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1 Ausweglos 1 Das Spiel mit und gegen Menschen 2 Sarah Schmitz 3 4 5 Manuskript in Arbeit 6 Erstformatierung abgeschlossen 7 8

Ausweglos [Manuskript von Sarah Schmitz]

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Das Manuskript der Autorin Sarah Schmitz in Arbeit. Die erste Formatierung wurde gemacht wobei wir händische Formate in Formatvorlagen bringen, um in der anschließenden crossmedialen Verarbeitung effizienter arbeiten zu können. Es sind alle eingeladen, das Manuskript am Weg zum Buch mitzuverfolgen. Achtung: es stehen noch einige Arbeitsschritte aus.

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Ausweglos 1

Das Spiel mit und gegen Menschen 2

Sarah Schmitz 3

4

5

Manuskript in Arbeit 6

Erstformatierung abgeschlossen 7

8

2

1

2

3

4

5

6

7

8

“Stell dir vor, 9

es kann nur einen treffen. 10

Aber es wird einen treffen. 11

Und dieser eine bist du.” 12

3

Prolog 1

Sie lauert dir auf, dir alleine. Wartet in der alles in 2

ihrem Zorn zerquetschende Tiefe. Mörderisch scharf umzingeln 3

die tosenden Fluten deine dürren Knöchel, wollen dich unter 4

die Wasseroberfläche zerren. Glatt ist sie, glatt wie die 5

Klinge eines Schwertes, vollkommen glatt, haltlos. In dieser 6

Nacht vermag nicht ein einziges, klägliches Licht am Himmel 7

zu leuchten, der wie ein Leichentuch über die Welt gespannt 8

ist. Den Tag, der auf diese Nacht folgen würde, wenn die 9

Flammen des glühenden Morgenrots jemals im Osten die 10

Dunkelheit vertrieben, würdest du nicht mehr erleben. 11

Verzweifelt versuchst du, dich zu wehren, doch die 12

unbarmherzige Kälte des Atlantiks hat deinen Körper gelähmt, 13

für immer versteinert. Salz brennt in deinen vor Angst weit 14

aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen. Deine Schreie hört 15

niemand, weder das Schiff dort drüber in einigen tausend 16

Meter Entfernung, noch das hübsche, blasse Mädchen, welches 17

regungslos neben dir im Wasser treibt. Langsam erstirbt auch 18

dein Widerstand. Erschöpft flattern deine Lider, während 19

dein Körper herab in die Tiefe sinkt. Luftbläschen streifen 20

dein zerschlagenes Gesicht, als du qualvoll den Mund 21

aufreißt, um Atem zu schöpfen. Das Letzte, was du bewusst 22

wahrnimmst, ist das Wasser, das nun in deine ausgepumpten, 23

zum Zerreißen gespannten Lungen, flutet 24

4

1. Kapitel 1

Verdorrte Bäume standen in Flammen. Ein Rudel Hyänen, auf 2

der Suche nach etwas Essbarem, jagte in die niemals enden 3

wollende Wüste davon. Aasgeier kreisten über dem Kadaver 4

eines toten Schimpansen, rissen grobe Stück Fleisch mit 5

ihren gefräßigen Schnäbeln aus Bauch, Schultern und Beinen. 6

Ein Jeep schoss über die menschenleere Landstraße hinweg, 7

in Richtung Süden, der togolesischen Hauptstadt Lomé 8

entgegen. 9

Ich kauerte mich tiefer in den Sitz, meinen Kuscheltier 10

Löwen dicht an mich gepresst. Staub brannte in meinen Augen. 11

Die ungewohnte Februarhitze machte mir zu schaffen. Doch ich 12

wagte nicht zu nörgeln, denn sonst würde Papa mich in eines 13

dieser deutschen Kinderheime geben. Ohne Freunde, ohne 14

Spielsachen, ganz alleine. An die Hitze Afrikas würdest du 15

dich gewöhnen, an die Einsamkeit niemals. 16

Ein Tiger Python. Python molurus. Eine der größten und 17

gefährlichsten Würgeschlange der Welt schlängelte sich vor 18

deinen Augen über die Straße. 19

Sekunden später spritzte Blut gegen die niedrige 20

Windschutzscheibe. Papa hatte das Steuer nicht mehr 21

herumreißen können. Er grinste. Das Grinsen eines Irrens. 22

„Willkommen in Afrika, mein Sohn!“, lachte er, und blickte 23

mich an. 24

Fressen oder gefressen werden… Das einzige goldene Gesetz 25

in Afrika. 26

Wilde Tiere hatten ihre Spuren hinterlassen, als sie in 27

der Nacht in das Dorf eingefallen waren, welches sich nun in 28

einiger Entfernung abzeichnete. Rot spiegelte sich Blut in 29

5

der Mittagshitze. Fliegen und Moskitos stachen ihre langen 1

Rüssel in Haut der kleinen Kinder, die vor den teils 2

hölzernen, teils aus Stein gebauten Hütten im Schlamm 3

spielten. 4

Nach kurzem Beobachten stieg Papa aus, woraufhin ich ihm 5

zögernd folgte. Die Finger meiner rechten Hand verkrampften 6

sich in seiner großen Hand.Mit der anderen langte ich nach 7

dem Kuscheltier-Löwen. Augenblicklich umringten uns 8

Menschen, die in schmutzigen Gewändern wie schwarze 9

Gespenster wirkten. Über uns hellhäutige Fremdlinge schienen 10

sie zu staunen. Lediglich ein älterer Mann mit einem 11

lustigen Bart und einem freundlichen Gesichtsausdruck 12

räusperte sich vernehmlich, um Papa etwas ins Ohr zu 13

flüstern. Voller Spannung senkte ich meinen Blick, drückte 14

mein Kuscheltier fester an meine Brust. 15

Obwohl ich die togolesische Landessprache sehr wohl 16

verstand, irritierte mich das, was die beiden Männer 17

besprachen. Vielleicht war ich damals noch zu jung, um zu 18

begreifen, vielleicht wollte ich es auch gar nicht. 19

Papa hatte immer Forscher sein wollen, berühmt und reich, 20

doch bis jetzt hatte das nicht geschafft, was nicht zuletzt 21

meine Schuld war. Wäre meine Mutter nicht schwanger 22

geworden, hätte er vermutlich ein Projekt in Haiti bekommen. 23

Dieses Dorf jedenfalls wurde unser neues Zuhause. Man zeigte 24

uns eine verlassene Hütte, in der vor wenigen Tagen noch 25

eine fünfköpfige Familie gewohnt hatte. Über ihr Schicksal 26

sprach man kaum, eher verachtete man sie. Warum, wusste ich 27

nicht. Ich fragte auch nicht danach. Papa hätte mir die 28

Wahrheit sowieso nie verraten. 29

6

In der Hütte war es dunkel. Durch die Holzklappen vor dem 1

Fenster fiel kaum Licht und elektrischen Strom gab es 2

keinen. Ich zitterte. Im Fernsehen hatte ich oft Horrorfilme 3

mit meinem Vater ansehen müssen. Es kümmerte ihn nicht, wenn 4

ich nachts vor Angst Albträume hatte oder weinte. Selbst 5

dann nicht, als meine Lehrerin ihn darauf ansprach. Nun 6

tauchten diese schrecklichen Bilder wieder in meinen 7

Gedanken auf. Blutüberströmte Leichen. Abgehackte Finger. 8

Folter. Tiere, die Menschen überfielen. 9

„Na, wieder der kleine Scheißer?“ Papa stand plötzlich 10

neben mir. Die Taschenlampe strich über mein Gesicht. 11

Erschrocken schüttelte ich den Kopf. 12

„Okay, dann kannst du ja vorgehen.“, meinte er grinsend. 13

Ich nickte. Was sollte ich auch anders tun? Tat ich nicht 14

das, was er verlangte, würde er mich auslachen oder 15

schlagen. Wie immer. Das war seine Erziehung. 16

Langsam setzte ich einen Fuß vor den andern. Über die 17

gesamte Fläche einer alten Holztheke war zerbrochenes 18

Porzellan verstreut. Ein umgekippter Stuhl lag auf dem 19

knarrenden Fußboden. Es stank nach Schweiß und Kot. 20

Krabbeltiere sammelten sich über den Essensresten. In das 21

enge Kinderschlafzimmer waren drei Betten gezwängt, bezogen 22

mit dünnen Laken, mit dünnen, blutverschmierten Laken. Mein 23

Magen zog sich merklich zusammen. Die Bilder brannten sich 24

in mein Gedächtnis. Ich würde sie nie wieder vergessen 25

können. Obwohl mir die Kälte und der Tod nun zu schaffen 26

macht, erinnere ich mich an den Tag, an dem ich vom 27

Beifahrersitz des Jeeps kletterte, um in diesem Dorf ein 28

neues Leben zu beginnen. Vielleicht hätte ich weglaufen 29

sollen, damals, als ich die Chance dazu gehabt hatte. 30

7

Vielleicht hätte ich in ein Kinderheim gehen sollen, um als 1

normaler Teenager aufwachsen zu können. Vielleicht wäre es 2

manchmal sogar besser gewesen, wenn ich gar nicht auf dieser 3

Welt lebte. Vielleicht. 4

Aber es ist nicht so. Ich bin hier draußen, einsam, 5

verlassen, alleine. Das ist mein Leben. 6

Unruhig wälzte ich mich im Halbschlaf auf dem schmalen 7

Bett. Durch die geöffneten Fenster schwirrten Moskitos 8

herein. Der Lattenrost meiner Pritsche knarrte bei jeder 9

Bewegung. Weit ab dem Dorf heulte ein Tier seine gruselige 10

Melodie. Neuartige Geräusche, die mir Angst einjagten. 11

Einmal wollte ich zu Papa tapsen, über das dunkle Holz des 12

Fußbodens, das wie ein Loch unter mir klaffte, aber ich tat 13

es nicht. 14

„Aufstehen, Sohn! Heute wird ein anstrengender Tag!“ Papa 15

stand neben meinem Bett und öffnete die Fensterläden. Er war 16

ausgeruht wie seit langem nicht mehr und schien sichtlich 17

gut gelaunt. Seine freundliche Art beunruhigte mich, und ich 18

war froh, dass er mich nicht schlug, als ich zu spät zum 19

Frühstück erschien. Lächelnd erzählte er mir, er wolle in 20

die nächste Stadt fahren, um mich in einer Schule anzumelden 21

und Besorgungen zu machen. Ob es schlimm wäre, wenn er mich 22

für den Vormittag alleine ließe. Ich schüttelte stumm den 23

Kopf. Es war das erste Mal, dass er nicht über mich 24

entschied, sondern mit mir. 25

Erschöpft von der langen Nacht räumte ich den 26

Frühstückstisch ab. Das Haus mochte nicht sonderlich groß 27

sein, vermutlich sogar kleiner als unsere Wohnung in Köln, 28

dennoch kam ich mir verlassen vor. Monster lauerten im 29

Schatten. Gefräßige Bestien, mit großen, bösen Augen und 30

8

scharfen Zähnen. Wie so oft, wenn ich alleine war, hatte ich 1

Angst vor etwas, das nur in meiner Fantasie existierte. 2

Laut vor mich hin pfeifend, um die Monster fernzuhalten, 3

spielte ich mit den wenigen Legosteinen, die ich besaß. 4

Plötzlich ließ mich ein Schrei zusammenzucken. Erschrocken 5

spähte ich aus dem Fenster in meinem Zimmer. Regungslos lag 6

ein Junge mit dem Gesicht im Schlamm, vollkommen regungslos. 7

Blut strömte aus einer Wunde am Oberarm. Meine Angst vor den 8

Monstern war mit einem Mal vergessen. Achtlos sprang ich vom 9

Bett, stolperte, schlug mir die Knie blutig. Doch 10

seltsamerweise spürte ich den Schmerz überhaupt nicht. 11

Damals hatte ich nur an den da draußen gedacht. Vielleicht, 12

weil er mich ein bisschen ein mich selber erinnerte und mir 13

nie jemand geholfen hatte. Der fremde Junge bewegte sich 14

immer noch nicht, als ich mich neben ihn in den Dreck fallen 15

ließ. 16

„Hey…!“ Mit aller Kraft drehte ich ihn auf den Rücken. 17

Sein knochiges Gesicht war zerkratzt. Unter dem schmutzigen 18

Leinenhemd, welches er trug, konnte man die Rippen zählen. 19

„Hey…!“ Verzweifelt gab ich ihm eine Ohrfeige, eine leichte, 20

dann eine etwas härtere. Keine Regung. Nicht einmal ein 21

Zeichen, das mir sagte, dass er noch lebte. Eine Haustüre 22

wurde zugeschlagen. Hastig wollte ich davon rennen, doch ein 23

eisiger Griff hielt mich am Boden. „Niemand schlägt 24

Mathieu.“ Sekunden später hatte man mir die Beine weggezogen 25

und mich zu Boden geworfen. Widerstand war zwecklos. Als ich 26

versuchte, aufzustehen, wurde ich in den Matsch gedrückt, 27

bis ich keine Luft mehr bekam. Schließlich gab ich auf. Der 28

eben noch regungslos daliegende Junge reichte mir 29

anerkennend die Hand. Hast dich gut geschlagen, Neuling, 30

9

meinte er. Hinter ihm standen noch zwei weitere 1

dunkelhäutige Jungen, beide etwa zwölf Jahre alt, und ein 2

hellhäutiges Mädchen. Mit ihren haselnussbraunen Haaren, dem 3

Poloshirt und der kurzen braunen Hose wirkte sie älter als 4

neun Jahre. „Wollen wir für immer Freunde sein?“, fragte 5

mich der Junge, dem ich geholfen hatte. 6

Ich nickte. „Ja“ 7

Erst später begriff ich, dass „für immer“ eine sehr lange 8

Zeit sein kann. Eine Zeit, die man nicht planen konnte. Doch 9

damals waren für mich „für immer“ nur zwei Worte. 10

Wir vertrauten einander vom ersten Augenblick an. 11

Jedenfalls lud ich Mathieu, Kay, Karim und Benjim zu mir 12

nach Hause ein. Die vier würden von ihren Familien bis zum 13

Abend nicht vermisst werden. 14

Meine wenigen Spielsachen, die Legosteine, der 15

Kuschellöwen, die Modellautos und mein Gameboy Color wurden 16

zur Hauptbeschäftigung des Tages. Bisher ist mir nie bewusst 17

aufgefallen, welch ein bewundernswertes Leben ich - trotz 18

der ständigen Schläge - führen durfte. Denn außer Kay und 19

mir besaß niemand überhaupt solche „wertvolle Schätze“. Die 20

Familien der einheimischen Kinder waren oft sogar zu arm, um 21

sich richtig zu ernähren. An „schlechten“ Tagen, wenn die 22

harte Arbeit nicht genügend Lohn erbrachte, gab es nicht 23

einmal Ignames, das ein gestampfter Getreidebrei. Nur Wasser 24

oder Spenden, die seine älteren Geschwister aus der Stadt 25

mit nach Hause brachten, meinte Karim. Auch er ginge bald in 26

die Stadt, um zu betteln, denn trotz eigentlicher 27

Schulpflicht war eine Bildung zu teuer. Benjims Geschichten 28

waren ähnlich. Sie machten mich wütend und verlegen. Die 29

reichen Europäer warfen ihr Geld für einen teuren Fernseher 30

10

aus dem Fenster und Kilometer entfernt verhungerten 1

Menschen. Aber mein Zorn richtete sich vor allem gegen mich 2

selbst. Denn ich gehörte zu diesen Menschen. Wegen mir wären 3

meine neuen Freunde gestorben. Ich bot sofort an, meine 4

Spielsachen zu verkaufen. 5

Mathieu beruhigte mich. Es sei nicht meine Schuld. Seine 6

Eltern wären bei einem Unfall ums Leben gekommen. Selbst 7

wenn ich den Gameboy verkaufen würde, würde das seine Eltern 8

nicht zurückholen. 9

Fassungslos starrte ich in Mathieus aufrichtiges Gesicht. 10

Er hatte alles verloren, was ihm im Leben wichtig gewesen 11

war. Eigentlich hätte er einen Hass auf diese Menschen haben 12

müssen, einen Hass auf Menschen wie mich. 13

Doch er blieb ganz ruhig. „Eines Tages verschwinde ich von 14

hier und gehe nach Spanien…“ Spanien war der einzige Ort, 15

den er kannte. „… bis dahin wohne ich bei meinem Cousin 16

Karim.“ 17

An diesem Tag schworen wir alle, eines Tages aus dem Dorf 18

zu verschwinden, in eine Welt, in der es genügend zu essen 19

gab und niemand leiden mussten. 20

Doch was wir nicht ahnten war, dass dieser Tag schneller 21

kommen würde, als uns allen lieb war… 22

Mein Vater verbrachte nun mehr Zeit außerhalb des Dorfes. 23

Mir machte das nichts aus. Ich hatte Freunde zum Spielen 24

gefunden. In unserer Freizeit kletterten wir als Indianer 25

getarnt auf Bäume, um die Mütter nach dem Wasserholen zu 26

erschrecken, wenn wir nicht selbst zum Baden an den Fluss 27

liefen. Manchmal hockten wir auch im Schatten der Häuser und 28

erzählten Geschichten oder malten uns Abenteuer aus, die wir 29

eines Tages erleben wollten. Es war eine wunderschöne Zeit, 30

11

eine, wie ich sie selten erlebt hatte in der schmutzigen 1

Hochhaussiedlung im neunten Stock. In Köln hatte man nach 2

dem Kindergarten gemeinsam vor der Play Station oder einem 3

anderen Spielgeräten gesessen. Geradezu alle Spielplätze in 4

der Gegend waren nach geraumer Zeit asphaltiert oder zu 5

Wohnparks umgestalten worden. Grau, grau, alles nur grau. 6

Meine Freunde existierten nur auf dem Bildschirm. Visuell, 7

eine andere Verbindung gab es damals nicht zwischen uns. 8

Das Leben im Dorf war entbehrungsreich – vor allem für 9

meine Freunde. Doch ich genoss es, auch wenn Papa noch 10

weniger Zeit für mich zu haben schien. Wenn er wieder einmal 11

mitten in der Nacht nach Hause kam, schenkte er mir als 12

Entschuldigung meistens etwas Belangloses: Süßigkeiten, eine 13

Batterie für meinen Gameboy Color oder einen Kugelschreiber 14

- Dinge, die ich im Dorf weitergab. Schließlich hatten 15

einige bisher noch nie einen Lolli probieren können. 16

Mein Leben hätte nicht besser sein können. Schule, spielen 17

mit den Freunden im roten Paradies. Doch es kam der Tag, an 18

dem alles ein Ende finden sollte. Es war der 25. Mai, ein 19

besonderer Tag im Dorf. Keenan feierte Geburtstag. 20

Beim Frühstück meinte mein Vater, er müsse dringend 21

jemanden treffen, noch heute und könne mich nicht zur Schule 22

in die Stadt bringen. Mir war dies recht. So konnte ich 23

helfen, das Fest am Abend vorzubereiten. Wir saßen bis tief 24

in die Nacht um das Lagerfeuer im Dorf herum. Ein älterer 25

Mann spielte auf seiner Panflöte Volklieder, die ich nicht 26

kannte, die anderen sangen vergnügt mit. 27

Die Flammen vollführten ihren unendlich langen Tanz. Ich 28

gähnte herzhaft. Kay stieß mich von der Seite an und 29

lächelte unsicher. „Hast du Mathieu irgendwo gesehen?“ Ich 30

12

schüttelte den Kopf. „Nein, warum? Er meinte, er wolle 1

fischen.“ 2

„Es ist dunkel. Wie soll er da etwas fangen?“ 3

„Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er auch bei Karim. 4

Keine Sorge.“ Beruhigend legte ich ihr den Arm um die 5

Schulter. Sie war für mich zu einer kleinen Schwester 6

geworden, die beschützt werden musste. Eine der wichtigsten 7

Personen für mich in meinem neunjährigen Leben. 8

„Das ist es nicht, Tim.“ Ihre Stimme klang heiser an 9

meinem Ohr. „Ich habe solche Kopfschmerzen.“ 10

Besorgt starrte ich in ihre blauen Augen „Ist dir 11

schlecht? Hast du Bauchweh? Kay, sag doch irgendwas!“, 12

flüsterte ich erregt. 13

Merklich begann sie zu zittern. „Nein, nur diese 14

Kopfschmerzen.“ Ihre Lider flatterten. Sie drohte, nach 15

hinten zu kippen. Schweißperlen rannen über ihr heißes 16

Gesicht. Ohne zu zögern, riss ich sie vom Boden hoch. 17

Willenlos ließ sie es zu, vom Lagerfeuer weg Richtung Häuser 18

geführt zu werden. Es war eine sternenklare Nacht. Dunkel 19

und gefährlich. 20

„Tim“ Kays warmer Atem berührte meine Wangen. „Ich, ich 21

habe Angst.“ 22

Ein schwarzer Vogel, in der Dunkelheit nur als ein 23

Schatten erkennbar, schoss auf uns herab. Sekunden konnte 24

ich in die blutunterlaufenen Augen sehen, die voller Gier 25

auf ihr nächstes Opfer warteten. Aasgeier, sie waren immer 26

da, wenn jemand starb. Zu dieser Zeit machte ich mir noch 27

wenig Gedanken über solche Dinge. Erst später, als ich mich 28

oft mit dem Tod auseinandersetzen musste, verstand ich 29

allmählich. Im Dorf war es still, totenstill. Die Lieder 30

13

waren verstummt. Nur das gelegentliche Krächzen der Geier 1

durchbrach das Schweigen. 2

In meinem Hals kitzelte leichter Brechreiz, doch ich 3

unterdrückte meine Panik. Kay brauchte jemand, der sie 4

beschützte. Ich klopfte an ihrer Haustür, in der Hoffnung 5

ihre Eltern seien daheim; ich irrte. Meine Verzweiflung 6

wuchs mit jedem Augenblick, in dem wir alleine waren. Wäre 7

doch nur Papa hier! Papa, der lieber mit Fremden im Cafe 8

saß, anstatt mir zu helfen. Der Schlag traf mich mitten ins 9

Herz, doch er zeigte mir, wohin ich gehen musste: Nach 10

Hause. Hastig packte ich Kays Arm und zerrte sie zur Hütte 11

Sollte Papa mich nur am Morgen schlagen! Wie ein großer 12

Bruder legte ich meine Freundin auf das freie Bett in meinem 13

Zimmer, deckte sie zu und betete, dass sie wieder gesund 14

werden würde. 15

Ich selbst legte mich ins Bett, beobachte wie sich ihr 16

Bauch langsam unter der Decke senkte. 17

Stimmen. Schritte. Mit geöffneten Augen blieb ich einen 18

Moment völlig bewegungslos auf dem Rücken liegen. Kratzen, 19

ein Klopfen. Drei Uhr. Noch mehr Stimmen. Vorsichtig rollte 20

ich mich vom Bett und schlich schlaftrunken zum Fenster. 21

Wilde Schatten strichen über die Wände. Das Dorf war in das 22

harte, weiße Licht eines Scheinwerfers getaucht. Ein 23

entsetzter Schrei. Was war bloß los? 24

Meine aufsteigende Angst wandelte sich in Unbehagen. 25

Wieder ein Raubtierüberfall? 26

Halb verborgen im Schatten beugte ich mich etwas weiter 27

hervor, um besser sehen zu können. Einige Dorfbewohner 28

versammelten sich um einen Jeep. Die Art, wie sie sich 29

bewegten, beunruhigte mich. Zu hektisch. Eine Mutter drängte 30

14

ihre Kinder ins Haus zurück. Langsam kletterte ich durch das 1

geöffnete Fenster, bedacht Kay und meinen Vater dabei nicht 2

aufzuwecken. Meine rechte Hand tastete nach dem hölzernen 3

Wassertank neben dem Haus. Leere, nichts als Leere. 4

Verzweifelt versuchte ich, Halt zu finden. Ohne Erfolg. 5

Rasend stürzte ich in die braune Tiefe hinab. Ich wollte 6

nach Hilfe rufen, doch mein Schrei wurde in der Kehle 7

erdrückt. 8

Der harte, plötzliche Aufprall trieb mir alle Luft aus der 9

Lunge, sodass ich glaubte, sämtliche Rippen gebrochen zu 10

haben. Ich japste. Blut rann aus meinem Mundwinkel. Das 11

kalte Licht berührte meine brennenden Wangen. Ein langer, 12

dunkler Tunnel öffnete sich mir. Tausende Farben 13

explodierten in meinem Kopf. Magentarot, violett, jadegrün, 14

blau, türkis, goldbraun,… 15

Atme… Entsetzt schlug ich die Augen auf. Atme… Wohltuend 16

sog ich die kühle Luft in meine Lungen, wobei ich mich mit 17

schmerzverzerrtem Gesicht aufsetzte. Die Menschenmenge 18

lauschte seit meinem Sturz bewegungslos einem Todesengel, 19

wie ich ihn später nannte. 20

„… keine Rettung… unser herzliches Beileid…“ 21

Die Wahrheit traf mich plötzlich wie ein Schlag. Ich 22

konnte sie an der Haltung der beiden Polizisten ablesen, die 23

verlegen und unglücklich vor ihrem Jeep standen. Und an dem 24

Tonfall der Menschen, einen, den sie anschlagen, wenn sie 25

eine schreckliche Nachricht überbringen müssen. 26

Doch erst Stunden später, als ich neben Kay am Fluss saß 27

und beobachtete, wie sich das blutrote Morgenlicht über die 28

schlammigen Wege des Dorfes ergoss, begann ich allmählich zu 29

begreifen. Mein Papa war im Himmel. Bei den Engeln und dem 30

15

lieben Gott. Der Mann, der mich jahrelang geschlagen hatte, 1

diesen Mann gab es nun nicht mehr. Einen Unfall, hatten die 2

schwarzen Engel gemeint, ein tödlicher Unfall. Wegen zu 3

hoher Geschwindigkeit hätte Marc River die Kontrolle über 4

den Wagen verloren und einem näher rasenden Baum am 5

Straßenrand nicht mehr ausweichen können. Die staubige und 6

einsame Landstraße, umgeben von tausend Pflanzen, deren 7

Namen nicht einmal ein Professor kennen mochte, überall mit 8

denselben Unebenheiten. In Deutschland hatten sie Papa nicht 9

ein einziges Mal wegen zu schnellem Fahren angehalten. Mein 10

Vater war ein vorsichtiger Fahrer. Warum also sollte er die 11

Kontrolle verloren haben? Je mehr ich darüber nachdachte, 12

desto weniger glaubte ich, dass Papa bei dieser letzten, 13

tödlichen Fahrt wirklich verunglückt war. 14

„Tim?“ 15

Erstaunt blickte ich auf und merkte, dass Kay mich von der 16

Seite anstarrte. Offenbar hatte sie mich etwas gefragt. 17

Verlegen strich ich mit der Hand über meine Stirn. „…Ähm… 18

was?“ Das Mädchen seufzte. „Hab ich dir doch schon dreimal 19

gesagt, Tim. Meine Eltern wollen mit mir in die Stadt 20

fahren.“ Vorsichtig stand sie auf. „Danke, dass du gestern 21

für mich da warst. Du musst auch mal bei mir schlafen“ 22

Ich nickte knapp. Die Enttäuschung, ganz alleine zu sein, 23

schmerzte sehr. Erst Mama, dann Papa und jetzt verließ mich 24

auch noch Kay. Niemand war mehr für mich da, wenn ich Hilfe 25

brauchte. Wenn ich fiel und mir die Knie blutig schlug. Wenn 26

eines meiner Modelautos kaputt ging. Wenn ich weinte oder 27

Angst im Dunkeln hatte. Ich war alleine. Alleine, alleine. 28

Lieber Gott, warum? Tränen liefen über meine Wangen. Warum? 29

Meine Hände verkrampften sich im heißen Sand. Ich fiel auf 30

16

die Knie und weinte vor Zorn und Verzweiflung. Die Sonne 1

brannte unbarmherzig auf mich herab. 2

„Timmy?“ Verwundert sah ich auf. Eine Frau strich mir 3

zärtlich das Haar aus der Stirn. Sie war meine Mutter und 4

ich wusste es. Ich versuchte, aufzustehen, doch meine Beine 5

gaben nach. Mama! Die Frau lächelte traurig. Erneut 6

versuchte ich, ihre Hand zu greifen, doch irgendetwas zog 7

mich zurück. Langsam verblasste die Gestalt. Mama! Nein, ein 8

faltiges Gesicht schob sich vor meines. Mama! Wo bist du? 9

Raue Hände rissen mich hoch, aber ich war zu erschöpft, um 10

Widerstand zu leisten… 11

Mama, Papa! Wo seid ihr? Eine unerwartete Stille hatte 12

eingesetzt, tödliches Schweigen. Dann der dumpfe Aufprall 13

eines Buches auf dem Holzboden, wieder gefolgt von 14

unaufhörlicher Stille. 15

„Tim...?“ Eine rauhe Hand strich mir sanft über die 16

brennende Wange. 17

Diese zitternde Stimme... Kay? Erleichtert wollte ich mich 18

aufrichten, doch eine Hand drückte mich zurück. 19

Kopfschütteln. 20

„Hör zu, Tim. Ich möchte mit dir reden.“ Eine geduldige 21

Männerstimme. 22

Im Winkel meines Blickfeldes bemerkte ich, wie Kays Vater 23

seine Tochter widerstrebend aus der Hütte führte. Sekunden 24

später fiel die Tür ins Schloss. 25

Mein Blick wanderte zu Keenan, dem Dorfältesten, der auf 26

dem Boden neben meiner Decke kauerte. Wir schwiegen eine 27

Weile, vermutlich, weil der Mann nach den richtigen Worten 28

suchte. Seine Hände zitterten. 29

17

„Tim“, meinte er nach einiger Zeit, „Es tut mir leid, was 1

mit deinem Vater passiert ist.“ Ich schüttelte stumm den 2

Kopf. Niemand konnte etwas für den Tod von Papa. Gott 3

alleine hatte es so gewollt. 4

„Ich habe ihn sehr gemocht. Genauso wie ich dich mag, Tim“ 5

Er stockte unsicher, dann fuhr er fort: „In meinem Leben 6

habe ich sehr viele Menschen verloren, an denen ich hing. 7

Meine Eltern starben an einer Krankheit, als ich gerade mal 8

zehn Jahre alt war, also ein wenig älter war als du. Diese 9

Krankheit, Aids, ist unheilbar. An ihr sind später auch zwei 10

meiner jüngeren Schwestern gestorben, weil sie Männer in der 11

Stadt vergewaltigt haben. Ich weiß, das alles ist sehr 12

schwer zu begreifen für einen Jungen in deinem Alter. Für 13

dich ... für dich hat das Leben doch gerade erst begonnen!“ 14

Keenan streichelte mir lächelnd über die Wange. Ein 15

Zittern durchfuhr meinen Körper 16

Es waren nicht die Wörter, die mir Angst einjagten, 17

sondern der Tonfall, den der Älteste angeschlagen hatte. 18

„Was wird jetzt aus mir?“, fragte ich leise, obwohl ich 19

wusste, dass mir die Antwort nicht gefallen würde. 20

„Da du in Deutschland geboren bist, wird man dort deine 21

Verwandten benachrichtigen und dich zurückfliegen lassen, 22

wenn jemand gefunden worden ist, der dich aufnimmt.“ 23

„Ich habe keine Verwandten. Meine Oma ist vorletztes Jahr 24

gestorben und die Familie meiner Mama ist weggezogen, als 25

ich noch sehr klein war.“, erklärte ich, wobei ich mich 26

bemühte, nicht zu weinen. Es war mir peinlich, wie ein 27

kleines Kind zu schluchzen. 28

„Das, das tut mir leid.“ 29

„Schon okay . Ich komme alleine klar.“ 30

18

„Wie alt bist du, Tim?“, fragte Keenan und setzte sich 1

neben mich auf die Decke. 2

„Neun Jahre und 10 Monate.“ 3

„Weißt du, es gibt nicht viele Kinder in deinem Alter, die 4

so tapfer sind wie du. Einige verändern sich. Werden wütend 5

oder verkriechen sich dauerhaft. Ich möchte dir helfen.“ 6

„Danke! Es ist nur so, dass ich Angst davor habe, alleine 7

zu sein.“ 8

„In Deutschland soll es schöne Kinderheime geben, in denen 9

sich immer jemand um dich kümmern kann…“ 10

„Nein, Keenan, ich will hier bleiben.“ Innerlich ich 11

fühlte mich wie betäubt. Nicht schon wieder aufgeben. Kay, 12

Mathieu, ich brauchte sie doch so. 13

Keenan legte mir den Arm um die Schulter. Seine Fürsorge 14

beruhigte mich ein wenig. 15

„Wegen Kay?“ 16

Ich nickte langsam. „Sie ist so etwas wie meine kleine 17

Schwester, glaube ich.“ 18

„Dachte ich mir doch, dass ihr aneinander hängt. Sag, wie 19

kommst du mit ihren Eltern klar?“, erkundigte sich der Mann. 20

„Ganz gut. Sie sind nicht oft zuhause. Aber mein Papa hat 21

sie gut gekannt. Arbeitet Josefine nicht in einem Hotel in 22

Lomé?“ 23

„Ja. Ich werde mit Kays Vater reden. Vielleicht lässt sich 24

eine Möglichkeit finden, dass du doch nicht zurück nach 25

Deutschland musst.“ 26

Verschwörerisch zwinkerte mir Keenan zu und erhob sich 27

ächzend. „Kay? Nicolai?“ 28

Sofort stürmte Herr Brown in die Hütte, dicht gefolgt von 29

seiner Tochter, die jedem meiner Blicke auszuweichen 30

19

versuchte. Der Mann, seltsamerweise nicht in Arbeitskleidung 1

sondern in weißem Hemd und kurzer Hose, schenkte mir ein 2

erleichtertes Lächeln. Seinen gestressten Gesichtsausdruck 3

schien er allerdings auch nicht in seiner Freizeit ablegen 4

zu wollen. Widerwillig hockte sich Kay neben mich auf die 5

Decke, während die Erwachsenen das Zimmer verließen, um 6

ungestört über meine Zukunft reden zu können. 7

Wir schwiegen. Mit jedem Augenblick, der verstrich, stieg 8

meine Nervosität. Würden sie mich in Deutschland in eines 9

dieser riesigen, dunklen Häuser stecken? In denen man auf 10

den Fluren die Schreie immer wieder hören kann? In denen man 11

durch eine Mauer von den anderen Spielplätzen und Kindern 12

weggesperrt wird? Und in denen man sich immer wieder 13

verlief? 14

Ich spürte, wie Kay meine Hand nahm. „Wirst du jetzt auch 15

weggehen?“ Ihre Stimme zitterte. Zum ersten Mal sah sie mich 16

direkt an. In ihren Augen bildeten sich Tropfen, die man 17

Tränen nannte. Unbeholfen legte ich den Arm um ihre 18

Schulter. Wie Bruder und Schwester. „Wirst du weggehen?“, 19

flüsterte sie nach einer Weile in mein Ohr. Kopfschüttelnd, 20

gleichzeitig nickend zuckte ich die Achseln. Verwirrung, 21

Verzweiflung, Angst. Ich wusste es nicht, ich wusste es 22

einfach nicht. Die dumpfen Stimmen der Erwachsenen erklangen 23

hinter der Holztüre. Aufgebracht schlug jemand mit der Faust 24

auf einen Tisch. Kay stand zögernd auf und legte meine Hand 25

auf ihre Brust. „Du bist immer da drin, egal wo du bist.“ 26

Durch den dünnen Stoff ihres T-Shirts spürte ich ihren 27

leichten Herzschlag. Es war ein bedeutender Augenblick in 28

meinem Leben. Warum, verstand ich nicht. Doch ich wusste, 29

dass ich ihn nie vergessen würde. „Und du bist mein 30

20

allerbester Kumpel.“, fügte ich seltsam aufgeregt hinzu. 1

Stille. Nur unsere Herzschläge. Schließlich griff Kay in 2

ihre Hosentasche und zog einen kleinen Holzschwan hervor. 3

„Den kannst du haben.“ Ich schüttelte entsetzt den Kopf. 4

Dieses Tier bedeutete ihr genauso viel wie mir mein 5

Kuscheltierlöwe! „Du kannst ihn haben. Wirklich!“ Sie rieb 6

mit einer Hand ihr Auge, mit der anderen drückte sie mir ihr 7

Spielzeug an die Brust. Es war ein wunderschöner Schwan, aus 8

weißen Holz geschnitzt und mit großen braunen Augen, die 9

erwartungsvoll in die Zukunft blickten. Augen, wie Kay sie 10

hatte. Damals habe ich mir immer wieder eingebildet, diese 11

komische Liebe gäbe es nur zwischen Erwachsenen, nicht 12

zwischen uns. Aber es war wahr, ich habe es nur nicht 13

begriffen. Ich habe dieses Wesen vor mir geliebt, geliebt 14

nicht nur wie eine Schwester. 15

In meinem Blickwinkel bemerkte ich den Löwen. Meinen 16

Löwen. Den Löwen, den Mama mir geschenkt hatte, kurz bevor 17

sie uns verlassen hatte, um zu den lieben Engeln in den 18

Himmel zu gehen. Sollte ich…? 19

Ruckartig wurde die Türklinge herunter gedrückt. Die 20

beiden Erwachsenen senkten den Kopf, um mich nicht ansehen 21

zu müssen. Doch ihre Haltung machte mir bewusst, dass ich 22

verloren hatte. Mama, Papa und Kay. 23

„Dad! Tim darf doch bei uns bleiben, oder?“ Herr Brown sah 24

seine Tochter mit einem Gemisch aus Verständnis und 25

Gleichgültigkeit an. Dadurch, dass er die Frage nicht 26

beantwortete, schien sie auch nicht aus dem Raum zu 27

verschwinden. Immer und immer wieder tauchte sie in meinen 28

Gedanken auf. Tim darf doch bei uns bleiben, oder? Diese 29

Ungewissheit machte mich nervös. Ich musste es wissen. 30

21

„Du willst mich nicht, stimmt‟s?“, fragte ich trotz meiner 1

Angst, die Wahrheit zu erfahren. Solange es nicht 2

ausgesprochen war, blieb mir wenigstens die Hoffnung. 3

Verzweifelt wanderte Herr Browns Blick zu Keenan, der 4

bewegungslos in der Tür stehen geblieben war. 5

„Tut mir leid, Tim. Es geht nicht.“, flüsterte der alte 6

Mann mitfühlend. Ich nickte knapp. Nicht entsetzt, nur ein 7

wenig verwirrt. Vielleicht, weil ich damals noch nicht 8

verstanden habe, was dieses „Es geht nicht“ bedeutete. Für 9

mich war es ein „Es geht nicht“ gegen ein Spiel oder eine 10

Süßigkeit. Nicht ein „Es geht nicht“ für immer. Ich hatte es 11

geahnt und doch immer wieder verdrängt. Erst Kay zeigt mir, 12

wie ernst es war. Ihren Körper durchfuhr ein Zucken, wie 13

das, wenn man mit der Zunge über eine Batterie leckt. 14

„Was!?“, schrie sie aufgeregt. 15

Die Grüne eines Froschs stieg ihr ins Gesicht. Sie drohte; 16

sich zu übergeben. Ich wollte ihr helfen, doch meine Hände 17

fühlten sich seltsam taub an. Auch meine Füße wollte mir 18

nicht mehr gehorchen. Speichel tropfte auf den Fußboden. 19

Herr Brown stürzte auf seine Tochter zu und führte sie 20

wehrlos aus dem Haus, Richtung Wagen. 21

„Warum?“, fragte ich leise, „Warum darf ich nicht bei Kay 22

bleiben?“ 23

Ein Automotor heulte auf. Durch das Fenster konnten wir 24

erkennen, wie Kays Vater den Rückwärtsgang einlegt. 25

Augenblicke später Staub wurde aufgewirbelt. Als er 26

verschwand, war Kay wie die Sandkörner davon geblasen 27

worden. Widerstandslos. Einfach weg. 28

„Wenn du erwachsen bist, wirst du es verstehen.“ Tröstend 29

wollte Keenan den Arm um mich legen, doch ich stieß ihn von 30

22

mir. Sie hatten mir das Letzte genommen, was mir noch 1

geblieben war: Meine Freunde. Wenn du erwachsen bist - ist 2

die Welt immer noch so, wie sie ist. Rund und mit vielen 3

ekligen Menschen, die dir nicht helfen können oder wollen! 4

Ich hasse euch! Euch alle! Meine Angst wandte sich zur 5

dumpfen Wut, die mir langsam in den Kopf stieg. Niederlagen 6

häuften sich. Erbost stand ich vor Keenan, mit aufgeplatzten 7

Lippen, geöffnete zu einem Schrei, der augenblicklich in 8

meiner Kehle erstickt wurde. 9

Tränen schossen mir in die Augen, doch diesmal 10

unterdrückte ich sie nicht. Sollten diese Monster doch nur 11

denken, was sie wollten! Ich war doch erst neun! In Keenans 12

Blick lag etwas Mitfühlendes, doch das war mir egal. Er hat 13

mir nicht geholfen, als es nötig war, also brauchte er mich 14

auch jetzt nicht, zu bemitleiden. 15

„Tim, es…“, fing er mit seiner rauen Stimme an. Ich 16

wusste, was er sagen wollte. Instinktiv wusste ich es. Es 17

tut mir Leid. Aber davon konnte ich meinen Vater und Kay 18

auch nicht zurückholen. Erst jetzt begann ich allmählich 19

wirklich, um Papa zu trauern. 20

Bisher war es für mich ein Traum, ein Albtraum, doch ich 21

verstand, dass es ein Albtraum war, aus dem ich nie wieder 22

erwachen würde. Nie wieder. 23

Warum? Reichte es dir nicht, Gott, dass du schon Mama und 24

Oma hattest? Brauchtest du auch noch Papa? Warum hilfst du 25

mir nicht? Bin ich dir nicht so viel wert wie andere? Okay, 26

ich gebe zu, ich habe einige schlechte Dinge im Leben getan. 27

Ich habe das letzte Weihnachten versaut, weil ich Mamas 28

Engel fallen gelassen habe. Papa hat mich fürchterlich 29

geschlagen und gesagt, du würdest mich dafür bestrafen. Aber 30

23

ich wollte das doch alles gar nicht! Und das mit Hendriks 1

Rittersporttäfelchen. Die hatte ich auch nicht klauen 2

wollen. Wirklich nicht. Ich bin doch kein Dieb! Wenn du böse 3

auf mich bist, warum hast du dann Papa genommen und nicht 4

mich? Er hat nie etwas Ungerechtes getan, Gott. Er war doch 5

mein Papa! 6

Warum hast du ihn tot gemacht? Sag es mir! Warum? 7

„Tim? Kleiner, beruhige dich. Alles wird gut.“ 8

Augenblicklich kehrte ich in die Wirklichkeit zurück und 9

mit mir meine Wut. 10

Papa ist tot. Und ihr alle, ihr seid schuld daran! Ich 11

konnte nicht mehr. Aus, aus, aus. Das Spiel ist aus. 12

Deutschland ist nicht Fußballweltmeister. Erbost schnappte 13

ich mir den Kuscheltierlöwen und stürmte aus der Hütte, ohne 14

von Keenan aufgehalten zu werden. 15

Im Dorf war niemand zu sehen. Benjim und Karim waren mit 16

den älteren Kindern zum Betteln in die Stadt gelaufen, 17

während ihre Eltern auf dem Feld arbeiten. Mathieu trieb 18

sich seit Tagen am Fluss herum, um zu angeln, sowie es sein 19

Vater getan hatte, bevor auch Gott ihn in den Himmel geholt 20

hatte, obwohl er bisher kaum etwas Bedeutendes fing. 21

Der heiße Sand brannte unter meinen Füßen, als ich jetzt 22

zum Fluss rannte, zu dem Einzigen, der mich neben Kay noch 23

verstand. Schweiß rann über mein Gesicht. 24

In der kahlen Krone eines alten Baumes hockten die 25

Aasgeier. Kreischend lauerten sie auf ihr Opfer. Versteckt 26

in einer Nichte, streckten die Jungen ihre Hälse und 27

bettelten um Futter, bis die Eltern mit Fleisch zurückkamen. 28

Karim und Benjim hatte einmal Steine nach den Vögeln 29

24

geworfen und eines der Tiere erwischt. Dafür habe ich sie 1

gehasst. 2

Mathieu hockte auf einem Stein. Als ich hinter einem Baum 3

hervortrat, verfolgten seine klugen, dunklen Augen neugierig 4

jede meiner Bewegungen. Grinsend klopfte er neben sich auf 5

den Boden. Seine offene Art unterschied ihn deutlich von den 6

anderen Dorfbewohnern, die sich gegenüber Fremde 7

misstrauisch und distanziert verhielten. Vermutlich, weil 8

sein großer Traum, eines Tages zu verschwinden, immer noch 9

existierte. 10

„Willst du mal sehen, was ich gefunden habe, Timothy?“ 11

Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung, als ich 12

mich neben ihn auf den Stein hockte. 13

Stolz hob er den Deckel einer alten Blechbüchse. Eine 14

Münze, ein wahrer Schatz für jemanden, der so arm war wie 15

Mathieu. 16

„Wenn ich morgen in die Stadt gehe, kaufe ich uns was 17

richtig Tolles zum Essen. Du kannst auch kommen, wenn du 18

willst.“ 19

„Okay.“ Reflexartig wandte ich mich ab. Denn ich wusste, 20

er würde bemerken, dass ich log, wenn er mir in die Augen 21

sah. Die Sonnenstrahlen, die vom Wasser zurückgeworfen 22

wurden, blendeten uns. 23

„Du kommst nicht, oder?“ Mathieus freie Hand umklammerte 24

meine Schulter. Weiß trat der Knochen durch die dünne, 25

hellbraune Haut hervor. 26

Schweigen. Was sollte ich auch sagen, wenn ich die Antwort 27

selber nicht einmal begriff? 28

Ich muss zurück nach Deutschland, weil die Erwachsenen es 29

so wollten? 30

25

Die Geier kreisten über uns. Einer schoss herab aufs 1

Wasser, bohrte seine Klauen in den Körper eines Fisches und 2

trug das hilflos zappelnde Tier davon. Mitfühlend sah ich 3

dem Fisch nach. Zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. 4

Er würde heute Abend nicht mehr zu seinen Eltern und Kinder 5

zurückkehren. Nie mehr. Dafür würde der Vogel überleben. 6

Fressen oder gefressen werden… 7

„Mathi ... Ich ... Mein Vater ist letzte Nacht gestorben 8

und Keenan will nicht, dass ich bleibe.“ Es fiel mir schwer 9

darüber zu reden, obwohl ich wusste, dass mein Freund mich 10

verstand. Seine Eltern sind irgendwann abends auch nicht 11

mehr von der Arbeit nach Hause gekommen, so wie viele 12

andere, die er aus dem Dorf kannte. Gerüchte, dass sie einen 13

Unfall gehabt hätten, waren herumgegangen. Mathieu jedoch 14

glaubte ihnen nicht. In seinen Gedanken leben seine Eltern 15

in einer besseren Welt mit viel Essen und wenig Angst. 16

„Du willst abhauen, ohne mich mitzunehmen? Was für ein 17

Feigling bist du denn?“ 18

Erbost rammte er mir den Ellbogen in den Bauch und sprang 19

auf. 20

„Ich bin kein Feigling.“, erwiderte ich verbittert. Mein 21

Magen verkrampfte sich an der Stelle, an der Mathieu mich 22

getroffen hatte. Ein Tränenschleier ließ das Bild 23

verschwimmen. 24

Mathieu war in einiger Entfernung stehen geblieben, den 25

Blick von mir abgewandt, als existiere ich nicht. „Ich 26

dachte, wie wären Freunde.“ Verzweifelt versuchte ich, ein 27

Schluchzen zu unterdrücken. Indianer weinen doch nicht! 28

Mathieu lachte. „Und da fragst du mich nicht, ob ich mit 29

dir abhaue?“ 30

26

„Du willst mitkommen?“ Mein verwirrtes Gesicht musste ihm 1

verraten haben, dass ich es ihm nicht abnahm. 2

„Klar. Großes-Spanien-Ehrenwort!“ Grinsend hob er Zeige- 3

und Mittelfinger zum Eid, sowie wir es immer getan haben, 4

als wir vor Wochen - oder waren es Monate gewesen? - im 5

Schatten der Häuser von den Abenteuer und Geschichten 6

erzählt hatten, die wir eines Tages erleben wollten. Wenn 7

ich heute darüber nachdenke, frage ich mich, warum damals 8

nicht einfach die Zeit hätte stehen bleiben können. Und 9

immer wenn ich mich danach gesehnt hätte, wieder auf Bäume 10

zu klettern und Indianer zu spielen, wären meine Freunde da. 11

Karim, Benjim, Mathieu und Kay. „Hör zu. Wir treffen uns um 12

Mitternacht hinter deiner Hütte. Pack ein paar Sachen 13

zusammen und Geld…“, fuhr der Junge fort, wobei er mit einem 14

Stock in den Sand malte. 15

„Aber ich kann doch nicht Papa beklauen!“, stieß ich 16

erschrocken hervor, widerwillig ablenkend, was ich da gerade 17

gehört hatte. Mathieu verlangte doch nicht etwa von mir, 18

dass ich zum Dieb werde! 19

„Dein Vater braucht das Geld, dort wo er ist, nicht mehr. 20

Aber da, wo wir hingehen…“ 21

„Wohin willst du?“ 22

Mathieu zuckte mit den Schultern „Weiß nicht. Einfach weg 23

von hier.“ 24

„Okay.“ 25

„Aber den anderen erzählen wir nichts davon.“ 26

„Auch nicht Kay?“ 27

„Nein. Die ist eine Petze.“ 28

Instinktiv wollte ich Kay beschützen, doch ich musste 29

widerstrebend zu geben, dass sie uns wahrscheinlich 30

27

tatsächlich aufgehalten hätte. In Dingen, wie diesen, waren 1

wir immer verschiedener Meinung gewesen. Vermutlich weil Kay 2

ein Mädchen war und zwar das Erste, mit dem ich je gespielt 3

habe. Wäre ich auch damals in Köln mit einer Freundin nach 4

Hause gekommen, hätte Papa mich lachend in der Tür empfangen 5

und spöttelnd gesagt: „So ein kleines Weichei und doch schon 6

eine Freundin.“ 7

Hier in Afrika schien es ihn nicht mehr zu interessieren, 8

mit wem ich zusammen war. 9

Überhaupt schien es ihm egal, was die Menschen von ihm 10

hielten. Hauptsache, niemand klaute ihm seine Pfeife, die er 11

seit unserer Ankunft beinahe immer zwischen den Zähnen trug. 12

Gelegentlich stieg eine betörende Rauchwolke auf, die mich 13

oft schläfrig gemacht hatte. Diese Pfeife sei nichts für 14

kleine Kinder, hat er mir immer wieder eingebläut. „Warum 15

nicht, Papa?“ Mein Vater hat sich abgewendet, die Pfeife an 16

seine Lippen genommen. Momente habe ich geglaubt, er werde 17

mich nun schlagen. Doch seine Muskeln haben sich entspannt 18

und er hat, ohne mich anzusehen, die Achseln gezuckt, 19

während erneut eine Wolke über seinem Kopf aufgestiegen ist. 20

„Weil es so ist, Tim.“, hat er ruhig gemeint, sich auch das 21

Bett gelegt und auf dem Rücken liegend zur Decke gestarrte, 22

„Geh jetzt spielen. Deine Freunde warten sicher schon auf 23

dich.“ 24

Allmählich habe ich begriffen, dass mein Vater zuerst 25

Haschisch und später auch Marihuana abhängig gewesen war. 26

Dies ist für mich der wahre Grund, warum er sterben musste. 27

„Tim? Hey, bist du da?“ 28

Mathieus Stimme holten mich aus meinen Erinnerungen 29

zurück. Mit besorgter Miene klopfte er auf meine Schulter. 30

28

„Wenn es unbedingt sein muss, kannst du es Kay sagen. Aber 1

nur Kay, verstanden?“, fuhr er seufzend fort und holte 2

erneut die leere Leine ein. 3

Ich nickte. „Okay.“ 4

Ein Geier landete unmittelbar vor unseren Füßen. Wie ein 5

König, schritt er, das braune Gefieder angelegt, wie einen 6

teuren Mantel, über das Sandmeer, welches sich wie ein 7

Königreich unter seinen scharfen Krallen beugte. In seinem 8

gierigen Schnabel hingen blutige Fetzen des letzten Opfers. 9

Mein Blick folgte dem listigen Vogel, einem Tier, das sich 10

den Tod eines anderen zu Nutzen machte. Widerwillig musste 11

ich zugeben, dass es mich faszinierte. Die Geier fraßen nur 12

diejenigen, die schon tot gemacht worden waren. Ob sie auch 13

Papa stückweise in ihren hungrigen Mäulern trugen? 14

Augenblicklich kitzelte der Brechreiz in meinem Hals. 15

Rasch sprang ich auf. „Ich muss gehen. Bis um Mitternacht 16

dann.“ Der bittere Geschmack lag immer noch auf meiner Zunge 17

„Aber verschlaf nicht! Sonst wachst du einen Kopf kurzer 18

wieder auf.“ 19

Ich grinste. Diesen Spruch hatte ich schon öfters gehört, 20

nur mit dem Unterschied, dass Papa ihn immer ernst genommen 21

hatte. Im Blickwinkel bemerkte ich einen Aasgeier, 22

denselben, der noch zuvor über den Sand stolziert war. Nun 23

landete er mit solcher Eleganz auf dem Wasser, dass er mir 24

beinahe wie ein Mensch vorgekommen wäre. Die klugen, dunklen 25

Augen spähten auf die glitzernde Wasseroberfläche. Scheinbar 26

zufrieden räkelte er die Feder im Licht der glühenden Sonne 27

und stieß einen Schrei aus. 28

„Kann Kay nicht mitkommen?“, fragte ich im Fortgehen. Mir 29

gefiel die Vorstellung nicht, dass sie alleine 30

29

zurückzulassen. Bei diesen dummen, ekligen Menschen, die uns 1

sowieso nicht verstanden. 2

„Glaubst du, ihr Vater würde sie gehen lassen?“ 3

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber…“ Aber wenn er Kay 4

wirklich lieben würde, dann ja. Dann würde er auch 5

verstehen, wie sie sich fühlt, wie ich mich fühle. 6

„Siehst du.“, unterbrach mich Mathieu achselzuckend und 7

warf erneut die Leine aus. Ehrgeizig wie beim ersten Mal, 8

obwohl er ahnen musste, dass er nichts fing. 9

„Du magst sie nicht, oder?“ Warum bist du immer so 10

abwertend gegenüber Kay? Weil sie aus Schottland kommt und 11

mehr besitzt als du? Warum hasst du dann nicht auch mich, 12

Mathieu? 13

„Sie ist ein Mädchen und Mädchen sind nun mal… anders. 14

Seltsam halt. Sie brauchen ständig einen Beschützer und, 15

glaub mir, für Kay ist es das Beste, wenn sie uns nicht 16

folgt. Da draußen gibt es böse Menschen, die ihr wehtun 17

könnten und…“ 18

„Kay kann prügeln.“ Energisch hob ich mein T-Shirt und 19

deutete auf einen langen Kratzer am Rücken: „Hier.“ 20

„Du bist blöd, Tim, wenn du denkst, es ginge nur ums 21

Prügeln. Dein Vater… Bist du sicher, dass er einen Unfall 22

hatte?“ 23

Seine Frage irritierte mich. Dein Vater… Bist du sicher, 24

dass er einen Unfall hatte? 25

„Lass Papa aus dem Spiel!“, brüllte ich zornig. 26

„Schon gut. Reg dich nicht gleich so auf. Aber ich würde 27

mal darüber nachdenken.“ 28

„Nur weil deine Eltern dich im Stich gelassen haben, 29

müssen meine dies nicht auch tun!“ 30

30

Ohne ein weiteres Wort wandte Mathieu sich ab und starrte 1

schweigend auf die wie ein Diamant glänzende Wasserschlange 2

herab, die sich Richtung Norden davon schlängelte. 3

Es war seltsam, dass er nichts sagte. Kein Wort. Ich 4

wartete, doch er schwieg. Ob er traurig war, weil seine 5

Eltern ihn alleine gelassen haben? 6

„Ich gehe. Bis heute Abend.“ 7

Immer noch keine Regung. "Mathieu, rede mit mir!", formten 8

meine Lippen, doch ich bekam keinen Ton heraus. Surrend 9

landete ein Insekt auf dessen brauner Haut, stach den langen 10

Rüsseln in das Fleisch und saugte, wie ich am Strohhalm 11

eines Capri Sonne, genüsslich das rote Sirup. 12

13

Die Hütte erschien mir leer, seit Vater fort war. Niemand 14

erwartete mich, um mir zu sagen, dass ich großen Ärger 15

bekommen würde, weil ich zu spät nach Hause kam. Niemand lag 16

auf dem alten, abgenutzten Sofa und rauchte an der Pfeife, 17

während ich am Tisch saß und in dem Essen von gestern 18

herumstocherte. 19

Das Holz knarrte unter meinen bloßen Füßen. Die 20

verbleichte Blumentischdecke, die als Vorhang diente, 21

flatterte im aufkommenden Wüstenwind. An der Wand neben der 22

Küchenuhr hing noch der Kalender mit den teuren Autos. 23

Vorsichtig nahm ich ihn zur Hand und kletterte auf das Sofa. 24

In viele Kästchen waren fremde Namen gekritzelt. Meinen 25

eigenen entdeckte ich nirgends. Der 25. Mai war rot umkreist 26

und in seiner Mitte stand eine wirre Kombination aus 27

Buchstaben und Zahlen. Kamikaze. Papa hatte oft seltsame 28

Zaubersprüche gesagt oder geschrieben, seit er 29

herausgefundenen hatte, dass ich besser lesen und schreiben 30

31

konnte, als normale Kinder in meinem Alter. Daheim in 1

Deutschland habe ich immer geglaubt, mein Vater sei ein 2

Zauber, wenn er sich in seinem Arbeitszimmer einschloss, um 3

ungestört zu sein. Manchmal habe ich deshalb an der Tür 4

gelauscht und Gespräche mit einem komischen Mann 5

mitbekommen. Einen Papagei, wie ich ihn nannte. Er hat immer 6

alles nachgeplappert, was Papa ihm erzählte, und damit 7

später richtig Kohle gemacht. Jedes Mal wenn dann Papa von 8

der Arbeit nach Hause gekommen ist, hat er seine Wut an mir 9

ausgelassen und mir eingebläut, nicht irgendwelchen 10

Hohlköpfen zu vertrauen. Warum er doch immer wieder auf die 11

Tricks reinfiel, wie ein dummes, kleines Kind, habe ich nie 12

verstanden. Hätte er doch die Papageie schlagen sollen! Die 13

waren doch Schuld, dass Papa plötzlich mit einem Stängel 14

zwischen den Zähnen unsere Wohnung verdampft und mich dafür 15

verantwortlich machte, dass aus ihm ein Vater geworden ist, 16

zu dem nur einer aufschaut und nicht alle anderen. 17

Als Erinnerung schrieb ich mir den Spruch in die 18

Handfläche und riss die Seite mit dem teuren Ferrari 19

Porsche, den Papa immer hatte fahren wollen, aus dem 20

Kalender. Kamikaze - was das wohl bedeutete? Vielleicht 21

konnte man damit die Zeit zurückdrehen. Nein, vermutlich 22

nicht. Dann hätte Papa längst Mama von den Engel 23

zurückgeholt und Oma auch. 24

Schließlich hat er abends im riesigen Ehebett geweint und 25

geschrien wie ein Baby, dem man seinen Schnuller weggenommen 26

hatte. Wenn ich ihn nach Mama fragte, ist er immer 27

verletzlich gewesen. 28

Während ich den Kalender achtlos auf den Tisch warf, blieb 29

mein Blick an dem zerknitterten, verblassten Foto auf der 30

32

Kommode hängen. Es zeigt eine glückliche, junge Familie am 1

Strand. Hinter ihnen verschwindet die Sonne langsam vom 2

Horizont. Der Vater, ein gepflegter Mann, Mitte dreißig, in 3

Hemd und Shorts gekleidet, hält ein wunderschöne, schlanke 4

Frau im Arm. Mit dem langen, blonden Haar, welches vom 5

frischen Meerwind erfasst wird, und dem luftigen, weißen 6

Sommerkleid wirkt sie beinahe wie ein Engel. Ein kleiner 7

Junge, in der einen Hand ein Surfbrett haltend, schaut zu 8

ihnen auf, während Wellen sanft seine Füße umspielen. Das 9

hellbraune Haar klebt nass in seiner Stirn… Es war ein 10

Augenblick voller Bedeutung gewesen. Ich habe ihn nie 11

vergessen. Es sollte einer der letzten gemeinsamen 12

Erinnerungen sein. Für immer. Mama, warum hast du Papa und 13

mich alleine gelassen? Wir brauchten dich doch so sehr. Ich 14

brauche dich. 15

Erschrocken fuhr ich plötzlich hoch. Die Küchenuhr schlug 16

zwölf Mal, dann war es wieder ruhig. Gestern war Papa noch… 17

Nein, ich wollte nicht darüber nachdenken! Ich durfte nicht! 18

Das Denken war es, was ihn durcheinander gemacht hatte und 19

was nun auch mich durcheinander machen würde. Was wäre wenn… 20

Ich hatte das Spiel oft genug mit Kay gespielt. Was wäre, 21

wenn ich ein Vogel wäre… Was wäre, wenn ich du wäre und du 22

ich… Kopfschüttelnd sprang ich vom Stuhl und rannte, das 23

Foto, die Kalenderseite und den Kuscheltierlöwen immer noch 24

in der Hand, in mein Zimmer. An der Tür hing mein blauer 25

Eastpack-Rucksack Über einen Legostein stolpernd riss ich 26

ihn vom Hacken und sah mich verzweifelt im Zimmer um. Es 27

herrschte wie immer Chaos. Wenn Papa jetzt hier wäre, hätte 28

er wieder einen Grund gehabt, mich zu schlagen und 29

anzuschreien, obwohl er selber ein noch größerer Chaot war. 30

33

Erneut ertappte ich mich im Nachdenken und seufzte. Das 1

musste doch endlich mal ein Ende habe! Vorsichtig, ohne über 2

ein Modelauto oder die Steine zu fallen, schlich ich zu 3

meinem Bett und zog die Schublade meiner grob zusammen 4

gezimmerten Kommode auf. In ihr lagen der Gameboy Color und 5

jede Menge Krimskrams, der sich dort mit der Zeit angestaut 6

hatte. Mit beiden Händen nahm ich die Sachen heraus und 7

begann sie zu durchsuchen. Eine kaputte Benjamin Blümchen-8

Uhr, abgelaufene Lollis, ein altes Freundebuch, Taschenlampe 9

und -Messer, Schachfiguren, die Indianerfeder und das 10

Wichtigste: Mamas Ring. Papa hat ihn in einer winzigen 11

Porzellantruhe aufbewahrt und beschützt, wie ein Drache 12

seinen goldenen Schatz. Als wir hierher nach Afrika zogen, 13

hatte er ihn auf den weißen Marmorgrabstein gelegt, damit 14

Mamas Geist sich nicht verirrte und ruhelos in der Gegend 15

herumstreunte, ohne uns zu finden. Aber ich habe Mama 16

zurückgeholt. Ich konnte sie doch nicht Deutschland alleine 17

lassen, bei all dem Lärm der Autos und dem grellen Licht der 18

Laternen! Behutsam wog ich den silbernen Ring in meiner Hand 19

und bettete ihn dann in meine Dose, die mir die Zahnfee 20

geschenkt hatte, weil ich so tapfer gewesen bin, als ich mir 21

den ersten Zahn an der Tischkante ausschlug. Zusammen mit 22

dem Gameboy, der Taschenlampe, dem Messer, der Kalenderseite 23

und zwei meiner Lieblingsautos warf ich sie in den Rucksack. 24

Auf einen Stuhl kletternd langte ich nach Papas Geldkassette 25

auf dem Küchenschrank. "Ich bin doch kein Dieb!", meldete 26

sich mein Gewissen. Augenblicklich zuckte meine Hand zurück. 27

"Nimm es!", befahl mein Egoismus. Widerstrebend musste ich 28

zugeben, dass Papa dort wo er jetzt war, dass Geld 29

tatsächlich nicht mehr brauchen würde. Die Kassette war mit 30

34

einem kleinen Schloss versehen; den Schlüssel versteckte er 1

in der Zuckerdose. Ich hatte ihn oft heimlich dabei 2

beobachtet, wie er immer wieder viele Scheine herausnahm, 3

aber nur selten welche zurücklegte. Vorsichtig drehte ich 4

den Schlüssel herum und lauschte dem befriedigenden Klicken. 5

Das Innere der Kassette war zur Hälfe mit CFA-Scheinen 6

gefüllt, darunter lagen zwei Sparbücher, eines von meinen 7

Eltern und eins von mir. Unsicher nahm ich ein Bündel 8

Scheine heraus, ließ es durch meine Finger fahren und legte 9

es in das vordere Fach meines Rucksackes. Noch nie hatte ich 10

so viel Geld besäßen. Was ich mir dafür alles kaufen könnte! 11

Mehr Legosteine, ein neues Gameboy-Spiel und… und nichts. 12

Mit jeder Münze, die ich wegwarf, würde ich auch Papa ein 13

Stück weit verkaufen. Ein Klopfen ließ mich hochstecken. 14

Hastig stopfte ich das letzte Bündel in den Rucksack und 15

sprang vom Stuhl. Während ich fieberhaft überlegte, ob ich 16

die Tür öffnen sollte, trat ich die Tasche unter das Sofa. 17

Erneut klopfte es, diesmal härter und energischer. „Tim? Ich 18

weiß, du bist da drin und mich nicht sehen möchtest. Das 19

musst du auch gar nicht, aber hör mir bitte zu, ja?“, 20

erklang ein durch das Holz der Tür gedämpfte Männerstimme. 21

Neugierig sank ich hinter der Tür zusammen. Warum kamen 22

Erwachsene im Nachhinein, um sich zu entschuldigen, obwohl 23

sie es nicht so meinen? „Es tut mir Leid, Tim. Das mit 24

deinem Vater und mit Kay. Herr Brown ist in die Stadt 25

gefahren, um mit der deutschen Botschaft zu sprechen. Doch 26

ich denke, bis sie deinen Pass neu beantragen und alles 27

geklärt haben, bleiben uns noch ein, zwei Tage. Wir könnten 28

ein kleines Abschiedsfest feiern, wenn du möchtest. Mit 29

35

Panflöten. Du magst doch, Panflöten, nicht wahr?“ Ich 1

antwortete Keenan nicht. Ein, zwei Tage… 2

„Du bist ein lieber Kerl, Tim. Ich bin mir sicher, du 3

wirst in Deutschland neue Freunde finden. Stell dir einfach 4

vor, das alles wäre ein böser Traum gewesen.“ 5

Ein böser Traum, aus dem ich nie wieder erwache… Meine 6

Hände begannen merklich zu zittern. Ich versuchte, mir Kay 7

vorzustellen, wie sie morgen zurück in diesen Traum gestoßen 8

würde, wenn sie herausfand, dass Mathieu und ich abgehauen 9

waren. Arme, Kay! 10

„Tim? Tim!“ Keenan hämmerte erneut gegen die Tür, wie ein 11

wildes Tier in seinem Käfig. Nach einigen Sekunden beruhigte 12

er sich wieder und seufzte tief. „Ich lasse dich jetzt 13

alleine. Wenn du Hilfe brauchst, egal welche, komm einfach 14

rüber, okay?“ Ächzend stemmte er sich hoch. Der Sand ließ 15

seine Schritte schnell verklingen. Hastig eilte ich zum 16

Fenster und spähte im Schutz des Vorhangs heraus. 17

Regenbogenfarbenes Benzin spiegelte sich im Licht der Sonne. 18

Irre Reifenspuren zeichneten sich am Boden ab. Ob Kay noch 19

heute Abend nach Hause kam und mich besuchte? Oder hatte man 20

es ihr verboten, weil ich ein schlechter Umgang für sie war? 21

Der weiße Schwan kratzte in meiner Hosentasche. Weiße Feder 22

und kluge, braune Augen. Augen voller Trauer und 23

Gerechtigkeit. Gab es überhaupt so etwas wie Gerechtigkeit? 24

Ich zweifelte daran. Wenn es Gerechtigkeit gäbe, wäre Mama 25

nicht tot. Außerdem: Mathieu und die anderen glaubten nicht 26

an den Gott. Warum sollte es ihn also geben? Vielleicht war 27

alles nur eine Illusion, eine erfundene Geschichte, um 28

jemanden die Schuld zu zuschieben, wenn man etwas verbrochen 29

hatte. Ich wusste es nicht. Niemand wusste es. Gott, wenn es 30

36

dich gibt, hör mir zu. Mein Ruf hallte durch die leeren 1

Räume des Hauses. Du hast Mama, Oma und Papa zu dir geholt. 2

Und Strupi, mein Meerschweinchen. Das war meine Familie. 3

Jeden Einzelnen von ihnen hast du mir weggenommen. Warum? 4

Weil es für dich wie ein Computerspiel ist? War das der 5

Grund? Oder Eifersucht, weil du ständig alleine bist? Mir 6

ist es egal, wer du bist oder wie sehr dich alle bewundern, 7

Gott. Meinetwegen schick mich in die Höhle oder sonst wohin. 8

Ich werde nie aufhören, für das zu kämpfen, was sich 9

Gerechtigkeit nennt. Und noch in tausenden Jahren wirst du 10

an mich denken und bereuen, welchen Fehler du damals gemacht 11

hast, als du sie alle zu dir nahmst… 12

Verstollen warf ich einen Blick auf das Holzkreuz über dem 13

Sofa. Was ich genau erwartete, wusste ich nicht. In manchen 14

Horrorfilmen wäre jetzt vielleicht ein schwarzes Loch 15

erschien und eine Hand, die mich in die niemals enden 16

wollende Finsternis zog. Aber das hier war nichts 17

Erfundenes. Das war die Realität. 18

Der zerknitterte Brief in meiner Hosentasche gab mir das 19

Gefühl, eine scharfe Bombe bei mir zu tragen. Am liebsten 20

hätte ich ihn einfach zerrissen, doch ich unterdrückte 21

diesen Impuls. Hastig ließ ich meinen Blick über die 22

ausgebrannte Feuerstelle schweifen. Ein riesiger Schatten 23

verdeckte für Sekunden die untergehende Sonne. Ein Aasgeier 24

segelte über den rot, blauen Himmel davon. Die Küchenuhr 25

hatte fünf Mal geschlagen, aber in dieser Welt hätte es 26

genauso sieben sein können. Dieses Paradies war zeitlos. 27

Gestern war es rot, heute ist es rot, morgen wird es rot 28

sein. Ein letztes Mal vergewisserte ich mich, dass mich 29

niemand beobachtete, dann rannte ich nach Norden. Es war 30

37

nicht schwer die Bucht zu finden, wenn man den Weg kannte. 1

Und meine Füße liefen von alleine. 2

Zu meinen Schuhen gesellte sich ein weiteres Paar. Das 3

Herz pochte wild in meiner Kehle, doch ich blieb nicht 4

stehen, um nach Luft zu schnappen. Bald erreichten wir die 5

Stelle, an der die Wasserschlange einem Knick machte. 6

Atemlos blieb ich stehen. Kays Hand verkrampfte sich in 7

meiner und wir starrten Augenblicke lang in den Himmel. 8

Leise murmelte das Wasser seine Melodie dazu. Kay zitterte 9

ein wenig, vor Aufregung, vielleicht auch vor Angst. 10

Schließlich war es die Echsenbucht gewesen, zu der wir 11

laufen konnten, wenn uns die anderen geärgert hatten. Die 12

Steine waren noch warm vom Licht der Sonne. Kay hinter mir 13

herziehend, stieg ich den Hang zum Fluss herab. Erschrocken 14

huschten einige Salamander in ihre Verstecke. Als wir das 15

erste Mal an diesem Ort gewesen waren, hatten wir versucht, 16

sie zu zählen und zu fangen, doch immer wenn wir glaubten, 17

einen gehabt zu haben, floh er aus unseren Händen. Daher 18

hatten wir diese Bucht benannt. Ich mochte die Echsen. Diese 19

kleinen geselligen Tiere. Sie hassten uns Menschen und 20

trotzdem hatte ich jedes Mal das Gefühl. als lauschten sie 21

uns, versteckt in ihren Unterschlüpfen. Mit einem letzten 22

Aufblitzen verschwand die Sonne hinter dem Horizont, wartend 23

auf einen neuen Tag. Meine Hände fühlten sich seltsam taub 24

an, wenn ich an den Morgen dachte. Doch merkwürdigerweise 25

war ich nicht ängstlich. Nur ein wenig verwirrt. Irgendwie 26

hatte ich geahnt, dass es so weit kommen würde. 27

Erschöpft ließ ich mich am Wasser zu Boden sinken und 28

malte mit dem Finger im Sand. Kay lächelte - wie immer, wenn 29

sie nicht wusste, was sie zu tun oder zu sagen hatte. 30

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Schließlich legte sie ihren Kopf auf meine Brust und drückte 1

