, aber ich wusste, ich würde das 6
kleinen Mädchen nicht im Stich lassen. Ohne Punkt und Komma 7
erklärte ich der Menge in knappen Worten, weshalb die 8
Jüngsten unter ihnen mit dem Tod rangen, als plötzlich Panik 9
ausbrach. Fassungsloses Gejammer. Wütende Beschimpfungen, 10
weil jeder jeden verdächtigte, die Vorräte für sich 11
beansprucht zu haben. Nur Reni lag da, völlig regungslos im 12
Schoss ihrer Mutter, konnte nicht mehr fluchen, nicht mehr 13
weinen, bloß schlafen. Verzweifelt klopfte ich auf ihren 14
Rücken, als könne ich so das Salz aus ihrem Körper prügeln. 15
Wach auf, Reni. Bitte, wach auf. Ihre Puppe, die sie immer 16
noch im Arm hielt, rollte zur Seite. Ihr Herz hatte 17
aufgehört zu schlagen. Nein, wach endlich auf! Ohne es zu 18
beabsichtigen, drückte ich auf ihre Oberkörper. Einmal 19
leicht, dann etwas fester. Immer darauf bedacht, ihr keine 20
Rippe zu brechen. So hatte ich es im Fernsehen gesehen - nur 21
mit dem Unterschied, dass in dem flimmernden Kasten niemand 22
wirklich Hilfe benötigte. Plötzlich fiel ein Schatten auf 23
mein Gesicht. Der alte Mann ohne Namen kniete sich vor mir 24
nieder, stieß die ängstliche Mutter und mich fort, um das 25
Ohr auf Renis Oberkörper zu legen. Traurig schüttelte er den 26
Kopf. Nein! Obwohl ich in diesem Augenblick verstanden, dass 27
es vorbei war, wollte ich es nicht wahrhaben. Verzweifelt 28
versuchte ich noch einmal, sie wieder zu beleben, betend, 29
344
dass sie endlich die Augen öffnete. Aber diese blieben 1
verschlossen. Kein Herzschlag, kein Lebenszeichen. 2
Auch das kleinen, fröhliche Mädchen, welches niemals die 3
Hoffnung aufgeben hatte, befreit zu werden, gleich, ob es in 4
Gefangenschaft aufgewachsen war, hatten die Todesengel zu 5
sich in den Himmel geholt. 6
Warum? Gott verdammt warum? 7
Den Kopf in die Hände gestützt, starrte ich fassungslos in 8
die sich unter mir schäumenden, wölbenden Fluten des 9
Atlantiks. Reni war weg; die Wellen hatten ihren in ein Tuch 10
eingehüllten, kleinen Körper fort getragen. Ob an Land oder 11
nur noch weiter auf den Ozean heraus entgegen der Grenze des 12
Horizontes, wäre vollkommen gleich, denn sie würde es nicht 13
spüren. Weder die Einsamkeit, die sie umgab, noch die Kälte. 14
Nichts mehr. Und daran war ich alleine Schuld, weil ich sie 15
nicht gerettet hatte. Sicherlich hätte es einen Weg gegeben. 16
Es musste einen Weg gegeben haben, doch diesen hatte ich 17
nicht genutzt. Ich war dafür verantwortlich, dass ihre 18
Mutter nun dort drüben neben der leeren Orangenkiste am 19
Boden kauerte, nach ihrem Kind weinend, flehend, dass dieses 20
zurückkäme. Warum? Gott verdammt warum? Das quälende 21
Bewusstsein, für etwas Schreckliches Rechenschaft ablegen zu 22
müssen, ließ mir zum wiederholten Male diese Frage vor Augen 23
erscheinen. Wie Neonleuchtreklamme, eine Irrfahrt durch eine 24
längst verlassene Stadt mit demselben Schild an jeder Ecke, 25
in jedem Schaufenster: Warum? - Du bist schuld, Tim. Gott 26
verdammt warum? - Du bist Schuld. Und ich könnte es nie 27
wieder gutmachen. Ich hatte sie sterben lassen an diesem 7. 28
August, dem ersten Samstag des Monates, an dem wir 29
eigentlich Gbagba-Za, das Erntedankfest der Ewe feiern 30
345
wollten. Doch seit Reni… Nein, ich durfte diesen Gedanken 1
nicht zu Ende führen. Glücklicherweise lenkte mich Tess ab, 2
die plötzlich neben mich trat. 3
„Amani hat mich gebeten, nach dir zu sehen. Ähm… Alles in 4
Ordnung?“ 5
Sie machte ein trauriges Gesicht. Da sie als blinde 6
Passagierin an Bord gelangt war, wurde sie vor allem in 7
unserer momentanen Situation von dem Großteil der 8
Afrikanerin - wenn auch oftmals unbeabsichtigt - 9
diskriminiert. Die Tatsache, dass sie die Tochter jenes 10
Mannes war, der uns gequält hatte, verstärkt dies zudem. 11
Immerhin hatte sie in den vergangen Tagen trotz ihrer 12
Krankheit einige der Nahrungsmittel für sich beansprucht, 13
die jetzt der Gesamtheit fehlten. Umgerechnet hätten wir 14