meine Hand fest, als wolle sie diese nie wieder loslassen. 2

Ein Stein bohrte sich zwischen meinen Schulterblättern, doch 3

ich fand nicht den Mut, mich erneut aufzurichten. „Weiß du 4

was! Sulkan hat mich gefragt, ob ich mit ihm spielen will, 5

als ich heute in der Schule erzählt habe, dass du 6

weggehst.“, meinte Kay nach einiger Zeit. Ihre Atmung ging 7

gleichmäßig, jedenfalls hatte es den Anschein, als sei sie 8

ruhig. Doch tief im Inneren war sie wütend und enttäuscht. 9

„Was hast du ihm gesagt?“ 10

„Dass er bäh ist und so. Ständig läuft ihm der Sabber aus 11

dem Mund. Ich hasse diesen Schnösel. Bloß, weil seine Eltern 12

eine Weberei besitzen! Und außerdem bist du mein bester 13

Freund und das ändert sich auch in tausend Jahren nicht.“ 14

Ich nickte und war froh darüber, dass Kay in der 15

Dunkelheit nicht sah, wie ich errötete. Behutsam legte ich 16

einen Arm um sie. Wir schwiegen und trotzdem verständigten 17

wir uns auf eine seltsame Art und Weise. Instinktiv wusste 18

ich, was sie dachte und empfand, und ich glaubte, dass sie 19

es auch tat. „Tim, du darfst nicht weggehen. Deutschland ist 20

so weit und…“, flüsterte Kay. Ihre Tränen kitzelten auf 21

meiner Brust. Momente rang auch ich um meine Beherrschung. 22

Gemeinsame Erinnerungen rauschten an mir vorbei. Das 23

Fußballspiel mitten in der Wüste mit dem dreckigen 24

Wollknäuel. Karim und Benjim, die Steine nach den Aasgeiern 25

warfen. Panflötengesang. Kay in ihrem kurzen afrikanischen 26

Rock, wie sie versucht, Mathieu das Schreiben beizubringen. 27

Der Tanz der Flammen. 28

Ruckartig hob ich den Kopf. Die Nacht senkte sich wie ein 29

großes schwarzes Tuch mit vielen Lichtern über die Welt. 30

39

„Kay, ich…“ Kopfschüttelnd brach ich ab. Ich konnte es ihr 1

nicht sagen. Hastig langte ich nach dem Brief, den ich nach 2

dem Packen geschrieben hatte. 3

„Du hast das nicht ernsthaft alles aufgeschrieben? Kannst 4

du mir das denn nicht selbst sagen?“, erwiderte sie, bemüht 5

einen lockeren Ton in ihre Stimme zu bekommen. 6

Ich zwang mir ein Grinsen auf. „Mrs. Abbey hat doch immer 7

gesagt, wir sollen üben.“ 8

Auch Kay lachte. „Schon mal dumme Sprüche abgeschrieben?“, 9

kicherte sie. 10

„Nein, von wem auch?“ 11

„Von dir natürlich, Löwchen.“ 12

„Gibt‟s „Löwchen„?“ 13

Das Mädchen runzelte ratlos die Stirn, als habe man ihm 14

eine blöde Rechenaufgabe gestellt. 15

„Weiß nicht. Du bist jedenfalls eines.“, meinte es 16

schließlich und zuckte mit den Schultern. 17

„Und du bist ein Spatz.“ 18

„Ein Spatz?“ 19

„Ja. Du schnatterst immer wie ein Wasserfall.“ 20

„Heißt das, dass ich dich nerve?“, entgegnete Kay und 21

schnappte entsetzt nach Luft. Ihre Schauspielkünste waren 22

einfach unglaublich. Sie musste nur mit den großen Augen 23

zwinkern und ihren schottischen Charme spielen lassen. Dann 24

schmolz jeder Junge und sogar jeder Erwachsene 25

augenblicklich dahin. 26

„Nein, überhaupt nicht.“, lachte ich. Sekunden später 27

spürte ich den ekligen Sandgeschmack im Mund und spie 28

entsetzt aus. „Das wirst du mir büßen, Spätzchen!“ Bevor ich 29

mich jedoch hochstemmen konnte, wurde ich erneut zu Boden 30

40

gedrückt. Kay saß auf meinem Rücken und rieb mein Gesicht in 1

den Dreck. 2

„Das will ich sehen, Löwchen. Winsle um Gnade!“ Sofern es 3

meine Lage zuließ, streckte ich unbemerkt den linken Arm aus 4

und riss im gleichen Augenblick mit aller Kraft meinen 5

Körper herum: „Niemals!“ 6

Kay schrie entsetzt auf. Im Fall traf ihr Ellenbogen 7

versehentlich meine Nase. Augenblicklich taumelte auch ich, 8

halb aufgesprungen, zurück und landete erschöpf neben ihr im 9

Sand. Ein feiner Nebel aus Blut sprühte hervor. Den Kopf 10

schief gelegt, rappelte sich das Mädchen auf, um meine Nase 11

begutachten 12

„Jetzt hast du auch ein Abschiedsgeschenk von mir.“, 13

murmelte es achselzuckend. 14

Zwei Stunden später richtete sich Kay schließlich auf, 15

weil sie Angst bekam, ihr Vater könnte wieder einmal 16

ausrasten. Der Hausarrest war ihr egal, selbst wenn es 17

Wochen gewesen wären. Mit solchen Werten konnten wir kaum 18

etwas anfangen. Sie waren nicht wichtig. Zeit verstrich 19

jeden Augenblick und mit ihr veränderte sich die Welt. Vor 20

tausend Jahren zum Beispiel gab es die Ritter, jetzt gibt es 21

uns… und was danach? Außerirdische? 22

Zudem waren ihre Eltern tagsüber ebenso selten zu Hause 23

wie Papa, sodass Keenan zumeist die Verantwortung für uns 24

trug, obwohl dies den alten Mann kaum scherte, da wir seiner 25

Meinung nach alt genug wären, alleine zu entscheiden. 26

„Kommst du nicht mit?“, fragte sie leise und reichte mir 27

ihre Hand. 28

Kopfschütteln. 29

41

„Du kannst dich nicht ewig vor ihnen verstecken, Tim. Das 1

weißt du. Irgendwann werden sie dich finden und…“ Sie 2

unterbrach sich und starrte in den sternenübersäten Himmel. 3

Ich folgte ihrem Beispiel. Sie hatte Recht, indem was sie 4

sagte. Alleine würde ich wahrscheinlich nicht einmal drei 5

Tage hier draußen überleben. Und selbst wenn es mir gelänge, 6

würden Keenan und die anderen versucht, Kay zu erpressen, 7

bis sie ihnen erzählt, wo ich mich versteckte. Dies wäre 8

schlimmer, als mich selber aufzugeben. Niemand sollte für 9

mich leiden. 10

„Aber was soll ich denn machen?“ 11

Kay sah mich nicht ein einziges Mal mehr an. „Geh mit 12

Mathieu. Hau ab. Verschwinde!“ In ihrer Stimme lag ein 13

harter Unterton, doch ihr Zittern verriet anders. Vorsichtig 14

wollte ich den Arm um sie legen, aber sie stieß mich wortlos 15

zurück. „Denk an dich, Tim. Denk daran, was für dich das 16

Beste ist. Nicht für mich, Mathieu oder sonst irgendwen. 17

Verdammt, verstehst du das denn überhaupt nicht?“ 18

„Großes Spanien-Ehrenwort?“, fragte ich leise. Meine Nase 19

tat immer noch weh, dort wo mich ihr Schlag getroffen hatte. 20

Im Licht des vollkommenen Stück Käses am Himmel mochte ich 21

aussehen wie ein Monster mit den dunklen Flecken auf Händen, 22

Gesicht und T-Shirt. 23

„Was?“ 24

„Versprichst du mir, dass du mich nicht vergisst und immer 25

mein allerbester Kumpel bleibst?“ Heimlich holte ich hinter 26

meinem Rücken den Kuscheltierlöwen hervor. Es war eine 27

schwere Entscheidung, ihn einfach fort zu geben, aber ich 28

wusste, Kay würde besser auf ihn aufpassen können als ich. 29

Stumm redete ich auf ihn ein, wie so oft, wenn ich alleine 30

42

daheim im Bett gelegen hatte und Papa abends zu einem 1

„Meeting“ gefahren ist. Leo war dann meistens der Einzige, 2

mit dem ich sprach. Jetzt schien er aufgeregt, jedenfalls 3

bildete ich mir das ein. Keine Sorge! Kay ist eine ganze 4

Liebe. Die hat viele Kuscheltiere, weißt du. Ein Schaf und 5

zwei Diddel-Mäuse. Auch ein kleines Häschen. Du darfst denen 6

aber nichts tun, hörst du? Erschrocken hielt ich inne. Wenn 7

ich wieder da bin… Sekunden dachte ich darüber nach, 8

schüttelte ich dann hingegen den Kopf. Nein, nicht „wenn“ 9

ich wieder komme. Ich komme wieder! So schnell werdet ihr 10

mich nicht los! 11

„Das weißt du doch.“, erwiderte das Mädchen mit einem 12

fragenden Blick auf den Löwen. 13

„Ich will, dass du es sagst, Kay. Ich möchte es von dir 14

hören!“ Energisch riss ich an ihrem T-Shirt. Plötzlich war 15

diese Angst da, alles zu verlieren, was mir noch wichtig 16

war. Sie stürzte sich herab, wie ein Geier auf sein 17

hilfloses Opfer, und zerriss es innerlich. Ein 18

unkontrollierte Panik, die mich immer wieder heimsuchen 19

würde, kämpfte ich nicht gegen sie an. Mit schweißnassem 20

Gesicht stierte mich das Mädchen an. Es war, als sähen wir 21

uns das allererste Mal. Hektisch strich es sich eine Strähne 22

aus seiner Stirn im Versuch, ruhig zu bleiben. Dabei lag in 23

seinem Blick dieselbe Verzweiflung. 24

„Ja.“, sagte meine Freundin schließlich in die Stille 25

hinein, „Großes-Spanien-Ehrenwort... Aber dann musst du mir 26

auch etwas versprechen.“ 27

Ich nickte und bemerkte im gleichen Augenblick, dass ich 28

immer noch den warmen, weichen Stoff ihres Oberteils in der 29

Hand hielt. 30

43

Kay lächelte in die Schwärze der Nacht. „Ich hau mit dir 1

ab.“ 2

„Nein.“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihr, „Für 3

dich ist das Beste, wenn du uns nicht folgst. Dort draußen 4

gibt es böse Menschen, die dir wehtun können.“ Erstaunt 5

schloss ich den Mund. Das war nicht ich, der dies sagte, 6

sondern Mathieu und Mathieu hatte recht. Für ein Mädchen war 7

es zu gefährlich in der Wildnis. 8

„Wie immer. Die großen, tollen Jungs. Ihr seid ja so stark 9

und mutig! Wenn ihr abhaut, werde ich aller Welt erzählen, 10

wie feige ihr seid.“, zischte Kay böse. 11

Auch ich wurde allmählich wütend. „Das hat nichts mit 12

feige zu tun! Sondern mit…“ 13

„Womit? Sag‟s mir. Womit?“ 14

„Ähm… Ich… Ich hab Angst, dass wir nie mehr zusammen 15

spielen können, wenn sie mich nach Deutschland in irgendein 16

Heim stecken. Du hast noch Eltern. Schön, sie sind nicht 17

immer die Besten, aber sie sind noch da. Für dich, Kay.“ 18

Ein verlegendes Schweigen hatte eingesetzt, sodass ich 19

ihrem schwachen Herzschlag lauschen konnte. Mein Eigener, 20

schnell und unregelmäßig, gesellte sich hinzu. 21

„Ich hab auch Angst, Tim. Hast du schon mal „Angriff der 22

Säbelzahntiger‟ oder „Tarzan‟ gesehen? Stell dir vor, dir 23

passiert…“ Sie schluckte vernehmlich. Wir hatten eindeutig 24

zu viele Filme gesehen, schätze ich. 25

„So was gibt‟s nur im Märchen. Und wenn, werde ich der 26

Erste sein, der sie alle besiegt.“, erwiderte ich, bemüht 27

meine Stimme optimistisch klingen zu lassen. 28

„Löwchen.“ 29

„Was?“ 30

44

„Löwchen. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht 1

lügen.“, kicherte Kay. 2

„Warum lachst du?“ 3

„Die Vorstellung, wie du mit einer Liane in Lendenshorts 4

über den Fluss schwingst, um mich vor den bösen Monstern zu 5

retten… Zu komisch“ 6

Ich grinste. „Traust du mir das etwa nicht zu, Jane?“, 7

fragte ich mit dem letzten bisschen Ernst, der mir noch 8

geblieben war. 9

„Irgendwie nicht.“ 10

Die Wut aufeinander war ebenso plötzlich wieder 11

verschwunden, wie sie gekommen war. Zu einem lauten 12

Tiergebrüll angestiftet, klopfte ich mir mit beiden Fäusten 13

auf die Brust und ahmte einen Gorilla nach, indem ich auf 14

Händen und Füßen vorwärts kroch. Kay hüpfte leichtfüßig 15

hinter mir her und spielte die hilflose Jane, die vor 16

Schreck beinahe ohnmächtig wurde. 17

Plötzlich stieß sie einen Schrei aus, der einem das Blut 18

in den Adern gefrieren ließ. Im Glauben, dieser gehöre zum 19

Spiel, tapste ich in meinem Affengang über die rauen Steine 20

zur Wiese, dem einzigen, grünen Feld in der Umgebung. Das 21

hohe Gras, welches hier so dicht wuchs, dass man 22

augenblicklich an ein schwarzes Meer erinnert wurde, bewegte 23

sich leicht im aufkommenden Wüstenwind… doch irgendetwas 24

ließ mich zögern. Es war die falsche Stille: tot und 25

endgültig. Ich spürte diese Gefahr, bevor ich sie wirklich 26

gesehen hatte. Sie war da. Irgendwo da draußen und wartete 27

auf mich. Mein Instinkt verriet mir, zu verschwinden - und 28

zwar schnell. Warum? Verwirrt blickte ich auf. Die im Mond 29

matt glitzernde Wasserschlange. Äste der Bäume, die 30

45

schlafend in der warmen, trockenen Nachtluft schwankten. 1

Darüber der mitternachtsblaue Himmel, an dem eine Fledermaus 2

auf der Suche nach etwas Essbarem davonjagte. Dabei war ihr 3

hoher Ruf kaum vernehmbar und… Hatte sich dort drüber nicht 4

etwas bewegt? Bedrohlich und wachsam. Verzweifelt kauerte 5

ich mich tiefer ins Gras und fingerte im selben Augenblick 6

nach einer Waffe. Mein Herz schlug bis zum Hals, doch es 7

gelang mir, meine aufkommende Panik und das Verlangen, 8

einfach durch die Wüste davonzurennen, zu unterdrücken. Wenn 9

jemand mich anzugreifen versuchte, wäre ich dem in der 10

freien Wildnis hilflos ausgeliefert. So jedenfalls hätten 11

Helden, wie James Bond oder Tarzan, reagiert. Im Schatten 12

der Bäume oder der Türen drängten sie sich langsam an ihren 13

Feinden vorbei, ohne von den Bösen bemerkt zu werden. 14

Kays hoher Schrei klang in meinen Ohren nach und 15

verstummte schließlich. Ich wartete auf einen weiteren, doch 16

es folgte keiner mehr. „Kay? Das ist nicht lustig! Komm, wir 17

gehen heim.“ Gegen meinen Instinkt sprang ich aus dem 18

sicheren Versteck und wollte zurück zu der Stelle laufen, an 19

der wir vor Minuten noch gestanden hatten. Doch erneut 20

zögerte ich für den Bruchteil einer Sekunde - und genau dies 21

rettete mir vermutlich das Leben. Ein hundeähnliches Wesen 22

erschien in meinem Blickfeld. Die kurzen Pfoten trugen den 23

dunklen, schlanken Tierkörper elegant über das Feld. Im 24

einfallenden Mondlicht wurden seine spitzen Zähne 25

reflektiert, die wie Messer aus dem offenen Maul ragten. 26

Schon jetzt konnte ich spüren wie diese in meine Haut 27

schnitten. Mein Gott, SO war das mit dem „in die Höhle 28

schicken“ nicht gemeint… Okay, schon aber… nicht wirklich 29

so. Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Weichei du doch 30

46

bist, Tim, wenn du ständig anfängst, zu jammern und zu 1

irgendjemandem sprichst, den es vielleicht nicht einmal 2

gibt. Sei endlich ein Mann und steh‟ zu deiner nicht 3

vorhandenen, großen Klappe! Vor Kay behauptest du, du wirst 4

der Erste sein, der sie alle besiegt. Jetzt hast du die 5

Chance, dies zu beweisen… Entsetzt realisierte ich das 6

Verschwinden des Tieres. Dort, wo es eben noch schnüffelte, 7

waren nur noch Fußspuren, die… die genau auf mich zuliefen! 8

Im selben Augenblick bemerkte ich etwas Warmes, welches über 9

meinen Hals rann, und auch ohne nachzusehen, wusste ich, 10

dass es Blut war. Dunkelrotes Blut. Die Krallen der Bestie 11

hatten mich gestreift. Hektisch wandte ich mich im Kreis, 12

eine Hand auf die Wunde drückend, um einem neuen Angriff 13

auszuweichen, doch in der Dunkelheit konnte ich kaum sehen. 14

Erneut zuckte eine Schmerzwelle durch meinen Körper. 15

Geistesgegenwärtig riss ich das rechte Bein hoch und gab dem 16

Hund einen Tritt. Erst jetzt konnte ich ausmachen, dass es 17

sich um eine Hyäne handelte. Eine Hyäne, die normalerweise 18

nur in Rudeln jagte! 19

„Kay…? Kay!“, brüllte ich panisch, als mir bewusst 20

wurde, in welcher Gefahr wir uns befanden. Ein Schatten im 21

Blickwinkel. Blitzartiges warf ich mich zur Seite, sodass 22

das Tier Zentimeter über meinem Kopf hinwegfegte: Ein 23

Angriff, der mir vermutlich den Gar ausgemacht hätte. Ohne 24

nachzudenken, kam ich auf die Beine und rannte zurück. Über 25

die Schulter erkannte ich zwei Hyänen, die wie wild 26

gewordene Kampfhunde hinter mir herpirschten. Ein kurzes 27

Knurren war zu hören, dann tauchte eine vor mir auf, schnitt 28

mit den Krallen durch das hohe Gras und raste mit weit 29

aufgerissenem Maul auf mich zu. Wieder warf ich mich in 30

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letzter Sekunde zur Seite, krachte auf den sandigen Boden, 1

renkte mir dabei beinahe die Schulter aus. Speichel triefte 2

auf mein Gesicht. Ich musste irgendwo in Deckung gehen und 3

dies bevor mich die Messer aufgespießten. Kurz blieben meine 4

Gedanken an Kay hängen. Hat man sie erwischt oder konnte 5

sie sich selbst befreien und war heim gerannt? Ich hoffte, 6

dem wäre so, denn hinter mir tauchten die Tiere erneut auf. 7

Dabei mochten sie näher sein, als mir lieb warm und 8

verfolgten mich dieses Mal gemeinsam. Verzweifelt rannte ich 9

durch das Gras, dessen scharfe Halme meine Unterschenkel 10

zerschnitten. „Kay!“ Ein kaum vernehmbares Stöhnen neben mir 11

genügt, um meinen Überlebenswillen anzukurbeln. Ihr blöden 12

Köter! So schnell kriegt ihr mich nicht! Vorsichtig, immer 13

ein Bein nach dem anderen setzend, machte ich zwei Schritte 14

rückwärts - und spürte etwas Hartes im Rücken. Endstation… 15

Meine freie, linke Hand ertastete Rinde. Ein Baum! Kurz 16

irrte mein Blick über das Schattenreich, aber es gab keine 17

Möglichkeit, mich selbst und Kay vor den blutrünstigen 18

Tieren zu verstecken, die jeden Augenblick durch das zackige 19

Gras brechen konnten, welches mich wie eine Mauer 20

umzingelte. Es gab nur diesen Baum, einsam und traurig in 21

der dunklen Landschaft. Der Ruhe zur Folge mochten die 22

Hyänen noch etwa hundert Meter entfernt sein, vielleicht 23

auch näher. Auf jeden Fall blieb mir ein wenig Zeit, die ich 24

nicht vergeuden durfte. Aber was sollte ich tun? In meinen 25

Gedanken tauchten mehrere Filme auf und glitten 26

durcheinander. Tarzan. Die „Star Wars„-Trilogie. Sing mir 27

das Lied vom Tod. Der, der mit dem Wolf tanzt. Vielleicht 28

hatten all die Albträume nach diesen Filmen doch etwas Gutes 29

an sich, denn mir kam eine absolut absurde Idee. Hastig 30

48

prüfte ich die Verletzungen an Hals und Knie, bevor ich auf 1

den Baumstamm zustürzte. Die Rinde war morsch, von Bakterien 2

zerfressen, aber sie würde meinem Gewicht standhalten müssen 3

- anderenfalls wäre meinem Plan schnell ein Ende gesetzt. 4

Mit einer Hand den nächsten Ast umklammernd, zog ich mich 5

langsam hoch. Freilich hätte ich schnell klettern müssen. 6

Jedoch, auf die Gefahr hin, zu fallen, hielt ich des Öfteren 7

inne, um die Balance wieder finden, wobei ich den Impuls 8

unterdrückte, nach unten zu sehen. In zwei Meter Höhe zu 9

baumeln, erforderte all meine Aufmerksamkeit. Tim River, du 10

hast wieder einmal eine rekordverdächtige Punktzahl in den 11

Aufgaben erreicht, wie bring ich mich am besten im möglichst 12

kurzer Zeit selber um. Unter mir im Gras raschelte es. 13

Sekundenspäter tauchten mehrerer Schatten auf. Jetzt waren 14

die Biester also schon zu fünft! Wird heute noch ein 15

wahrlich tolles Kaffeekränzchen! Ich lachte. Je auswegloser 16

die Situation, desto bescheuerter wurde meine Witze. 17

Wenigstens hielten mich meine Gedanken davon ab, zu schreien 18

oder mich zu übergeben. Dennoch schlug das Herz hart gegen 19

meine Rippen, sodass ich das Gefühl hatte, mein Brustkorb 20

könne jeden Augenblick zerreißen. Knurrend sprangen die 21

Tiere an der Rinde hoch, rutschten jedoch immer wieder ab. 22

Für den Augenblick war ich in Sicherheit, bis Kay in meinen 23

Erinnerungen auftauchte. Kay, die möglicherweise verletzt 24

dort unten in der Gruft lag und von den Hyänen zerfleischt 25

werden würde, wenn diese sie fänden. Widerstrebend musste 26

ich zugeben, dass ich nicht die ganze Nacht hier oben in der 27

Baumkrone hocken durfte und warten auf die ersten 28

Sonnenstrahlen konnte, mit denen die Dorfbewohner zur Arbeit 29

kämen. Denk nach, zwang ich mich, denk nach. Mit all dem 30

49

zusammengefassten Mut, erhob ich mich und balancierte 1

freihändig über den dicken Ast, als eines der Tiere die 2

Krallen in die Rinde schlug. Plötzlich geriet ich ins 3

Straucheln, fiel. Hilfe suchend streckte ich die Hände aus. 4

Leere, nichts als Leere. Verzweifelt versuchte ich, Halt zu 5

finden. Ohne Erfolg. Rasend stürzte ich in die schwarze 6

Tiefe hinab. Blätter strichen hart über meine Wangen. Die 7

einzelnen Halme des Meeres waren unheimlich nahe und mit 8

ihnen die scharfen Messer. Der harte, plötzliche Aufprall 9

trieb mir alle Luft aus der Lunge, sodass ich glaubte, 10

sämtliche Rippen gebrochen zu haben. Ich blinzelte. Wo 11

blieben die Zähne, die mich wie ein Gummibärchen zerfetzten? 12

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich über dem Boden hing. Ein 13

Ast hatte meinen Sturz abgefedert, falls man das so nennen 14

konnte, sodass ich zu meiner Überraschung nicht tief 15

gefallen war. Etwa einen Meter unter mir schnappten die 16

Hunde immer noch nach meinem baumelnden Bein, als sei dieses 17

ein Stück Wurst. Dennoch hatte ich wie immer unverschämt 18

viel Glück gehabt. 19

Mit böser Grimasse brach ich einen Zweig über meinem Kopf 20

und ließ ihn auf die Tiere herunterfallen. Erschrocken von 21

dem ungeahnten Angriff streunten sie für Sekunden 22

auseinander und knurrten sich gegenseitig an. Innerlich 23

musste ich lachen. 1:1, Gleichstand. Was sagt ihr nun, ihr 24

dummen Kläffer? Abermals langte ich mit nach hinten 25

gestreckter Hand nach einem Ast, zielte. Und dann erblickte 26

ich sie. In mitten des schwarzen Meeres. Kay. Ihr hübsches, 27

kantiges Gesicht war unmenschlich verzerrt und von einem 28

Schatten umhüllt. An ihrem Kopf klaffte eine offene Wunde, 29

doch wie durch ein Wunder hatten die Hyänen von ihr 30

50

abgelassen. Selbst wenn sie in ganz anderen Dimensionen 1

schweben mochte, schien sie für den Augenblick in 2

Sicherheit. Mein Blick wanderte zurück zu dem Ast in der 3

zitternden Hand, dann wieder zu Kay. Ich hatte nur eine 4

einzige Möglichkeit. Eine Einzige. Der Zweig schnitt hörbar 5

durch die Luft. Fand sein Ziel. Jaulend jagte das 6

Raubtierrudel davon. Doch ich hatte keines der Tiere 7

getroffen, sondern bewusst eine der weitest entfernten 8

Stellen vom Baum weg angepeilt. Zufrieden lächelte ich vor 9

mich hin, während ich mich langsam zu Boden gleiten ließ. 10

Ein wenig Zeit war gewonnen. Genügend, um Kay Huckepack zu 11

nehmen und schleunigst zu verschwinden. Jedenfalls hoffte 12

ich das. Mit angewinkelten Beinen sprang ich von dem letzten 13

Ast, wobei ich sicherheitshalber geduckt in Deckung ging. 14

Schließlich hatte ich keine Ahnung, wie schnell die Viecher 15

bemerkten, dass sie einem weniger köstlichen Ast nachgerannt 16

waren. Im Schatten des Baumes schlich ich, bemüht nicht zu 17

hektisch zu werden, zu Kay und zerrte ihren dünnen Körper 18

hoch. Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit 19

gewöhnt, sodass ich zumindest ausmachen konnte, in welche 20

Richtung ich zum Achthundert-Meter-Sprint ansetzen musste. 21

Ein Glück, das mein Vater mich in Deutschland zum 22

Leichtathletiktraining genötigt hatte. 23

Tief ein - und ausatmend, um den Sauerstoffgehalt im Blut 24

zu erhöhen, lugte ich ein letztes Mal aus dem Versteck 25

hervor. Hoffentlich lauerten mir die Hyänen nicht schon 26

hinter der nächsten Ecke auf. Ohne einen weiteren Gedanken 27

daran zu verschwenden, rannte ich um mein Leben. Betend, 28

dass ich die Entfernung richtig eingeschätzt hatte. 29

Andernfalls wäre es ein sehr kurzes Wettrennen, doch ein 30

51

Zurück gäbe es nun nicht mehr. Jämmerlich würden wir in den 1

schleimigen, dunklen Abgründen ertrinken und nie wieder 2

auftauchen, zerrissen von der unbarmherzigen Kraft der 3

Todesmesser. Ich konnte mir einen schöneren Abgang von 4

dieser Welt verstellen. Außerdem wollte ich keinen 5

Freifahrtschein für einen unvergesslichen Besuch in der 6

Höhle. So etwas hätte Kay nicht verdient. Mit 7

zusammengebissenen Zähnen verfluchte ich den Tag, an dem 8

sich Gott in mein Leben eingemischt hatte. Aber vielleicht 9

konnte ich unser Pech, noch zu Besserem wenden. Schließlich 10

mussten wir es ebenso schaffen wie die Kinohelfen in ihren 11

Abenteuern. Atmen, laufen, atmen. Mein Puls stieg, die linke 12

Seite begann bereits zu stechen. Auch das ungewohnte Gewicht 13

auf dem Rücken machte mir mehr zu schaffen, als ich erwartet 14

hatte. Dennoch verlangsamte ich die Geschwindigkeit nicht. 15

Atmen, atmen. Die Halme schnitten brutal in die 16

ungeschützten Unterschenkel, doch ich wagte nicht, einen Weg 17

aus dem Feld anzuschlagen. Sich zu verirren, würde alles nur 18

noch schlimmer machen. Wie lange mochte es noch dauern, bis 19

die Tiere bemerkten, dass ihre Lieblingsspeise verschwunden 20

war? Ich spürte, dass mir nur noch Sekunden blieben. Hinter 21

mir war bereits das Fletschen der Zähne vernehmbar. Hektisch 22

sprang ich über eine Grube, stolperte - und vertrat mir 23

leicht das Knie. Atmen, atmen, laufen, laufen. Du schaffst 24

es… Ich schaffe es… 25

Nein. Meine Kraft reichte gerade noch aus für paar Meter. 26

Ein Schrei explodierte in meinem Kopf. Gib auf… Gib auf! 27

Da erhellte plötzlich ein Licht die Dunkelheit. Ein 28

kleines, Licht in naher Ferne. Und noch eines. Mein 29

52

ausgetrockneter Mund öffnete sich und sog gierig die kühle 1

Nachtluft ein. 2

„Siehst du das Dorf dahinten? Wir haben es geschaffen, 3

Kay.“, murmelte ich leise, obwohl ich wusste, dass sie mich 4

nicht hören konnte. Mit letzter Kraft jagte ich aus dem Feld 5

heraus auf die Lichter zu. Doch noch hatten wir nicht 6

gewonnen. Ich hätte mich selbst belogen, wenn ich dies 7

glaubte. Ein Schatten schnappte nach meinem verletzten Bein. 8

Sekundenspäter rissen die Zähne eines Weiteren ein kleines 9

Stück Fleisch heraus, über welches die Tiere gierig 10

herfielen. Mit Tränen in den Augen vor Schmerz schrie ich 11

auf. Blut strömte aus der offenen Wunde, vermischte sich 12

mit Dreck. Über die Schulter erkannte ich, wie das Rudel 13

erneut die Verfolgung aufnahm. Verzweifelt trat ich nach 14

hinter aus - und fiel kurz vor dem Ziel zu Boden. Es war 15

aus. Ich hatte verloren. Alle anderen Läufer überholten mich 16

und jubelten vor Freude. Doch seltsamerweise ließen sich die 17

Hyänen beim Zerlegen ihre köstliche Beute Zeit. Wie ich wohl 18

schmecken mochte? Hoffentlich nicht allzu gut. Immer enger 19

umkreisten uns die Tiere. Speichel tropfte auf mein T-Shirt. 20

Eine der Bestie drückte ihre Nase gegen die mein. Hektisch 21

schlug ich mit geballter Faust zu, sodass das Tier jaulend 22

zurückwich. So leicht kriegt ihr mich nun auch wieder nicht! 23

Bis zum Ende würde ich mich mit Händen und Füßen dagegen 24

wehren. Mein Blick schweifte von einer Hyäne zur nächsten. 25

Seltsam, dass sie nicht angriffen. Ihre Augen waren nur auf 26

meine Freundin gerichtet. Erst jetzt wurde mir drohend 27

bewusst, dass die Bestien es nicht auf mich, sondern viel 28

mehr auf Kay abgesehen hatte, die regungslos neben mir im 29

Sand liegen geblieben war. Hyänen ernährten sich 30

53

hauptsächlich von Aas, nur selten jagten sie Lebendes, was 1

bedeutete, dass sie Kay für ein totes Tier halten musste. 2

Der Rudelführer pirschte sich heran und öffnete geradezu 3

genüsslich sein Maul, um den ersten Bissen zu kosten. Die 4

anderen Tiere warteten geduldig, mich durch ihre gelben 5

Augen beobachtend. Die Angst hatte meinen Körper erstarren 6

lassen. Mein Glück hatte mich verlassen. Das Führertier 7

stürzte sich mit einem Knurren aus tiefster Kehle auf Kay. 8

Seine Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen vollständig 9

verschwunden. 10

Es knallte zweimal, hart und trocken in der Dunkelheit. 11

Aber merkwürdigerweise spürte ich keinen Schmerz. Eigentlich 12

hätte Blut aus der tiefen Bisswunde am Rücken hervor 13

schießen müssen. Dafür schwankte die Hyäne plötzlich und 14

fiel mit ihrem Körper auf meine Beine. In ihrer Brust waren 15

zwei Einschüsse. Die übrigen Tiere jagten erschrocken in die 16

Wüste davon. 17

Schritte erklangen in der Ferne. Ein einziger Mann, 18

Keenan, näherte sich betroffen. In seiner Hand hielt er 19

immer noch die Pistole, mit der er ein Leben ausgelöscht und 20

eines gerettet hatte. Ohne ein Wort zu verlieren, tippte er 21

mit der Schuhspitze vorsichtig den Kadaver an, beugte sich 22

dann hinunter und untersuchte ihn kurz. Schließlich nickte 23

er zufrieden und schob die Waffe in seine Hosentasche. 24

Zitternd erhob ich mich und machte einen Schritt auf ihn zu. 25

Es war als bemerkte der alte Mann erst jetzt, dass noch 26

jemand da waren. 27

„Keenan…“ 28

Der Genannte nickte ruhig, erwiderte jedoch nichts. Sein 29

Blick fiel auf die Kay, die schlafend im Gras lag. Seufzend 30

54

hob er sie an den Schultern hoch und trug sie Richtung Dorf 1

davon. 2

„Warum? Warum hast du das getan?“ Ich war bemüht, mit ihm 3

Schritt zu halten. 4

Abrupt blieb Keenan stehen, um mich einen Augenblick lang 5

anzustarren. „Du warst wirklich tapfer, Tim, aber…“ 6

„Aber?“ 7

Der alte Mann zuckte mit den Schultern. „Dumm. Warum 8

verdammt noch mal seid ihr abgehauen? Ich halte dich für 9

klug genug, zu wissen, wie gefährlich es dort draußen ist.“ 10

„Ja… Was wird jetzt aus mir?“, fragte ich und senkte den 11

Kopf. 12

Keenan musterte mich von oben bis unten, als wolle er 13

abschätzen, wie viel ich wert war. 14

„Erst einmal werden wir dich verarzten.“ 15

Ich blieb wie angewurzelt stehen und warf einen flüchtigen 16

Blick zurück zu dem toten Tier, welches von dem Mond in ein 17

weißliches Licht getaucht wurde. Eigentlich hätte ich jetzt 18

doch liegen müssen. Kurz schloss ich die Augen, dann wandte 19

ich mich abrupt ab und folgte humpelnd dem alten Mann. 20

„Los, Tim, mach die Augen auf.“ 21

Die Stimme klang ungeduldig und weit entfernt. Ich 22

stöhnte. Mein ganzer Körper schien wie betäubt. Durch den 23

weißen Schleier, der meine Sicht vernebelte, erkannte ich 24

Kays Vater, Doktor Nicolai Brown. Kurz nickte er mir zu, 25

dann wandte er sich an eine weitere, ein wenig gekrümmt 26

dastehende Gestalt. 27

„Die Tablette, die ich ihm gegeben habe, verliert langsam 28

ihre Wirkung. In gut einer Stunde wird die Betäubung kaum 29

noch zu spüren sein.“ 30

55

„Okay . Ich werde mich solange um ihn kümmern. Wie geht es 1

deiner Tochter?“ 2

Ich blinzelte in die nackte Glühbirne über mir. Allmählich 3

konnte ich wieder klarere Umrisse erkennen, was bedeutete, 4

dass meine Wahrnehmung schärfer wurde. Gerüche von süßlichem 5

Desinfektionsmittel und Schweiß hüllten mich ein. Langsam 6

drehte ich den Kopf zur Seite und ließ meinen Blick benommen 7

durch das Zimmer schweifen. Kays Vater stand in seinem 8

weißen Mantel am Fenster und betrachtete schweigsam den 9

dunklen Nachthimmel. In seiner Hand hielt er eine polierte, 10

kleine Tasse, aus der er sich dann und wann einen Schluck 11

Tee gönnte. Seine Muskeln spannten sich merklich an. Genauso 12

wie bei Papa, kurz bevor er mich schlug. Keenan hingegen 13

hockte auf einem der Stühle am Tisch und faltete ruhig die 14

Hände auf der gestrickten Decke. Die Eichenholzuhr über dem 15

dunklen Regal, in dem sich Bücher, jeglicher Art und Größe, 16

stapelten, schlug neun Mal. Durch die offene Zimmertüre 17

konnte ich den abgemagerten Körper eines Mädchens ausmachen, 18

der sich langsam unter einer Decke hob. Mit Ausnahme des 19

weißen Verbandes um seinen Kopf schien es unverletzt. 20

„Besser.“, erwiderte Nicolai Brown knapp und fuchtelte 21

wild mit den Armen in der Luft. „Der Junge hat behauptet, 22

Hyänen hätten sie angegriffen. Das ist doch absoluter 23

Schwachsinn. Wenn man schon lügt, sollte man es wenigstens 24

klug tun. Jedes Kind weiß, Hyänen gehören zur Gruppe der 25

Aasfressern.“ 26

Mein Blick wanderte zu dem Ältesten, der um seine 27

Beherrschung ringen musste. Nur selten hatte ich ihn so 28

aufgebracht und wütend gesehen. 29

56

„Ihr Europäer glaubt doch auch alles, was im Internet zu 1

finden ist. Hier zu Land greifen die Tiere an, wenn sie 2

hungrig sind.“ 3

Vom Fenster abgewandt pilgerte er wie ein Tiger durch den 4

Raum. „Du solltest auf die beiden aufpassen! Es war deine 5

Aufgabe, dich um sie zu kümmern.“, brachte er knurrend 6

hervor. 7

„So, meine Aufgabe? Die Kinder sind alt genug, um auf 8

sich selbst Acht zu geben. Ich bin doch kein Kindermädchen! 9

Schau dir Tim an. Er hat sich alleine verteidigen können.“ 10

„Der Junge ist ein schlechter Umgang für meine Tochter. 11

Hätte er sie nicht dazu angestiftet, wäre es erst gar nicht 12

zu diesem… diesem Unfall gekommen.“, herrschte der Arzt den 13

aufgesprungen Keenan an. 14

Ich schüttelte den Kopf. Das Papiertaschentuch in meiner 15

Nase blähte sich merklich auf. Warum konnte Erwachsene nicht 16

zugeben, dass sie einen Fehler gemacht hatten? Außerdem, was 17

hatte dies mit ihnen zu tun? Wir sind es, die die Folgen des 18

Angriffs ausbaden mussten, nicht sie. 19

Ein Stöhnen aus dem Nebenzimmer war vernehmbar. Kay rieb 20

sich den scherzenden Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunden 21