ohne sie jeder im Durchschnitt etwa einen halben Liter 15
Wasser und ein paar Brote mehr essen und trinken können, 16
doch das Ergebnis, dass wir alle gemeinsam entweder 17
verhungern oder verdursten würden, bliebe unverändert. 18
Lediglich der Zeitpunkt verschöbe sich um einen Tag nach 19
hinten. 20
„Dumme Frage, schätze ich.“, fügte das Mädchen zögerlich 21
hinzu. 22
Ich hatte sie noch nie derart verunsichert erlebt. „Nein, 23
schon gut.“ 24
„Es tut mir Leid, was mit der Kleinen passiert ist. Ich 25
habe sie kaum gekannt, aber nett war sie. Hat mich gestern 26
noch mit ihrer Puppe getröstet, als…“ Sie unterbrach sich 27
hastig, beobachtete die Wellen. „ Vergiss es.“ 28
„Ich weiß, was du meinst.“ 29
„Okay, gut, dann werde ich jetzt… Ähm… gehen.“ 30
346
Vorsichtig schlich sie zu dem besorgten Amani herüber, der 1
versuchte, einen Konflikt zwischen Suleika und ihrem Freund 2
Faraji zu lösen. Dabei schien er mit der Situation völlig 3
überfordert, denn er konnte nichts mehr tun, um seine 4
Mitreisen zu ermutigen. Diejenigen, die eine Orange mehr 5
gegessen haben, würden nicht einfach beim nächsten Mal auf 6
eine verzichten. Denn es gab nichts mehr, worauf sie hätte 7
verzichten müssen: 8
Unsere Kanister, Kisten, Kartons waren leer. 9
347
17. Kapitel 1
Menschen wissen, wenn ein Todesengel über ihnen die Arme 2
ausbreitet, um sie in Empfang zu nehmen. Menschen wissen, 3
wenn sie sterben. Die Passagiere der “Kamikaze” wusste dies 4
ebenfalls, als die erste Welle gegen ihr Schiff schlug. Es 5
war der 8. August, genau einundzwanzig Uhr fünfzehn, an dem 6
sich die vielen Adern dieser Welle wie Bleistifte durch ein 7
Papierboot zu bohren versuchten. Meerwasser prasselte wie 8
der Speichel des Himmels auf ihre Köpfe herab. Erst wenig, 9
langsam, schwach, plötzlich immer mehr, immer schneller, 10
immer kräftiger. Blitze zuckten über die schwarzen Wolken. 11
Es setzte zu regnen ein. 12
Dann traf die zweite Welle auf das Schiff. 13
Blind kroch ich über das schwankende Boot, rutschte auf 14
dem nassen Holzboden ab. Da wir alle zu sehr mit dem Streit 15
um die Nahrungsmittel beschäftigt waren, hatte niemand von 16
uns die drohende Wolkenwand bemerkt, die sich rasend von 17
Osten näherte. Aber selbst wenn wir die Gefahr rechtzeitiger 18
wahrgenommen hätten, wäre unser Schicksal trotzdem besiegelt 19
gewesen. Denn wo sollte unser kleines Schiff Schutz suchen? 20
In gewisser Weise ähnelten wir einem Kaninchen auf einer 21
Lichtung, welches der Jäger längst im Visier gehabt hat. 22
Die Glasscheibe der Kajütentür barst, Splitter schnitten 23
mir ins Fleisch. Qualvoll riss ich den Mund auf, doch bevor 24
ich schreien konnte, füllte er sich mit Meerwasser. Salzige 25
Tränen rannen über meine Wangen, vermischten sich mit Blut. 26
Wild flatterte die togolesische Flagge am Heck im 27
aufkommenden Sturm. Ihr Schatten huschte über die Gesichter 28
der in Panik versetzten Menschen, die wie Gespenster in 29
348
ihren durchnässten Gewändern über das Deck irrten. Durch die 1
zerbrochene Fensterscheibe konnte ich Richard ausmachen, der 2
das Steuer fest in seinen Händen hielt, jedoch nicht gegen 3
das Kippen ankämpfte. In einem Fünfzigrad-Winkel neigte sich 4
das Schiff. Wasser flutete über die Reling. Kanister und 5
andere lose Gegenstände rollten über das Deck, fielen in die 6
Dunkelheit herab. Nicht einmal der Aufprall, mit dem sie 7
versanken, war zu hören. Schliddernd rutschte auch ich dem 8
Abgrund entgegen, mit Händen und Beinen strampelnd, Augen 9
und Mund geschlossen. Warmes Erbrochenes tropfte von meinen 10
Mundwinkel in den Atlantik. Plötzlich wurde das Boot 11
zurückgeworfen. Alles wirbelte durcheinander, drehte sich. 12
Chaos. Ich sah nichts, spürte nur das Brennen der 13
Schnittwunden, sonst nichts. Gott, lass es endlich vorbei 14
sein. Doch anstatt meine Bitte zu erhören, spülte mich eine 15
Welle erneut über das Deck. Kullernd wie ein altes Rohr 16