trafen sich unsere Blicke. Sie zwang sich ein Lächeln auf 22

und erhob sich zögerlich aus ihrem Bett, meinen 23

Kuscheltierlöwen im Arm haltend. Als sie nun das Zimmer 24

betrat, verfolg die Wut ihres Vaters für einen kurzen 25

Augenblick. 26

„Schatz, geht es dir besser?“, erkundigte er sich mit 27

einem besorgten Unterton in der Stimme. Ganz in die Rolle 28

des fürsorglichen Papas verfallen, wollte er sie auf den Arm 29

nehmen, doch Kay wehrte ab. Sie sah nicht einmal auf. 30

57

„Nein, Dad.“, entgegnete sie abweisend, „Du bist das absolut 1

widerlichste, das ich kenne, wenn du immer anderen die 2

Schuld daran gibst, dass du scheiterst. Vor ein paar Wochen 3

hast du mal gesagt, Tims Vater wäre ein Irrer, weil er 4

seinen Sohn schlägt. Dabei bist du auch nicht besser. Ich 5

war einmal stolz auf Mum und dich, weil ihr anderen Menschen 6

helft, nach vorne zu sehen. Menschen, die nichts mehr im 7

Leben haben. Immer habe ich so werden wollen wie ihr. Aber 8

jetzt bist du der größte Idiot: Du schickst Tim weg.“ 9

Kay hatte sich in ihre Wut hineingesteigert. Jetzt sank 10

sie neben mich in den weichen Stoff des Sofas und 11

verschränkte die Arme wie ein trotziges, kleines Kind vor 12

der Brust. Ich lächelte. Im Geheimen bewunderte ich sie für 13

ihr Erwachsen sein. 14

Fassungslos starrte Nicolai Brown seine Tochter an. Ich 15

spürte, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, 16

bis dieser Mann die Beherrschung verlor. Mein 17

Beschützerinstinkt veranlasste mich dazu, mich verteidigend 18

vor Kay zu stellen. Doch augenblicklich erfasste mich ein 19

plötzlicher Schwindel. Benommen taste ich, wild mit den 20

Armen ruderten, nach Halt. Keenan, der sofort herbeigestürzt 21

war, packte mich, kurz bevor ich auf dem Boden aufschlug. 22

„Soll eine Verschwörung werden, wie?“, knurrte Herr Brown 23

böse und biss hörbar die Zähne zusammen. „Sind wohl in 24

diesem Dorf nicht mehr erwünscht. Wie du willst, Keenan, wir 25

werden verschwinden. Noch heute, für immer! Glaub ja nicht, 26

dass du jemals eine Postkarte von der Familie Brown 27

erhältst! Nicht einmal, wenn du längst im Grab liegst!“ 28

Mit einer solchen Brutalität, dass diese beinahe vor 29

Schreck gestürzt wäre, führte der Mann seine Tochter aus dem 30

58

Haus. Kay trat verzweifelt um sich und schrie, aber der 1

eiserne Griff ihres Vaters löste sich nicht. „Lass mich 2

los!“, brüllte sie, bevor sich die in einen Handschuh 3

gehüllte Hand über ihre leicht geöffneten Lippen legte. Mit 4

letzter Kraft biss sie in 5

die Hand und lief über das Meer, welches uns trennte. 6

„Tim…“, murmelte sie mit heiserer Stimme und drückte mich 7

fest an sich. Ihre Atmung ging schneller. Tränen 8

verschleierten ihren Blick. „Du bist der beste Bruder, den 9

man sich wünschen kann. Großes-Spanien-Ehrenwort. Ich…“ 10

Energisch wurde sie zurückgerissen. Mein Blick wanderte zu 11

Keenan, der teilnahmslos das Spiel beobachtete. 12

„Tu doch etwas!“, schrie ich im verzweifelten Versuch, 13

Kays Hand festzuhalten. Dabei trafen sich unsere Blicke. Für 14

Sekunden schien die Zeit still zu stehen. Nichts jedoch ist 15

ewig. Denn unsere Verbindung brach ab, als Brown seine 16

Tochter aus dem Haus, Richtung Auto zerrte. Türenknallen, 17

Motorheulen. 18

Das Letzte, was ich von meiner besten Freundin sah, war 19

das vom Wind erfasste, afrikanische Kleid, welches sich um 20

ihren zarten, dünnen Körper schmiegte. 21

59

2. Kapitel 1

Das leuchtende Stück Käse am Himmel starrte unentwegt auf 2

mich herab, geradezu als wollte es jeden meiner Schritte 3

beobachten. Vielleicht hockte dort oben tatsächlich der 4

kleine Mann im Mond. Früher als kleines Kind hatte Mama mir 5

oft vor dem Schlafengehen sein Lied vorgesungen. Sie war 6

hübsch, meine Mama, beinahe wie Schneewittchen oder 7

Dornröschen. Auf jeden Fall so schön wie ein Prinzessin, nur 8

mit einer dreckigen Schürze anstatt einem Kleid. Papa musste 9

glücklich sein, eine solche Frau gefunden zu haben. Einen 10

Schatz, so hatten sie sich oft begrüßt. Als ich nun hier 11

saß, alleine im kalten Wüstensand, versteckt im Schatten des 12

Hauses und in den Sternen übersäten Himmel starrte, wurde 13

mir klar, dass ich in gewisser Hinsicht meinem Vater 14

ähnelte. Auch ich lief davon, weil ich meinen Schatz 15

verloren hatte. Ich rannte fort, versuchte loszulassen, doch 16

das, was ich suchte, war die ganze Zeit über an meiner Seite 17

gewesen. 18

„Hey, Heulsuse! Schade, hast ja doch nicht verschlafen. 19

Ich wäre zu gerne einen Kopf größer gewesen als du.“ Mathieu 20

verzerrte das Gesicht zu einer Grimasse. Langsam erhob ich 21

mich, klopfte den Sand von der fransige Jeans. „Wo sind 22

deine Sachen?“ 23

„Was hast du erwartet?“ 24

„Dass… Du hast doch gesagt…“ 25

„Ja? Was soll ich deiner Meinung nach mitnehmen? Das 26

selbst geschnitzte Holzauto oder die Figuren?“ 27

„Und mit dem Geld? Ich habe meinen Vater bestohlen!“, 28

schrie ich erbost. 29

60

Plötzlich wurde eine Tür aufgeschlagen. Hastig legte sich 1

eine Hand über meine leicht geöffneten Lippen. „Psst, willst 2

du das ganze Dorf wecken?“, zischte Mathieu, ganz wider 3

seine Art nervös zu werden, wobei er mir signalisierte, ihm 4

zu folgen. Den Rucksack über die Schulter geworfen, krochen 5

wir nebeneinander durch den Sand. Immer darauf bedacht, 6

möglichst am Boden zu bleiben. Bereits nach Minuten brannten 7

meine Augen, mein Mund war ebenso ausgetrocknet wie die 8

Wüste, doch ich wagte nicht zu husten, weil ich befürchtete, 9

allein mein Atem könnte Keenan auf uns aufmerksam machen. In 10

gewisser Hinsicht fühlte ich mich wie ein Gefangener, der 11

aus dem Gefängnis ausbrach. 12

Vorsichtig warf ich einen Blick über die Schulter zurück 13

und stellte erleichtert fest, dass die Lichter auf die Größe 14

eines Sterns am Himmel geschrumpft waren. Auf Widerstehen, 15

Keenan, Karim, Benjim, Leo Löwe und ihr alle! 16

Plötzlich drehte sich Mathieu auf den Rücken, zuckte die 17

Achseln. „Okay, ich gebe zu, ich habe gelogen.“, pflichtete 18

er mir bei, „Aber ich konnte doch nicht das Wenige nehmen, 19

wofür mein Onkel wochenlang in der Hitze geschuftet hatte. 20

Meine Familie wäre meinetwegen verhungert. Sorry, Timothy.“ 21

Ich nickte. „Schon okay. Und was willst du jetzt machen?“ 22

„Ich hab von der Münze eine Landkarte gekauft.“ 23

„Und kannst du eine Karte lesen?“ 24

Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Nope, eigentlich 25

nicht. Du etwa?“ 26

„Ich weiß, wo Norden ist und ich weiß, wo Süden ist. Da 27

gibt es einen Spruch. Nie ohne Seife waschen.“ Auf gut Glück 28

deutete ich in den Sternenhimmel „Norden, Osten…“ Hielt den 29

mit Speichel angefeuchtet Finger in die Luft, ebenso wie 30

61

Papa es mir einst beigebracht hat, als wir gemeinsam in den 1

Berg wandern waren. „…Süden, Westen. Die Flagge hat eben 2

nach Süden geweht, also müssten wir nach unten, schätze 3

ich.“ 4

„Besserwisser. Dann brauchst mich wohl nicht mehr.“ 5

„War doch nicht böse gemeint.“, erwiderte ich schnell, um 6

einem Streit aus dem Weg zu geben. 7

„Und du glaubst, du findest den Weg in die große Stadt?“ 8

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich kann‟s versuchen.“ 9

„Okay, ich zähl auf dich.“ Mit einem verlegenen Blick auf 10

meinen Rucksack, fügte er hinzu: „Aber erst einmal müssen 11

wir einen Versteck für die Sachen finden. Ich bin müde.“ 12

Ich schlief kaum in dieser ersten Nacht unter freiem 13

Himmel. Vor allem lag es an der Angst, angegriffen zu 14

werden. „Hier streunen viele Tiere und böse Menschen herum. 15

Am besten hält einer von uns beiden Wache, ja?“, hatte 16

Mathieu mit seinem manchmal unverständlichen Akzent 17

genuschelt und den Kopf ein Stück aus dem Sand gehoben. Den 18

Schlafsack, mit dem wir uns zudeckten, schlang er eng um 19

seinen Körper. Ein letztes Gähnen, dann schlossen sich seine 20

Augen. Von diesem Moment an hatte ich mich von links nach 21

rechts, von rechts nach links gerollt, auf den Bauch, auf 22

die Seite, auf den Rücken, doch schlafen konnte ich nicht. 23

So bestand das größte Abenteuer darin, mir nicht vor Angst 24

in die Hose zu machen. Ich zählte die Sterne am Himmel, 25

malte mir irre Gestalten aus, die ich mit den Fingern in der 26

Luft zu zeichnen versuchte, während ich unentwegt dem leisen 27

Kreischen der Aasgeier lauschte. Bis zum Morgengrauen. 28

Der beißende Geruch von Rauch stieg mir in die Nase. 29

Erschrocken fuhr ich aus dem Sand hoch. Mathieu hockte neben 30

62

einem kleinen Feuer aus wenigen Stöcken und Blättern. Locker 1

drehte er eine an einem Ast aufgespießte Wüstenmaus über dem 2

Feuer. Augenblicklich kitzelte der Brechreiz in meinem Hals. 3

Blut spiegelte sich in der aufgehenden Sonne. „Ich weiß, 4

eigentlich sollte man keine Tiere töten… aber ich hatte 5

Hunger. Und auf Grünzeug mag ich nicht sonderlich.“, brüllte 6

Mathieu von der Feuerstelle herüber. Ich lächelte verlegen. 7

Es würde seine Zeit dauern, bis wir uns verstanden, doch der 8

erste Schritt war gemacht. 9

Energisch schüttelte ich den Kopf. Wenig später war mein 10

Gesicht von einer Sandwolke umhüllt. Ich hustete. Die groben 11

Körner kratzten in meinem ausgetrocknet Hals, der nach 12

Wasser schrie. 13

„Sollen wir schwimmen gehen?“, fragte ich ein wenig 14

heiser. 15

Mathieu wandte sich ab. Ohne mich anzusehen, erwiderter 16

er: „Typisch Ausländer!“ Kopfschütteln. „Können kein 17

bisschen Dreck vertragen!“ Zwischen seinen Zähnen hing noch 18

ein Fleischstück, welches er nun gierig mit der Zunge in 19

seinen Rachen zog. 20

„Typisch Einheimische! Sehen aus wie der letzte Dreck!“ Es 21

war wirklich nicht böse gemeint, doch ich wunderte mich über 22

die heftige Wirkung auf meinen Freund. 23

Drohend, das Gesicht vor Wut unmenschlich verzerrt, setzte 24

er einen Fuß vor den anderen, bis seine Nase meine beinahe 25

berührte. Wie in einer Manege, umjubelt von tausenden von 26

Menschen aus Sand und Staub, umringten wir uns, starrten 27

einander in die Augen, weit vor Zorn aufgerissene Augen. 28

Plötzlich, die Hand zur Faust geballt, schlug Mathieu zu. 29

Blut sprühte aus meiner bereits verletzten Nase hervor. 30

63

Reflexartig riss ich das linke Knie hoch, im selben Moment 1

bemerkend, wie ich das Gleichgewicht verlor. Mein Sturz 2

wurde von dem weichen Sand ein wenig abgefedert, dennoch 3

spürte ich den stechenden Schmerz in der Schulter. Mathieu, 4

den ich im Fall in den Magen getroffen hatte, lachte 5

belustigt: „Na, schmeckt der Sand?“ Er bückte sich und ließ 6

die Körner über meinen Kopf rieseln. Wehrlos lag ich 7

hingestreckt am Boden. Zurückschlagen konnte ich nicht. 8

Einmal hatte ich es gegen Benjim versucht, als wir eines 9

unserer Indianer-Cowboy-Spiele gespielt hatten - und war 10

dabei kläglich gescheitert. Nein, es musste einen anderen 11

Weg geben, meinem Freund zu zeigen, dass ich kein Feigling 12

war. Immerhin besaß ich einen Vorteil: In jedem unserer 13

Kämpfe habe ich ihn besäßen: Ich konnte mir schnell viele 14

Dinge merken. Mathieu mochte der Bessere von uns beiden 15

sein, doch seine Angriffe kamen in jedem Kampf ähnlich. 16

Rechte Hand, präzise auf das Gesicht gerichtet, langsame, 17

meist wenige Bewegungen. Kurzum ich war in der Lage, ihn 18

einzuschätzen. Auch meine Mama und Papa waren zunächst 19

skeptisch gewesen, als die Lehrerin erklärte, ich hätte 20

innerhalb von Minuten ein Arbeitsblatt bearbeitet, für 21

welches die meisten Kinder eine Stunde brauchten. Ab dem Tag 22

kam es häufiger vor, dass auch Papa sich neben mich ans Bett 23

setzte und wir über richtige Männerdinge redeten. Mama 24

lehnte die ganze Zeit über lächelnd gegen den Türrahmen. 25

Irgendwann nahm sie dann neben meinen Vater auf der 26

Bettkante Platz und las uns eine Gutenachtgeschichte vor. 27

Später, als Papa so viele Taschentücher verbrauchte, habe 28

ich ihm diese Geschichten erzählt, von tollkühnen Rittern, 29

die ihre wunderschönen Prinzessinnen aus den von Drachen 30

64

bewachten Türmen befreiten, oder von fleißigen 1

Heinzelmännchen. 2

Dennoch wusste ich nicht wie. Ich wusste nicht, wie ich 3

dies machte, aber wusste, dass ich es konnte, wenn ich 4

wollte: Das Einschätzen und richtige Reagieren. 5

Niesend senkte ich den Kopf, als wolle ich aufgeben. Meine 6

Augen huschten wachsam über Mathieus gebräunte Beine nach 7

oben. „Verlierer…“ Weiter kam er nicht. Die Worte würden für 8

immer auf seinen Lippen ruhen. Mit aller Kraft hatte ihm 9

gegen seine Knie getreten, die nun umknickte, wie ein 10

abgebrochener Grashalm. Dabei verengten sich Mathieus Augen 11

zu einem schmalen Schlitz. Wie ein Chinese, so sah er 12

beinahe aus, wie ein wütender Chinese. Oder wie ein Stier, 13

die Hörner gesenkt, kurz bevor er sich auf das rote Tuch 14

stürzte. In der Staubwolke konnte ich kaum die Hand vor 15

Augen sehen. Das Herz pochte wild in meiner Brust. Es war 16

nur eine Frage der Zeit, bis einer den anderen von hinten 17

überfiel. Eine Frage der Schnelligkeit. Vorsichtig rollte 18

ich mich von Mathieu weg. Ruhig, ermahnte ich mich, ruhig. 19

Gebannt beobachteten die Menschen den Kampf, wissend, dass 20

ich mich weitaus besser geschlagen hatte, als sie jemals zu 21

denken vermocht hatten. Und ich würde gewinnen, denn ich war 22

schnell. Bewegungslos hielt ich inne, wartend bis sich die 23

Wolke aus Sand und Staub verzogen hatte. Von Mathieu keine 24

Spur. Dann plötzlich begann der Himmel zu weinen. Große 25

Tränen, kleine Tränen fielen wie gläserne Diamanten zu 26

Boden. Mathieu, den ich nun neben mir erblickte, grinste, 27

nicht verächtlich, sondern belustigt. „Was hast du wieder 28

angerichtet, Heulsuse?“ Er legte den Kopf in den Nacken und 29

lief umher, um jeden Einzelnen dieser Tropfen auf seinem Weg 30

65

zur Erde zu begrüßen. Jubelnd tat ich es ihm gleich. Daheim 1

hatte ich den Regen gehasst, weil ich dann nie zum Spielen 2

herausgehen durfte, doch in diesem Land schien alles ein 3

wenig anders. Upside down, hatte Kay einmal gesagt. 4

Auch in weiter Ferne konnten wir Punkte ausmachen. 5

Menschen, die auf die Straßen gegangen waren, um den warmen 6

Regen auf ihrer Haut zu spüren. Die ersten Blitze schossen 7

wie Aale über den nachtschwarzen Himmel. Das Wasser schoss 8

Löcher in den Sand. 9

So etwas hast du noch nie erlebt! 10

„Hast du eine Flasche? Damit könnten wir etwas davon 11

auffangen!“, schrie Mathieu über den grollenden Donner 12

hinweg zu mir herüber. Nickend blickte ich mich nach meinem 13

Rucksack um, den ich schließlich einige Meter entfernt 14

liegen sah. Glücklicherweise war sein Inneres zum größten 15

Teil trocken. Hektisch brachte ich Flaschen, Dose, alles, 16

was wir gebrauchen konnten, zum Vorschein. Deren Inhalt, 17

Brot, Süßigkeiten und Ähnliches, sammelte ich auf der 18

bereits durchnässte Decke. Mathieu, der nun zu mir herüber 19

kam, schnappte sich eine der Dose und hielt sie mit beiden 20

Händen in den Himmel. Sekunden später schwappte die 21

durchsichtige Flüssigkeit beinahe über den Rand hinweg. Mit 22

einem letzten Ächzen verzogen sich die Wolken ebenso 23

plötzlich, wie sie gekommen waren. Der Himmel hatte 24

aufgehört zu weinen. Die Sonne strahlte wieder. 25

„War das nicht eine gute Dusche?“, fragte Mathieu, während 26

er sich neben mich kniete, um mir beim Einpacken zu helfen, 27

welches uns nun größere Schwierigkeiten bereitete. 28

„Die Beste, die ich jemals hatte.“, stimmte ich ihm 29

nickend zu und legte ein Brot in den bereits überfüllten 30

66

Rucksack. Dabei lastete Mathieus argwöhnischer Blick auf 1

meinen Schultern. „Das bekommst aber selbst du nicht in die 2

Tasche!“ 3

„Nein, das werden wir so trägen müssen.“, erwiderte ich 4

und schloss den Reißverschluss. 5

„Wie denn?“ 6

Ich verzog den Mund, zuckte mit den Achseln, während ich 7

überlegte. „Wir können die Decke als Sack nehmen!“ In meinen 8

Gedanken tauchte das Bild meines Vaters auf, der als 9

Weihnachtsmann verkleidet, einen Sack über den Schulter 10

trug. Wenn du nicht artig bist, steck ich dich darein, hat 11

er durch seinen wattweißen Bart genuschelt. Mein erstes 12

Weihnachten, welches ich bewusst miterlebt habe, nicht nur 13

von Fotos her kannte. Es soll auch unser letztes gemeinsames 14

Weihnachten gewesen sein. Damals habe ich noch stundenlang 15

am offenen Fenster sitzen und immerzu in den Himmel starren 16

können, ständig in der Hoffnung der Christkind würde kommen. 17

Bei jedem Hubschrauber, jedem Flugzeug, ja sogar bei jedem 18

Sterne, der in dieser schwarzen Nacht zu leuchten vermochte, 19

mochte ich jenes Strahlen in den Augen gehabt haben. Mama, 20

Papa, habe ich aufgeregt gerufen, Mama, Papa, der goldene 21

Schlitten und Rudolf, das Rentier, mit der roten Nase, sind 22

da oben. Doch dem war nicht so, nicht ein einziges Mal. 23

Mathieus Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Es brauchte 24

einige Sekunden, bis er meine ganze Aufmerksamkeit vollenden 25

wieder hatte. 26

„Wie der Weihnachtsmann.“ 27

„Den kenne ich nicht. Läuft der auch wie blöd mit einem 28

Sack über der Schulter?“ 29

67

Ich seufzte. „Keiner zwingt dich dazu, es zu tun. Hier, 1

nimm den Rucksack.“ Um nicht erneut etwas zu sagen, was ich 2

binnen Minuten bereuen konnte, presste ich schnell die 3

Lippen aufeinander, reichte ihm den Rucksack, den dieser 4

nach kurzem Abwiegen sinken ließ. „Was bitte hast du darein 5

gestopft? Von Steinen war nicht die Rede!“ 6

„Vieles.“, entgegnete ich knapp, während ich die Ecken des 7

ausgebreiteten Schlafsacks zusammenlegte. Im Blickwinkel 8

bemerkte ich Mathieu, der sich an dem Reißverschluss zu 9

schaffen machte. Mamas Ring glitt aus seiner Hand. 10

Sekundenspäter konnte ich sein Glitzern im Sand kaum noch 11

vernehmen. 12

Energisch wühlte ich in den groben Körner des goldbraunen 13

Meeres, die meine Erinnerung immer mehr zu verschlucken 14

drohten. „Was machst du da!?“ Blind, den Blick nur auf 15

Mathieu gerichtet, der sich nicht an der Suche beteiligen 16

scheinen zu wollen, wühlte ich im Sand, als die Finger 17

meiner linken Hand etwas Metallisches ertasteten und ich 18

erleichtert den Ring an meine Brust drückte, als wäre dieser 19

der größte Schatz dieser Erde. 20

„Jetzt da du ihn wiederhast, können wir ja entscheiden, 21

was wir hier lassen.“ 22

Erbost starrte ich Mathieu an. „Entscheiden, was wir hier 23

lassen?“, fuhr ich ihn an, ganz gegen meine Art wütend zu 24

werden, „Hast du eine Ahnung, wie viel mir die Sachen 25

bedeuten? Aber nein, woher auch! Du hast ja nichts, was dir 26

wichtig ist!“ Ich erwartete, ein Gegenwehr oder zumindest 27

etwas, womit er sich zu verteidigen versuchte. Die Worte 28

kreisten wie die Geier über uns. Wie Geister, diese 29

unausgesprochenen Wörter. Ich hätte vieles sagen können, 30

68

wollen in diesem Augenblick. Und dennoch bewegte ich nur 1

lautlos die Lippen. Mathieu, ich rede mit dir! Ich mochte 2

seine verletzenden Sprüche hassen, hassen, doch immerhin war 3

er mein Freund, der dort ungewohnt ruhig vor mir stand. 4

Mathieu, Mensch, sag was! Ja, ja, ja, ich mag auch Mist 5

gelabert haben, aber du… Ach, komm vergiss es, Okay? Lass 6

uns endlich Spaß haben. Nur wir beide, du und ich, gegen den 7

Rest der Welt. 8

„Ja.“, murmelte Mathieu nach einer Weile, „Irgendwie hast 9

du recht. Es wäre wirklich dumm, so einen Ring hier im Sand 10

zu vergraben, wo man doch vielleicht in der Stadt echtes 11

Geld dafür kriegen könnte!“ 12

Ich lächelte zögerlich, unwissend, ob er das mit dem 13

Verkaufen ernst gemeint hatte. Aber zum Glück war für diesen 14

Zeitpunkt alles wieder in Ordnung. „Ähm… Stadt?“ Ich drehte 15

mich fragend im Kreis. Mathieu hielt mich an der Schulter 16

fest und ein wenig entsetzt folgte mein Blick seiner Hand, 17

die mitten in einen Urwald deutete. „Das ist der schnellste 18

Weg.“ 19

Verneinend schüttelte ich den Kopf. „Der schnellste Weg in 20

den Selbstmord.“ Auf keinen Fall gehst du dadurch, Tim! 21

„Feigling.“, meinte Mathieu achselzuckend, wobei er meinen 22

Rucksack über die Schulter warf. „Nach dem Regen kann das 23

Wetter plötzlich umschlagen. Gut möglich, dass wir in einen 24

Sturm geraten. Ein Cousin meines Onkels hatte einmal das 25

Vergnügen. Einmal.“ 26

„Und das sagst du mir erst jetzt?“ 27

Erneut zuckte Mathieu die Schultern. „Du hast mich nicht 28

danach gefragt.“, erwiderte er. 29

69

Ich spürte, wie sein Blick mich von hinten zu durchbohren 1

schien. Natürlich, dachte ich verärgert, hast du nicht 2

gefragt, wer, wann, was, wie, wo getan hatte. Theoretisch 3

interessiert es dich nicht einmal. Theoretisch nicht, 4

praktisch schon. Denn jetzt bist du es, der durch dieses 5

Mienenfeld zu laufen hat. 6

„Wir hätten über die Straße gehen sollen.“, schlug ich 7

wenig überzeugend vor. Wenn Mathieu erst einmal eine Sache 8

begonnen hatte, konnte man ihn nur selten davon abbringen, 9

diese nicht auch zu beenden. So mal ich es war, dem er in 10

dieser Hinsicht nicht sonderlich oft recht gab. 11

„Tim, Tim, Tim. Du bist einfach zu gutgläubig. Und 12

außerdem…“ Er rieb mir mit seiner freien dreckigen Hand über 13

das Gesicht. „…musst du dich anpassen.“ 14

Angewidert fuhr ich mir durch die Haare, dann über die 15

rauen Wangen. „Warum?“ 16

„Dummerchen, weil sonst jeder weiß, dass du nicht von hier 17

bist. Und Menschen, die nicht von hier sind, haben Geld. Und 18

Geld ist etwas, was jeder Einheimische gut gebrauchen kann. 19

Denn hier gilt nur ein Gesetz: Gefressen oder gefressen 20

werden…“ 21

„Du meinst…?“ 22

„Ja, wenn die in Kpalimé herausfinden, wer du bist, dann 23

würde ich dir wünschen, nicht geboren zu sein.“ 24

Ich bemühte mich, nicht allzu gestockt zu reagieren. Doch 25

mein Gesichtsausdruck musste mich wieder einmal verraten 26

haben. „Du machst mir Angst.“ 27

„Hey, das heißt nicht, dass du jetzt bei jedem, den wir 28

treffen, gleich in Panik ausbrechen musst. Verhalte dich 29

ganz unauffällig, klar? 30

70

Ich nickte zaghaft, wobei ich die letzte Ecke des 1

Schlafsacks zusammenlegte. „Okay, aber du hast mir immer 2

noch nicht gesagt, warum wir ausgerechnet durch die Wüste 3

müssen.“ 4

Mathieu schüttelte abwehrend den Kopf. „Das wirst du noch 5

früh genug herausfinden.“ 6

Herausfand ich es auch, nur früher als mir lieb war. 7

Ich habe mich damals oft gefragt, warum Mathieu mir nie 8

die Wahrheit gesagt hatte. Warum er mir alles verschwieg, 9

was er über den Tod meines Vaters wusste, was er über mich 10

wusste. Ständig habe ich nur versucht, zu begreifen, wer er 11

war, dieser Junge, mit dem kurz geschorenen Haar und den 12

vielen Narben auf Armen und Beinen. Ständig habe ich nur 13

versucht, zu verstehen, und tat es dennoch nie. Nicht einmal 14

dann, als ich in die dunklen, fast schwarzen Augen sah, die 15

wie durch die Splitter einer eingeworfenen Fensterscheibe in 16

mein Inneres blickten. Die wirkliche Frage dahinter, die war 17

es, die ich nie verstehen oder begreifen wollte. 18

Außer Atem, keuchend stürzte ich das Wasser in der Kehle 19

herunter. Meine Haut brannte wie Feuer, obwohl ich jede 20

halbe Stunde stehen geblieben war, um sie erneut 21

einzucremen. 22

„Mathieu…?“, schrie ich heiser, doch ich spürte, dass das, 23

was mir von den Lippen ging, kaum mehr als ein Flüstern sein 24

mochte. Kraftlos sank ich auf die Knie. Ich würde keinen 25

Schritt mehr weiter tun. „Mathieu…!“, rief ich noch einmal, 26

erhielt erneut keine Antwort. Ein Husten in der Nähe oder 27

etwa weit, weit entfernt? Mittlerweile mochte das Einzige, 28

was ich realisierte, die Tatsache sein, dass wir uns 29

verlaufen haben mussten. 30

71

„Tim? Tim!“ Blinzelnd setzte ich mich auf, beobachte 1

missbillig den auf einem Bein springenden Mathieu, der mir 2

zu rief, er habe etwas gefunden. 3

Für den Fall, dass du mich jetzt weckst, nur um mir zu 4

zeigen, dass du eine alte Bierdose gefunden hast, kannst du 5

froh sein, wenn du mit einem fehlenden Zahn davon kommst. 6

Gähnend stolperte ich herüber - und war mit einem Schlag 7

hellwach. Eine Tasse, halb bedeckt vom Sand. Nichts 8

besonders, eigentlich hatte sie kaum Wert. Und dennoch 9

irritierte mich deren Aufschrift “LC Köln”, die von 10

überdimensionalen, leicht verblassten rot-schwarzen 11

Buchstaben und dem Läufer noch unterliniert wurden. Ich 12

kannte diese Tasse, denn es war meine eigene gewesen - bis 13

ich sie meinem Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Seither 14

trank er jeden Morgen seinen Kaffee daraus. Kaffe, 15

maschinell gemahlen in Brasilien, schwarz, dazu die Zeitung. 16

„Hey!“ Mathieu stieß mich behutsam in die Seite. Ich 17

beachtete ihn nicht, wog nur diese Tasse in meinen Händen. 18

Sie hier im Sand zu finden, fernab von Deutschland, war ein 19

Wunder. Sanft strich ich mit den Fingern über den Läufer. 20

Eine andere Welt, wie aus einem Traum. Mein erstes Leben, so 21

anders als das hier und jetzt. Dabei hatte ich noch nicht 22

einmal begonnen, richtig zu leben. 23

„Hast du noch mehr davon gefunden?“, fragte ich leise, 24

weil ich mich plötzlich vor meiner eigenen Stimme fürchtete, 25

die mich aus diesem Traum wecken konnte. Obwohl Mathieu den 26

Kopf schüttelte, beugte er sich herunter, um mit beiden 27

Händen im Sand zu wühlen. Ich tat es ihm gleich, wenn auch 28

ein wenig hektischer. Allerdings musste ich mir schon nach 29

Minuten eingestehen, dass meine Finger schmerzten, als hätte 30

72

ich einen kompletten Nordseestrand mit Muscheln und kleinen 1

Steinchen umgegraben. Dabei war das Loch kaum mehr als zehn 2

Zentimeter tief. Mathieu buddelte noch einige Zeit weiter, 3

wenn auch nur, um mir zu beweisen, dass er besser war, wie 4

ich vermutete. „Da, wo du herkommst, lernt man so was 5

scheinbar nicht.“, meinte er Stirn runzelnd und betrachtete 6

die vielen, zum Teil wieder vom Sand verwehten Gräben. 7

„Selbst wenn wir die ganze Nacht so weiter machen, glaub ich 8

nicht, dass wir noch irgendetwas finden. Es sei denn, es 9

fällt vom Himmel.“ Insgeheim musste ich ihm recht geben. 10

Vielleicht hatte Papa die Tasse einfach bei einer Pause an 11

dieser Stelle vergessen oder versucht, einen “LC-Köln“-12

Tassenbaum zu pflanzen, ebenso wie ich es oft heimlich mit 13

Gummibärchen oder mit meinem Schnuller getan hatte. 14

Vielleicht, doch mein Instinkt verriet mir anderes. Es war 15

dasselbe unbestimmte, aber sichere Gefühl wie am gestrigen 16

Morgen. Das Gefühl, dass es kein Unfall gewesen sein konnte. 17

Aber wenn Papa nicht verunglückt war, was…? Unschlüssig 18

musterte ich die Tasse, an deren Rand noch ein kläglich, 19

brauner Kaffeerest haftete. Ich wollte den Gedanken nicht zu 20

Ende führen. Dein Vater ist tot, Tim, t-o-t. Wie er 21

gestorben ist, spielt keine Rolle. Doch ich wusste, dass 22

das, was ich mir einzureden versuchte, nicht wahr war. Denn 23

das Verlangen, endlich einmal die Wahrheit zu erfahren, 24

wuchs mit jedem Augenblick, der sinnlos verstrich. 25

„Lass uns nach Kpalimé gehen.“, murmelte ich mehr zu mir 26

selbst, als zu meinem Freund. Vor seinem Tod hatte Papa 27

hatte sie oft besucht, die Stadt. Zumindest hatte er es oft 28

behauptet. Wenn ich demnach Hinweise finden wollte, wäre es 29

vermutlich klug, dort den Anfang zu machen. Vor allem auch 30

73

Mathieu wegen, dem ich nicht zumute konnte, sämtliche Wüsten 1

zu durchkämen, in der ständigen Hoffnung Gründe im Sand der 2

Unterwelt zu finden. 3

Dieser nickte zustimmend, lenkte, dass wir nur meinetwegen 4

überhaupt Halt gemacht hätten. 5

Kpalimé - eine kleine, aber erstaunlich belebte Stadt in 6

mitten eines vom Licht der Sonne in einen sanften rot-grün 7

Stich getauchten Ozeans. Die Häuser mochten alle 8

unterschiedlich sein: Hütten oder Gebäudekomplexe, Holz 9

oder Ziegelstein, modern oder altertümlich, bildeten jedoch 10

einen eng miteinander verbundenen Kreis. Auf den Straßen 11

tummelten sich Menschen jeglicher Art und Größe, manche in 12

kleineren Gruppen, andere alleine. Unter ihnen auch viele 13

aufdringliche Händler, die ihre Waren anpriesen, und 14

bettelende Kinder, die am Straßenrand kauerte. 15

„Beste Zigarren. Sehr billig.“ 16

„Frischer Fisch!“ 17

„Bitte, bitte. Ich hab Hunger. Bitte…!“ 18

Ein überladender, klappernder Bus schoss über die Straße 19

hinweg, ohne auf die Menschen Rücksicht zu nehmen, die nun 20

erschrocken zur Seite sprangen. Staub wurde aufgewirbelt. 21

Eine Gruppe Männer, mit schmutzigen Hemden und Strohhütten 22

bekleidet, hob brüllend die Fäuste. Frauen in langen 23

Kleidern nahmen ihre spielenden Kinder bei der Hand. Eine 24

überreifte Wassermelone zersprang auf dem Boden. Sekunden 25

später war sie von einer Meute hungriger Menschen umzingelt, 26

die gierig über sie herfiel. 27

Dies war Kpalimé - ein bunter, zugleich schwarzer Fleck 28

inmitten eines leeren Herzens. 29

74

Ein letztes Mal wandte ich mich dem rotgrünen Gebirge zu. 1

Unsere Fußspuren waren beinahe verweht. Ich seufzte. Nun gab 2

es kein Zurück mehr, wenn es denn jemals eines gegeben 3

hätte. Für niemanden von uns. Großes, Spanien-Ehrenwort, du 4

bist die beste Freundin, die ich mir wünschen kann. Großes 5

Spanien-Ehrenwort, kleine Schwester, ich werde dich wieder 6

finden. 7

Ich werde dich finden, in dieser neuen Welt, das 8

verspreche ich dir, Kay. 9

Dann wagte ich den Schritt über die Klippe hinaus. 10

Auf einmal war es ganz leicht, einen weiteren zu machen 11

und noch einen. Meine Füße folgten meinem Herzen 12

bedingungslos. 13

Mathieu lachte. „Du siehst aus wie der Surfer auf deinem 14

T-Shirt…“ Er zuckte belustigt mit der Schulter. „… kurz vor 15

dem Absturz.“ 16

Ich blieb abrupt stehen. Wir hatten die Stadt erreicht. 17

75

3. Kapitel 1

„Yovo, Yovo!“ 2

Erstaunt blickte ich mich nach allen Seiten um. Eine 3

ältere, in ein buntes Gewand gehüllte Frau humpelte aus 4

einem Gebäude. Internetcafé stand in unleserlichen, 5

handgeschriebenen Großbuchstaben über der Eingangstür. Durch 6

die verschmierten, von schmutzigen Pappestreifen in den 7

verschiedensten Farben behangenen Fensterscheiben ließen 8

sich die wenigen, vermutlich in Europa längst überholten 9

Computer ausmachen. Das Internet war langsam, zu langsam, 10

doch wenn man die Verhältnisse nicht kannte, fiel es einem 11

kaum auf. Als Mathieu mich am Arm weiterziehen wollte, 12

schüttelte ich den Kopf. Yovo Junior hatte die Frau gerufen, 13

die nun durch ein rostiges Brillengestell zu uns 14

herüberschielte. Kleiner Weißer… Das musste bedeuten, dass 15

auch einmal Yovo Maximo, große Weiße, hier gewesen sein 16

mochten. Vielleicht nicht gestern oder vorgestern, sondern 17

vor einer geraumen Zeit. 18

„Mathieu, gehst du schon mal vor.“ 19

„Wohin?“ 20

„Etwas kaufen.“ 21

„Irgendetwas? Einfach so? Von deinem Geld?“ 22

„Ja!“ 23

Verwirrt zuckte Mathieu mit den Schulter, ließ mich aber 24

nach kurzem Überlegen dennoch mit der Bitte, ich solle ja 25

nichts Böses anstellen, alleine zurück, während er über den 26

Markt davonlief, auf dem sowohl Gemüse und Früchte als auch 27

Zahnbürsten oder T-Shirts angeboten wurden. Schon 28

Augenblicke später hätte ich mich ohrfeigen können für die 29

76

Dummheit, diesen Jungen mit meinem Hab- und Gut quer durch 1

ganz Kpalimé zu schicken. Wer wusste schon, ob es nicht 2

zufällig einen Händler für Gameboys oder Modelautos gab. 3

Dafür jedoch war es nun zu spät, schätzte ich achselzuckend. 4

Die alte Frau zwinkerte verführerisch, beinahe wie eine 5

Hexe, wirkte sie. Geheimnisvoll, doch ich ließ mich darauf 6

ein, von ihr in ihr Häuschen aus Zuckerstangen und 7

Lebkuchen, zusammengehalten von kaum mehr als ein paar 8

Tupfern herrlich süße duftendem Klebstoff, entführt zu 9

werden. „Yovo!“, kicherte sie noch einmal mit ihrer tiefen, 10

fast männlich klingenden Stimme und winkte, als ich zögernd 11

über den Weg zu ihr schlich, dabei das Foto aus der 12

Jackentasche kramend. Die Borsten ihres Besens strichen 13

rhythmisch zu einem alten Lied über den staubigen Holzboden. 14

Eine junge Frau erschien kurz, einen zur Hälfte mit Wasser 15

gefüllt Eimer in der einen Hand schwenkend. Auch sie nickte 16

mir freundlich zu, wandte sie dann aber ab, um einen 17

kräftigen Riesen zu begrüßen. Sein herablassender Blick 18

irrte umher und blieb schließlich merklich an mir hängen: 19

Zarin, der Mann von Keenans verstorbenen Schwester Ismen, 20

der spurlos für Stunden, manchmal sogar für Tage aus dem 21

Dorf verschwand. Vom Erdboden verschluckt oder der drückt 22

sich nur vor der Arbeit und treibt es mit anderen Frauen, 23

hieß es aus vielen wütenden Mündern der Dorfbewohner. Keenan 24

hatte jedes Mal stumm den Kopf geschüttelt. Ich habe 25

gesehen, wie er litt, sooft habe ich es in seinen leeren, 26

grauen Augen gesehen. Zarin nun auf dem Markt von Kpalimé 27

anzutreffen, wunderte mich nicht. Es jagte mir vielmehr 28

einen heißkalten Schauer über den Rücken. Sekunden betete 29

ich, dass er mich nicht erkennen mochte, doch meine Hoffnung 30

77

wurde jäh zerstört, als er die Hand hob, um die Frau zum 1

Schweigen zu bringen, und einen Schritt auf mich zu machte. 2

Hastig senkte ich den Kopf und begann angeregt eines der 3

Plakate am Fenster zu studieren, während ich mich 4

unauffällig bückte, um mir ein wenig des zusammengefegten 5

Drecks ins Gesicht zu reiben. Zufrieden betrachtete ich 6

meinen Zwillingsbruder im matten Glas der Fensterscheibe, 7

als sich die Fingernägel einer schmutzigen Hand in meine 8

Schulter bohrten. Mit gespielten Erstaunen wandte ich mich 9

um und erwiderte, geradezu erbost, dass man mich vom Lesen 10

abhielt: „Ja?“ Ich versuchte, möglichst selten den Mund 11

aufzumachen, denn ich war mir schon damals als Neunjähriger 12

sicher, dass mein Akzent mich verraten würde. 13

Reden ist Silber. Schweigen ist Gold. Glücklicherweise 14

hatte ich nach geraumer Zeit die Aussprache der Kinder im 15

Dorf nachgeahmt, sodass ich, wie Mathieu einmal behauptete, 16

nicht als Ausländer aus hundert Meter Entfernung gerochen 17

werden konnte. 18

Ich grinste, wenn ich an diese Zeit zurückdachte, in der 19

wir uns, flach auf den Boden gepresst, an die Mütter 20

herangepirscht oder einfach im Schatten Sandburgenbauen 21

hatten, die wir nach hitziger Verteidigung selbst 22

zerstörten. Wir haben viel voneinander gelernt. Dinge, die 23

für jeden von uns bedeutend werden würde, unabhängig davon, 24

wie der Würfel fiel. 25

„Darf ich dich etwas fragen, Kleiner?“ Seine Worte wurde 26

durch den französisch-afrikanischer Dialekt dieser Gegend, 27

den sie Ewe nannten, fast unverständlich. 28

„Ich bin nicht klein.“, entgegnete ich so im selben 29

Tonfall, dabei beleidigt das Gesicht verziehend. 30

78

„Okay.“ Der Mann zuckte gleichgültig die Schulter. „Weißt 1

du, ich bin auf der Suche nach zwei Jungen. Beide etwa in 2

deinem Alter. Ein Weißer, ein Togolese. Du siehst dem einer 3

sogar sehr ähnlich. 4

„So sieht aber fast jeder hier aus.“ 5

„Die beiden heißen Tim und Mathieu.“ 6

Es fiel mir nicht schwer, überrascht zu wirken. „Ach, den 7

Deutschen meinst du? Dem sein Vater gestorben ist.“ 8

„Ja.“ Der Riese nickte eifrig. „Du kennst ihn?“ 9

Der Impuls des Lachens überkam mich, doch es gelang mir, 10

ihn zu unterdrückt. Warum lachst du? - Weil es so lustig 11

ist, dass du nicht merkst, dass ich mit dir Katz und Maus 12

spiele. Du glaubst immer noch, das Gummibärchen in der Hand 13

zu haben, dabei schläft es längst in meinem Bauch. 14

„Warum nicht?“, erwiderte ich unschuldig, wobei ich 15

versuchte, das Kratzen des Staubs in meinem Hals zu 16

vergessen. Würde ich husten, wäre meine Tarnmaske 17

augenblicklich vom Winde verweht. 18

„Hast du ihn gesehen? Es ist wichtig, weißt du, Tim musst 19

sofort zurück nach Deutschland.“ 20

Ich stutzte, ließ es mir jedoch nicht anmerken. Warum war 21

ein erwachsener Mann bereit, seine Zeit zu opfern, um einen 22

weniger bedeutsamen Jungen aus dem Land fortzuschaffen? Was 23

für ein Sinn mochte all dies haben? Ich stand am Tor eines 24

immer größer werdenden Labyrinthes mit vielen ineinander 25

verzweigten Gängen, ganz ohne Karte, Kompass oder 26

irgendetwas, was mir Auskunft darüber geben konnte, wohin 27

dieser Weg führte. 28

79

„Vor ein paar Tagen hab‟ ich noch mit ihm Fußball 1

gespielt. Warum muss der denn jetzt weg? Kommt der dann gar 2

nicht wieder?“, fragte ich, bemüht unparteiisch zu klingen. 3

„Wahrscheinlich nicht. Es ist zu seinem Besten. Ihm könnte 4

vielleicht etwas zustoßen, bliebe er hier. Du hast ihn also 5

seitdem nicht mehr gesehen?“ 6

„Nein. Er hat mir nicht einmal gesagt, dass er abhauen 7

will.“ 8

Zarin stöhnte, dann wandte er sich ohne ein Wort des 9

Abschieds oder Dankes ab und stolzierte über den Markplatz 10

davon, bis er in der bunten Menschenmenge verschwand. 11

Erleichtert atmete ich auf, wartete jedoch noch einige 12

Minuten mit dem Abwaschen des Drecks, aus Angst der Mann 13

könnte zurückkommen. Das Gemisch aus Sand und Staub klebte 14

wie Beton auf meinem verschwitzten Gesicht. Energisch sah 15

ich mich nach Wasser um und erspäht schließlich den Eimer, 16

in den die jüngere Frau in unregelmäßigen Abständen einen 17

Stoffrest tauchte, um die Fenster zu putzen. Kurzer Hand 18

kniete ich mich trotz ihres irritierten Blickes neben diesem 19

nieder und begann mein rotes Gesicht zu reiben. Das Wasser 20

verdampfte augenblicklich auf meiner Haut, dennoch waren die 21

kleinen aufsteigender Wolken wohltuend. Erneut bemerkte ich 22

die junge Afrikanerin, der ich scheinbar eine Erklärung 23

schuldig war. „Das war ein Spiel. Ich wollte einmal 24

ausprobieren, ob jemand bemerkt, dass ich ein ‚Weißer‟ bin. 25

Tut mir leid.“ 26

Ich seufzte. Wie ich es hasste, lügen zu müssen! Aber die 27

Wahrheit hätte die Frau nicht verstanden. Wieso auch, wenn 28

ich es selbst nicht begreifen konnte oder wollte, dass die 29

Erde sich rechts herumdrehte und nicht links. 30

80

„Schon in Ordnung.“ Sie lächelte amüsiert, während sie mit 1

der freien Hand unbemerkt ausholte, um mir Wasser ins 2

Gesicht zu spritzen. 3

„Shayne!“ Augenblicklich wandte sich die junge Frau ab, um 4

ihrer Arbeit nachzugehen. „Shayne!“ Die alte Herrin stürmte 5

mit wild umherfuchtelnden Armen und einem vor Zorn 6

verzerrtem Gesicht aus dem Gebäude. Als sie mich erblickte, 7

verflog ihre Wut. „Yovo! Was kann ich für dich tun?“, rief 8

sie und legte mir freundlich die Hand auf die Schulter. In 9

ihrer oberen Zahnreihe fehlten zwei Zähne, was meine 10

anfängliche Hexenvermutung nun noch bekräftigte. 11

Hastig ließ ich meinen Blick umherschweifen, um sicher zu 12

sein, dass mich niemand beobachtete, dann holte ich das 13

zerknittere Foto aus meiner Jackentasche hervor. 14

„Ich suche jemanden.“ Mit dem Finger deutete ich auf den 15

Mann, während ich der alten Frau das Bild in die Hand 16

drückte, die es aufmerksam betrachtete. Dann und wann wiegte 17

sie den Kopf, sagte jedoch nichts. Schließlich nickte sie. 18

„Ich meine, ihn ein paar Male hier gesehen zu haben. War 19

sogar beim mir im Geschäft. Netter Mensch, hat zwei der 20

Computer repariert und dafür lediglich verlangt, ab und zu 21

alleine im Café zu sein. Warum, sagte er mir nie. Aber es 22

schien ihm wichtig, das spürte ich.“ Sie machte eine 23

vornehme Atempause, wobei sie einladend den Arm ausstreckte, 24

um mir den Vortritt in ihr Haus zu gewähren. 25

Vorsichtig huschten meine Augen durch das von einer 26

einzigen, kalten Glühbirne spärlich erhellte Zimmer. Gegen 27

eine der nackten Holzwände waren zwei Tische geschoben, auf 28

denen die staubigen Bildschirme dreier Computer standen, 29

alle sehr nahe aneinandergerückt. Ihnen gegenüber erstreckte 30

81

sich eine verhältnismäßig riesige Theke, über deren Fläche 1

schmutziges Geschirr verstreut war. Auf jedem der metallenen 2

Barhocker hatte man ein selbst gestricktes Kissen gelegt. 3

„Setz dich doch.“, forderte mich die alte Frau auf, während 4

sie hinter dem Tresen verschwand. Kurze Zeit später war das 5

Klirren von Gläsern zuhören. Verlegen ließ ich mich auf 6

einem der Stühle nieder. Es fühlte sich seltsam an, hier zu 7

sitzen, in einem Café mit einer Frau, deren Namen ich nicht 8

einmal kannte. Es fühlte sich seltsam an, aber nicht fremd, 9

vielmehr vertraut. Beinahe so, als sei es etwas ganz 10

Natürliches. Etwas, das in Deutschland nie geschehen würde. 11

Jedenfalls nur äußerst selten. 12

„Einmal habe ich ihn nach seinem Namen gefragt.“, fuhr die 13

Frau fort, ohne sich von dem von einer Plane bedeckten Boden 14

zu erheben, „Einmal, aber er zuckte nur die Schultern: Namen 15

hätten für ihn keine Bedeutung. Warum, habe ich nachgehackt, 16

ein wenig entsetzt, will ich meinen. Warum? Weil sie 17

unwichtig seien. Namen sind bloß Worte, wie tausende und 18

abertausende auf dieser Welt. Man sollte Lebewesen nicht nur 19

unter einem Begriff kennen, sie dadurch unterscheiden, 20

sondern durch das, was sie tun, im Guten wie auch im 21

Schlechten. Das hat er gesagt und ich habe es bis heute 22

nicht vergessen, denn ich wusste, dass er recht hatte. 23

Dieser weise Mann aus dem fernen, fernen Land.“ Sie 24

kicherte, wobei sie strahlend die Flasche Mangosaft 25

hochhielt, nach der sie gesucht hatte. „Frisch zubereitet.“, 26

erwiderte sie beim Eingießen, „Hilft gegen böse Seele. 27

Trink, Kindchen, trink.“ 28

Ich spürte, ihren Blick, der versuchte, in mich 29

hineinzusehen. Unruhig, wie ein aufgescheuchter Vogel 30

82

drückte ich mich fester gegen die Lehne meines Stuhles, ohne 1

die ich sicherlich gestürzt wäre. Tim, beruhige dich. Das 2

bildest du dir nur ein. Doch ich wusste, dass dem nicht so 3

war. Das Glas mit der gelblichen Flüssigkeit war meinen 4

blauen Lippen plötzlich nahe. „Trink, Kindchen.“ Ein irres 5

Lachen. „Trink!“ 6

Wie in einem Albtraum, in dem die Hexe versuchte, ihr 7

Opfer zu vergiften. Nein…! 8

„Alles in Ordnung? Ich hatte keine Ahnung, dass du 9

Mangosaft hasst.“, entgegnete die Frau entschuldigend. 10

Ich schüttelte geistesabwesend den Kopf. Was war passiert? 11

„Die meisten meiner Gäste mögen ihn.“ 12

Hastig ließ sie die Flasche unter der Theke verschwinden 13

und betrachte mich aufmerksam durch ihre grünen Augen. 14

„Woher kennst du eigentlich diesen Mann?“ 15

Immer noch ein wenig verwirrt, wiegte ich den Kopf. Ihr zu 16

erzählen, dass er mein Vater war, konnte ein Fehler sein. 17

Schließlich hatte sie mir alles preisgegeben, was sie 18

wusste, ohne eine einzige Frage zu stellen. „Ein Freund 19

meiner Eltern. Er sagte, ich solle dir schöne Grüße 20

ausrichten, weil er für ein paar Wochen wegginge. Ich hatte 21

gehofft, ihn noch einmal zu sehen.“ Bevor die Frau etwas 22

einwenden konnte, sprang ich von dem Stuhl und erkundigte 23

mich grinsend, ob ich einen der Computer benutzen dürfte. 24

Sie willigte ein, etwas erstaunt, wie es schien. Als ich ihr 25

zudem noch einen CFA-Schein in die Hand drückte, breitete 26

sich ein freudiges Lächeln auf ihren runzeligen Lippen aus. 27

Ich wartete, bis sie pfeifend aus dem Zimmer verschwand, 28

dann startete ich eines der Geräte. Daheim in Deutschland 29

hatte Papa immer den Computer für geschäftliche Zwecke 30

83

genutzt. So jedenfalls behauptete er es, um einen Verwand zu 1

haben, mir auch dieses Spiel verbieten zu können. Doch, wenn 2

ich ehrlich war, alles Geheimnisvolle lockte mich magisch 3

an. Schon bald fand ich eine Möglichkeit, unbemerkt an 4

diesen Roboter zu gelangen. Auf dem Bildschirm erschienen 5

mehrere kleine Bilder. Unter ihnen ein kleines, blaues, mir 6

wohl bekanntes ‚e‟ für Internet. Ich wusste nicht genau, 7

wonach ich suchte oder was ich erwartete, doch ich wusste, 8

dass ich es hier finden konnte, wenn ich wollte. Mit dem 9

Zeigefinger nach den Buchstaben suchend, tippte ich Papas 10

Passwort in das Eingabefenster eines Email-Kontos ein. 11

Sylvie, genau wie meine Mama. Ich seufzte. Warum… Mama, 12

warum? Meine linke Hand verkrampfte sich um die Maus. "Warum 13

kannst du nicht endlich verschwinden aus meinem Leben, wenn 14

du mich schon alleine gelassen hast?", schrie ich, bemüht 15

nicht zu weinen. Wie ein Geier über seine Beute kreiste mein 16

zitternder Zeigefinger über der Eingabetaste. Sekunden 17

verstrichen, bevor sich der Bildschirm langsam verfärbte. 18

"Hallo Marc!", blinkte es in kursiv gedrückter, bläulich 19

leuchtender Schrift, darunter zwei ungelesene Nachrichten, 20

beide von demselben, namenlosen Absender. Die Letzte war 21

heute früh abgeschickt worden. Augenblicke zögerte ich. Das 22

ist nicht deine Angelegenheit, Tim. Das hat nichts mit dir 23

zu tun. Fahr den Computer herunter und hau ab. Doch ich 24

schüttelte den Kopf. Ich würde nicht noch einmal wie ein 25

Feigling davonlaufen. 26

Ohne es recht zu wollen, vollführten meine Finger den 27

entscheidenden Mausklick. Eine Seite öffnete sich, als mir 28

plötzlich der Atem stockte. Das Blut gefror in den Adern. 29

84

Mein Körper schien wie betäubt. Es kribbelte, stach in 1

meiner Brust. 2

Kamikaze erhob sich in bedrohlich blutfarbenen, umrahmten 3

Buchstaben von den restlichen, ebenfalls roten Zeichen. Ich 4

habe es schon einmal gesehen, trug es sogar in jedem 5

Augenblick bei mir, dieses Wort. Trug es bei mir, ohne die 6

Bedeutung zu kennen, einfach so. 7

Hektisch strich ich mir eine Strähne aus der Stirn, wobei 8

ich mich aufmerksam umsah, um sicher zu gehen, alleine im 9

Café zu sein. Dann holte ich die Kalenderseite hervor. In 10

verschmierten, fast unleserlichen Buchstaben strahlte es 11

etwas unnatürlich Starkes aus. Etwas Gefährliches, das mir 12

einen Schauer über den Rücken jagte, obwohl ich nicht einmal 13

das wirkliche Ausmaß dieses Wortes erahnen konnte: Kamikaze. 14

Unwiderruflich begann ich zu lesen. Meine Zunge verschlang 15

jedes der Worte, schmeckte jeden Buchstaben, ja sogar den 16

einzelnen Farbklecks, auf der blassen, weißen Wand, bis mein 17

Blick in tausend Splitter eines Mosaiks zerschlagen wurde. 18

Der Brief war in einer seltsamen, den meisten Menschen in 19

diesem Land fremden Sprache verfasst, doch es war eine 20

besondere Sprache, zumindest für uns beide: Es war unsere 21

Sprache, Kays und meine. Englisch. Dennoch irritierte es 22

mich, das, von dem ich geglaubt hatte, es verloren zu haben, 23

hier wieder zu finden. Schließlich mochte es in Kpalimé 24

weniger Ausländer geben, als beide Hände Finger haben. So 25

jedenfalls hatten wir es bisher immer angenommen, Kay und 26

ich. Wenn es tatsächlich noch jemanden gäbe, wäre es 27

sicherlich nicht schwer, ihn oder sie zu finden. Eine Suche 28

konnte nicht schaden, jedenfalls glaubte ich es zu dieser 29

Zeit noch. Wie hätte ich auch mein Schicksal erahnen können, 30

85

dessen Weg ich bereits eingeschlagen hatte? Ein letztes Mal 1

huschten meine Augen über den kaum verständlichen Brief, bis 2

sie an den Initialen ‚M.S.‟ hängen blieben. Die Kürzel eines 3

Namens, die diesen unweigerlich verfremdeten. M.S, ein Mann 4

oder eine Frau, vielleicht sogar eine Firma oder ein andere 5

Gegenstand. Auf jeden Fall, ein weiterer, von dornigen 6

Ranken verdeckter Wegweiser, dessen Hand in den dunklen Wald 7

hineindeutete. Ich fühlte mich ein wenig, wie Rotkäppchen, 8

das sich in das weit aufgerissene Maul des Wolfes stürzte, 9

mit der einzigen Ausnahme, dass ich mich nicht mit Haut und 10

Haar verschlingen lasen würde. Plötzlich legte sich eine 11

knöchrige Hand auf meine Schulter. Erschrocken fuhr ich 12

herum, in das verlegende Gesicht der jungen Frau starrend. 13

„Zarin ist da. Er möchte mit dir sprechen, glaube ich.“ 14

„Nein…“, stieß ich hervor. Im Winkel meines Blickfeldes 15

bemerkte ich den Schatten, den das Licht der Sonne in das 16

Gebäude warf. Hörte gleichzeitig die dumpfen Schritte an der 17

Türe, unterbrochen von einer tiefen, brummenden Stimme, die 18

einem Bären ähnlich sein mochte. Spürte dasselbe Kribbeln 19

auf der Haut, wie damals bei den Versteckspielen auf dem 20

Spielplatz, nur stärker. Und wusste, dass ich noch nicht 21

verloren hatte. Hastig verbarg ich mich hinter einem 22

afrikanischen Perlenvorhang, der einen Hinterausgang 23

verdeckte, flüchtete jedoch aus Angst, jemand anderes könne 24

mich verraten, nicht sofort. Die junge Frau starrte mir 25

verstollen nach, musste jedoch die Angelegenheit für ein 26

abgekartetes Spiel halten, denn sie begann ohne ein weiteres 27

Wort, die Gläser mit einem dreckigen Lappen zu polieren. Der 28

Perlenvorhand bewegte sich kurz, dann hing er wieder still 29

86

und unberührt herab. Eine Sekunde später und Zarin hätte 1

mich erwischt. 2

„Wo ist der Junge? Einfach abzuhauen, dieser Bursche! 3

Dabei hat ich ihn warnen wollen!“, brüllte der Mann, wobei 4

er sich verärgert auf einem der Stühle niederließ. Stille. 5

Schluckend versuchte ich, den Atem anzuhalten. Ich befand 6

mich nur Zentimeter von Zarin entfernt, nur durch einen 7

dünnen Vorhang getrennt. „Der Junge ist…“ Er erstarrte 8

plötzlich. Suchend nach einem Opfer huschten seine Augen 9

durch den Raum, als warnte ihn ein sicherer Instinkt, dass 10

er belauscht worden war. Kurz blieb sein Blick an dem 11

Vorhang hängen und für Sekunden glaubte ich, er hätte das 12

Schlagen meines Herzens gehört, wie es meine Brust zu 13

zerreißen drohte. Poch… Poch, poch… Leise und langsam, dann 14

wieder lauter und schnell. Poch, poch, poch… Ich schloss die 15

Augen, unfähig, zu atmen oder zu denken, versteinert, 16

gelähmt von der aufkommenden Angst. Poch… Poch, poch… Lauf 17

weg, Tim, lauf… Doch selbst wenn ich mich hätte bewegen 18

können, wäre ich nicht davongerannt. Wohin auch? Im 19

gleißenden Licht der Sonne würde ich, solange dieser Mann 20

auf der Suche nach mir war, kaum zwei Minuten unentdeckt 21

bleiben. „Der Junge ist tatsächlich fort.“, erwiderte Zarin 22

seltsam belustig, wobei er den Blick mühsam von dem Vorhang 23

abwandte und an einem Glas Wasser zu nippen begann. „Aber er 24

war hier.“ Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. 25

Zarin wollte mich warnen - aber wovor und warum? Am liebsten 26

hätte ich dem Mann nun diese Fragen gestellt, doch es war 27

unmöglich. Unsicher schob ich den Perlenvorhang beiseite und 28

verließ das Internetcafé durch den Hintereingang, froh, dass 29

der Weg von dem Marktplatz wegführte, um endlich alleine zu 30

87

sein. Ohne zurückzuschauen, lief ich fort, immer der 1

glühenden Sonne entgegen, ließ mich von meinen Füßen führen, 2

bis sich meine Arme um einen Baumstamm schlangen. Den Kopf 3

gegen die harte Rinde gepresst, verharrte ich für Minuten, 4

vielleicht auch länger. Papa… Meine Gedanken kreisten wie 5

Magnete über ein und demselben Wort, stießen sich ab und 6

zogen sich dennoch magisch an: Papa… Es tut mir Leid, dass 7

ich wie ein Feigling fortgelaufen bin. Ich war und bin nicht 8

der tapfere Sohn, den du immer erhoffst hast. Wahrscheinlich 9

werde ich auch nie so mutig sein, wie du es warst. Denn 10

manchmal wünsche ich mir, oben bei euch zu sein, obwohl ich 11

weiß, dass es Mama traurig machen würde. Ich schaffe es 12

nicht. Aber es gibt noch eines, was ich wissen muss: Warum? 13

Helfe mir, nur dieses eine Mal. Bitte… 14

Zaghaft riss ich den Mund auf, erst jetzt bemerkend, dass 15

ich die ganze Zeit über die Luft in meinem Körper gefangen 16

gehalten hatte, ebenso wie meine Gefühle, die nun zu den 17

Sternen jenseits des Horizontes schwebten. Wenn ich in 18

diesem Moment überhaupt etwas fühlte. Die Dornen stachen in 19

meine Hände, doch diese waren seltsam taub, kribbelten nur 20

gelegentlich. Meine Hände schliefen und von diesem Schlaf 21

wurden allmählich auch meine Arme, Füße und Schultern 22

befallen. Doch fühlen, nein, fühlen konnte ich nicht. Es war 23

beinahe, als hätte jemand versucht, die Erinnerung aus 24

meinem Herzen zu schneiden, sie dabei aber lediglich noch 25

vertieft. Papa… Mama… 26

Etwas berührte mich plötzlich am Rücken, leicht und doch 27

vernehmbar. Hastig fuhr ich herum, im selben Moment in die 28

schwarzen Augen einer Schlange starrend. Ihr Kopf mit der 29

immer wieder hervorzischenden, nach vorne gespaltenen Zunge 30

88

legte sich wie eine Hand beinahe vertraut auf meine 1

Schulter. Ich spürte, wie sich ihr Körper um meinen Hals 2

wandte, spürte, wie mir das Atmen immer schwer fiel. Panisch 3

schlug ich um mich, wälzte mich im Sand - vergebens. Die 4

Schlange zog ihre Schlinge fester, wobei sie mit der Zunge 5

geradezu genüsslich über meine Wangen streifte. Papa, 6

bitte…! Ich möchte noch kein Engel werden, wie ihr, auch 7

wenn ich euch dann endlich wieder sehen könnte! Ich darf 8

einfach nicht. Bitte… Es gibt hier unter den Wolken noch 9

jemanden, für den es sich lohnt, zu kämpfen. Dem ich es 10

sogar versprochen habe. Und Versprechen sollte man nicht 11

brechen, Papa, auch wenn du es damit nie genau genommen 12

hast. Ich tue es! Bitte, Papa… 13

Erstaunt hielt ich inne, kaum mehr als einen Meter von 14

einem gähnenden, schwarzen Abgrund entfernt, der mich für 15

immer verschluckt hätte. Wie auf einer Achterbahn, die 16

unerwartet eine Kurve machte, wurde ich zurück an den Baum 17

mit der Schlange geworfen. Das Tier lächelte zufrieden, 18

obwohl es gleichzeitig ein wenig gekünstelt wirkte. Ich war 19

mir jedenfalls keineswegs sicher, ob es nur vorgab, gut zu 20

sein, oder ob es wirklich einen liebevollen Charakter besaß. 21

Mit letzter Kraft löste ich die Schlinge um meinen Hals und 22

wich soweit zurück, dass die Schlange mich nicht noch einmal 23

erreichen konnte. Daran, fortzulaufen, dachte ich nicht. Ich 24

wusste nicht genau, was es war, dass mich an die Schlange 25

band, doch ich wusste, dass es mich hier hielt. Blinzelnd 26

schloss ich die Augen für einen Moment. Als ich sie wieder 27

öffnete, war das Tier verschwunden. Spurlos, wie vom 28

plötzlich aufkommenden Nordwestwind verweht. Zurück blieb 29

einzig die hauchdünne Spur eines langen Körpers im Sand, die 30

89

Richtung Süden deutete. Vorsichtig kniete ich mich an der 1

Stelle nieder, fuhr mit den Finger langsam die Schuppen 2

nach, bis die Konturen allmählich verblassten. Doch ich 3

hatte mir das Bild eingeprägt, wie eines der Memorykärtchen. 4

Es blieb nur noch die Frage, ob ich es wagen sollte, einer 5

Schlange zu folgen, die möglicherweise reinzufällig nach 6

Süden verschwand. Dabei stand meine Entscheidung von der 7

ersten Minute an fest. Würde ich es nicht tun, hätte ich 8

Papa wieder enttäuscht. Und das könnte ich mir niemals 9

verzeihen. Was nützt einem Feigling Intelligenz, wenn er 10

sich ständig hinter seiner Angst versteckt, die ihn 11

vielleicht manchmal beschützt, aber meistens davon abhält, 12

ein Held zu sein? Nur die Mutigen können etwas verändern, 13

mein Sohn, hatte Papa immer behauptet und mir dabei 14

spöttelnd auf die Schulter geklopft, du nicht, du nicht. Es 15

ist ein bisschen, wie Krieg spielen im Garten mit 16

Erbsenpistolen und Holzschwertern. Diejenigen, die 17

riskierten selbst erschossen zu werden, ernteten Ehre und 18

bekamen von den Verlieren Gummibärchen. Zu ihnen zählte ich 19

nie, weil ich mich immer auf dem Boden zusammengekauert 20

habe, aus Angst, ich könnte meine Freunde verletzen. Damals 21

habe ich mich oft gefragt, warum meine Mutter stolz darauf 22

war, dass ich nicht gekämpft hatte, wenn sie mich mit einem 23

blauen Auge oder Kratzern abholen musste. Warum sie stolz 24

auf jemanden war, der so feige war, wie ich. 25

Nein, dieses eine Mal wollte ich tapfer sein. Spring über 26

deinen Schatten! Sei tapfer, weine nicht! 27

„Hab ich dich endlich gefunden! Dass du auch immer gleich 28

abhauen musst, wenn„s brenzlig wird! Auf dein Versteckspiel 29

hab ich echt keine Lust mehr!“ Erschrocken zuckte ich 30

90

zusammen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass noch jemand 1

in der Nähe war. Wie Mathieu, dessen Gesicht nun hinter 2

einem Baum auftauchte, hätte auch jeder andere den Weg 3

herunter kommen können, ohne dass ich es gemerkt hätte. 4

„Weißt du eigentlich, dass ich durch ganz Kpalimé gelaufen 5

bin, um dich zu suchen?“ 6

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Durch ganz Kpalimé?“ 7

„Na ja, fast.“ Mathieu zuckte die Achseln.“ Ich hab‟ 8

Hunger.“ 9

In Gedanken hing ich immer noch der merkwürdigen 10

Schlangenzeichnung im Sand nach, die alles andere zu 11

verdrängen versuchte. Geh nach Süden, dort wirst du die 12

Wahrheit finden, zischte die Schlange, als wolle sie mich 13

beschwören, geh nach Süden, wie dein Vater es wünscht. Geh, 14

nimm deine Sachen. Wenn du daran glaubst, werden dich die 15

Vögel am Himmel leiten, ebenso wie die Sterne und alles, was 16

dich umgibt. Ich sehe dein Zögern, doch lasse dir gesagt 17

sein, wenn du zurückgehst, wirst du für immer alleine sein, 18

mein Sohn. Für immer. Ich schüttelte den Kopf. Nein…! 19

„Schon gut. Ich halte Abstand, damit dein zartes 20

Näschen den Fischgeruch nicht riecht.“ 21

Beleidigt wich der Junge drei Schritte zurück und legte 22

einen rohen Fisch einige Meter entfernt auf die Decke. „Nur 23

wenn die Geier ihn holen, bist du schuld.“ 24

„Er ist gestorben. Nicht meinetwegen. Vielleicht hat er 25

ein Familie, Frau, Kinder, die jetzt traurig durch den Fluss 26

schwimmen, ständig auf der Suche nach ihm.“ 27

„Hast du jetzt etwa Mitleid? Mit einem Fisch?“ 28

Verständnislos schüttelte Mathieu den Kopf. „Du könntest ihn 29

begraben, wenn es dir dann besser geht. Aber dann hätten wir 30

91

hier bald einen Fischfriedhof. Schwierig würde es erst bei 1

den Moskitos.“ 2

„Warum nicht?“ 3

„Das meinst du nicht ernst. Was hätten wir davon? Und 4

überhaupt! Du hast dich nicht einmal entschuldigt.“ 5

„Tut mir leid.“ 6

Auch Mathieu schien keinen Gefallen an dem Kampf zu 7

finden, wenn ich nicht mitspielte, denn anstatt mich 8

freundschaftlich in die Seite zu boxen, überreichte er mir 9

grinsend eine runde, rotgelbe Frucht. „Aber na gut, ich will 10

nicht so sein. Immerhin konnte ich dank dir endlich wieder 11

einmal eine Orange kaufen. Hier iss. Kein Fisch, kein 12

Fleisch, alles Grünzeug, versprochen! Großes-Spanien-13

Ehrenwort.“ 14

„Die wachsen überall.“, widersprach ich, wobei ich mich 15

neben Mathieu in den Sand fallen ließ. 16

„Ja, aber das heißt nicht, dass man sie auch bekommt, 17

oder?“ Genüsslich wollte er in die Orange beißen, als ich 18

sie ihm hastig entriss. „Was ist denn nun schon wieder?“, 19

entfuhr es ihm genervt. 20

„An der Schale können noch Giftstoffe sein. Die machen 21

krank.“ 22

„Die Weißen vielleicht. Mich aber niemals. Und jetzt gib 23

mir endlich die Orange zurück!“ 24

Seufzend begann ich die Schale einer Frucht mit den 25

Fingernägeln zu lösen, ohne Mathieu aus den Augen zu lassen. 26

„Dann schäle ich sie für dich.“, meinte ich achselzuckend, 27

als mich meine Gedanken erneut einholten. „Im Süden gibt es 28

doch Orangenplantagen, oder?“ 29

92

Es war als ob jemand anderes diese Frage gestellt hatte, 1

jemand der mich zu manipulieren versuchte. 2

„Klar… Ein wenig abseits der Stadt. Die Größte gehört 3

einem Britten. Scott, glaube ich.“ 4

Augenblicklich wurde ich wach. Ein Brite, der im Süden 5

wohnte? Ein plötzlicher Schwindel erfasste mich. Die Orange 6

fiel aus meiner Hand, rollte kurz über den Sand. Finde die 7

Wahrheit…! 8

„Tim?“ 9

„Wir müssen zu dieser Plantage.“ Ein einen mechanisch 10

klingender Unterton lag in meiner Stimme. Unkontrolliert 11

beugte ich mich herunter, um die Orange aufzuheben, wusch 12

sie grob an meinem T-Shirt ab und biss herein - ohne sie zu 13

schälen! Tränen schossen mir in die Augen, im selben Moment 14

begann ich zu lachen. Mathieu schüttelte entsetzt den Kopf. 15

Er glaubte, ich hatte den Verstand verloren und in gewisser 16

Hinsicht hätte er recht behalten. Ich war, wenn auch 17

unbewusst, zur Handpuppe geworden, oder würde es vielmehr 18

noch werden. 19

„Zarin… Er ist auf der Suche nach uns. Wenn… Wir dürfen 20

nicht in Kpalimé bleiben.“ Warum konnte ich Mathieu nicht 21

die Wahrheit sagen? Dass ich wissen wollte, wie mein Vater 22

gestorben war? „Im Süden, auf dieser Plantage, da könnten 23

wir uns verstecken.“ 24

Mathieus Zögern erstaunte mich. Er war ein Junge, der das 25

tat, was er für richtig hielt, ohne eine einzige Sekunde 26

daran zu verschwenden, darüber nachzudenken. „Nein.“, 27

entgegnete er schließlich. 28

„Was?!“ 29

93

„Nein, Tim. Glaub mir, der Mann ist einer Häscher. Seine 1

Leute lauern überall.“ 2

Ein Häscher? Ein Mensch, der einen anderen versucht, mit 3

einem Netz zu fangen? Dieser Mann? 4

„Dann geh ich eben alleine.“ Trotzig wandte ich mich ab, 5

wobei ich den Rucksack über die Schulter warf. Im 6

Augenwinkel bemerkte ich den Jungen, der mich an der Hüfte 7

zurückzog. „Wenn wir gehen, gehen wir zusammen.“, erwiderte 8

er achselzuckend. Die Orange fest zwischen die Zähne 9

gepresst, sodass Fruchtsaft von seinem Kinn tropfte, kniete 10

er nieder, um den Fisch zu den Brotstücken und der anderen 11

Nahrungsmittel zu legen, die er auf dem Markt erworben 12

hatte. Durch den Spalt, den die Hand bot, die ich über die 13

Augen gelegt hatte, um sie vor der Sonne zu schützen, 14

betrachte ich den afrikanischen Waisenjungen. Erneut 15

beschlich mich das Gefühl, dass er mehr wusste, als er 16

preisgeben wollte. Viel mehr. Du wirst es noch früh genug 17

erfahren, hatte er gemeint. Ich konnte nur hoffen, dass es 18

dann noch nicht zu spät wäre. 19

Schmetterlinge, jeglicher Art, Größe und Farbe, schwebten 20

in einem niemals enden wollenden Tanz um den kleinen See, 21

dem der Mond, der sich irgendwo über den riesigen Bäumen 22

versteckte, einen bläulichen Schimmer verlieh. Das Farnmeer, 23

welches sich im frischen Nachtwind sacht bewegte, schmiegte 24

sich an dessen Ufer. Von den langen, Federn ähnlichen 25

Blättern perlten dann und wann ein glasklarer Wassertropfen, 26

der meine vom Sand rauen Füße wohltuend befeuchtete. 27

Verborgen im Schatten einer Felswand, die bis in den Himmel 28

reichen mochte, erklang das leise Murmeln einer Quelle, die 29

sich Augenblicke später in einem farbendvollen, fesselnden 30

94

Schauspiel in den See hinunterstürzte. Ein verzauberter Ort, 1

beinahe wie in einem Märchen, nur umwerfender, schöner. Ein 2

Ort, wie ich ihn noch nie zuvor in meinem Leben gesehen 3

hatte. Der Schmetterling tauchte unmittelbar vor meinem 4

Gesicht auf, sodass ich für Sekunden dessen Fühler auf 5

meiner Haut spüren konnte. Die riesigen, bunten Flügeln, die 6

derart elegant durch die Luft strichen, als haben sie Angst, 7

diese aus ihrem Schlaf zu wecken, ließen das Insekt wie eine 8

Fee mit leicht erröteten Wangen wirken, deren zarter Körper 9

von einer glitzernden Wolke umarmt wurde. Immer größer 10

werdenden Kreise zogen sich über die am Ufer ruhige 11

Wasseroberfläche, als sich plötzlich eine Schildkröte mühsam 12

an Land ziehen wollte, gefolgt von ihrer Familie, bestehend 13

aus Vater, Mutter und vier Kindern. Die Krallen eines der 14

Kleinen rutschen jedoch in der matschigen Erde ab, sodass es 15

von den geheimnisvollen Tiefen des Sees verschluckt wurde. 16

Ich seufzte, wenn ich an meine eigene Familie dachte. Ein 17

Grab auf dem Friedhof und eine Kaffeetasse, noch staubig vom 18

Sand. 19

„Der Klouto, einer der schönsten Ort Kpalimés, jedenfalls 20

bevor die Menschen begannen, die Tieren zu fangen und an 21

irgendwelche Europäer zu verkaufen, für die sie als 22

Wandschmuck herhalten müssen, bis sie verstaubt oder 23

glanzlos in Tüten gepackt und in den Müll geworfen werden. 24

Dafür sollte niemand sterben. Kein Tier der Welt.“ 25

Erst jetzt bemerkte ich die roten Blumen am Ufer, deren 26

prächtigen Blüten zum Teil achtlos von den Hälsen abgerissen 27

worden waren, sowie die abgebrochenen Äste und die 28

Fußstapfen im Farn, die ihre Spuren nicht nur äußerlich 29

hinterließen. In einem Netz, welches dem einer Spinne 30

95

ähnelte, zappelte ein hilfloser Schmetterling, bis auch sein 1

verzweifelter Widerstand langsam erstarb, wie der der 2

bereits ermordeten anderen Insekten. Erwartete auch ihn das 3

Schicksal, als Mitbringsel missbraucht zu werden? Musste er 4

aus diesem Grund sterben, ebenso wie die getrockneten 5

Seepferdchen, die man in beinahe jedem deutschen 6

Souvenirladen an der Nordsee erwerben konnte? Ich mochte 7

vielleicht noch ein Kind sein, doch als Kind hatte ich 8

immerhin noch ein Gefühl für Werte. Man durfte ein 9

Lebewesen, das fühlt, nicht einem toten Gegenstand 10

gleichsetzen. „Lass uns diese Netzte kaputt machen.“, schlug 11

ich vor und überraschenderweise pflichtete mir Mathieu bei. 12

„Aber nur wenn du vorher die Schuhe ausziehst.“, fügte er 13

grinsend hinzu, wobei der die Riemen seiner Sandalen löste. 14

Der Farn kitzelte meine Zehen bis hinzu zur Ferse, wobei es 15

mich beinahe über seinen weichen Teppich trug. Es war ein 16

angenehmes Gefühl, geradezu befreiend. Mathieu schüttelte 17

belustigt den Kopf. „Wenn du dich über so eine Kleinigkeit 18

freust.“ Er zwinkerte verschmitzt. „kann ich mir ja dein 19

Geburtstagsgeschenk sparen.“ 20

Mit seinem Taschenmesser, einem der wenigen Gegenstände, 21

den er ständig bei sich trug, durchschnitt er, den Rücken 22

fest an die morsche Rinde gepresst, eine Masche nach der 23

anderen, ohne ein einziges Mal inne zu halten, um die 24

Schneide neu anzusetzen oder Luft zu holen. Ich, auf der 25

Wurzel eines tropischen Urwaldriesen hockend, beobachte ihn 26

ehrlich beeindruckt, da ich die dicken, geknoteten Schlingen 27

kaum voneinander trennen konnte. Obwohl ich nicht aufgeben 28

wollte, musste ich widerstrebend einsehen, dass ich meinem 29

Freund keine Hilfe war. Auch Mathieu schien sich dies 30

96

einzugestehen. „Geh dort drüber einmal nachsehen, ob du 1

etwas findest, wo wir uns verstecken können.“ Seine freie 2

Hand deutete kurz in die Richtung des Dickichts unterhalb 3

des Flusses, dann wandte er sich wieder dem Netz zu. 4

Seufzend zuckte ich mit den Achseln, wobei ich mein 5

Taschenmesser neben der Wurzel niederlegte und leichtfüßig 6

über das Farnmeer schwebte. Ich würde ohnehin keine andere 7

Wahl haben, als das zu tun, was er befahl. Mein Weg führte 8

mich von der Lichtung weg, immer tiefer in den Urwald 9

herein, sodass ich mich hätte Ohrfeigen können, für die 10

Dummheit, keine Taschenlampe mitgenommen zu haben. Hinter 11

jedem Baum zeichneten sich böse Augen ab, die mich zu 12

beobachten schienen. Hände streckten sich gierig nach mir 13

aus, zerkratzen mein Gesicht, ebenso wie die ungeschützten 14

Stellen meines Körpers. Hastig warf ich einen Blick über die 15

Schulter zurück, doch in der Dunkelheit konnte ich kaum den 16

See ausmachen. Lediglich das Rauschen des Wassers lenkte 17

mich ein wenig. Vorsichtig tastete ich mich voran, unwissend 18

wonach ich eigentlich suchte oder was mich erwartete. 19

Mathieu hatte überzeugend gewirkt, als er behauptete, hier 20

wäre etwas zu finden. Und… Ein riesiges Tier schoss auf mich 21

nieder. In Panik stolperte ich über eine Wurzel, ruderte 22

wild mit den Armen, um Halt zu finden, doch es gab keinen. 23

Leere, nichts als Leere. Rasend stürzte er in die schwarze 24

Tiefe hinab. Blätter zerschnitten meine Wangen. Mein Schrei 25

wurde in der Kehle erdrückt, ebenso wie das Denken und 26

Fühlen. Der ganze Körper versteifte sich, gleichzeitig 27

versuchte er, sich gegen den Fall zur Wehr zu setzen. 28

Erfolglos, bis ein harter, plötzlicher Aufprall ihm alle 29

Luft aus den Lungen trieb, sodass ich glaubte, sämtliche 30

97

Rippen gebrochen zu haben. Ich japste. Blut rann aus meinem 1

Mundwinkel. Ein langer, dunkler Tunnel öffnete sich. 2

Tausende Farben explodierten in meinem Kopf. 3

Ich sterbe… Entsetzt schlug ich die Augen auf. Ich sterbe… 4

Nein, ich will nicht sterben. Atme, verdammt, atme… Die 5

Schmerzen unterdrückend riss ich den Mund auf. Der neue 6

Druck in den Lungenflügeln raubte mir beinahe das 7

Bewusstsein. Speichel tropfte auf den staubigen Boden neben 8

mir, gemischt mit Blut und Erbrochenem. Meine Hände 9

verkrampften sich im Sand, der weich wie Pulver, die Erde 10

bedeckte und den Sturz so abgefedert hatte. Ich lebe… Ich 11

bin nicht tot… Jedenfalls nicht ganz, nur halb. Aber 12

immerhin lebe ich noch. Nur wo? Stöhnend hob ich den Kopf 13

ein Stück aus dem Sand, kniff dabei die brennenden Augen 14

zusammen, doch in der Dunkelheit konnte ich lediglich ein 15

Loch am Himmel erkennen, durch welches der Mond seine 16

Schatten auf mich hinunter warf. Falls dies die Hölle war, 17

sollte es auch einen Aufzug geben. Schließlich konnte man 18

nicht von jedem gefallenen Engel erwarten, dass es ihm Spaß 19

machen würde, sich alle Knochen zu brechen. 20

Vorsichtig kroch ich wie ein verletztes Tier in die 21

Richtung, in der ich einen Fels vermutete. Das Gestein war 22

alt und wies bereits unzählige Risse auf, wie ich bemerkte, 23

als meine Finger über etwas Hartes fuhren. Gelegentlich 24

tropfte Wasser von dem wie die Zähne einer Schlange 25

aussenden Zapfen. Die Geräusche hallten als Geister durch 26

die Höhle, wurden immer lauter und verstummten plötzlich. 27

Tief ein und ausatmend kauerte ich mich an einem Felsen 28

nieder, zog die Knie näher zu Körper heran. Den Kopf legte 29

ich den Nacken. Im Mondlicht tanzen die Schatten. Monster, 30

98

Bestien, mit gefräßigen Mäulern und Klauen, die mich zu 1

packen versuchen. Augen, riesige, gelbe Augen, starren mich 2

aus der Dunkelheit heraus an. Zerrissene, abstehende Ohren 3

horchen dem Schlagen meines Herzens in der Brust, meinen 4

leisen Atemstößen. Rose Elefanten, die aus Knochen zusammen 5

gefädelte Röcke um ihre Hüften tragen, marschieren vor. In 6

ihrer Mitte führen sie einen riesigen, ebenfalls aus Knochen 7

erbauten Käfig, der auf den ersten Blick leer erscheint. Bei 8

genauerem Hinschauen lässt sich jedoch ein ängstliches Küken 9

ausmachen, welches versucht, sich in einer Nichte 10

verbergen. Flammen züngeln die drückende Luft. Ein tiefes 11

Trommeln zum Rhythmus einer grausamen, dunklen Melodie 12

erklingt von dem höchsten Turm herab. Das Tor zum Käfig 13

öffnet sich ächzend. Das Küken in seinem Innern beginnt zu 14

piepsen, langsam und verängstigt. Ein Schnabel, noch 15

blutgetränkt von dem letzten Opfer, drängt das kleine Tier 16

zurück. Es piepst. Es piepst, es piepst. Dann wird es 17

plötzlich totenstill. Das Trommeln erstirbt, ebenso wie der 18

aufgekommene, tosende Sturm. Das Küken ist tot. 19

Schweißgebadet riss ich die Augen auf, völlig 20

orientierungslos. Wo war ich? Mein Nacken war steif, der 21

restliche Teil meines Körpers schmerzte ebenfalls. Bei jeder 22

Bewegung rieselte Sand von meinen verklebten Haaren herab, 23

sodass ich unwillkürlich husten musste. Wo war ich? Rot-24

violettes Licht überflutete die Höhle. Der muntere Gesang 25

der Vögel irgendwo hoch über mir in einer Baumkrone begrüßte 26

die Sonne, die langsam gegen die Nacht ankämpfte. 27

Bald würde sie unsere Haut verbrennen, bald würde sie ihre 28

Strahlen wie Pfeile auf uns herab schießen. Und sie würde 29

lachen, immer zu lachen. Wie jeden Tag. Doch mich beschlich 30

99

das unbestimmte Gefühl, dass heute nichts wie jeden Tag war. 1

Mein Zwillingsbruder in der Wasserlärche schien mich warnen 2

zu wollen. Eine Falle, formten seine rauen Lippen, eine 3

Falle. Sekunden zweifelte ich daran, ob es tatsächlich ein 4

Fehler war, hierher zu kommen. Auch Mathieu hatte sich 5

dagegen gewehrt. Warum? Schließlich war es dieser Weg, den 6

mein Vater mir gezeigte hatte. Ein Weg, dem ich vertraute. 7

Dennoch ein wenig zögernd zog ich mich an dem Gestein hoch, 8

wobei ich meinen Blick durch die kleine Höhle schweifen 9

ließ. Wurzeln durchbrachen zum Teil die Felsen und 10

verankerten sich auf seltsamste Weise ineinander. Durch die 11

morgendliche Hitze wurde die Luft unter der Erde mit jeder 12

Minute drückender. Neue Schweißperlen bildeten sich auf 13

meiner Stirn. Vorsichtig machte ich einen Schritt auf das 14

Loch zu, das linke Bein ein wenig hinterher ziehend. Die 15

bloßen Füße versanken im Sand, als mich plötzlich etwas 16

Scharfes ins Fleisch schnitt. Fluchend sprang ich zur Seite. 17

Warum musste so etwas immer nur mir passieren? Zum Glück war 18

die Wunde nicht tief, wie ich beim Hochheben des Beines 19

erleichtert bemerkte. Der Staub hatte das Bluten sofort 20

unterdrückt. Trotzdem kniete ich an der Stelle nieder, 21

begann im Sand zu wühlen, bis eine silberne Haarspange zum 22

Vorschein kam. Hastig wusch ich sie an meinem T-Shirt ab. 23

Sie mochte noch nicht lange hier liegen, anderenfalls wäre 24

ihre Farbe verblasst. Auch die Diamanten, die in 25

regelmäßigen Abständen in Form von perfekten, runden, 26

gleichgroßen Kreisen auf der Oberfläche angebracht worden 27

waren, funkelten noch im Sonnenlicht. Ein langes, 28

dunkelbraunes Haar wehte sacht im Wind. Es musste sich wohl 29

verfangen haben, als seine Besitzerin die Spange hier 30

100

verloren hatte. Nur wem gehörte sie? Kaum jemand mochte so 1

viel Geld haben, was es einfach machte, das Mädchen zu 2

finden. Denn ich hatte bereits mit meinem Gewissen 3

vereinbart, den Versuch zu starten, der jungen Frau ihr 4

Eigentum zurückzubringen. Vielleicht könnte sie mir zum 5

Danken einen Hinweis darauf geben, wo ich die 6

Orangenplantage des Briten fand, oder mich selbst dort 7

hinführen. Vorausgesetzt, ich schaffte es jemals zurück ans 8

Tageslicht. Die Decke mochte nicht hoch sein, doch hoch 9

genug, um mich hier festzuhalten. Schnell musste ich 10

einsehen, dass es ohne Hilfe beinahe unmöglich war, herauf 11

zu klettern. Zwar boten die rissigen Steine mir eine Art 12

Leiter, aber die Gefahr, dass Stücke heraus brachen, war 13

groß. 14

Seufzend ließ ich die Haarspange in meine Hosentasche 15

gleiten und formte mit den Händen einen Trichter vor den 16

Mund. Mir würde nichts anderes übrigen bleiben, als Mathieu 17

zu rufen, der sich irgendwo dort oben belustigt über meine 18

Dummheit im Farn wälzte. Doch merkwürdigerweise setzte eine 19

unheimliche Stille ein. Die Vögel waren verstummt. Lediglich 20

mein Schrei hallte durch den Wald. „Mathieu!“ Dies hätte mir 21

zu denken geben müssen. „Mensch, Mathieu! Das ist nicht 22

witzig!“, stöhnte ich, wobei ich wütend über mich selbst auf 23

den Boden stampfte. Plötzlich regte sich etwas, bedrohlich, 24

zaghaft. Sekunden später glitt ein grob, geknotetes Seil zu 25

mir herunter. Gott, warum hast du mich nicht gewarnt, vor 26

diesem Fehler, den ich nun beging? Warum hast du einfach zu 27

gesehen? Konntest du nicht ein einziges Mal, einen Kampf 28

ehrlich gewinnen? Im Himmel, dort oben bei dir und deinen 29

Engeln, dort ist alles weiß, hässlich weiß. Ein sanftes, 30

101

watteweiches Weiß für Unschuld in der tiefsten, verdammten 1

Schuld. Weiß, ich hasse weiß. 2

„Mathieu?“ Ein Räuspern. Ich stutzte. Unbehagen stieg in 3

mir hoch. Merkwürdig, dass er nicht lachte oder meine 4

unangenehme Situation kommentierte, wie es sonst seine Art 5

war. Achselzuckend umfassten meine Hände das Seil. Wie dem 6

auch sei. Mathieu mochte sicherlich böse sein, dass er die 7

ganze Nacht über alleine hatte arbeiten müssen. Dennoch 8

spürte ich die Gefahr. Sie war da, auch wenn ich sie aus 9

meinem Kopf zu verdrängen versuchte. Kurz schloss ich die 10

Augen, atmete tief durch. Über mir rauschten die Blätter im 11

Wind und vertrieben damit die tödliche Stille. Schlagartig 12

wurde mir bewusst, dass ich mich nicht ewig in diesem Loch 13

verstecken konnte, egal was passierte. Der Atem des 14

Urwaldes, nass, unberührt, kalt, stellte die hellen Härchen 15

auf meinen Armen auf. Ein erneutes Räuspern, diesmal etwas 16

lauter, beinahe nachdrücklich. Unsicher zog ich mich an dem 17

Seil hoch, wobei ich mich stark zügeln musste, nicht nach 18

unten zu schauen. Andernfalls hätte ich sicherlich 19

losgelassen und wäre zurück in die Tiefe geglitten. Nur noch 20

drei Meter, zwei, vielleicht auch weniger. Ein Bein löste 21

sich aus der Kletterstellung, baumelte für Sekunden frei in 22

der Luft. Losgescharrte Erde rieselte zu Boden. Mit 23

zusammengebissenen Zähnen kämpfte ich meine Panik nieder. 24

Tim, du fällst nicht, beruhigte ich immer wieder meine wild 25

durcheinander wirbelnden Gedanken. Es half mir, nicht völlig 26

den Verstand zu verlieren. Wahrscheinlich wollte Mathieu 27

dich nur ein wenig erschrecken, um dich einen Feigling 28

nennen zu können. 29

102

Blinzelnd ließ ich den Blick umherschweifen, als mein Kopf 1

die Höhle hinter sich gelassen hatte. Etwas Warmes rann mir 2

über die Rücken und auch ohne nachzusehen, wusste ich, dass 3

es Blut war. Dunkelrotes Blut. Entsetzt betrachtete ich, wie 4

aus den zu Beginn kleinen Bächen riesige Flüsse wurden. Doch 5

seltsamerweise spürte ich keinen Schmerz, eigentlich 6

überhaupt nichts. Ein Ast zerbrach. Hastig ließ ich den Kopf 7

herumschnellen und erkannte im selben Augenblick die nackte 8

Wahrheit. Das Blut gehörte einem Papagei, dessen Kopf man 9

mit einem Messer grob von dem bunten Federgewand abgetrennt 10

hatte. Es musste sehr schnell zu Ende vorüber gewesen sein. 11

Kurz und schmerzlos, sodass sich das Tier nicht einmal hatte 12

dagegen zur Wehr setzen könnten. Der Brechreiz kitzelte in 13

meinem Hals. Der Magen wollte sich mir umdrehen. Plötzlich 14

wurde ich unsanft an dem Kragen meines T-Shirts 15

hochgerissen. Ich schrie, versuchte mich loszureißen. Nein, 16

ich bin kein Papagei! Doch eiserne Hände zerrten mich wie 17

einen Sack über das Farnmeer in Richtung der Lichtung. Nein, 18

nein, nein…! 19

Verzweifelt trat ich um mich. Augenblicklich hielt der 20

Mann inne, drückte mich grob mit dem Rücken gegen einen 21

Baum. Ein Ast bohrte sich zwischen meine Schulterblätter. 22

Ich war zu schwach, um davonzulaufen. 23

„Wir wollen dir nichts tun.“, erwiderte der Dunkelhäutige 24

ruhig, aber sein Unterton klang warnend durch eine Art 25

Maske, wie sie oft die Einbrecher trugen, um nicht erkannt 26

zu werden. 27

Irgendwie fand ich die Kraft, den Kopf zu schütteln „Sie 28

haben einen Vogel getötet. Hätten Sie ihm nichts getan, 29

hätte ich Ihnen vielleicht geglaubt.“ 30

103

Verwundert fuhr der Gorilla herum und stieß mir den 1

Ellenbogen in den Magen. Ich zuckte, dann sank ich zusammen. 2

Der Schlag hatte mir alle Luft aus den Lungen getrieben. 3

Tränen traten in meine Augen. 4

„Das hättest du nicht tun sollen.“ 5

Die Mahnung des Mannes erklang dumpf in meinen Gedanken. 6

Idiot, Tim, warum widersetzt du dich? Jetzt ist nicht der 7

richtige Zeitpunkt, den Helden zu spielen. 8

Japsend stemmte ich mich hoch. 9

„Sie haben einen Vogel getötet…“, bekräftigte ich noch 10

einmal. 11

Ich schluckte. Tim, warum hältst du nicht einfach deinen 12

Mund? 13

Im Winkel meines Blickfeldes bemerkte ich ein weiteres 14

Paar schwarzer Stiefel. Sekunden später wurde ich vom Baum 15

weggerissen und gegen eine Wurzel geschleudert. Ich taumelte 16

zurück, schwankte wie ein tödliches getroffenes Tier. Noch 17

im Fall suchte ich instinktiv nach Halt. Ohne Erfolg. Der 18

dumpfe Aufschlag zuckte durch meinen Körper. Der Geschmack 19

von Blut füllte meinen Mund. Zu meinem Entsetzten wurde mir 20

bewusst, dass keiner die Gorillas Mitleid mit mir hatten, 21

nur weil ich ein neunjähriger, hellhäutiger Junge war. Kurz 22

blieben meine Gedanken an Mathieu hängen. Ob sie ihn 23

erwischt haben? Oder konnte er fliehen, fand jedoch nicht 24

mehr die Zeit, mich zu warnen. Ich schüttelte den Kopf. 25

Konzentrier dich, Tim. Du hast nur noch eine Chance. Benutze 26

deinen Verstand. Dafür hat dir Gott einen gegeben. Denk 27

daran, wie du Mathieu hättest besiegen können. 28

Tränen rannen über mein schmutziges Gesicht. Zögernd hob 29

ich die Hände, um den Männern zu signalisieren, dass ich 30

104

aufgab. Durch meine leicht zusammengekniffenen Augen 1

bemerkte ich das fiese Grinsen auf ihren Lippen, als sie 2

sich, die Hände immer noch zu Fäusten geballt, näher an ihr 3

Opfer heran pirschten. Drei,… Zwei,… Eins,… Im letzten 4

Moment warf ich mich zur Seite, trat ich mit aller Kraft 5

einem der Männer die Beine weg. Ein erstickender, 6

irritierter Schrei hallte durch den Urwald. Sand wurde 7

aufgewirbelt. Ohne zu zögern, kam ich auf die Beine und 8

rannte. Ich wusste, mir würden nur Sekunden bleiben, doch 9

ich war orientierungslos, geradezu blind. Mein Herz hämmerte 10

in der Brust. Die linke Seite begann zu stechen. Doch ich 11

rannte einfach. Immer weiter, weiter, davon überzeugt, dass 12

meine Jäger längst die Verfolgung aufgenommen hatten. Wie 13

ich nach einem Blick über die Schulter erleichtert 14

feststellte, schien dem jedoch seltsamerweise nicht so zu 15

sein. Wasser spritzte an meine Beine. Im Wald war es ruhig. 16

Unheimlich ruhig. Zu ruhig. Plötzlich stieß ich gegen etwas 17

Hartes. Entgeistert sah ich auf - in das Narben übersäte 18

Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes. Wütend runzelte er die 19

Stirn. Seine dunklen Augen zuckten verärgert. Ohne dass ich 20

reagieren konnte, schlangen sich seine dreckigen Hände um 21

meinen Hals. Ich keuchte, rang nach Luft. Verzweifelt 22

kämpfte ich dagegen an, nicht das Bewusstsein zu verlieren. 23

Erfolglos. Mir wurde schwarz vor Augen und hätte der Gorilla 24

mich nicht gestützt, wäre ich vorne über gefallen. Nein…! 25

105

4. Kapitel 1

Das Haus aus weißem Backstein, mit seinen schmalen, hohen 2

Fenstern und den verzierten Säulen, die sich wie Wächter an 3

der Tür erhoben, lag etwas abseits der Stadt. In der Mitte 4

einer riesigen, künstlichgrünen Rasenanlage erstreckte sich 5

ein gigantischer Swimmingpool. Die Sonnenstrahlen schienen 6

in das glitzernde Wasser ein, aber nie mehr auftauchen zu 7

wollen. Hinter den getönten Fensterscheiben des 8

Wintergartens saß ein Mann, die Beine lässig übereinander 9

geschlagen, auf einem Klavierstuhl und beobachtete zufrieden 10

ein zehnjähriges Mädchen, welches im Marmorbecken seine 11

Bahnen zog. Die Art, wie er rhythmisch mit dem rechten Fuß 12

auf den steinernen Fußboden klopfte, dabei den Rücken so 13

unmenschlich gerade, als würde dieser von einem unsichtbaren 14

Brett gehalten, war seltsam beunruhigend. Seine dunklen 15

Augen, die von der modischen Brille vergrößert wurden, 16

hatten für mich nur einen kurzen Blick übrig gehabt. Doch 17

ich spürte auch jetzt, dass sie versuchten, mich 18

einzuschätzen. 19

Das junge Mädchen zog sich am Beckenrand hoch und 20

schüttelte elegant das nasse, dunkelbraune Haar. Glasklare 21

Wassertropfen perlten von ihrer gebräunten Haut. 22

Kopfschüttelnd sah sie sich nach allen Seiten um, als merkte 23

sie, dass man sie heimlich beobachtete. 24

Plötzlich wandte sich der Mann ruckartig ab und stolzierte 25

mit den geschmeidigen Schritten eines Seiltänzers auf mich 26

zu. Ich wollte den Kopf senken, um Hilfe rufen, doch das 27

Klebeband auf meinem Mund unterdrückte jeden meiner Schreie. 28

Im selben Moment kam ich mir lächerlich vor. Dieses Haus 29

106

hätte aus einem Bilderbuch stammen können, erfunden und 1

absolut kalt. Das Einzige, was real war, waren meine 2

Schmerzen. Benommen von den Schlägen der Gorillas, die mich 3

außer Gefecht gesetzt haben mussten, versuchte ich mit dem 4

Zeigefinger über die merklich angeschwollene, linke 5

Gesichtshälfte zu streichen. Doch, wie ich entsetzt 6

bemerkte, waren meine Arme auf seltsamste Weise nach hinten 7

verdreht. Bei dem Versuch, mich zu fesseln, hatten sie mir 8

vermutlich sämtliche Knochen gebrochen. Langsam fuhr ich mit 9

der Zunge über die Zähne, um zu prüfen, ob welche fehlten. 10

Hoch über meinem Kopf blies unaufhörlich eine Klimaanlage. 11

Die Wanduhr schlug. Einmal. Zweimal. Dreimal. Mein Blick 12

fiel auf die schwarzen, polierten Schuhe und wanderte dann 13

nach oben. Kurze, dunkle Hose, Hemd. An der weißen, 14

knochigen Hand glitzerte ein goldener Ring. Das kurz 15

geschorene, leicht gräuliche Haar glänzte im matten Licht. 16

Der Mann war nicht sonderlich groß, dennoch strahlte er eine 17

gewisse Stärke und Überlegenheit aus, mit der er mich jetzt 18

wie ein hilfloses Insekt unter dem Mikroskop musterte. Dabei 19

lag weniger Wärme in seinem Blick als in dem eines Hais. 20

„Du hast großes Glück gehabt, dass meine Wächter dich 21

nicht in tausend Stücke zerrissen haben.“, fing er hüstelnd 22

an. Er sprach Englisch, eine der drei Sprachen, die ich 23

beherrschte. „Ich weiß nicht, wer du bist und was du dort 24

draußen zu suchen hattest. Es interessiert mich auch wenig. 25

Namen haben für mich keine Bedeutung. Viel mehr möchte ich 26

von dir wissen, ob du alleine gewesen bist.“ 27

Ruckartig riss er das Klebeband von meinem Mund. 28

„Ja.“, erwiderte ich unbeirrt und bemerkte im selben 29

Augenblick, dass ich gelogen hatte. Mathieu war bei mir 30

107

gewesen, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als die Gorillas 1

mich zu Boden warfen. Aber was war dann passiert? Hatten sie 2

auch ihn geschnappt und hierher gebracht in dieses Gefängnis 3

aus Gold und Silber? 4

„Du weißt genau, dass es nicht wahr ist, verdammt noch 5

mal. Bei dir war ein dunkelhäutiger Junge.“, brüllte der 6

Mann und schlug wütend mit der Hand auf den Tisch. 7

„Warum fragen Sie dann, wenn Sie es schon wissen?“ 8

Er zuckte mit den Schultern, als habe ich eine berechtigte 9

Frage gestellt. 10

„Na schön. Vielleicht haben wir falsch angefangen. Ich bin 11

Maurice Anthony Scott, Sir Maurice Scott. Was du hier 12

siehst, ist mein Haus. Aber, verstehe, hier draußen in der 13

Wüste treiben viele böse Menschen ihr Unwesen. Deshalb lasse 14

ich mein Anwesen stark bewachen und alles und jeden, der 15

mich angreifen könnte, gefangen nehmen. Dein Freund und du, 16

ihr beide, seid hierherum gestreunt, also habe ich annehmen 17

müssen, ihr wollet klauen.“ Seine Stimme verirrt keine 18

Gefühlsregung. Sie war absolut kalt. 19

Unauffällig beobachtete ich das Mädchen, welches immer 20

noch am Beckenrand stand und nachdenklich ins Wasser 21

starrte. Ihre Augen waren von einer Sonnenbrille bedeckt, 22

die ihr kindliches Gesicht ernst wirken ließ. Der blaue 23

Bikini rundete ihre hübsche Figur ab. Sie hätte genauso gut 24

Model einer Werbezeitschrift für Sportartikel sein können. 25

Kindlich, aber nicht zu kitschig. Keine Pferdchen, keine 26

rosa oder pinken Barbiepuppen. In gewisser Hinsicht ähnelte 27

sie Kay. Jedenfalls vom Äußerlichen. 28

„Das ist meine Tochter Tess.“, erwiderte Sir Scott, der 29

meinem Blick gefolgt war, ein wenig freundlicher. 30

108

Ich nickte knapp. Irgendwie beschlich mich das Gefühl, 1

dass der Mann mein Vertrauen gewinnen wollte, um so an die 2

nötigen Informationen zu gelangen. In mancher Hinsicht 3

verhielt er sich dabei wie ein Lehrer, der den Namen des 4

zweiten Straftäters herauszufinden versuchte, der sein Auto 5

mit Klopapier umwickelt, Wasser auf den Stuhl geschüttet 6

oder gegen die allgemeine Schulordnung verstoßen hatte. 7

Innerlich musste ich grinsen. Tut mir Leid, Sir, ich habe 8

Sie durchschaut. Sie sind nicht der Zauber oder 9

Weihnachtsmann, sondern bloß eine gute Fälschung. Ich habe 10

unter Ihrer Maske Ihr wahres, fieses Gesicht gesehen und Ihr 11

Lachen gehört. Dieses schreckliche, gemeine Lachen, das 12

alles verklingen lässt, was Ihnen missfällt. 13

„Sie möchte sicher wissen, wer du bist, wenn sie dich 14

sieht.“ 15

Ich nickte. „Dann kann ich es ihr ja selber sagen. Und 16

auch, dass Sie mich gegen meinen Willen hierher gebracht 17

haben.“, entgegnete ich, ein wenig verwundert über meine 18

plötzliche Schlagfertigkeit. 19

Auch der Mann zögerte für einen Augenblick, schien jedoch 20

unbeeindruckt. 21

„Ihr wolltet klauen, so ist es doch, oder?“ 22

„Nein. Ich bin rein zufällig hier vorbei gekommen.“ 23

„Ich mag Zufälle nicht.“, entgegnete Maurice Scott, den 24

Klavierstuhl heranziehend und an einem milchig aussehenden 25

Cocktail nippend, der ihm auf einem silbernen Tablett 26

serviert worden war. „Es gibt viele Menschen, die versuchen 27

sich gegen etwas zu wehren, was nicht abzuwehren ist. Nie. 28

Die meisten von ihnen liegen jetzt etwa zwei bis drei Meter 29

unter der Erde. Ich denke, dass du dich nicht zu ihnen 30

109

gesellen möchtest. Maden und Käfer werden deinen kleinen 1

Körper von innen heraus zersetzen wie ein totes Stück 2

Fleisch beim Metzger. Genussvoll bohren sich ihre gierigen 3

Mäuler zuerst in deinen Hals und wandern dann tiefer in 4

Magen, Leber und Darm. Und zum Schluss sezieren sie dein 5

Herz. Dabei werden sie nichts von dir übrig lassen, fürchte 6

ich.“ 7

„Sie sind ja…“ 8

Ruckartig ließ der Mann das halbausgeleerte, mit 9

glitzernden Steinen verzierte Glas auf den Tisch stoßen. Es 10

klirrte kurz, schwankte, dann stand es still. „Was bin ich? 11

Geistergestört? Nun, wenn es so wäre, verrate mir, warum 12

alle guten Menschen immer so früh sterben? Richtig, weil sie 13

dumm sind und sich für Dinge einsetzen, die sie nicht den 14

Dreck angehen. Du deckst deinen Freund, das ist mutig von 15

dir. Aber ich würde überlegen, ob er dasselbe für dich tun 16

würde.“, entfuhr es ihm. 17

„Ja.“, erwiderte ich unbeirrt. 18

„Du bist noch jung. Wie meine Tochter. Sag mir einfach die 19

Wahrheit und ich werde dafür sorgen, dass meine Männer dich 20

und deinen Freund verschonen. Aber, bitte, versuche nicht, 21

mich anzulügen.“ 22

„Okay . Ich heiße Tim… Tim River.“ 23

„Tim River?“ Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, 24

als überraschte es den Mann, meinen Namen zu hören. Sein 25

Blick glitt in weite Ferne, jedenfalls erweckte es den 26

Anschein, als wäre es so. Dann fasste er sich jedoch ebenso 27

schnell wieder: „Kannst ja doch sprechen, wie? Siehst du, es 28

ist gar nicht so schwer. Also, kommen wir zur nächsten 29

Frage: Warum bist du hier?“ 30

110

„Weil ich Ihren beschissenen Gorillas in die Arme gerannt 1

bin. Verzeihung, war nicht beabsichtigt.“ 2

„Halte mich nicht zum Narren, Junge.“ 3

„Tu ich nicht, Sir.“ Jetzt da er bereits meinen Namen 4

kannte, wusste ich, dass ich nur eine Chance hatte, wenn sie 5

auch noch so klein war. Ich musste den Mann reizen, mit ihm 6

Katz-und-Maus-Spielen. Dann würde er Fehler machen. Hoffte 7

ich jedenfalls. 8

„Tim…“ Seine Stimme zitterte vor Wut. Für Sekunden hatte 9

ich das Gefühl, er wolle mich schlagen. Doch überraschender 10

Weise hielt er inne, die Hand zur Faust geballt. 11

Meine Situation erinnerte mich düster an einen schlecht 12

inszenierten James Bond-Film, in dem ich fälschlicherweise 13

die Hauptrolle des gekidnappten Spions zu spielen hatte. Nur 14

kannte ich weder das Drehbuch, noch besaß ich irgendwelche 15

Waffen, mit denen ich mich verteidigen konnte. Explodierende 16

Schnürsenkel, eine Sonnenbrille, in der zwei blitzartige 17

Geschosse versteckt waren - Fehlanzeige. 18

Gerade als ich im Begriff war, mir ein neues Argument 19

zurechtzulegen, war ein Summen vernehmbar. Sekunden später 20

heulte ein starker Motor auf. 21

„Wenn das nicht mal dein Freund ist, Tim.“ Maurice Scott 22

jauchzte wie ein kleines Kind kurz vor der Bescherung. Sein 23

Zorn war mit einem Mal verflogen. 24

Bitte, lass es nicht Mathieu sein… Mit mir konnte dieses 25

Monster machen, was es wollte, aber nicht mit meinen 26

Freunden. Ein Glück, dass Kay wenigstens in Sicherheit war. 27

Maurice Scott, wieder mit einer Hand nach seinem Glas 28

langend, erhob sich, den Rücken gerade, die Nase gerümpft, 29

von seinem Stuhl. In gewisser Hinsicht ähnelte er einem 30

111

meiner Zinnsoldaten, die ihren Führer begrüßten. Links zwo, 1

drei, rechts, zwo drei. Waffen anlegen, Marschieren… 2

Ein Schrei hallte über den Flur, den ich nur zu gut 3

kannte. Mathieu! Sein Gesicht war blutverschmiert, die Beine 4

zu schwach, um ihn zu tragen. Seine Begleiter mussten ihn 5

widerwillig stützen, was sie mit wenig Zartgefühl taten. 6

Erneut heule mein Freund vor Schmerz auf. 7

„Mathieu!“ 8

Der Junge sah auf, lächelte zaghaft, als bemerke er erst 9

jetzt, dass noch jemand da war. 10

Ein feuchtes Glitzern im Augenwinkel. 11

„Mein lieber Tim.“, kicherte Maurice Scott freudig. 12

Nur schwer konnte ich den Blick von meinem Freund 13

abwenden. „Sie…!“ Weiter kam ich nicht, denn ich sah es in 14

den dunklen Augen des Mannes. Ich sah es, wissend, dass wir 15

verloren hatten, während sich hinter uns leise eine zweite 16

Türe öffnete. Im selben Augenblick packten mich zwei 17

beharrte Hände und rissen mich brutal vom Boden hoch. Ich 18

schrie, versuchte mich verzweifelt loszureißen. Im 19

Augenwinkel bemerkte ich den Stofffetzen, der sich langsam 20

über meinen geöffneten Mund legte, und das Klicken. Dieses 21

freche Klicken der Handschellen… Nein! Blitzartig ließ ich 22

den Kopf herumschnellen, wobei ich den Wächter am Kinnhacken 23

traf. Taumelnd stolperte er zurück, sodass ich für einige 24

Sekunden frei war. Doch was nun? Maurice Scott lächelte 25

gekünstelt und beobachtete den Kampf wie ein Zuschauer im 26

Kino. Nur das klebrige Popcorn zwischen Ihren hässlich, 27

weißen Zähnen fehlt! Im Winkel meines Blickfeldes bemerkte 28

ich, dass auch Mathieu sich zu wehren versuchte, als ein 29

112

Schlag seine Zähne aufeinander presste. Seine Lider falteten 1

kurz, dann brach er zusammen. 2

Nein! Mit letzter Kraft schlug ich um mich, doch ich 3

spürte, dass mir etwas ins Fleisch schnitt. Die Wächter 4

führten uns aus dem Wintergarten heraus in einen Raum, der 5

ebenso schwarz war wie die Seele des Mannes, der uns hier 6

einschloss. 7

Meine Angst nahm zu, je mehr Zeit ich in diesem Würfel 8

ohne Licht verbrachte. 9

Wasser rann über die rauen Wände des ehemaligen 10

Weinkellers. Nachdem die Eisentür hinter uns zugefallen war, 11

hatte ich den längsten Fluch meines Lebens ausgestoßen. Es 12

half mir, nicht völlig den Verstand zu verlieren, den ich 13

brauchte, um diese ausweglose Situation zu meistern. Mathieu 14

hatten sie auf ein Gestell gelegt, das wohl ein Bett sein 15

mochte. Der Schlag musste ihn in einen hundertjährigen 16

Schlaf versetzt haben. Ich konnte nur hoffen, dass er 17

schneller erwachte als Dornröschen, denn ich brauchte 18

dringend jemanden, mit dem ich reden konnte. Und zwar bevor 19

die Gorillas zurückkämen! Wenn sie uns denn irgendwann aus 20

diesem dreckigen Loch herauszogen, um uns zurück in die 21

Flammen gespickten Hände des Teufels zu spielen. Unruhig 22

drehte ich mich im Kreis, bis mir schwindelig wurde. Gott, 23

wenn es dich wirklich gibt, nicht nur als Kreuz oder in 24

irgendwelchen Gemälden, weißt du, dass ich gegen viele 25

Gebote verstoßen habe oder es noch tun werde. Aber dann 26

weißt du auch, dass du es ebenso getan hast, indem zuließt, 27

dass Menschen gegen deine Gesetze verstießen. Das Leben ist 28

ein Traum, vor dem wir uns nicht verstecken sollten, wir 29

beide. Du magst vielleicht mächtiger sein, kannst über uns 30

113

genauso entscheiden, wie ich über meine Spielzeugautos. Aber 1

ist Macht gleich Macht? Ich mag vielleicht einer deiner 2

Gegner sein, weil ich dich herausgefordert habe. Ich habe 3

gelogen, habe Fehler gemacht. Doch was ist mit Mathieu? Er 4

kann nichts dafür und trotzdem lässt du es zu, dass dieses 5

Schwein von Sir ihn schlägt. Mich kannst du in die Hölle 6

schicken oder sonst wohin. Es ist mir egal. Aber bitte, gib 7

ihm eine Chance… 8

Auf der anderen Seite der Tür wurde ein Schlüssel 9

herumgedreht. Sekundenspäter blinzelte ich in das grelle, 10

weißliche Licht einer Taschenlampe. Benommen stand ich auf, 11

Mathieus Hand festhaltend. Dabei konnte ich mein Herz hören, 12

wie es schnell und aufgeregt pochte. Stille. Das Bild 13

verschwamm, wurde hinter einem wässrigen Vorhang verfälscht. 14

Nicht weinen, dachte ich und tat es doch. Leise in mich 15

hinein. 16

„Sir Scott möchte dich sprechen.“ Die harte Stimme des 17

Mannes wurde zu einem Flüstern. Beruhigend streichelten 18

meine Finger über die Hand meines Freundes. Ich wollte sie 19

für immer festhalten. Schon so oft hatte ich loslassen 20

müssen. Mama, Papa, Kay… Nein, denk nicht an sie, Tim. Du 21

musst aufhören, in der Vergangenheit zu leben, wenn du in 22

der Zukunft eine Chance haben willst. Ich schüttelte den 23

Kopf. Schweißperlen rannen über meine Stirn. Wenn ich mit 24

dem Wächter fort ginge, wäre ich wieder alleine. Bliebe ich 25

hier, widersetzte ich mich dem Mann erneut und würde somit 26

weitere Schläge kassieren. Für uns beide. Wahllos ließ ich 27

meine Hand, Finger für Finger, aus der heißen meines Freunds 28

gleiten. Pass auf dich auf, Kumpel, flüsterte ich so leise, 29

dass der Wächter es nicht hören konnte… 30

114

Zum allerersten Mal konnte ich wirklich behaupten, einem 1

unheimlichen, kaltenherzigen Menschen begegnet zu sein. 2

Maurice Scott hockte aufrecht in seinem gepolsterten Sessel 3

und starrte unentwegt durch das riesige Fenster seines 4

Arbeitszimmers, welches zugleich als Schlafgelegenheit 5

genutzt werden konnte. Seit meinem Eintreten hatte er noch 6

kein einziges Wort gesprochen und auch jetzt drehte er mir 7

den Rücken zu. Neugierig sah ich mich um, unwissend, ob man 8

von mir Antwort auf eine unausgesprochene Frage erwartete. 9

Ein elegantes Himmelbett mit teuer aussehender Bettwäsche, 10

die perfekt glatt gestrichen war. Überhaupt schien alles in 11

diesem Raum übertrieben. Entweder hatten die Staubkörner 12

Angst oder sie waren von einem besonders guten Fänger 13

davongejagt worden, denn nicht ein einziges ließ sich auf 14

den Möbelstücken blicken. Ordnung, nichts zum Festhalten. 15

Nur auf dem gewaltigen Schreibtisch, an dem eine Schublade 16

herausgezogen worden war, herrschte Chaos. Die 17

verschiedensten Stifte, deren Farben nicht einmal ein 18

Künstler Namen zu ordnen konnte, waren über die gesamte 19

Länge der Tischoberfläche verstreut. Mitternachtsblau, 20

Tannengrün nur einen Hauch heller… Über dem schreiende Pink 21

auf dem Parkettboden lag ein zerbrochener, kleiner 22

Bilderrahmen. Die herrlich, frisch duftende Obstschale wurde 23

von einem Papierberg bedeckt. 24

„Setz dich oder willst du da Wurzeln schlagen?“, bot der 25

Mann ruhig an, doch sein eisiger Unterton klang warnend. Ich 26

schluckte, zog dann dennoch einen Stuhl heran. 27

Mit Schwung wandte sich Maurice Scott mir unerwartet zu. 28

Sein schmales Gesicht war ausdruckslos und wenn, so zeigte 29

es nur Gleichgültigkeit und Verachtung. 30

115

In dem teuren, dunklen Morgenmantel, den er jetzt trug, 1

wirkte er wie ein Priester. "Ein Priester des Teufels", 2

dachte ich unwillkürlich. Oder wie ein Schlachter, der 3

darauf wartete, dem Vieh den letztes Atemzug zu nehmen. Ich 4

wusste, wie sich die Tiere gefühlt haben mussten, denn ich 5

war dabei, als viele von ihnen ermordet wurden. Papa hat 6

mich zu diesem Hof mitgenommen, damit ich härter werde. So 7

hat er es jedenfalls behauptet. Stattdessen habe ich ab dem 8

Tag kein Stück Fleisch mehr angerührt. Bin immer dünner 9

geworden. Schrieb sogar Plänen nieder, wie ich die Schweine 10

und Hühner vor diesen Schändern befreien wollte. Doch kurz 11

vor dem Sieg zogen meine damaligen Freunde den Schwanz ein, 12

ließen mich im Stichen, machten mich sogar lächerlich, 13

während sie ihren Hamburger, triefend vor Fett, bei 14

McDonalds verschlangen. Allein der Anblick ... Ekelig. 15

Ich hatte keine Ahnung, warum mir ausgerechnet jetzt diese 16

Niederlage einfiel. Vielleicht weil ich nun eines der 17

tausend Hühner war, dessen Kopf man vom Körper trennen und 18

dann zur Belustigung im Kreis laufen lassen würde, bis die 19

letzten Zuckungen endlich erstarben. Oder ein Schwein, ein 20

rosafarbenes, kleines Schweinchen, das schon kurz nach der 21

Geburt als festlich verzierter Braten im Backofen schmoren 22

musste. 23

„Du wunderst dich sicher, warum ich dich nicht geschlagen 24

habe.“ 25

„Weil Sie sich nicht ihre Hände dreckig machen wollen? Wie 26

überaus nett von ihnen.“, erwiderte ich schnell und wandte 27

ruckartig den Kopf herum, weil mir mein Instinkt verriet, 28

dass ich beobachtet wurde und dies nicht nur von Sir Maurice 29

Scott. Mein Blick begegnete dem eines Jungen, der dasselbe 30

116

dreckige, alte T-Shirt mit dem Surfer trug, dazu die 1

fransige Jeans. Seine verschiedenfarbigen Augen, grün und 2

braun, waren zusammengekniffen. Die leicht geöffneten 3

Lippen, von denen noch Momente zuvor Worten auf ihren Weg 4

geschickt worden waren, waren nun leer. Blut tropfte in 5

unregelmäßigen Abständen aus einer kleinen Schnittwunde an 6

der Wange. Mein Zwillingsbruder, zweifellos. Du bist kein 7

Huhn und auch kein Schwein, Tim! Du bist ein Menschen und 8

vielleicht… vielleicht bleibt dir deswegen so ein Schicksal 9

erspart, wenn du aufhörst zu trauern und endlich anfängst zu 10

denken. Ich lächelte ihm dankbar zu, denn er verstand mich 11

besser als irgendjemand anderes. Der Junge war einfach 12

überall, verfolgte mich, amte meine Gangart nach und hörte 13

mir zu, wo immer ich auch sein mochte. Nur ihn selbst sah 14

ich nie, weil er in einer ganz anderen Welt lebte als ich. 15

„Du bist anders, als die meisten Kinder, die für mich 16

arbeiten…“ 17

Widerwillig drehte ich dem einzigen Vertrauten in diesem 18

Raum den Rücken zu, nur um feststellen zu müssen, dass die 19

dunklen Augen mein Gesicht so eingehend studierten, als 20

wollen sie davon ein Porträt im Gitternetz zeichnen. 21

„Für Sie will jemand arbeiten?“, fuhr ich ungehalten 22

dazwischen, um von mir selbst abzulenken, als mir die Worte 23

eines alten Kellners einfielen, der mich, nachdem ich meine 24

Cola über das weiße Kleid einer reichen Dame verschüttet 25

hatte, anwies, sich stets höflich zu entschuldigen: „Ich 26

meine, es ist nett hier. Der riesige Swimmingpool, alles 27

sauber und so. Sicherlich ist es eine Ehre für Sie zu 28

arbeiten und…“ 29

117

„Tim, Tim, Tim.“ Scotts Stimme hatte jetzt den Unterton 1

eines kritisierenden Lehrers. „Sie haben keine andere Wahl, 2

verstehst du. Nun, ich denke, du hast viele Frage. Leider 3

bin ich nicht befugt, dir auf alles eine Antwort zu geben.“ 4

„Warum nicht?“ 5

„Warum? Warum?“, äffte er mich nach, „Darum. Und bitte 6

unterbrich mich nicht oder ich werde gezwungen sein, dich 7

zum Schweigen zu bringen.“ 8

„Okay.“ 9

Wie aufs Wort klopfte es an der Tür, erst leise, dann 10

etwas fester und energischer. Ein kleiner, kahlköpfiger 11

Mann, in das alberne Kostüm eines Pinguins gesteckt, welches 12

sich merklich über seinem Bauch spannte, trat ein und 13

vollführte tatsächlich ein bizarre Verbeugung vor seinem 14

Herren. Das Füße küssen haben Sie noch vergessen, hätte ich 15

beinahe gemeint, doch glücklicherweise war mein Gehirn 16

schneller als meine Zunge. Der muskulöse Bodyguard streckte 17

die öffnete Hand aus und ließ ein Stück Papier auf den 18

Schreibtisch segeln. Erstaunt hob ich die Augenbrauen, 19

unverständlich. Maurice Scott hingegen wandte den Fetzen 20

prüfend im Licht der Lampe und allmählich dämmerte es mir, 21

dass es sich dabei um eine Kalenderseite handelte. 22

„Danke, Bruce. Sie dürfen gehen.“ 23

Der dunkelhäutige Mann nickte, machte auf dem Absatz kehr. 24

Doch scheinbar schien ihm noch etwas eingefallen zu sein, 25

denn er wandte sich abermals um. „Was sollen wir mit dem 26

Jungen machen, Sir?“, fragte er in gebrochenem Englisch. Ich 27

vermutete, dass alle Menschen die Sprache ihres Meisters zu 28

sprechen hatten. 29

118

„In die Baracke. Er soll sich auskurieren, damit ich ihn 1

morgen aufs Feld mitnehmen kann.“ 2

Feld? Baracke? Was läuft hier eigentlich? Frischen wir 3

einen längst überholten Westernfilm aus dem 18. Jahrhundert 4

auf? Wenn der Mann mir nicht schon von der ersten Begegnung 5

seltsam vorgekommen war, so änderte ich jetzt meine Meinung 6

vollkommen. Seltsam… Dieser Typ war nicht seltsam, 7

ungewöhnlich, merkwürdig oder komisch. Er war… nun ja… was 8

war er eigentlich? Verrückt? 9

Scotts Miene war gelangweilt, geschäftsmäßig kühl. 10

Gleichzeitig aber auch drohend, raubtierhaft. Sogar die 11

Hyänen, die Kay angegriffen hatten, haben mehr Gefühle 12

gezeigt. Kay… Erneut tauchte in meinen Erinnerungen dieser 13

Stoff ihres Kleides auf… Nur das Gesicht… Ich habe ihr 14

Gesicht vergessen. Fieberhaft durchwühlte ich das Labyrinth 15

meines Gehirnes. Das konnte doch nicht wahr sein! Die Mauern 16

waren vermodert, mit Efeu und anderen Schlingpflanzen 17

bewachsen, sodass die rauen Steinwände kaum noch zum 18

Vorschein kamen. Grau, grün, farblos. Hektisch rannte ich 19

durch den Gang, ohne mich von der Stelle zu bewegen. Ich 20

schrie ihren Namen und doch war es totenstill. Außer Atem, 21

keuchend, blieb ich stehen, umfasste eine Liane, die sich 22

über meinen Kopf in den schwarzen Himmel erhob. Einen 23

Himmel, ohne Sonne oder Sterne. Kay…! Verzweifelt zerrte ich 24

an der Pflanze, aber je höher ich stieg, desto weiter fiel 25

ich in die Dunkelheit herab. Irgendwo über mir, in naher 26

Ferne, erklang ein Lachen, gleichzeitig ein Schrei aus 27

tiefster Kehle. Kay…? Keine Antwort, Stille. Kay…! 28

Entschlossen kletterte ich weiter, nicht aufgebend. Halte 29

durch, Kay… Und du, wer immer du auch bist, lass die Finger 30

119

von ihr! Da, plötzlich, ein Fünkchen, ein Aufblitzen, 1

vielleicht nur für einen Augenblick. Dann schnitt jemand das 2

Seil durch, unsere Verbindung, und ich fiel zurück in die 3

Hände jenes Teufels, der sie gierig nach mir ausstreckte. 4

Nein…! 5

„Nein…!“, schrie ich und zog den erstaunten Blick des 6

Mannes auf mich, der nun die Kalenderseite zurücklegte und 7

mich aufmerksam betrachtete. 8

„Alles in Ordnung, Junge? Jag mir doch nicht gleich so 9

einen Schreck ein.“ Er reichte mir das Stück Papier über den 10

Tisch. „Ist das deine Schrift? Oder die jemandes, den du 11

kennst?“ 12

Irritiert von der plötzlichen Frage und dieser hilflos 13

ausgeliefert, nickte ich. „Ja. Mein Vater. So schreibt er. 14

Das heißt, schrieb. Denn jetzt…“ Ich konnte nicht weiter 15

sprechen und ich glaube, der Mann hat mich auch ohne 16

Erklärung verstanden. 17

„Wer war dein Vater, Tim?“ 18

„Marc River.“ 19

„Seltsam. Mir gegenüber hat er nie einen Sohn erwähnt. 20

Jedenfalls nicht, dass ich es wüsste. Doch es scheint so, 21

als habe er gelogen. River musste wohl nicht sehr stolz auf 22

dich gewesen sein. Verständlich. Wenn meine Kinder, meine 23

Geschäfte belauschten und…“ 24

„Hören Sie auf!“, brüllte ich aufgebracht dazwischen. Papa 25

mochte in vielerlei Hinsicht nicht der Beste gewesen sein, 26

doch er war immer noch mein Vater. Den Einzigen, den ich 27

jemals haben würde. 28

„Er ist tot, sagst du. Also ich es wahr.“ 29

„Was ist wahr?“ 30

120

„Siehst du, vor vier Tagen ist die Übergabe in der Nähe 1

eines Dorfes drastisch schief gelaufen.“ Maurice Scott 2

schlug mit geballter Faust auf den Tisch. Sein Gesicht war 3

Wut verzerrt. „Zwei meiner Männer waren darin verwickelt. 4

Der eine kehrte zurück, unversehrt, den anderen sah ich nie 5

wieder. Dachte schon, er habe sich mit dem Geld aus dem 6

Staub gemacht.“ 7

„Übergabe? Wovon reden Sie überhaupt? Mein Vater war ein 8

ehrlicher Forscher. Warum um alles in der Welt sollte er für 9

jemanden wie Sie arbeiten?“ 10

„Deshalb.“ Scott zog eine Schublade auf und warf mehrere 11

durchsichtige Tütchen auf den Tisch. Ihr Inhalt war völlig 12

identisch, beinahe so als hätte man sie exakt kopiert: Gras. 13

Erstaunt hob ich die Augenbrauen Die meisten Neunjährigen 14

hätten dieses ineinander verwickelte Kraut tatsächlich für 15

Gras gehalten, doch ich wusste es besser. Marihuana und 16

Haschisch, daneben die Pfeife. Der Kreis schien sich 17

allmählich zu schließen und lief nun hier zusammen. Papa, 18

warum? Was ist so toll daran, so ein Zeug zu rauchen? Ist es 19

wie Gummibärchen essen oder Schokolade? 20

„Dein Vater war in der Tat Forscher… bevor wir uns kennen 21

lernten. Doch Ehrlichkeit verleiht einem keinen Ruhm, eher 22

schadet sie.“ Scott machte eine vornehme Atempause, um das 23

gespritzte Gift wirken zu lassen. „Dies habe ich früh 24

begriffen. Wenn man immer allen alles gerecht macht, wer 25

macht es dann einem selbst gerecht? Hast du darüber einmal 26

nachgedacht? In deinem mickrigen Gehirn? Oder warum nur ein 27

Teil nehmen, wenn man doch auch alles haben kann? Komm 28

schon, sieh mich nicht so an. Du weißt, dass es wahr ist.“ 29

„Aber… warum?“ 30

121

„Dein Vater hatte immer Forscher sein wollen, berühmt und 1

reich. Ich habe ihn damals, vor neun, zehn Jahren, 2

getroffen. Es ging um ein Projekt in Haiti, welches er aber 3

schließlich ablehnen musste… und mir überließ. Einen Grund 4

nannte er mir nicht, doch ich war ihm dankbar für diese 5

Entscheidung und versprach, ihm in Zukunft zu helfen. Wir 6

haben dann und wann miteinander telefoniert und uns 7

ausgetauscht, privat sowie geschäftlich. Das Vertrauen 8

zwischen uns wurde trotz des großen Teiches, der zwischen 9

uns lag, immer größer. Während mein Vermögen und Ansehen 10

stieg, sank er auf den Grund der gegebenen Realität zurück. 11

Der Grund dafür war der Tod seiner Frau. Nun hielte ihn 12

nichts mehr hier, meinte er. Sogar über Selbstmord habe er 13

schon nachgedacht. Glücklicherweise konnte ich ihn davon 14

abhalten und bat ihm an, nach Afrika zu ziehen, um mein 15

Assistent zu werden.“ 16

Unverständlich schüttelte ich den Kopf. „Warum Afrika? 17

Warum ausgerechnet hier? Und nicht Amerika?“ 18

„Afrika ist - nun ja es gibt kein besseres Wort dafür - 19

vogelfrei. Nur wenig Gesetz, die einen an der Arbeit 20

hindern. Zwar nicht der perfekte Ausgangspunkt für eine 21

Karriere, aber trotzdem. Sieh dir dieses Haus an! Sieh es 22

dir genau an, Tim! So ein Haus wäre in Amerika oder Europa 23

nicht bezahlbar.“ 24

„Wenn Sie so viel Geld haben, warum hat mein Vater dann 25

nie welches besessen?“, erwiderte ich. In meinen Gedanken 26

tauchte die zur Hälfe gefüllte Geldkassette auf. Ein Schein 27

war umgerechnet gerade einmal fünfzehn Cent wert. Ein 28

Kaugummi oder ein Lolli in Deutschland, hier ein Vermögen. 29

Allmählich begann ich zu begreifen. 30

122

„Er wollte es nicht. Nur Haschisch und Marihuana.“ 1

„Warum?“ 2

Maurice Scott stöhnte genervt „Mensch, Junge. Warum, 3

warum?“ 4

„Ich will es wissen, Sir.“ 5

„Dein Vater glaubte, die Drogen würden ihn vergessen 6

lassen.“ Er hob abwehrend die Hände. 7

„Sie haben meinen Vater ausgenutzt! Sie wusste, wie 8

schlecht es ihm ging und haben ihn benutzt… für… „, 9

flüsterte ich fassungslos, fast kläglich. Mein Zweifeln, an 10

dem, was der Mann behauptete, war verflogen. Widerwillig 11

musste ich zugeben, dass er die Wahrheit sagte. In den 12

letzten Wochen hatte Papa für diesen… diesen… Ich spürte, 13

wie mein Blick in tausende, winzige Splitter verschlagen 14

wurde, die verrannen. Hörte am Ende des Tunnels die kalte 15

Stimme des Mannes, der sich zu verteidigen versuchte: „Das 16

ist aber nicht sehr nett, Tim. Ehrlich, ich bin doch kein 17

schlechter Mensch. Ich habe ihm nur das gegeben, was er 18

wollte.“ 19

„Dann beweisen Sie es. Beweisen Sie mir, wer Sie wirklich 20

sind. Lassen Sie Mathieu gehen. Er hat nichts damit zu tun.“ 21

„Das geht leider nicht.“ 22

„Was?“ Meine Hände verkrampften um das Glas Wasser, 23

welches mir der Mann aufgenötigt hatte. Die Knöchel traten 24

weiß hervor. 25

„Tut mir leid. Er hat sich in Dinge eingemischt, die ihn 26

nicht den Dreck angehen. Dafür wird er ebenso wie du seinen 27

Preis zahlen müssen.“ Maurice Scott lächelte entschuldigend, 28

doch ich sah ihm an, dass ihm nie etwas leid tat. 29

123

„Was wollen Sie tun? Uns quälen? Die Polizei wird bald 1

hier sein und…“ 2

„Das glaube ich kaum. Wie dem auch sei, ich denke, wir 3

führen unser Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt fort. 4

Sicherlich willst du das Haus kennen lernen.“ 5

Ich stutzte. „Was?< 6

„Hat mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen, Tim. Du 7

hast mir wirklich sehr geholfen… Tess? Schatz!“ 8

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Erschrocken fuhr 9

ich zusammen. Es war dasselbe Mädchen, das eben seine Bahnen 10

im Pool gezogen hatte. Nun stand sie plötzlich hinter mir, 11

das noch feuchte Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre 12

Flip-Flops sanken in den weichen Teppichstoff. Den nassen 13

Bikini musste sie anbehalten haben, denn ihr blaues T-Shirt 14

wies dunkle Flecken auf. Die weiß lackierten Finger 15

verkrampften sich um ihre Sonnenbrille, die sie nun abnahm, 16

um mir einen feindseligen Blick zu zuwerfen. „Ja, Dad?“ 17

„Schatz, sei so lieb und zeig Tim das Haus, ja?“ 18

„Aber, Dad. Du hast versprochen, dass…“ 19

„Morgen.“ 20

Das Mädchen schnitt eine Grimasse. „Immer morgen. Wer ist 21

er überhaupt? Er stinkt und…“ 22

„Tess!“ Maurice Scott schien keine weiteren Diskussionen 23

mehr zu dulden. „Du nimmst ihn mit. Basta, finito, Schluss!“ 24

Tess Gesicht verfinsterte sich. Wenn sie mich nicht 25

ohnehin schon hasste, so würde sie es spätestens jetzt tun. 26

„Dann komm.“, meinte sie schließlich, als sie alle Gedanken 27

durchgespielt haben musste und zu dem Entschluss gekommen 28

war, dass es keine andere Möglichkeit gab. Dabei lag ein 29

arroganter, überheblicher Unterton in ihrer Stimme. Maurice 30

124

Scott erhob sich, reichte mir die Hand zum Abschied. „Ihr 1

werdet sicher gut miteinander auskommen.“, lenkte er wenig 2

überzeugend ein. 3

„Hey, brauchst du immer eine extra Aufforderung? Soll ich 4

dich vielleicht noch durch das Haus tragen?“ 5

Ich seufzte. Wie der Vater, so die Tochter. Tim, in 6

weniger als einer Stunde bist du mit Mathieu in der 7

nächstbesten Wüste auf und davon. 8

Aber es wurde länger als eine Stunde. Viel, viel länger… 9

„Kannst du schwimmen?“ 10

„Ja.“ 11

„Schade. Ich hätte dich zu gerne ertrinken gesehen.“ 12

Tess warf ihr Haar elegant in den Nacken. Kurz schloss sie 13

ihre grünen, von schwarz-silbrig getuschten, langen Wimpern 14

umrahmten Augen. Sie war ein hübsches Mädchen, bestimmt 15

humorvoll und offen - hätten wir uns unter anderen Umständen 16

kennen gelernt, in einem dieser schmutzigen, grauen 17

Hochhausfluren etwa oder auf dem von Hundescheiße 18

verdreckten Spielplatz. Jedenfalls wäre sie dann weniger 19

fies zu mir gewesen. 20

„Ich bin übrigens Tim. Freut mich…“ 21

„Was soll ich nun deiner Meinung nach mit dieser 22

Information anfangen?“ 23

„Jetzt könntest du vielleicht etwas netter zu mir sein.“ 24

„Wieso?“ 25

„Wieso?!“ 26

Ohne mich weiter zu beachten, legte sie die Finger an die 27

Lippen. Der Pfiff war leise, kaum vernehmbar. Dennoch hörte 28

ich Sekunden später das Tappen von Pfoten auf den Fliesen. 29

Aus dem Schatten einer Palme sprang ein rotbrauner Hund 30

125

hervor, der bei meinem Anblick sofort die Nackenhaare 1

sträubten. Mit gebleckten Zähnen knurrte er mich böse an, 2

wobei er sich schützend vor sein Frauchen stellte. 3

Wunderbar, jetzt hast du auch noch einen Hund am Hals, der 4

dir am liebsten an die Kehle springen mochte. 5

„Kalli! Mach dir nicht die Pfoten an ihm schmutzig!“, 6

befahl Tess, die nun neben ihrem Hund niederkniete und 7

liebevoll seine weichen Ohren kraulte. 8

Das Tier fiepte freudig. Mich schienen beide vergessen zu 9

haben, was mir gelegen kam. 10

„Das ist Tim. Der schmeckt sicherlich schrecklich, hörst 11

du?“ Kallis Zunge fuhr über das Gesicht seines lachenden 12

Frauchens. „Hey, das kitzelt.“ Sie kicherte belustigt, wobei 13

sie dem Hund einen Kuss auf die spitze Schnauze gab. 14

Ich stutzte. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass 15

sie jemanden derart gerne haben könnten. 16

„Willst du mit uns kommen?“, fragte das Mädchen mit einem 17

herablassenden Blick auf mich. Ein kurzes, freudiges Bellen 18

zur Antwort. „Das heißt ja. Aber wir dürfen uns nicht von 19

Dad erwischen lassen, verstanden?“ Knurrend sprang der Hund 20

auf und stierte mich mit zur Seite gelegtem Kopf durch seine 21

bernsteinbraunen Augen an. Hastig wisch ich einen Schritt 22

zurück, bemerkte aber gleichzeitig das Gestein einer Säule 23

im Nacken. 24

„Wenn du uns nicht verpfeifst, werde ich dafür sorgen, 25

dass Kalli dir nicht nur ein bisschen weh tut.“, erwiderte 26

Tess achselzuckend und stolzierte über den gefliesten, 27

leeren Flur davon. Ich folgte ihr in gebührendem Abstand, 28

beeindruckt von dem Labyrinth aus Glas und Marmor. Der 29

Korridor war zu einer Seite offen, welches einen Bilderbuch 30

126

ähnlichen Ausblick auf die grünen Wiesen oder den Urwald vor 1

den Toren ermöglichte. So einen Baustil hatte ich schon 2

einmal gesehen - nur wo? Auch die aus Staturen, die dem 3

Besitzer wie aus dem Gesicht geschnitzt waren, die 4

gepflegten Blumenbete und der Springbrunnen verlieh dem Haus 5

eine gewisse Macht. 6

Tess stieß eine Flügeltüre auf. „Das Speisezimmer.“, 7

erklärte sie in dem Tonfall einer genervten Reiseleitung. 8

Der Raum war mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt, der 9

farblich an das Muster der Tapete angepasst worden war. In 10

seiner Mitte erstreckte sie ein polierter Tisch, an den 11

sechzehn Stühle geschoben worden waren. Jedoch ließen sich 12

nur drei Gedecke ausmachen, bestehend aus mehreren Messern, 13

Gabeln und Löffeln, zwei Tellern und einem im Licht der 14

Sonne funkelnden Glas. Auf der gegenüberliegenden Seite 15

befand sich eine weitere Flügeltüre, hinter der Geschirr 16

klimperte. Hatte Papa hier mit Maurice Scott gesessen, 17

gelacht, bei einem Glas herrlich prickelnden Wein, während 18

ich Kilometer entfernt alleine im Sand spielte? Es war wie 19

einen Schlag in den Magen. Ein überwältigender Schmerz 20

packte mein Herz, mein Nacken kribbelte, und plötzlich hatte 21

ich einen Kloß im Hals, der mich fast zu ersticken drohte. 22

Abgesehen von dem gelegentlichen Rauschen der Spülmaschine 23

und dem leisen Hecheln des Hundes war es still. Ich war 24

alleine. Für immer. Das war die schreckliche Gewissheit. Für 25

immer. 26

„Tim?“ Tess legte mir zögernd die Hand auf die Schulter. 27

Ihre Stimme klang weit entfernt, beinahe wie aus einer 28

anderen Welt. „Dort drüber ist ein Gästezimmer. Zieh dich 29

um, wasch dich. Du stinkst.“ 30

127

Ich erblickte den Stapel Papier, der dem schiefen Turm von 1

Pisa glich, daneben die Vielzahl an bunten Stiften - 2

Kugelschreiber, wahlweise mit blauer, schwarzer, roter und 3

grüner Tinte, je nachdem wie man gelaunt war, Filzstifte, 4

die an beiden Enden zwei verschieden große Farbpinsel 5

hatten, sowie edle, silberne Füller, schlichte viereckige 6

Textmarker und 7

Buntstifte - alle in einer unbestimmten Ordnung 8

beieinander gelegt. 9

Auf dem glatt gestrichenen Bettlacken hatte eine Dienerin 10

bereits die Kleidung in chronologischer Reihenfolge - erst 11

Unterwäsche, dann T-Shirt, Hose und zum Schluss die Schuhe - 12

präpariert. Seufzend ließ ich mich in den Ledersessel sinken 13

und lauschte der bedrückenden Ruhe auf dem Korridor hinter 14

der Eichenholztüre. Tess schien verschwunden zu sein und 15

seltsamerweise bedauerte ich es ein wenig. Denn, wenn ich 16

ehrlich war, mochte ich sie trotz ihrer Art und der 17

Tatsache, dass sie die Tochter des Mannes war, der den Tod 18

meines Vaters zu verantworten hatte. Aber Kinder suchen sich 19

ihre Eltern bekanntlich nicht aus. Vielleicht würde Tess 20

mich irgendwann einmal akzeptieren… Moment mal! Ich 21

schüttelte den Kopf. Nein, Tim, es gibt kein irgendwann. Du 22

musst Mathieu unter den Arm packen und verschwinden. Sofort. 23

Das ist kein Spiel mehr, falls es denn jemals eines war. Ihr 24

seid die Gefangenen eines vollkommen Wahnsinnigen. Wer weiß 25

schon, was dieser Mann beabsichtigte. Wenn ihr nicht abhaut, 26

liegt ihr bald vielleicht auch unter der Erde mit all den 27

Maden und Käfern. Auf diese Bekanntschaft kannst du 28

verzichten. 29

128

Mein Blick wanderte erneut zu der Kleidung auf dem Bett. 1

Ich würde einen Ersatz für mein zerrissenes T-Shirt 2

brauchen, ebenso wie eine kurze Dusche. Diese Zeit müsste 3

ich mir nehmen. Hastig schlüpfte ich aus T-Shirt und Hose. 4

Der harte Wasserstrahl schoss auf meine bereits nach einer 5

Minute erröteten Schultern herab. Es erinnerte mich an den 6

Regen vor ein paar Stunden - oder waren es Tage gewesen? 7

Doch auch dieser gehörte in eine andere Zeit, in die Zeit 8

der Wirklichkeit, außerhalb dieses Märchenschlosses. Mit 9

geschlossenen Augen langte ich nach einer der 10

Shampooflaschen auf dem Sims, der eigens für die Dusche in 11

einem schwarz funkelnden Marmor errichtet worden war. Der 12

Duft von Mango und anderen exotischen Fürchten stieg auf. 13

Ich schnupperte. Derselbe Geruch wie auf einem Marktplatz, 14

nur intensiver. Die rötliche Flüssigkeit tropfte auf meine 15

dreckigen Haare. Daheim hatte ich mir nie viel aus Waschen 16

gemacht. Schließlich war es im Gegensatz zum Play Station 17

und Fußballspielen ein reines Zeitverschwenden. Doch hier 18

fühlte es sich beinahe befreiend an, sauber zu sein. Wieder 19

prickelte das Wasser auf meiner Haut, brannte ein wenig in 20

den unzähligen Wunden, die ich bisher größtenteils nicht 21

einmal realisiert hatte. Erst, als ich nun in den mannshohen 22

Spiegel schräg gegenüber starrte, wurde mir bewusst, dass 23

ich aussah, als wären hunderte von Aasgeier auf mich herab 24

geschossen und hätte mich zerfleischt. Blutergüsse. Kratzer, 25

einiger tiefer, andere nur oberflächlich, spickten meinen 26

Körper. Eine geschwollene Nase. Rote, wie Armbänder 27

aussehende Striemen umringten meine Handgelenke. Dennoch 28

gefiel ich mir. Ich sah härter aus. Der kleine, ängstliche 29

Junge aus Deutschland war zumindest äußerlich wie 30

129

weggewischt. Stolz wickelte ich mir eines der teuren, weißen 1

Handtücher um die Hüfte und trat aus der Duschkabine heraus. 2

Die Fliesen waren eiskalt und es jagte mir augenblicklich 3

einen Schauer über den Rücken, als meine Zehen sie 4

berührten. 5

„Bist du ein Mädchen, oder was? Nein, Moment, das wäre 6

eine Diskriminierung. Niemand braucht so lange!“ Tess Stimme 7

klang gedämpft durch die Tür, gegen die sie nun mit beiden 8

Fäusten zu hämmern begann. 9

„Ja, ja…“ Seufzend ließ ich mich auf dem Klodeckel nieder 10

und streifte mir die Socke über den linken, noch feuchten 11

Fuß. Gleichzeitig ließ ich meinen Blick durch das Zimmer 12

schweifen auf der Suche nach Zahnbürste und passender 13

Zahnpasta: Fand sie in drei verschiedenen Geschmäckern auf 14

einem polierten Glasbrett, an dessen Rand in Goldfarben die 15

Initialen eines mir fremden Mannes eingraviert waren. 16

„Nicht ja, ja“ 17

Ein warmer Windstoß bauschte den weichen Stoff der 18

Vorhänge. Erschrocken stolperte ich aus dem Badezimmer, 19

stand da, nackt, nur mit dem Handtuch um die Hüften, mit 20

nassen Haaren, Zahnbürste im Mund, und starrte sie entsetzt 21

an. 22

„Was machst du hier?“ Ich bemühte mich, den Ekel 23

erregenden Pfefferminzgeschmack nicht runterzuschlucken. 24

„Du hättest dich wenigstens anziehen können, bevor du 25

hier rein platzt.“, entgegnete sie unberührt, wobei sie sich 26

demonstrativ im Schreibtischstuhl sitzend von mir abwandte. 27

Ich ging ins Bad zurück, spie die Zahnpasta ins 28

Waschbecken, spülte den Mund kurz um. Das durfte doch nicht 29

wahr sein! 30

130

„Was ziehst du überhaupt an? Doch nicht etwa das hier!“ 1

Angewidert hob Tess eines der gefalteten T-Shirts auf dem 2

Bett hoch. Sie marschierte zu dem Kleiderschrank, ging 3

schnell mit den Fingern die Bügel durch, zog ein Oberteil 4

heraus und warf es vor meinen Füßen auf den Boden, dann noch 5

eins und noch eins. „Probier' die mal.“ 6

Leise fluchend wandte ich mich ab. Eines Tages bringe ich 7

dich um! Es konnte doch nicht sein, ich mich von diesem 8

Mädchen derart beeinflussen lasse! Dennoch zog ich ein grün-9

braun kariertes Hemd über, dazu Jeans. Zähneknirschend 10

musste ich zugegeben, dass Tess es bei der Wahl ins Schwarze 11

getroffenen hatte. Auf Socken tänzelte ich über die Fliesen, 12

betupfte dabei mit einem Feuchtentuch den kleinen Blutfleck 13

am Kinn. 14

„Gar nicht mal schlecht.“ Tess lehnte gegen den Türrahmen, 15

den Kopf wiegend. „Ein Glück, dass mein Bruder nicht all 16

seine Sache mitgenommen hat.“ 17

Augenblicklich erstarrte sie, als sie bemerkte, dass sie 18

bereits zu viel von sich preisgegeben hatte. 19

Ich lächelte ihr im Spiegel zu. „Du hast einen Bruder?“, 20

hakte ich nach. 21

Schweigen. Eine Wolke verdeckte die Sonne, deren warme 22

Lichtstrahlen durch den Spalt fielen, den der Vorhang bot. 23

Ein flüchtiger Blick auf die rötlich leuchtenden Ziffern des 24

Radiowecker: 16.23 Uhr. Die Millisekunden liefen in einem 25

endlosen Band, gaben ihre Macht der Zeit an die Sekunden 26

weiter, die an die Minuten, Stunden, Tage. Immer vorwärts, 27

nie rückwärts. Ich lebte irgendwo zwischen. 28

„Oh! Schon so spät!“ Das Mädchen schlug mit gespieltem 29

Entsetzen die Hand vor den Mund. „Meine Tanzstunde fängt in 30

131

zwanzig Minuten an. Komm endlich!“ Ihre knochigen Finger 1

umfassten mein rechtes Handgelenk, als sie versuchte, mich 2

von der Toilette hochzureißen. Für den Bruchteil einer 3

Sekunde berührten sich unsere Hände. Unfreiwillig. Doch der 4

Hamster im Laufrädchen rannte weiter, blieb nicht stehen. 5

Eine Umrundung, eine weitere, dann noch eine. 6

„Ich warte draußen.“, entschied Tess eilig. Im Fortgehen 7

fügte sie hinzu: „Beeil dich. Oder du bist einen Kopf 8

kürzer, verstanden?!“ 9

Das Schloss knackte, als sie die Türe hinter sich zuzog. 10

Gleichzeitig bäumte sich der Vorhang erneut auf. In der 11

Dusche tropfte in unregelmäßigen Abständen Wasser auf den 12

Boden. Hastig schlüpfte ich in den rechten Turnschuh, band 13

ihn zu. Dasselbe mit dem linken. Zwei Minuten waren 14

vergangen. Ich wollte aufspringen, als mein Blick an dem 15

Stapel Papier hängen blieb. Vielleicht würde ich welches 16

brauchen, wenn ich fliehen wollte. Das Ohr fest gegen das 17

Holz der Tür gepresst, lauschte ich den Schritten auf dem 18

Korridor, um sicher zu sein, dass niemand plötzlich den Raum 19

betrat. Stille. Innerlich zählte ich bis zehn, dann schlich 20

ich zum Schreibtisch. Meine Fingerkuppen strichen über die 21

Stifte. Ohne zu zögern, langte ich nach einem 22

Kugelschreiber. Das Blatt faltete ich, sodass ich beides in 23

die Hosentaschen gleiten lassen konnte. Tief ein- und 24

ausatmend stieß ich die Tür auf. Ich konnte nur hoffen, dass 25

niemandem etwas auffallen würde. 26

Du bist Tim, Tim River. Dein Vater ist Forscher gewesen, 27

der aus einem Grund, den du immer noch nicht kennst, sterben 28

musste. Er wollte vergessen, selbst wenn dies zu bedeuten 29

132

schien, seinen eigenen Sohn, dich Tim, zu verlieren und 1

letztlich auch seine Seele. Es gibt ein Spiel, welches sich 2

Kamikaze nennt, aber von dessen Regeln du nur so viel weißt, 3

dass sie unfair sind. Ebenso wie jener Führer, Maurice 4

Scott. Dem Mann ohne Gewissen. Tim, du musst vorsichtig 5

sein, falls du dieses Spiel überleben willst. Du hast 6

bereits einmal einen Weg eingeschlagen, der im Netz einer 7

Spinne endete, indem du nun zappelst wie einer der 8

Schmetterlinge. Hilflos. Verzweifelt. Aber nur wenn du das 9

aufgibst, woran du glaubst, nur dann wird dich dieses 10

schwarze Tier fressen. Denke daran. Bleib stark, wenn dich 11

der tosende Wirbelsturm zu Boden drücken will. Denn am Ende 12

wirst du immer noch aufrecht stehen. In dir, tief in dir, 13

bist du der kleine Junge, der mit seiner Angst, andere 14

Menschen von jener befreien kann. Dies wirst du eines Tages 15

begreifen… 16

Die funkelnden Diamanten auf ihrem weinroten T-Shirt 17

verwandelten den einzig durch eine riesige Diskolampe 18

erhellten Raum bei jeder ihrer Bewegungen in eine 19

regenbogenfarbene Lichtsäule, in der sie wie eine Fee zur 20

leisen Melodie eines Klavierstücks im Kreis schwebte. 21

Ihre weißlackierten Zehen berührten dabei das helle 22

Parkett nur vorsichtig, als seien unter ihnen glühende 23

Flammen oder die Wellen, aufgewühlt von einer sanften Brise, 24

nicht aber das tote Holz. Ich beobachtete sie von meiner 25

Insel aus, die Füßen in ihr Meer tauchend. Kalli neben mir 26

legte seine spitze Schnauze in meinen Schoß, sodass ich 27

unwillkürlich zusammenzuckte, aus Angst, er könne mich 28

beißen. Der Rhythmus wurde merklich schneller. Tess 29

133

vollführte eine Drehung, noch eine - und erstarrte. Leises 1

Trommeln, manchmal unterbrochen durch die Laute eines 2

Xylophons. 3

„Was machst du mit meinem Hund?“, brüllte sie, die Musik 4

übertönend, wobei sie, drohend, zurück in ihr Element 5

gestoßen, ein paar Schritte auf mich zu machte. Ihre Stimme 6

triefte vor Verachtung. 7

„Ähm… Nichts.“ Hör auf dich für etwas zurechtfertigen, 8

woran du nicht Schuld trägst! „Du tanzt gut. Wie eine 9

Ballerina… Oder so ähnlich…“ 10

„Du hast großes Glück, mir dabei zuzusehen. Eigentlich 11

dürftest du nämlich nicht hier sein. Aber gut.“ Sie zuckte 12

die Schultern. „Einen lästigen Sonnenstich fängt man sich 13

ebenso schnell ein, wie er auch wieder verschwindet.“ 14

Ich spürte, die aufsteigende Wut, die wie Magma aus dem 15

Vulkan ausbrechen wollte. Es brodelte, kochte. Immer größer 16

werdende Blubberblasen wölbten die heiße, alles verbrennende 17

Oberfläche der Flüssigkeit. Ich konnte ihn nicht mehr 18

zurückhalten, den Zorn, dafür hatte sich in den letzten Tag 19

zu viel Leid in meinem Inneren angesammelt, welches nun 20

langsam überquirlte. Entgegen meiner Art stieß ich Tess 21

gegen die Schulter, sodass sie erstaunt zurück taumelte und 22

beinahe gestürzte wäre, hätte ich ihren Arm nicht 23

umklammert. Auch Kalli sprang erschrocken auf, schien jedoch 24

irritiert darüber, auf wessen Seite er zu stehen hatte. 25

„Bei dir wird dieser Sonnenstich es wohl nie tun, schätze 26

ich.“ Ihre Gestik kopierend zuckte ich mit den Schultern. 27

„Du kannst froh sein, dass dir überhaupt irgendjemand 28

Aufmerksamkeit schenkt, Tess - wenn du denn so heißt! Denn 29

in meinen Augen bist du nichts weiter als eine einsame, 30

134

kleine Wichtigtuerin. Mir ist es egal, wie toll du tanzen 1

kannst, wie reich du bist! Denn ich habe meine Eltern 2

verloren. Meinen bester Freund haben die Wächter deines 3

Vaters bewusstlos geschlagen und anstatt jetzt bei ihm zu 4

sein, bin ich hier. Bei dir.“ 5

Seltsamerweise schien Tess, mir nicht widersprechen zu 6

wollen. Es wunderte mich. Sie war ruhig, hörte mir geradezu 7

aufmerksam zu, völlig bewegungslos, als sei dies nur die 8

kurze Unterbrechung eines Tanzes, um Atem zu schöpfen oder 9

eine neue CD aufzulegen. 10

„Sie haben uns entführt! Diese Männer! Obwohl wir 11

unschuldig sind! Einfach so entführt!“, fuhr ich fort, als 12

meine Wut plötzlich wie durch eine Mauer gedämpft wurden, 13

„Ich mag vielleicht nicht der Beste sein. Mag vielleicht 14

nicht tanzen können, habe ständig Angst.“ 15

„Tim.“ Ihre Worte waren zu einem fast unverständlichen 16

Flüstern geworden, was mich zwang, den Abstand zwischen uns 17

zu verringern, der wie ein schwarzes Loch vor meinen Füßen 18

klaffte. „Du bist kein lästiger Sonnenstich…“ Mit dem 19

ernsten Gesichtsausdruck eines Politikers, der in einem 20

Blitzlichtgewitter, umgeben von einer Meute Reporter, eine 21

Ansprach hält, strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. 22

Die Tiefe ihrer grünen Augen verschluckte mich unweigerlich. 23

„Du bist viel schlimmer.“ Ein Grinsen huschte über ihre 24

Lippen. „Sehr viel schlimmer.“, ergänzte sie belustigt. 25

Unschlüssig trat ich von einem Bein auf das andere. Ich 26

hatte mit allem gerechnet: Bei Wutausbrüchen angefangen bis 27

hin zu rührenden Entschuldigungen. Nur darauf, dass sie mich 28

gelassen überspielte, darauf war ich nicht vorbereitet 29

gewesen. 30

135

„Wie ‚viel schlimmer‟?“, stammelte ich und musste mir im 1

nächsten Moment die Hand vor den Mund halten, um nicht 2

selbst zu lachen. Unbemerkt war es Tess gelungen, auch 3

diesen Kampf für sich zu entscheiden, indem sie einfach nach 4

dem Auslaufen des Wassers aus dem Rohr den Hahn zugedreht 5

hatte. 2:0 für ein Mädchen. Dafür konnte ich ihr nicht 6

einmal böse sein! 7

„Ich weiß nicht, warum du hier bist oder warum mein Vater 8

dich entführt haben soll. Schließlich bist du nichts weiter 9

als ein dreckiger Junge, genau wie die anderen auf den 10

Feldern. Versteh mich nicht falsch, aber ich hasse sie, 11

diese Leute. Aber noch mehr hasse ich meinen Dad.“ Sie 12

setzte sich auf die Tischkante, wobei sie sich mit den Armen 13

abstützte. 14

„Ehrlich?“ 15

„Ja, wenn ich es doch sage. Und auch all diejenigen, die 16

ihm helfen. Überhaupt alle. Bis auf Kalli.“ 17

„Du kannst mir vertrauen.“ Zögernd stellte ich mich neben 18

Tess, legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. „Ich 19

möchte nur hier weg, glaub mir. Warum um alles in der Welt 20

sollte ich deinem Vater helfen, wenn ich nicht einmal weiß, 21

wobei?“ 22

„Ja, aber wie lange?“ 23

Die Türe wurde aufgestoßen. Eine junge Afrikanerin mit 24

fliederfarbenen Kopftuch und gleichermaßen gemustertem Kleid 25

wirbelte auf Schuhen mit hohem Absatz herein, auf denen sie 26

das Gleichgewicht besser halten konnte als manch anderer auf 27

dem Boden. 28

„Tess, wir… wer ist das denn?“ Sie sprach Französisch, 29

obwohl ich angenommen hatte, Sir Scott hätte es verboten. 30

136

Lächelnd zwinkerte sie mir zu. Kurzes Händeschütteln. „Ich 1

bin Suleika, Tess Tanzlehrerin.“ 2

Bevor ich die Möglichkeit bekamen, etwas zu entgegnen, 3

sprang das Mädchen auf, um mich als Sohn eines Forschers 4

vorzustellen, der für ihren Vater arbeitete. 5

Überrascht nickte ich. Wenn ich eines in meinem 6

neujährigen Leben nicht verstanden, dann waren es Mädchen. 7

Sie konnte einem ins Gesicht lächeln und mit der gleichen 8

Bewegung ein Messer in den Rücken stecken, falls sie diese 9

Absicht besaßen. Mathieu hat dies einmal gemeint, als ich 10

ihn dabei erwischt habe, wie er Mirja, eine hübsche 11

Togolesin, anhimmelte. In dieser Sache sollte er recht 12

behalten. Die meisten von diesen Wesen waren, nun ja, 13

seltsam. Auch Kay und Mama in gewisser Weise - selbst wenn 14

ich es mir nie hätte eingestehen wollen. 15

„Schön dich kennen zu lernen. Ich darf doch ‚du‟ sagen, 16

oder? Kannst du Französisch?“ 17

„Ja, meine Mutter kommt aus Frankreich. Mein Vater ist 18

Deutscher.“ 19

„Oh, ein deutsch-französischer, junger Mann. Es freut 20

mich.“ Suleika machte einen vornehmen Knicks, wobei sie Tess 21

bat, sich aufzuwärmen. Zögernd setzte sich das Mädchen auf 22

eine Isomatte vor einer Spiegelwand, die mir bisher noch 23

nicht aufgefallen war, weil sie zum Teil von einer Pflanze 24

bedeckt wurde, die derart unnatürlich grün wirkte, als sei 25

sie ein Imitat aus Kunststoff. Mit einem letzten Blick über 26

die Schulter zurück signalisierte sie mir, dass ein falsches 27

Wort mich den Kopf kosten könnte. Ich biss mir nervös auf 28

die Unterlippe bei dieser Vorstellung, schmunzelte aber zu 29

gleich. 30

137

„Du bist sicherlich zu Besuch bei Sir Maurice Scott.“ 1

Ich wiegte unsicher den Kopf. „So könnte man es auch 2

nennen.“ Ein forsches Zucken in Tess Richtung, die in einer 3

Dehnübung vertieft war. „Ihr Vater hat mich wortwörtlich 4

aufgesammelt.“, fügte ich hinzu, als mir plötzlich ein 5

anderer Gedanke kam.“ Kanntest… kennst du einen Mann namens 6

River, Marc River? Das ist mein Papa.“ 7

Nachdenklich verzog die junge Afrikanerin das Gesicht. 8

„Ich meine, ihm einige Mal auf dem Flur begegnet zu sein. 9

Wenn ich mich recht entsinne, hat er ein Büro im ersten 10

Stock. Aber, dass er einen Sohn hat, davon wusste ich 11

nichts. Und noch dazu einen so reizenden.“ 12

Enttäuscht lehnte ich mich gegen die Wand. Vor allem und 13

jedem hatte Papa mich geheim gehalten. Warum? Scott 14

behauptete, er wäre nicht stolz auf mich gewesen, hätte mich 15

nicht wie sein Eigenblut geliebt. Sagte er wirklich die 16

Wahrheit, Papa? Oder war es etwas anderes? 17

Ich seufzte. Ein Zimmer im ersten Stock… Schlagartig wurde 18

ich wach, rieb mir wie nach einem kurzen Schlaf den Staub 19

des Sandmanns aus den Augen. Ein Zimmer im ersten Stock! Das 20

war meine Chance, endlich herauszufinden, womit mein Vater 21

gehandelt und warum man ihn umgebracht hatte! Meine letzte 22

Chance. Aber dafür würde ich widerstrebend Tess Hilfe 23

benötigen, denn sicherlich käme es Sir Scott ungelegen, wenn 24

ich zu viel wüsste. Allein die Tatsache, dass ich hierher 25

gefunden hatte, musste ihm zum Denken geben. 26

„Wärm dich auf, Tim.“, forderte mich Suleika lächelnd auf, 27

wobei sie hinter einer Musikanlage verschwand. 28

„Was?!“ 29

138

„Aufwärmen. Auch die Muskeln eines Tänzers müssen für den 1

Sport vorbereitet werden. Sonst hast du schnell eine 2

unangenehme Zerrung.“ 3

„Aber Tim tanzt doch gar nicht!“, mischte sich Tess hastig 4

ein, wobei sie uns im Spiegel musterte. 5

„Es kann ihm nicht schaden, schätze ich. Tanzen befreit 6

die Seele. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Tess hätte 7

endlich mal wieder einen Partner und…“ 8

Die Lautsprecher knackten vernehmlich. Das wilde Spiel 9

eines Schlagzeugs löste die ruhige Melodie des Klaviers ab. 10

„Cha-Cha-Cha, ein aus Kuba stammender Tanz. Sehr beliebt, 11

sehr einfach. Ich denke, Tim, das bekommen wir hin, nicht?“ 12

Unschlüssig nickte ich, schüttelte gleichzeitig den Kopf, 13

wobei ich mich zur Belustigung der Frauen auf den Boden 14

kniete und Liegenstützen machte. Auch Tess, die nun zu mir 15

kroch, um mein Schnaufen zu imitieren, konnte sich das 16

Lachen nur schwer verkneifen. 17

„Wenn du so anfängst, bekommst du höchstens beim Fußball 18

Spitzennoten.“, behauptete sie. „Vielleicht sollten wir 19

tatsächlich einmal versuchen, dir etwas Ausdauer 20

anzutrainieren. Du keuchst wie eine Oma im Treppenhaus oder 21

wie eine Lokomotive… Tiefer runter, du Weichei!“ Mit aller 22

Kraft drückten ihre Hände auf meinen Rücken, sodass meine 23

Lippen im selben Augenblick den Boden berührten. 24

„Können wir nicht eine Runde laufen?“, erwiderte ich 25

stöhnend, wobei mich aufrappelte. 26

„Ich wette, bevor du zurück bist, küsst der Mond die 27

Sonne." 28

Ich schnitt eine Grimasse. „Küsst der Mond die Sonne? Was 29

ist das denn für ein dämlicher Spruch?“, entgegnete ich mit 30

139

nachgeäfftem Tonfall, stemmte die linke Hand in die Hüfte, 1

wippte leicht mit dem Fuß. „Ich bin gar kein übler Läufer.“ 2

Bevor einer von uns beiden reagieren konnte, drückte mir 3

Suleika, die seufzend zu uns getreten war, die junge Britin 4

an die Brust. Ich spürte ihren Atem, der wie ein sachter 5

Windstoß über meine Wangen strich. 6

„Cha-Cha-Cha, ein aus Kuba stammender Tanz.“, erklärte die 7

Tanzlehrerin nochmals, wobei sie Tess Hand auf meine 8

Schulter legte, meine um deren Taille. Die verschwitzende 9

Innenfläche hinterließ winzige Flecken auf ihrem T-Shirt und 10

schmunzelnd bemerkte ich, dass mein Gegenüber ebenfalls 11

seltsam nervös wirkte. 12

Widerstand - wenn wir uns denn hätte zur Wehr setzen 13

können - schien zwecklos. 14

„Der Herr beginnt rechts seitwärts, die Dame links 15

seitwärts. Seit, Schritt, Platz, Cha-Cha. Seit, Schritt, 16

Platz, Cha-Cha.“ 17

Stille. Nur mein leises Schnaufen, vermischt mit ihren 18

kleinen Schrittchen auf dem Parkett. Keine Zuschauer, außer 19

den in den Korallenriffen versteckten Nixen, die ihre 20

prächtigen, farbenfrohen Schwänze im Gleichklang mit der 21

Melodie von rechts nach links, von West nach Ost, 22

schwankten. Über ihren Köpfen schlugen die Wellen gegen die 23

Felsen, mal langsamer, mal schneller. 24

Das erneute Trommeln. Klavier. Basslaute. Ich schloss die 25

Augen, wünschte mich plötzlich in die Arme eines anderen 26

Mädchen weit, weit weg. In die Arme eines Mädchens, das ich 27

vielleicht nie wieder sehen würde. Nein…! 28

Ruckartig riss ich die Lider auf, stolperte über Tess 29

rechtes Bein. 30

140

Sie wollte fluchen, doch als sie in mein verzweifeltes 1

Gesicht sah, hielt sie inne. „Kann jedem einmal passieren.“ 2

Ich nickte unbeteiligt. Noch ist sie in Sicherheit. Und 3

deshalb musst du sie vergessen, so schwer es dir auch fallen 4

mag. Denn nur so kannst du sie retten. 5

Blut pochte hart gegen meine Schläfe, sodass mich 6

augenblicklich ein Schwindel erfasste. Tim, vertraue auf 7

deinen Gefühlen. Widerstrebens verdrängte ich sie aus meinen 8

Gedanken, versuchte mich in die neu einsetzende Musik 9

einzugliedern. 10

„Du hast den Takt im Herzen, mein Junge.“ 11

Suleika, gegen das Klavier gelehnt, klatschte dem Rhythmus 12

entsprechend in die Hände, wobei sie mir aufmunternd zu 13

zwinkerte. 14

Seit, Schritt, Platz, Cha-Cha. Meine Fußsohlen strichen 15

sacht über das kalte Holz. Tess hatte den Kopf zur Seite 16

gelegt. Nur gelegentlich ein Wimpernschlag, ansonsten schien 17

sie völlig Teil des Stückes geworden zu sein. Auch ich 18

spürte, wie meine Anspannung bei jeder Umdrehung merklich 19

nachließ. Es war wie das kurze Schöpfen nach einem langen 20

Lauf. Der Atem nach Freiheit. 21

Das soll nie wieder aufhören. Nie wieder… 22

Noch eine Umdrehung. Ein Tor, durch welches das Mädchen 23

hindurchschwebte. 24

Cha-Cha-Cha. Du kannst tanzen. Warum kannst du tanzen?! 25

Der Stolz schwemmte auch die übrigen Lasten meiner Seele 26

fort. 27

Drehung, Drehung, Cha-Cha-Cha. 28

Dann plötzlich brach die Welle über mir zusammen und ich 29

ertrank in dem schwarzblauen Wasser, umgeben von tausenden 30

141

Nixen, die gierig nach mir langten und mich langsam immer 1

tiefer hinab zogen mit ihren scharfkantigen, 2

flossenähnlichen Händen. 3

„Mister River? Sir Scott bittet Sie in sein Büro.“ Einer 4

der Diener erschien in der Türe. Durch das schwarze Jackett, 5

welches er trug, wirkte er wie ein Racheengel, geschickt vom 6

Teufel persönlich. 7

„Aber wir sind mitten in einer Tanzstunde.“ 8

„Dad kann warten.“ 9

Erleichtert bemerkte ich, dass sowohl Suleika als auch 10

Tess mir den Rücken stärken wollten, wofür ich ihnen ein 11

dankbares Lächeln schenkte. Dennoch war mir schmerzlich 12

bewusst, dass Scott immer noch die Fernbedingung in seiner 13

Hand hielt. Der Meister wünschte dies, der Meister wünschte 14

das - und so es geschah. 15

„Schon in Ordnung. Ich habe nichts verbrochen.“ 16

Ich versuchte, optimistischer zu wirken, als mir in diesem 17

Augenblicke zu Mute war, um Tess nicht zu beunruhigen, 18

selbst wenn ich mir sicher sein konnte, dass sie kaum mit 19

der Wimper zucken würde, bestrafe mich Vater. Zögernd ließ 20

ich ihre verschwitzte Hand aus meiner gleiten, ohne sie ein 21

weiteres Mal anzusehen. Vielleicht, schoss es mir durch den 22

Kopf, vielleicht tanzen wir nie wieder zusammen. Auch das 23

Mädchen wich meinem Blick aus. Mit aufeinander gepressten 24

Zähnen flüsterte ich, den Kopf ein Stück gesenkt: „Bringen 25

Sie mich zu ihm.“ 26

„Sehr wohl.“ Eine elegante Verbeugung. Dann das Öffnen der 27

riesigen Flügeltür. Sich entfernende Schritte. Tief atmete 28

ich ein, schloss kurz die Augen. In meinen Ohren hallte 29

immer wieder dieses Versprechen: Ich werde der Erste sein, 30

142

der sie alle besiegt. Kay vertraute mir. Ich durfte sie 1

nicht ein zweites Mal enttäuschen, nicht wieder ihre Hand 2

loslassen, wenn sie mich brauchte. Kay… 3

Kalte Finger umklammerten mein Handgelenk. Verwirrt fuhr 4

ich herum, in Tess grüne Augen starrend. 5

„Ich habe Tim noch nicht das Haus gezeigt! Och 6

herrjemine!“ Mit gespieltem Entsetzen japste das Mädchen 7

nach Luft „Dad hatte es doch erwünscht!“ 8

Erstaunt hielt der Diener inne. „Es ist nur mein Befehl 9

von Sir Scott, den Jungen zu ihm zuführen.“ Die weiße Seide 10

seiner Handschuhe streifte meinen Arm. „Komm endlich.“ 11

Widerstrebend folgte ich ihm auf den Flur. Wie ein Mensch, 12

der seinen letzten Atemzug tat, so ächzte auch die Türe, die 13

nun hinter mir zufiel. 14

Der Kadaver eines Zierfisches trieb in der Strömung des 15

Filters, dessen Rädchen wie ein Sägeblatt durch das Wasser 16

schnitt. Die glasigen, beinahe grauen Augen waren starr, 17

gleichwohl die Schwanzflosse noch gelegentlich zuckte, um 18

sich gegen dieses Ende, nun von den Artgenossen genüsslich 19

verspeist zu werden, zur Wehr zu setzen. Ich kauerte auf dem 20

weißen Ledersofa - den Rücken gegen die riesigen Scheiben 21

des Aquarium gedrückt, welches mich wie ein Meer im 22

Halbkreis umzingelte - und nippte an dem Glas Wasser, das 23

Maurice Scott mir aufgezwungen hatte. Der Mann seinerseits 24

hockte in dem Sessel gegenüber, jetzt in einem teuren weißen 25

Anzug mit einer schwarzen Sonnenbrille, die in seiner 26

rechten Jackettasche steckte. Auf dem Glastisch hatte eine 27

Dienerin das Mahl serviert, welches hauptsächlich aus 28

Chinchillabeinen, umwickelt von goldbraun gebackenem Teig, 29

bestreut mit einem Hauch von scharfen Gewürzen, bestand. 30

143

Ganz auf seinen Wunsch reichte man ihm dazu süße Früchte und 1

Wein - Ein Speisen wie die Könige jener längst vergessenen 2

Zeit. Genüsslich leckte er sich über die Lippen, während er 3

sorgfältig das Beinchen mit der Gabel zerteilte, um zu 4

prüfen, ob dieses nach seinen Vorstellungen gegart und 5

zubereitet worden war. Scheinbar zufrieden wiegte er den 6

Kopf, als er die Gabel an den Mund führte und das Fleisch 7

zwischen den perfekten, weißen Zähnen zermalmte. Dabei 8

betrachtete er mich mit höflichem Interesse, versuchte 9

wieder einmal, mich einzuschätzen. Nervös rutschte ich auf 10

meinem Platz hin und her. Irgendetwas stimmte nicht. Warum 11

sonst sollte sich ein derart beschäftigter Mensch für einen 12

Jungen Zeit nehmen? 13

„Du hast mir eine Frage noch nicht beantwortet, Tim. Die 14

Frage nach dem Warum.“ 15

Er legte Gabel und Messer beiseite, betupfte vorsichtig 16

mit einer weißen Serviette sein Kinn. „Warum bist du 17

hierhergekommen, wo du dort draußen frei hättest leben 18

können! Jeder andere Junge wäre verzweifelt nach Hause 19

zurückgeflogen oder Tage lange durch die Weiten des Urwalds 20

gestreunt ohne jegliches Ziel vor Augen. Du aber findest den 21

Weg, schaffst es tief in mein Land einzudringen - warum?“ 22

Erneutes Kauen, dann das verärgerte Zucken im Gesicht des 23

Mannes. Das Chinchillafleisch hatte eine zu niedrige 24

Temperatur. Nicht exakt fünfzig Grad. Diese Tiere würden 25

nicht mehr im Magen eines Sirs verdaut werden, sondern 26

höchstens in denen der Köche. Leise fluchend schob Scott die 27

Beine mit dem Messer auf das Tablett zurück, wobei er nach 28

einer hübsch mit einem Goldrand verzierten Schale langte. 29

144

„Es lohnt nicht, es zu verleumden, Tim.“, fuhr der Mann 1

nach einer Weile der Stille fort, welches lediglich von dem 2

leisen Plätschern des Wassers unterbrochen wurde. „Wir 3

wissen bereits, dass du einen der Computer in der Stadt 4

Kpalimé benutzt hast, um herauszufinden, für wen dein Vater 5

gearbeitet hat. Ich muss schon sagen, intelligent, 6

intelligent. Doch du wurdest überrascht, wodurch du keine 7

Zeit mehr hattest, das Emailkonto vollendend zu schließen.“ 8

Ich schwieg. Meine Hände verkrampften sich um das Glas, 9

sodass die Knöchel weiß hervortraten. Was hätte ich auch 10

erwidern sollen, jetzt da der Mann bereits Kenntnis davon 11

hatte, dass einen Teil seiner Aase im Ärmel aufgedeckt 12

worden war? 13

„Es gibt vieles, womit ich gerechnet habe. Nur nicht 14

damit, dass ein Junge wie du innerhalb kürzester Zeit einem 15

Geheimnis auf die Schliche kommt, in dessen Schatten eine 16

ganze Nation im Dunkeln tappt. Die meisten Menschen schöpfen 17

nicht einmal den Verdacht, dass im Untergrund etwas 18

existiert. Darum gestehe ich, dass ich dich ehrlich dafür 19

bewundere, und dir, so wahr ich hier sitze, versprechen 20

will, dass ich dir nichts tun werde. Vorausgesetzt, du 21

hilfst mir.“ 22

Verwirrt zog ich die Augenbrauen hoch. „Ihnen helfen?“, 23

entfuhr es mir. 24

„Ich möchte nur von dir wissen, was du über ‚Kamikaze‟ 25

erfahren hast.“ 26

Ich zögerte, presste den Rücken fester gegen das raue 27

Glas, sodass einige der neugierig heran geschwommenen Fische 28

erschrocken zurückwischen. 29

145

Ein Lächeln huschte über Scotts Lippen, doch es war 1

absolut kalt und unberührt. Siegessicher thronte er auf 2

seinem Sessel, das Weinglas an den Mund führend. 3

Hastig wandte ich meinen Blick von der blutfarbenen 4

Flüssigkeit ab. Denk nach, denk nach. Dabei stand meine 5

Entscheidung bereits fest. Der Mann mochte wissen, dass ich 6

kein schlechter Spion gewesen war - doch wie viel ich 7

herausgefunden habe, wusste er nicht. Der Vorteil war 8

deshalb noch auf meiner Seite. Ihn leichtsinnig wegen eines 9

leeren Versprechens zu verspielen, wäre das, womit Sir Scott 10

rechnete. Denn dann könnte er mich endlich wie die letzte 11

Perle einer Kette einfädeln. 12

„Nein.“, flüsterte ich, fügte noch etwas bestimmter hinzu: 13

„Sie können mich nicht dazu verlocken.“ 14

Maurice Scott lachte leise, beinahe wie über einen Witz. 15

„Stimmt. Verlocken kann ich dich nicht - aber zwingen. 16

Vielleicht wirst du dann begreifen, dass du nie eine Wahl 17

hattest.“ 18

Wie auf ein unsichtbares Kommando wurde die Tür 19

aufgestoßen. Zitternd vor Angst stolperte ein dreckiger, 20

dunkelhäutiger Junge etwa in meinem Alter herein, begleitet 21

von einem Gorilla, der ehrfürchtig vor seinem Meister 22

niederkniete. „Nummer 273.“ Den Kopf immer noch gesenkt, 23

deutete er auf den jungen Togolesen, der verzweifelt meinen 24

Blickkontakt suchte. 25

Scott erhob sich und ging mit den geschmeidigen Schritten 26

eines Seiltänzers zu ihnen herüber, mich im Augenwinkel 27

beobachtend. „Wie ist dein Name, Nummer 273?“ 28

„Kassian… Kassian Broelski, Sir.“ Der Junge biss sich auf 29

die Unterlippe. Blut tropfte, gemischt mit Dreck und 30

146

Schweiß, auf sein zerrissenes Leinenhemd herab. An dessen 1

Ärmel und der Brusttasche war eine Kennnummer angebracht. 2

Namen haben keine Bedeutung. Sie sind nur Worte, wie 3

tausende und abertausende auf dieser Welt. Man sollte 4

Lebewesen nicht nur unter einem Begriff kennen, sie dadurch 5

unterscheiden, sondern durch das, was sie tun, im Guten wie 6

auch im Schlechten. Ein weiteres Puzzleteil rückte an seinen 7

Platz. Wenn es wirklich Papa gewesen war, der diese Worte 8

gesagt haben soll, kurz bevor die Todesengel ihn geholt 9

hatten, musste er sich gegen diese Art von Seelenraub 10

gewehrt haben. 11

Scott hüstelte. „Tim!“, brüllte er, wobei er zurück zu dem 12

Tisch stolzierte. „Das ist Kassian. Hast du gehört?“ Dann 13

plötzlich, ohne dass wir hätten reagieren können, griff er 14

nach dem Messer auf dem Tisch und hielt es dem jungen Mann 15

an die Kehle. „Möchtest du, dass ich ihn töte?“ 16

Wie versteinert wanderten Kassians Augen nach unten zu der 17

Schneide, die jeden Moment seine Halsschlagader durchtrennen 18

mochte. Flehend warf er mir einen Blick zu, während er leise 19

betete. 20

„Nein!“ Ein Hauch von Kameradschaft flackerte 21

augenblicklich in mir auf. Ohne auch nur eine Sekunde daran 22

zu verschwenden, nachzudenken, sprang ich auf, wollte dem 23

Mann das Messer aus der Hand schlagen, doch eisernen Hände 24

verdrehten mir die Arme auf den Rücken. Verzweifelt trat ich 25

um mich, musste schnell einsehen, wie aussichtslos meine 26

Lage war. 27

„Dachte ich mir. Nun, Tim, wenn dein dunkelhäutiger Freund 28

leben soll, musst du wohl oder übel den Mund aufmachen. Sag 29

mir endlich, was ich wissen möchte!“ 30

147

„Nein!“, stieß ich hervor, bei dem Versuch, meine Gedanken 1

zu ordnen. 2

Es war mir bewusst, dass Scott den Sklaven töten würde, 3

wenn es ihm half, seine Ziele zu erreichen. Was kümmerte es 4

ihn schon, ob er ein Werkzeug weniger zu Hand hätte? 5

Schließlich wäre binnen Stunden frische Ware besorgt. 6

Ich selbst stand auf einer Waage. Entweder konnte ich 7

schweigen, um Widerstand zu leisten, oder ich konnte dem 8

Jungen das Leben retten, indem ich alles preisgab, was ich 9

wusste, und somit meinen Vorteil bei der Flucht verspielen. 10

Welche Seite überwog? 11

„Eins… zwei… drei…“ 12

Das Messer zuckte, berührte beinahe Kassians Kehle. 13

„Nein… Bitte!“ 14

„Vier… fünf…“ 15

„Tun Sie es nicht. Bitte, tun Sie es nicht. Bitte!“, 16

flehte ich. 17

„Sechs…“ 18

Ein Schwindel übermahnte mich. Was mochte Kassians Mutter 19

sagen, wenn sie erfuhr, dass ihr Sohn meinetwegen getötet 20

worden war? Mochte sie schreien, weinen, zusammenbrechen, so 21

wie ich damals, als ich meine Mama verloren hatte? Bis in 22

alle Ewigkeit… Amen. Nein, selbst wenn ich keine Chance mehr 23

hatte, durfte ich Kassian nicht wie eine Schachfigur 24

leichtsinnig verspielen. Ich würde sein Leben brauchen, um 25

den schwarzen König auf der anderen Seite des Feldes 26

schachmatt zu setzen. 27

„Okay, ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß. Aber 28

bitte, beenden Sie diesen Wahnsinn. Das ist kein Spiel, bei 29

dem Sie jemanden abschlachten sollen!“ 30

148

„Ich werde den Jungen erst dann freilassen, wenn ich das 1

gehört habe, was ich will.“ 2

„Okay. Es gab einen Eintrag. Am 25. Mai. Die Kalenderseite 3

dazu haben ihre Leute in meinem Rucksack gefunden. An dem 4

Tag, an dem er gestorben ist, hatte mein Vater das Wort 5

Kamikaze hineingeschrieben. Auch in der Email war diese 6

Buchstabenkombination.“ 7

„Kennst du ihre Bedeutung?“ 8

Ich schüttelte resigniert den Kopf. Nein, Tim, du weißt 9

gar nichts, rein gar nicht. Weder über Scott noch über 10

Kamikaze oder den Tod deines Vaters. 11

Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, dass der Mann dem 12

zitternden Jungen das Messer noch näher an die Kehle hielt. 13

„Sieben… Acht…“ Wie eine Bombe zählte er die Zeit hinunter. 14

„Ich… Ich glaube, es ist eine Art Geheimbund.“, fügte ich 15

hinzu, mehr ratend als darüber nachdenken, was ich in aller 16

Eifer und Panik faselte „Irgendetwas mit Forschung und 17

Schmuggel. Keine Ahnung. Verdammt. Ich weiß nur, dass mein 18

Vater etwas damit zu tun hatte… Ist das der Grund, weshalb 19

er sterben musste?“ 20

„Gute Arbeit, Tim. Gratuliere. Du hast dich wahrlich 21

hervorragend geschlagen, muss ich zugeben. Findest du, ich 22

sollte dich belohnen?“ 23

Ich zögerte unschlüssig, wobei ich mich auf das Sofa 24

fallen ließ und mit den Händen durch die Haar fuhr. 25

Eigentlich hätte ich stolz darauf sein müssen, Kassians 26

Leben für das Erste gerettet zu haben, doch mir fehlte der 27

Mut, weiterzukämpfen. Wieder einmal hatte ich Papa 28

enttäuscht, weil ich zu feige gewesen war, mich zu wehren. 29

149

„Ich verstehe: Du willst mir die Entscheidung überlassen. 1

Wie überaus höflich von dir.“, spottete Scott, der den 2

Sklaven von einem der Gorillas in Fessel legen ließ. Die 3

Beine des Jungen gaben sofort nach, sodass der Mann ihn 4

stützen musste, was er mit wenig Zartgefühl tat. 5

„Ich möchte dir etwas vorschlagen. Arbeite für mich. 6

Arbeite für Kamikaze.“ 7

Erstaunt hob ich den Kopf. Es war eine Gabe, die sowohl 8

Maurice Scott als auch seine Tochter Tess beherrschten: Die 9

Schlagfertigkeit. 10

„Warum um alles in der Welt sollte ich das tun? Sie sind 11

schuld daran, dass mein Vater tot ist.“ 12

„Du wirst noch früh genug begreifen, dass ich ab jetzt 13

dein Meister bin - oder ich werde Methoden anwenden müssen, 14

die für dich weniger angenehm sein möchten, wenn bei dir 15