krach ich mit dem Rücken gegen die Außenwand der Kajüte. 17
Schmerzen jagten durch meinen Körper. Völlig entkräftet 18
blieb ich auf dem Bauch liegen. Gleich, was mit mir 19
geschehen würde, ich konnte nicht mehr. 20
„Tim!“ Tränenblind grunzte ich leise, bäumte mich schwach 21
auf. Ein Blitz schoss über den Himmel, gefolgt von einem 22
tiefen Donnergrollen. Dadurch motiviert, zu töten, erfasste 23
eine drei Meter Welle das Boot, ließ es auf sich reiten, nur 24
um abschließend über ihm zusammenzubrechen. Als sich das 25
Wasser für einen neuen Angriff zurückzog, war Suleika 26
verschwunden, die mir hat aufhelfen wollen. Sekundenspäter 27
verlor auch Faraji den Halt, der sich an die Reling 28
gegenüber gekrallt hatte. Im Sturz wurde er hart von einer 29
Orangenkiste am Kopf getroffen, woraufhin sein entsetztes 30
349
Brüllen nach seiner Freundin augenblicklich erstarb. Er war 1
tot, noch bevor er mit weit ausgebreiteten Armen in der 2
Finsternis aufschlug. Nein! Verzweifelt klammerte ich mich 3
an allem fest, was sich mir bot, fand… nichts! Nichts als 4
Leere. Wind strich an meinen Wangen vorbei. Irgendwo - ich 5
konnte nicht einmal mehr die Richtung ausmachen - schrien 6
Menschen. Der Klang ihrer panischen Stimmen brannte sich wie 7
ein Tinitus in mein Gehör. Als könne ich gegen den Fall 8
ankämpfen, versuchte ich in den zwei Sekunden, die ich in 9
der Luft verbrachte, wie ein Vogel mit den Armen zu rudern. 10
Nur fliegen, fliegen konnte ich nicht. Fest presste ich die 11
Lider aufeinander. Unter mir rauschten die Wellen wie eine 12
Herde wild gewordener Stiere… 13
Die brutale Kälte des Atlantiks war das Erste, was ich 14
spürte, als mein, zu einem Stein gewordener Körper durch die 15
Wasseroberfläche stieß. Wie ein Hammerschlag trieb sie mir 16
die Luft aus der Lunge, hüllte mich in Eis, schleuderte 17
meine Gefühle fort. Ich spürte mich selbst nicht mehr, nicht 18
mehr das Kribbeln, mit dem die Bläschen meine Lippen 19
berührten, nicht mehr den Druck auf meinen Ohren, der 20
entstand, als ich immer weiter in die Dunkelheit herab sank. 21
Hier unten war es tot. Lautlos, still. Um mich herum alles 22
schwarz. Salzwasser füllte meinen Mundraum, sodass ich 23
diesen entsetzt aufriss. Hoffnungen, jemals wieder 24
aufzutauchen und so etwas wie Wärme zu empfinden, hatte ich 25
nicht, aber einen noch kläglichen Rest an Überlebenswille. 26
Und dieser winzig kleine, klägliche Rest war stark. Du musst 27
atmen, Tim. Meine Lungen waren bereits zum Zerreisen 28
gespannt. Blut pochte in meinen Adern. Atme. Langsam 29
vollführte ich einen schwachen Brustbeinschlag, einen 30
350
zweiten, einen dritten. Doch jedes Mal wurde ich von einer 1
eisernen Klaue zurückgezogen. "Lasst mich los!", schrie ich 2
tonlos, lasst mich endlich los! Ich hatte keine Kraft mehr, 3
ich musste aufgeben, ich war kurz davor, ohnmächtig zu 4
werden. Kay würde ich niemals wieder sehen. Schockiert 5
schlug ich mit den Armen um mich. Nein, Tim, kämpfe. Kämpfe 6
weiter. So schwer kann es nicht sein, diesem Meer zu 7
entkommen. Es hat keine Augen, keine Ohren, keine Nase. Es 8
kann dich nicht riechen, hören, sehen. Erneut unternahm ich 9
einen Versuch, als ich plötzlich kurz vor dem Auftauchen das 10
Bewusstsein verlor. Meine weit aufgerissenen Lider 11
flatterten. Du schaffst es… Nein, meine Lungen waren 12
ausgepumpt, alle Wärme aus meinem Körper gewichen. Schwach 13
machte ich einen letzten Brustarmzug. Verloren… Ob mich Haie 14
ausfressen würden? Oder mich andere Fische in Stücke rissen? 15
Wäre ich jetzt in den Fluten ertrunken, wäre dem sicherlich 16
so gewesen. Aber seltsamerweise hörte ich einen 17
verzweifelten Ruf. Um diesem zu antworten, klappte ich den 18
Mund auf, wieder zu, auf. Erstaunt bemerkte ich, dass der 19
Widerstand des Wassers fehlte, und da wurde mir bewusst, ich 20
hatte es geschafft. Irgendwie. Irgendwie, egal wie, ich 21
hatte es geschafft. Japsend schnappte ich nach Luft, legte 22