auch nur der geringste Zweifel an meinen Befehlen besteht, 16

mein Junge.“ 17

„Nein. Ich helfe niemandem, der so fies ist wie Sie.“, 18

entgegnete ich verzweifelt. Im Augenwinkel registrierte ich 19

Kassians niedergeschlagenen Blick. 20

Du kannst mir vertrauen - Ja aber wie lange? Allmählich 21

begriff ich, was Tess gemeint hatte. Sir Scott war 22

unbesiegbar. Die Klugen gaben auf. So konnte sie wenigstens 23

das eigene Leben retten - ständig in der irrsinnigen 24

Hoffnung, endlich befreit zu werden. Doch wer befreit einen, 25

wenn alle vergaßen? Das Leben hatte erst dann einen Wert, 26

wenn man es auch lebte. Für den Mann mochte ich nur ein 27

kleiner Junge sein, aber ich war ein kleiner Junge, der für 28

etwas kämpfte. Und das, wofür es sich zu kämpfen lohnte, 29

150

überstieg all die Furcht wie den riesigen, weiß gepuderten 1

Gipfel eines Berges. 2

„Du wirst für mich übersetzen. Keine Widerrede. Oder muss 3

ich zu Waffen greifen?“ 4

Wenn Sie sich ohne nicht verteidigen können, hätte ich am 5

liebsten geantwortet, doch ich wusste, dass Kassian nur 6

darunter leiden würde. „Nein. Aber…“ 7

„Kein Aber.“ 8

Ich ignorierte seinen Einwurf. „Aber ich weiß nicht, was 9

genau Sie von mir verlangen, Meister.“ 10

„Obwohl ich es verboten habe, ist Französisch die 11

Landessprache der meisten meiner Arbeiter. Ich möchte, dass 12

du für mich ihre Worte wiedergibst und andersherum. Als 13

Gegenleistung werde ich deinen Freund verschonen - 14

vorausgesetzt, du schadest mir nicht. Ich werde dich 15

beobachten lassen und schon bei dem geringsten Verdacht 16

eines Widerstandes wird er leiden müssen.“ Das zuvor noch 17

geschmeichelte Lächeln auf seinen Lippen war verschwunden. 18

Stattdessen rückte er nun mit den Fingern seine Brille 19

zurecht, wobei er wohl versehentlich das Glas berührt haben 20

musste, denn seine Augen verengten sich zu einem Schlitz. 21

Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch, dann auf die 22

Glocke des kleinen Beistelltisch. Bevor ich auch nur mit der 23

Wimper zucken konnte, erschien eine Dienerin aus dem 24

Nebenraum. Sie war mit ein figurbetontes, rotweißes Kleid 25

mit einer Schürze, wie ich es nur aus alten Filmen des 20. 26

Jahrhunderts kannte, dazu eine perfekt abgestimmte 27

Haarspange und weiße Sandalen bekleidet. Mit äußerster 28

Vorsicht hob sie die Brille an der Nasenbrücke hoch und trug 29

151

sie wie ein zerbrechliches Porzellanstück in das Zimmer, aus 1

dem sie gekommen war. 2

„Nun, Tim? Was sagst du dazu?“ 3

Eine lange Pause entstand. Meine Gedanken überstürzten 4

sich. Scott betrachte mich über den vergoldeten Rand des 5

Weinglases hinweg, während Kassian unruhig das Gewicht von 6

einem Fuß auf den anderen verlagerte, bevor der Gorilla ihm 7

etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin sich der Junge 8

augenblicklich in einen Statur aus Stein verwandelte, deren 9

Augen nur zögerlich durch das Zimmer huschten. Stille, nur 10

das gelegentliche Rauschen des Filters, sodass man glaubte, 11

das Schweigen der Fische hören zu können. 12

„Nein.“, murmelte ich erlösend mit vor der Brust 13

verschränkten Armen „Nein. Sie können mich einmal 14

kreuzweise! Ihnen zu helfen, wäre das Letzte, was ich tun 15

will. Allein schon jeden Tag ihr überhebliches Gehabe hören 16

zu müssen, würde mich krank machen. Öffnen Sie das Tor, 17

lassen Sie uns frei! Dann versprechen ich Ihnen, dass ich 18

Ihnen keinen Ärger bereiten werde.“ 19

Tief ein und ausatmend, um nicht sofort die Geduld zu 20

verlieren, massierte der Mann seine Ohrläppchen. Mit der 21

anderen, freien Hand gestikulierte er wild in der Luft, 22

sodass er der eintretenden Dienerin die Brille aus den 23

Fingern schlug. Das Glas klirrte auf dem Boden, zerbrach 24

jedoch nicht. Erschrocken kniete die junge Frau nieder, aber 25

Scott riss sie mit der Reaktionsschnelle eines Geiers hoch. 26

Eine Ohrfeige. Stille. Leises Wimmern. Dem Blick ihres 27

Meisters ausweichend, hielt die Dienerin die errötete Wange. 28

Vorsichtig erhob ich mich, wollte sie verteidigen, als mir 29

bewusst wurde, dass es den Mann erneut erzürnte. 30

152

„Geh mir aus den Augen!“, brüllte er mit einem knurrenden 1

Unterton in der Stimme. Ohne ihr weitere Beachtung zu 2

schenken, wandte er sich mir zu, hielt etwa einen Meter vor 3

mir inne, um abzuschätzen, ob ich seine Mühen wert war. 4

„Weißt du“, erwiderte er, mir seine rechte, knöcherne Hand 5

auf die Schulter legend, „Weißt du noch, was ich dir über 6

die Menschen erklärt habe, die sich mir widersetzten. Ich 7

könnte dafür sorgen, dass du deinen Papa wieder siehst, dort 8

unter der Erde. Möchtest du das? Der einzige Grund, weshalb 9

ich dich noch nicht getötet habe, ist der, das du der Sohn 10

eines großartigen Forschers bist, der Sohn eines guten 11

Freundes. Wäre ich der Ansicht, du wärst wertlos für mich, 12

glaub mir, dann säßest du nicht mehr auf diesem Sofa.“ 13

Im Winkel meines Blickfeldes vernahm ich eine ruhige 14

Bewegung. Etwas wurde im matten Lichtschein reflektiert. Ein 15

Messer. Nein…! Sekunden später spürte ich, wie die Klinge in 16

mein Fleisch schnitt. Mein Schrei peitschte durch das 17

Zimmer. Etwas Warmes rann über meinen Arm und auch ohne 18

nachzusehen, wusste ich, dass es Blut war. Dunkelrotes Blut. 19

Ein kurzer Augenblick nackter Gewalt. Der Mann will dich 20

umbringen, Tim! Mit aller Kraft trat ich gegen dessen 21

Schienbein und wich einige Schritte zurück, dabei den 22

verletzen Arm unter die Achseln gedrückt. Blut tropfte zu 23

Boden, hinterließ winzige Spuren. 24

„Pass auf!“, brüllte Kassian zu mir herüber, bevor sein 25

Zurufen durch die Hand auf seinem Mund unterdrückt wurde. 26

Aber es war bereits zu spät. Ich schlug mit dem Hinterkopf 27

gegen das harte Glas, wobei ich mir unwillkürlich auf die 28

Zunge biss. Blut füllte meine Mundhöhle, doch ich zwang 29

mich, nicht zu schlucken. Scotts Arm legte sich wie eine 30

153

Schlinge um meinen Hals, sodass jegliche Gegenwehr unmöglich 1

war, wobei er sein Werk vollendete. „Nummer 448. Ab dem 2

heutigen Tag wirst du deinen Namen vergessen - oder nur noch 3

benutzen, wenn ich es dir ausdrücklich erlaube. Hältst du 4

dich nicht daran, werden meine Männer dich nachts solange 5

über das Feld laufen lassen, bis zu dich übergibst - und 6

dann vielleicht noch etwas länger.“, erklärte der Mann 7

lächelnd und reinigte die Wunde grob mit einem 8

Papiertaschentuch. „Willkommen bei Kamikaze, Nummer 448!“ 9

154

5. Kapitel 1

Im Osten geht die Sonne auf, so heißt es. Doch in diesem 2

Haus mochte es den glühenden Stern nur auf Gemälden geben, 3

der, in den Hintergrund gedrückt, lediglich dazu diente, 4

einen Heiligenschein auf das Haupt des Herren, unseres 5

Meisters, zu zaubern. 6

Der Wächter deutete mit der rechten Hand auf die im 7

Schatten verborgene Eisentreppe und gestikulierte, dass ich 8

ihm ohne Widerrede zu folgen hatte. Nervös kaute ich auf der 9

Unterlippe. Der stechende Schmerz im Oberarm hatte 10

nachgelassen, dennoch schien er mich zu betäuben. Betäubte 11

meinen Körper, der sich wie ein Roboter bewegte. Betäubte 12

meine Gedanken mit dem Gift der Gewissheit, dass Maurice 13

Scott mich hätte töten können. 14

Eine stabile Stahltür glitt zischend auf, gab den Blick 15

frei auf einen weiteren Korridor, kahl, steril, wie der 16

Vorhergegangene. Klimatisierte Luft schlug uns entgegen. Die 17

Gitter der Luftschächte glänzten mattsilberig im grellen 18

Neonlicht. Ein rhythmische Rattern, woraufhin ein Mann um 19

die Ecke bog, einen Wagen mit Laborutensilien vor sich 20

herschiebend. An jeder Abzweigung und Türe ein 21

Plastikschild. 22

Erstaunt ließ ich meinen Blick umherschweifen. Wofür 23

brauchte der Brite solch ein unterirdisches - ja, was war es 24

eigentlich, was ich sah? Die Flure erinnerten mich an Star 25

Wars oder die andere Science Fiction Filme, die ich im Kino 26

gesehen hatte. Vielleicht sogar ein wenig an ein 27

Krankenhaus. Schlug etwa hier das Herz von Kamikaze? 28

155

Ohne von seiner Akte, die er eifrig studierte, 1

aufzuschauen, trat ein hagerer Mann in einem weißen Mantel 2

zu uns. Sein Gesicht, welches zu großen Teilen von einer 3

Atemschutzmaske entstellt wurde, zeigte keinerlei 4

Gefühlsregung, nicht einmal dann, als der Gorilla ihm mit 5

knappen Worten die Lage schilderte. Schließlich 6

verabschiedete sich der Wächter und ließ mich in dem 7

Labyrinth aus ineinander verschachtelten Gängen zurück, aus 8

dem ich alleine nieder wieder an das Sonnenlicht finden 9

würde. 10

Vielleicht sollst du das auch gar nicht, Tim, schoss es 11

mir blitzartig durch den Kopf, für Kamikaze arbeiten zu 12

müssen, konnte auch bedeuten, als „Doktor Bibber-13

Versuchsspielzeug“ in Szene gesetzt zu werden. Die wollen 14

dich aufschnibbeln und schauen, wie lange du durchhältst, 15

bis dein Herz versagt. Oder die wollen irgendein Gift an dir 16

testen, mit demselben Effekt, nämlich dem, dass du ihn nicht 17

überleben wirst. 18

Sekunden starrten wir einander an, dann langte der Mann 19

nach hinten, brachte etwas metallisch Glänzendes zum 20

Vorschein. Was es war, wusste ich nicht. Es machte in diesem 21

Augenblick auch wenig Sinn, genauer hinzuschauen, denn so 22

wäre es das Letzte, was man jemals sehen würde. 23

Renn, Tim, Renn! 24

Ich rannte. Den Gang hinunter. Klappernde Schritte. Stieß 25

einen Pendeltür auf, noch eine. Das Rauschen einer 26

Klimaanlage. Schoss links um die Ecke. Wo bin ich? Noch ein 27

Korridor. Gleich weiß. Rechts um die Ecke. Wo sind die 28

Eisbären? Die Hoffnung, dass sie mich gehen lassen würden, 29

keimte in mir auf, wurde jedoch im selben Augenblick jäh 30

156

zerstört. Eine in den Ohren schmerzenden Sirene heulte auf. 1

Die hohen Töne schienen überall. Ich konnte sie nicht 2

ordnen, selbst wenn es gewollt hätte, ich konnte es nicht. 3

Du findest hier nie mehr heraus. Bewusst, dass ich mich 4

bereits verlaufen hatte, drückte ich den Rücken fest gegen 5

den kalten Stahl einer Türe und verbarg mich gleichzeitig in 6

dessen Schatten, um Atem zu schöpfen. Drei Gestalten jagten 7

um die Ecke. Hielten bewegungslos inne, als könnten sie mein 8

Herz in der Brust pochend hören. Suchend glitten ihre Blicke 9

über die kahlen Wände, blieben kurz an einem geöffneten 10

Schrank schräg gegenüber der Tür hängen. 11

Bitte, nicht! Meine Entdeckung stand unmittelbar bevor. 12

Lauf weg! Lauf, so schnell dich deine Beine tragen können! 13

Doch ich war wie betäubt, unfähig, mich zu rühren. Hätte 14

mich nun jemand mit dem kleinen Finger angetippt, wäre ich 15

mit großer Wahrscheinlichkeit vorne über gekippt. 16

Theoretisch hatte ich keine Chance. Dafür waren vor allem 17

die Kräfte zu ungleich verteilt. Der Gegner besaß mehr 18

Figuren auf dem Spielfeld und hatte den eigenen Würfel so 19

manipuliert, dass dieser nur Fünfen oder Sechsen zeigte. 20

Zudem besaß er Kenntnisse über sämtliche Geheimtunnel. Meine 21

Lage war aussichtslos. Und trotzdem… Trotzdem konnte ich 22

nicht aufgeben. Sich Maurice Scott und dessen kranken Plänen 23

zu unterwerfen - Nein, niemals! Nicht in tausenden von 24

Jahren! Es würde mich krank machen, für solch einen Menschen 25

mein Leben zu opfern. Zwanghaft zu opfern, denn opfern 26

alleine klang zu selbst bestimmend. 27

Von dem winzigen Hoffnungsschimmer getrieben, dass die 28

Weißmasken mich übersehen würden, presste ich meinen Körper 29

auf Zehenspitzen fester gegen die Türe - als diese plötzlich 30

157

nachgab. Völlig überrascht kippte ich hinten über - direkt 1

in die Arme eines Mannes, der sie gierig nach mir 2

ausstreckte. 3

Ich schrie. Tonlos, übertönt von der Sirene. Doch selbst 4

wenn ich laut genug gerufen hätte - hier unter der Erde 5

würde mich nie jemand finden. Niemand vermisste mich, 6

höchstens Tess oder Mathieu vielleicht, doch auch ihnen 7

würden sie einen Lüge über meinen plötzlichen Verbleib 8

auftischen: Tim? Nein, nie von gehört. Verschwunden? 9

Bedaure, dies muss ein Irrtum sein. Wir haben keinen Jungen 10

in den Katakomben herumstreunen sehen und wenn, so ist es 11

seine eigene Schuld, wenn er sich verlaufen hat, Lady Scott. 12

Natürlich versichern wir Ihnen, ihn sofort zurückzubringen, 13

für den Fall, dass wir ihn finden. Selbstverständlich. 14

Machen Sie sich keine Sorgen… 15

Du musst hier weg! Sofort! Doch ich spürte bereits den 16

Einstich einer Nadel in meinen rechten Oberarm. Ein kurzer 17

Pieck mit einer ungeahnten Wirkung. Zunächst kitzelte es 18

nur, dann durchzuckte ein Juckreiz meinen Körper, von oben 19

bis unten, von links nach rechts, beinahe so als ob tausende 20

von Ameisen mit ihren winzigen Beinchen über meine Haut 21

marschierten. Meine Pupillen weiteten sich, sodass ein 22

Nebelschleier meinen Blick augenscheinlich trübte. Die 23

Gestalt stemmte mich unter den Achseln hoch und schleppte 24

mich wie einen nassen Sack Kartoffeln durch die Türe. 25

Grelles Neonlicht flutete den weißen Raum und mit ihm all 26

die scharfkantigen Waffen der Ärzte, die nach ihrer Größe 27

und Gefährlichkeit aufsteigend in einem Regel sortiert 28

worden waren, sowie auch die verschieden farbigen 29

Flüssigkeiten, die in den wie Hexenkessel aussehenden 30

158

Gefäßen vor sich hin brodelten. An der freien Wand gegenüber 1

hatte man Infrarot und Ultraschallgeräte installiert. Einer 2

der Bildschirme flackerte, die anderen waren schwarz. 3

Zu meinem Entsetzen tauchten aus einem Nebenzimmer zwei 4

weitere Eisbären auf, ebenfalls mit Masken, sodass es schwer 5

war, sie überhaupt als Menschen zu identifizieren, 6

geschweige denn nach Geschlechtern zu unterscheiden. Gegen 7

meinen Willen zerrten sie mich auf den riesigen Tisch, wobei 8

einer von ihnen meine Brust mit aller Kraft auf die 9

metallische Fläche drückte und zum allerersten Mal ein Wort 10

mit mir sprach. „Die Schmerzen werden bald unerträglich 11

werden, doch wenn du die Muskeln entspannst, wird es nur 12

halb so sehr wehtun. Vielleicht hast du auch das große Glück 13

und verlierst du das Bewusstsein. Ansonsten finde dich damit 14

ab, dass du mit deinem Einverständnis die Welt ein Stück 15

weit verbessern kannst.“ 16

„Ich war nicht einverstanden.“ 17

Die Weißmaske ignorierte meinen Einwurf. Dass ihr 18

Versuchskaninchen, welches wie auf der Schlachtbank vor 19

ihnen zappelte, nicht als Festtagsbraten herhalten wollte, 20

schienen sie - wenn überhaupt - nur nebensächlich zu 21

registrieren. „Lehne dich zurück, denke an etwas Schönes.“ 22

Friss das Unkraut, mein Häschen. Friss, damit du fett 23

wirst, um mir viel Fleisch zu geben. 24

Mit aller Kraft hob ich den Kopf ein Stück von der 25

Tischplatte, aber die erste Injektion hatte mich derart 26

geschwächt, dass mich augenblicklich eine Welle der 27

Mündigkeit erfasste. Du musst wach bleiben, Tim. Nicht die 28

Schäfchen am Himmel zählen… 29

159

Die Gestalt öffnete erneut den Mund, als wolle sie 1

sprechen, doch ihre Worte klangen gedämpft. „Denn für den 2

Fall, dass du nicht überleben wirst, wird dies deine letzte 3

Erinnerung im Jenseits sein, mein Junge. Dich über auf die 4

Risiken einer solchen freiwilligen Untersuchung aufzuklären, 5

erscheint mir als überflüssig.“ 6

„Ich habe mich nicht freiwillig gemeldet.“, erwiderte ich 7

lahm. Meine Lider flackerten. Nicht einschlafen… Tim! Nicht… 8

einschlafen… 9

„Die anderen auch nicht. Und doch haben sie Professor 10

Doktor Sir Maurice Anthony Scott geholfen, sowie auch du uns 11

nun helfen wirst.“ 12

Mit diesen Worten streifte er die Gummihandschuhe über, 13

vergewisserte sich ob seine OP-Kleidung und der Mundschutz 14

perfekt sahen. Meilen weit weg, vielleicht einen Meter von 15

meinem Kopf entfernt, plätscherte Wasser aus dem Hahn in das 16

Becken. Feuchte Finger strichen über meinen Arm, wurden 17

abgelöst von dem Tupfern eines Wattebausches. Der Geruch von 18

Desinfektionsmittel. Ein Räuspern unter der Maske. Dann zog 19

die Gestalt das zehn Zentimeter lange Röhrchen mit der 20

spitzen Nadel hervor - und stach zu. 21

Wie spät ist es? 22

Du weißt es nicht. 23

Wie viele Tage sind vergangen? 24

Du weißt es nicht. 25

Wie bist du hier hergekommen? 26

Du weißt es nicht. 27

Wie viele Weißmasken sind es gewesen, die dich derart 28

zugerichtet haben? 29

Du weißt es nicht. 30

160

Wie sehr haben sie dich und deinen Körper missbraucht? 1

Du weißt es nicht. 2

Völlig regungslos lagst du auf dem Operationstisch, die 3

Augen zusammengekniffen. Deine Arme waren zu beiden Seiten 4

mit Gurten an der Liege festgeschnallt worden. Durch den 5

durchsichtigen Schlauch in deinem Hals rann eine gelbliche 6

Substanz. Auf dem Bildschirm eines Gerätes pulsierte dein 7

Herzschlag: Der einzige Beweis dafür, dass in dir zumindest 8

noch ein Fünkchen Leben steckte. 9

Oder bist du, der Junge mit dem Narben übersäten, kleinen, 10

abgemagerten Körper - bist du, dieser Junge dort unten, - 11

bist du schon längst dort, wo du nicht hingehörst? 12

Du weißt es nicht. Du weißt es nicht. Du weißt es nicht. 13

Du weißt es einfach nicht. Doch ich, ich weiß es. Ich 14

weiß, dass die Schmerzen beinahe unerträglich sind. Ich 15

weiß, dass ich nicht so bin, wie du dort unten. Dass ich in 16

gewisser Weise über dir schwebe. Denn ich weiß, dass in mir 17

kleinem Feigling noch mehr Leben steckt, als in einer 18

Plastikpuppe, die sie der Länge nach aufgeschnitten hatten, 19

bloß um festzustellen, wie leer ihr Inneres ist. 20

Gegen meinen Willen schlug ich die Lider, nur um sie 21

gleich darauf wieder zu schließen, weil das grelle Licht 22

mich erblinden wollen zu schien. Es war wie der Fall von 23

einem Kettenkarussell, vielleicht auch wie das langsame 24

Auftauchen aus den schwarzen Tiefen des Meeres, zurück in 25

eine Welt, in der es Wärme gab - zumindest physikalisch 26

gesehen. 27

Erneut zwang ich mich, die Augen zu öffnen, und zählte 28

langsam bis fünf. Immer abwechselnd auf, zu, auf, zu, auf, 29

zu, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Auch mein 30

161

restlicher Körper erwachte allmählich aus dem 1

Dornröschenschlaf, in den mich die Spritze versetzt haben 2

musste. Vorsichtig drehte ich den dröhnenden Kopf ein Stück, 3

nur soweit, dass ich über die Tischkante hinweg, einen 4

großen Teil des Raumes überblicken konnte. 5

Alles weiß, perfekt weiß: Die Skalpelle und Werkzeuge 6

waren poliert, ebenso wie die Spritzen und Glasbehälter. Ein 7

ausgeleerter, silberner Mülleimer unter dem Waschbecken, in 8

dem sich kein überschüssiger Tropfen Wasser spiegelte. Kein 9

Staub auf den Neonlampen oder den Ablageflächen der 10

Schränke. Kein Geruch nach Schweiß. Sogar die Mäntel hingen 11

versteckt hinter einem sauberen, weißen, halbzugezogenen 12

Vorhand in Reih und Glied. 13

Ein beunruhigendes Bild der Ordnung aus einem bittersüßen 14

Albtraum, den ich tatsächlich für einen solchen gehalten 15

hätte, ließen sich nicht die schmerzenden Spuren an meinem 16

ganzen Körper finden. Kraftlos zerrte ich an den 17

Lederstriemen. Das ist einfach nicht fair! Sollte ich etwa 18

drauf warten, dass die Weißmasken zurückkamen?! 19

Wie die Sanduhr bei dem Gesellschaftsspiel „Tabu“ tropfte 20

die gelbliche, leicht säuerliche Flüssigkeit aus Tropf über 21

mir. 22

Ein Schäfchen springt über den Zaun,… zwei Schäfchen 23

springen über den Zaun… drei Schäfchen… vier… vier Schäfchen 24

springen über den Zaun… fünf… 25

Erschrocken riss ich die Augen auf. Meine Situation hatte 26

sich seit meiner geistigen Abwesenheit nicht verändert. Halb 27

nackt, mit aufgeknöpftem Hemd, sodass die vielen Narben auf 28

Oberkörper und Armen sichtbar wurden, und einem kratzigen 29

Schlauch im Rachen lag ich hilflos hingestreckt auf einer 30

162

Metallplatte. Würde man dich von oben fotografieren, könnte 1

man die Fotos als Jesus-Christus-Imitation des 21. 2

Jahrhunderts verkaufen. 3

Vielleicht… Schritte. Viele Schritte. Hektisch versuchte 4

ich eine Hand freizubekommen, doch ich war zu schwach. Bitte 5

nicht! Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder, schloss 6

sie. 7

Mühevoll kämpfte ich meine aufkommende Panik nieder. Ein 8

Schatten verdeckte das Neonlicht. Leises Gemurmel. „… 9

Zustand stabil… Blutgruppe AB… Negativ, minus… 10

Transplantation erfolgreich… Durchtrainierter Körper… Hohe 11

Lungenkapazität… Sechs, Sieben Monate… Keine Allergien…“ 12

Ein zufriedenes Räuspern ganz nahe an meinem Ohr. 13

„Perfekt!“ 14

Widerwillig schlug ich die Lider auf. Maurice Scott, in 15

einen roten Mantel gehüllt, umringt von drei Weißmasken, 16

beugte sich über mich. Seine kalten Finger strichen über 17

eine rote Beule am Arm, sodass ich augenscheinlich 18

zusammenzuckte. 19

„Guten Morgen, Nummer 448! Na, hast du gut geschlafen?“ 20

Ich schwieg, wobei ich demonstrativ den Kopf in die andere 21

Richtung drehte. Selbst wenn ich ihm hätte antworten wollen, 22

der Schlauch würde jedes meiner Worte im Keim ersticken. 23

Außerdem war der allgegenwärtige Meister der Letzte, den ich 24

jetzt sehen wollte. Sein warmer, salziger Atem strich über 25

meine Wange. Angewidert verzog ich das Gesicht. 26

„Vegetarier?“ Mit einem prüfenden Blick durch seine 27

aufgesetzte Brille überflog der Mann kurz eine Akte, die man 28

ihm reichte. 29

163

„Ja, Sir.“, fügte eine Eisbärin hinzu, die sich mit hinter 1

dem Rücken verschränkten Armen leicht verbeugte. „Der Junge 2

ernährt sich in der Tat ausschließlich von pflanzlichen 3

Produkten.“ 4

„Ab heute wirst du das Essen, was du bekommst, Nummer 448. 5

Wir werden sehen, wie lange du dem qualvollen Schrei eines 6

Körpers widerstehen kannst. Vielleicht zwei Tage, vielleicht 7

auch eine Woche. Hast du Hunger, mein Junge? Ja? Knurrt dein 8

Magen genau an dieser Stelle?“ Grob massierte er meine 9

Bauchdecke. „Wie schön wäre es jetzt, in der Sonne zu 10

sitzen, die Beine hochgelegt, einen Korb auf dem Schoß, 11

gefüllt mit den am besten duftenden Früchten, die du dir 12

vorstellen kannst? Deine Hand langt nach einer Orange, du 13

beißt genüsslich hinein.“ Seine freie rechte Hand ballte 14

meine Hand zu einer leicht geschlossenen Faust. „Der 15

Furchtsaft, so süß und klebrig, tropft aus deinen 16

Mundwinkeln, fließt in einem glasklaren Bächlein zu deinem 17

Kinn hinunter. In deinem Arm hältst du ein Mädchen, welches 18

mit einer Blüte im nussbraunen Haar den Kopf auf deine 19

Schulter drückt und leise ein altes Kinderlied säuselt. Ein 20

hübsches Mädchen, so jung wie eine unreife Erdbeere, so zart 21

und doch so voller, bunter, einzigartiger Lebensfreude, 22

nicht wahr, Nummer 448? Oder bist du für die Liebe noch ein 23

wenig zu… kindlich?“ 24

Während seiner hypnotisierenden Rede hatten seine 25

Handlager mich vorsichtig von dem kratzenden Schlauch im 26

Hals befreit. Aus Angst, ich könnte vor der Beschwörung des 27

Meisters flüchten oder ihnen sonst Unannehmlichkeiten 28

bereiten, zogen sie es jedoch vor, die Lederriemen nicht zu 29

lösen. 30

164

Mit einer dringlichen Handbewegung befahl Scott einem der 1

Eisbären das Weglegen der Akte, wobei er den roten 2

Mundschutz abnahm, kurz in der Mitte faltete und schließlich 3

in der Tasche seines Mantels verschwinden ließ. Dann erst 4

nahm er mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem 5

herbeigezogenen Stuhl Platz, die zwei verbliebenen 6

Weißmasken wie treue Fans mit ihm Seite an Seite. 7

„Ab dem heutigen Tage, Nummer 448, bist du ein offizielles 8

Mitglied von Kamikaze. Du hast wirklich ein beachtliches 9

Glück gehabt…“ 10

„Glück?!“, entgegnete ich heiser. 11

„Ja, Glück, dass ich dich in den Kreis des ewigen 12

Bündnisses aufgenommen habe.“ 13

„Sie haben mich nie danach gefragt. Sie haben mir nie die 14

Wahl gegeben, zu entscheiden.“ 15

„Es wäre auch lediglich Zeitverschwendung gewesen, die wir 16

uns ersparen konnten. Wie viel sind eigentlich 13 17

multipliziert mit 15, dividiert durch 5?“ 18

Ein wenig verwundert über die plötzliche mathematische 19

Aufgabe dachte ich drei Sekunden nach. 13 mal 15, geteilt 20

durch 5... „39!“ 21

„Anfängerglück“, kommentierte der Mann achselzuckend, die 22

Ellbogen auf die Schenkel gestützt. „Und 1476 addiert mit 23

596, dividiert durch 8?“ 24

Wieder spielte ich die Zahlenkombination kurz im Kopf 25

durch. 1476 plus 596, geteilt durch 8... „259!“ 26

„Richtig! Erstaunlich. Der Junge ist beinahe so begabt wie 27

Sie, Sir!“ Einer der Weißmasken klatschte begeistert in die 28

Hände, wofür er augenblicklich einen vernichtenden Blick 29

165

seines Meisters kassierte. „Ich meine natürlich… Sie 1

verstehen…“ 2

Nachdenklich rückte Maurice Scott die Brille auf seinem 3

Nasenrücken zurecht und runzelte die Stirn. Die Spitze 4

seiner weißen Ledersandalen tippten immer wieder auf den 5

gefliesten Boden. 6

Erneut ertappte ich ihn darin, wie er mich einzuschätzen 7

versuchte. Doch dieses Mal hielt ich seinem kalten Blick 8

stand, auch wenn er einen Eissturm aussandte, der die Erde 9

zum Zittern brachte, die Sonnenstrahlen zu gläsernen Zweigen 10

erstarren ließ, auch wenn er die Dunkelheit über uns senkte, 11

die Sterne und den Mond vom Himmel entführen ließ, ja sogar 12

dann, wenn er, den Hass in die Herzen einpflanzen ließ - 13

hielt ich seinem kältesten Blick stand. 14

Seine braungrünen Augen wurden hinter den entspiegelten 15

Gläsern seines gleichfarbigen Brillengestells wie unter 16

einem Mikroskop vergrößert. Ein flüchtiger Blick auf die 17

goldene Uhr eines amerikanischen Designers. 18

„Werten Sie Ihre Ergebnisse aus. Ich übertrage Ihnen die 19

Verantwortung, für meinen jungen Freund Sorge zu tragen.“ 20

Meinen Freund. Ich bin nicht Ihr Freund, Meister, sondern 21

ihr größter Feind. 22

Sommer, 1999. Vor fünf Jahren. 23

„Liebe Eltern, bitte verlassen Sie die Startbrücke. Ich 24

rufe nun den Laut 2 auf: 25

Bahn 1:Julian Kremer… Bahn 2:Max Paulus… Bahn 3:Felix 26

Meier… Bahn 4:Tim River…“ 27

166

Auf der Aschenbahn flimmert die Hitze der Sonne. Am Rand, 1

direkt hinter der metallischen Absperrung, werden wilde 2

Zurufe und letzte Glückwünsche laut. Auch Mama in ihrem 3

weißen Top mit der französischen Nationalflagge entdecke ich 4

in Mitten des chaotischen Menschenhaufens. Sie zwinkert mir 5

verschwörerisch zu, drückt mir die Daumen. Die anderen 6

Jungen, ebenfalls in viel zu langen Trikots, warten in 7

Starthaltung auf den Pfiff. Nur ich nicht: Ich warte auf 8

Papa. Auf meinen Papa, der am Tag meines ersten 9

Leichtathletikwettkampf dringend in einem Labor Test an 10

Jahrhunderte alten Blubbergetränken durchführen muss. Die 11

können nicht warten, meint er, bevor er mir zwanzig Pfennig 12

in die Hand legt, kauf dir ein Eis dafür, ja? Doch ein Eis 13

kostet dreißig Pfennig. 14

Ein letzter Blick in die Menge aus bunten T-Shirts und 15

Hütten. Auf die Platze… Der Schiedsrichter hebt die 16

Trillerpfeife an den Mund. Kamerablitze der anderen Eltern, 17

aufgeregtes Murmeln. Fertig… Papa kommt bestimmt noch. Ganz 18

sicher… Los! Der Pfiff ertönt schrill und laut in meinem 19

Ohr, reißt mich aus meinen Gedanken. Max Paulus geht in 20

Führung, dicht gefolgt von Felix Meier. Der rundliche 21

Schweizer hinter ihnen, Julian Kremer, beginnt zu humpeln, 22

schwankt, weint. Ich höre Mama rufen, aber nicht Papa. Lauf, 23

Tim, lauf. Ich nicke. Papa kommt bestimmt noch. Dann jage 24

ich los, nehme die Verfolgung der Spitze auf. Atmen, laufen, 25

atmen. Mein Knöchel schmerzt, weil ich, anstatt mich 26

aufzuwärmen, vor dem Tor gewartet habe, damit Papa den Weg 27

auf die Anlage findet, falls er kommt. Aber ich gebe nicht 28

auf. Aschestaub wird aufgewirbelt. Eine Kurve. Nur noch 29

167

wenige Meter bis zum Ziel. Lauf! Mit allerletzter Kraft 1

gelingt es mir, Felix einzuholen. Zweiter! Mama jubelt, doch 2

ich jubele nicht. Papa ist nicht da. 3

168

6. Kapitel 1

Ein lauter Paukenschlag unmittelbar neben meinem Ohr ließ 2

mich hochfahren. Mit gespreizten Beinen stand einer der 3

Gorilla über mir, eine im japanischen Kampfsport verbreitete 4

Trommel in der Hand haltend. Ich selbst lag zusammengerollt 5

wie ein Welpe auf einer dünnen Strohmatte, durch die ich 6

jedes einzelne Sandkorn im Rücken spüren konnte. Gong, Gong. 7

Erneut ein Schlag, der meinen Körper erzittern ließ. „Grüße 8

nicht den Abend, bevor du nicht den Morgen grüßt!“, knurrte 9

der dunkelhäutige Wächter, wobei er den in eine schmutzige 10

Decke eingewickelten Mann neben mir mit einem Tritt gegen 11

das Schienbein bestrafte. Mühsam streckte ich meine 12

schmerzenden Gliedmaßen, rieb mir wortwörtlich den Sand aus 13

den Augen, wobei ich mit der Müdigkeit um meinen 14

Orientierungssinn kämpfte. 15

Die Sonne flutete die steinernen Treppenstufen, die vom 16

anderen Ende des Raumes nach oben führten, ansonsten war es 17

dunkel. Husten, leises Ächzen, unterbrochen von dem 18

gelegentlichen Trommeln des Wächters. Es stank nach Urin, 19

wie auch nach Schweiß, faulem, feuchtem Stroh und 20

Essensresten - nach etwas unbeschreiblichen stank es. Es war 21

mir auch gleich, wie es stank. Gleich, wo immer ich auch 22

sein mochte - ob in einem Weinkeller auf der Rux de Assamble 23

in Paris, einem Bunker im Irakkrieg oder in einem 24

Friedhofsgrab. Egal, alles gleich. Ich war am Ende meiner 25

Kräfte. Ich konnte nicht mehr. Nicht mehr. Nicht mehr… 26

„Junge!“ Eine knöchrige Hand umkrallte meine linke 27

Schulter, zerrte mich von der Matte hoch. Ich versuchte, 28

mich zu wehren, trat, schrie - war zu schwach. 29

169

„Psst, mein Junge.“ Die andere Hand legte sich über meine 1

leicht geöffneten Lippen. „Stell dich nicht so an. Oder 2

willst du, dass dir der Wächter eins überzieht?“ 3

Der dunkelhäutiger Mann stützte sich auf eine Hacke, die 4

Beine gekreuzt, einen Strohkorb auf dem gekrümmten Rücken. 5

Sein kurz geschorenes Haar war von einem Kopftuch bedeckt, 6

wie auch sein restlicher, abgemagerte Körper. Hektisch ließ 7

er seinen Blick umher schweifen, um sicher zu gehen, alleine 8

zu sein. 9

„Beruhige dich, Kleiner. Ich will dir nichts tun, ich 10

möchte dir helfen. Tim ist dein Name, nicht?“ Seine zu einem 11

Flüstern gewordene Stimme, sein warmer Atem nahe an meinem 12

Ohr. Als ich ihm nickend etwas entgegnen wollte, legte er 13

den Skelett artigen Zeigefinger auf meine Lippen. Wir hätten 14

keine Zeit für Fragen. Ich solle ihm einfach vertrauen. Er 15

bückte sich nach einem Tuch, band es mir um den Kopf. „Gegen 16

die Sonne.“, verkündete er lächelnd. In seiner Oberzahnreihe 17

fehlten zwei Zähne. „Folge mir.“ 18

Zögernd stieg ich die Treppenstufen herauf in das 19

gleißende Sonnenlicht. Drückend, schwül und doch seltsam 20

kalt schlug mir die Luft entgegen, ließ mein Hemd im Wind 21

flattern. Mit vor die Augen gelegter Hand begann ich zu 22

husten. Staub kratzte in meinem Hals, an meinem ganzen 23

Körper. Wo bin ich? 24

Ein flüchtiger Blick nach rechts, nach links, wieder nach 25

rechts. Eine Plantage, wie aus dem 17. Jahrhundert in den 26

Vereinigten Staaten von Amerika: Orangen, prächtige, runde 27

Früchte mit rotgelber Schalte, süß im Geschmack, hingen wie 28

leuchtende Lampions an den mannshohen Bäumen. Überall ein 29

frisches Dunkelgrün, gemischt mit einem goldbraun Ton, der 30

170

über den ungepflasterten Wegen und dem Feld lag, welches bis 1

in den tiefblauen Himmel reichen zu schien. Der Atem der 2

Freiheit strich mir sacht über die Wangen. Friedlich, still, 3

beinahe harmonisch im Einklang mit der Natur. Männer mit 4

großen Körben auf ihren Rücken. Frauen, die ihre 5

Neugeborenen stillten, sie in den Schlaf wiegten, 6

fürsorglich ihre Stirn küssten, bevor sie sie unter Zwang 7

zweier Wächter in ein quadratisches Backsteinhaus bringen 8

mussten. Kinder. Sie alle marschierten wortlos wie eine 9

Meute Tiere zu ihren Arbeitsbezirken, manche auf das Feld, 10

andere in die Verpackung oder die Wäscherei. 11

Ein Maschendrahtzaun war mit Ausnahme eines Wachturms das 12

Einzige, was die Grenzen der Plantage kenntlich machte. 13

Irritiert wanderte mein Blick über das metallische Geflecht. 14

Es schien zu niedrig, um die Menschen hier einzusperren - 15

und doch riskierte niemand die Flucht. Warum? Ein Mann, wie 16

Maurice Scott, einer war, ein Mann, der am liebsten 17

kontrollieren wollte, wann man atmet oder schluckt, dieser 18

Mann hatte an dieser Stelle seine Klauen kaum ausgefahren. 19

Was bedeutet… Du bist nicht mehr gefangen! Irgendwie, 20

irgendwer hat dich gerettet. Du bist frei. Irgendwo, nur wo? 21

Egal, ganz egal. Von dem diesem Glückgefühl getrieben wollte 22

ich davon stürmen. Seltsamerweise hielt mich niemand zurück, 23

niemand schrie, niemand machte auch nur die Anstalt, mich 24

festzuhalten. Verwirrt blieb ich stehen, warf einen Blick 25

über die Schulter. Der Afrikaner war verschwunden, vom Winde 26

verweht. Nur der Bunker klaffte wie ein Loch in dem 27

rotbraunen Boden. Dunkel war es dort unten, dunkel, heiß, 28

beengend. Lauf, Tim, lauf! Ein letzter fragender Blick, 29

Schulterzucken. Tief atmete ich ein, aus, wieder ein. Lauf 30

171

weg, einfach weg! Auf einem alten Holzklappstuhl hockte 1

einer der Gorillas vor den Treppenstufen, die ebenfalls 2

einem Bunker gehören mussten. Er blätterte in einem Buch, 3

völlig in das Lesen vertieft, und schien mich nicht einmal 4

bemerkt zu haben. Gebückt, im Schatten eines Orangenbaumes, 5

schlich ich an ihm vorbei, Richtung Maschendrahtzaun, der 6

Grenze zur endgültigen, normalen Welt - wenn normal der 7

richtige Ausdruck war. Denn was war schon normal? War es 8

normal, dass ein Einzelner über viele andere herrschen 9

durfte? Sicherlich nicht. War es normal, dass sich die 10

Unterdrückend nicht zur Wehr setzten? Sicherlich nicht. Und 11

war es normal, dass man einem Feind so einfach das 12

Schlachtfeld übergab und ihn ziehen ließ? Sicherlich… Nein! 13

Ich wäre naiv, wenn ich dies geglaubt hätte. Maurice Scott 14

hatte immer ein Aas im Ärmel. Immer. Warum also nicht jetzt? 15

Ein Aas, welches er heimlich unter dem Tisch hervorholte, 16

wie aus dem Nichts herbeigezaubert, plötzlich, ohne, dass 17

man ihn hätte davon abhalten können. Ein Aas, welches er 18

herabsegeln ließ, welches wie ein Geier auf die übrigen 19

Karte herab schoss. 20

Noch versteckte es sich oberhalb des Ellenbogens, wie ein 21

Baby in den Schlaf gewogen zwischen den Knochen und 22

angespannten Muskeln. Dort, ganz ruhig, still unschuldig, 23

dort lag es, eingebettet in die feinen, braunen Härchen und 24

der nach einem Gemisch aus Schweiß und teurer Seife 25

riechender Haut. Bis es erwachte, zuerst die großen, 26

schwarzroten, gefährlich funkelnden Augen, dann die 27

witternde Nase, die sich wie die Blüte einer 28

Fleischfressenden Pflanze aufblähte, und zuletzt der ganze, 29

abstoßende Körper mit ausgefahrenen Krallen, bereit 30

172

jederzeit sein Opfer zu zerreißen. Ein Aas. Verunsichert 1

umklammerte ich das heiße Metall. Blick nach rechts, nach 2

links, wieder nach rechts. Nur dieser eine Wächter, der in 3

sein Buch vertieft war, sonst niemand. Wo war das Aas? Wo 4

lauert es mir im dunklen Wald auf, so wie der böse Wolf dem 5

Rotkäppchen auflauert oder die Katz auf die Maus? 6

Vorsichtig, immer wieder umherschauend, setzte ich den 7

linken Fuß in die Masche, die in meine Sohle schnitt. 8

Unwiderruflich schossen mir die Tränen in die Augen, 9

salzige, braune Tränen. Mit zusammengebissenen Zähnen 10

kletterte ich weiter. Nur noch ein kleines Stück, Tim. Du 11

hast es geschafft… Beinahe geschafft, denn plötzlich, gerade 12

als ich im Begriff war, ein Bein über den Zaun zu schwingen, 13

begann mein rechter Oberarm zu pulsieren. Die Haut 14

verkrampfte sich wie nach einer Impfung, juckte derart 15

bestialisch, als würden tausende von Mücken an dieser einen 16

Stelle ein Kaffeekränzchen veranstalten. Komm, Tim, nur noch 17

dieses eine Stück… Doch das Bedürfnis, mich zu kratzen, 18

überwog. Die eine Hand um das metallische Geflecht 19

geklammert, fuhren die abgekauten Fingernägel der anderen 20

über den Arm, hinterließen rote Striemen. Widererwarten 21

wurde der Juckreiz unkontrollierbar größer, sodass ich bald 22

die Zähne hinzunehmen musste. Tim, klettere weiter. 23

Verdammt, du Feigling. Klettere endlich weiter! Das ist bloß 24

ein Stich, ein kleiner unbedeutender Stich. 25

Der Blick in die Ferne schenkte mir neue Kraft. Kay wartet 26

dort draußen auf dich! Sicherlich haben ihre Eltern etwas 27

gegen dieses Kribbeln. Einen Zaubertrank vielleicht. Kay… 28

Wie ein achtzigjähriger Mann hob ich das Bein über den 29

Zaun. Mathieu, der arme Mathieu, den du befreien musst, der 30

173

vielleicht zusammengeschlagen auf einem Bett lag ohne 1

Matratze und alleine zu schwach war, sich nicht gegen den 2

Meister zu wehren, braucht dich ebenfalls. 3

Nochmals streiften die Zähne über meine errötete Haut, 4

dann schwang ich unter Stöhnen das zweite Bein herüber. Das 5

Pochen wurde noch energischer, ließ mich beinahe wahnsinnig 6

werden. Zum ersten Mal begutachtete ich den Arm genauer. Zu 7

meinem Entsetzen war die Haut an dieser einen Stelle auf die 8

Größe eines Tischtennisballes angeschwollen - und dehnte 9

sich augenscheinlich aus. Schwindel erfasste mich. Plötzlich 10

schien die Erde so weit entfernt zu sein. 11

Der Wächter, der nun herbeieilte, schrumpfte auf 12

Ameisengröße. „Junge!“, brüllte er auf Französisch, „Sieh es 13

ein. Es hat keinen Sinn. Du wirst es nicht schaffen. Komm 14

runter!“ 15

Widerwillig schüttelte ich den Kopf, bereit für den 16

entscheidenden Sprung. 17

„Nein!“ 18

„Du hast keine Chance, zu entkommen, Junge! Komm zurück. 19

Ich werde dir diese einmal noch helfen.“ 20

„Nein…“ Zögernd löste sich die eine Hand von dem Geflecht. 21

Tim, verdammt, spring! Ich schluckte. Wie tief würde ich 22

fallen? Würde es wehtun? Nein, Tim, du darfst nicht darüber 23

nachdenke. Spring endlich! Die zweite Hand legte sich 24

besänftigend auf die juckende Stelle. Bestimmt würde ich mir 25

alle Knochen brechen, wenn ich spränge. Vielleicht gäbe es 26

auch einen anderen Weg… Nein, Tim, nur noch dieses eine 27

letzte Stück. Dann bist du frei. Tu es für Kay, für Mathieu 28

und auch für Tess, damit sie dich nicht länger ertragen 29

174

muss. Tu es einfach. Tief atmete ich durch. Ja, einfach tun. 1

Nicht denken. Streck diesem fiesen Aas die Zunge raus. 2

„Junge, glaubst du wirklich, du bist der Einzige, der 3

versucht, zu fliehen? Ich kenne dich nicht, doch ich weiß, 4

dass du ein Narr sein müsstest, wenn du sprängst.“ 5

Ich zögerte. „Egal.“ 6

„Vielen Menschen vor dir hat die Version der Freiheit dort 7

draußen den Kopf verdreht. Mir auch. Selbst wenn du es 8

schaffen solltest, diesen Zaun zu überwinden, wird ein 9

weiterer auf dich warten. Aber mit einem gebrochenen Bein 10

wirst du es nie schaffen, auch diesen zu besteigen.“ 11

Erneut zögerte ich. „Egal.“ 12

„Denke an die Männer, Frauen und Kinder. Kannst du es mit 13

deinem Gewissen vereinbaren, dass sie, wenn sie heute Abend 14

müde und erschöpft von den Feldern heimkehren, auf ihre 15

Mahlzeit verzichten müssen. Deinetwegen. Einige sind 16

vielleicht zu schwach. Ihre Körper schreien nach Essen, 17

selbst dann, wenn es nur eine Orange oder ein Brot ist. 18

Deinetwegen, nur deinetwegen, könnten sie den morgigen Tag 19

nicht mehr erleben. Bist du wirklich bereit, dies aufs Spiel 20

zu setzen, Junge?“ 21

Ich zögerte ein drittes Mal, nur kurz, dann sprang ich von 22

dem Zaun herab zur Erde zurück. 23

Was bist du nur für ein Idiot, Tim? Wütend über meine 24

Dummheit scharrte ich mit den Füßen in der lockeren Erde, in 25

der im Laufe der Zeit ein größeres Loch entstanden war. 26

Wahrscheinlich würde hier an dieser Stelle bald ein neuer 27

Orangenbaum zu stehen kommen. 28

Ich hätte mich Ohrfeigen können. Genauso, wie der Wächter 29

es mit seinen beschwörenden Worten beabsichtigt hatte, war 30

175

ich auf die falsche Seite gesprungen, direkt in den Schoß 1

des Mannes zurück. Meine einzige und vorläufig vielleicht 2

sogar letzte Chance zur Flucht in die Freiheit war somit 3

wieder einmal verspielt. Wie konntest du nur so… so naiv 4

sein? Wieder mal hast du die Anleitung exakt befolgt, ganz 5

wie man es von dir erwartet. Meine auf dem Rücken 6

verschränkten Arme strichen über die heiße Haut. Einen 7

Sonnenbrand, großartig! Wenigstens hatte das Jucken auf 8

mysteriöse Weise aufgehört, sodass mich lediglich die roten 9

Striemen daran erinnerten, dass es nicht bloße Einbildung 10

gewesen war. Mein Blick wanderte zu dem Maschendrahtzaun. 11

Von hier unten sah es nach einem Katzensprung aus, aber von 12

dort oben… Seltsam. Mich beschlich das Gefühl, dass Scott 13

seine Finger im Spiel hatte, sogar dann, wenn er weit 14

entfernt, jenseits des Zauns, in seinem Büro hockte, die 15

Schneekugel leicht schüttelnd, damit genau 69 16

Plastikfassetten auf uns herabrieselten. Nur, wenn dem so 17

war, hätte ich dann überhaupt auch nur einen geringen 18

Vorteil, den ich nutzten konnte, bevor der Mann jenen 19

ebenfalls enttarnte? Es musste doch einen Weg. Es musste 20

einfach. 21

„Wie heißt du?“ 22

Verwundert, dass man mit mir sprach, wandte ich den Kopf 23

in die Richtung, in der ich die Stimme vermutete. Sie 24

gehörte einem kleinen Mädchen, das sich neben die Holzkiste, 25

an die sie mich gekettet hatten, niederkauerte und 26

vorsichtig im Schneidersitz zu schaukeln begann. 27

Ich zögerte. Was sollte ich ihr antworten? Nummer 448 28

oder…? „Tim. Und du?“ 29

„Nummer 274.“ 30

176

„Und dein richtiger Name?“, hakte ich nach. 1

„Nummer 274.“ 2

Augenblick ballte ich die Fäuste hinter dem Rücken. Wer 3

gab diesem Mann das Recht, einem anderen Menschen das 4

Einzige zu nehmen, was er noch besaßen: Seinen Name? 5

Plötzlich kam mir eine Idee. Eine Idee, wie ich nicht nur 6

der Kleinen endlich eine Identität verschaffen konnte, 7

sondern auch eine, wie ich mich Scotts Tyrannei ein wenig 8

widersetzen konnte. 9

„Was hältst du davon, wenn ich dich…“ Ich betrachte die 10

Kleine aufmerksam. Ihr Haar, zu zwei Zöpfen geflochten, 11

schimmerte im Licht der Mittagssonne dunkelbraun mit 12

rötlichen Strähnchen. „…wenn ich dich Reni nenne?“ Dabei 13

dachte ich an meine Kindergärtnerin Renate. Eine 14

liebenswerte Seele, zu allen gerecht, gleich wie oft man 15

auch in die Hosen gemacht oder mit Sand geworfen hatte. 16

„Reni? Das ist ein toller Name.“ 17

„Wir heißen einfach Tim und Reni, einverstanden? Aber es 18

muss vorerst unser Geheimnis bleiben, ja?“ 19

Das Mädchen zwinkerte verschwörerisch und legte den 20

Zeigefinger auf ihre rosigen Lippen, als ein Schatten ihr 21

Gesicht bedeckte. Stille. Dann ein dumpfer Schlag, gefolgt 22

von einem erstickenden Schrei. Der Wächter, mit der einen 23

Hand immer noch wild in der Luft wedelnd, zerrte sie vom 24

Boden hoch. 25

„Habe ich dir nicht ausdrücklich befohlen, mit Nummer 268 26

und 257 die Kisten zu säubern, Nummer 274!“, knurrte er 27

böse, wobei er sie derart grob von sich stieß, dass die 28

Kleine stürzte, wofür sie erneut einen Hieb dieses Mal in 29

ihr knochiges Gesicht kassierte. 30

177

„Lassen Sie sie in Ruhe!“, brüllte ich, im Versuch die 1

Kette zu lösen, was natürlich sinnlos war. Tatenlos musste 2

ich zusehen, wie der Mann mit einem spöttischen und zugleich 3

hasserfüllten Grinsen das Mädchen vor sich her zurück zu 4

einer Kiste zog. Sie selbst schien nicht einmal Anstalt zu 5

machen, sich zu wehren. Unter Tränen kniete sie neben einer 6

Box mit dem Aufdruck einer riesigen Orange nieder und 7

schenkte mir lediglich einen letzten traurigen Blick. Nun 8

baute sich der Wächter vor mir auf, sodass ich mir wie ein 9

Insekt vorkam, dass Sekunden später von einem Schuh 10

zerquetscht werden würde. Dennoch… Ich kam mir mit einem Mal 11

stärker vor. Aufrichtig starrte ich in die dunklen Augen und 12

erkannte hinter der Fassade etwas, worüber Maurice Scott 13

sicherlich entrüstete gewesen wäre, wenn jemand ihn darauf 14

aufmerksam gemacht hätte: die Unsicherheit. Freilich, der 15

Wächter war ein Afrikaner. Dieses Mädchen könnte seine 16

Tochter sein. Sie zu verletzten, kostete selbst ihn 17

Überwindung. „Nummer 448“ Er zuckte gleichgültig die 18

Achseln. „Die Geduld des Meisters hat auch ein Ende.“ 19

Ich seufzte. „Schätze Sie haben Recht, Ingo.“ 20

„Ingo?!“ 21

„Ich nenne Sie einfach Ingo, wenn Sie damit einverstanden 22

sind.“ 23

„Was?“ Der Mann starrte mich mit offenem Mund an, 24

unwissend, ob er mich ernst nehmen sollte. 25

„Das nehme ich als ‚Ja‟, Ingo.“ 26

„Ingo? Moment… Was?“ 27

„Irgendjemand muss Ihnen doch einen Namen gegeben haben. 28

Einen Richtigen. Nicht einen wie Ihr großartiger Meister.“ 29

178

„Meine Mutter…“ Er dachte kurz nach. „Ja, ich erinnere 1

mich. Jabali. Jabali, nach meinem Großvater. Aber seit ich 2

für Sir Scott arbeite, benutze ich nur noch meine 3

Erkennungsnummer.“ 4

„Wieso?“ 5

„Ich… Ich muss dringend zurück an die Arbeit.“ 6

„Okay, Jabali, wir sehen uns. Ich kann dir ja nicht 7

nochmals davonrennen, Jabali. Jabali, pass gut auf dich auf, 8

ja, Jabali? Oder könntest du mich nicht losbinden? Die Kette 9

schneidet so. Aua, Jabali. Bitte, ich werde dir auch keine 10

Unannehmlichkeiten bereiten. Versprochen! Großen Ehrenwort.“ 11

Meine Worte zeigten Wirkung. Nach kurzem Überlegen 12

willigte der Wächter schließlich ein. Mich durchfuhr ein 13

stechender Schmerz, als sich ein Splitter des Metalls in 14

mein Handgelenk bohrte. Dann jedoch sprang die Handschelle 15

endlich auf. Ich war frei! Für einen Augenblick überkam mich 16

erneut das Verlangen, sofort das Weite zu suchen. Vielleicht 17

konnte ich es ein zweites Mal wagen, über den Zaun zu 18

klettern. Vielleicht würde ich es dieses Mal schaffen. 19

Vielleicht… Nein. Ich durfte das Vertrauen des Mannes nicht 20

missbrauchen. Selbst dann nicht, wenn es noch so schwierig 21

war. „Danke, Jabali.“ Lascher Händedruck. Zwinkern. „Ich 22

werde dir bestimmt nicht zur Last fallen.“, beteuerte ich 23

noch mal mit einem leichten Lächelnd auf den Lippen. 24

Der Wächter nickte, wenn auch ein wenig verunsichert, wie 25

es schien. Hatte er einen Fehler begangen, diesen Jungen 26

einfach laufen zu lassen? 27

Nein, dachte ich, du hast genau das Richtige getan, 28

Jabali. Denn unbewusst hast du dich auf die Seite des 29

Feindes deines Meisters geschlagen. 30

179

Mit ihrem heißen Atem drückte die Luft alles nieder. Das 1

Glas des Thermometers schien förmlich schmelzen zu wollen. 2

Träge schleppte ich mich zu einem Orangenbaum. Mein Blut 3

kochte, der Schweiß verdampfte noch auf meiner Haut. Jabali, 4

der mit zwei weiteren Männern die Essensausgabe bewachte, 5

blinzelte zu mir herüber. Die Afrikaner waren an die Hitze 6

gewöhnt. Munter genossen sie ihre Mahlzeit - Ignames, einen 7

Brei, der ähnlich wie Kartoffelpüree schmeckt, dazu eine 8

Schale Wasser - und unterhielten sich leise miteinander. Die 9

Mütter säugten ihre Babys, wickelten sie. Obwohl bei solchen 10

Bedingungen - harter körperlicher Arbeit, geringer Pause, 11

schlechtem Essen, das in etwa der Energiezufuhr eines 12

Müsliriegels entsprach - jeder Europäer sofort das Handtuch 13

weggeworfen und erbitterten Widerstand geleistet hätte, 14

muckste sich hier auf der Plantage niemand. Nicht einmal die 15

hungrigen Kinder stibitzten heimlich eine Orange. Seufzend 16

lehnte ich mich gegen den Stamm des Baumes. Eine Frucht 17

kullerte neben mir zu Boden. Die Versuchung, genüsslich 18

hineinzureißen, war groß, denn wenn man nicht arbeitete, 19

bekam man nicht einmal das Wenige. „Nimm sie.“ 20

Erstaunt sah ich auf. Mathieu stützte sich auf seine Hacke 21

und betrachtete stolz den Korb, in dem er eifrig die Orangen 22

gesammelt hatte. Grinsend sprang ich auf, fiel ihm 23

überglücklich um den Hals. 24

„Mach mal langsam. Du musst mich ja nicht gleich 25

erdrücken.“ Er lachte, tätschelte mir zwinkernd den Kopf. 26

„Hallo, Heulsuse.“ 27

Zu gerne hätte ich ihm etwas entgegnet, ihn in die Seite 28

geboxt, doch die Freude, ihn endlich wieder zu sehen, 29

überwältigte. „Wie hast du mich gefunden?“ 30

180

„Immer dem größten Chaos nach. Nein, ernsthaft. Die Leute 1

reden schon über dich.“ 2

„Ehrlich?“ 3

„Ja. Ich frag mich, was die an so einem Feigling finden. 4

Kann doch keiner behaupten, dass du auch nur ansatzweise 5

mutig bist, oder? Ich meine, die kleine Heulsuse und…“ 6

Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich bemerkte, 7

wie mich alle anstarrten. Freilich, ich war der einzige 8

Hellhäutige hier. Der Einzige, der drei Sprachen sprechen 9

konnte. Der Einzige, der vielleicht das große Pech gehabt 10

hatte, die Tochter des Sirs persönlich kennen zu lernen. Der 11

Einzige, der nur zufällig das Richtige getan hat, indem er 12

Kassian rettete. Der Einzige, der naiv genug sein konnte, zu 13

fliehen. Der Einzige, der einem kleinen Mädchen einen Namen 14

gab… 15

Der Einzige, der Widerstand leistete, unabhängig davon, 16

wie sinnlos es auch war. 17

Ich schüttelte den Kopf. Aber all dies hatte weder etwas 18

mit Mut, noch sonderlich großem Kampfgeist zu tun. Sondern… 19

ja womit? Mit dem Willen endlich, frei zu sein, vielleicht, 20

mit dem Willen, sich noch nicht ganz mit seinem Schicksal 21

abgefunden zu haben, wie der eigene Vater es getan hatte. 22

Vor allem gab mir ein Mädchen Kraft, selbst wenn ich es nie 23

hätte zu geben können: Kay, mein bester Kumpel, meine kleine 24

Schwester, die sogar im Streit hinter mir gestanden hat. 25

„Mathieu, ich muss…“ 26

„Nummer 289. Ich weiß zwar auch nicht, warum, aber ist 27

ganz witzig, endlich einmal einen neuen Namen zu haben.“, 28

lenkte mein Freund wie auf Knopfdruck ein. 29

181

Entsetzt klappte ich den Mund auf und zu. „Ganz witzig… 1

Was?!“ 2

„Wenn du noch keine Namen hast, musst du es sagen. Sonst 3

kriegst du nachher riesigen Ärger. Die meinen, wir sollten 4

unseren alten vergessen. Deshalb: Nummer 289, falls du mich 5

mal suchen solltest.“ 6

„Du also auch! Ich habe gedacht, ich könnte dir vertrauen, 7

Mathieu!“ 8

„Nummer 289, merk‟s dir.“ 9

„Du bist völlig übergeschnappt! Du bist krank, wie all die 10

anderen auch. Sie hätten dich fast umgebracht. Sie sind 11

schuld, wenn wir nicht nach Spanien kommen. Das war doch 12

dein größter Traum, erinnerst du dich? Oder hat dir dieser 13

scheiß bescheuerte Typ von Sir das Gehirn gewaschen? Kniest 14

du schon vor ihm nieder? Küsst du seine Füße? Vielleicht 15

hast du das große Glück, dass dein Kopf irgendwann einmal in 16

seinem dritten Abstellraum hängt!“ 17

Beruhigend legte Mathieu mir die Hand auf die Schultern, 18

doch ich stieß ihn von mir. Tränen liefen mir über die 19

Wangen, rann salzig in meinen leicht geöffneten Mund. Grob 20

wusch ich sie weg. Es hat keinen Sinn. Er ist verloren, Tim. 21

Nein, nicht auch Mathieu… Nein! Ich japste. Der bittere 22

Geschmack der Niederlage lag mir auf der Zunge, gemischt mit 23

einem anwallenden Stück Wut, Verzweiflung und Frust. Maurice 24

Scott, dafür bringe ich Sie um…! 25

„Hey, nur weil ich einen neuen Namen habe, heißt das 26

doch noch lange nicht, dass ich nicht mehr dein Freund bin!“ 27

Mathieus Stimme klang seltsam, beinahe so, als ob es jemand 28

anders war, der dort die Lippen bewegte. 29

182

In kleinen Fetzen werde ich Sie zerreißen, wie einen Ast 1

in meinen Händen zerbrechen. Maurice Scott, das schwöre ich 2

Ihnen. Ich… Nein! Ich konnte nicht. Ich bin zu schwach… 3

Ein letztes Mal begegneten sich unsere Blicke. Mein bester 4

Freund… Großes Spanien-Ehrenwort. Dann stürmte ich davon. 5

Mathieu wollte mir folgen, doch Jabali hielt in an der 6

Schulter zurück. „Lass ihn alleine.“, hörte ich ihn 7

flüstern. 8

Ja, lasst mich alle in Ruhe! Ich hasse euch! Schluchzend 9

kauerte ich mich in einem Dickicht nieder, zog die Beine 10

näher an meinen zerkratzten Körper heran. Was war bloß mit 11

mir geschehen? Ein Insekt krabbelte über meinen Rücken. Die 12

Blätter rauschten im Nordwestwind, Richtung der spanischen 13

Küste. Und mit ihm kam die traurige Erkenntnis: Du bist 14

schuld. Denn du hast nicht nur dich, sondern auch Mathieu, 15

in Gefahr gebracht, indem du so egoistisch und versessen 16

darauf gewesen bist, endlich die Wahrheit zu erfahren. Und 17

zu welchem Preis? Du bist in die Fänge eines Wahnsinnigen 18

geraten - bloß, weil du deinem Vater vertraut hast, der 19

nicht ein einziges Mal in deinem Leben für dich da gewesen 20

war… Nein, das stimmte auch nicht. Papa war und ist ein 21

großartiger Mensch. Ein perfekter Mann, der dir viel 22

beigebracht und der sich immer mutig für alle anderen 23

eingesetzt hat. Ein Held. Du bist derjenige, der niemals 24

perfekt ist. Denn du bist ein selbstsüchtiger Feigling, weil 25

du nicht an Mathieu gedacht hast. Dir würde ich auch nicht 26

mehr vertrauen. Du hast es verdient, dass Scott dich dafür 27

bestraft… Nein. Niemand hat es verdient, nicht einmal du, 28

der größte Idiot, den die Welt kennt. Vielleicht kannst du 29

alles wieder gut machen. Vielleicht kannst du diese Menschen 30

183

befreien… Nein, Tim, du hast keine Chance. Du bist alleine, 1

ganz alleine. Sogar Mathieu steht auf der Seite des Sirs. 2

Alle deuten sie herablassend mit dem Finger auf dich, sogar 3

die grünen Marsmensch oder die Götter, Zeus, Venus, Jupiter. 4

Niemand, nicht ein Einziger im ganzen Weltraum oder noch 5

weiter entfernt, ist bereit, dir zu helfen. Womöglich wäre 6

es besser, wenn du eine Ameise wärst, ein rotbraunes 7

Krabbeltierchen in einem nach totem Fleisch und faulem, 8

feuchtem Erdboden stinkenden Hügel, überfüllt von einer 9

riesigen, gut organisierten Gemeinschaft, die lediglich von 10

der Königin, der größten von allen, unterdrückt wird. Oder 11

ein süßer Welpe, in einer Familie, die dich jeden Tag bei 12

Wind und Wetter am Halsband hinter sich her über den Gehweg 13

zerrt. Oder aber ein Meerschweinchen, ein weiches Fellknäul, 14

im Käfig eines Kindes, ständig um Futter oder um 15

Streicheleinheit bettelnd, die immer geringer werden. 16

Vielleicht auch eine Gazelle in der Wüste, ständig in der 17

Angst bei einem Löwenangriff zu sterben. Ein Fisch in von 18

dem Öl verschmutzten, abgestandenen Hafengewässer. Ein Vogel 19

in einer Großstadt… Nein, Tim. Verdammt! Meine Hand krallte 20

sich um eine Wurzel. Ich durfte mir nicht weiter den Kopf 21

darüber zerbrechen, was wäre wenn. Das brächte Mathieu auch 22

nicht wieder zurück. Verdammt, du tust, als sei er völlig an 23

Scott verloren! Du brauchst ihn nicht. Warte ab! Irgendwann 24

kommt er sicherlich zu dir und bittet dich um Verzeihung, so 25

lang konnte er gar nicht schmollen. Bestimmt nicht. 26

Irgendwann boxt er dich wieder in die Seite und alles ist 27

okay. Irgendwann… Hoffte ich jedenfalls. 28

Die Sonne ging auf, ging unter. Ein Tag. Die Sonne ging 29

auf, ging unter. Zweiter Tag. Und immer dann, wenn die Sonne 30

184

aus ihrem Schlaf erwachte, begann die Arbeit. Und immer 1

dann, wenn die Sonne gähnend in ihr Bettchen huschte, endete 2

die Arbeit. Jeden Tag, jeden Tag aufs Neue. Die ganze Woche, 3

immer von vorne, immer dasselbe. Außer sonntags, da hatte 4

man zu lernen: Englische Wörter, um sich mit dem 5

hochwohlgeborenen Meister unterhalten zu können, der sich 6

jeden zweiten Tag einmal auf der Plantage blicken ließ. 7

Meistens, um eine Ration Essen zu streichen, weil wir zu 8

langsam arbeiteten, oder um aus Spaß ein wenig die Peitsche 9

zu schwingen, wenn nicht alles exakt nach seinen Wünschen 10

von statten ging. Nur Tess erschien nie auf dem Feld. Einige 11

der Kinder bezeichneten mich sogar Spinner, als ich 12

erzählte, dass Sir Scott eine Tochter in ihrem Alter hat. 13

Freilich, sie kannten nur, schlafen, essen, arbeiten, essen, 14

schlafen. Alles andere war ihnen fremd. Die Welt jenseits 15

des Zaunes, gleich dem Himmel so fern, so unerforscht. 16

Sofort am Morgen des dritten Tages, noch vor der 17

Dämmerung, hatte ich erneut zu fliehen versucht. Dieses Mal 18

an einer Stelle weiter im Norden. Aber wieder hielt mich 19

dieser verfluchte Juckreiz davor zurück, den Sprung zu 20

wagen. So fand ich mich damit ab, noch einige Zeit auf 21

dieser Plantage verbringen zu müssen. Nachdem Jabali 22

zufällig herausgefunden hatte - wie wusste ich auch nicht - 23

dass ich für mein Alter enorm clever war, bat er mich des 24

Öfteren um den ein oder anderen Gefallen, zu denen vor allem 25

das Führen von verschiedenen Listen und organisatorischer 26

Krimskrams gehörte. Obwohl mein Nebenjob als 27

„Taschenrechner“ zeitweise bedeutete, früh aufstehen zu 28

müssen, damit Scott nichts von alle dem mitbekam, half ich 29

ihm trotz des herrschenden Misstrauens gerne. Schließlich 30

185

saßen wir alle irgendwie in demselben Boot. Einer leitete 1

das Schiff durch den gefährlichen Riff, der andere versuchte 2

sich beim Segeln. Dennoch: Der größte Teil der Afrikaner 3

hielt gebührenden Abstand von mir, da sie mich wohl für 4

einen Spion, einen Dummkopf oder etwas derart halten mochte. 5

Denn was hatte ein hellhäutiger Junge, der lediglich die 6

„leichte“ Aufgabe übernahm, zu übersetzen, und nicht auf dem 7

Feld mitarbeitete wie alle anderen auch, was hatte dieser 8

unter ihnen verloren? Mathieu, mittlerweile vom Sammler zum 9

stolzen Ernter aufgestiegen, würdigte mich wider Erwarten 10

keines Blickes mehr. Dafür Reni umso mehr. Das kleine 11

Mädchen wich mir an keinem Abend von der Seite. Ständig 12

bettelte sie darum, dass ich mit ihr spielte oder ihren 13

Freunden Namen gab. Dabei war mein Kopf leer. Ich konnte 14

kaum noch denken, lief manchmal ziellos am Zaun entlang. Das 15

Gefühl, mich nicht wehren zu können, machte mich schier 16

wahnsinnig. So erfreute es mich auch, dass ich einmal in der 17

Gegenwart des Meisters absichtlich falsch übersetzte und es 18

daher Stunden bedurfte, alle Schwierigkeiten und 19

Missverständnisse zu beseitigen. Jeden Tag, selbst wenn die 20

Hitze mich noch so niederdrücken zu wollen schien, erkundete 21

ich mein Gefängnis. Nach einer Woche hatte ich mir jeden 22

Baum eingeprägt und wenn jemand seine Gruppe verlor, konnte 23

ich ihn sicher zurückleiten. Eifrig fertigte ich Skizzen 24

dieser neuen Welt an, markierte Stellen, an der der Zaun 25

brüchig war oder die sich wegen der lockeren Erde besonders 26

gut für einen Tunnelbau eigneten. Denn, obwohl Maurice Scott 27

glaubte, mich endlich auf seine Perlenkette gefädelt zu 28

haben, kullerte ich immer noch auf dem Regalbrett herum. 29

186

Am Morgen des vierzigsten Tages, dem 9. Juli 2004, mitten 1

im afrikanischen Winter, wurden wir von einem Sturm 2

überrascht. Die Äste der Orangenbäume knickten ab, 3

verletzten die darunter pflückenden Menschen. Kisten und 4

andere lose Gegenstände wirbelten umher. Kinder schrien, 5

jammerten zusammengekauert in den unterirdischen Baracken. 6

Obwohl es Scott sicher missfallen hätte, die Arbeit 7

niederzulegen, stieg Jabali auf die wacklige Leiter zum 8

Wachturm herauf, um die Warnglocke zu läuten. Verzweifelt 9

klammerte er sich an der Sprosse fest, schlug jedoch mit 10

eiserner Willenskraft gegen das Metall. Ich bewunderte ihn 11

von den Treppenstufen aus. Instinktiv wollte ich ihm 12

Beistand leisten, aber sein Befehl, hier zu warten, war 13

ausdrücklich und unwiderruflich gewesen. Ein Afrikaner, 14

einen anderen stützend, humpelte auf die Baracke zu. Nummer 15

171 und 192 hackte ich auf der provisorisch 16

zusammengestellten Liste ab, die ich zu führen hatte. 17

Vorsichtig fuhr ich mit dem Kugelschreiber über die 18

einzelnen Namen. Baracke eins - vollständig, gezählte 19

fünfzehn Personen. Baracke zwei und drei ebenfalls. Und 20

vier… eins, zwei, drei, vier, fünf… vierzehn! Kopfschüttelnd 21

betrachte ich die kleinen Haken. Bestimmt hast du dich 22

verrechnet. Unmöglich, das… Vierzehn! Entsetzt ließ ich 23

meinen Blick über die Schatten im Inneren schweifen. Ein 24

Blitz schoss über den nachtschwarzen Himmel. Regen peitschte 25

mir ins Gesicht. 26

„Rein mit dir Junge!“, brüllte Jabali, den Sturm 27

übertönend, wobei er mich an der Schulter mitreißen wollte, 28

„Gut gemacht.“ 29

„ Es… Es sind nur vierzehn.“ 30

187

Wie versteinert hielt der Wächter inne, ungläubig auf das 1

karierte Blatt Papier starrend. 2

„Nummer 274... Sicherlich ein Missverständnis.“, erwiderte 3

er wenig überzeugend, lehnte sich gegen das Gemäuer, die 4

Hand vor Augen gelegt und sah hinaus in die Finsternis. Doch 5

ich wusste, dass er log. Selbst wenn ich es zu verdrängen 6

versuchte: Es irrte noch jemand dort draußen umher. Alleine, 7

völlig in Panik. Und als ob Gott es so gewollt hätte, 8

tauchte eine weinende Afrikanerin auf. „Meine Tochter…“ 9

„Sicherlich ein Missverständnis.“, wiederholte Jabali 10

nochmals mit gequälter Stimme. 11

Nummer 274... Nummer 274... Reni! Das kleine Mädchen, das 12

mich in den letzten Wochen immer wieder mit ihrem 13

unschuldigen Lachen daran erinnert hatte, dass es Zuneigung 14

gab, die Scott nicht zerstören konnte, dieses Mädchen 15

fehlte. Hektisch wandte ich mich um. Reni, du kennst den 16

Weg. Du bist hier aufgewachsen. Warum…? „Ich habe Angst, 17

wenn es da oben Bum-Bum macht.“ Natürlich! 18

„Es ist zu gefährlich. Niemand kann…“ 19

Doch, ich konnte sie finden. Wie oft hatte ich sie beim 20

Arbeiten besucht, ihr das ein oder andere Mal beim Pflücken 21

geholfen, wenn ihr Arme schmerzten. 22

„Ich werde sie suchen.“, entgegnete ich bestimmt, wobei 23

ich Jabali den Zettel in die Hand drückte und die Treppe 24

immer zwei Stufen auf einmal nehmend heraussprang. 25

„Nein, Junge.“ Der Mann packte den Stoff meines T-Shirts, 26

drehte mich zu sich herum. „Sei vernünftig. Es hat keinen 27

Sinn. Wir müssen abwarten.“ 28

188

Mein Blick blieb an Renis Mutter hängen, die die Hände vor 1

die Augen geschlagen hatte. Ihre kleine Tochter… Ich musste 2

ihr helfen. 3

Mit aller Kraft stieß ich ihn von mir und wurde 4

augenblicklich von der Dunkelheit verschluckt. Völlig 5

orientierungslos stolperte ich über zurückgelassene Kisten 6

und Macheten. Reni, wo bist du? Es erschien mir eine 7

Ewigkeit, seit ich zuletzt Licht gesehen hatte. Meine 8

Kleidung war durchnässt, die Lampe bereits erloschen. Nass 9

klebte das Haar in meiner Stirn. Wasser spritzte an meinen 10

Bein hoch, als ich in einen Pfütze trat. Erneut zuckte ein 11

Blitz über den Himmel, dicht gefolgt von einem Ohr 12

betäubenden Donnergrollen, als wollen beide gleichzeitig am 13

Horizont zerschellen. 14

„Reni!“, brüllte ich in die Schwärze hinein, „Reni, Reni!“ 15

Keine Antwort. „Reni!“ Mit dem Kopf stieß ich gegen etwas 16

Hartes, vermutlich einen Ast. Schmerzend rieb ich die Stirn, 17

tastete mit den Händen den Gegenstand ab. Feucht, sehr 18

feucht. Das musste bedeuten, dass ich… dass ich in der Nähe 19

des Weges war. Denn ansonsten würden die übrigen Bäume einen 20

Teil des Regens abgefangen, sodass die Äste nahe dem Boden 21

kaum hätten nass werden können. Auf den Knien krabbelte ich 22

über die Erde, gleich, ob ich nun wie ein Monster aussehen 23

mochte. 24

„Reni, wo bist du?“ Kies, festere Erde. Von irgendwoher 25

wurde kurzzeitig etwas reflektiert. Der Zaun! Gut, Tim, du 26

bist auf dem richtigen Weg! Dort drüben ist die Stelle, zu 27

der du Reni heute Morgen ein Stück begleitet hast. „Hey… 28

Nummer 274!?“ Wieder keine Antwort. Das durfte doch nicht 29

wahr sein! Vielleicht hatte Jabali recht gehabt und es 30

189

handelte sich lediglich um ein Missverständnis. Unmittelbar 1

über mir krachten die Wolken aneinander. Erschrocken kauerte 2

ich mich unter einem Baum nieder, erstarrte. Was bist du nur 3

für ein Feigling? Wie sollst du so ein kleines Mädchen 4

retten können? Das Verlangen, nicht noch einmal zu versagen, 5

trieb mich plötzlich an. „Reni!“ Leises Wimmern. „Wo bist 6

du?“ Ein atemloses, heiseres „Hier drüben“. Donner, der Ruf 7

des Himmels. Eine Orange traf mich hart am Kopf, als ich 8

mich erheben wollte. Sofort geriet ich ins Taumeln. Ein 9

Blitz, wie ein Aal sah er aus, kräuselte sich in der Nacht. 10

Jemand schrie, aber es war nicht Renis Schrei. Bevor ich 11

auch nur verstand, was dies bedeutete, wurde ich grob zu 12

Boden geschleudert. „Hey!“ Angewidert verzog ich das 13

Gesicht. Matsch war nicht gerade meine Leibspeise. „Bist du 14

verrückt!?“ 15

„Spiel dich nicht so auf, Heulsuse! Muss ein Feigling wie 16

du immer gegen den Strom schwimmen?“ 17

Ungläubig runzelte ich die Stirn. „Mathieu?“ 18

Doch als Antwort erhielt ich lediglich einen Schlag auf 19

den Rücken, der meine Zähne aufeinander presste. „Lernst 20

wohl nie dazu, wie? Nummer 289! Dachte, du wärst der kleine 21

Besserwisser. Oder ist das auch wieder eine deiner Lügen? 22

Aber, ich muss dir für diesen ganzen Scheiß hier danken.“ 23

Grob zog er mich hoch, schüttelte mich wie eine Puppe. 24

„Jetzt weiß ich wenigstens, wo ich hingehöre.“ 25

„Niemand gehört hier hin.“ Ich zögerte kurz. „Mathieu!“ 26

„Nenn mich gefälligst, Nummer 289!“ 27

„Nein, Mathieu. Ich wüsste nicht wieso.“ 28

Als ich seinen Handrücken erneut verspürte, wollte ich 29

zurückweichen, doch dieses Mal tat ich es nicht. Denn 30

190

unbewusst war ich stärker als mein ehemaliger bester Freund. 1

Glaubte ich jedenfalls. Die eine Hand zur Faust geballt, 2

hätte ich den längsten Fluch meines Lebens aussprechen 3

können… als jemand meine Arme auf den Rücken presste und mir 4

ins Ohr brüllte: „Prügelei im Gewitter?“ Jabali, Gott sei 5

Dank! 6

„Er hat mich angegriffen. Sofort ist er auf mich 7

losgegangen.“, winselte Mathieu und schlüpfte somit 8

unerwartet die Rolle des armen Jungen, dem Unrecht getan 9

wurde. 10

Kopfschüttelnd starrte ich ihn an. „Nein… Ich habe bloß… 11

Ich meine, ich…“ 12

„Mir ist es gleich, wer angefangen hat. Ihr habt gegen die 13

Vorschriften verstoßen und euch und andere zudem in Gefahr 14

gebracht. Deshalb kommt ihr jetzt zum Meister… Alle beide!“ 15

„Willkommen!“ 16

Maurice Scott, in einem maßgeschneiderten, olivgrünen Hemd 17

und einer Dieseljeans, nippte an einer Tasse Tee, stellte 18

sie jedoch sofort zurück auf ihren Unterteller, um mit einem 19

Fingerschnipsen zu verdeutlichen, dass man auch unsere 20

Gläser zu füllen hatte. Die Situation schien absurd. Wie 21

alte Freunde saßen wir an einem runden Tisch im 22

Wintergarten, mit einem aufgenötigten Getränk in der Hand 23

und warteten auf unser Todesurteil. Unser Henker seinerseits 24

wirkte vollkommen gelassen und entspannt. Dabei traf uns 25

jedes Wort wie ein kleines Messer tief in den Brustkorb. 26

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr euch gegen sämtliche 27

meiner Gebote aufgelegt habt. Freilich, vielleicht ist einer 28

von euch unschuldig. Diesem kann ich nur raten, die Wahrheit 29

zu sagen. Denn sonst wir es beide treffen und zwar harter 30

191

als euch lieb ist, meine Freunde“ Lächelnd ließ der Mann den 1

Blick über unsere Gesichter schweifen. „Nun?“ 2

„Er war‟s, Sir. Als er anfing, zu knallen, haben wir uns 3

in Sicherheit gebracht. Es war zu gefährlich, glauben Sie 4

mir. Nur er…“ Mein bester Freund machte eine Atempause. „Er 5

hat einen Fehler gemacht. Auf seiner Liste war Nummer 274 6

abgehakt. Zum Glück fiel mir auf, dass das kleine Mädchen 7

noch draußen umherirrte und so rannte ich heraus, um sie zu 8

suchen. Beinahe wär‟s mir auch gelungen, hätte er nicht auf 9

mich eingeschlagen. Vermutlich alles, damit sein Fehler 10

nicht auffiel.“ 11

Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte Mathieu mich nur 12

derart belasten? 13

„Nun, Nummer 448?“ Maurice Scott nickte mir zu, ohne 14

genauer auf die Aussage des Afrikaners einzugehen. „Was 15

sagst du dazu?“ 16

Ich zögerte. „Das ist nicht wahr…“, stotterte ich, 17

bewusst, wie gering meine Chancen standen, hier jemals 18

lebend raus zu kommen. Verdammt! Warum stotterst du? Wie 19

soll er dir denn so glauben? 20

Doch bevor der Mann endgültig mein Todesurteil 21

unterschreiben konnte, klopfte es an der milchigen Glastür. 22

Für Sekunden schöpfte ich neue Hoffnung, als ich erkannte, 23

um wen es sich bei dem unerbeten Gast handelte: Reni, eine 24

Decke über die Schultern gelegt, schlich mit gesenktem Kopf, 25

zitternd vor Furcht und Kälte, zu uns herüber, dicht gefolgt 26

von einem Gorilla und Tess. Letztere stützte die Ellbogen 27

auf den Tisch und lächelte mit derselben kühlen, sachlichen 28

Miene wie ihr Vater in die Runde. „Nummer 274 ist Zeugin.“, 29

mischte sie sich ein, ohne vorher von den Ereignissen in 30

192

Kenntnis gesetzt worden zu sein. „ Ich schätze, es ist 1

interessant und von hoher Priorität für uns, wie sie das 2

Vorgefallene bewertet.“ 3

Tess nickte dem Mädchen kurz zu, wobei sie ihre Rolle als 4

Staatsanwältin allerdings nicht ablegte. Reni schluckte 5

merklich. Endlich kommt die Wahrheit ans Licht. Aber die 6

Worte, die die Kleine aussprach, waren alles andere als 7

befreiend. 8

„Er“ Sie deutet mit ihren dünnen Finger auf mich. „Er hat 9

ihn überfallen. Ich hab‟s gesehen, weil ich mich versteckt 10

habe. Ich hatte so große Angst, dass ich mich nicht bewegen 11

konnte… und er, ja er, er hat den da geschlagen.“ 12

Triumphierend, aber auch ein wenig verwundert, riss 13

Mathieu die Arme hoch. 14

„Sehen Sie‟s, Sir. Ich bin unschuldig. Er war‟s, nicht 15

ich.“ 16

Fassungslos starrte ich Reni an. Nein, das ist alles ein 17

Traum. Ein böser, böser Traum. Ganz, ganz sicher bist du im 18

falschen Film. 19

193

7. Kapitel 1

Die Fleischmesser hingen blank poliert über dem Herd, auf 2

dem in einer Keramikpfanne ein herrlich duftendes 3

Reisgericht zubereitet wurde. Trotz des Spülmittels rochen 4

ihre Klingen nach bereits geronnenem Blut, ebenso wie der 5

weiße, geflieste Boden des beinahe fensterlosen Raumes roch, 6

die verschiedenen Geschirrsets oder die schwarzen 7

Ablageflächen. Der Geruch lag wie der verzweifelt 8

weggewischte Staub auf den Regalen, den Schränken, 9

vielleicht sogar auf der hohen, weißen Kochmütze des Mannes, 10

der mir nun in den Weg trat. 11

„Was hast du hier zu suchen?“ 12

„Ihr Meister schickt ihn. Er steht ab heute in Ihrer 13

Schuld.“ 14

Erstaunt wandte ich mich um. Tess lehnte gegen den 15

Innenrahmen der Tür, die sie nun hinter sich zuzog. „Das ist 16

Tim, Tim River. Sohn eines guten, leider kürzlich 17

verstorbenen Freundes meines Vaters. Nur…“ Sie machte einige 18

Schritte auf uns zu. „Nur hat er es mit seinen irrwitzigen, 19

typisch männlichen Streichen etwas zu weit getrieben. Sehen 20

Sie zu, welche Drecksarbeit Sie ihm aufnötigen können.“ 21

Der Koch grinste, wobei er den Kopf senkte. „Danke, Miss. 22

Soll ich dir zu dem Reis eine Muschelsuppe servieren? 23

Frisch, nach Mailänder Art.“ 24

Tess kicherte. „Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, aber: 25

Nein, danke.“ Die Hände ineinander gefaltet wandte sie sich 26

ab, doch ich spürte, wie sie noch einen kurzen Blick über 27

die Schulter zu mir zurück warf. 28

194

Sehen zu, welche Dreckarbeit Sie ihm aufnötigen können. 1

Tess hatte nicht übertrieben, als sie dies sagte. Der Mann, 2

ein hochnäsiger Tyrann in der Küche und ein Schwanz 3

wedelndes Schoßhündchen des Meisters, mit dem Namen Kurt 4

Mallium, versuchte fortan, mir jeden Tag zur Höhle zu 5

machen, sodass ich manchmal in den schlimmsten Stunden darum 6

betete, dass Scott mich endlich ans Kreuz über dem Kamin 7

nagelte. Vor allem das Abtrennen des Kopfes eines noch 8

zappelnden Fisches und das anschließende Ausnehmen wurden 9

zur Qual. Dennoch, irgendwie überlebte ich den Tag und den 10

darauf folgenden. Auch den nächsten und übernächsten. Erst 11

gegen Mitternacht, wenn ich mich erschöpft auf den 12

Kartoffelsack zwischen den stinkenden Müllcontainern 13

zwängte, wurde mir klar, wie sehr sich mein Leben verändert 14

hatte. Von dem kleinen Kinderzimmer in der Hochhaussiedlung 15

in Köln nach Afrika, zuerst in ein Dorf, dann in die Weiten 16

des Urwaldes und schließlich in dieses Gefängnis, aus dem es 17

keinen Ausweg zu geben schien. Die einzigen Menschen, denen 18

ich noch vertraute, haben mich im Stich gelassen. Dabei 19

kenne ich die Wahrheit, den Grund, weshalb ich eigentlich 20

hier verdamme, immer noch nicht. Oft hatte ich versuchte, 21

die Luft anzuhalten, bis ich erstickte. Aber jedes Mal, als 22

meine Lungen schmerzten, riss ich den Mund auf, Tränen in 23

den Augen. Es war eine schreckliche Zeit, schrecklicher als 24

die auf dem Feld, schrecklicher als alles, was ich bisher 25

erlebt habe. Doch auch diese Zeit würde vorüber gehen. Nach 26

drei Tagen schien es mir gleich, wie viele Tiere ich 27

umbrachte. Täte ich es nicht, täte es jemand anderes. 28

Ermordet werden würden sie sowieso. Versalzte ich die Suppe 29

absichtlich, müsste ich den ganzen Kessel bis zum letzten 30

195

Tropfen auslöffeln und anschließend eine neue aufsetzen, 1

ganz egal, wie schlecht es mir ginge. Je mehr ich mich dem 2

fügte, was der Koch von mir verlangte, desto weniger Schläge 3

bekam ich. Denn mittlerweile hatte ich eines begriffen: Die 4

konnten mir zwar meinen Körper nehmen, nicht aber meine 5

Gedanken. Dort oben war ich völlig frei. 6

Es war der Morgen des 17. Julis, eines warmen Samstags. 7

Gähnend rieb ich mir die Augen und bemerkte entsetzt, dass 8

ich beim Aufräumen der Küche eingeschlafen sein musste. Denn 9

mit der freien linken Hand umkrallte ich bereits den 10

Geschirrlappen. Hastig streckte ich meine Gliedmaßen aus, 11

bloß, um mit dem Kopf gegen den Herd zu krachen. 12

„Noch zu blöd, um richtig aufzustehen, was?“ 13

„Tess! Oh, mein Gott… Was… was machst du denn hier?!“ 14

Eifrig strich ich die altmodische Laufburschenuniform 15

gerade, bemüht, nicht allzu enttarnt zu wirken. 16

„Alles Gute zum Geburtstag.“ 17

„Du gratulierst mir zum Geburtstag?“ Träumte ich oder 18

stand gerade tatsächlich die Tochter des Sirs vor mir in der 19

Küche und streckte mir zögernd die Hand aus? 20

„Irrtum. Reine Höflichkeit. Ich gratuliere dem Tag, das es 21

nun einer weniger ist, den ich dich ertragen muss.“ 22

Unschlüssig rappelte ich mich vom Boden hoch. Meinte sie 23

das wirklich ernst? 24

„Danke.“ 25

„Nichts zu danken.“, erwiderte sie, wobei sie den Blick 26

durch den Raum schweifen ließ. „Bist du alleine hier?“ 27

Ich imitierte ihr hektisches Umherschauen. „Nein, hier ist 28

der Heilige Geist, weißt du. Und die Spinne hinter dem 29

Schrank. Ich nenne sie Spider.“, 30

196

„Sehr witzig. Wirklich sehr witzig.“, zischte sie böse und 1

stemmte die Hände in die Hüften. „Also: Wer ist außer deinem 2

Spinnchen und dem Heilige Geist noch in diesem Raum? Etwa 3

der Weihnachtsmann? Mag sein, dass dieser sich in der 4

Jahreszeit vertan hat.“ 5

„Okay, okay. Es tut mir Leid. Ich bin alleine. Die anderen 6

sind zum Markt gefahren. Sie kommen in etwa einer Stunde 7

zurück.“ 8

„Gut.“ Tess lächelte. „Hast du Lust, dass ich dir 9

Gesellschaft leiste?“ 10

Zu meinem Erstaunen beträufelte sie den zweiten Lappen mit 11

etwas Spülmittel und begann den Herd zu scheuern. „Was 12

guckst du denn so? Wir haben eine Menge zu tun.“ 13

Nach etwa einer halben Stunde blitzte die Küche wie neu. 14

Obwohl ich es nie für möglich hielt, war die Tochter des 15

Sirs tatsächlich eine großartige Hilfe gewesen, ohne die ich 16

zugegebenermaßen am Abend vermutlich wieder Schläge kassiert 17

hätte. Wir sprachen nicht viel miteinander. Eigentlich gab 18

es auch nichts, worüber wir hätten reden können. Still, ohne 19

das Warum zu kennen, genoss ich endlich einmal nicht im 20

Stich gelassen zu werden. Selbst, wenn mich Tess höchst 21

wahrscheinlich nach der Arbeit um den Verstand brachte und 22

sich darüber beschwerte, dass ihr Toast nicht eine Minute, 23

sondern nur fünfundfünfzig Sekunden geröstet wurde. Denn 24

dieses Mädchen war das Unberechenbarste von allen. 25

„Danke. Ich schätzte, ich bin dir was schuldig, oder? 26

Warum bist du wirklich hierhergekommen? Soll ich dem Koch 27

ausrichten, dass du demnächst den Pfannkuchen mit einem 28

Mickie Maus-Gesicht haben möchtest oder etwa in 29

Kleeblattform?“ 30

197

Sie wrang den nassen Lappen über dem Waschbecken aus. „Wie 1

kommst du darauf, dass ich irgendetwas verlange?“ 2

„Das tut dein Vater auch immer.“ 3

Ihre Augen verengten sich zu einem schmalen Schlitz. „Ich 4

bin nicht mein Vater, verstanden?“, knurrte sie böse, wobei 5

sie das Handtuch aus meinen Händen riss und einige Schritte 6

entfernt in einen Wäschekorb gleiten ließ. „Ich habe deinem 7

besten Freund das Leben gerettet.“ Irritiert zog ich die 8

Augenbrauen hoch. Was meinte sie damit? „Als ich davon 9

erfuhr, was auf dem Feld vorgefallen war, habe ich das 10

kleine Mädchen dazu gebracht, für mich zu lügen“, fuhr sie 11

fort, „Ja, ich weiß, ich bin eine blöde Ziege. Aber was 12

glaubst du, hätte Dad mit deinem Freund gemacht? Ihn so 13

harmlos entkommen lassen wie dich?“ 14

„Harmlos?! Das nennst du harmlos?“ All das war von Anfang 15

an geplant! Ich hätte es ahnen müssen. 16

„Du bist hier, weil ich es so will.“ 17

„Und was hindert mich daran, alles zu verraten?“ 18

„Nichts. Aber was willst du ihnen erzählen? Niemand wird 19

dir glauben. Du bist alleine. Weglaufen kannst du nicht. Was 20

willst du meinem Dad petzen? 21

„Schon gut. Ich habe verstanden. Was soll ich tun?“ 22

Wie zur Antwort warf sie mir eine Magnetchipkarte zu. 23

Hastig fing ich sie auf und wandte sie in meiner Handfläche. 24

Sie war leicht, kaum größer als eine Payback-Karte. Auf 25

ihrer Rückseite, oberhalb des ein Zentimeter dicken 26

Magnetstreifens schimmerte im Licht eine Nummer, daneben ein 27

Name, der meinen Atem stocken ließ: Nummer 08, Marc River. 28

„Keine weiteren Fragen, kapiert? Nimm es als 29

Geburtstagsgeschenk, wenn du magst.“ Im Fortgehen zwinkerte 30

198

Tess mir über die Schultern zu. „Morgen Abend bekommt Dad 1

Besuch. Sicherlich werden auch viele Wachen dort sein.“ 2

Behutsam ließ ich die Karte zwischen meinen Fingern hin 3

und her tanzen, bevor ich sie sicher zurück in meine 4

Hosentasche steckte. Seltsam, etwas in den Händen zu halten, 5

was zuvor nur einem einzigen, anderen Menschen gehört hatte. 6

Verträumt kauerte ich mich auf dem alten Kartoffelsack 7

zusammen. Morgen würde ich die Wahrheit erfahren, warum man 8

dich tötete, Papa. Die Wahrheit über das Kamikaze-Projekt. 9

Die Wahrheit, weshalb ich hier bin. Ich musste es nur bis in 10

den ersten Stock schaffen, die Karte durch den schmalen 11

Türschlitz ziehen, mir einen Aktenordner aus dem drei Meter 12

langen Regal fischen und es mir beim Lesen auf deinem Leder 13

überzogenen Schreibtischstuhl gemütlich machen. Das konnte 14

nicht schwer sein, jetzt da ich den Schlüssel bereits 15

gefunden hatte. Oder handelte es sich bei alldem doch um 16

eine Falle? Gaukelte mir Tess etwa nur vor, auf meiner Seite 17

zu stehen? Vielleicht bekam sie von ihrem Daddy einen neuen, 18

gigantischen Schminkkoffer oder ein süßes Pony, wenn sie 19

mich direkt in seine Arme lotste. Hatte ich überhaupt eine 20

andere Wahl als mitzuspielen? Denn, wenn ich ihr nun nicht 21

vertraute, würde ich es nie mehr tun können. Lieber einmal 22

riskieren, enttäuscht zu werden, als ewig alleine zu sein. 23

Ich lächelte in die Dunkelheit hinein. 24

Alles Gute zu deinem ersten runden Geburtstag, Tim. 25

„Gute Nacht. Träum was Süßes, mein Kleiner. Ach, und sei 26

so lieb und leg schon alles für morgen früh bereit, bevor du 27

zu Bett gehst… oder sollte ich besser zu Sack gehst sagen?“ 28

Mallium spie diese Worte förmlich aus, als seien sie eine 29

Ekelerregende Flüssigkeit und ich ihr Behälter. 30

199

Von unserer ersten Begegnung an hatte er mich gehasst. 1

Dessen war ich mir sicher. Er schien lediglich auf den 2

Moment zu hoffen, an dem ich einmal versagte. Doch diesen 3

Gefallen würde ich ihm nicht tun. Noch nicht. Mit 4

zusammengebissenen Zähnen stemmte ich mich von dem 5

Kartoffelsack hoch und fingerte pfeifend nach dem Griff der 6

Schublade, in der sich die Glasbrettchen befanden. Im 7

Augenwinkel bemerkte ich den skeptisch und zugleich wütenden 8

Blick, mit dem der Koch zur Tür hinausjagte. Ich blieb 9

alleine in der Küche zurück. 21.37, sieben Minuten nach 10

halb zehn. Die Party draußen musste in vollem Gange sein. 11

Soweit ich wusste, hatte Maurice Scott eine Reihe 12

wohlhabender Gäste eingeladen, die auch für diese Nacht in 13

den zahlreichen Gästezimmern untergebracht werden würden. 14

Einem langen Abend stand demnach nichts im Wege. Ich 15

grinste. Wenn ich es geschickt anstellte - was ich natürlich 16

tun würde - könnte ich in den nächsten zwei Stunden die 17

ganze Wahrheit herausfinden. Bei dem Gedanke daran wurde mir 18

heiß. Zweifel keimten auf. Willst du das überhaupt? - Ja, 19

ich will… sehr sogar. 20

Aufgeregt zog ich die Schubladen auf und verteilte deren 21

Inhalt, wie befohlen, auf der Arbeitsfläche. Dann erst 22

löschte ich das Licht und tappte im Dunkel zu meinem „Bett“. 23

Auch wenn es mir noch so schwer fiel, ich musste warten. 24

Warten, bis Mallium um zehn Uhr nochmals zurückkam, um mich 25

zu kontrollieren. Wie immer. Tatsächlich wurde Punkt zehn 26

die Tür rücksichtslos aufgestoßen. Der Koch stolperte 27

herein. Misstrauischer Blick. Gähnend räkelte ich mich, als 28

hätte ich bereits geschlafen. Da alles ordnungsgemäß an 29

seinem Platz lag und der Mann zufrieden schien, verließ er 30

200

schnell wieder den Raum. Schließlich durfte er auf solch 1

einer Party nicht fehlen! Zur Vorsicht zählte ich dennoch 2

bis hundert, bevor ich auf leisen Sohlen ebenfalls zur Tür 3

schlich, kurz hinausspähte, ob die Luft rein war, und mich, 4

den Rücken gegen die Wand gedrückt, zu den Treppen 5

vorankämpfte. Mittlerweile kannte ich die Villa gut genug, 6

um mich in den verwirrenden Korridoren zu Recht zu finden. 7

Ich wusste, wo sie Kameras installiert hatten, wo 8

Bewegungsmelder angebracht worden waren oder welche Tür zu 9

welchem Zimmer führte. Auch wusste ich, dass die Aufzüge 10

strenger bewacht wurden als die Treppen. Um in den Keller zu 11

fahren, benötigte man einen anderen Magnetchip. Versuchte 12

man trotzdem, dort unten einzudringen, stach der Oberarm 13

derart stark, dass niemand der Qual länger als drei Schritte 14

standhalten konnte. Überhaupt musste Scott sein Anwesen in 15

verschiedene Bereiche eingeteilt haben: Die Plantage war 16

einer, gefolgt von dem Keller, dem Erdgeschoss, zu dem auch 17

die Küche und die Gästezimmer zählten, dem ersten Stockwerk 18

und Scotts Büro, dem Thronsaal, wie es manche nannten. Wie 19

der Meister es jedoch geschaffte hatte, ein so komplexes 20

Überwachungssystem zu errichten, war mir bislang immer noch 21

ein Rätsel. 22

Langsam steckte ich den Kopf um die Ecke. Hier waren sie. 23

Hier waren die Aufzüge nach oben. Doch sie würde ich nicht 24

benutzen. Sicherheitshalber nicht. Denn, obwohl keine Wachen 25

zu sehen waren, konnte ich nicht hundertprozentig 26

ausschließen, ob mich nicht oben jemand in Empfang nehmen 27

würde. Auf Zehenspitzen wollte ich die Treppen hinauf 28

schleichen, als sich eine Hand plötzlich auf meine Schultern 29

legte. Für Sekunden setzte mein Herz aus. Das Blut gefror in 30

201

meinen Adern. Sie haben dich erwischt, Tim. Jetzt bist du 1

tot. Aber nichts geschah. Erstaunt wandte ich mich um. 2

Niemand war da. Hatte ich mich getäuscht oder…? Einbildung, 3

alles Einbildung. Du bist nervös. Das ist alles. Doch ich 4

hätte schwören können, dass mir jemand folgte. Und dieser 5

jemand klebte ganz dicht an meinen Fersen… 6

202

8. Kapitel 1

Zimmer 8. Dritte Tür von links. Vorsichtig ließ ich meinen 2

Blick durch den schwach 3

erleuchteten Gang schweifen. Bisher hatte ich lediglich 4

zwei Wachen bemerkt, die sich über irgendein Fußballspiel im 5

Fernsehen unterhielten. Glücklicherweise schienen sie so in 6

ihrem Gespräch vertieft zu sein, dass sie ihre Arbeit nicht 7

sonderlich ernst nahmen. 8

Seufzend hielt ich vor einer Tür inne. Alle Zimmer waren 9

nummeriert. Keine Namen, nichts, was in irgendeiner Form 10

etwas über die Menschen aussagte, die hier arbeiten. Nur 11

weiße Ziffern auf schwarzem Plastik. Für Sekunden spielte 12

ich mit dem Wunsch, einfach die Karte einzustecken und alles 13

zu vergessen. Man sollte nicht von etwas wissen, was man 14

nicht wissen sollte. Doch zum Umkehren war es bereits zu 15

spät. Mit einem befriedigenden Klick, sprang das Schloss 16

auf. Tief atmete ich ein, aus, wieder ein. Komm schon, Tim. 17

Raum 8 - ein großes, quadratisches Büro mit zwei 18

mannshohen Fenstern, durch die man von dem Lederstuhl aus 19

das Treiben im Innenhof beobachtet konnte. Denn der große 20

Schreibtisch mit den vielen, beschrifteten Schubladen und 21

dem riesigen, schwarzen Monitor stand mit dem Rücken zur 22

Türe, obwohl Papa sich nie für die Außenwelt interessiert 23

hatte. Nun hingen die weißen Vorhänge schlaff hinunter und 24

schienen seit einiger Zeit bereits nicht mehr zurückgezogen 25

worden zu sein. Überhaupt war die Luft abgestanden und 26

stickig. Staub sammelte sich auf den wenigen Möbel. Leer und 27

tot. Lediglich der Kühlschrank in der einen Ecke, 28

unmittelbar neben einem roten Sofa ohne Kissen, rauschte 29

203

noch schwach. Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen. 1

Du solltest nicht hier sein. Du solltest nicht. Es ist 2

falsch, irgendwie falsch. Dann ließ ich mich auf den roten 3

Lederstuhl fallen. Mein Magen rumorte. Einen Moment lang 4

glaubte ich, ich müsse mich übergeben. In einem winzigen, 5

silbernen Rahmen bemerkte ich das Foto einer blonden Frau in 6

einem weißen Kleid und ihrem Bräutigam. Beiden strahlten 7

glücklich in die Kamera. Der 3. Oktober 1990. Keine Märchen-8

Hochzeit wegen des schlechten Wetters, aber dennoch einer 9

der schönsten Tage ihres kurzen, gemeinsamen Lebens. Mama 10

und Papa. In der oberen Ecke steckte ein kleines Bild - Ich 11

im Alter von drei, vier Jahren. Es fiel mir schwer, nicht zu 12

weinen, und noch schwerer fiel es mir, zu glauben, dass es 13

diese Menschen nicht mehr in meinem Leben geben würde. 14

Dennoch blieb mir keine Zeit, nun um meine Eltern zu 15

trauern. Wenn ich etwas herausfinden wollte, musste ich es 16

jetzt tun. 17

Hastig riss ich eine Schublade auf. Fünf oder sechs Akten 18

kamen zum Vorschein, keine davon beschriftet. Ich nahm die 19

erste zur Hand, blätterte sie durch. Maschinengeschriebene 20

Blätter, zum Teil in Folie. Auch die übrigen vier Akten 21

erschienen wie die eines gewöhnlichen Forschers. 22

Unauffällig, langweilig. Ohne größere Hoffnung etwas 23

Nennenswertes zu finden, öffnete ich den sechsten Ordner. 24

Auf den ersten Blick glich er den anderen. Dasselbe weiße, 25

ausdruckslose Deckblatt ohne Überschrift. Enttäuscht wollte 26

ich ihn zuschlagen, als ich bemerkte, dass die untere, 27

äußere Ecke geknickt war. Ebenso, wie Papa es bei seinen 28

Bücher getan hatte. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe, 29

wobei zu lesen begann. Doch das, was ich da las, war 30

204

verwirrender und entsetzlicher als alles, was ich mir hätte 1

vorstellen können: 2

3

Februar 2004 4

„Ich, Marc River, geboren am 22. November 1964, erkläre im 5

Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass ich darum gebeten 6

habe, ein Mitglied des Projektes Kamikaze unter der Obhut 7

meines Meister, Sir Maurice A. Scott, zu werden. Des 8

Weiteren werde ich ab diesem Tage lediglich den Vorschriften 9

Folge leisten und im Falle eines Verrates durch meinen 10

eigenen Willen die Konsequenzen dafür auf mich nehmen…” 11

12

____Marc River, Nummer 8____ 13

14

Schluckend ließ ich die Akte sinken. Das konnte nicht wahr 15

sein. Papa hätte sich unmöglich zu einer Marionette dieses 16

Wahnsinnigen gemacht. Vielleicht hatte er das alles nie 17

gewollt. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht… 18

19

3. März 2004 20

„Hiermit ernennen wir feierlich unser 8. Mitglied, den 21

Forscher Marc River, geboren am 22. November 1964, zu dem 22

Leiter des Projektes Kamikaze unter der Obhut unseres 23

Meister, Sir Maurice A. Scott. Im Falle eines Verrates durch 24

den eigenen Willen wird diese Ernennung unwirksam und der 25

Ankläger kann je nach Tat mit dem Tode oder der 26

vollständigen Ausschließung bestraft werden …” 27

28

Clemens Henkel Vasco Igmanias 29

205

Manfred Giebels 1

Lorenzo Goldmann Ana-Cornelia Paulus 2

Nora Valencia 3

Maurice A. Scott 4

5

Blut tropfte von meinem Kinn. Erst jetzt bemerkte ich den 6

pochenden Schmerz in meiner Unterlippe, so sehr war ich in 7

dieses Ereignis verwickelt gewesen. Ich konnte Papa vor 8

meinen Augen sehen, umringt von den anderen sechs fremden 9

Menschen. Sir Scott seinerseits verbeugte sich kurz zur 10

Anerkennung, überreichte ihm anschließend in aller Stille 11

den Vertrag. Getrieben von Stolz und Eifern hatte Papa der 12

Versuchung sicherlich nicht lange widerstanden und auch 13

dieses Teufelspapier unterzeichnet. Ahnte er, welche Aufgabe 14

ihm zu kam? Wusste er vielleicht sogar, dass er sterben 15

würde? Nein… Wie auch? Niemand konnte mit so etwas 16

gerechnet. Bestimmt nicht. Jedenfalls nicht bewusst. Doch… 17

Was genau war Kamikaze eigentlich? „Irgendetwas mit 18

Forschung und… Schmuggel. Keine Ahnung. Verdammt. Ich weiß 19

nur, dass mein Vater etwas damit zu tun hatte… Ist das der 20

Grund, weshalb er sterben musste?“ Schmuggel und Forschung. 21

Steckte hinter dem Wort Kamikaze tatsächlich solch ein 22

Verbrechen? War es damals etwa Intuition, als ich blind 23

riet? Die Antwort hielt ich nun in den Händen. Zumindest 24

einen Teil von ihr. Kurz schloss ich die Augen, wünschte 25

mich weit, weit weg von hier. Wünschte mich an den Strand 26

von Mallorca, an dem ich Mama in dem körnigen Sand eingrub 27

oder mich mit Papa um die lila Luftmatratze stritt. Aus dem 28

Wunsch wurde eine Sehnsucht. Die Sehnsucht, endlich ein 29

206

normaler neunjähriger Junge zu sein. Nicht einer, der sich 1

mit Dingen rumschlagen musste, die in die Welt der 2

Erwachsenen gehörte, die man sowieso nicht verstand. „Wenn 3

du erwachsen bist, wirst du es verstehen.“ Keenan hatte 4

recht. Ich spielte einen Achtzehnjährigen, aber verstehen 5

tat ich trotzdem nichts. Ruckartig öffnete ich die Augen, 6

enttäuscht darüber, dass alles wieder einmal nur ein Traum 7

bleiben würde, und schlug die Seite um. Stickpunktartig 8

hatte mein Vater die folgenden Tage, Wochen und Monate 9

dokumentiert: 10

11

5. März 2004 12

Nummer(n): 201 (weiblich) 13

Blutgruppe(n): rh+ A 14

Arbeit: Entnahme einer Niere. 15

Verkauf für 43.000 US-Dollar. Empfänger unbekannt. 16

Übergabe erfolgreich. 17

18

14. März 2004 19

Nummer(n): 418 (männlich), 371 (männlich) und 374 20

(männlich) 21

Blutgruppe(n): ohne Angaben. 22

Verkauf für 10.000 US-Dollar als Arbeiter nach Brasilien. 23

Empfänger unbekannt. 24

Übergabe erfolgreich. 25

26

27. März 2004 27

Nummer(n): 128 (weiblich) 28

Blutgruppe(n): ohne Angaben. 29

207

Entnahme des Neugeborenen (Nummer 507, männlich). Verkauf 1

an portugiesisches Ehepaar für 17.000 US-Dollar. Übergabe 2

erfolgreich. 3

4

11. April 2004 5

Nummer(n): 206 (männlich) 6

Blutgruppe(n): rh+ 0 7

Anmerkung: Tod nach Zusammenbruch auf der Plantage; 8

Ursache: 9

Hoher Blutverlust 10

Entnahme der Leber, der Lunge, beider Nieren, der Milz, 11

des Herzens, sowie des Knochenmarks und des Blutes 12

Verkauf für 98.000 (geschätzt). Empfänger unbekannt. 13

Übergabe erfolgreich. 14

15

16

30. April 2004 17

Nummer(n): 422 (weiblich) und 356 (weiblich) 18

Blutgruppe(n): ohne Angaben. 19

Verkauf für je 4.000 US-Dollar nach Europa. Empfänger: 20

Jürg (Striplokalinhaber). Übergabe erfolgreich. 21

22

Ein prickelndes Gefühl durchzog meinen linken, 23

eingeschlafenen Arm. Erstaunt sah ich auf. Auch wenn die 24

Einträge unpersönlich und kalt erschienen, so erzählte jeder 25

von ihnen dennoch seine eigene, grausame Leidensgeschichte. 26

Eine Mutter, die ihr Kind verliert. Zwangsarbeiter. 27

Prostituierte. Organraub. Versuchskaninchen, die ihr Leben 28

für ein Medikament opfern mussten. Und immer ging es nur um 29

208

das ganz große Geld. Was aber das Schlimmste von allem war: 1

Papa war der Leiter dieses Projektes. Er war es, der die 2

Menschen quälte. Mein eigener Vater. 3

Niedergeschlagen blätterte ich weiter, die Hand zur Faust 4

geballt. Ich wollte es nicht lesen. Denn wenn ich las, 5

kehrten die jammernden Geister in diesen Raum zurück, als 6

mochten sie mich Anstelle von Papa dafür verantwortlich 7

machen. Auf der letzten Seite angekommen, atmete ich 8

nochmals tief durch. Es gab nur noch eine Sache, die ich 9

wissen musste. Was geschah am 25. Mai, dem Tag, an dem Vater 10

starb? 11

12

25. Mai 2004 13

Nummer(n): 255 (männlich) 14

Blutgruppe: rh- AB 15

Verkauf für 3.000 US-Dollar als Testperson. Empfänger 16

Labor, Name und Ort unbekannt. 17

18

… und weiter? Erstaunt kniff ich die Augen zusammen, als 19

hätte ich etwas übersprungen. Im Gegensatz zu den anderen 20

Tagen war an diesem letzten Tag in Papas Leben die Übergabe 21

nicht bestätigt worden. „Siehst du, vor vier Tagen ist die 22

Übergabe in der Nähe eines Dorfes drastisch schief 23

gelaufen.“ Natürlich! Etwas ist derart außer Kontrolle 24

geraten, dass dieser Fehler für jemanden so unverzeihlich 25

war, dass Vater dafür bestraft werden musste… Aber… Mir 26

stockte der Atem. Konnte… Konnte es wirklich sein…? Nein, 27

ausgeschlossen. Tim, das ist völliger Unsinn. Dass du… Nein, 28

vergiss es. Ich schüttelte den Kopf. Vergiss es einfach. 29

209

Absolut bescheuert auch nur einen weiteren Gedanken daran zu 1

verschwenden! „Im Falle eines Verrates durch den eigenen 2

Willen wird diese Ernennung unwirksam und der Ankläger kann 3

je nach Tat mit dem Tode oder der vollständigen 4

Ausschließung bestraft werden …“ Aber - wäre es nicht 5

möglich? Rein theoretisch gesehen. Wäre es nicht möglich, 6

dass Scott Papa umgebracht hat? Nein, das ist nicht 7

bewiesen. Möglich ist auch, dass Meerschweinchen vom Himmel 8

fallen oder dass ich von einem König zum Ritter geschlagen 9

werde. Ich hatte nur eine Chance, es herauszufinden. Unruhig 10

trommelte ich mit den Fingern auf der Tastatur, wobei mein 11

Blick an dem schwarzen Bildschirm des Computers hängen 12

blieb: Ich musste den Mann finden, der sich hinter der 13

Nummer 255 verbarg. 14

Morgen, sagte ich mir, morgen ist auch noch ein Tag. Denn 15

jetzt, wo ich es einmal soweit gebrachte hatte, wollte ich 16

meinen kleinen Erfolg nicht mit einem grimmigen Wächter in 17

dem feuchten Weinkeller bei einer Schüssel Wasser feiern 18

oder gar mit den irren Forschern, die mich mit irgendwelchem 19

Brodelzeugs vollpumpten. Für diese Nacht hatte ich genug 20

herausgefunden, dass ich stolz auf mich sein konnte. Sicher 21

wäre es Mama auch. Und Kay. Papa nicht. Bestimmt nicht. Der 22

war nie stolz, selbst dann nicht, wenn ich ein Fußballgott, 23

der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und ein 24

Star wie Michael Jackson in einer Person gewesen wäre. 25

Obwohl… dann vielleicht schon? Wer wusste das schon? Diese 26

Frage würde ich ihm nie mehr stellen können, damit musste 27

ich mich abfinden. Nie mehr. Vorsichtig lugte ich um die 28

Ecke. Niemand da. Gut. Noch einen weiteren Blick, bevor ich 29

mich zur Treppe schob. Die Wächter waren tatsächlich 30

210

verschwunden, wie ich erstaunt bemerkte. Seltsam. 1

Unwiderruflich blieb ich stehen. Ein unbestimmtes Gefühl 2

verriet mir, dass hier etwas nicht stimmte, aber dann hörte 3

ich erneut die leisen Gitarrenklänge aus dem Speisesaal und 4

atmete erleichtert auf. Was immer auch in der Zwischenzeit 5

gesehen war, unten hatten Scott nichts von alle dem 6

mitbekommen. Hoffte ich jedenfalls. Dennoch löste sich meine 7

plötzliche Anspannung nicht. So wachsam wie möglich nahm ich 8

eine Stufe nach der anderen, hielt jeweils ein paar Sekunden 9

inne, um sicher zu sein, dass mir niemand auflauerte, und 10

wagte mich zögernd noch tiefer in die Ungewissheit hinein. 11

Irgendwie gelang es mir, den Weg zurückzufinden. Wie, weiß 12

ich nicht. Egal, Hauptsache ich hatte es geschafft. Das Wie 13

interessierte nicht. 14

211

9. Kapitel 1

In der Küche brannte kein Licht und auch sonst schien 2

alles unverändert. Auf den ersten Blick zumindest. Denn 3

jemand musste in meiner Abwesenheit hier gewesen sein… oder 4

war sogar noch hier! Bei dem Letzteren stockte mir der Atem. 5

Geradezu als Bestätigung streifte ein Schatten mein Gesicht, 6

tanzte über die rustikalen Wände. Panisch wollte ich zur 7

Türe hinausstürmen, doch eine Gestalt versperrte mir den 8

Weg. Nein, nein. Bitte nicht. Lasst mich in Ruhe! Ich habe 9

das alles nicht gewollt! Bitte, glauben Sie mir. Im selben 10

Moment kam ich mir lächerlich vor. Niemand konnte wissen, wo 11

ich gewesen war, vorausgesetzt ich verplapperte mich nicht. 12

Also… Was sollten sie dir schon antun, Tim? Trotzdem kostete 13

es mich einiges an Überwindung, die Augen zu öffnen. Zaghaft 14

blinzelte ich und prustete los. Vor mir stand lediglich 15

Tess. Um ihren Hals schlang sich ein buntes Tuch, das 16

perfekt bei der ansonsten schwarzen Bekleidung, einer 17

Bolerojacke über einem elegant gemusterten Cocktailkleid, 18

zur Geltung kam. Mit den hochgesteckten Haaren und dem 19

leichten Make-up wirkte sie wie eine Sechszehnjährige. Dies 20

wurde durch ihr selbstbewusstes Auftreten noch untermalt. 21

„Hi.“ 22

Ich zögerte verunsichert. „Äh… Hi! Ähm… Was… Was machst du 23

denn hier?“ 24

„Hast du etwas herausgefunden?“, setzte sie dagegen, ohne 25

auch nur auf meine Frage einzugehen. 26

„Was?“ 27

„Ob du etwas herausgefunden hast, Dumpfbacke?“, 28

wiederholte das Mädchen noch einmal, wobei sie mit dem 29

212

linken Fuß auf den Boden klopfte, um mir zu verdeutlichen, 1

dass sie langsam die Geduld verlor. 2

„Ähm…“ 3

„Wer ist mein Vater? Was ist seine Arbeit? Mach schon den 4

Mund auf. Na los.“ 5

Jetzt war die Katze endlich aus dem Sack. Allmählich 6

begann ich, zu begreifen, was hier vor sich ging: Die 7

Erkenntnis blitzte plötzlich wie ein Lämpchen in meinen 8

Gedanken auf. Natürlich! Ich hätte es wissen müssen. Das 9

angebliche Geburtstagsgeschenk. Die freundliche Hilfe beim 10

Aufräumen. Das Augenzwinkern, mit dem sie mir verriet, wie 11

ich am leichtesten in den ersten Stock gelangte. Freilich, 12

kein Zufall. Tess hatte all das geschickt eingefädelt und 13

mir die ganze Zeit vorgespielt, sie sei meine Freundin. 14

Dabei… 15

„Du hast mich ausgenutzt, um an die Informationen zu 16

kommen!?“ 17

„Wie hätte ich es denn sonst machen sollen? Hätte Dad mich 18

beim Schnüffeln erwischt…“ 19

Grob schnitt ich ihr das Wort ab. „Hätte er mich erwischt, 20

könnte ich jetzt tot sein. Hast du darüber mal nachgedacht?“ 21

„Nein.“ Tess zuckte gleichgültig die Achsel. „Wieso auch? 22

Wärst du geschnappt worden, wäre niemand auch nur 23

ansatzweise darauf gekommen, dass ich mit dir in Verbindung 24

stehe. Alle hier wissen, dass dein Vater für meinen 25

gearbeitet hat. Wenn wundert es demnach, dass der Sohn ihm 26

nachspioniert. Und außerdem hast du mir sozusagen freiwillig 27

geholfen…“ Mit dem Schal zog sie mich ganz nahe zu sich 28

heran: „… nicht wahr, Timmiboy? So ist es doch gewesen, 29

oder?“ 30

213

Im Affekt wollte ich mich losreißen, hielt es jedoch nach 1

kurzem Überlegen für sinnlos. Diese Hartnäckigkeit lag in 2

der Familie Scott und momentan war ich nicht stark genug, um 3

ihr länger standzuhalten. Vor allem, da meine Wut 4

seltsamerweise mit jedem Augenblick verflog, wie ausradiert 5

wurde. Denn, obwohl ich Tess hasste, entwickelte ich dennoch 6

so etwas wie Verständnis. Verständnis dafür, wie sie sich 7

fühlte. Schließlich waren wir einander in einer Sache einig: 8

Wir hatten beide die falschen Väter. Und deshalb beschloss 9

ich nun, dem Mädchen alles zu erzählen, was ich wusste: 10

„Okay, Tess. Wenn du danach die Fliege machst und mich in 11

Ruhe lässt, verrate ich dir alles, was ich weiß. 12

Versprochen?“ 13

Die Tochter des Sirs wiegte den Kopf, schließlich nickte 14

sie. „Ich wäre sowieso keine Sekunde länger als nötig mit so 15

einem… übel stinkenden Typen zusammen geblieben.“ 16

Als Tess sich umdrehte um auf einem Hocker Platz zunehmen, 17

roch ich rasch an meinen Achseln. Übel stinkend? Zugegeben, 18

sie hatte recht. Mal wieder. Vielleicht sollte ich mir 19

demnächst von ihr mein erstes Deo wünschen? 20

„Ich habe es tatsächlich geschafft, irgendwie in den 21

ersten Stock zu kommen.“, begann ich zu berichten, „Da waren 22

eine Menge Ordner. Alle unbeschriftet. In einem ging es um 23

ein Projekt, das sich Kamikaze nennt. Ich weiß nicht, ob den 24

Namen schon einmal gehört hast.“ Prüfend sah ich in Tess 25

Richtung, die den Kopf schüttelte. „Mein Vater leitete es. 26

Zusammen mit noch sieben weiteren Mitgliedern. Dein Dad 27

gehört auch zu ihnen, ist im Grund so etwas wie der Big 28

Boss. Jedenfalls…“ Wieder ein kurzer Blick in ihre Richtung. 29

„Willst du das wirklich hören?“ 30

214

„Hör mal, nur weil ich ein Mädchen bin, heißt das noch 1

lange nicht, dass ich eine Memme bin. Du scheint die 2

Wahrheit verkraftet zu haben, als tue ich es schon lange.“ 3

Für einen Moment überlegte ich ernsthaft, ob ich ihr eine 4

scheuern sollte. Sie war diejenige, die etwas von mir wollte 5

und, anstatt mir dankbar dafür zu sein, dass ich sie so nett 6

aufnahm, diskriminierte sie mich. 7

„Sie handeln mit Menschen. Verkaufen Babys Forschen mit 8

ihrem Blut nach neuen Medikamenten. Oder schneiden den armen 9

Leuten draußen auf der Plantage Körperteile raus, damit es 10

irgendwelchen reichen Europäern besser geht.“ So, das war‟s. 11

Kurz und schmerzlos auf den Punkt gebracht. Dabei war es mir 12

seltsamerweise fast ohne größere Bemühungen über die Lippen 13

gegangen. Gespannt beobachte ich nun Tess Reaktion. Würde 14

sie jetzt in Tränen ausbrechen oder lediglich mit den 15

Achseln zucken und zur Türe hinaus marschieren, als wüsste 16

sie von alle dem nichts? 17

„Ist ja eklig.“, kommentierte das Mädchen. Mehr nicht. Ich 18

wartete auf weitere Erläuterungen von „ist ja eklig“, doch 19

sie blieben aus. Stumm hatte sie die Beine übereinander 20

geschlagen und starrte mich an. So schwiegen wir. Jeder für 21

sich und trotzdem wir beide zusammen. Viel Denken tat ich 22

dabei nicht, außer, dass es tatsächlich eklig war, was Papa 23

getan hatte und immer noch tun würde, wäre es nicht… Wieso 24

mussten ihn die Todesengel holen? 25

„Tess? Ich brauche deine Hilfe.“ 26

Lächelnd sah sie mich an. Ein feuchtes Glitzern im 27

Augenwinkel. „Brauchst du wieder jemanden, der dir zum 28

Einschlafen ein Gute-Nacht-Lied singt?“ Ihre Stimme klang 29

selbstbewusst, aber tief innerlich konnte man ein leichtes 30

215

Zittern vernehmen, welches verriet, dass sie die Geschichte 1

nicht kalt ließ. 2

„Ich will herausfinden, warum mein Vater sterben musste.“ 3

Unbeholfen legte ich ihr einen Arm um die Schultern und 4

erstaunlicherweise stieß sie mich dieses Mal nicht von sich, 5

sondern griff nach dem alten Taschentuch, welches ich ihr 6

reichte. 7

„Okay, klar natürlich. Du hast etwas gut bei mir… Ist 8

meine Schminke verlaufen?“ 9

Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Nein. Sonst alles in 10

Ordnung bei dir?“ 11

„Ja, ich denke schon. Danke, ich bin die Tochter eines 12

Sirs. Die weint doch nicht wegen ein paar dummen Sklaven.“ 13

Hastig wusch sich Tess eine Träne von der Wange. „Also, was 14

hast du vor?“ 15

„An dem Tag, an dem Papa getötet wurde, sollte ein Mann an 16

ein Labor in Europa verkauft werden. Nummer 255. Vielleicht 17

finde ich ihn im Namensverzeichnis auf dem Computer deines 18

Vaters.“ 19

„Das ist riskant.“ 20

„Ich weiß, Tess, ich weiß. Aber es ist die einzige 21

Möglichkeit.“ 22

„Na gut. Es ist nicht mein Problem, wenn du dabei drauf 23

gehst. Mir ist egal, wenn du so Selbstmord süchtig bist. Ich 24

schätze, ich kann dich nicht davon abhalten. „ 25

Ich schüttelte unschlüssig den Kopf, woraufhin Tess 26

seufzte. „Pass auf, folgendes...“ Ihre Stimme war nun zu 27

einem Flüstern geworden. „Dad sollte morgen früh in seinem 28

Büro sein, zweiter Stock, in den nur Familienmitglieder oder 29

ausgewählte Gäste Zutritt haben. Bei dir würden sie schon 30

216

nach zehn Sekunden erkennen, dass du dort einbrechen willst. 1

Also…“ Sie legte mir beiden Hände auf die Schultern und sah 2

mir direkt in die Augen. „Vergiss es. Du hast keine Chance. 3

Ich werde an deiner Stelle morgen mit meinem Vater sprechen, 4

während du dir etwas einfallen lässt, um ihn abzulenken. In 5

der Zeit gebe ich mein Bestes.“ Das Mädchen hielt den 6

Zeigefinger an die Stirn und ließ dann den Kopf leicht 7

kreisen. „Hoffentlich mache ich nicht gerade den größten 8

Fehler meines Lebens.“ 9

Erstaunt hob ich die Augenbraue. „Das würdest du für mich 10

tun?“, hackte ich ungläubig nach. 11

„Ja, bevor ich es mir anders überlege. Gute Nacht, 12

vorausgesetzt du kannst jetzt schlafen, wo du das mit den…“ 13

Sie stockte. „Das mit den Körperteilen… Du weißt schon.“ 14

Dann knipste sie das Licht aus und verschwand auf den 15

hellen erleuchteten Flur. 16

Sie sind groß, kräftig, wiegen das Dreifache von dir. Aber 17

wenn du schnell wärst, könntest du es schaffen. Die Türe, 18

die Rettung ins Freie, befindet sich unmittelbar hinter 19

ihnen, den Monstern ohne Gesicht. Hektisch lässt du den Kopf 20

hin und her schnellen, kämpfst mit den Tränen. Du bist 21

gefangen, ohne zu wissen, was sie von dir wollen oder was du 22

ihnen getan hast. Das Brett, auf dem du liegst, ist aus 23

hartem, glattem Kunststoff und an seiner rechten Seite hatte 24

man eine Röhre angebracht, die viele dunkle Flecken aufweist 25

- Blut, geronnenes Blut. Panisch willst du aufschreien, 26

zerrst an deinen Gurten, als einer von ihnen dir einen 27

Stofffetzen in den Mund drücken, der dir den Atem nimmt. Die 28

Übrigen versammeln sich um dich und beginnen mit ihren 29

Messern deinen Bauch aufzuschneiden… 30

217

Schweißgebadet fuhr ich hoch, wälzte mich unruhig auf dem 1

Kartoffelsack und trat dabei schluchzend mit den Beinen in 2

die Luft, wie ein Käfer, den Kinder absichtlich auf den 3

Rücken gedreht hatten. Immer noch zappelnd warf ich einen 4

Blick aus dem Fenster. Der Wald erwachte langsam wieder zu 5

neuem Leben, selbst wenn ich davon in dem Gefängnis kaum 6

etwas mitbekam. Jedes größere Tier, etwa ein Papagei oder 7

eine Ratte, welches sich hier blicken ließ, wurde umgehend 8

entsorgt. Dabei war entsorgt noch gelinge gesagt. Nun 9

beobachte ich schmunzelnd, wie eine kleine Wüstenmaus 10

verzweifelt versuchte, sich durch die schmale Öffnung des 11

Fensters zu zwängen. Sie musste entweder clever sein oder 12

ungeheuer viel Glück gehabt haben. Erfreut über die 13

abwechslungsreiche Gesellschaft schob ich das Fenster ein 14

weiteres Stück auf, sodass das Nagetier in meinem Schoss 15

landete. Die Pfoten streiften meinen Bauch, die Nase stupste 16

mich zaghaft an. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr Schwanz, 17

fast so lang wie das Tier selbst, zerbissen und zum Teil 18

völlig abgerissen war, ebenso wie zwei Krallen ihrer 19

hinteren Pfote. Wahrscheinlich waren das die einzigen 20

Gründe, warum die Wüstenmaus nicht sofort die Flucht 21

ergriffen hatte. Ich grinste. Eine Maus in der Küche. 22

Mallium wäre davon sicher überaus begeistert. Sollte ich dem 23

Mann tatsächlich einmal in seinem Leben so einen Spaß 24

gönnen? Leise kicherte ich in mich hinein und langte nach 25

einem alten Stück Brot unter dem Kartoffelsack, das ich 26

heimlich aufbewahrt hatte, für den Fall, dass ich wieder mal 27

hungrig zu Bett gehen musste. Die Maus fiepte, wich zögernd 28

zurück. Doch ihr Magenknurren übertönte die Angst und sie 29

begann gierig zu knabbern. 30

218

„Chef, mir fehlt die Petersilie!“ 1

Erstaunt, dass jemand sprach, hob ich den Kopf und hielt 2

in der Arbeit inne, wofür ich sofort einen bösen Blick von 3

Mallium kassierte, der mit einem Fußtritt andeutete, dass 4

ich weiter zu kehren hatte. 5

„Hol‟ welches aus der Speisekammer.“, knurrte er zu seinem 6

Adjutanten herüber, der das Fleisch zubereitete. 7

Nummer 167 war ein kleiner Afrikaner, dem seit einem 8

Raubtierangriff die rechte Hand fehlte. Nun wand sich ein 9

rot kariertes Küchentuch um die Wunde. Dennoch hatte er 10

immer noch Schmerzen und er war mir - im Gegensatz zu 11

Mallium - stets dankbar, wenn ich das ein oder andere für 12

ihn erledigte. Denn auch in der Küche war jeder meist auf 13

sich alleine gestellt. 14

„Ich kann nicht, Chef, sonst brennt mir das Fleisch an. 15

Könnten Sie…?“ 16

Genervt ließ Mallium den Kochlöffel sinken und atmete 17

mehrmals tief durch, wobei er in die vor sich hin kochende 18

Béchamelsouce starrte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, 19

sein Mund öffnete sich bereits, um zu einem fürchterlichen 20

Gebrüll anzusetzen. Doch bevor es aus ihm herausbrechen 21

konnte, fügte ich schnell hinzu: „Ich geh schon für Sie, 22

Meister“ 23

Meister war eines seiner Lieblingswörter. Augenscheinlich 24

hob sich seine Stimmung und er nickte mir beinahe freundlich 25

zu. „Na gut. Aber wehe dir, du treibst irgendwelche Unfug. 26

In zwei Minuten bist du wieder hier!“ 27

„Natürlich, Meister.“ 28

Mehr würde ich auch nicht benötigen. Die Speisekammer 29

befand sich lediglich einen Türe weiter, ein hoher Raum mit 30

219

vielen Regalen, auf denen sich Lebensmittel jeglicher Art 1

stapelten. Gewürze. Brot, wahlweise hell oder dunkel 2

gebacken. Nudeln, Kartoffel, Reis. Gemüse. Obst, von 3

Kokosnüssen bis hin zu Bananen, Kiwis oder Mangos. Glasige 4

Fischaugen starrten mich durch eine hauchdünne Glasscheibe 5

an, daneben teils noch ganze Tierkörper oder bereits 6

verarbeitete Rückensteaks und Lebern. Ich hasste diesen 7

Anblick, aber nun musste es sein. Kurz warf ich einen Blick 8

auf die Uhr über der Türe. Kurz vor elf. Würde Scott bereits 9

in seinem Büro sein? Ich hoffe es. Wir hatten nur einen 10

einzige Versuch, nur ein Los. Die Chance stand eins zu… 11

Nicht nachdenken. Einfach tun. Mit einem Fußtritt kickte ich 12

die Türe hinter mir zu und kletterte auf die Leiter, um nach 13

der Petersilie zu suchen. Ich musste etwas inszenieren, 14

damit Maurice Scott gezwungen war, hier unten nach dem 15

Rechten zu sehen. Doch wie lange würde Tess brauchen? Fünf 16

Minuten? Zehn? Vielleicht auch eine halbe Stunde? Hastig 17

zählte ich die winzigen Gefäße mit dem teils körnigen, teils 18

mehligen Gewürze ab. Majoran… Chili… Ja, hier Petersiele, 19

vierte Reihe, das fünfte von links, wieder einmal 20

nummeriert. Ich stöhnte. Vermutlich hatten auch die 21

Klorollen in diesem Haus eine Nummer. Das weiße Papier mit 22

den pinken Kreisen musste in den 2. Stock, das mit den 23

pinken Klecksen in das Untergeschoss. Wundern würde es mich 24

jedenfalls nach allem, was ich bisher in dieser Irrenanstalt 25

erlebt hatte, nichts mehr! 26

Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht etwas nach links, 27

um nach der Petersiele zu greifen, als ich plötzlich ins 28

Taumeln geriet. In Panik schrie ich auf, versuchte mich an 29

dem Regalbrett festzuhalten. Dabei riss ich zwei weitere 30

220

Gefäße mit. Ein Drittes schwankte bedächtig. Wie an einer 1

Felskluft klammerte ich mich an das letzte Ästchen, was sich 2

mir bot. Unter mir zerschellten die bereits hinunter 3

gefallenen Töpfe. Draußen, in der Küche war es seltsam still 4

geworden. Ich ahnte, was nun passieren würde, und so geschah 5

es auch: Mallium, mit vor Zorn verzerrte Miene, rauschte in 6

die Speisekammer, dicht gefolgt von seinem Adjutanten, der 7

sich bei meinem Anblick ein Lachen verkneifen musste. Da 8

baumelte nun der Küchenjunge über ihren Köpfen, in Mitten 9

eines Chaoshaufens, der wohl auf seine Rechnung gehen 10

musste. Doch die Aufmerksamkeit des Kochs war nicht auf mich 11

gerichtet, sondern auf das kleine Lebewesen, das genüsslich 12

ein Pfefferkorn verspeiste: Mickie, die Maus. Fassungslos 13

deutete Mallium mit seinen zittrigen, dicken Fingern auf 14

sie. Stille, nur das Knirschen von Glas unter ihren Füßen. 15

Dann brach sich die Welle von Ereignissen auf dem Festland. 16

Der Küchenchef eilte hinaus, mehr verzweifelt als wütend, um 17

den Meister über den Vorfall zu informieren, während Nummer 18

167 dem „Ungeziefer“ den Gar ausmachen sollte. Ich 19

meinerseits ließ mich zu dem Afrikaner hinunterfallen und 20

half ihm, die Wüstenrennmaus einzufangen, aus Angst, Scott 21

könne sie tatsächlich töten. Bevor ich den verwirrten Mickie 22

hastig aus dem Speisezimmer schaffte und unter meinem 23

Kartoffelsack verbarg, besah ich mir belustigt das Chaos, 24

was ich angerichtet hatte. Mein Teil des Plans war bis 25

hierhin erfüllt. Tatsächlich würde es den Anschein erwecken, 26

es sei ein Unfall gewesen. Und eine Maus hat es nie gegeben. 27

Diese existierte nur in der Fantasie des Kochs, der 28

vielleicht etwas mit seiner Verantwortungsbewusstsein 29

übertrieben hatte. 30

221

Scott runzelte nachdenklich die Stirn, wobei er den Blick 1

zwischen mir und Mallium hin und her wandern ließ. 2

Tatsächlich war er kurze Zeit später in der Küche 3

aufgetaucht, um mein Werk aus nächster Nähe zu begutachten. 4

Doch seltsamerweise hatte er bisher noch nicht ein einziges 5

Wort gesprochen, sondern lediglich mehrmals tief durchatmen 6

müssen. Ein Zeichen dafür, dass er innerlich vor Wut bebte. 7

„Ich kann mir das nicht erklären“, faselte der Koch, „Da 8

war eben eine Maus in der Speisekammer…“ Er warf sich 9

nochmals auf die Knie, um unter allen Schränken und Regalen 10

nach dem Ungeziefer zu suchen, als der Meister ihn grob an 11

der Schulter hochriss. Es konnte nicht wahr sein, dass er 12

sich derart vor seinem Gott blamierte? 13

„Eine Maus wie? Ich sehe aber keine.“ 14

„Aber, ich versichere Ihnen…“ 15

Beschwichtigend hob Scott die Hände, um ihn zum Schweigen 16

zu bringen, wobei er sich an mich wandte: „Ich muss schon 17

sagen, Nummer 448, du bereitest mir mehr Ärger, als ich 18

erwartet hatte.“ Er beobachte mich mit höflichem Interesse. 19

„Dein Vater war mir wesentlich angenehmer.“ 20

„Nur weil er nicht erkannt hat, was Sie für ein… ein 21

kranker…“ Gerne hätte ich den längsten Fluch meines Lebens 22

ausgestoßen, doch nun wollte mir einfach kein Schimpfwort 23

einfallen. Im Grunde wäre es auch überflüssig gewesen, denn 24

als ich den Mann ohne „Sir“ und noch dazu „unerzogen“ 25

ansprach, spürte ich augenblicklich Malliums Handrücken an 26

meiner Wange. „Wie redest du mit deinem Meister, Junge!“, 27

brüllte er und wollte abermals ausholen, doch Scott hielt 28

ihn zurück. 29

„Lass gut sein. Nummer 448...“ 30

222

Hastig schnitt ich ihm das Wort ab. „Tim. Ich heiße Tim.“ 1

Im selben Moment hätte ich mich Ohrfeigen können. Wie konnte 2

ich nur so dämlich sein, mich dem Mann derart offensichtlich 3

zu widersetzen. Mein Teil des Plans war es, ihn abzulenken, 4

aber nicht indem ich mich umbringen ließe. 5

„Also gut… Tim. Du bist ein wahrlich hartnäckiger Fall. 6

Von Glück kannst du sagen, dass mir an dir etwas liegt, denn 7

sonst…“ 8

„Sonst hätten Sie mich in Stücke geschnitten und einzeln 9

in Päckchen nach Europa geschickt?“ 10

Verflucht seiest du, Tim! Halt endlich einmal deine 11

Klappe! 12

„Aber nein. Wie kommst du denn auf so eine absurde Idee?“ 13

Er lachte ohne Emotionen, als ob ich gerade einen Witz von 14

mir gegeben hätte, der nur höflicherweise belächelt werden 15

sollte. Mit einer Hand winkte er ab. „Das Chaos wird 16

beseitigt. Auf der Stelle!“ 17

Obwohl der Mann nicht weiter auf mich einging, spürte ich 18

dennoch seinen durchdringenden Blick. Unruhig verlagerte ich 19

mein Gewicht auf den anderen Fuß. Wusste er etwa, dass ich 20

das richtige Hütchen des Hütchenspielers auf den La Ramblas 21

in Barcelona aufgedeckt und das winzige rote 22

Plastikkügelchen, das so unscheinbar klein im Verborgenen 23

wartete, gefunden hatte? Wenn ja, dann war ich ein Idiot. 24

Doch darüber würde ich mir später Gedanken machen müssen. 25

Erst einmal zwang mich Mallium mit einem noch finsteren 26

Blick als gewöhnlich auf die Knie. Freilich, schließlich 27

hatte ich ihn gerade vor seinem Herrn gedemütigt. Dieser 28

seinerseits verschwand ohne Abschiedsworte, aber auf seinen 29

hoch angezogenen Schultern saß das Auge aus Stahl. 30

223

Die Tage schlichen schier endlos dahin und lediglich 1

Mickie, die Maus, spendete mir etwas Trost, wenn ich abends 2

völlig erschöpf auf meinem Kartoffelsack zusammensackte. 3

Gewöhnlich schlief ich Sekunden später ein - ganz im 4

Gegensatz zu den ersten Nächten, an denen ich noch lange 5

wach gelegen hatte und an denen ich vor allem auch am 6

nächsten Morgen vor Sonnenaufgang munter gewesen war. Nun 7

taumelte ich benommen durch die Küche und registrierte nicht 8

einmal mehr, wenn Mallium mich schlug oder mich in diesen 9

vier Wänden gefangen halten wollen zu schien. Nummer 448, 10

kehre den Boden, bis er glänzt - Ich tat es. Nummer 448, 11

wisch den Herd ab - Ich tat es. Nummer 448, der Meister 12

wünscht, dass du ihm das Fleisch zu bereitest - Ja, auch das 13

tat ich. Es machte mir nichts aus, in diese starren, grauen 14

Augen zu sehen. Was aber noch viel, viel schlimmer war als 15

diese Machtlosigkeit, waren die Schnittwunden oder Einstiche 16

in Arm und Bein, von denen ich weder wusste woher, noch wie 17

lange ich sie schon hatte. Manchmal, in den Stunden, in 18

denen ich mich fit fühlte, drang mir ins Bewusstsein, dass 19

etwas nicht stimmte. Irgendjemand oder irgendetwas versucht 20

dich auszuschalten, Tim. Doch ich konnte mich nicht wehren, 21

ich konnte nicht. Es erschien beinahe zum Verrückt werden. 22

Dies rührte zudem auch daher, dass sich Tess nicht mehr hat 23

blicken lassen. Hatte sie etwas herausgefunden oder war sie 24

von ihrem Vater beim Schnüffeln erwischt worden? Wurde sie 25

für ihr Verbrechen bestraft, vielleicht sogar verletzt? 26

Scott traute ich einiges zu. Auch, dass er seiner eigenen 27

Tochter wie ein gieriges Insekt, welches nicht zu 28

befriedigen war, das Blut aussaugen würde. So sehr ich Tess 29

Art auch hasste, ich betete inständig darum, dass es ihr gut 30

224

gehen mochte - vorausgesetzt, ich befand mich in der Lage 1

dazu. Gott, lieber Gott, hör‟ mich an, wenn es dich irgendwo 2

dort draußen geben sollte. Ich weiß, in den letzten Wochen, 3

Monaten, habe ich nur selten freundlich zu dir gesprochen… 4

Zugegeben, ich habe mehr geschrien und gemeckert, als dir 5

dafür zu danken, dass es mir noch gut geht… einigermaßen 6

jedenfalls. Ich bin wütend, verstehst du? Wütend darauf, 7

dass du mir all das genommen hast und mich nicht davor 8

warntest, hier herzukommen… Für einen Augenblick unterbrach 9

ich mich. Sicherlich wäre ich trotzdem in dieses Drecksloch 10

hineingestampft. Davon hätte mich niemand abbringen können, 11

selbst dann nicht, wenn er mir noch so viel Süßkram und 12

Ähnliches bot. Auf alle Fälle, Gott, möchte ich dich wissen 13

lassen, dass nicht ich dich brauche, sondern Tess. Sie ist… 14

hm ja… Was ist sie? Meine Freundin, schätze ich. Sie hat 15

viel für mich riskiert… Indirekt zumindest. Und… 16

Und dann eines Tages öffnete sich die Tür ein Stück weit 17

und das wohl gebräunte, kantige Gesicht einer jungen Frau 18

kam zum Vorschein. Ihr zu winzigen Löckchen gedrehtes, 19

dunkelbraunes Haar strich sie mit ihren dünnen Fingern 20

elegant hinters Ohr. Mallium, der einem Dessert den letzte 21

Schliff verlieh, indem er die Sahne mit türkisen Streuseln 22

verzierte, legte beinahe im Akkord die Schüssel zur Seite, 23

streifte die Arbeitshandschuhe von den Händen und reichte 24

sie der Lady mit einem leichten Knicks. Tess erwiderte die 25

Geste höflichen. „Ich soll Ihnen von meinem lieben Herrn 26

Vater ausrichten, dass er in einer Woche verreisen wird und 27

Sie daher bereits jetzt alles dafür Notwendige vorbereiten 28

sollen.“ Ihr Lipgloss glänzte im Licht und verlieh ihrem 29

Lächeln etwas Verführerisches. Nur schwer konnte ich meinen 30

225

Blick von ihr ablenken, um mit der Arbeit fortfahren. 1

Schließlich durfte niemand bemerken, dass wir sozusagen 2

Komplizen waren. Unauffällig beobachte ich sie dennoch 3

weiterhin im Augenwinkel, als sie bei der Übergabe eines 4

Briefes stürzte, ohne dass irgendjemand im Raum sie hätte 5

auffangen können. Glücklicherweise landete das Mädchen auf 6

meinem Kartoffelsack. 7

„Mylady… Was für eine Tragödie! Ich muss sofort deinen 8

Vater darüber informieren. Oh je, welch ein Unglück. Hast du 9

dich verletzt?“ 10

Stöhnend rieb Tess sich den Kopf und begann, den Staub aus 11

ihrer Lunge zu husten. 12

„Ich glaube nicht.“, flüsterte sie mit zittriger Stimme, 13

wobei sich an Malliums Ärmel hochzog. „Danke.“ 14

„Soll ich dir helfen?“ 15

Sie schüttelte den Kopf und zwinkerte dem Koch beruhigend 16

zu, bevor sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen, die 17

Küche verließ. 18

Ich stutzte. Doch zu meiner Verblüffung mischte sich Wut 19

und Enttäuschung. Hatte Tess mich etwa wieder einmal nur 20

ausgenutzt, um ihrem Vater zu zeigen, auf wessen Seite ich 21

stand? Lief sie vielleicht sogar zu ihm nach jedem 22

Geheimnis, welches ich ihr preisgab? Warum hatte ich 23

Dummkopf ihr schon zum dritten Mal vertraut, obwohl ich 24

geahnt hatte, dass sie mich erneut betrog? So wie sie es 25

bereits bei der Geschichte mit Mathieu oder der Nacht getan 26

hatte, in der ich in Papas altes Arbeitszimmer eingebrochen 27

bin… 28

226

Aber bevor ich zu einem Entschluss kam, verschwamm das 1

Bild vor meinen Augen und begann sich wild im Kreis zu 2

drehen. 3

Bald erreichst du den Fluss. Kühles Nass befeuchtet 4

wohltuend deine Sohlen. Atemlos lässt du dich auf die Knie 5

fallen, die Hände im halbverdorbenen Gras verkrampft. Der 6

Kadaver eines Fisches treibt in der Strömung des 7

Wasserrades, welches wie ein Sägeblatt durch das Wasser 8

schneidet. Seine glasigen, beinahe grauen Augen sind starr, 9

gleichwohl die Schwanzflosse noch gelegentlich zuckt, um 10

sich gegen dieses Ende, nun von den Artgenossen genüsslich 11

verspeist zu werden, zur Wehr zu setzen. Über der Türe des 12

Fischerhäuschens weht eine Flagge im Wüstenwind. Die Mauern 13

des Hauses sind vermodert, mit Schlingpflanzen bewachsen, 14

sodass die rauen Steinwände kaum noch zum Vorschein kommen. 15

Rot, schwarz, farblos. Wie ein Welpe rollst du dich im Sand 16

zusammen, den Rücken gegen die Überreste eines gestrandeten 17

Bootes gepresst. Zitterst, wimmerst tonlos. Du bist alleine, 18

ganz alleine... 19

Panisch ließ ich meinen Blick durch die dunkle Küche 20

huschen, im verzweifelten Versuch dieser Einsamkeit zu 21

entkommen. Wo seid ihr alle? Wo? Erst nach wenigen Minuten 22

wurde mir klar, dass ich wieder einmal einen Albtraum gehabt 23

haben musste. Sie schienen mich regelrecht zu verfolgen, 24

diese Träume: Einmal in meine Vergangenheit zurück, ein 25

anders Mal an einen unbekannten Ort. Doch am Ende war ich 26

jedes Mal alleine. Und seltsamerweise vergaß ich diese 27

Träume nicht, wie man es sonst immer tat. Nein, jedes Detail 28

- die Fahne, die Aschenbahn, das Licht - alles tauchte 29

wieder und wieder in meinen Gedanken auf. 30

227

Ich gähnte herzhaft und wollte mich mit einem flüchtigen 1

Blick auf die Uhr umdrehen, um weiter zu schlafen. Wollte… 2

Als ich plötzlich ein leises Rascheln vernahm. Verwundert 3

tastete ich mich in dem schwachen Lichtschein ab, dann den 4

Kartoffelsack. Dabei musste ich Mickie wohl mit dem Finger 5

fort gestupst haben, denn die Wüstenrennmaus jagte 6

verwundert davon. Schnell entschied ich mich ebenfalls 7

auszuspringen, um sie wieder einzufangen, als mich etwas 8

zögern ließ. Ein Stück Papier etwa in der Größe eines 9

Abziehbildes segelte zu Boden. Im Normalfall hätte ich es 10

zerknüllt und weggeschmissen. Im Normalfall. Nun spielte 11

diese Geschichte aber nicht in Deutschland in einer 12

Etagenwohnung im neunten Stock in dem Kinderzimmer eines 13

zehnjährigen Jungens, auf dessen Schreibtisch sich die Hefte 14

und Blöcke mit den Hausaufgaben stapelten. Nein, die 15

Geschichte spielte tausende Kilometer entfernt in der Küche 16

eines Hauses, in dem selbst der letzte Winkel besenrein war. 17

Nicht auszudenken, dass sich dort ein Zettel auf 18

Wanderschaft befand. Neugierig klappte ich das Papier auf - 19

und erstarrte. In seiner Mitte waren lediglich wenige, wegen 20

der Dämmerung schwer lesbare Worte mit Bleistift gekritzelt: 21

Also: Nummer 255:Zarin K. zurzeit: Be- und Entladung von 22

Waren / Kurierdienste 23

Tess 24

Hastig wandte ich den Zettel in meiner Handfläche, als 25

würden dadurch neue Informationen hinzukommen, die ich 26

vielleicht überlesen hatte. Aber nein, es blieb bei den elf 27

Wörtern, den zweiundsiebzig Zeichen, davon drei Zahlen, drei 28

Doppel- und zwei normalen Punkte. Doch dieser winzige Zettel 29

reichte aus, um einen gerade mal zehnjährigen Jungen völlig 30

228

aus der Bahn zu werfen. Zarin, der Mann, der an dem Tag an 1

ein Labor verkauft werden sollte, an dem Papa starb, war 2

niemand anderes als der Ehemann von Keenans verstorbener 3

Schwester Ismen. An den Riesen im Dorf konnte ich mich noch 4

gut erinnern, gleich wohl er manchmal ohne ein Wort 5

verschwand und ich ihn daher nicht oft zu Gesicht bekommen 6

habe. Nun schien auch dies zum Teil einen Sinn zu ergeben, 7

wenn man bedachte, für wen er gearbeitet hatte und immer 8

noch arbeitete. Kurz tauchte in meinen Gedanken das Bild des 9

Internetcafés auf, in dem ich mich vor ihm verstecken 10

musste. Damals - es erschien mir wie eine Ewigkeit - hatte 11

Zarin mich verzweifelt gesucht, um mich zurück nach 12

Deutschland zu bringen. Zu meinem Besten, damit mir nichts 13

zustoße. 14

Irgendwie musste der Mann schon vor Scott gewusst haben, 15

dass ich entweder dem Business auf der Website 16

www.leber_im_sonderangebot.de ein Dorn im Augen sein würde 17

oder Zarin hatte mich tatsächlich aus irgendwelchen Gründe 18

davor bewahren wollen, dieses Fehler zu begehen. Ich 19

seufzte, wobei ich den an mir hochkletternden Mickie 20

vorsichtig am Schwanz anhob und zur Strafe ein wenig in der 21

Luft baumeln ließ. Leise fiepend zappelte er und in seinen 22

winzigen, schwarzen Mausaugen lag etwas Flehendes, welches 23

das Herz eines jeden Tierliebhabers sofort erweichte. Bitte, 24

bitte, lieber Tim, lass mich runter. Lächelnd legte ich mich 25

zurück auf den Kartoffelsack und verstaute den Zettel sicher 26

in einer Ritze, damit ihn niemand finden würde. So gut es 27

ging, kuschelte ich mir auf das Kissen, formte für das Tier 28

eine Art Nest und setzte es sanft am Kopf streichelnd 29

hinein. Wenigstens du hast keine Probleme außer Essen und 30

229

Schlafen, erwiderte ich in einer lautlosen, fremden Sprache, 1

die lediglich die Maus verstand. 2

Es war hell, als ich erwachte. Die ersten Sonnenstrahlen 3

fluteten bereits durch die wenigen Fenster die Küche. 4

Gähnend räkelte ich mich. Die Ereignisse der Nacht schienen 5

mehr wie ein böser Traum und erst, als ich das Stück Papier 6

heimlich in einem unbeobachteten Moment auseinanderrollte, 7

begriff ich, dass es weder Traum noch Scherz war. Viel mehr 8

ähnelte es einem Puzzle, welches man nicht zu Ende 9

zusammensetzen wollte, weil einem das Motiv missfiel. Ich 10

bräuchte Zeit, die ich nicht hatte, um dies alles zu 11

verstehen. 12

Heute musste ein großer Teil für Scott vermeintliches 13

Verreisen vorbereitet und anschließend in hochgradigen 14

Schüsseln verpackt und verstaut werden. Bisher habe ich (wie 15

jedes anderen Kind meines Alters wahrscheinlich auch) die 16

Eltern die Koffer hieven oder den Urlaub planen lassen, 17

während man sich selbst pfeifend, mit Gameboy oder Buch 18

bewaffnet, vom Acker machte, damit sie dabei ihre Ruhe 19

haben. Als Dank wird man dann im Auto oder Flugzeug ständig 20

angefaucht, wenn man lieb und nett zum siebten Mal fragt, ob 21

hinter den Bergen endlich die Nordsee ist. 22

Nun begutachte ich argwöhnisch die Liste unseres 23

Meisters, verblüfft, wie viel eine einzelne Person für eine 24

Woche an Proviant benötigte. Mit dem Essen könnte locker 25

meine Grundschulklasse in der Jugendherberge satt werden. 26

Glaubte ich jedenfalls. Vielleicht würde es auch noch für 27

die halbe Parallelklasse reichen. Wer wusste das schon 28

genau? Für Scott wäre es auf alle Fälle zu viel, 29

230

vorausgesetzt er will nicht Afrikas neue Hoffnung im 1

Schwergewichte werden, was ihm durchaus zu zutrauen war. 2

Mit Hilfe von Malliums Adjutanten verstaute ich in 3

Plastiktüten gepacktes Obst und Gemüse in einem Karton und 4

klebte ihn an beiden Enden zu. Die exakte Beschriftung 5

erfolgte durch einen hageren Mann Mitte sechzig, der in 6

seinem Leben scheinbar schon einige Kisten für Scott hatte 7

schleppen müssen. Gekrümmt hievte er den schweren Karton 8

hoch, wobei er unter dem Gewicht taumelte. Ohne dass der 9

Küchenchef eingreifen konnte, fasste ich den Entschluss, dem 10

Alten zu helfen. Dankbar lächelte er mir ein wenig schief zu 11

und gemeinsam schleppten wir die Kisten über den Kiesweg in 12

Richtung eines warteten, weinroten Cabrios. An seine 13

Kupplung befestigte gerade in diesem Augenblick ein weiterer 14

Mann den Anhänger, über dessen Fläche eine weiße Plane mit 15

dem Aufdruck einer lachenden Orange gespannt war. Diese 16

reichte ein weißer Mann - mit erstaunlicher Ähnlichkeit zu 17

Scott - einem Farbigen. Unter dem Logo, fein säuberlich 18

durch eine regenbogenfarbene Linie abgetrennt, waren in 19

goldgelber Schnörkelschrift die Buchstaben M.A.S für 20

Miteinander am Sonnenplatz projiziert wurden. Scott spielte 21

sich doch tatsächlich als Wohltäter auf! Und vermutlich 22

kaufte ihm der größte Teil Afrikas dieses Spiel auch noch 23

ab, wenn er dafür ein oder zwei Orangen in die Hand gedrückt 24

bekam? Bei diesem Gedanken würde mir speiübel. Tief sog ich 25

die frische Luft ein und vergaß augenblicklich alles um mich 26

herum. Ein Schmetterling, der sich vermutlich von dem Klouto 27

hierher verirrt hatte, tanzte im Sonnenschein um mich herum 28

und flatterte dann weiter zu den Blumenbeeten herüber. 29

Wassertropfen der Bewässerungsanlage der Rasenflächen 30

231

sprenkelten meine nackten Beine, ebenso wie der Brunnen 1

zwischen dem Hauseingang und dem Tor zur Außenwelt mein 2

Gesicht. Der Karton erschien plötzlich federleicht, der Kies 3

stach nicht unter meinen Füßen, sondern führte mich wie auf 4

kleinen Kissen fortan - bis ein Schatten die Sonne 5

verdeckte, ein Windstoß die bunte Welt fortfegte. 6

Der zweite Mann erhob sich, als er bemerkte, dass wir 7

unser Gut in dem Anhänger lagern wollten, der mit den 8

unverderblichen Lebensmitteln bereits zu einer kleinen 9

Speisekammer angereichert war - und erstarrte in seiner 10

Bewegung. Immer noch gehockt, die Augen weit aufgerissen, 11

wusch er sich mit den dreckigen Hand einmal übers Gesicht. 12

„Nummer 255?“ Der Alte stieß ihn leicht mit dem Fuß an, 13

nachdem er die Kiste vor sich auf den Boden abgestellt 14

hatte. Doch der Genannte reagierte kaum, sondern starrte 15

mich weiterhin mit ausdrucksloser Miene an, dass mir ein 16

wenig unbehaglich zu Mute wurde. Zarin, in einem weißen 17

Hemd, welches sich über seinen seltsam durchtrainierten 18

Bauch spannte, und hellblauer Jeans, wirkte mit den etwas 19

längeren, ordentlich gekämmten Haaren wie ein Sekretär. An 20

dem Ringfinger seiner rechten, großen Hand trug er immer 21

noch den kleinen Hochzeitsring. Auch wenn der Mann über den 22

Tod seiner Frau und dem seines neugeborenen Sohnes gut 23

hinweggekommen zu schien, konnte man dennoch erkennen, wie 24

sehr er litt. 25

„Nummer 255? Der Junge hat mir bloß beim Tragen 26

geholfen. Nicht schlimm. Unser Meister wird es nicht 27

erfahren.“ Der Alte sprach mit dem für Togolesen typischen 28

Akzent Eve, den ich, was er nicht wusste, auch zum Teil 29

232

beherrschte. Ich musste. Schließlich hätte ich sonst niemals 1

beim Indianerspielen eine Chance gehabt. 2

„Er sollte nicht hier sein.“, brummte Zarin mehr zu sich 3

selber als zu dem alten Afrikaner, bevor er sich mit einem 4

letzten Blick wieder der Kupplung zuwandte. 5

Wütend stampfte der Mann mit dem Fuß auf, dann hinkte er, 6

ohne mich weiter zu beachten, zurück in die Küche. 7

Seufzend sah ich ihm nach. Was ging hier eigentlich vor 8

sich? Warum sollte ich nicht hier sein? Was verschwieg Zarin 9

mir? Unbeholfen marschierte ich von links nach rechts über 10

den Kiesweg, wohl bedacht, dabei viel Lärm zu machen, damit 11

der Riese gezwungen sein würde, mir Aufmerksamkeit zu 12

schenken. So hatte mein Freund Phil es in der Schule auch 13

immer geschafft. Und irgendwie hat er die Lehrerin nach 14

seinen Papierkügelchenwürfen gegen die Tafel jedes Mal dazu 15

gebracht, ihn früher gehen zu lassen. Je lauter man ist, 16

desto eher wird man gehört. 17

Tatsächlich… Es funktionierte! Nach wenigen Minuten drehte 18

sich der Mann genervt zu mir um. „Was willst du hier?“, 19

brummte er, „Du hast hier nichts zu suchen, verstanden?“ 20

Meine Augen wurden zu einem Schlitz. Am liebsten hätte ich 21

den Afrikanern nun in die Seite geboxt, so wütend war ich. 22

„Glaubst du eigentlich, ich bin freiwillig hier, Zarin!?“, 23

fauchte ich zurück, als sich eine Hand über meinen Mund 24

legte und mir die Arme auf den Rücken drehte. Nein, nicht 25

mit mir! Zornig begann ich, um mich zu treten, in die Hand 26

zu beißen. So schnell würde ich nicht Ruhe geben! Da müsst 27

ihr euch schon etwas Besseres einfallen lassen! Mit aller 28

Kraft lehnte ich mich nach vorne, als sich der eiserne Griff 29

unerwartet löste. Bei dem unvermeidbaren Sturz auf den Kies 30

233

renkte ich mir alle Knochen aus. Tausende von kleinen 1

Steinchen bohrten sich durch das dünne Oberteil zwischen 2

meine Schulterblätter. Staub brannte ihn meinen Augen. Doch 3

damit war noch nicht genug. Der vermeintliche Angreifer 4

baute sich vor mir auf und zog mich am Gürtel zu sich hoch. 5

„Sei still… Tim.“ Hastig ließ Zarin seinen Blick 6

umherschweifen, stieß mich nach kurzer Zeit von sich. „Mit 7

dir habe ich nicht gerechnet. Es tut mir leid. Dir sollte 8

dies erspart bleiben.“ 9

Mit angezogenen Schultern hockte er sich auf die Kante des 10

Anhängers, vergrub das Gesicht in den Händen. 11

„Was sollte mir erspart bleiben? Dass ich weiß, dass…“ 12

„Kannst du dort raus?“ Er deutete mit einen Kopfnicken auf 13

die Küchentüre, in der der alte Mann wieder erschien. Ich 14

wiegte den Kopf, schließlich schüttelte ich ihn 15

niedergeschlagen. Nein, ausgeschlossen dort abzuhauen, auch 16

wenn ich darin mittlerweile Übung hatte. Falls es mir 17

tatsächlich gelingen würde, heimlich aus der Küche ins Freie 18

zu fliehen, wäre ich drei Sekunden später im Rahmenlicht. 19

Dann könnte ich sehr wahrscheinlich ein Lied davon singen, 20

wie sie mich Stück für Stück auseinander nehmen. Nein, viel 21

zu riskant. 22

Auch Zarin schien dies einzusehen, denn er malte 23

nachdenklich mit dem Finger im Kies. „Ich schätze, du wirst 24

dich gedulden müssen. Zwar nicht eine deiner Stärken, aber…“ 25

Er hielt kurz inne, um dem älteren Mann beim Verstauen des 26

Kartons zu helfen, der ihm einen vernichtenden Blick zu 27

warf, woraufhin der Togolose die Stirn krauste. „Verschwinde 28

jetzt besser, Junge! Siehst du denn nicht, dass ich zu tun 29

habe?“, brüllte er, dass selbst die Papageie, die sich in 30

234

der kugelförmig geschnittenen Baumkrone versteckt hatte, 1

aufgeregt davon flatterten. Eine elegante, bunte 2

Schwanzfeder segelte dabei langsam zu Boden. Beide Hände in 3

die Hüften gestemmt, pustete ich einmal in die Luft, drehte 4

dann mich fort, langte im Gehen nach der Feder, die ich mir 5

wie die eines Indianers ins Haar steckte, und rannte zurück 6

in die Küche, in der mich ein ziemlich mürrisch 7

dreinschauender Koch empfing. 8

„Wo warst du, Bursche?“, knurrte er, tippte dazu im Takt 9

mit dem Fuß auf die Fliesen. 10

Ich schwieg. Egal, was ich geantwortet hätte, es wäre 11

immer falsch gewesen. 12

Geduld war genau das richtige Stichwort… 13

235

10. Kapitel 1

Und so wartete ich. Und wartete und wartete. Ohne 2

eigentlich konkret zu wissen, worauf ich wartete. Ich 3

wartete einfach. Manchmal alleine, manchmal gemeinsam. Die 4

einen Stunden vergingen im Flug, andere schienen ein 5

unendlich langer Bann von Sekunden und Minuten. Aber ich 6

wartete dennoch. Vom Morgengrauen bis zum Mittag. Vom Mittag 7

bis zur Dämmerung. Von der Dämmerung bis zur Stunde null. 8

Und von der Stunde null bis zur Morgendämmerung. Warten, 9

gedulden. Von Montag bis Dienstag, dann von Dienstag bis 10

Mittwoch, bis Donnerstag, bis Freitag. Von Freitag bis 11

Samstag und Sonntag. Solange, bis dieses Warten ein Ende 12

haben würde, wenn es denn eines hätte. 13

Das weinrote Cabrio mochte seit vier Tagen verschwunden 14

sein; eines Morgens, als ich beim Erwachen einen flüchtigen 15

Blick aus dem Fenster geworfen hatte, war er wie vom 16

Erdboden verschluckt. Und Scott mit ihm. 17

Doch dies änderte kaum etwas an der Tatsache, dass der 18

Meister nicht ein halbes Dutzend Stellvertreter unter Obhut 19

haben musste, die seine Rollen hervorragend nacheiferten. 20

Diese Kopien konnte vor allem noch um einiges harter 21

bestrafen, was ich des Öfteren bemerkte. Einmal erlaubte 22

sich ein Dienstmädchen den Fehler, die schwarzen 23

Spannbetttücher von Zimmer Nummer 16 und 17 zu vertauschen. 24

Schließlich hätte es nie jemand bemerkt, da die Bettwäsche 25

jeden zweiten Tag um dieselbe Uhrzeit gewechselt wurde und 26

sich zu dieser Zeit niemand in dem Raum aufhalten sollte. 27

Und selbst wenn… wer konnte zwei völlig identische, schwarze 28

Lacken voneinander unterscheiden? Über diese Frage konnte 29

236

die junge Frau noch etwas länger grübeln, als sie mit dem 1

Freifahrtschein zur Hölle in der Hand in den Keller geführt 2

wurde. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war ein 3

erstickender Schrei. 4

Nummer 167, der zweite Koch, hatte mich bereits im 5

Flüsterton davor gewarnt, Scotts Abwesenheit auszunutzen. 6

Dort, meinte er, wo sonst nur zwei Augen lauern, dort sind 7

nun zwölf oder mehr. Vielleicht hast du Glück, mein Junge, 8

vielleicht hast du es nicht. Aber ich an deiner Stelle würde 9

nichts riskieren. Bei dieser Ansprache nickte ich lediglich, 10

selbst wenn ich schon einige Gedanken an Flucht verschwendet 11

hatte. Ich wusste, indem, was er sagt, hat der Mann recht. 12

Wahrscheinlich wäre ich ohnehin zu feige gewesen, nun etwas 13

zu unternehmen. 14

Und so habe ich gewartete, immerzu gewartet. Wie sonst nur 15

auf das Glöckchen des Christkindes. Nur ahnte ich damals, 16

dass es wieder einmal ein neues Plastikparkhaus, das 101. 17

Kuscheltier oder später ein Gameboy-Spiel sein würde. Auf 18

alle Fälle zählte die Vorfreude auf Weihnachten. Doch nun 19

stützte ich mich Tag für Tag ins Ungewisse. Was würde 20

geschehen? Würde dieses XY mir helfen oder mich nur weiter 21

zerstechen? Fragen über Fragen, nichts als Fragen… 22

… Bis dieser Tag kam oder einer dieser Tage. Der 31. Juli 23

2004, grau, ohne Sonnenschein, kühler bei 22 Grad Celsius. 24

Wenn man davon absah, dass an diesem letzten Samstag im Juli 25

mit Atakpamé in der togoischen Region Ogou das Ernte-26

Festival der Süßkartoffeln, das Odon-Tsu, gefeiert wird, 27

hätte man annehmen können, es sei ein Tag wie jeder andere 28

auch. Dennoch, als ich heute die Orangen auspresste, 29

bemerkte ich eine Veränderung: Der Meister war von seinem 30

237

Ausritt um die Welt zurückgekehrt: Mallium jagte wie ein 1

gescheuchtes Tier unter der Peitsche durch die Küche, rührte 2

mal hier im Tee, füllte mal da eine Schüssel mit Obst und 3

Cornflakes, das einzige Ungesunde, was Lady Tess zu sich 4

nehmen durfte. Hinter der Tür hörte ich gelegentlich das 5

leise Klirren von Besteck, den Staubsauger. Auf dem Hof 6

polierte bereits jemand den Wagen, auch wenn Scott erst vor 7

wenigen Minuten ausgestiegen sein mochte. Den Anhänger hatte 8

man von der Kupplung gelöst, jedoch nicht fortgefahren, 9

vermutlich weil dies wegen des vielen Inhalts nur für drei 10

Herkulese zu bewältigen war. Dessen Plane hing mit mehreren 11

Riemen festgeschnürt straff herunter, bläute sich nur 12

gelegentlich seltsam merkwürdig auf. Verwirrt rieb ich mir 13

die Augen. Eben, vor etwa drei Sekunden, war da links noch 14

eine Delle gewesen… Nein, ausgeschlossen. Sicher spielte dir 15

nur jemand einen Streich. Wie sollte sich die Plane bewegen, 16

wenn es derart windstill ist? 17

„Nummer 448!“ Geistig abwesend zuckte ich zusammen. 18

Mittlerweile hatte ich mich zwar an diesen Namen gewöhnt, 19

aber es brauchte einige Augenblicke, bis ich registrierte, 20

dass man mich meinte. 21

„Jawohl, Sir!“ 22

„Brüll mich nicht so an, Junge!“, knurrte Mallium böse 23

zurück, wobei er sich, ein Obstmesser in der Hand, 24

bedrohlich näherte, „Mach dich einmal nützlich und helfe 25

Nummer 255 beim Entladen des Gepäcks.“ 26

Zarin! Zarin ist wieder da! Hastig ließ ich das Messer 27

meinerseits auf die Ablagefläche klirren und setzte bereits 28

zum Sprint nach draußen an, als der Küchenchef mich an der 29

Schulter zu sich herum riss. „Und wehe dir, du machst mir 30

238

Ärger. Dann kannst du dafür beten, dass ich dir nur das 1

Genick breche. Hat dein kleines Hirn das da oben k-a-p-i-e-2

r-t?“ Mit zusammengekniffenen Augen schlug er mir seine 3

Handfläche auf den Rücken, „Und nun verschwinde endlich!“ 4

Noch bevor Mallium etwas entgegnen konnte, rannte ich, die 5

Küchentüre im Lauf aufstoßend, auf den Hof, wo mich bereits 6

jemand sehnsüchtig erwartete. Der alte Mann, dem ich schon 7

einmal geholfen hatte, zwinkerte mir freudig zu. Sein 8

anderes Auge zuckte dabei unkontrolliert. 9

„Es nicht viele Junge gibt, die helfen wollen hier.“ Es 10

fiel ihm sichtlich schwer, die Worte selbst in seiner 11

Sprache zu richtigen Sätzen zusammenzufügen. Bei jedem 12

Buchstaben verzog sich sein Gesicht wie bei einem Theater. 13

Mal saß die Brille oben auf dem Nasenrücken, mal rutschte 14

sie in derselben Bewegung derart tief, das man fürchtete, 15

sie könne herunter fallen. 16

Ich wiegte den Kopf, erwiderte jedoch nichts, aus Angst, 17

Mallium beobachte mich. 18

Vorsichtig begann ich die Plane des Anhängers zu lösen, 19

als mir plötzlich eine Hand auf die Finger schlug. Zarin in 20

voller Lebensgröße, mit ärgerlichem Gesichtsausdruck und 21

einem Zigarrenstängel zwischen den Lippen, den er nun auf 22

den Boden austrat, bäumte sich neben mir auf. „Lass das! Du 23

bist lediglich hier, um das zu tragen, wozu wir dich 24

beauftragen.“, brummte er, aber in seinem Blick lag etwas 25

Mitfühlendes. 26

Wütend trat ich gegen die Kiessteine auf dem Weg. Zum 27

Schleppen bin ich euch gut genug, wie?! Euch werde ich es 28

zeigen, selbst wenn es mich noch so viel kostete! Ohne dass 29

einer der beiden Männer hätte reagieren können, riss ich an 30

239

dem letzten, bereits halbgelösten Riemen und lugte ins 1

Innere, welches auf den ersten Blick leer erschien. Auf den 2

ersten Blick. 3

Vorsichtig zwängte ich mich zwischen den Körben hindurch 4

auf die Ladefläche, als mein Herzschlag für ein paar 5

Sekunden aussetzte. Meine Lungenflügel zogen sich zusammen, 6

sodass ich röchelnd nach Luft schnappen musste. Gleichzeitig 7

übergab ich mich über einer Kiste mit Orangen, fiel auf die 8

Knie. Nein… Bitte nicht! Mit Tränen in den Augen stieß ich 9

einen Schrei aus, der um die gesamte Welt zu wandern schien. 10

Von New York bis nach Sydney. Vom Nordpol bis in die 11

Antarktis. Meine Hände verkrampften sich an der Kiste, meine 12

Beine wollte mich nicht mehr tragen, konnten nicht mehr 13

weiter. Das Bild des Mädchens, welches blutverschmiert in 14

seinem blauen, schottischen „Hardrock-T-Shirt“, mit 15

zusammengefalteten Händen, zur Seite gedrehtem Kopf, 16

schlief, wurde in tausende Splitter zerschlagen. Sein 17

haselnussbraunes Haar war länger, ein wenig verfilzt und 18

zerzaust. Die Haut um einiges dunkler, aber dennoch heller 19

als die eines Afrikaners. Zweifellos - ich würde es noch so 20

verleugnete können - es war meine beste Freundin, die dort 21

vor mir auf der Ladefläche des Anhängers meines größten 22

Feindes lag. Kay, von der ich gehoffte hatte, sie niemals an 23

diesem furchtbaren Ort wieder zu sehen. Mein Schwesterchen. 24

Nein, das muss ein böser Streich sein, ein Albtraum. 25

„Tim?“ Zarin, der hinter mir her geklettert war, legte mir 26

sanft die Hand auf die Schulter. „Es tut mir so leid. Ich 27

habe es verhindern wollen, wirklich. Ich habe es verhindern 28

wollen.“ Als ich schwieg, fuhr er murmelnd fort: „Da war ein 29

Dorf in der Region um Ogou, das Erntedank feierte. Um ihr 30

240

Vertrauen zu gewinnen, hat der Meister ihnen Orangen und 1

andere Lebensmittel geschenkt. Genauso wie damals in unserem 2

Dorf. Wir haben es alle geglaubt, verstehst du? Alle haben 3

wir es geglaubt, uns täuschen lassen. Auch ich, auch Keenan, 4

wir alle. Das Mädchen wollte an diesem Nachmittag mit einer 5

Schulfreundin spielen, die in diesem anderen Dorf lebte. Sie 6

musste wohl auf Klo. Anders kann ich es mir jedenfalls nicht 7

erklären, warum der Meister ein Kind ‚zur Flucht in ein 8

neues Paradies‟ entführt.“ 9

Er machte eine Atempause, damit ich die Möglichkeit bekam, 10

zu begreifen, und mir nicht zu viel auf einmal zumutete. 11

Aber ich sah ihn nicht an, nur Kay. Wie konnte so etwas bloß 12

passieren? Kay, hörst du mich? Ich bin‟s Tim… Der Tim, der 13

an allem schuld ist. Erinnerst du dich? Wenn nicht… Ich kann 14

es verstehen. Auch, dass du mich jetzt vermutlich hasst. 15

Ich bin ja, zu nichts zu gebrauchen! Immer mache ich alles 16

falsch. Es tut mir leid, Kay Linn. 17

Behutsam hob ich ihren kleinen Kopf an, streichelte ihr 18

über das zerzauste Haar, in dem noch ein braunes Haarband 19

steckte. 20

„Wo sind die anderen?“, fragte ich mit erdrückender 21

Stimme, sodass ich kaum einen Laut herausbekommen mochte. 22

„In einem Essenzimmer. Der Meister wird ihnen ihre Aufgabe 23

erklären und was sie dafür tun müssen, damit sie immer 24

genügend zu essen haben. Das mag sich für einen Jungen wie 25

dich seltsam anhören, aber diese Menschen sind derart 26

verzweifelt, dass der Meister für sie tatsächlich so etwas 27

wie ein Messias, ein Heiliger ist, der ihnen einen Weg aus 28

dem Nichts bietet. Jeder glaubt ihm, auch ich habe ihm 29

Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort geglaubt. Und den 30

241

meisten geht es hier besser. Du hast überhaupt keine Ahnung, 1

wie das hier in Afrika läuft! Frauen werden vergewaltigt. 2

Draußen in Kpalimé verhungern die Kinder auf der Straße!“ 3

„Nummer 255!“ 4

Zarin atmete tief durch, damit sich seine Stimme nicht 5

überschlug. „Ja?“, erwiderte er etwas gefasster, wobei er 6

den Kopf aus dem Anhänger steckte und leise mit dem alten 7

Mann zu flüstern begann, der scheinbar draußen gewartet 8

haben musste. Ich gab mir keine Mühe, sie zu belauschen, 9

sondern versuchte, Kay zu schultern. Unter gar keinen 10

Umständen würde ich sie alleine lassen! 11

„Was machst du da?“, fauchte der Togolese, der mich im 12

Blickwinkel zu beobachten schien. Ohne ihm etwas zu 13

entgegnen, wollte ich gebückt an ihm vorbei krakeln, als er 14

mich grob zurückstieß, sodass Kays Kopf beinahe auf der 15

Kiste aufgeschlagen wäre, hätte ich sie nicht 16

geistesgegenwärtig gefangen. 17

„Bist du denn völlig übergeschnappt?“ Der Finger des 18

Mannes näherte sich drohend. „Wo willst du sie hinbringen?“ 19

Ich überlegte kurz. „In Sicherheit.“ 20

„Und wo ist es deiner Meinung nach sicher?“ 21

„Aber ich kann sie doch nicht einfach hier liegen 22

lassen.“, murmelte ich niedergeschlagen. Ein feuchtes 23

Glitzern im Augenwinkel. 24

Während Zarin nacheinander die Kisten und Körbe zum 25

Ladeflächenrand schob, besah er sich das kleine Mädchen zum 26

ersten Mal genau. Sie wirkt so zierlich, so schwach, beinahe 27

zerbrechlich, wie sie hilflos da lag. Obwohl sie unverletzt 28

schien, überkam mich erneut dieses Bedürfnis, sie zu 29

beschützen. Ich konnte sie nicht verlassen… 30

242

„Bitte, Zarin. Du musst ihr helfen, bitte.“ 1

„Ich kann nicht.“, erwiderte Zarin grob, dann kletterte er 2

von der Ladefläche herab. Unten angekommen streckte er 3

nochmals den Kopf hinein: „Und du auch nicht, Tim. Das weißt 4

du! Komm endlich! Sei ein braver Junge, sei vernünftig. 5

Komm.“ 6

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich will bei ihr bleiben.“ 7