mich dabei auf den Rücken, damit mich die Wellen nicht 23
sofort übermahnten. Meine Zähne klapperten, meine Lippen 24
waren blau. Ich zitterte am ganzen Körper und könnte ich 25
nicht meine bloßen Füße sehen, würde ich behaupten, 26
tatsächlich zu einer Eisskulptur geworden zu sein. In weiter 27
Ferne vernahm ich ein tiefes Raunen, Rufe. Langsam glitt ich 28
auf den Bauch. Hilfe! Hierher! Die dünne Kleidung bauschte 29
sich unter Wasser auf, erschwerte mir das Schwimmen. Salz 30
351
brannte in meinen Augen, die ich zusammenkniff, um besser 1
meine Rettung auszumachen. Dabei winkte ich, erwiderte die 2
Rufe. Hilfe! Ich bin hier! Hierher, hallo! Beinahe senkrecht 3
geneigt, kippte die Kamikaze zur Seite. Ihr Todeskampf war 4
entschieden, sie geschlagen. Und plötzlich erkannte ich, 5
dass es keine Rettung gäbe. 6
Ich konnte immer noch nicht begreifen, vielleicht wollte 7
ich es auch gar nicht. Vielleicht wollte ich nicht einsehen, 8
dass ich sterben würde. Hier draußen, einsam, verlassen, 9
alleine. Aber… Die ungeheure Kraft der Welle, die entstand, 10
als sich das stolze Schiff langsam auf dem Grund zu Bett 11
legen wollte, zog mich mit in die Tiefe. Für einen 12
Augenblick hatte ich das Gefühl, nun wäre tatsächlich alles 13
vorbei, doch die Angst, im Himmel gefangen zu werden und nie 14
wieder zurück auf diese Erde zu können, spritzte mir 15
Adrenalin. Zurück an der Wasseroberfläche versuchte ich, 16
meine aufsteigende Panik niederzukämpfen, um mir einen 17
Überblick zu verschaffen. Obwohl mir dies kaum gelang und 18
ich immer hektischer mit den Armen zu rudern begann, 19
erkannte ich zu meinem Glück in einiger Entfernung einen 20
länglichen Schatten. Hoffnungsvoll kraulte ich gegen die 21
Wellen auf ihn zu, schrie dabei um Hilfe. Hallo? Ist hier 22
jemand? Hallo! Keine Antwort. Tess? Mathieu? Amani, 23
Dominique? Irgendwer? Bitte… Keine Antwort, keine Reaktion. 24
Verzweifelt klammerte ich mich an den Gegenstand, bei dem es 25
sich wohl um ein Brett handeln musste. 26
Leise heulte der Wind, besänftigte die wütenden, Unheil 27
bringenden Fluten, als wolle er sagen, dass es ihm Leid 28
täte. Doch dadurch erwachte die Kamikaze dennoch nicht zu 29
neuem Leben. Auch nicht Suleika oder Faraji. 30
352
Kopf und Hände auf das Brett gelegt, den restlichen Körper 1
im Wasser hängen lassend, aus Angst, dass Stück Holz könne 2
unter meinem Gewicht sinken, schloss ich erschöpft die 3
Augen, obgleich ich wusste, dass es ein tödlicher Fehler 4
wäre, einzuschlafen. Ich dachte an Mama und Papa. Trieb 5
ziellos dahin. Dachte an Kay. Ob meine beste Freundin jemals 6
davon erfährt, dass unser Schiff gesunken ist? Hoffentlich 7
nicht. Sie soll sich keine unnötigen Sorgen machen müssen, 8
sondern glücklich sein. Einfach nur glücklich in einer 9
gerechten Welt, die es nicht gibt. Die Erinnerung an Kay 10
erweckte in mir neuen Überlebenswillen. Ich will sie wieder 11
sehen. Schließlich hatte ich ihr dies versprochen. Und 12
Versprechen sind nicht zum Brechen da. Vorsichtig tauchte 13
ich die rechte Hand ins Wasser, dann die linke. Wie groß ist 14
der Atlantik? Ein paar tausend Meilen? Egal, ich werde bis 15
zum Ende dieses Universum schwimmen, wenn es erforderlich 16
wird. Mama und Papa, euch treffe ich später. Und die gute, 17
alte Oma auch. Meine Beine unterstützten die Armbewegungen, 18
jedoch nur langsam, um Kraft zu sparen. Da ich keinerlei 19
Orientierung mehr besaß, entschied ich mich zunächst zu der 20
Stelle zurück gelangen, wo die Kamikaze verschluckt worden 21
war. Vielleicht wäre ich nicht alleine. Immer wieder brüllte 22
ich um Hilfe, rief die Namen der anderen. Lauschte dem 23
schwach Südostwind, dem Rauschen der nun milden Wellen. Im 24
Mondschein erkannte ich zwei regungslose Menschenkörper. Ein 25
Bild des Grauens. Renis Mutter lag auf dem Rücken, die Augen 26
starr. Als ich sie zögernd antippte, ertrank sie. 27
Bewegungslos sank ihre Leiche in die Finsternis herab, 28
obgleich ich verzweifelt versuchte, sie festzuhalten. „Es… 29
Es hat keinen Sinn, Tim…“, flüsterte eine heisere Stimme. 30
353
Der alte Mann ohne Namen schüttelte schwach atmend den Kopf. 1
Glücklich, nicht alleine zu sein, paddelte ich auf die Kiste 2
zu, die er zitternd wie einen Schatz umklammerte. Eine Weile 3
trieben wir schweigsam auf den Wellen, horchten dem 4
Zähneklappern des anderen, sodass ich trotz der Müdigkeit 5
wach blieb. Wie lang konnte ein Mensch frieren, bis sein 6
Wärme vollständig aus allen Zellen seines Körpers gewichen 7
wäre? Ein paar Stunden vielleicht, schätze ich, um mir Mut 8
zu machen. Je nachdem, wie dick sein Fell war. 9
„Wo sind die anderen?“ Die Frage erklang als Echo in 10
meinem Gedanken. Wo sind die anderen? Wo sind die anderen… 11
die anderen? Dabei war dieser Einwurf lediglich einer, der 12
den Frieden spaltete. Denn solange niemand antwortete, 13
bliebe mir die Hoffnung. Der alte Mann wich meinem Blick 14
aus, starrte auf die sich sanft wölbende Wasseroberfläche. 15
Aus seinem leicht geöffneten Mund qualmte sein im Mondlicht 16
sichtbarer Atem Vorsichtig hauchte er unterschiedlich große 17
Kreise in die alte Nachtluft, sodass ich annahm, er habe 18
mich nicht verstanden. Doch dann plötzlich schoss ein Kopf 19
ruckartig zu mir herum. Sekunden beäugte er mich durch seine 20
glasigen, fast grauen Augen, die Brauen ein Stück 21
hochgezogen. 22
„Sie sind tot. Alle samt.“ 23
Entgeistert schüttelte in den Kopf. Nein! Und möglich. 24
Alle samt tot. Ausgeschlossen. Sicher haben sie es geschafft 25
und der Afrikaner hatte sie lediglich nicht bemerkt. 26
Bestimmt waren wir getrennt worden und trieben verstreut 27
herum. Denn das Meer war groß. So groß. 28
„Richard wollte das Steuer nicht loslassen.“, fuhr der 29
Alte tonlos fort. „Selbst, als das Schiff sank und er nicht 30
354
mehr hätte tun können. Seine Kinder Dominique und Kassian 1
blieben bei ihm. Amani ebenfalls. Dieses Mädchen… Die 2
Tochter des Sirs…“ Er unterbrach sich. 3
Nicht auch noch Tess. Bitte… „Was ist mit ihr?“ Bitte, sie 4
ist nicht tot. Gott, lass sie nicht in der Kajüte gewesen 5
sein, als das Schiff von den Fluten verschluckt wurde. 6
„Ich weiß es nicht.“, erwiderte der Togolese zu meiner 7
Erleichterung, „Da war ein Hund, der durch das zerbrochene 8
Fenster stürzte. Kalli, hat sie geschrien. Völlig panisch. 9
Ich hatte ihre Schultern umklammert, um sie zu beruhigen, 10
aber ich konnte sie nicht aufhalten, als sie ebenfalls 11
losließ, um ihrem Tier zu helfen. Wie im Affekt löste auch 12
ich das Seil, mit dem ich mich gesichert hatte. Im Fall 13
bemerkte ich eine weitere Gestalt. Einen Jungen. Doch, was 14
nach dem Aufprall mit ihm geschah, kann ich dir nicht sagen. 15
Nur, dass kurz danach der Todeskampf unseres Schiffes 16
beendet war und dass es die anderen mit sich in die Tiefe 17
zog. Sie hatten keine Chance mehr. Faraji nicht. Suleika 18
nicht. Amani nicht. Dominique nicht. Kassian nicht. Richard 19
nicht. Renis Mutter mochte es wohl noch geschafft haben, 20
aber sie konnte nicht schwimmen. Und ich nehme an, die 21
beiden anderen Kinder und Jabali ebenfalls nicht. Es tut mir 22
Leid.“ Den Kopf gesenkt faltete er die Hände zum Gebet und 23
murmelte unverständlich etwas auf Ewe. Ich selbst tat es ihm 24
gleich. Gott, was hast du mit ihnen gemacht? Sie alle haben 25
dir gedient. Alle samt ehrliche, wenn auch arme Togolesen… 26
meine Freunde. Dir haben sie gedient, obgleich sie litten. 27
Unter Hunger, unter Krankheit, unter dem Tod ihrer Familie. 28
Warum hast du sie zu dir in den Himmel geholt, jetzt, wo ihr 29
Traum greifbar wurde? Wieso hast du sie nicht zu einem 30
355
früheren Zeitpunkt von ihrem Leid befreit? Ich kann dich 1
nicht verstehen. Damals, Gott, habe ich dir geschworen, für 2
Gerechtigkeit zu kämpfen. Leichtsinnig habe ich angenommen, 3
du würdest mich dabei trotz unserer Feindschaft 4
unterstützen, weil es auch in deinem Interesse sein musste, 5