Es klang bestimmt und hartnäckig, verzweifelt. 8

Der Togolese stöhnte. Genervt kletterte er nochmals in den 9

Anhänger zurück, sah mich von oben bis unten an. „Du wirst 10

jetzt mit mir kommen“ 11

„Nein, ich mag bei Kay bleiben.“ 12

Ohne dass ich mich wehren konnte, packte Zarin mich unter 13

den Armen, schleifte mich wie eine Puppe zum Ladeflächenrand 14

und stieß mir den Ellenbogen in den Rücken, sodass ich vorne 15

überfiel. Wild ruderte ich mit den Armen, schrie, als ich 16

unsanft im Kies landete. Kleine Steinchen hatten ihre 17

Druckstellen auf meinem Körper hinterlassen, aber anstatt zu 18

weinen, rappelte ich mich auf, um erneut zu meiner besten 19

Freundin vorzubringen, was in Anbetracht dessen, dass der 20

Afrikaner sich wie eine riesige, schwarze Wolke vor mir 21

aufbäumte aussichtslos war. „Dein Vater hat dich nie 22

erwähnt, Tim. Nie. In seiner Welt existiertest du nicht. Ich 23

habe mich immer gefragt, warum. Jetzt weiß ich es: Du 24

bereitest einem nichts als Ärger.“, zischte er. Diese 25

unerwartete Wendung des Gesprächs irritierte mich für einen 26

Moment. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die aneinander 27

gereihten Zeichen in meinem Gehirn wie eine geheime 28

Botschaft entschlüsselt werden konnte. Doch selbst als aus 29

den Zeichen Buchstaben, aus den Buchstaben Wörter, aus den 30

243

Wörter Sätze wurde, selbst dann begriff ich den Sinn dieser 1

Nachricht nicht. Weshalb erzählte der Mann mir nun von Papa? 2

Von Papa, der mich gehasst hat? 3

„Nein… Nein, das ist nicht wahr.“ Tränen liefen mir über 4

die Wangen. Hektisch zwinkerte ich mich den Augen, rieb 5

dabei mit dem Zeigefinger über das Lid. 6

„Doch.“, entgegnete Zarin, wobei er mich am Handgelenk 7

fasste und zerrte mich über den Kies zurück zum Gebäude. 8

„Nummer 448?“ 9

Erstaunt hob ich den Kopf, drehte ihn in Richtung Türe. 10

Mallium, der gleich agierte, erhob sich von seiner Arbeit, 11

die Schubladen neu einzusortieren. Tess mit einer schwarzen, 12

weiten Hip-Hop-Hose und einer roten Trainingsjacke 13

bekleidet, erschien unerwartet auf der Bildfläche. Ohne dem 14

herbeieilenden Küchenchef Beachtung zu schenken, 15

gestikulierte sie mir, dass ich ihr unverzüglich folgen 16

sollte. „Ich versichere Ihnen, es ist alles in Ordnung. 17

Nummer 448 soll lediglich auf Wunsch meines Vaters in dessen 18

Arbeitszimmer erscheinen.“. 19

Ich erschrak. Um nichts in aller Welt würde ich nochmals 20

dieser Zimmer betreten! Doch Tess ließ mir keine Wahl. Kurz 21

warf ich einen Blick über die Schulter zurück. Nein, bitte, 22

ich würde auch noch ein paar Kartoffeln schälen. Mallium, 23

der mit jedem Meter schrumpfte, sah mir nicht nach. Er 24

schien mich bereits vergessen zu haben, noch bevor die Türe 25

überhaupt hinter uns zu schlug. Draußen auf dem Flur blieb 26

das Mädchen stehen. 27

„Tim.“, erwiderte sie mir den Rücken zugewandt, wobei sie 28

auf nackten Füßen über den kalten Fliesenboden davon 29

tänzelte. „Ich weiß nicht, was Dad mit dir vorhat. Tut mir 30

244

Leid.“ Mit einer eleganten Drehung fiel sie mir flüchtig um 1

den Hals. „Pass auf dich auf, ja? Sonst habe ich niemanden 2

mehr, den ich ärgern kann.“ 3

Mehr sagte sie nicht, jetzt nicht und auch nicht später. 4

Es blieb bei diesen Worte, die hart und kalt klangen, 5

teilnahmslos. Doch ich spürte, dass sie sich unbehaglich 6

fühlte. Wie eine Prinzessin, die einen Freund zum Galgen 7

führen musste. Anderseits konnte Tess auch ein Drache sein, 8

der mich an einer goldenen Kette in den Vulkan stoßen 9

mochte. 10

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich sie nicht kannte. Weder 11

die eine Tess, noch die andere. Ich mochte beide und ich 12

glaubte, sie mochte mich auch ein bisschen mehr, als sie zu 13

gab. Vielleicht hätten wir einander besser kennen lernen 14

müssen, vielleicht reichte es aber auch, dass wir nun den 15

gleichen Weg hatten. Ich wusste es nicht, auch wenn ich es 16

gerne tun würde. Dann könnte ich sie wenigstens darum 17

bitten, für Kay zu sorgen. Und für Mathieu. Dass ihnen 18

nichts passierte. Aber dafür war es nun zu spät, als ich 19

mich vor dem Schreibtisch jenes Monsters wieder fand, das 20

sich Sir Maurice Anthony Scott nannte. 21

„Nummer 448! Was für eine Überraschung!“ Der Sprecher 22

breitete mit gespielter Freude die Arme aus, wobei er auf 23

mich zu stolzierte, als wären wir alte Freunde, die einander 24

zufällig wieder gefunden hatten. Dabei musterte er mich mit 25

einem Blick, den ich wohl nie vergessen würde. Ein Blick, 26

der vielleicht Neugier zeigte, vielleicht auch so etwas wie 27

Zufriedenheit. Aber gleich, welche Gefühle es auch sein 28

mochten, in diesem Blick. Sie waren kalt, eingefroren, 29

gefangen hinter einer undurchdringbaren Eisschicht. Nicht 30

245

einmal der bunte Überwurf, wie er meist bei afrikanischen 1

Festen getragen wurde, ließ sie schmelzen. 2

Um diesem vernichtenden Blick auszuweichen, ließ ich 3

meinen eigenen durch das Zimmer schweifen. Auch wenn ich 4

mich noch genau an die Einrichtung, die Farben, erinnern 5

konnte, bewunderte ich den Architekten. Dieser Raum könnte 6

direkt aus den Seiten eines teuren Lifestyle-Magazins 7

stammen. Alles perfekt. Die gleichen Farbtöne. Die Nippes 8

waren Millimeter genau voneinander aufgereiht. Die Gemälde 9

brachte alles in einen seltsam harmonischen Einklang. Kein 10

Staub und selbst das Sonnenlicht, welches durch das Fenster 11

einfiel, wirkte fast künstlich, so als sei es nur da, um 12

alles, was es streifte, in noch besserem Licht erscheinen zu 13

lassen. 14

Mit einer Handbewegung gestikulierte Scott mir, auf einem 15

der beiden Ledersessel Platz zu nehmen, während er mich 16

höflichem Interesse fragte, wie es mir ginge. Dabei faltete 17

er die Hände aufmerksam auf dem Tisch. 18

Ich erwiderte nichts auf diese Anspielung. Obwohl ich 19

nicht wusste, weshalb ich hier saß, ahnte ich, dass sich 20

hinter der freundlichen Fassade eine Falle verbarg. 21

„Dein Hals scheint trocken. Möchtest du etwas trinken? 22

Eine Cola vielleicht? Auch wenn ich dieses Zeug ungesund 23

finde, aber nun gut. Ich gönne jedem den Erfolg dieser 24

sinnlosen Erfindung.“ 25

Als ich erneut schwieg, zuckte der Sir mit den Achseln, 26

wobei er einen scheinbar unter dem Tisch versteckten Knopf 27

betätigte, woraufhin sich der Kühlschrank öffnete, eine Dose 28

auf einem hinter einer Leiste versteckten Band zu uns 29

246

herüberrollte und von einem weiteren auf die Oberfläche 1

befördert wurde. 2

„Eine sinnvolle Erfindung, findest du nicht auch?“, 3

erklärte der Meister stolz, wobei er zischend die Dose 4

öffnete und mir in einem ebenfalls herbei gerollten Glas den 5

Inhalt exakt bis zu der 200 Milliliter-Markierung einfüllte 6

und sich mit einem Lächeln auf den Lippen nach Strohhalm und 7

Eiswürfeln erkundigte. 8

„Kommen wir zum Wesentlichen: Möchtest du mir nicht etwas 9

erzählen, mein junger Freund? Ich bin für all deine Probleme 10

offen. Du kannst mir dein Herz ausschütten, wenn du diesen 11

Drang verspürst. Ich werde dir bis zum Ende zu hören.“ 12

Etwas Gefährliches lag in seiner Stimme, etwas das mich 13

zögern ließ. Gleich, wie ich reagieren würde, der Mann war 14

mir wieder einmal haushoch überlegen. Wenn ich schwieg, 15

würde er einen seiner Gorillas bestellen, der mich 16

ausquetschte wie eine Orange. Aber selbst wenn den Mund 17

aufmachte… Das Ergebnis wäre in jenem Fall dasselbe. 18

„Nein, Sir, ich wüsste nicht, was.“ Dies entsprach der 19

Wahrheit. Ich ahnte tatsächlich bis zu diesem Zeitpunkt 20

nicht, weshalb er mich zu sich befohlen hatte. 21

„Nun gut. Ich will dir auf die Sprünge helfen.“ Seine 22

rechte Hand langte nach einer Akte unter dem Tisch, die er 23

auf den Tisch schlug. Papas Akte… Die Akte, die ich in 24

seinem Arbeitszimmer gefunden hatte! Meine Gedanken 25

überschlugen sich und mir fiel es sichtlich schwer, den 26

Blick von ihr abzuwenden. 27

„Ich schätze, du kennst den Inhalt ebenso gut wie ich, 28

Nummer 448.“, fügte der Meister triumphierend hinzu. Seine 29

Finger glitten über jede Seite, bis sie auf der letzten 30

247

angelangten. „Dein Vater war wahrlich ein ordentlicher Mann. 1

Wahrlich intelligent.“ 2

„Intelligenter als Sie? Ist das der Grund, weshalb Sie ihn 3

mir weggenommen haben?“ 4

Nun da der Mann schon herausgefunden hatte, dass ich in 5

das Arbeitszimmer eingebrochen und die Akte gelesen habe, 6

wäre es ohnehin zu spät gewesen, es zu verleumden. 7

Scott betrachte mich von oben bis unten. „Lass uns ein 8

Spiel spielen. Ein sehr, sehr einfaches Spiel. Du 9

beantwortest all meine Fragen und ich all deine, 10

einverstanden?“, schlug er vor, ohne auf meine Frage 11

einzugehen, „Und ich an deiner Stelle würde mir überlegen, 12

ob ich lügen würde. Denn…“ Sein Zeigefinger berührte kurz 13

einen weiteren Knopf, der dem einer Klingel glich. Zu meinem 14

Entsetzten öffnete sich augenblicklich eine Tür, aus dessen 15

Rahm ein fluchender Afrikaner auf den Boden gestoßen wurde. 16

Den kahl rasierten Kopf anhoben starrte er mich durch seine 17

blutunterlaufenen Augen für einige Sekunden unentwegt an. 18

„Ihr kennt euch, wie ich sehe?“ Scott erhob sich, um den 19

Mann mit einem Fußtritt gegen die Schläfe auf den Rücken zu 20

drängen. Ohne zu zögern, sprang ich ebenfalls auf, um meinem 21

Freund zur Hilfe zu eilen. Ich konnte ihn doch nicht einfach 22

im Stich lassen! Doch weit kam ich nicht. Eiserne Hände 23

zerrten mich von dem Meister weg. Ich schrie, versuchte 24

verzweifelt, mich loszureißen. Sinnlos. Aus dem Augenwinkel 25

bemerkte ich einen Stofffetzen, der sich langsam über meinen 26

Mund legte. Mir wurde übel. Der Schrei wurde in meiner Kehle 27

erdrückt. Meine Kräfte ließen nach. Nein, Sie…! Im Begriff, 28

das Bewusstsein zu verlieren, ließ ich den Kopf blitzartig 29

herumschnellen, wobei ich den Angreifer hart am Kinnhaken 30

248

traf. Der Gorilla taumelte. Für einige Sekunden war ich fei. 1

Aber was nun? Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen. 2

Maurice Scott, ein Tisch, die Coladose, Zarin… Alles 3

wirbelte durcheinander. Von links nach rechts, drehte sich. 4

Ruhig, Tim. Konzentrier dich! Nein, du kannst nicht. Meine 5

Lider flackerten. Du schaffst es… 6

Mein kleiner Aufstand war vollkommen töricht gewesen war, 7

aber zum Aufgeben war es noch zu früh. Dumpfe Schritte 8

erklangen auf dem Teppich. Ich konnte sie nicht ordnen. 9

Näherten sie sich von Norden, von Süden? Im Winkel meines 10

Blickfeldes nahm ich eine ruhige Bewegung war. Hektisch fuhr 11

ich herum. Zu spät. Zwei funkelnde Augen starrten mich 12

wutentbrannt an. Die Faust, die zu ihnen gehörte, schnellte 13

wie ein Geschoss hervor, versetzte mir einen 14

Handkantenschlag mitten ins Gesicht, sodass ich das Gefühl 15

hätte, ich wäre gegen eine Betonwand gelaufen. Ich spürte 16

jeden einzelnen Knochen. Weißes Licht blendete mich, 17

explodierte hinter meinen Augen. Dann brach ich zusammen. 18

249

11. Kapitel 1

„Los, mach die Augen auf, Nummer 448.“ 2

Ich hörte diese Worte wie auf weiter Ferne. Stöhnend hob 3

ich mein schmerzendes Gesicht von dem weichen Lederbezug der 4

Rückbank. Für einen kurzen Moment flammte in mir die 5

Hoffnung auf, endlich gerettet zu sein. Doch dann, als sich 6

die Gestalt auf dem Beifahrersitz zu mir umdrehte, erkannte 7

ich, dass meine Situation dieselbe war. Unverändert. 8

Lediglich der Ort war ein anderer: Ein Cabrio mit 9

verdunkelten Scheiben und Verdeck. Vorsichtig drückte ich 10

den Kopf in den Nacken, bis es knackte. Ich konnte von Glück 11

sagen, dass er noch dran war, selbst wenn er noch so zu 12

zerspringen drohte. 13

Langsam stürzte ich aus der Schwerelosigkeit des 14

Universums zurück auf die grelle, harte Erde. Der Aufprall 15

trieb mir kurz die Luft aus den Lungen, dann öffneten sich 16

die Poren wie winzige Tore und auf einmal fiel es mir 17

leicht, einen Atemzug zu tun, einen zweiten und auch noch 18

viele weitere. 19

Scott beobachte mich bei jeder meiner Bewegungen amüsiert. 20

„Du faszinierst mich. Das muss ich immer wieder zugeben.“ 21

Schmunzelnd reichte er mir einen Keks, den ich dankbar 22

annahm. Obwohl ich einige Zeit geschlafen haben musste, 23

verspürte ich dennoch ein plötzlich aufsteigendes 24

Hungergefühl. Gierig knabberte ich an dem selbstgebackenen, 25

mit Orangenmarmelade gefüllten Gebäck, stopfte es mir 26

schließlich in den Mund und langte nach einem weiteren, 27

diesmal in Form einer Schnecke, mit Schokostreuseln 28

verziert. Als meine Zähne aufeinander prallten und ich mich 29

250

an den übrigen Krümeln verschluckte, drang mir ruckartig ins 1

Bewusstsein, dass es sich hierbei nicht um einen Ausflug 2

handelte. Sofern es meine missgünstige Lage zuließ, hob ich 3

den Kopf, um ausmachen zu können, wo wir uns befanden. 4

Wir mussten bereits ein ganzes Stück gefahren sein. 5

Vermutlich in die entgegen gesetzte Richtung. Das blutrote 6

Abendlicht ergoss sich über dem schlammigen, uneben 7

asphaltierten Weg, der scherzhafter Weise als Landstraße 8

bezeichnet wurden. An dessen grob gekennzeichnetem 9

Fahrbahnrand erstreckte sich zu beiden Seiten der Wald. 10

Zeitweise auch hoch über dem Verdeck, sodass es den Eindruck 11

verschiedener, kleinerer Lichttunnel erweckte. 12

„Du magst dich sicher fragen, wo wir sind.“ Scott ergriff 13

derart unerwartet das Wort, dass ich zusammenzuckte. „Ich 14

will es dir sagen, mein Junge. Wir befinden uns im 15

südlicheren Teil des Forstes, exakt achtzehneinhalb 16

Kilometer von meinem Anliegen entfernt und weitere 17

siebenundzwanzig von dem nächstgrößeren Dorf. Dich 18

verunsichert unsere Spazierfahrt wahrscheinlich. Ich 19

jedenfalls würde dir dies nicht verübeln.“ Er lachte 20

versuchsweise, aber es klang kalt und emotionslos, während 21

er dem Fahrer mit einem knappen Handzeichen verdeutlichte, 22

unmittelbar vor der Kurve zu halten. 23

„Wieso bringen Sie mich hierher?“ Was mochte dem 24

Meister gerade an dieser Stelle liegen? Bäume, soweit das 25

Auge reicht, nur mäßiger Verkehr… Allmählich näherte sich 26

der Finger dem Lichtschalter. Die Glühbirne flackerte kurz, 27

dann begann sie grell aufzuleuchten. Doch die Gedanken am 28

Horizont der Dämmerung jagten mir einen Schauer über den 29

Rücken. 30

251

„Steig aus!“, befahl Scott barsch, wobei er den 1

Sicherheitsgurt löst. Langsam setzte ich mich auf, rieb mir 2

behutsam mit den Fingern über die pochende Schläfe. Ich 3

wollte nicht aussteigen. Unter gar keinen Umständen! Wenn 4

ich das Auto verließ, könnte der Mann mich sofort töten, 5

noch ehe ich überhaupt registriert hätte, was geschehen war. 6

Würde er es hier drinnen tun, müsse er anschließend das Blut 7

von den Sitzen scheuern. Sicherlich eklig, die ganzen 8

winzigen, rotbraunen Flecken. Na, wenigstens würden sie sich 9

dann einmal ernsthafte Sorge um dich machen, dachte ich 10

verbitterte. Von außen wurde die Tür aufgerissen, das 11

Verdeck zurück gefahren, sodass ich dem völlig ausgeliefert 12

war. Okay, soviel zu deinem Plan… Widerwillig kletterte ich 13

daher aus dem Cabrio, als ich erstaunt ein weiteres Fahrzeug 14

bemerkte, welches ebenfalls am Straßenrand parkte: Ein 15

Kleinlaster mit ausgebeulten Türen, einem zersprungen 16

Spiegel, verdreckten Scheiben. Der Fahrer, ein 17

Dunkelhäufiger mit verfilztem Bart, sprang aus seiner 18

Kabine. Ihm folgte der Geruch von Zigarrenrauch und Schweiß, 19

der wohl noch drei Meilen entfernt zu riechen sein würde. 20

Faszinierend, wie der zweite Mann, der nun einen gefesselten 21

Dritten hervorzerrte und ihn neben sich über die Straße zu 22

uns herüberführte, diesen Gestank überleben konnte. Aber ich 23

schätzte, dies wäre mein wahrscheinlich kleinstes Problem. 24

Im Grunde stand ich schutzlos am Rand einer Kurve und wurde 25

von allen Seiten umzingelt. Hinter mir die Fahrzeuge, 26

rechts, wo man nun Zarin mit dem Rücken gegen die Rinde 27

presste, die Bäume, links das Stinktier und der gepflegte 28

Fahrer des Cabrio. Und vor mir, vor mir wurde die Sicht 29

durch einen durchtrainierten Oberkörper verdeckt, zu dem ich 30

252

nun gezwungen war, aufzusehen. Aussichtslos, meine Chancen 1

aus dieser Lage unbeschadet herauszukommen, standen gleich 2

null. Alleine zumindest. Hilfe suchend sah ich zu Zarin 3

herüber, der abweisend den Kopf schenke, als wolle er nicht 4

sehen, was nun geschah. Aber was, was wollte er verbergen? 5

Und warum? Was war passiert? Weshalb hatte man nun auch ihn 6

hierher gebracht? Oder besser, warum waren wir überhaupt 7

hier? Das ergab doch alles keinen Sinn. Den Meister kostete 8

es lediglich Zeit, Zarin womöglich sein linkes Augen. 9

„Wieso bringen Sie mich hierher?“, fragte ich deshalb ein 10

zweites Mal, während ich unruhig das Gewicht von einem Fuß 11

auf den anderen verlagerte. Mir missfiel diese Situation. 12

Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Etwas war faul und 13

es waren nicht die Zähne des Fahrers. Weshalb veranstaltete 14

Scott einen derartigen Aufstand, bloß, um mit dir einen 15

Ausflug in den Wald zu unternehmen? Wohl kaum, um die 16

Blätter der verschiedenen Pflanzen zu sammeln. All dies 17

stand in keinerlei Zusammenhang. Oder etwa doch? 18

„Sei nicht so ungeduldig.“, erwiderte der Sir, auf einen 19

Baum zu wandernd. „Siehst du diese Kratzer dort an der 20

Rinde?“ 21

Verwirrt kniff ich die Augen zusammen, mich ebenfalls der 22

bestimmte Pflanze nähernd, auf die er mit dem Zeigefinger 23

seiner rechten Hand deutete. Natürlich, sie waren kaum 24

übersehbar, vorausgesetzt man mochte nicht blind sein. 25

„Lackspuren. Kratzer. Zwar ein wenig verwischt, aber 26

dennoch deutlich sichtbare Kennzeichnungen eines Unfalls. 27

Vermutlich ist der Fahrer bei zu hoher Geschwindigkeit in 28

dieser Kurve ins Schleudern geraten und frontal mit diesem 29

Baum zusammengestoßen. Den Verletzungen der Rinde zur Folge 30

253

musste der Mann oder die Frau kaum Überlebenschancen gehabt 1

haben. Vor allem, da man hier draußen niemanden findet.“ 2

Papa! Keinen Sicherheitsgurt angelegt. Die Kontrolle über 3

den Wagen verloren. Konnte dem sich rasend nähernden Baum 4

nicht mehr ausweichen. Zu spät. Hier also, hier ist Papa… 5

Nein! Nein, ich wollte den Gedanken nicht zu Ende führen. 6

Nein. Niemals. Papa lebt. Bestimmt hat der den Unfall 7

genutzt, um unterzutauchen, und wollte mich später holen. 8

Ja, genau so musste es sein. Er ist schließlich ein Held und 9

Helden sterben nie. 10

Scott, der meine Gedanken gelesen haben zu schien, zuckte 11

mit den Achseln. „Dein Vater war auf der Stelle tot…“, 12

entgegnete er, ohne seinen Blick von der wilden Struktur der 13

Lackspuren zu lösen. Kurz rauschten lediglich die Blätter im 14

Wind, ansonsten war es ungewöhnlich still. Beinahe so, als 15

ob all das Leben aus diesem Ort gewichen war. Totenstille, 16

betroffenes Schweigen. Dann ein plötzliches Räuspern. „…aber 17

bereits vor dem Aufprall.“ 18

Der Meister sah mich unbeteiligt von der Seite an, um 19

meine Reaktion auf diese Worte abzuschätzen. Doch es gab 20

keine Reaktion, weil ich nicht verstand. Dein Vater war auf 21

der Stelle tot, aber bereits vor dem Aufprall. Wie sollte 22

ein Mensch… Wie sollte ein Mensch bei einem Autounfall 23

sterben, ohne dass es einen Autounfall gegeben hat? Sogar 24

jedes Baby wusste, dass ein Fahrzeug erst nach einen Crash 25

mit einem anderen kaputt sein würde. Jeden Sonntag konnte 26

man es bei der Formel 1 mitverfolgen. Im Fernsehen, im 27

wahren Leben auf den deutschen Straßen. Jeden Tag. Nun 28

stellte der Sir all das Logische in Frage, indem er das 29

Gegenteil behauptete. Dein Vater war auf der Stelle tot, 30

254

aber bereits vor dem Aufprall. Auf der Stelle tot vor dem 1

Aufprall. Ich fuhr mir mit der verschwitzten Hand über die 2

Stirn. Unmöglich. Völlig unmöglich. Papa vor dem Aufprall 3

tot. Ich habe dich tausende von Wegen sterben lassen, Papi. 4

Tausende Bilder, Skizzen habe ich gemalt. Immer nach dem 5

dasselbe Muster. Eine scharfe Kurve. Mal musstest du einem 6

Tier ausweichen, mal nahmst du einen letzten Schluck Kaffee 7

aus deiner Tasse. Jedes Mal habe ich in deine weit 8

aufgerissenen Augen gestarrt, Papa, jedes Mal bevor du 9

bemerktest, dass du sterben würdest. Jedes Mal habe ich 10

hilflos auf dem Rücksitz gekauert, habe dich warnen wollen. 11

Aber kein Mal, nicht ein einziges Mal, habe ich einen 12

Gedanken daran verschwendet, dass es ein anderes Bild sein 13

könnte, das ich zeichnen musste. 14

„Das hast du nicht gewusst, wie? Nun, ich denke, dein 15

Freund hat dir etwas verschwiegen.“ Scott stolzierte zu 16

Zarin herüber, presste ihm den Zeigefinger unters Kinn, 17

damit er aufsah, wobei er mit einem Kopfnicken befahl, die 18

Fesseln zu lösen. „Vielleicht solltest du ihn danach fragen. 19

Nur zu, ich erlaube es dir, mein Junge.“ 20

Entsetzt ließ ich meinen Blick zwischen den beiden Männer 21

hin und her wandern. Verständnislos. „Zarin?“ 22

Der Genannte hob traurig den Kopf, erwiderte jedoch 23

nichts. 24

„Was ist wahr? Was ist passiert? Was verschweigst du mir?“ 25

„Es tut mir Leid, Tim. Es tut mir so leid.“ Zarin strich 26

mir mit seiner dreckigen Hand über die Wange, doch ich stieß 27

ihn von mir. 28

„Was?“, fragte ich beinahe schreiend. 29

255

Scott lächelte, über den Stein, den er ins Rollen gebracht 1

hatte. „Los sag‟s ihm.“ 2

Sag‟s mir, Zarin. Bitte, sag„s mir… 3

Tief holte der Togolese Luft. Ein feuchtes Glitzern im 4

Augenwinkel. 5

„Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnern kannst. An den 6

Tag, an dem ihr in unserem Dorf um Aufenthalt betteltet. Ein 7

heißer Februartag. Es war kein Zufall, selbst wenn es dir 8

vielleicht so vorgekommen sein musste. Noch bevor ihr 9

überhaupt einen Fuß auf afrikanisches Land gesetzt hattet, 10

hat der Meister mir befohlen, euch ständig zu beobachten. 11

Wir trauten deinem Vater nicht. Nicht, dass er nicht ein 12

großartiger, intelligenter Mensch gewesen ist, der von 13

ungeheurer Wichtigkeit für die Zukunft von M.A.S war. Nein. 14

Aber wer wusste schon, welche Absichten er besaß? Ich 15

jedenfalls…“ Zarin machte eine Atempause. Es fiel ihm 16

sichtlich schwer, das Gesehene in Worte zu fassen. „Ich 17

hatte die Aufgabe, herauszufinden, wer er war, mit wem er in 18

Verbindung stand. Wie er die Gabel an den Mund führte. Ob er 19

Links- oder Rechtshänder war. Ob er irgendwelche Schwächen, 20

irgendwelche körperlichen oder geistigen Beschwerden hatte. 21

Diabetes, Allergien, Rückenschmerzen, abhängig vielleicht? 22

Das Letztere traf leider zu. Jeder Körper hat eine Schwäche, 23

weißt du. Sie liegt meist tief verborgen. Doch findet man 24

sie, ist es leicht, sie demjenigen zum Verhängnis zu 25

machen.“ 26

„Du bist also ein Spion? Wie James Bond?“ 27

„Sozusagen ja. Auch wenn ich James Bond nicht kenne.“ 28

Ich nickte langsam. Ein weiteres Puzzleteil rückte an 29

seinen Platz. Aber… „Aber, wenn du alles wusstest, warum 30

256

wusste der Meister, als er mich sah, nicht, dass Papa einen 1

Sohn gehabt hat?“ 2

Zarin lächelte. „Er hat mich nie danach gefragt.“ 3

„Ich hätte niemals damit gerechnet, dass River ein Kind in 4

die Welt gesetzt hatte.“ Scott, der auf einem für ihn 5

aufgestellten Klappstuhl Platz genommen hatte, erhob sich 6

nun. „Bis du vor mir hocktest.“ Mit der Hand wedelnd, um die 7

Moskitos zu vertreiben, signalisierte er dem Afrikaner, dass 8

dieser weiter zu sprechen hatte. 9

„Dein Vater hat zunächst von dieser Beschattung nichts 10

bemerkt. Alles lief nach Plan. Dann dieses… dieses 11

Missgeschick…“ Hoffnungsvoll warf er Scott einen flehenden 12

Blick zu, damit er die Geschichte zu Ende erzählte, aber 13

dieser wich mit einem Kopfschütteln aus. „Irgendwie musste 14

River dahinter gekommen sein. Meine Deckung flog auf. Ich 15

hatte versagt. Dafür, für diesen Fehler, sollte ich… sollte 16

ich an ein Forschungsinstitut verkauft werden. Dein Vater 17

selbst leitete diesen ‚Handel‟. Zuverlässig, skrupellos. 18

Perfekt im Dunkeln. Aber, als er erkannte, wen er an diesem 19

Tag, dem 25. Mai, zum Schlachter führte, welches arme 20

Schwein, verweigerte er den Befehl. Wie dumm von ihm. Das 21

kommt einem Verrat gleich. Und bei Verrat…“ 22

„Im Falle eines Verrates durch den eigenen Willen wird 23

diese Ernennung unwirksam und der Ankläger kann je nach Tat 24

mit dem Tode oder der vollständigen Ausschließung bestraft 25

werden.“ Diese Zeilen des Vertrages tauchten plötzlich in 26

meinen Gedanken auf. 27

„Sehr gut, Nummer 448.“ Begeistert klatsche der Meister in 28

die Hände. „Ein Jammer, das er das Kleingedruckte nicht 29

257

gelesen hatte, bevor der dieses Bündnis mit Kamikaze 1

einging.“ 2

Dein Vater war auf der Stelle tot, aber bereits vor dem 3

Aufprall… und sein Mörder war nicht die Kurve gewesen, 4

sondern… „Sie haben ihn getötet! Sie haben mir meinen Vater 5

genommen!“ 6

Ich hatte es gespürt, lange bevor es in greifbare Nähe 7

rückte. Unbewusst trug ich dieses grausame Geheimnis in 8

meinem Herzen. Wie eine tickende Bombe, eine Sanduhr. In 9

gewisser Weise schockierte mich die Wahrheit nicht. Papa war 10

ermordet worden. Ermordet, wie sonst nur die fremden 11

Menschen bei einem Tatort oder einem Fernsehkrimi. So 12

manches Kind wäre sicherlich an meiner Stelle 13

zusammengebrochen - doch ich konnte nicht. Meine Gedanken 14

waren leer, völlig kalt. Papa… 15

„Nein, ich habe ihn nicht umgebracht.“, entgegnete Sir 16

Scott, abwehrend die Hände gehoben. „Das hat er selbst 17

gemacht, indem er diesem Mann…“ Er deutete auf Zarin. „Indem 18

er diesem Mann das Leben schenkte.“ 19

Ein überladener Bus näherte sich von Süden der Kurve. 20

Hupend grüßte der Fahrer und auch die anderen Insassen 21

winkten, überrascht, hier Menschen anzutreffen. Scotts 22

Wächter ihrerseits gestikulierten dem nun langsam werdenden 23

Transporter, dass dieser sich nicht weiter um sie scheren 24

sollte. Alles sei in bester Ordnung. Nein! Von einem inneren 25

Zwang getrieben wollte ich auf die willkommene Hilfe zu 26

stürzen. Aber damit hatte der Meister gerechnet. Unauffällig 27

stellte er sich hinter mich, um mir drohend ins Ohr 28

flüstern, dass ich auf der Stelle tot sein würde, riskiere 29

ich auch nur den vagen Versuch, zu fliehen. Ich nickte 30

258

seufzend. Es hätte keinen Sinn. Der Mann wäre tatsächlich zu 1

allem fähig. Und wenn ich die Businsassen mit einbezöge, 2

würde ich ihre Sicherheit ebenfalls gefährden. So musste ich 3

widerwillig zu sehen, wie der Fahrer ein letztes Mal hupte 4

und schließlich seinen Weg fortsetzte. 5

Als der Bus beinahe am Horizont verschwunden war, wandte 6

sich Scott uns lächelnd zu: „Das war es dann wohl, schätze 7

ich. Sieh es ein, mein Junge, du bist dazu verdammt, alleine 8

zu sein. Für immer. Ich weiß, wie das es ist. Es ist kein 9

schönes Gefühl, sicher. Stell dir vor, es kann nur einen 10

treffen. Aber es wird einen treffen. Und dieser eine bist 11

du.“ 12

„Das gilt vielleicht für Sie. Ich bin nicht alleine. Ich 13

habe Freunde.“, erwiderte ich bestimmt. Kay. Tess und ihre 14

Tanzlehrerin. Jabali, der Wächter. Reni. Keenan, die anderen 15

Dorfbewohner. Mathieu, vielleicht. Und Zarin. Sie alle waren 16

in Gedanken immer bei mir. Immer. Ermutigten mich, gaben mir 17

Kraft. Immer. Sie beschützten mich. Vor allem Mama und Papa, 18

wenn er nicht im Himmel dort oben ebenfalls etwas Wichtiges 19

zu tun hatte. 20

„So? Wo denn? Tolle Freunde, die einen verraten, findest 21

du nicht auch?“ 22

„Nur weil man Sie im Stich gelassen hat, heißt das nicht, 23

dass es für mich auch zu trifft!“ 24

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Nummer 255 möchten Sie 25

dem Jungen nicht sagen, wie sein Papi gestorben ist?“ 26

Erschrocken fuhr Zarin zusammen. „Ich…“, stotterte er, den 27

Rücken gegen den Baum gepresst. „Ich… Ich kann nicht.“ Sein 28

linkes Auge zuckte. Tränenflüssigkeit, gemischt mit Blut, 29

bildete darüber eine winzige Nebelschicht. 30

259

„Wie? Was haben Sie gesagt? Ich habe es nicht verstanden.“ 1

„Ich kann nicht.“ 2

„Natürlich, natürlich. Ich könnte einem Kind auch nicht 3

erzählen, dass ich seinen Vater umgebracht hätte.“ 4

„Was?!“, brach es lautlos aus mir heraus. „Du?!“ 5

„Man ließ mir keine andere Wahl.“ 6

Getroffen sank ich auf die Knie, die Hände im Gras 7

verkrampft, um nicht zu weinen. Zarin hat Papa… Nein… Wie 8

konnte Zarin so etwas nur tun? Dein Freund, der dich vor dem 9

Meister, vor der bösen Welt dort draußen, hat warnen wollen. 10

Wie konnte man so tun, als ob all dies nie geschehen wäre? 11

Hatte er Papa erschossen, erstickt? Deinen Papa. Bitte, Tim, 12

bitte wach aus diesem Albtraum auf. 13

„Es tut mir Leid, Tim. Ich habe es nicht gewollt.“ 14

„Du hast mir meinen Vater gestohlen! Meinen Vater!“ 15

„Es tut mir Leid.“ 16

„Davon kann ich Papa auch nicht zurückholen. Die Engel, 17

die haben ihn. Denen hast du ihn geschenkt. Und geschenkt 18

ist geschenkt.“ 19

Tief atmete ich durch. Ich hatte nur noch eine Frage. Eine 20

Einzige. Ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich wissen 21

wollte, aber… „Wie ist Papa gestorben?“ 22

„Es ging alles sehr schnell. Ich bin mir sicher, er hat es 23

kaum gespürt.“ Aufgewühlt kratzte Zarin über seinen Arm. 24

Innerlich wie äußerlich erlebte er dieses schreckliche 25

Ereignis ein zweites Mal durch. „Dein Vater hat mich laufen 26

gelassen. In der Nähe von Kpalimé. Ich weiß noch, wie er zu 27

mir sagte, ich solle mich verstecken. Jemanden anrufen. Er… 28

Er würde sich darum kümmern, dass niemand je erfuhr, was 29

geschehen sei. Dann war er weg, wohin sagte er nicht. 30

260

Einfach weg. Und ich? Ich streunte immer noch schockiert, 1

ziellos, über den Markt, über die Straßen. Vermutlich hatte 2

ich Glück, dass mich dabei kein Bus erwischt… Oder Pech. 3

Jedenfalls fand ich ein Internetcafé. Dasselbe, indem ich 4

dich getroffen habe. Sah das Telefon auf dem Tresen und 5

wählte - die erste Nummer, die mir einfiel.“ Er schluckte, 6

japste nach Luft. „Es war die von dem Meister. Und als ich 7

mir dessen bewusst wurde, war es bereits zu spät. Natürlich 8

ahnte man in der Villa sofort, dass die Übergabe gescheitert 9

sein musste. Schließlich wäre ich andernfalls niemals dazu 10

in der Lage gewesen, zu telefonieren. Damit habe ich selbst 11

das Todesurteil des Menschen unterzeichnet, der mir das 12

Leben gerettet hatte. Aber… Aber es wurde noch schlimmer. 13

Sie fanden mich schreiend gegen eine Häuserwand gepresst. 14

Ich dachte, jetzt sei es aus. Jetzt töteten sie dich doch, 15

Zarin. Doch seltsamerweise behandelte man mich wie einen 16

Helden. Damals habe ich dies nicht verstanden. Ich war 17

schließlich ein geflohener Versager. Ein Niemand. Nun aber, 18

als sie mich in dem Kleinlaster zurück zu dem Anliegen 19

brachten, feierte man mich. Wieso, fragte ich mich, wieso. 20

Erst hinterher wurde es mir klar. Ich hatte einen Aufgabe: 21

Ich sollte deinen Vater töten, den größeren Verräter von uns 22

beiden. Anfangs weigerte ich mich gegen diesen Befehl, doch, 23

als sie mir damit drohte, mich zu ertränken, willigte ich 24

ein. Ich weiß, Tim, du hältst mich für einen Feigling. Und 25

der bin ich auch. Aber ich hatte Angst, verstehst du? Ich 26

hatte Angst, zu sterben, wie Ismen, meine Frau. Ich war noch 27

nicht bereit dafür. Und so… So stellte ich deinem Vater eine 28

Falle. Hier, hier in dieser Kurve. Wir wussten, River würde 29

dort vorbeikommen, wenn er in Lomé untertauchen wollte. So 30

261

wartete ich. Zehn Minuten, zwanzig, vielleicht auch länger. 1

Ich habe jedes Gefühl von Zeit verloren, überhaupt spürte 2

ich weder Schmerz noch Trauer. Nichts, nur die Kälte, die 3

spüre ich.“ Seine Hände zitterten merklich. „Noch heute, 4

wenn ich daran zurückdenken“, fügte er hinzu, bevor er im 5

Flüsterton weiter sprach. „Siehst du das Dickicht dort 6

drüber? Dort habe ich gelegen, versteckt, lauernd. Alleine. 7

Nur die beiden Messer in meinen tauben Händen. Wie Freunde 8

umklammerte ich sie. Es musste gegen Abend gewesen sein. Ja, 9

in der Dämmerung des 25. Mais. Das Cabrio deines Vaters 10

schoss heran. Ich sah ihn, deinen Papa, jedes einzelne Haar, 11

die kleine Falter auf seiner Stirn. Beinahe mechanisch hob 12

ich die rechte Hand. Nein, ich konnte nicht. Nicht werfen, 13

dachte ich noch, auf gar keinen Fall, als sich plötzlich 14

meine Finger um die beiden Messer lösten. Zu spät. Das Erste 15

bohrte sich in den Hals, das Zweite grub sich in den linken, 16

hinteren Reifen, sodass das Auto ins Schleudern geriet und… 17

und gegen den Baum stieß. Gesehen habe ich es nicht. Ich 18

konnte nicht. Wollte nicht sehen, was ich getan hatte. Ich 19

habe einen Menschen getötet. Einen Mann mit einem kleinen 20

Kind. Gehört habe ich lediglich diesen dumpfen, 21

entsetzlichen Schrei, dann den lauten Zusammenprall wie 22

einen Donner. Und dann… dann ganz plötzlich nichts mehr. 23

Stille, unheimlich Stille. Tot, vermutlich war dies das 24

richtige Wort dafür. So jedenfalls fühlte ich mich. T-o-t. 25

In gewisser Weise bin ich in dem Moment gestorben, als das 26

Messer aus dem Dickicht auf mich zu schoss. In Gedanken war 27

ich der Fahrer gewesen und nicht dein Vater. So wäre es 28

gerecht. Erst, als sich die Nacht über den Tag senkte, wie 29

ein schwarzes Leichentuch mit vielen, funkelnden Sternchen, 30

262

traute ich mich, in den Spiegel zu sehen, indem ich… indem 1

ich von mir selber aus dem Fahrzeug gezogen und ins Gras 2

gebetet wurde. Überall Blut, auch an meinen Fingern, meinem 3

ganzen Körper. Was in den folgenden Stunden passierte, weiß 4

ich nicht mehr. Irgendwann so gegen Mitternacht tauchte ein 5

Polizist auf, daran erinnerte ich mich noch. An seinen 6

lustigen Schnurbart.“ Zarin lächelte versuchsweise. „ Dem 7

habe ich erzählt, der Mann neben mir hätte einen Autounfall 8

gehabt - das wonach es den Anschein erweckte. Keine Fragen. 9

Freilich glaubte er mir und so fuhr er fort, um auf meine 10

Bitte hin die traurige Nachricht im Dorf zu verkünden. Es 11

war das Letzte, was ich tun konnte. Kurz habe ich dabei auch 12

an dich gedacht. An Rivers kleinen Sohn, dem ich den Vater 13

genommen hatte… Tim, ich weiß, du glaubst mir nicht. Aber 14

ich habe in jener Nacht geschworen, dass ich auf dich 15

aufpassen werde. Heimlich. Ich war dabei, als du Kay vor den 16

Hyänen rettetest. Das war mutig von dir. Rührend. Ich war 17

stolz auf dich, stolz wie auf ein eigenes Kind. Für eine 18

Weile habe ich durch dich dieses Erlebnis verdrängt - bis 19

ich eines Morgens feststellte, dass du mit Mathieu geflohen 20

warst. An jenem Morgen, an dem ich dich sicher nach 21

Deutschland zurückbringen wollte. Ganz, wie ich es deinem 22

Vater versprochen habe. Zunächst habe ich all dies nicht für 23

möglich gehalten. Warum sollten zwei kleine Jungen von zu 24

Hause weglaufen? Doch, als ich dich dann später in Kpalimé 25

wieder fand und erkannte, dass du Rivers Email geöffnet 26

hast… Ich habe versucht, dich aufzuhalten, aber bevor ich 27

reagieren konnte, war es zu spät. Zum zweiten Mal in meinem 28

Leben zu spät. Du bist den Spuren deines Papas gefolgt. Bis 29

hierher, Tim.“ 30

263

Schweigen. Es gab nichts mehr zu sagen. Die Geschichte war 1

erzählt. Die Geschichte meines Papas, eines Helden. Jedes 2

Wort, jeder Tonfall, jedes Bild, welches dabei in meinem 3

Kopf entstanden war, brannte sich in mein Gedächtnis. In 4

gewisser Weise betete ich, dass es sich bei dem tatsächlich 5

um eine Lüge handelte. Dass Zarin plötzlich losprusten würde 6

und mit einem jodelnden Applaus, Papa auf die Bühne bat. 7

Aber dem war nicht so. Dem sollte nie so sein, nie mehr. 8

Vielleicht ist es Schicksal, bestimmt ist es die Wahrheit. 9

Du bist alleine, Tim. Für immer alleine. Alleine in diesem 10

dunklen, verlassenen Erdloch, fern ab deiner Heimat, fern ab 11

deines Hauses mit den alten Holzstufen, die jeden Abend beim 12

Zubettgehen wie die Rasseln eines Gespenstes knirschten, 13

oder der Küche, aus der es immer so gut gerochen hatte, wenn 14

Mama lachend den Kochlöffel im Kreis führte und dir ein 15

Kinderlied vorsang, wobei du auf dem Spielteppich neben der 16

Sitzbank knietest und mit die Autos und Legomännchen durch 17

die Landschaft fuhrst. Manchmal, wenn Papa gut gelaunt war, 18

trugt ihr auch ein Rennen auf den Stoffstraßen aus. Diese 19

Zeit würde nie wieder zurückkommen. 20

Ich zitterte. Ein Zucken durchfuhr meinen Körper. Tränen 21

liefen mir über die Wangen, blutige Tränen. Ich wollte 22

aufstehen, vergessen, weglaufen vor mir, vor dem gesamten 23

Universum. Doch ich konnte nicht. Wohin auch? In den Urwald 24

hinein vielleicht, wenn ich es schaffte… was bei den 25

Aasgeieraugen geradezu unmöglich schien? Zögernd hob ich den 26

Kopf ein Stück, wobei sich Zarins und mein Blick kurz 27

trafen. Der Afrikaner zwang sich ein müdes Lächeln auf, 28

obwohl er ebenso wie ich wusste, dass kein Lächeln dieser 29

264

Welt das wieder gut machen konnte, was er mir angetan hatte. 1

Du hast mir Papa genommen. 2

Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegen, schloss ihn 3

jedoch wieder. In der Ferne donnerte es und die ersten 4

Tropfen prasselten auf meine Schultern. Sehr bald würde ein 5

Gewitter losbrechen. Scott, der die Hände in den Himmel 6

gehoben hatte, als könne er so die Wolken teilen, 7

gestikulierte seinen Wächtern, uns zu fesseln und zu den 8

Fahrzeugen zu führen, gereizt, dass etwas nicht nach seinen 9

Vorstellungen verlief. Niedergeschlagen kroch ich auf allen 10

Vieren rückwärts, den Blick nicht von den sich bedrohlich 11

nähernden Männern abwendend. Lasst mich in Ruhe! 12

Verschwindet! Zarin, der mich immer noch ansah, rührte sich 13

nicht. Lediglich seine aufgeplatzten Lippen formten ein 14

„Vergib mir.“ Ein Gemisch aus Blut und Wasser lief in seinen 15

Mund. Blitze jagten über den nachtschwarzen Himmel. Bäume 16

bogen sich im aufkommenden Wind. Die warmen Tropfen schoss 17

wie die Kugeln einer Pistole auf uns herab. Schützend hielt 18

ich mir die Hand vor Augen. die Beine nahe an meinen Körper 19

heranziehend. Vielleicht wäre es besser, freiwillig 20

aufzugeben. Sowie Zarin, der die Hände hob. Er hatte 21

versagt. Zum zweiten Mal. Mit eisernem Griff wollte einer 22

der Gorillas mich hoch zerren. Ich wehrte mich nicht, 23

kauerte mich nur wie ein kleines Tier zusammen. Es wäre 24

ohnehin sinnlos gewesen, Widerstand zu leisten. Der Mann war 25

größer und um einiges stärker als ich. Dennoch hielt er 26

plötzlich inne. Entsetzt schoss sein Kopf herum. Ich folgte 27

seinem Blick verwundert. Obwohl die Sicht verschwommen war, 28

konnte ich eine Gestalt ausmachen, die sich auf eine weitere 29

Abgewandte stürzte. Zarin! Ein Schrei. Donnergrollen. Ohne 30

265

mich länger zu beachten, rannte der Wächter seinem Meister 1

zur Hilfe. Erschrocken rappelte ich mich auf, beobachtete 2

den ungleichen Kampf. Die drei Gorillas schlugen auf den nun 3

am Boden liegenden Afrikaner ein. Traten ihm gegen den Kopf, 4

in den Bauch. Scott seinerseits presste sich die Hand auf 5

die Stirn, humpelte fluchend davon. Zarin, nein! Ihr tut ihm 6

weh! Ich wollte ihn verteidigen - gleich was er getan hat, 7

gleich, ob er mir den Vater genommen hat - aber meine Beine 8

gehorchten mir nicht mehr. Verdammt, lasst mich zu ihm! Seht 9

ihr nicht, dass sie ihn totschlagen?! Anstatt nachzugeben, 10

trugen sie mich in die andere Richtung davon. Immer 11

schneller, immer weiter. Braun, dunkelgrün, schwarz. Nur 12

grobe Farbtupfer in Mitten einer endlosen Landschaft. Im 13

Lauf sprang ich über eine Wurzel, stolperte, fiel ins Laub. 14

Mein Herz drohte, meinen Brustkorb zu zerreißen. Mit 15

ausgestreckte Armen lag ich da, den Kopf zur Seite gedreht, 16

um Atem zu schöpfen. Der Ekel erregende Geschmack von Blut 17

füllte meinen Mundraum und, als ich die Lippen öffnete, 18

sprudelte das Rot hinaus, verfärbte den Boden neben mir. Es 19

donnerte noch, ansonsten war es still. Von Zarin und den 20

Männern war nichts mehr zu hören. Kein Schrei, keine dumpfen 21

Schläge. Ob die Engeln auch ihn bereits geholt hatten? Oder 22

kämpfte er noch dagegen an, wovor er die ganze Zeit über 23

Angst gehabt hat? Immer noch auf dem Bauch liegend faltete 24

ich die zitternden Hände zum Gebet. Lieber Gott, wie viele 25

meiner Freunde möchtest du noch zu dir holen, um mich 26

endlich zum Schweigen zu bringen? Zarin war kein guter 27

Mensch, schätze ich. Er hat Papa ermordet und derjenige, der 28

mordet, verstößt gegen eines der zehn Gebote. Aber das 29

konnte er nicht wissen! Er glaubt an einen anderen Gott. Und 30

266

außerdem, du dort oben im Himmel, hätte ich ihm verziehen. 1

Nun ist es zu spät. Deinetwegen. Nun wird auch er bald an 2

dein Tor klopfen. Bitte lass ihn herein. Hier unten ist es 3

kalt und er hat es nicht verdient, zu frieren. Bitte, lieber 4

Gott, wenn es dich wirklich geben sollte als den gerechten 5

Herrscher, bitte… 6

Wie ein Soldat robbte ich ein Stück durch das Laub, den 7

Blick bei jedem Meter prüfend umherschweifen lassend. Vor 8

Scotts Männern wäre ich erst einmal sicher. Vermutlich haben 9

sie noch nicht bemerkt, dass ich geflohen war, so sehr 10

mochten sie mit dem Verarzten ihres heiligen Meisters und 11

dem Fortschaffen des leblosen Körpers beschäftigt sein. 12

Hoffte ich jedenfalls. Und selbst wenn sie es bemerkten, 13

würden sie Zeit brauchen, um den Wald zu durchforsten, wozu 14

sie frühestens in den Morgenstunden aufbrechen konnten, denn 15

sogar der Sir musste einsehen, dass es geradezu unmöglich 16

wäre, einen Jungen bei Dunkelheit im dichten Unterholz 17

aufzuspüren - vorausgesetzt, er wollte nicht mit Flutlicht 18

und Helikoptern nach mir suchen lassen. Seufzend rappelte 19

ich mich auf. Dieser Urwald war das reinste Chaos, schlimmer 20

als jedes Maislabyrinth und viel schlimmer als aus der Sicht 21

eines Playmobilkindes in meiner Spielkiste. Wenn ich mich 22

hier verlief, würde ich nie wieder zurückfinden. Das wäre 23

das Schrecklichste, was ich mir vorstellen konnte. Nur einen 24

falschen Schritt… Ich wollte es mir nicht ausmalen. Doch 25

welcher Weg war der richtige? Oder besser, wohin wollte ich 26

eigentlich? Der Wald war riesig, endlos groß. Also… wohin? 27

Weg, einfach nur weg von der Straße, schoss es mir durch den 28

Kopf, weg von Scott, ganz, ganz weit weg. Zögernd lief ich 29

los, immer wieder einen Blick über die Schulter 30

267

zurückwerfend. Der Dschungel Afrikas hatte mich bereits wie 1

eine Tablette im Mund verschluckt. Turmhohe Bäume 2

umzingelten mich wie Zähne; dazwischen spannte sich die 3

schwüle Luft. Gelegentlich konnte man auch den Atem hören, 4

wenn ein Papagei kreischte oder ein Affe von Ast zu Ast 5

schwang. Moskitos, die meinen Schweiß gerochen haben musste, 6

summten vor meinem Gesicht. Hastig versuchte ich, nach ihnen 7

zu schlagen. Ohne Erfolg. Plötzlich berührte mich etwas 8

leicht am Rücken. Kaum vernehmbar, aber dennoch bewegte sich 9

etwas. Ich wusste es erst mit Sicherheit, dass da etwas war, 10

als es über meine Schulter und den Poloshirtkragen auf 11

meinen Nacken kroch - aber das war es bereits zu spät. 12

Vorsichtig drehte ich den Kopf zur Seite. Und dann sah ich 13

sie im äußersten Winkel meines Blickfeldes: Eine Spinne. Sie 14

hing seitlich an meinem Nacken, knapp unterhalb meines 15

Kiefers. Ich schluckte. Nicht, dass ich Angst vor diesen 16

Viechern gehabt hätte. Nein, es war etwas anderes, das mich 17

entsetzte: Die Tatsache, dass es sich bei dieser hier um 18

keine Hausspinnchen, sondern eine im afrikanischen Urwald, 19

handelte. Wie eine reife Orange auf haarigen Beinen, 20

schwarz, ohne Kopf, absolut hässlich, kletterte sie über 21

meine linke Gesichtshälfte. Augenblicklich versteifte sich 22

mein Hals, lediglich die Ader pochte wild. Ohne mir das Tier 23

genauer anzusehen, ahnte ich, dass ihr Gift tödlich war. Wie 24

so ziemlich alles auf diesem Kontinent. Panisch wollte ich 25

dieses eklige Ding mit der Hand weg schlagen. Vielleicht 26

hätte ich Glück. Doch wenn ich Pech hätte, wären zwei, 27

winzige, rote Punkte auf meiner Haut zu sehen sein, bisse 28

sie dabei zu. Schnell würde sich das Gift in meinem Körper 29

268

verteilen. Innerhalb einer Stunde geriete ich in Atemnot 1

und, 2

während ich taumelnd durch den Wald irrte, wären die 3

Krämpfe nicht auszuhalten. Irgendwann schliefe ich ein und 4

erwachte nie wieder - mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit. 5