Menschen zu helfen. Doch scheinbar irre ich wie in sehr 6
vielen Dingen. Vermutlich lerne ich nie dazu. Gott, 7
allmächtiger Vernichter, meine Familie, Oma, Mama und Papa 8
sind Gläubige. Jeden Sonntag waren wir in der Kirche, vor 9
jedem Mahl haben wir gebetet und vor dem zu Bett gehen 10
ebenfalls. Abends wenn ich müde bin, zehn Englein mit mir 11
schlafen gehen… Wo ist deine Mannschaft? Wo sind die 12
Verteidiger, die die bösen Träume vertreiben? Wo die 13
Stürmer? Wo bist du Gott? Wo bist du? Schaust du bei einem 14
Glas Blutorangensaft von deinem hohen Trainerstuhl auf das 15
Feld herab, ohne einzugreifen? Wie soll ich dir vertrauen, 16
wenn du das Spiel aus dem Gleichgewicht bringst? Nun gut, 17
ich persönlich vertraue dir nicht mehr. In deinem Namen, 18
bitte beschütze Amani, der immer ein guter Anführer und 19
sicherlich auch ein wunderbarer Vater und Mann für Dominique 20
gewesen wäre. Beschütze Kassian, meinen Freund, der oft das 21
aussprach, was wir übrigen nicht taten. Faraji und Suleika, 22
die mit ihrer Eleganz Probleme für Sekunden einfach fort 23
wichen konnten. Bewahre auch ihren Frieden. Und den von 24
Renis Mutter, die das aufgeweckte, kleine Mädchen zur Welt 25
gebracht hat, das uns selbst in schwierigen Zeiten durch 26
sein Unwissen ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Den von 27
Richard ebenfalls, der nie die Vorstellung von Freiheit 28
losgelassen hat, und den von… 29
356
„Jabali!“ Der erstaunte Aufschrei riss mich jäh aus meinen 1
Gedanken. Verwirrt ließ ich meinen Blick durch die Schwärze 2
der Nacht gleiten, als sich tatsächlich grobe, unförmige 3
Bewegungen vor uns abzeichneten. Zunächst hatte ich den 4
Körper aufgrund seiner Hautfarbe für den Schatten eines 5
Monsters gehalten, aber beim Nähern wirkte er durchaus 6
menschlich. Jabali, der großwüchsige Wächter des Hauses 7
Scott, hob grüßend die zitternde Hand. 8
„Mawu sei Dank, dass wir euch finden.“ 9
Wir? Dies musste bedeuten, dass noch jemand anders den 10
Untergang des Schiffes überlebt hatte. Für einen Augenblick 11
vergaß ich unsere missgünstige Lage. Strahlend vor Glück 12
trommelte ich mit den tauben Fingern auf das Holz. 13
„Wir? Wer ist wir?“, fragte ich von Spannung erfüllt. Noch 14
bevor Jabali antworten konnte, tauchten hinter ihm zwei, mir 15
wohlbekannte Gestalten auf. „Mathieu! Tess!“ Freudig machte 16
ich den beiden auf dem Brett Platz, damit sich diese 17
festhalten konnten. Ich wusste es. Ich wusste, sie waren 18
nicht tot. Ein forscher Seitenblick jedoch verdeutlichte mir 19
zu meinem Entsetzen, dass es nicht mehr lange dauern würde, 20
fände uns nicht bald jemand. Obwohl uns das sterbende Schiff 21
nicht mit in die Tiefe gezogen haben mochte, nagte dennoch 22
die Kälte an uns wie eine Ratte an einem Stück Brot. Es war 23
eine Frage der Zeit und des Willens, wie lange jeder 24
Einzelne ihr fortlaufen konnte. Da die anderen drei bereits 25
ein größeres Stück hatten schwimmen müssen, zerrte der Tod 26
deutlicher an ihren Kräften, als es bei dem alten Mann und 27
mir der Fall war. 28
„Timothy…“ Zaghaft berührten Mathieus Finger meine Wangen, 29
doch ich spürte sie kaum. „Vielleicht vergesse ich es, wenn 30
357
wir in Spanien sind. Und damit du mich nicht in meiner 1
Hängematte störst… Ich war dabei, als dein Papa starb.“ 2
Entsetzt fuhren die Blicke zu meinem besten Freund herum, 3
der eine Grimasse schnitt. Dabei zuckte sein zerfallenes 4
Gesicht immer wieder, seine Mundwinkel hoben sich 5
unregelmäßig. 6
Schon damals, als wir im Sand gesessen und die Orange 7
geschält hatten, beschlich mich das Gefühl, dass der 8
afrikanische Waisenjunge mehr wusste, als er preisgeben 9
wollte. Viel mehr. Woher kannte er den Namen Scotts, ahnte, 10
dass dieser ein Häscher war, ein böser Mensch? Das wirst du 11
noch früh genug herausfinden. Nun war es beinahe zu spät. 12
„Hat mein Dad etwas damit zu tun gehabt?“, raunte Tess am 13
anderen Ende des Brettes. Die Hand des britischen Mädchens 14
umklammerte den Hals eines erfrorenen Hundes. Ob es merkte, 15
dass Kalli ebenfalls längst von den Todesengeln geholt 16
worden war? Selbst falls dem so wäre, würde es niemand zu 17
lassen, dass sein geliebtes Tier im Meer versank. 18
„Nein.“, erwiderte ich an Mathieus Stelle kopfschüttelnd. 19
Tess sollte es nicht wissen. Nicht jetzt, vielleicht 20
einander Mal. Kays Stimme tauchte in meinen Gedanken auf. 21
Vielleicht einander Mal. Ja, wenn sie dies sagte, klang es 22
voller Hoffnung. Mein leerer Magen flatterte. Der Geschmack 23
von Erdbeeren lag mir auf der Zunge, die bislang nur noch 24
den des Salzes wahrnahm. Kay… 25
„Ich wollte Keenan an seinem Geburtstag unbedingt eine 26
Freude machen. Weil ich am Morgen keinen Fisch gefangen 27
hatte, beschloss ich kurzer Hand flussabwärts mein Glück zu 28
suchen. Dabei musste ich mich verlaufen haben. Schon gut, 29
ich gebe es zu. Mit dir, Besserwisser, wäre das natürlich 30
358
nicht passiert. Jedenfalls bin ich in meinem Eifer einfach 1
weiter gerannt. Bis zu einer Lichtung, auf der dieses Haus 2
mit einer Plantage stand, das aussah wie eine…“ 3
„…Burg?“ 4
„Burg? Was ist denn eine Burg? Egal. Ein tolles Haus. Dort 5
wollte ich einen Fisch für Keenan stehlen, damit endlich 6
einmal jemand meine Fangkünste bewundert. Die riesige Mauer 7
wäre kein Hindernis gewesen. Schließlich bin ich ein guter 8
Kletterer. Aber die Menschen. Wie sollte ich an denen 9
vorbei? Als ich mich dazu durchgerungen hatte, es zu 10
versuchen, entdeckte ich… Zarin. Wirklich, er war‟s. Einer 11
der Männer war Zarin. Erinnerst du dich?“ Nach meinem 12
bestätigenden Nicken fuhr er fort: „Ich habe ihn fragen 13
wollen, ob er mir hilft, einen Fisch zu holen, doch dann ist 14
er verschwunden. Zunächst habe ich mich gewundert, als 15
plötzlich der Motor des Planwagens startete, in dem ich mich 16
versteckt hatte. So musste ich wahllos mitreisen. In einer 17
Kurve angekommen, stieg Zarin aus, verbarg sich in einem 18
Gebüsch. Aus Angst vor anderen Männer bin ich auf der 19
Ladefläche geblieben und habe das nun Folgende beobachtet: 20
Ein Cabrio kam, bremste leicht in der Kurve ab. Sein Fahrer 21
war dein Papa, Tim. Zarin bewegte sich langsam. Geschockt 22
realisierte ich die beiden Messer in seiner Hand. Er zielte, 23
zögerte, warf sie dennoch. Alle beide. Und beide trafen. 24
Dann gab es einen fürchterlichen Aufprall. Ich dachte nur, 25
vergiss den Fisch, lauf. Das tat ich auch. So schnell ich 26
konnte.“ 27
Atemlos rang Mathieu nach Luft. Das Sprechen fiel ihm 28
sichtlich schwer, sodass lediglich die dumpfen Schatten 29
seiner letzten Worte in meinem Gehör erklangen. 30
359
Zitternd wollte ich ihm auf die Schultern klopfen, als 1
sein Kopf plötzlich widerstandslos nach vorne sackte und 2
beinahe auf dem harten Holz aufgeschlagen wäre, hätte der 3
alte Mann diesen nicht vorher aufgefangen. 4
„Mathieu! Hey, Mathieu!“ 5
„Was… was ist mit ihm?“, erkundigte sich die entgeisterte 6
Tess leise. 7
Niemand antwortete ihr. Der Alte flüsterte Jabali etwas 8
ins Ohr, woraufhin dieser mit traurigen Gesicht die 9
festgefrorenen Hände des Jungen vom Brett löste. Sofort 10
versank mein bester Freund in den Tiefen des Meeres. 11
Mathieu! Nein, wir müssen ihm helfen. Großes-Spanien-12
Ehrenwort. Er muss es schaffen. Es ist sein Traum. Ohne zu 13
zögern, tauchte ich unter, fingerte blind nach seiner Hand, 14
um ihn zurückzuholen. Salz brannte in meinen Augen. Schwarz, 15
überall schwarz. Mathieu, Mathieu! In Spanien ist alles 16
bunt. Sonnenschirme, Strand, Meer. Komm zurück. Ich bin dir 17
nicht böse. Niemals! Du bist doch mein Freund. Lass uns für 18
immer Freunde sein, ja? Doch, als ich versuchte, weiter in 19
das Herz des Ozeans vorzubringen, zerrte mich etwas am 20
klammen Stoff meines T-Shirts zurück an die 21
Wasseroberfläche. Nein, Mathieu! Dort unten ist nicht 22
Spanien. 23
Schwach strampelnd klammerte ich mich an das Brett. Tränen 24
rannen mir über die Wangen. Wie durch eine zerschlagene 25
Fensterscheibe betrachte ich die drei übrigen Menschen. Ihre 26
weißen Gesichter verschwammen vor meinen Augen, wurden in 27
tausend Stücke eines Mosaiks zerschlagen. In der Dunkelheit 28
erkannte ich, dass auch Jabali seine Schwimmhilfe losließ. 29
360
„Mir ist so kalt… So… so kalt.“, hörte ich Tess in weiter 1
Ferne säuseln. 2
Väterlich küsste der alte Mann der Tochter des Monsters 3
die Stirn. „Mawu möge dich beschützen.“ Mit einem 4
absichtlich gewählten, beruhigenden Unterton drückten seine 5
Hände dabei die ihre. „Euch… euch beide.“ Die Klauen der 6
Kälte, die dort untern lauerte, zupfte immer kräftiger an 7
seinem Gewand. Die von ihm in die Luft geblasenen Ringe 8
wurden unregelmäßiger, bis sie vollständig verschwanden. 9
Es ging alles derart schnell, dass ich es kaum begreifen 10
konnte. Wir sind zu erschöpft, um zu trauern. Zu erschöpft, 11
um wahrzunehmen, wie jeder unserer Freunde von uns geht… bis 12
wir schließlich selber gehen, jeder für sich an einen 13
unbestimmten Ort. Ob ich zu Mama und Papa in den Himmel 14
komme, obwohl ich ungezogen bin? Und werde ich dort oben 15
Mathieu und Reni und Zarin und die anderen wieder sehen? 16
Verdammt, ich mag kein Weiß, ich hasse es sogar. Ich möchte 17
nicht gehen müssen, möchte hier unter auf der Erde bleiben. 18
Hier unten bei Kay. 19
„Bestimmt kommt bald ein Schiff vorbei.“, flüsterte ich in 20
die Stille hinein, als wir inmitten des riesigen, 21
atlantischen Ozeans trieben, tausende Meilen von unserem 22
Ziel, der Küste Spaniens, entfernt. 23
Es soll der einzige Satz bleiben, der in den nächsten 24
Minuten und Stunden meine blauen Lippen verlässt. Bestimmt 25
kommt bald ein Schiff vorbei. Doch es kommt kein Schiff, 26
weder heute, noch morgen, noch irgendwann. Nie mehr, Kay… 27
361
Epilog 1
Am 9. August 2004 wurde unmittelbar vor der britischen 2
Atlantikinsel Sankt Helena Wrackteile eines aus Togo 3
stammenden Schiffes entdeckt. Die bisher gefundenen 4
Flüchtlinge an Bord konnten jedoch nur tot aus den Fluten 5
geboren werden. Unter den Opfern seien, laut Aussage eines 6
Polizisten, auch zwei europäische Kinder, deren Alter auf 7
zehn bis zwölf Jahre geschätzt wird. Die Ursache für die 8
Tragödie ist bislang unklar. 9
Dennoch kann vermutet werden, dass sich das Schiff in 10
einem bereits nicht mehr seetauglichen Zustand befunden 11
haben musste, als es das afrikanische Festland verließ, und 12
daraufhin in dem gestern wütenden Sturm gekentert war. 13
Obwohl man dem britischen Millionär und Forscher Sir 14
Doktor Maurice Anthony Scott aufgrund der Telefonnummer, die 15
man bei der Obduktion des toten Junges in dessen Handfläche 16
fand, mit dem Sinken der Flüchtlingsschiffes “Kamikaze” in 17
Verbindung brachte, konnte diesem nie etwas nachgewiesen 18
werden. 19
Vierzig Jahre nach der Tragödie erlag Scott einer 20
Überdosis eines von seinem eigenen Unternehmen hergestellten 21
Medikamentes, welches vor dem HIV-Virus schützen sollte. 22
Daraufhin beendete der portugiesische Neurologe Vasco 23
Igmanias als letzter Anhänger des Mannes kurze Zeit später 24
aus Angst vor Enthüllung die Ausbeutung der togolesischen 25
Bevölkerung. 26
Kay Linn Brown erfuhr nie von dem Tod ihres besten 27
Freundes, obgleich sie nach ihrem Studium als 28
Heilpraktikantin zwei Jahre lange vergebens in Spanien 29
362
Nachforschungen anstellte, bei denen sie ihren späteren 1
Ehemann Riccardo O‟ Neil kennen lernte, mit dem sie ein lang 2
ersehntes Leben genoss. 3
Der Kuscheltierlöwe erhielt einen Ehrenplatz neben ihrem 4
Kopfkissen und wenn immer ihre beiden Töchter oder ihre 5
Enkel sie danach fragten, erzählte sie mit einem Strahlen in 6
ihren geheimnisvoll funkelenden Augen von dem kleinen 7
Jungen, der mit seiner Angst, die aller Übrigen vertrieb. 8
“Stell dir vor, es kann nur einen geben. Aber es wird 9
einen geben. Und dieser eine, der warst du, Tim.” 10