Nein! Ich hatte es nicht bis hier her geschafft, um mich 6

dann von dieser grauenhaften Kreatur fertig machen zu 7

lassen! So mal ich zwanzig Köpfe größer war. Dennoch konnte 8

ich nicht klar denken. Ein Bein berührte meine trockenen 9

Lippen. Sofort zuckte ich zusammen, sodass das Tier 10

zurückwich. Nein, nicht beißen! Kerzengerade stand ich da. 11

Die Spinne machte es sich an meinem Hals bequem, um 12

genüsslich meine Ader zu beobachten, als liefe dort ein 13

spannender Kinofilm. Innerlich atmete ich erleichtert auf. 14

Bewegungslos huschten meine Augen von dem Insekt durch den 15

Urwald. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, bis es sich 16

entschied, dieses Nervenspiel zu beenden. Und ich hatte nur 17

eine einzige Chance. Wir hatten in der Schule die Spinnen 18

erst später durchnehmen wollen - zu spät. Vermutlich wäre 19

mir sowieso nichts mehr eingefallen. Im Blickwinkel erkannte 20

ich den Baumstamm, von dessen Ästen das Tier 21

heruntergefallen sein musste. Dann kam mir plötzlich eine 22

Idee, die derart lächerlich war, dass es sinnlos wäre, auch 23

nur einen weiteren Gedanken an ihr zu verschwenden. Behutsam 24

legte ich den Kopf zu Seite. Es musste funktionieren! Es 25

musste einfach! Eins… zwei… Bis drei konnte ich nicht mehr 26

zählen. Energisch krachte mein Gesicht gegen die harte 27

Rinde. Blut spritzte über meine Wange. Ein Spinnenbein 28

klebte noch dort, wo das Insekt gehangen hatte. Der übrige 29

Körper war zerfetzt von der Wucht des plötzlichen Aufpralls. 30

269

Langsam fuhr ich mit dem Zeigefinger über die Stelle. Ob die 1

Spinne gebissen hatte? Fühlen konnte ich es nicht, nur 2

hoffen, dass dem nicht so war. Als ich mich über eine Pfütze 3

beugte, fiel mir ein Stein von Herzen. Nichts zu sehen. 4

Trotzdem würde ich nicht einen einzigen Schritt weiter tun. 5

Lieber sollte Scott mich quälen, als irgendein Krabbeltier 6

oder womöglich eine Schlage, die sich um meinen Hals legte, 7

wenn ich erschöpft zusammensackte! Denn nach Stunden des 8

Umherirrens würde ich unachtsam werden und der Urwald wusste 9

ohnehin, wo ich war. Seine Augen, seine gelben, 10

blutunterlaufenen Augen, lauerten im Unterholz auf mich. 11

Aber diesmal würde ich keine so leichte Beute abgeben! 12

Achtsam tastete ich mich voran, kontrollierte jeden Meter 13

mit dem Fuß, den Blick dabei prüfend umherschweifen lassend. 14

Den Gedanken, dass dies im Notfall nicht ausreichen mochte, 15

verdrängte ich. Wenn ich nun noch unruhiger wurde, würde ich 16

Fehler machen. Fehler, die mich mehr als nur ein paar Euro 17

kosten würden oder eines meiner Modelautos. Vor allem die 18

wallende Dunkelheit erschwerte mir die Sicht. Jede länger 19

ich lief, desto mehr verlor ich die Orientierung. Bald 20

musste ich mich vollendend auf meinen Instinkt verlassen. 21

Wie bei einem „Blindenspiel“ nur ohne Führer torkelte ich 22

umher, bis ich schließlich in einiger Entfernung Stimmen 23

hörte. Der Wille, einfach loszulaufen, überkam mich, doch es 24

gelang mir, ihn nieder zu kämpfen. Reiz dich gefälligst 25

zusammen! Du darfst Scott nicht einfach in die Arme rennen, 26

ihm womöglich noch vor die Knie fallen und betteln, dass er 27

dich zurück zur Villa mitnimmt! Das hätte Zarin nicht 28

gewollt. Dafür sollte er nicht gestorben sein. Streng dein 29

Gehirn an, Tim! Denk nach. Ich nickte, wobei ich mich 30

270

zusammengerollt in einem Erdloch verbarg und durch einen 1

Blättervorhang auf der Straße hinausspähte. Überrascht 2

bemerkte ich, dass der Kleinlaster verschwunden war. 3

Lediglich das Cabrio, vor dem der Meister, ein Tuch an die 4

Schläfe pressend, auf dem Klappstuhl kauerte, parkte noch. 5

Der Fahrer suchte im Standlicht des Wagens das umliegende 6

Waldstück ab und kniete schließlich nieder, um ein Zelt 7

errichtet. Allem Anschein nach wollte der Sir an dieser 8

Kurve übernachten. Dass er persönlich geblieben und nicht 9

aufgrund seiner Verletzungen zurück zur Villa gefahren war, 10

ließ mich stutzen. So mal es in der Wildnis durchaus 11

gefährlich sein konnte. Unberechenbar, was Maurice Scott 12

hasste. Doch der Wille, mich aufzuspüren und auseinander zu 13

nehmen, schien größer. Bedacht keinen Lärm zu machen, zog 14

ich mich ein wenig zurück. Mein Blick fiel erneut in den 15

Wald. Ich hatte keine Chance. Würde ich hier bleiben, würden 16

sie mich sofort finden. Würde ich zum zweiten Mal dort 17

hineinlaufen, würde der Wald sein Übriges tun, um mich zu 18

erledigen. Oh Mann! Ich stöhnte. Warum konnte das Spiel 19

nicht einmal fair sein? Hatte ich überhaupt eine 20

Würfelkombination, die mich sicher ins Ziel brächte? 21

Vermutlich nicht. Erneut lugte ich unter den Blättern 22

hervor. Die Situation hatte sich nicht verändert mit der 23

Ausnahme, dass der Fahrer das Aufbauen des Zeltes beendete 24

und nun ein paar Lebensmittel aus dem Kofferraum auf eine 25

Decke beförderte. Leise plärrte dabei Musik aus dem Inneren 26

des Autos, zu der der Mann zu summen begann. In gewisser 27

Weise erweckte es den Eindruck zweier, alter Campgenossen, 28

die gemeinsam auf Rucksacktour waren. Vielleicht könnte ich 29

mich einfach zu ihnen setzen, wenn wir für kurze Zeit keine 30

271

Feinde wären. Mein Magen knurrte bei dem Gedanken an die 1

knusprigen, gebackenen Bananen oder den anderen 2

Köstlichkeiten. Die Kekse auf dem Beifahrersitz… ein Genuss. 3

Ohne nachzudenken und von dem Hungergefühl angetrieben, 4

schlich ich gebückt zu dem Cabrio herüber. Inzwischen war es 5

so dunkel, dass ich kaum erkennbar sein würde, wenn ich 6

nicht in das Licht träte. Tatsächlich ahnte Scott nicht, 7

dass er seinem Opfer näher war, als er jemals für möglich 8

gehalten hätte. Meine Hand streifte jenen Baum, gegen den… 9

Ich hielt zögernd inne, malte mit dem Finger das 10

Kreuzzeichen an die Rinde. Im Namen des Vaters und des 11

Sohnes und des Heiligen Geistes Amen. Geh hin in Frieden. So 12

hatte ich es oft in der Kirche an Sonntagen gehört, kurz 13

bevor ich endlich zum Spielen hab auf die Straße gehen 14

können. Ich habe nie verstanden, was der alte Mann in dem 15

Gewand erzählt hatte, aber diese Abschiedsworte bedeuteten, 16

dass es Zeit war, zu gehen. Papa… Mögest du hingehen in 17

Frieden. Meine Lippen berührten vorsichtig die kalte Rinde, 18

dann wich ich einen Schritt zurück, faltete die Hände, den 19

Kopf gesenkt. Dabei vergaß ich alles um mich herum. Selbst 20

die Angst, entdeckt zu werden, verschwand. Ich stand einfach 21

nur da. Bilder meines Vaters rauschten an mir vorbei. Wie 22

wir im Winter über den zugefrorenen See im Stadtpark 23

gelaufen sind. Als er mir half, die Schleifennudel aus 24

meiner Nase zu ziehen, die ich hineingesteckt hatte, um 25

auszuprobieren, ob sie da hineinpasste. Das Fußballgucken 26

auf Papas Schoss, wobei ich bei jedem Tor, egal für welche 27

Mannschaft, meine kleine Kölnfahne schwenkte. Meinen ersten 28

Schluck Bier, bei dem er mich heimlich erwischte, um 29

anschließend meinen kleinen Kopf beim Erbrechen zu halten. 30

272

Unseren Besuch im Phantasialand, einem der größten 1

Vergnügungsparks in der Nähe von Köln. Ich grinste bei dem 2

flüchtigen Gedanken an das schwarzweiße Schaukelpferd namens 3

Fiona auf dem zweistöckigen Karussell, das mir einen 4

derartigen Schrecken eingejagt hatte, dass ich um ein Haar 5

über die Brüstung gefallen wäre, hätte Papa mich nicht in 6

aller letzter Minuten aufgefangen. Mein Papa, mein Held. 7

Daran, dass er mich geschlagen hatte oder dass ich wegen 8

diesem ekligen Qualm immer weniger Spielzeug bekam, wollte 9

ich mich nicht erinnern. Nein, mein Vater, der war jemand, 10

der perfekt war. Mutig, schlau vor allem und alles andere, 11

was man von mir nicht behaupten konnte. Ich seufzte leise. 12

Komm zurück, Papa. Ich brauche dich. Dich und Mama… 13

Plötzlich spürte ich einen warmen Luftzug an meinem Ohr. 14

Augenblicklich versteifte sich mein Körper. Meine Muskeln 15

spannten sich an. Mit angehaltenem Atem versuchte ich, im 16

Winkel meines Blickfeldes auszumachen, was geschehen war. 17

Musik drang noch aus dem Radio. Gelegentlich konnte ich auch 18

das Schnaufen des Meisters ausmachen - nur viel, viel näher! 19

Zu nah, unmittelbar hinter mir. Hau ab! Verschwinde! Aber 20

presto, presto. Ich gehorchte. Ohne einen weiteren Gedanken 21

zu verschwenden, schoss ich über die Straße hinweg. In der 22

Dunkelheit war ich völlig orientierungslos und erst, als ich 23

den harten Untergrund bemerkte, ahnte ich, dass ich in der 24

Falle saß. Sie würde nur das Licht des Wagens auf die Kurve 25

lenken müssen und, obwohl sie nur zu zweit waren, wäre es 26

ein Leichtes, mich einzukesseln. Ich war hilflos. Scott 27

näherte sich. Sein Lächeln wirkte im Schatten wie eine 28

grausame Grimasse. 29

273

„Da bist du ja endlich, Nummer 448! Ersparst mir die Mühe, 1

dich zu suchen. Nett, muss ich sagen, äußerst 2

entgegenkommend. Willst du dich nicht zu uns setzen? Ich 3

habe hier auch einen extra großen Keks für dich. Also, mein 4

Junge?“ Er wedelte mit einem Gebäck in der Luft, wobei er 5

einen weiteren Schritt auf mich zu machte. Ich blinzelte zu 6

dem Cabrio herüber. Der Fahrer beobachtete die Szene 7

entspannt, da er sicher sein mochte, dass ich aufgeben 8

würde. Erneut sah ich zu dem Meister auf. Der Geruch von 9

frischem Mehl stieg mir in die Nase. Lecker mit Marmelade. 10

Mein Magen knurrte. Nimm endlich den Keks, meldete er. Nur 11

das Gebäck vor Augen leckte ich mir mit der Zunge über die 12

Lippen und stolperte wie hypnotisiert darauf zu. 13

„Ja, Nummer 448, komm. Ich habe auch noch welche mit 14

Schokosplittern.“, behauptete Scott, die Hand nach mir 15

ausstreckend. Ruckartig blieb ich stehen. Hast du vollkommen 16

den Verstand verlassen? Reiz dich gefälligst zusammen. Es 17

gibt noch viel köstlichere Kekse auf der Welt! 18

Hastig löste ich meinen Blick von dem Mann ab, der wie 19

eine männlich wirkende Hexe Hänsel und Gretel zum 20

zuckersüßen Häuschen lockte. Und rannte, noch bevor jemand 21

reagieren konnte. Meine Fußsohlen tippten nur flüchtig auf 22

die Erde. Ich sprang über einen umgekippten Baumstamm am 23

Fahrbahnrand. In den Wald wagte ich mich nicht mehr, zumal 24

mir auch der Schatten der Bäume am Rand ausreichend Schutz 25

bot. So konnte ich sicher sein, dass die Männer mich nicht 26

mit dem Auto verfolgten und es schwerer hatten, mich zu 27

finden. Wie nach einem Tausendmeterlauf ich hechelte nach 28

Luft, lief jedoch weiter. Hinter mir hörte ich Schritte. 29

Wie viele wusste ich nicht, aber es war auch nicht wichtig. 30

274

Es war nur eine Frage der Zeit. Wer hielt länger durch? 1

Maurice Scott oder ich? Derjenige hätte gewonnen. Ich die 2

Freiheit, jedenfalls vorläufig, mein Gegner den Spaß beim 3

Quälen eines neuen Feindes. Bäumen flogen an uns vorbei wie 4

Markierungen, die auf das Ziel zu liefen. Nur, dass es bei 5

diesem Rennen kein Ziel gab. Ich spürte bereits, wie meine 6

Gelenke zu schmerzen begannen, meine Seite stach. So 7

gleichmäßig wie möglich atmete ich ein und aus. Atmen, 8

laufen, atmen. Aus, ein, wieder aus. Vielleicht hätte ich 9

das Glück und ein Bus oder jemand, der mich half, käme 10

vorbei, doch ich bezweifelte dies. Wer sollte schon ohne 11

erdenkbaren Grund selbst in Afrika nachts unterwegs sein? 12

Aber es würde bald etwas passieren müssen. Irgendetwas. 13

Allmählich konnte ich jede einzelne Faser in meinem Körper 14

spüren, vor allem, da ich mich nicht aufgewärmt hatte. Meine 15

Geschwindigkeit und der Abstand zu Scott wurden mit jedem 16

Meter geringer. Langsamer, als ich durfte, joggte ich 17

weiter. Dennoch würde ich auch dieses Tempo nicht mehr 18

halten können, vorausgesetzt, ich wollte nicht umkippen. 19

Verdammt, wie konnte der Meister nur ein derart guter Läufer 20

sein? Und noch dazu verletzt! Vorsichtig riskierte ich einen 21

Blick über die Schulter. Der Mann war unmittelbar hinter 22

mir, doch zu meinem Erleichtern verlor auch er an 23

Schnelligkeit und taumelte bereits - als er plötzlich vor 24

meinen Augen zusammenbrach. Noch im Lauf beobachtete ich, 25

wie seine Knie einknickten, die Hände sich auf den rauen 26

Boden pressten. Du hast gewonnen, Tim! Er hat dich nicht 27

gekriegt! Erneut sah ich zurück. Zu meinem Entsetzten fiel 28

der Sir zur Seite und blieb regungslos auf dem Rücken 29

liegen, wobei sich sein Brustkorb immer unregelmäßiger 30

275

senkte. Tief Luft holend blieb ich stehen, wandte mich 1

vorsichtig um. Nun, dachte ich verbittert, nun sehen Sie wie 2

es ist, wenn man am Boden kriecht! Ein tolles Gefühl, nicht 3

wahr? So viele Leute haben Sie niedergedrückt und selbst, 4

als sich diese flehend vor Ihnen wälzten, haben Sie nochmals 5

zugetreten, bis auch das Betteln ein Ende hatte! Genauso 6

soll es Ihnen jetzt auch ergehen! Sie Schwein, Sie haben den 7

Befehl gegeben, meinen Papa zu töten! Unbeirrt wollte ich 8

weiterlaufen, aber etwas hielt mich zurück. Stöhnend hob ich 9

die Schultern, senkte sie. Geh schon! Hau endlich ab! Zum 10

dritten Mal schweifte mein Blick zu dem Meister herüber. Den 11

Kopf zu Seite gedreht, die Lippen leicht geöffnet versuchte 12

er, sich aufzurichten, sackte jedoch sofort wieder in sich 13

zusammen. Sein Oberkörper verkrampfte sich, sodass der Mann 14

nach Luft schnappte. Es entsetzte mich, Scott derart hilflos 15

zu sehen. Bisher lebte er in einer Welt, die er voll und 16

ganz kontrollierte, doch nun? Das ist nicht dein Problem, 17

Tim. Der Meister würde dich auch dort verbluten lassen - 18

aber ich bin nicht der Meister! Ohne einen weiteren Gedanken 19

daran zu verschwenden und mich ohrfeigend, schlich ich 20

zögerlich zurück, kniete mich neben den Kopf des Sir. Dessen 21

Augen schlossen sich, auf, zu, auf, jedoch verlangsamt und 22

unregelmäßig. Des Weitern erkannte er mich - wenn überhaupt 23

- nur flüchtig. Nun, in dem Moment, jetzt, wo ich neben 24

diesem Menschen kauerte, verspürte ich den Hass, der in mir 25

aufkeimte wie eine Bohne im Wasser, züngelnd wie Flammen in 26

der Nacht. Sie haben mir alles genommen! Alles, was mir 27

etwas bedeutete! Zum einen meinen Papi, den Sie erpresst 28

haben. Nicht etwa mit Gummibärchen, sondern mit diesem 29

ekligen Gras von irgendeiner Wiese, abartig, absolut eklig. 30

276

Vor allem der Rauch. Wegen Ihnen ist mein Papa zu so 1

Stinktier geworden, das sich einen Dreck um die anderen 2

schert. Ihr Abbild. Und dann Mathieu, meinen besten Freund? 3

Der, der mit mir nach Spanien wollte, aber seinen Traum aus 4

den Augen verloren hat. Wegen Ihnen. Oder Zarin? Tot, wegen 5

Ihnen. Oder Jabali, der Wächter, der gegen seinen Willen 6

seine Freunde schlagen muss, die kleine Reni zum Beispiel? 7

Wegen Ihnen. Oder Kay, mein Schwesterchen, das fröhlichste 8

Mädchen, das ich kenne? Okay, sie hat sich vielleicht in 9

Angelegenheiten eingemischt, die sie nichts angehen, aber… 10

Ihre Eltern machen sich Sorgen. Wegen Ihnen. Und was ist mit 11

Tess? Mit Tess, Ihrer Tochter? Haben Sie auch ein einziges 12

Mal in Ihrem Leben an sie gedacht? Vermutlich nein. Nein, 13

Ihnen ist ja alles egal. Alles außer Ihnen selbst! Sie sind 14

ein Monster, ein verdammter… Ich hasse Sie! 15

„Nummer 448...“ Scotts Stimme klang völlig emotionslos, 16

als er dies flüsterte. 17

Ich hasse Sie…! „Ja…?“ Vorsichtig öffnete ich den Mund des 18

Mannes ein wenig, damit dieser besser atmen konnte. Sie 19

ahnen gar nicht, wie sehr ich Sie hasse! „Ich bin hier.“ 20

Der Sir blinzelte. Für den Bruchteil einer Sekunde 21

berührten sich unsere Hände, als er in die Dunkelheit hinein 22

tastete. Seine war völlig kalt. Erschrocken wich ich zurück, 23

mit dem Finger eine Strähne aus der Stirn streichend. Fassen 24

Sie mich nicht an! Der Mann hob zögernd einen Mundwinkel an 25

und im Schein des halben Stücks Käse am Himmel wirkte sein 26

Kopf wie ein Totenschädel. Die Brille musste er verloren 27

haben und als ich mich umsah, entdeckte ich sie tatsächlich 28

in ein paar Meter Entfernung. Ihre Gläser reflektierten im 29

Licht wie zwei glasige Splitter. Seine sorgfältig gezupften 30

277

Augenbrauen verdeckten die kleine Platzwunde, aus der eine 1

rötliche Säure schoss, die auch meine Hände verätzte. 2

Dennoch zog ich mein T-Shirt aus, um es dem Meister unter 3

den Kopf zu legen, einen Teil des Stoffes auf die Blutung 4

drückend. Bah! Ist das eklig! Ich spürte das Kitzeln im 5

Hals. Ein bitterer Geschmack füllte meinen Mundraum. 6

„Nummer 448...?“ Scott versuchte, erneut aufzustehen, die 7

Hand zur Faust geballt. Doch ein Schwindel musste ihn 8

erfasst haben, denn er fiel zurück auf die Straße. Grunzend 9

wie ein Monster. Dann übergab er sich, nach Luft röchelnd. 10

Ob er an sich selbst erstickte? Hoffentlich, hoffentlich tat 11

er das. An dem letzten Stück Fisch, der für ihn sterben 12

musst! Behutsam klopfte ich auf seinen Rücken, als er 13

gellend aufschrie. Warum kommt denn niemand? Wo bleibt 14

dieser Idiot von Gorilla? Wenigstens gute Leute anstellen, 15

hätte der Meister können müssen, wenn er schon sonst so ein… 16

Verdammt, ich hasse Sie! Warum bin ich überhaupt noch hier?! 17

Mein Blick wanderte zu dem Mann, wobei ich mich aufrappelte. 18

Wie ein verletztes Tier krümmte er sich zusammen, der Big 19

Boss, der King, vollkommen hilflos. Lauf, Tim, lauf! 20

„Tim…“ Ja, jetzt fällt Ihnen mein Name wieder ein! Jetzt, 21

wo Sie sich nicht mehr wehren können, Sie, Sie…! Gott, was 22

sind Sie nur für ein Mensch?! 23

Über den Nachthimmel hoch über unseren Köpfen schoss ein 24

Geier, wilde Rufe ausstoßend, auf der Suche nach seinen 25

Opfern. Auf der Jagd nach Tieren, die sich nicht wehren 26

konnte. Ständig lag er auf der Lauer, getarnt als Wohltäter, 27

indem er nur das fraß, was bereits nicht mehr zu retten war. 28

„Tim…“ Sprechen Sie nicht meinen Namen aus! Sie widern mich 29

an! Sie hätten meinem Vater helfen müssen! Aber nein, 30

278

stattdessen haben Sie ihn umgebracht! Und stattdessen 1

wollten Sie auch mich umbringen! 2

Seufzend fuhr ich mir mit den Händen durch das zerzauste 3

Haar. Der Wind ließ mich frösteln. Kurz sah ich zu meinem T-4

Shirt hinunter, welches nun dem Teufel als Kopfkissen 5

diente. „Tim…“ Mit dem knöchrigen Finger gestikulierte er 6

mir, dass ich näher herankommen sollte. Ich gehorchte. 7

Wieso, weiß ich nicht. Auch nicht, warum ich nicht 8

weggelaufen bin, ich Feigling. Langsam setzte ich mich neben 9

den Mann, brachte in die stabile Seitenlage, wie ich es oft 10

im Fernsehen gesehen hatte. Ob es richtig war, keine Ahnung, 11

aber etwas Besseres fiel mir in diesem Moment nicht ein. Ein 12

weiteres Mal erbrach er, diesmal hielt ich seinen Kopf, 13

damit die Ekel erregende Flüssigkeit hinauslaufen konnte. 14

Mehr konnte ich nicht tun, außer warten. Warten darauf, dass 15

jemand kam, der uns half. Gleich, ob es für mich wieder 16

quälende Stunden in der Gewalt Malliums bedeutete. Das Leben 17

des Meisters hatte höhere Priorität. Schließlich war er 18

trotz allem ein Mensch und ein Mensch bedurfte Hilfe, ganz 19

egal, um wen es sich dabei handelte. So stand es in der 20

Bibel und so war es Gesetz. Auch wenn es ein ziemlich blödes 21

Gesetz ist, Gott, und du dich selbst nicht einmal daran 22

hältst. Ich tue es, denn ich bin anders als du. Anders, 23

einfach anders… 24

Erschöpft kauerte ich mich ebenfalls auf den Boden, auf 25

den kalten Asphalt, die Knie nahe an den nackten Oberkörper 26

herangezogen, das Kinn dort abgestützte. Das Letzte, was ich 27

erkannte, bevor ich in das noch schwärzere Loch fiel, war 28

der blutgetränkte Schnabel des Aasgeiers, der ein zappelndes 29

Küken mit sich riss. 30

279

12. Kapitel 1

In eine wattweiche Decke eingemummelt lag ich auf dem 2

rustikalen, aber dennoch geschmackvollen Doppelbett. Obwohl 3

das Zimmer nicht sonderlich groß zu sein mochte, wirkte es 4

warm und freundlich, was nicht zuletzt auch den zwei Raum 5

hohen, leicht geöffneten Fenstern zu verdanken war, durch 6

die man einen herrlichen Blick auf den Urwald hatte. Gähnend 7

räkelte ich mich auf der Bettkante, wobei ich mir den Sand 8

aus den Augen rieb. Auf der Nachtkommode stand ein goldener 9

Wecker, der ein Uhr anzeigte. Dies stimmte exakt mit meinem 10

knurrenden Magen überein. Zeit zum Mittagessen. In schwarzen 11

Boxershorts tapste ich zur Tür, rüttelte an dem Griff - aber 12

sie blieb verschlossen. Verdammt! Natürlich alles hatte 13

wieder einmal einen klitzekleinen Hacken! Stöhnend fuhr ich 14

mir mit der Hand über das Gesicht. Mir würde nichts anders 15

übrig bleiben, als zu warten. Gelangweilt zog ich eine der 16

Schubladen der Kommode auf. Zeitschriften von Mickie Maus, 17

englische Kinderbücher. Zumindest etwas, um die Zeit 18

totzuschlagen, bis jemand kam. Daher begann ich zu lesen und 19

bemerkte wegen meiner Vertiefung nicht einmal das leise 20

Klicken des Schlüssellochs, mit dem sich die Tür öffnete. 21

„Hey! Was liest du denn da?“ 22

Erschrocken fuhr ich zusammen. Langsam, ganz langsam, 23

drehte ich den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme 24

erklang. Fassungslos. Kay legte lachend die gestapelte 25

Kleidung auf einen Stuhl, dann fiel sie mir um den Hals, 26

sodass ich das Gleichgewicht verlor und auf der Matratze 27

landete, das Mädchen über mir. Für eine Ewigkeit presste ich 28

sie an meine Brust, wollte sie nie wieder loslassen. Ihr 29

280

Atem strich warm über meine Wangen. „Ich kriege keine Luft 1

mehr.“, flüsterte sie mir schließlich sanft ins Ohr. 2

Widerwillig löste ich meinen Griff ein wenig, starrte sie 3

nur an, als sei sie ein Engel. So überirdisch war sie. 4

Einfach wunderschön, ihre blauen Augen, ihr dünner, zarter 5

Körper, von dem sie immer behauptete, er sei muskulös, wenn 6

ich sie damit neckte, und die feinen Fingernägel, auf die 7

sie früher Symbole gezeichnet hatte, irgendwelche mystischen 8

Zeichen. Aber noch außergewöhnlich war der liebenswerte, 9

aufgeweckte Geist, der in ihrem Körper wohnte. 10

Vorsichtig richtete wir uns auf, hockten gemeinsam auf der 11

Bettkante, glücklich darüber, einander wieder gefunden zu 12

haben. Kay, mein Schwesterchen. Ich legte ihr den Arm um die 13

Schulter, zog sie näher an mich heran, aber sie stieß mich 14

behutsam von sich. 15

„Hallo Tim.“, murmelte das Mädchen, wobei es mir die 16

Kleidung reichte. „Mein Meister befielt, dass du dies 17

anziehen sollst. Er erwachtet dich zum Essen.“ Traurig 18

senkte sie den Kopf, doch ich hob ihr Kinn leicht an, damit 19

sie aufsah. 20

„Kay…“ Ich wollte ihr so viel erzählen in diesem Moment. 21

Dass ich endlich wusste, wie mein Papa gestorben war. Wie 22

wir durch die Wälder gezogen sind, Mathieu und ich, bis man 23

uns entführte. Dass es mir Leid täte, was ich ihr angetan 24

habe. Von der Arbeit auf der Plantage und in der Küche. Dass 25

ich sie vermisse. Aber in diesem Moment sagte ich nichts 26

dergleichen und auch nichts, als er verstrichen war, dieser 27

Moment. Ich schwieg, versank in der Tiefe ihrer Augen. 28

Obwohl ich Mädchen immer blöd gefunden hatte, dieses Mädchen 29

mochte ich mehr als alles andere auf dieser Welt. Zögernd 30

281

näherten sich meinen Lippen ihrer heißen Stirn. Nein, igitt, 1

du küsst doch nicht deinen besten Kumpel! Aber da war es 2

bereits zu spät. Kay lächelte verschmitzt, sich eine Träne 3

aus dem Augenwinkel reibend. Dann wandte sie sich abrupt ab 4

und schloss die Tür hinter sich. Alleine blieb ich zurück, 5

dem Ticken der Uhr lausend. Gott, wie schlecht bist du nur 6

in diesem Sabberspiel! Jetzt hast du sie verjagt, Tim. Die 7

arme Kay. Sie musste sicherlich denken, du bist genau wie 8

dieser schreckliche Sulkan aus der Schule, der ständig 9

gebettelt darum gebettelt hat, mit ihr spielen zu dürfen. 10

Langsam öffnete ich die Lippen, schloss sie wieder. Ein paar 11

ihrer salzigen Schweißperlen vermischten sich mit meinem 12

Speichel. Ich grinste schief in den Spiegel gegenüber, der 13

an der Tür des kunstvoll geschnitzten Kleiderschranks hing. 14

Kay, Kay, Kay… 15

Meine Hände strichen leicht über die gefaltete Kleidung 16

auf meinem Schoß. Augenblicklich versteifte sich mein 17

Nacken, meine Fingerkuppen pochten beinahe taub. Erst 18

langsam wurde mir bewusst, dass mich die Realität wieder 19

eingeholt hatte. Kay und ich befanden uns nicht auf Mallorca 20

in einem Hotel mit Meerblick. Auch nicht auf dem Spielplatz 21

oder dort, wo wir tatsächlich hätten sein sollen. Nein, wir 22

steckten gemeinsam im Nest eines Geiers, der uns zum Essen 23

erwartete. Zögernd richtete ich mich auf, die Kleider auf 24

dem Bett ausbreitet. Mir war nicht klar, worauf ich mich 25

einließ, aber ich beschloss, erst einmal mitzumachen - vor 26

allem, weil ich einen Bärenhunger hatte. Staunend 27

betrachtete ich mich im Spiegel, drehte mich nach links, 28

nach rechts, wobei ich versuchte, auch meinen Rücken zu 29

begutachten. Man hatte für dieses Mittagessen ein teures, 30

282

weißes Hemd mit Kragen gewählt, dazu eine knielange, 1

dunkelblaue Jeans. Die weißen Turnschuhe von Nike, die zwar 2

zwei Nummer zu groß und bereits getragen schienen, ergänzten 3

gemeinsam mit einer Designeruhr das Outfit des schnicken 4

Stiefsohnes. Ebenfalls dabei lag eine Bürste und eine Tube 5

Gel, die ich nun misstrauisch beäugte. Den Mund zu einem 6

Schmollen verzogen, drehte ich den Schraubverschluss auf und 7

leerte den Inhalt auf meiner Handfläche. Ich hasste Gel. 8

Diese durchsichtige, relativ feste Masse fühlte sich 9

unglaublich fies an, verklebte jedes Haar. Schon früher als 10

wir an Weihnachten in die Kirche gingen, klatschte Mama mir 11

das Zeug auf den Kopf. Es nun auf der eigenen Haut zu 12

spüren… Ich wollte nicht weiter drüber nachdenken. 13

Angewidert strich ich den Glibber dennoch mit einem Finger 14

auf eine Strähne, entschied mich dann jedoch, es bleiben zu 15

lassen, als es erneut an der Tür klopfte. Hoffnungsvoll 16

stürmte ich herbei, um die Klinge mit dem Handrücken 17

hinunter zu drücken. Bitte lass es Kay sein! Aber es war 18

nicht Kay. Auch nicht Tess oder ein anderes Dienstmädchen. 19

Es war ein Wächter, der mich zum Essen rief. Seufzend hob 20

ich die Schultern und deutete auf das Gel, um zu 21

demonstrieren, dass ich noch etwas Zeit benötigte. 22

Nein, keine Zeit mehr. Gut, auch gut. Dann eben auch kein 23

Geld. Auf der Suche nach einem Waschbecken, in dem ich die 24

Hände säubern konnte, ließ ich meinen Blick umherschweifen. 25

Ohne fündig zu werden, wusch ich das Gel grob an den 26

Boxershorts ab, spülte mit Spucke nach. Kleben tat es immer 27

noch, aber daran würde sich wohl scheinbar vorläufig nichts 28

ändern. Ich konnte nur hoffen, dass ich dieses eine Mal dem 29

Meister die Hand geben musste. Widerwillig folgte ich dem 30

283

Mann durch den Flur hinüber zu dem riesigen Speisesaal. 1

Flüchtig erinnerte ich mich an dieses Zimmer. Dunkelroter 2

Teppich, ein polierter Glastisch mit sechzehn Stühlen. Doch 3

etwas hatte sich an dem verlassenen Raum verändert, wie ich 4

erstaunt bemerkte: Er lebte. Sein Atem pulsierte förmlich. 5

Farbspektren durchfluteten ihn. In meinem Kopf begann es, 6

sich zu drehen. Ich spürte, wie jemand mir anerkennend auf 7

die Schultern klopfte, hörte die leisen Klänge der Musik im 8

Hintergrund. 9

„Tim!“ Tess sprang von ihrem Stuhl hoch. Der Löffel, mit 10

dem sie gespielt hatte, klirrte auf den Tellerrand. So 11

neutral wie möglich schritt sie auf mich zu, ihr 12

geflochtenes Haar über die Schulter werfend. Unmittelbar vor 13

mir blieb sie stehen, sah zu mir auf. „Tim.“, wiederholte 14

sie nochmals grinsend, bevor sie mir den Arm um die Schulter 15

legte, um mich zum Tisch zu führen. „Tim, Tim, Tim, was 16

machst du nur für Sachen?“ Erst, als sie einen Stuhl neben 17

sich zurückzog, bemerkte ich den Meister, der bisher kein 18

Wort gesagt hatte - nicht einmal zu dem unangemessenen 19

Verhalten seiner Tochter. Mit der genähten Platzwunde über 20

der Augenbraue und dem Veilchen wirkte er wie ein 21

niedergeschlagener Boxer. Er reagierte kaum, als ich Platz 22

nahm, nickte lediglich. Außer Familie Scott befand sich 23

niemand in dem Zimmer, obwohl für sechs weitere Menschen 24

gedeckt war. Ich fühlte mich unbehaglich und verlassen an 25

dem großen Tisch, unwissend, ob ich etwas auf eine 26

ausgesprochene Frage erwidern oder schweigen sollte. So 27

starrte ich auf den gefüllten Brotkorb vor mir, bei dessen 28

Anblick mein Magen augenblicklich zu knurren begann. Lecker, 29

diese knusprige Kruste, der lockere, sicherlich noch 30

284

lauwarme Teig. Gerade als ich mich dazu durchgerungen hatte, 1

mir eines zu genehmigen, räusperte sich der Mann. Sofort 2

zuckte meine Hand zurück. 3

„Schon gut, bediene dich. Iss so viel du möchtest.“, 4

erklärte der Meister mit ruhigem, heiser klingendem 5

Unterton, wobei er auf einen Knopf am Tisch drückte, 6

woraufhin Sekunden später Mallium in der Tür zur Küche 7

erschien. Bei meinem Anblick verfinsterte sich sein Gesicht. 8

Wir werden wohl nie Freunde werden, dachte ich und streckte 9

ihm zur Provision heimlich die Zunge raus. Tess kicherte, 10

bemüht, nicht zu lachen. Hinter dem Küchenchef tauchte 11

dessen Adjutant auf, der strahlend den Daumen hob. Erstaunt 12

hob ich die Augenbraue. Was wurde hier für ein übles Spiel 13

mit mir gespielt? Weshalb durfte ich mit dem Meister zu 14

Mittag essen? Und weshalb waren alle mir gegenüber derart 15

freundlich? Nun gut, ich konnte damit leben, endlich einmal 16

etwas Richtiges zwischen die Zähne zu bekommen, daher 17

stellte ich keine dieser Frage, wunderte mich lediglich. 18

Vorsichtig nippte in an meinem mit winzigen Diamanten 19

verziertem Glas, welches zur Hälfte mit herrlich 20

erfrischendem Wasser gefüllt war, das auf meiner Zunge 21

sprudelte. Gierig schnappte ich mir dabei eines der Brote 22

und tauchte es in die Suppe, die ein Dienstmädchen als 23

Vorspeise servierte. 24

Schweigend sah ich in Runde. Tess führte den Löffel an den 25

Mund. „Lecker.“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu 26

ihrem Vater, dem sie halb den Rücken zuwandte. 27

Scott nickte beipflichtend. „Wirklich, exquisit. Findest 28

du nicht auch, mein Junge?“ 29

285

Erschrocken darüber, dass man mit mir sprach, verschluckte 1

ich mich an dem Stück Brot. „Ja, ja… Echt super.“ 2

„Weißt du, Tim, ohne dich könnte ich diese Suppe heute 3

vielleicht gar nicht mehr genießen.“, meinte der Sir nach 4

einer Weile des Schweigens. 5

Ich hustete, nachdem mir die Krümel bei dieser Ansprache 6

im Hals stecken geblieben waren. Was? Unruhig rutschte ich 7

auf meinem Stuhl hin und her, bemüht mit Tess Blickkontakt 8

aufzunehmen, aber diese aß unbeteiligt weiter. 9

„Ja, Tim, du hast mir in der vergangen Nacht vermutlich 10

das Leben gerettet. Das war äußerst heldenhaft von dir.“ 11

Ich wiegte nachdenklich den Kopf. Du dem Sir das Leben 12

gerettet? Unmöglich, völlig ausgeschlossen. Du hast doch 13

deinen Vater, Zarin und all den anderen Menschen rächen 14

wollen! Stattdessen hast du nun dafür gesorgt, dass dieses 15

Monster weiterhin quält. Großartig, Tim! Wirklich eine 16

Spitzenleistung! 17

„Meine Assistenten, die sechs anderen Mitglieder von 18

Kamikaze, jedenfalls sind dieser Meinung. Auch sie erkennen 19

deinen Mut an.“ Der Meister klatschte in die Hände. „Mister 20

Henkel?“ 21

Daraufhin wurde die Tür geöffnet und sechs gut gekleidete 22

Gestalten, vier Männer und zwei Frauen, betraten 23

nacheinander den Speisesaal. „Clemens Henkel… Vasco 24

Ignamias, Manfred Giebels… Lorenzo Goldmann… Ana-Cornelia 25

Paulus und zu guter letzt Nora Valencia. Alles mir treu 26

ergebene Freunde. Aber ich bin mir sicher, ihre Namen kennst 27

du bereits.“ 28

286

Ich nickte knapp, während ich misstrauisch beobachtete, 1

wie die übrigen Mitglieder ihre Plätze einnahmen. Jeder von 2

ihnen nickte mir aufmerksam zu, sagte jedoch nichts. 3

„Ich dachte mir, dass es dich interessiere, einmal ihre 4

Gesichter zu sehen, bevor…“ 5

Ich lauschte auf, doch seinen Worten folgten keine 6

weiteren mehr. „Bevor was?“, hackte ich daher nach und 7

senkte den Löffel. 8

„Nichts. Jedenfalls nichts von belangen für uns.“ Scott 9

lächelte. „Lasst uns alle gemeinsam speisen!“ Er hob sein 10

Glas, die anderen taten es ihm gleich. 11

Mit diesen Worten öffnete sich die Küchentüre erneut. 12

Mallium, gefolgt von seinem Adjutanten, trug eine riesige 13

Fleischplatte herbei. Dazu wurde Gemüse und Nudel gereicht. 14

Angewidert beobachtete ich den toten Berg, von dem alle 15

einen Teil abschabten. Mir war mittlerweile der Appetit 16

vergangen. Angewidert rieb ich meine immer noch klebenden 17

Hände an der Tischdecke ab. Die sechs Kamikazemitglieder 18

grinsten mir zu, doch auch diese Aufmerksamkeit schien wie 19

eingefroren. Ob sie höflichkeitshalber jedem von Scotts 20

Feinden zu lächelten, bevor sie ihn auf dem Operationstisch 21

auseinander nahmen? 22

Ich schluckte. Daran wollte ich nun nicht denken. 23

Unauffällig huschte mein Blick zu Tess, der die Situation 24

ebenfalls zu missfallen schien. Skeptisch beäugte sie die 25

ihr fremden Menschen, dann zischte sie ihrem Vater etwas ins 26

Ohr, woraufhin dieser den Kopf wiegte. 27

„Meine lieben Freunde,“ verkündete er schließlich, „Als 28

Zeichen meines Dankes würde ich dem Menschen, dem ich es zu 29

verdanken habe, heute mit euch an diesem Tisch zu sitzen, 30

287

einen Wunsch erfüllen. Es ist ein Wunsch von Freiheit. Eine 1

lange Sehnsucht. Geradezu ein Schrei danach. Tim River, ich 2

möchte dir…“ 3

Die Anspannung pulsierte durch den Raum, als Scott sich 4

bückte, um etwas hervorzuholen. Man konnte förmlich spüren, 5

wie es die Luft aus allen Lungen heraus sog. Mein Herz 6

pochte wild. Einen Wunsch? Einen freien Wunsch nur für mich? 7

Gespannt kaute ich auf meinen Fingernägel, sodass ich 8

augenblicklich der bittere Geschmack des Gels meinen Mund 9

anfüllte. Fest schloss ich die Augen und, als ich sie 10

Sekunden später wieder öffnete, hielt ich ein Schiff in der 11

Flasche in der Hand. 12

Enttäuscht schüttelte ich es. Ein Schiff in einer Flasche? 13

Heute war nicht der erste April. Und nein, heute war auch 14

nicht Karneval oder ein anderer Tag, an dem man sich solche 15

üblen Scherze erlauben konnte. Nicht, dass ich viel erwartet 16

hätte, aber… 17

„Du siehst nicht glücklich aus, mein Sohn. Gefällt es dir 18

etwa nicht?“, bemerkte Scott und legte das Messer beiseite. 19

„Doch, doch.“ 20

„Warte nur, bis du das Original gesehen hast.“ Die ältere 21

der beiden Frau, die mir schräg gegenüber saß, zwinkerte mir 22

durch ihre moderne, randlose Brille zu. Sie trug 23

Freizeitkleidung, obwohl sie sich darin seltsam unwohl zu 24

fühlen schien. Ihrem ernsten, kritischen Gesichtsausdruck 25

entsprechend fand man sie wahrscheinlich die meiste Zeit 26

ihres Lebens in einem Labor, in dem sie jedes einzelne noch 27

so winzige Teilchen aufspürte und bis zu Perfektion 28

analysierte. 29

288

„Es liegt in Lomé vor Anker.“, fügte der Mann neben ihr 1

mit einem hörbaren Spanisch-Portugisischen Akzent hinzu, 2

„Dort ist der Heimathafen unserer Schiffe.“ 3

„Das Original?< 4

„Ja.“ Maurice Scott hielt kurz inne, um Mallium zu 5

gestikulieren, dass man seinen Gästen Wasser nachschenken 6

sollte. Auch mein Glas wurde von der nun herbeieilenden 7

Afrikanerin neu mit Wasser und Eiswürfel gefüllt, obwohl ich 8

es erst zur Hälfe geleert hatte. Dankend nickte ich ihr zu. 9

„Ich ermögliche dir, mit einem meiner Handelsschiff über die 10

Weltmeere nach Spanien zu segeln.“, fuhr Scott fort. 11

„Ich und segeln? Nach Spanien?“ 12

Es fiel mir nicht schwer, meine Verblüffung zum Ausdruck 13

zu bringen. 14

„Natürlich nicht alleine, versteht sich. Mit einer kleinen 15

Besatzung deiner Wahl.“ 16

„Cool!“ Mehr brachte ich in diesem Moment nicht hervor. 17

Wir könnten nach Spanien, nach Spanien, in das Land, in dem 18

niemand mehr hungern und leiden musste. In das 19

Schlaraffenland. Den ganzen Tag über würden wir im Wasser 20

plantschen können, ohne Angst vor giftigen Wesen haben zu 21

müssen, und nach einem Abendessen mit warmen Nutellabrötchen 22

und einen riesigen Auswahl an Cornflakes in dem abgekühlten 23

Sand Fußball spielen. Wir alle hätten ein großartiges Haus 24

unmittelbar am Stand mit kleinem Swimmingpool und jedes von 25

uns Kindern ein eigenes Zimmer, ausgestattet mit Fernseher 26

und einer Menge Spielzeug. Unser Traum wäre erfüllt und ich 27

hätte niemanden enttäuscht, nicht einmal Mathieu. 28

„Ich weiß nicht, wie ich dir anders danken sollte. Du bist 29

nicht weitergelaufen, hast mich nicht dort liegen lassen… 30

289

obwohl es für dich vielleicht besser gewesen wäre. Ich liebe 1

Ehrlichkeit. Sie ist das, was den meisten Menschen fehlt und 2

das bedauere ich.“ 3

Erstaunt über die plötzliche Veränderung des Sirs runzelte 4

ich die Stirn. Noch vor Tagen hätte er behauptet, dass 5

Ehrlichkeit einem keinen Ruhm verleiht, sondern eher 6

schadet. Dass man alles nehmen sollte, nur sich selbst 7

gerecht zu werden. Aber nun? Vergiss einfach, was der Mann 8

gesagt hat und was nicht. Es ist nicht mehr wichtig, sagte 9

ich mir und vielleicht übersah ich in meinem Glück deshalb 10

das Entscheidende. 11

„Du hingegen bist aufrichtig. Und aus diesem Grund sollest 12

du das bekommen, was du verdienst.“ Der Meister erhob sich 13

unter Applaus seiner Anhänger und reichte mir die Hand. „Ich 14

möchte dir die ewige Freiheit schenken, Tim River, Sohn 15

unseres achten Mitgliedes, Marc River, den wir alle in guter 16

Erinnerung behalten werden.“ 17

Misstrauisch beäugte ich die knochigen, skelettähnlichen 18

Finger. Los, nimm schon die Hand, gleich ob deine eigene 19

noch so sehr klebt. Alles wird wieder gut. So wie es vorher 20

war, nur besser. Doch auf einmal ließ mich ein unbestimmtes 21

Gefühl zögern. Mein Blick schweifte über die Köpfe der 22

Menschen hinweg, die sich ebenfalls erhoben hatten und 23

gespannt meine Reaktion beobachten. Nur Tess nicht. Tess 24

kauerte mit verschränkten Armen neben mir auf ihrem Stuhl. 25

Sicherlich war sie wütend, dass man ihr keine Aufmerksamkeit 26

schenkte, obwohl sie die Lady des Hauses war. Den Kopf ein 27

wenig schief gelegt, nickte ich langsam. Ja, Tim, du darfst 28

nach Spanien reisen, darfst alles hinter dir lassen, was in 29

den vergangenen Monaten geschehen ist. Wie einen bösen 30

290

Albtraum, aus dem du endlich erwachst. Ich lächelte. Und Kay 1

kann dich wieder auf die Nase boxen, wenn ihr zusammen eine 2

Burg aus weißen, feinen Sand baut, sie aber deinetwegen am 3

nächsten Morgen vom Wasser zurück ins Meer gezogen wird. 4

Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, ob es 5

das Richtige war - was war es überhaupt, was richtig war? - 6

schüttelte ich die Hand jenes Mannes, der mein Leben 7

zerstört hatte. 8

Frühling 2000. 9

Das Frachtschiff ist groß, welches in Travemünde an der 10

deutschen Ostsee vor Anker liegt. Größer als alles, was ich 11

bisher gesehen habe. Mich faszinieren die Kräne, die wie 12

Dinosaurier die Vielzahl der kleinen, bunten, viereckigen 13

Container von Bord tragen, ebenso wie es mich fasziniert, 14

dass der dunkelhäutige Kapitän mit dem wettergegerbten 15

Gesicht die Macht über dieses riesige Seeungeheuer besitzen 16

konnte. Dessen metallischen Seiten sind ausgebeult, der Name 17

„Tasarama I.” kaum mehr lesbar. Das Schiffe erweckt den 18

Anschein, als sei es von allen Geister dieser Welt verlassen 19

worden - mit Ausnahme seines Führers, der es durch die 20

sieben Weltmeere lenkt, ob im Sturm oder in Ruhe, in Kriegs- 21

oder Friedenszeiten, immer Meine Hände umklammern den 22

Maschendrahtzaun, bis mir das Metall in die Haut schneidet, 23

als ich an dem verschlossene Tor mit dem deutlichen, gelben 24

Hinweis „Schwergebiet. Kein Zutritt!” vergeblich rüttele. 25

Mama zieht mich sanft zu einer Bank herüber, auf der Papa 26

mit drei Kugel Eis wartet. Meins ist eines mit 27

Erdbeergeschmack. Aber ich reiße mich los, renne zurück zu 28

dem Zaun. 29

291

„Mami, Mami! Wenn ich groß bin, will ich mal auf so einem 1

Schiff fahren.“ 2

„Natürlich, Timmy.“ Mama streicht mir lachend eine Strähne 3

aus der Stirn, „Mein kleiner Seeräuber.“ 4

Diese Erinnerung, die nun in meinen Gedanken auftauchte, 5

als ich das Frachtschiff in der Flasche auf der bemalten 6

Truhe am Fußende des Bettes betrachtete, ließ mich 7

schmunzeln, stimmte mich jedoch zugleich traurig. 8

Geisterabwesend wandte ich den Blick ab, die Hände an dem 9

metallischen Geländer des Balkons abgestützt, und starrte in 10

den Sternenübersäten Himmel. Nur der Westwind der Nacht des 11

2. Augustes trug gelegentlich das gruselige Heulen eines 12

Tieres zu uns herüber, ansonsten schwieg die Erde, wie ein 13

in den Schlaf gewiegt Kleinkind, beschützt von den tausenden 14

und abertausenden Lichtern um es herum. Vorsichtig, bedacht 15

diese Ruhe nicht zu zerstören, zog ich die Jacke enger um 16

meine Schultern. Ich fror und eigentlich hätte ich mich 17

längst für die Reise erholen sollen, aber seltsamerweise 18

konnte ich nicht. Schon bald würde ich Afrika verlassen und 19

gemeinsam mit meinen Freunden auf einem Schiff nach Spanien 20

segeln. Ich, euer großer Sohn, Mama und Papa. Doch - selbst 21

wenn ich dort wäre, wo wärt ihr dann? Was, wenn ihr mich 22

nicht mehr findet, in all den Menschenmassen aus den Augen 23

verliert, sowie einst in dem riesigen Einkaufscenter. Bitte, 24

Mama, bitte Papa, ich brauche euch doch so sehr, kommt 25

zurück! Vergeblich wartete ich auf ein Zeichen. Die Sterne 26

standen bewegungslos am Himmel. Ja, leuchtet nur, ihr 27

Blöden, leuchtet, bis ihr zerplatzt. Euer Licht bringt 28

sowieso niemandem etwas, völlig schwachsinnig, dass ihr 29

überhaupt da seid! 30

292

„Läuft dort oben ein toller Film oder warum starrst du in 1

den Himmel?“ 2

Erschrocken fuhr ich herum. „Ähm... Nein. Eigentlich 3

nicht.“ 4

Tess schloss leise die Tür hinter sich, während sie mitten 5

im Zimmer inne hielt, um ihr weißes, kurzer Jäckchen über 6

dem rot gepunkteten Nachthemd zuzuknöpfen. Dabei blieb ihr 7

Blick an dem Schiff hängen. „Du willst also wirklich?“, 8

erkundigte sie sich nach einer Weile, als sie auf den Balkon 9

hinaustrat. 10

Ich zuckte, ohne mich umzudrehen, die Achseln, nickte 11

schließlich weniger überzeugt. 12

„Warum?“ 13

Warum war eine gute Frage. Wenn ich ehrlich bin, habe ich 14

keinen Grund. Ob ich nun in Spanien einsam wäre oder hier… 15

was machte dies schon für einen Unterschied? Hier hätte ich 16

wenigstens - auch auf die Gefahr hin, dass es dumm klingen 17

könnte - hier hatte ich ein Dach über dem Kopf, jemand der 18

sich um mich kümmert, etwas zu essen, saß nur selten alleine 19

im Boot… Warum also? Vielleicht, weil es ein Traum war. 20

Unser großer Traum. Der Einzige, an den ich mich noch 21

klammern konnte, der mir Kraft gab, nach vorne zu blicken. 22

Vermutlich aber trieb mich der Gedanke an Mama dorthin. An 23

unseren letzten, gemeinsamen Sommerurlaub. Und auch ein 24

bisschen die Hoffnung, meine Tante dort anzutreffen, die es 25

nach ihrem Studium auf die kanarischen Inseln gezogen hat. 26

Dies erwiderte ich der Tochter des Sirs, die daraufhin den 27

Kopf schief legte und ebenfalls nachdenklich in die Sterne 28

sah. „Dort draußen geht es einem besser, oder?“ 29

„Weiß nicht.“ 30

293

„Ich meine, gefährlich ist es. Was geschieht mit einem, 1

wenn man drüber ist? Wo wohnen, wo spielen? Glaubst du in 2

Spanien gibt es Tanzschulen?“ 3

„Weiß ich nicht, Tess.“ 4

Das Mädchen schluckte bedächtig, als wolle es noch etwas 5

sagen, kaute aber lediglich auf seinem Kaugummi. Unauffällig 6

beobachtete ich es von der Seite. Ich mochte Tess. Denn 7

trotz all des Misstrauens haben wir viel zusammen erlebt, 8

viel zusammen erreicht. Wir kennen beide die Wahrheit über 9

unsere Väter und waren darüber hinaus so etwas wie Freunde 10

geworden, selbst wenn wir es noch so abstritten und 11

feierlich zu jedem Anlass geloben würden, dass wir einander 12

nicht ausstehen konnten. Nur morgen oder übermorgen oder an 13

dem Tag danach werden wir uns niemals wieder sehen und ich 14

ahnte, dass ich sie ein klitzekleines bisschen vermisste. 15

Schließlich gehörte sie neben Kay, Mathieu, Jabali, dem 16

Wächter, Reni, Kassian, Enrique und deren Familien, 17

ebenfalls zur Besatzung. 18

„Willst du mitkommen?“ 19

Erstaunt stieß Tess sich von der Brüstung ab, um mit einem 20

Schwung eine Drehung auszuführen. „Was?“, fragte sie, als 21

hätte sie mich nicht verstanden. 22

„Ob du mitkommen willst. Mit nach Spanien.“, wiederholte 23

ich daher, mich ebenfalls von dem Balkon abwendend. 24

„Ich? Spinnst du, wie kommst du denn darauf?“ 25

„War nur eine Idee.“ Ich winkte ab. „Einer meiner 26

lächerlichen Einfälle.“ 27

Schweigen. Zögernd nahm ich ihre Hand, drückte sie fest, 28

während ich sie sacht unter meinem Arm durch eine weitere 29

Drehung tanzen ließ. Sie kicherte verlegen, seltsam 30

294

vergnügt, als sei sie auf einmal ein anderer Mensch 1

geworden. Als sei sie nicht die selbstsichere, eitle Tochter 2

eines Sirs, sondern ein Freund. In Gedanken zählte ich ein 3

eins, zwei und führte das Mädchen blindlings durch das 4

Gästezimmer. Musik und Takt entstanden in unseren Köpfen. 5

Wir tanzten – Seit, Schritt, Platz, Cha-Cha, bis es 6

plötzlich ruckartig in Mitten eines Tores stehen blieb und 7

mich anstarrte. Beinahe lautlos murmelte es: „Kay, ich habe 8

Kay vergessen!“ 9

Das Jäckchen über ihre Brust glatt streichend, stolzierte 10

Tess zur Türe. Bevor sie verschwand, drehte sie sich 11

nochmals im Hinunterdrücken der Klinke zu mir um: „Es war 12

kein lächerlicher Einfall, Tim.“ 13

Verwirrt kratzte ich mich am Kopf, ein wenig enttäuscht, 14

dass Tess mich im Stich ließ. Kay, ich habe Kay vergessen, 15

hatte sie behauptet, doch was meinte sie damit? Langsam 16

wollte ich ebenfalls einen Blick auf den Flur hinauswerfen, 17

als ich im selben Moment mit jemandem zusammenstieß. Das 18

Mädchen, das nicht mit dieser Kopfnuss gerechnet hatte, 19

taumelte zurück und wäre vermutlich gestürzt, hätte ich es 20

nicht im letzten Augenblick aufgefangen. Dankbar lächelte 21

Kay mich an, während ich sie behutsam zu mir hochzog und mit 22

dem Zeigefinger über ihre leicht gerötete Schläfe fuhr. Das 23

würde eine schöne Beule werden! Erst jetzt bemerkte ich die 24

Bluttropfen auf ihrer angeschwollenen Unterlippe. Tim, was 25

hast du wieder getan? 26

„Es tut mir Leid. Es tut mir Leid, Kay.“, stotterte ich 27

einige hundert Male und setzte sie auf einen der beiden 28

Stühle auf dem Balkon. Stöhnend rieb sie sich über ihr 29

295

Gesicht, scheinbar belustigt darüber, wie fürsorglich ich 1

wegen meines schlechten Gewissens sein konnte. 2

„Schon okay. Von dir hätte ich auch nichts anderes 3

erwartet.“ 4

Während ich ebenfalls einen Stuhl für mich heranzog, 5

betrachtete ich meine beste Freundin von oben bis unten. Ihr 6

haselnussbraunes Haar wurde von einer Spange festgehalten. 7

Dennoch fielen einige Strähnen eigensinnig heraus, 8

umspielten zart ihr kantiges, hübsches Gesicht. Sie trug ein 9

weites T-Shirt, dazu eine etwas ältere, kurze Jeans, sodass 10

ihr Tattoo in Form eines kleinen, springenden Delphins gut 11

zu Geltung kam. Auch ihre Zehennägel, die aufgrund der 12

Sandalen sichtbaren waren, wiesen eigenartige Hieroglyphen 13

auf. Was sie bedeuteten, wusste ich nicht, obwohl ich mich 14

das schon damals oft gefragt hatte, wenn sie im Schatten der 15

Bäume etwas auf ihren Block kritzelte, es anschließend 16

zerriss und von Neuem begann, während wir anderen 17

umhertollten. Kay war ein geheimnisvolles Wesen, 18

geheimnisvoller als jedes Schokoladenüberraschungsei oder 19

jede Wundertüte. Wahrscheinlich mochte dies der Grund sein, 20

weshalb ich sie so sehr liebte, auch wenn ein Junge 21

hinsichtlich der Zuneigung zu einem Mädchen nicht derart 22

schwach sein sollte. Männer weinen nicht, Männer sind 23

tapfer. Papa hat das mehrmals betont, wenn ich nachts an 24

sein Bett tapste, aus Angst vor den gruseligen Schatten an 25

den Wände oder den knurrenden Monstern unter der 26

Schlafcouch. Ich sei eine Heulsuse. Nicht einmal 27

Fruchtzwerge würden noch helfen, aus mir einen einigermaßen 28

großen und starken Jungen zu zaubern. 29

„Wie bist du eigentlich hierhergekommen?“ 30

296

Wie betört von ihren blauen Augen zog es mich in die 1

Realität zurück. Kay, die ein Bonbon lutschte, legte mit 2

einem fragenden Blick den Kopf ein wenig schief. 3

Zögernd räusperte ich mich, doch dann verspürte auch ich 4

plötzlich das dringende Bedürfnis, meine Erlebnisse zu 5

erzählen. Vielleicht, so dachte ich, würden die Worte, wenn 6

ich sie aussprach davon fliegen und nie wieder zurückkehren. 7

Ja, ich könnte meine Geschichte tatsächlich für etwas frei 8

Erfundenes halten, etwas, was nur in meinen Albträumen 9

geschehen war. Und so begann ich, ihr von der Flucht aus dem 10

Dorf zu erzählen. Oder im Grunde fing ich noch viel, viel 11

früher an: Damit, dass meine Mutter gestorben war. Dies 12

mochte der Auslöser dafür gewesen sein, weshalb ich nun hier 13

tausende Meilen von meiner Heimat entfernt neben ihr auf dem 14

Balkon einer fremden, weißen Backsteinvilla kauerte. Denn 15

wäre Papa mit Mamas Tod zurechtgekommen, hätte der Meister 16

ihn, - wenn überhaupt - nur schwer mit Drogen verführen und 17

für seine fiesen Pläne missbrauchen können. So reisten wir 18

nach Afrika, ich lernte dich kennen, Kay, mein 19

Schwesterchen, und bis zu dem Tag, an dem Papa diesen Unfall 20

hatte, war ich eines der glücklichsten Kinder im gesamten 21

Universums. 22

„Wie ist dein Dad gestorben?“ 23

„Autounfall. Er hat in der Kurve die Kontrolle über den 24

Wagen verloren und ist unangeschnallt gegen einen Baum 25

gekracht.“ Seltsamerweise floss mir diese Lüge leicht von 26

den Lippen. Theoretisch gesehen beinhaltete diese Aussage 27

lediglich das, was man mir vorgegaukelt hatte und, obwohl 28

ich Kay vertraute, hielt ich es für besser, wenn auch sie 29

297

sich an diese Fassade der Wahrheit klammern konnte. Alles 1

Übrigen würde sie vermutlich verunsichern und schockieren. 2

Und so beließ ich es dabei und berichtete mit Händen und 3

Füßen, wie es Mathieu und mir gelungen war, uns unbemerkt 4

nach Kpalimé durchzuschlagen. Wie ich herausfand, dass Sir 5

Scott mit dem Unfall in Verbindung stand und wie wir letzten 6

Endes hier gelandet sind. 7

Kay nickte gelegentlich, ansonsten lauschte sie schweigend 8

meinen Worten. 9

Dass mich irgendwelche irren Ärzte um ein Haar auseinander 10

genommen hätten, aber aus einem schleierhaften Grund daran 11

gehindert wurde. Die Narbe am Oberarm mochte die einzige 12

Spur dieser schrecklichen Nacht sein, die sie hinterließen… 13

obwohl ich im Nachhinein, bei meinem missglückten 14

Fluchtversuch über den Zaun der Plantage, auf der ich nun 15

arbeiten sollte, verstand, wieso. Das Haus ist in 16

verschiedene Zonen unterteilt, die man nur mit verschiedenen 17

Magnetchips betreten darf, die entweder unterhalb der 18

Hautschicht platziert werden oder in Form von Karten 19

auftauchen. Versucht man dennoch, auszubrechen oder in einen 20

verbotenen Teil zu gelangen, setzt ein Jucken ein, welches 21

bereits nach Sekunden kaum auszuhalten ist. 22

Bei diesem Gedanken musste ich mich augenblicklich 23

kratzen, als hätte mich eine Mücke gestochen. Mit den 24

abgeknabberten Fingernägeln rieb ich über die errötete 25

Stelle, während ich weitererzählte. Von meinen neuen 26

Freunden, die ich gefunden hatte, aber auch von den vielen 27

Feinde, die mir das Leben zur Höllen machten. Als ich 28

Mathieu auflistete, mit dem ich mich im Gewitter geprügelt 29

und wegen dem ich zum Glück nur in der Küche unter der 30

298

Fetische des absolut grässlichen Kochs Malliums Fischen die 1

Köpfe abschlagen musste, klappte sich Kays Mund auf und 2

wieder zu, doch mit einem Handzeichen verdeutlichte sie mir, 3

dass ich mich von ihr nicht weiter ablenken lassen sollte. 4

Ein wenig stolz berichtete ich von dem Einbruch in das 5

Arbeitszimmer meines Vaters. 6

Um sie vor den grausamen Details des Kamikazebündnisses zu 7

schonen, murmelte ich lediglich, dass sowohl Scott, als auch 8

Papa und die anderen Mitglieder vielen Menschen wehgetan 9

hätten. Sehr, sehr weh getan, ergänzte ich in Gedanken. 10

Glücklicherweise hackte Kay nicht weiter nach, sondern 11

schien sich viel mehr damit zufrieden zu geben, was ich ihr 12

preisgab. Mittlerweile lutschte sie ein weiteres Bonbon; aus 13

ihrer Richtung strömte ein herrlicher Duft nach Kirschen. 14

Ihre schmalen Lippen waren leicht bläulich vor Kälte, aber 15

ihr edler Schein verlieh auch ihnen einen überirdischen 16

Glanz. Bemühte, mich davon nicht beeinflussen zu lassen, 17

führte ich das Männchen namens Tim zum Ziel des 18

Spielbrettes. Lediglich die Felder, dass ich dich, Kay, 19

gemeinsam mit Zarin, der ebenfalls für den Meister arbeiten 20

musste, in dem Anhänger gefunden und bei einem Ausflug 21

zufällig das Leben dieser Monsters gerettet hatte, weshalb 22

dieser mir die Freiheit und das Schiff schenkte, mit dem wir 23

unseren Traum erfüllen konnte, fehlten. Ende. Aus, vorbei. 24

Die Geschichte war erzählte, zumindest bis hierhin. Oder 25

fast jedenfalls… Kurz überkam mich erneut das Verlangen, ihr 26

die vollständige Wahrheit nahe zu bringen, doch dann 27

entschied ich mich dagegen. Ich hätte sie nicht belogen, ihr 28

bloß einige Fakten verschwiegen. 29

299

Schweigend wartete ich auf eine Reaktion meiner besten 1

Freundin. Aber diese mochte völlig anderes ausfallen, als 2

ich jemals für möglich gehalten hätte. Ich wusste auch nicht 3

recht, was ich erwartet hatte. Eine anerkenne Umarmung 4

vielleicht, ein erleichtertes Aufatmen. 5

„Tess war bei dir, nicht wahr?“ 6

Die Frage traf ich unverhofft, sodass ich stutzte. Kay 7

lächelte, doch in ihren Augen erkannte ich, wie verzweifelt 8

sie dabei wirkte. 9

„Ja, Tess war bei mir. Warum?“, erwiderte ich irritiert, 10

während ich nach einem Bonbon langte, dass sie mir, ohne 11

mich eines Blickes zu würdigen, reichte. 12

„Magst du sie?“ 13

Zögernd wiegte ich den Kopf, nickte schließlich, wobei ich 14

das Bonbon in der Hand wog. „Ja, wieso auch nicht? Ich weiß, 15

sie ist manchmal eine angeberische Ziege, vollkommen 16

übergeschnappt, wenn du mich fragst, aber eigentlich nett.“ 17

Das durchsichtige Papierchen raschelte. „Ich habe sie 18

gefragt, ob sie mit uns kommen nach Spanien will.“ 19

Kay verschluckte sich an dem Zuckerklumpen in ihrem Hals, 20

sodass sie hustend nach Luft ringen musste. Panisch sprang 21

ich auf. Der Stuhl kippte hinten über, aber selbst wenn der 22

Krach den Meister oder jemanden geweckt haben sollte, so 23

wäre es mir egal. „Kay!“ Behutsam klopfe ich ihr auf den 24

Rücken. Einmal, dann zweimal etwas fester, bis sie das 25

schleimige Bonbon aus ihrem Rachen zurück auf den gefliesten 26

Boden des Balkons beförderte. „Alles okay?“ 27

Keine Antwort. Betroffenes Schweigen. Um mir auszuweichen, 28

drehte das Mädchen den Oberkörper ein wenig zur Seite und 29

300

starrte in den Himmel, als gäbe es dort, Wundervolles zu 1

entdecken. 2

„Alles okay bei dir? Rede mit mir!“ 3

Doch sie würde mir auf ewig eine Antwort schuldig bleiben. 4

Für den Bruchteil einer Sekunde strichen ihre Härchen am 5

Unterarm über die meine. Ihre dünnen, kalten Finger 6

verkrampften sich in meiner schweißnassen Hand, als wollten 7

sie diese nie wieder loslassen. Dabei bohrte sie einer ihrer 8

Nägel tief in mein Fleisch, doch dieser Moment war es nicht 9

würdig, von einem Aufschrei gestört zu werden. Leise, mit 10

einem sehnsuchtsvollen Blick in die Sterne, begann sie, ein 11

Lied zu summen. Sein Text wurde von einer Melodie untermalt, 12

die ebenso schön, wie traurig durch die Dunkelheit 13

davongetragen wird. Dennoch spürte ich in diesem Augenblick 14

nichts weiter als das überwältigende Gefühl von etwas, dass 15

ich nicht zu zuordnen vermochte, weil es kein Wort dafür gab 16

und vermutlich auch nie eines geben würde. Unbeschreiblich, 17

nannte ich es daher, obwohl diese wiederum eine Beschreibung 18

wäre, die das beschrieb, was nicht zu beschreiben war. Im 19

Grunde mochte es auch gleich sein, wie es hieß. Denn solch 20

ein Gefühl empfand jeder Mensch anders, schätze ich. Für 21

mich war es eine willkürlich zusammen gemischte Suppe aus 22

Glück, Pech, Hass, Liebe, Geborgenheit, Einsamkeit, Trauer, 23

Freude, Wärme, Kälte, Erleichterung, Angst, Sicherheit, 24

Verzweiflung, Leidenschaft, Unbehagen, Sehnsucht. Vor allem 25

aber Verwirrung, die wie ein Gewürz die kochende, wohl 26

riechende Flüssigkeit schmückte. 27

Mein Herz pendelte wie ein getroffenes Tier durch meinen 28

Brustkorb, sodass ich für Sekunden glaubte zu sterben. 29

Bewegungslos beobachte ich Kay im Blickwinkel, während ich 30

301

gespannt ihrer sanften Stimme lauschte, ohne den Sinn zu 1

verstehen. Kay, bitte sieh mich an! Als hätte es meine 2

Gedanken lesen können, brach das Mädchen seinen Gesang 3

abrupt ab. 4

„Ich komme nicht mit nach Spanien.“ 5

In diesem Moment ist für mich eine Welt zusammengebrochen. 6

„Ich komme nicht mit nach Spanien, Tim.“ Meine beste 7

Freundin, meine Schwester… Nein! Sicherlich hast du dich 8

bloß verhört. Es war unser Traum, unser gemeinsamer Traum, 9

etwas, für das wir gekämpft haben, wir alle zusammen. 10

Weshalb wollte sie dies plötzlich aufgeben? Das machte doch 11

keinen Sinn! 12

„Ich glaube an dich, Tim. An dich und Mathieu. Hoffentlich 13

werdet ihr es schaffen, aber für mich…“ 14

Energisch schüttelte ich sie an den Schultern, doch sie 15

wich mir aus, als sei ich nicht da, nur die Sterne hoch über 16

ihrem Kopf, das leise Plätschern des Brunnens, der 17

Nachtwind, der sacht durch ihr Haar fuhr. 18

„Warum?“, fragte ich beinahe brüllend. 19

„Ich kann nicht. Meine Eltern und … Ich habe Angst…“ 20

„Die haben wir alle. Aber egal was auch passiert, ich 21

werde dich niemals im Stich lassen, versprochen? Großes 22

Spanien-Ehrenwort, okay?“ 23

Zuversichtlich lächelnd hielt ich ihr meine Hand hin, wie 24

so oft, als wir geschworen hatten. Doch dies Mal griff sie 25

nicht danach, betrachtete sie nur. „Ich kann nicht.“, 26

wiederholte sie stattdessen noch einmal. „So viel Wasser. 27

Überall.“ 28

Natürlich! Plötzlich ergab alles in dem Labyrinth mit den 29

vielen, ineinander verworrenen Gängen einen sinnvollen Weg 30

302

hinaus. Deshalb war Kay niemals in den Fluss gesprungen, 1

sondern hatte sich wenn überhaupt nur zögerlich 2

hineingetastet, obwohl die anderen dann immer verächtlich 3

spotteten. Sie hatte schlicht und ergreifend panische Angst 4

davor in diesen dunklen, geheimnisvollen Fluten zu 5

ertrinken. Und du Tim, du hast ihr niemals geholfen, gleich, 6

obwohl sie deine beste Freundin ist. Du hast sie sogar 7

einmal absichtlich unter Wasser gedrückt. Was bist du nur 8

für ein Idiot? Vielleicht hättet ihr gemeinsam eine Lösung 9

finden können, einen Ausweg. Denn diesen mochte es immer 10

geben… jedenfalls theoretisch. 11

„Ich verspreche dir, dass dir nichts passieren wird. Wir 12

sind auf einem Schiff, das Wasser liegt ganz tief unter uns 13

und kommt nicht an dich ran. Und wenn… Ich werde auf dich 14

aufpassen!“ 15

Unbeholfen strich sie eine Strähne aus der Stirn, während 16

sie sich von dem Stuhl erhob, die Lippen zu einem schiefen 17

Lächeln verzogen. „Nein. Tut mir Leid…“ Ich spürte ihren 18

warmen Atem an meinem Hals, konnte förmlich ihrem 19

unregelmäßigen Herzschlag lauschen. Poch… Poch, poch… Oder 20

mochte dies mein Eigener sein? Poch, poch-poch, poch… Ich 21

wusste es nicht. Vielleicht war es auch ein Bündnis aus 22

unseren beiden - was machte dies schon für einen 23

Unterschied? Unschlüssig standen wir voreinander, ohne uns 24

anzusehen. Es gab nichts mehr zu sagen. Außer… „Du bist 25

meine bester Kumpel, Kay.“ 26

Das schottische Mädchen nickte, streichelte mir beruhigend 27

über den Unterarm. 28

„Du meiner auch, Tim.“ Schluckend wandte sie sich ab, 29

umklammerte das Geländer, als schenkte es ihr den fehlenden 30

303

Halt. Kay… Bitte, bitte komm mit nach Spanien. Ich will dich 1

nicht noch einmal verlieren… Nicht noch einmal… Ich mag dich 2

so sehr. Wie soll ich es nur ohne dich schaffen, etwas auf 3

die Beine zu stellen? Siehst du denn nicht, dass ich mich 4

selbst nur in Schwierigkeiten und Chaos stürze, wenn du 5

nicht da bist? Sanft schlang ich meinen Arm um ihre Taille, 6

legte meinen Kopf auf ihre Schultern, genauso, wie ich es 7

oft in den Filmen gesehen hatte. Frauen mochte das in der 8

Regel - mit Ausnahme von Kay. Diese stieß mich traurig zur 9

Seite. 10

„Nimm Tess mit.“, murmelte sie, „Ich bin sicher, ihr, du 11

und sie, werdet…“ Das Mädchen stockte. „…bessere Freunde.“ 12

Mit diesen Worten wollte sie davon stürmen, doch ich hielt 13

am Ellenbogen fest. 14

„Nein, Kay, das werden wir nicht.“, versicherte ich ihr, 15

wobei ich ihr Tränen überströmtes Gesicht an meine Brust 16

drückte. Eine Weile standen wir einfach nur da, bis sie alle 17

ihre salzigen Flüssigkeitsvorräte aufgebraucht hatte und 18

nach Luft ringen musste. „Wenn du einen Delphin siehst, 19

grüßt du ihn von mir, ja?“ 20

„Mach ich, Kay. Großes-Spanien-Ehrenwort. Und jetzt nicht 21

mehr weinen, klar?“ 22

Sie wiegte den Kopf, ein feuchtes Glitzern im Augenwinkel. 23

„Okay.“, gähnte sie, einen flüchtigen Blick auf den Wecker 24

werfend. „Ich muss schlafen gehen.“ 25

„Du kannst hier schlafen. Ich habe genug Platz. Dann 26

können wir noch etwas Mau-Mau spielen oder so.“, schlug ich 27

vor, wobei ich die Schublade aufzog und ein neues 28

Kartenspiel zu Tage beförderte. 29

304

„Mau-Mau? Du hast echt keine besseren Einfälle, als nachts 1

um 11 Uhr Mau-Mau zu spielen?“ Kay grinste. „Nein, 2

ernsthaft. Ich bekommen Riesenärger, wenn ich morgen früh 3

nicht da bin.“ Flüchtig umarmte sie mich zum Abschied und 4

schlich zwinkernd zur Tür. „Vielleicht einander Mal.“, fügte 5

sie beim Hinausgehen hinzu. 6

Vielleicht einander Mal. Doch es würde niemals einander 7

Mal geben. Das wussten wir beide in jener Nacht, auch wenn 8

wir nicht wagten, dies auszusprechen. 9

Vielleicht einander Mal. 10

305

13. Kapitel 1

Der abgebrochen Ast, der mir als Paddel dient, ist zu 2

kurz, das Kajak hoffnungslos wacklig. Als ich mein Gewicht 3

beim Abstoßen von dem Stein zu verlagern versuche, gerät 4

derart heftig ins Schwanken, dass es zu kentern droht. Im 5

letzten Augenblicklich, das Wasser läuft mir über das 6

Gesicht, fange ich es auf. Erneut, diesmal etwas 7

vorsichtiger, drücke ich mich ab und tatsächlich gelingt es 8

mir, dass Kajak, das sofort von der Strömung mitgerissen 9

wird, waagerecht auf den Fluten gleiten zu lassen. Immer 10

schneller entferne ich mich von der Villa. Aber jubeln kann 11

ich dennoch nicht, weil ich spüre, dass das, was mich nun 12

erwartet, eine noch größere Herausforderung sein würde. 13

Tosendes Wasser, irgendwo hinter der nächsten Biegung. 14

Vorsichtig tauche ich den Ast ins Wasser, um herauszufinden, 15

wie ich das Kajak lenken kann und wie es reagiert, wenn ich 16

im Fluss auf irgendwelche Hindernisse treffe. 17

Die Strömung ist stark, das Ufer steil, eine Möglichkeit 18

zum Anhalten gibt es nicht. Die Wurzeln der Bäume hängen von 19

den Felsen herab, verschwinden in der braunen Brühe, die von 20

den Steinen wie in einer natürlichen Rutsche eingegrenzt 21

wird. Weiß und wild säumt das Wasser, bahnt sich seinen Weg. 22

Ich will aufschreien, als das Kajak von der ersten 23

Stromschnelle beinahe gegen den Fels geschleudert wird, doch 24

die Ekel erregende Flüssigkeit in meinem Mund unterdrückt 25

dies. Und, obgleich ich nicht weiß, wohin mich meine Fahrt 26

führt, ahne ich, dass es zweifelsohne keine leicht werden 27

würde. Panisch rudere ich gegen den Storm, bis ich erschöpft 28

306

aufgebe. Es hat keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn gegen das 1

Mitreißen anzukämpfen. Die Fluten gewinnen immer. 2

Tief atme ich durch, presse die Lippen aufeinander, bis 3

sie weiß werden. Fest umkrallen meine Hände den Ast und 4

dann… Dann beginnt sich die Welt zu drehen. Nach links, nach 5

rechts, weiter nach rechts, nach links. Wasser klatscht mir 6

wie ein nasser Schwamm ins Gesicht. Erkennen kann ich nur 7

noch undeutliche Umrisse. Ein grünes Blätterdach über meinem 8

Kopf, Schatten zu allen Seiten. Ich weiß nicht mehr, wo ich 9

bin, weiß nicht mehr, wie lange ich schon fahre. Weiß nur, 10

dass es endlich aufhören soll, das Grauen. Gott, lass das 11

Boot kentern, lass mich ertrinken. Aber ich ertrinke nicht. 12

Irgendwie schaffe ich es, kann wieder sehen, wieder hören. 13

Egal, wie zerschlagen und erschöpft ich mich fühle: Ich habe 14

den Fluss besiegt. Ätsch, Sio River! Plötzlich erfasst mich 15

eine weitere Stromschnelle, wütender als die erste, und 16

reißt mich fort ins Ungewisse. 17

Verträumt starrte ich durch die Ritze, die die Plane bot, 18

zum Sio River hinüber, der neben der unebenen Straße her 19

Richtung Lomé treibt, den Kopf schwer auf die Hände 20

gestürzt. Ich hatte davon geträumt, einmal auf ihm davon 21

getragen zu werden, wie ein Reiter auf seinem Wasserpferd, 22

selbst wenn ich wusste, dass es nur den Mutigen dieser Welt 23

diese Ehre erweisen würde, zu denen ich zweifellos nicht 24

zählte. Ich wäre zu feige für solch ein Abenteuer. Als mir 25

der scharfe Motorqualm in die Nasse stieg, musste ich 26

husten. Kay, die eingepfercht zwischen zwei Holzkisten neben 27

mir auf der Decke hockte, die nur durch die dünnen 28

Ladefläche von dem rechten Hinterreifen getrennt wurde, 29

sodass wir jedes Schlagloch zu spüren bekamen, klopfte mir 30

307

sanft auf den Rücken. Angewidert verzog auch sie das 1

Gesicht. „Bah! Die armen Tiere da draußen. Die ersticken 2

bestimmt! Ist das eklig. Igitt.“ 3

Seltsamerweise sagte sie dies in Englisch und nicht in 4

Französisch, wie es angebracht gewesen wäre. Verständnislos 5

starrte Reni von dem Schoss ihrer Mutter aus zu uns herüber, 6

widmete sich dann jedoch sofort wieder Kassians 7

sechszehnjähriger und bereits verheirateten Schwester 8

Dominique. Ihr und ihrem an HIV erkranktem Ehemann Amani 9

hatte man den gemeinsamen Sohn genommen, was beide noch 10

nicht verkraften konnten. Mit der Trauer wurde die junge, 11

wieder schwangere Frau lediglich fertig, indem sie sich mit 12

anderen Kindern beschäftigt, so wie jetzt, als sie vergnügt 13

mit dem kleinen Mädchen spielte. Amani hingegen, der sich 14

angeregt mit Jabali, dem Wächter, und seinem Schwiegervater 15

unterhielt, schwor heimlich Rache - ein Grund dafür, weshalb 16

er zu den wenigen zählte, die nicht an mir zweifelten. 17

Suleika, Tess Tanzlehrerin, die kichernd ihren Mann Faraji 18

und Kassian beim Raufen zurecht wies, ließ ihre Finger auf 19

dem Metall tanzen, um der Tochter des Sirs die neuen 20

Tanzschritte zu erklären, die man sicherheitshalber auf den 21

Vordersitz des Lasters verfrachtet hatte, der durch eine 22

dünne Trennwand von dem übrigen Teil der Ladefläche 23

abgeschnitten wurde. Dabei legte die Frau den Arm schützend 24

um die Schultern eines älteren Mannes, der abwesend vor sich 25

starrte. Einen Namen mochte er nicht haben, auch kein 26

Gesicht, keine Stimme. Dennoch war er darüber nicht 27

sonderlich traurig. Vielmehr schien es ihm egal. So wie 28

alles, was um ihn herum geschah. Nur Kalli, Tess Hund, der 29

natürlich auch nicht vergessen wurde, konnte diesem 30

308

unnahbaren Menschen ein Lächeln auf die geschwollenen Lippen 1

zaubern. 2

Seufzend wanderte mein Blick über die Köpfe aller 3

Anwesenden hinweg, bis er an der letzten Person hängen 4

blieb, die fernab auf dem Rücken lag und stur schweigend die 5

Wölbung der Plane über ihrem Kopf betrachte: Mathieu, mein 6

bester Freund. Als ich ihm auf der Plantage beim Ernten 7

begegnet bin, hat er mich kaum beachtet und als ich auf ihn 8

zu gegangen bin, hat er mir kaum Antwort gegeben. Ich hatte 9

das Gefühl, er sei immer noch wegen dieser ganzen Geschichte 10

gereizt und sauer. Dennoch entschied er sich, mich auf 11

dieser Reise zu begleiten. Großes-Spanien-Ehrenwort, hat er 12

mit einem schiefen Grinsen gemeint, die einzigen 13

zusammenhängenden Worte, die wir über Wochen ausgetaucht 14

haben. Auch Kay gegenüber war er abweisend, hatte ihr bei 15

einem flüchtigen „Hey, Kay-Linny!“ die Zunge 16

herausgestreckt. Seither schwieg er beharrlich und ich 17

zweifelte ins Geheim schon meine Entscheidung an, ihn 18

überhaupt eingeladen zu haben. Trotz allem, flößte ich 19

meinem Gewissen ein, er sei mein Freund und Freunde ließe 20

man nicht im Stich. 21

Das also waren die Menschen, mit denen ich nach Spanien 22

reisen würde: Mathieu, Tess, Kalli, dem Hund, Kassian, 23

dessen Familie - bestehend aus seiner Schwester Dominique, 24

ihrem Ehemann Amani, ihrem ungeborenen Kind und dem Vater 25

Richard - Jabali, dem Wächter, Suleika, deren Freund Faraji, 26

Reni und ihrer Mutter, dem Mann ohne Namen und zu guter 27

Letzt auch Mickie, der Wüstenrennmaus. Nur die Wichtigste 28

fehlte… Kay. Von ihr würde ich mich in Lomé vor dem Hôtel 29

Sarakawa, wo ihre Mutter als Managerin arbeitete, 30

309

verabschieden müssen. Vielleicht könnten wir an unserem 1

letzten gemeinsamen Abend noch einmal die Boulevard du Mono 2

(die Hafenstraßen mit einem herrlichen Blick auf den Golfe 3

de Bénin) entlang spazieren oder die Cathédrale de Lomé 4

besuchen können, aber dann… Ich sah zu ihr herüber, ein 5

feuchtes Glitzern im Augenwinkel. Dann… Als ihr Kopf 6

ebenfalls verwundert zu mir herum schoss, trafen sich unsere 7

Blicke, als hätte sie meinen auf ihrer Haut spüren können. 8

Oh Gott, Tim, jetzt starr sie nicht so an! Du siehst sicher 9

aus wie ein durchgedrehter Professor, der unter einem dieser 10

Mikroskope etwas wundersam Spannendes entdeckt hat… Okay, 11

zugegeben, das mit dem durchgedreht stimmt, aber… Tim! 12

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich unbewusst ihr Handgelenk 13

mit meinen Finger umkrallte. Verlegen wollte ich sie lösen, 14

aber Kay legte sie vorsichtig in ihre warme und klappte 15

einen Finger nach dem anderen um. Die ganze Fahrt über und 16

selbst bei der Pause in Kéve, einer Stadt im Südwesten an 17

der Grenze Ghanas, brach dieses Bündnis nicht, sodass wir 18

gemeinsam auf die Toilette gingen, was in Anbetracht dessen, 19

dass sie groß musste, leicht problematisch wurde. 20

Nach einer vierzig Meilen langen Fahrt näherten wir uns 21

der Küste Togos. Bitte, lass uns auf ewig weiter fahren… 22

Kays Hand verkrampfte sich kurz in meiner, dann ließ sie 23

mich los, um durch ein Loch in der Plane auf der 24

gegenüberliegenden Seite neben Suleika hinauszusehen. Ich 25

senkte den Kopf, atmete tief durch. Tim, du wirst doch jetzt 26

nicht heulen, bloß weil du dich von diesem Mädchen 27

verabschieden musst! Immerhin hat sie dir oft genug 28

wehgetan. Nicht zuletzt die Nase! 29

310

Auch ich lugte durch eines der Löcher. Obwohl Lomé mit 1

seinen siebenhundertfünfzigtausend Einwohner das 2

Wirtschafts- und Handelszentrum des 56.785 3

Quadratkilometergroßen Landes in Westafrika sein mochte, so 4

erschien die Hauptstadt vor allem außerhalb ihres Kernes wie 5

ein Dorf: Niedrige, zumeist einstöckige Gebäude mit 6

hölzernen Vorbauten, an deren Stützen oder Balkan bunte 7

Tücher im Wind flatterten. Ein einem Container ähnlich 8

sehender Laden mit einer Telefonzelle, der durch alte 9

Autobatterien und Reifen vor Bodennässe geschützt werden 10

sollte, zwängte sich zwischen zwei Häuser. Vor dem einen 11

kauerten Kinder, die trotz des Staubes Kleider wuschen. Das 12

andere mochte eine Art Autowerkstatt sein, in der ein 13

Afrikaner mit großem Geschick ein Auto reparierte, welches 14

in Deutschland vermutlich längst auf dem Schrotthaufen 15

gelandet wäre. Gegenüber, nur durch eine breite, matschige 16

Straße getrennt, auf der sich das Wasser nach einem kurzen 17

Regenschauer gestaut hatte, war eine Bar mit dem Namen „Bel 18

Air“ zu finden, die sogar über einen Biergarten - ein 19

ovaler, liebevoll bemalter Tresen mit viereckigen Hockern - 20

verfügte. Dicht, manchmal nur durch Palmen oder andere 21

Pflanzen unterbrochen, die ebenfalls zum Aufhängen von 22

Schildern, Weiterleiten des Stromkabels, oder dergleichen 23

genutzt, erstreckte sich eine Siedlung. Ein beinahe 24

familiäres Miteinander, ähnlich dem Leben in Kpalimé. 25

Doch nachdem die Avenue de la Victoire den Kanal Lac 26

Ouest überquert hatte, musste ich mehrmals blinzeln, um das 27

zu glauben, was ich nun sah. Oder vielmehr, wovon ich nun 28

Teil wurde. 29

311

„Du siehst entsetzt aus.“, bemerkte Faraji. Grinsend legte 1

er mir die Hand auf die Schultern und schob die Planen ein 2

Stück weit zur Seite. „Das ist Lomé.“ 3

Ich wiegte den Kopf, spähte dann gebahnt zu der von 4

tausenden, verschiedenen Verkaufsständen verstopfte Kreuzung 5

herüber, auf der sich der Verkehr mühsam voran quälte. 6

Hupen, Fluchen. Hochbeladenen Fahrzeugen schlängelten sich 7

in rasanten Manövern durch die drückende Hitze hindurch. 8

Menschen - Frauen mit kunstvoll auf ihren Köpfen 9

aufgetürmten Bananenkörben, Männer, die auf wild zusammen 10

gezimmerte Gerüsten arbeiten, Kinder, die nach der Schule, 11

vorausgesetzt ihre Eltern können die 2300 CFA, umgerechnet 12

3,55 €, jährlich entbehren, ebenfalls an den Marktständen 13

mithelfen müssen - all diese Menschen ließen Lomé, von dem 14

Dach eines Hochhauses betrachtet, wie einen bunten 15

Ameisenhaufen wirken. Diese Vorstellung kam mir vor allem 16

dadurch in den Sinn, als ich in die Luft schnupperte. Es 17

stank. Nicht nach den Abgasen der alten Auto. Nicht nach 18

Schweiß… Nein, es stank nach Müll. Nach dem Müll, der aus 19

jedem Loch, aus jeder Bordsteinabsenkung wie ein Geschwür 20

hervorquoll. Denn diesen Luxus einer Müllabfuhr genoss man 21

in Togo nicht. Auch die Elektronik gehörte für viele 22

Familien, die in den engen Wohnungen der mehrstöckigen, 23

grauen, quadratischen Bauten lebten, zu einem Komfort, den 24

sie sich nicht leisten konnten, obgleich sie täglich an 25

ihren Ständen, bestehend aus einem abgenutzten Sonnenschirm 26

und grob getischlerten Regalen, ihre Waren anpriesen. 27

Verkauft wurde alles: Von Kleidung, über Früchte oder andere 28

Lebensmittel, zu Spielen oder, was ich als am grausamsten 29

empfand, zum Schlachten von Tieren auf offener Straße, 30

312

mitten im Dreck, im Abgas der Fahrzeuge. Ihre leblosen 1

Körper bluteten an Leinen aufgehängt aus. Abgeschlagene 2

Köpfe trat man, wenn sie nicht mehr weiterzuverarbeiten 3

waren, achtlos zur Seite. 4

Unser Laster kreuzte die Boulevard du Javier, setzte aber 5

nach einem Stau den Weg durch den Kern Lomés in Richtung 6

Hafen fort. Ich konnte zu meiner Rechten das hübsche Gebäude 7

des Siége du Parlement ausmachen, an dem die togolesische 8

Flagge im Wind flatterte, dann am Ende der Straße im weiter 9

Ferne den Palais de Justice. Keines dieser Häuser würde ich 10

jemals betreten. Warum auch? - Ich wusste nicht einmal, 11

wofür sie derart gut errichtet waren und die der armen 12

Menschen dort draußen derart armselig. Doch als wir nun nach 13

links auf die Hafenstraße abbogen, erschien es mir 14

unwichtig, darüber nachzudenken. Blau glitzerte das Meer vor 15

uns. Der Golfe de Bénin, wir hatten ihn erreicht. Die Küste 16

von Togo. Die Sonne strahlte. Palmen bogen sich sanft wie 17

Fächer im Wind. Weiße Bänder umspülten mit schlangenartigen 18

Bewegungen die tausenden, feinen, winzigen Perlen. Die 19

bunten Handtücher der Touristen verliehen dem Strand aus der 20

Sicht eines Papageis, der krähend in einer Baumkrone hockte 21

oder seinen Flügel ausbreitete, um sacht über unsere Köpfe 22

hinweg zu segeln, etwas Harmonisches. Verträumt schloss ich 23

die Augen, betend, dass ich niemals von hier fortgehen 24

musste. Wäre es nicht möglich, ein Haus unter diesen Palmen 25

dort drüben zu bauen? Wir sind doch in Togo, da ist alles 26

egal. Vogelfrei, warum nicht auch das? Warum nicht auch der 27

Traum, immer mit Kay zusammen bleiben zu können? Schön, es 28

mochte der zweite Traum sein, aber überwog dieser nicht 29

sogar den ersten? Nachdem du, Kay, mich am Morgen aus der 30

313

Hängematte, in der ich im Sonnenuntergang mit einem Comic in 1

der Hand eingeschlafen wäre, geworfen hättest, könnten wir 2

gemeinsam im Sand kochen. Ich kann gut kochen, finde ich. 3

Nudeln, geröstetes Brot, sicher auch dein Lieblingsgericht, 4

süße, gebratene Bananen. Versuchen kann ich es jedenfalls, 5

selbst wenn es bedeutet, dass ich mich wieder einmal in den 6

Finger schneide oder verbrenne. Tess, Mathieu und die 7

anderen besuchen uns immer und abends, wenn wir alle müde 8

von der Schule oder Arbeit heimkämen, sängen wir Lieder. 9

Vielleicht würde Amani mir beibringen, wie man Panflöte 10

spielt. Fragen konnte ich ihn ja einmal. Für dich Kay… Gott, 11

Tim, fängst du jetzt schon mit diesem Liebesgedusel an, 12

obwohl es dich in den Filmen derart aufgeregt hat, wenn das 13

Bild eines sich überschlagenen Autos durch einen dieser 14

ekligen Küsse geschnitten wurde?! Oje, eindeutig, du hast… 15

Fieber. Sicher, Fieber, natürlich Fieber - was auch sonst? 16

Plötzlich scherte der Lasten ruckartig aus. Panisch schrie 17

Reni auf. „Mami! Mami!“ Auch die übrigen Menschen krallten 18

sich an allem fest, was sich ihnen bot. Dabei traf mich 19

Farajis Ellenbogen hart am Kinnhacken, sodass ich 20

unkontrolliert gegen die Plane fiel. In meinem Kopf 21

wirbelten die Gedanken durcheinander. Chaos, pures Chaos. 22

Der Geschmack von Blut lag mir auf der Zunge und, als ich 23

ihn öffnete, tropfte tatsächlich rötlich gefärbter Speichel 24

auf mein Hemd. Was passiert da draußen? In weiter Ferne, wie 25

es schien, konnte ich Tess Stimme vernehmen, die etwas 26

angeschlagen klang, geradezu schockiert. Hupen. Noch immer 27

drohte das Fahrzeug zu kippen. Bitte nicht! Irgendwie gelang 28

es dem Fahrer mit einem Ruck das Steuer herumzureißen, 29

sodass der Transporter zurück auf die Fahrbahn fiel und 30

314

unter ächzendem Motor langsam neu startet. Ein tiefes Raunen 1

durchfuhr die Menge. 2

„Alles okay?“ erkundigte sich Amani, der sich als 3

Erster von dem Schock erholte und sich aufrichtete, um den 4

Blick prüfend über die Köpfe seiner entsetzten Mitreisenden 5

schweifen zu lassen. Als er erleichtert feststellte, dass 6

niemand schwer verletzt war, löste sich seine Anspannung. 7

„Wir sollten alle einmal ganz ruhig durchatmen. Bald sind 8

wir am Hafen.“, meinte er achselzuckend. 9

„Einmal durchatmen?“ Der erzürnte Jabali, der die kleine 10

Reni im Arm hielt, sprang ebenfalls auf. „Beinahe wäre wir 11

alle tot…“ 12

„Nur noch das eine Stück.“ Mit einem abschätzenden Blick 13

kniete er nieder, um mir mit einem alten Papierschnipsel das 14

Blut von der Lippe zu tupfen. „Nur noch dieses eine Stück.“ 15

315

14. Kapitel 1

Die regenbogenfarbene Fontäne schoss aus der Pore, 2

befeuchtete wohltuend unsere verschwitzten Gesichter. Drei 3

goldene Sterne blitzten in meinen funkelnden Augen. In 4

kursiv gedruckten Buchstaben erhob sich der Name von dem 5

weißen, plastischen Untergrund: Mercure Sarakawa. 6

Klimatisierte Luft schlug mir entgegen, als ich nun das 7

noble Hotel betrat, welches etwa fünf Minuten vom 8

Stadtzentrum entfernt inmitten eines 25 Hektar großen Garten 9

voller Kokosnuss-Palmen lag. Von ihrem Schreibtisch aus, auf 10

dem sich einige Unterlagen stapelten, lächelte mir eine 11

freundlich aussehende Afrikanerin zu, die sich aufrichte, 12

ihren knielangen Rock glatt streichend. „Gute Tagen! Was 13

kann ich für dich tun?“, erkundigte sie aufmerksam, „Suchst 14

du deine Eltern?“ 15

Hastig schüttelte ich den Kopf, doch bevor ich etwas 16

erwidern konnte, stolperte Kay ebenfalls durch die Drehtür 17

in weit geöffneten Eingangsbereich. „Meine Mum. Wir suchen 18

meine Mutter. Josefine Brown. Ist sie da?“ 19

Überrascht ließ die junge Frau den Blick zwischen uns hin 20

und her wandern, langsam nickend: „Selbstverständlich. Ich 21

werde sofort nachsehen, ob sie im Hause ist. Entschuldigt 22

mich einen Moment.“ Als sie sich mit einem höflichen Knicks 23

abgewandt hatte, begann Kay belustigt zu kichern. 24

„Hätte nicht gedacht, dass einmal jemand auf mich hören 25

würde. Komm, das nutzen wir aus.“ Verschwörerisch zwinkerte 26

sie mir zu. „Ich hab tierischen Durst.“ 27

Mich an der Hand hinter sich herziehend, schleifte sie 28

mich über den Gang in Richtung einer Bar namens Le Mono. 29

316

Nachdem wir einander gegenüber auf zwei Hockern Platz 1

genommen hatten, eilte ein Kellern herbei, um unsere 2

Bestellungen, zwei Colas, aufzunehmen. 3

„So habe ich mir Urlaub vorgestellt.“, flüsterte Kay, 4

wobei sie sich die Sonnenbrille, die einer der Gäste 5

vermutlich vergessen hatte, aufsetzte und den Kopf in den 6

Nacken legte. Ich wünschte, dem wäre so. Dass wir 7

tatsächlich im Urlaub wären und dort draußen vor diesen 8

Toren in der glühenden Hitze nicht zwölf weitere Menschen 9

und ein Hund in einem Laster auf uns warteten. 10

Unsere Getränke wurden serviert, beide herrlich gekühlt 11

mit Eiswürfel und einem bunten Strohhalm. Im Hintergrund 12

rauschte der Wasserhahn, den derselbe Keller scheinbar 13

vergessen hatte, zu zudrehen. Konzentriert verzierte der 14

Mann nun ein Cocktailglas, in das er eine milchige 15

Flüssigkeit füllte, und es dann auf einem Tablett auf die 16

geflieste Terrasse trug. Leise plätscherte das Wasser 17

regelmäßigen Abständen in die Schüssel, die bereits 18

überlief. Kostbares Wasser, lebensnotwendig für die meisten 19

Afrikaner, für die hier wohnend Touristen allerdings nur 20

überschüssiger Komfort, um den sie nicht einmal mehr baten. 21

Ich konnte kaum glauben, dass auch ich noch vor einigen 22

Monaten ebenfalls zu diesem gleichgütigen Haufen gehört 23

hatte. Daher sprang ich nun von meinem Hocker, um zumindest 24

einen Teil des Wassers zu retten. Als ich von meiner Mission 25

zurückkehrte, hielt mir Kay die Hand zur High Five hin. 26

„Vielleicht sollten wir den anderen auch etwas zu trinken 27

bringen.“, meinte das Mädchen nach einer Weile. „Oder ein 28

paar Schüsseln mit Wasser, damit sie sich waschen können. 29

Ich weiß nämlich nicht, ob es Mum Recht ist, wenn fremde 30

317

Leute den Pool benutzen.“ Es deutete auf den fünfzig Meter 1

langen Becken inmitten einer grünen Oase. „Du darfst 2

natürlich.“ 3

Plötzlich vernahm ich hinter mir einen piepsigen 4

Aufschrei. „Kay Linn! Oh mein Gott!“ 5

Josefine Brown stürmte auf ihre strahlende Tochter zu und 6

riss diese beinahe von ihrem Barhocker. „Gott, ich hatte 7

solche Angst um dich. Wo bist du gewesen? Und Tim…“ Sie 8

umarmte mich ebenfalls, tätschelte mir liebevoll den Kopf. 9

„Du bist ja auch hier. Keenan hat mir erzählt, du und 10

Mathieu seien abgehauen, als ich noch einige Dinge im Dorf 11

erledigen musste. Wirklich? Ist das wahr? Was habt ihr euch 12

nur dabei gedacht? Vor allem nach diesem Hyänenangriff. Du 13

kannst dir gar nicht vorstellen, wie unendlich erleichtert 14

ich bin, euch wieder in die Arme schließen zu können. Wo 15

habt ihr nur gesteckt?“ 16

„Dafür bin ich verantwortlich.“ 17

Entsetzt wandte ich mich um. Die Cola in unseren Gläsern 18

gefror. All die Wärme starb, ließ nur den eisigen Tod 19

zurück. Maurice Scott schritt gefolgt von der wütend 20

dreinschauenden Tess durch die Tür. 21

„Und Sie sind?“ Höflich streckte Josefine Brown dem 22

elegant gekleideten Herr die Hand aus, doch dieser erwiderte 23

die Geste mit einem unerwarteten Handkuss. 24

„Sir Maurice Anthony Scott. Britischer Großgutbesitzer und 25

Professor aus Kpalimé... Meine Tochter. Tess Ann-Caroline“ 26

„Oder einfach nur Tess.“, fuhr das Mädchen ungehalten 27

dazwischen, wobei sie neben mir auf einem Barhocker Platz 28

nahm. „Hi Tim.“ Ohne zu fragen, langte sie nach meiner Cola, 29

318

wofür sie von Kay einen abschätzenden Blick kassierte. „Hi 1

Kay.“ 2

„Fühlen Sie sich wie einer unsere Gäste, Sir Scott. Darf 3

ich Ihnen und Ihrer Tochter etwas zu trinken anbieten?“ 4

„Danke, nein.“ Mit einem flüchtigen Blick durch die leicht 5

getönten Fenster, fügte er hinzu: „Ich wollte mich nur 6

vergewissern, dass das Mädchen sicher nach Hause gelangt 7

ist.“ 8

„Ist es mir erlaubt, Sie zu fragen, was sie mit den 9

Kindern gemacht haben?“ 10

„Natürlich! Sie haben ein Recht darauf, alles zu erfahren. 11

Sehen Sie, Ihr Junge schlich mit einem seiner Freunde um 12

meine Villa, sodass ich habe annehmen müssen, er wolle mich 13

bestehlen, worin ich jedoch irrte. Einen ähnlichen Verdacht 14

erweckte Ihre Tochter, aber es bestätigte sich nach gewissen 15

Nachforschungen ebenfalls, dass diese nur versehentlich in 16

all das hineingeraten war. Leider war ich aufgrund meiner 17

Arbeit verhindert, die Kinder in ihre Familien 18

zurückzugeben. Aber seien Sie versichert, Mrs. Brown, wir 19

hatten unseren gemeinsamen… Spaß, nicht wahr Tim? Nicht wahr 20

Kay?“ 21

Verblüfft nickte ich. „Spaß hat es wirklich gemacht, 22

Josefine. Sir Scott hat ein tolles Haus mit einem 23

gigantischen Pool und einer riesigen Wiese.“ 24

„Einmal sind wir ausgeritten. Aber Tim ist vom Pferd 25

gefallen.“, ergänzte Tess leise, „Deshalb die ganzen Narben. 26

Und weil er mich ab und zu geärgert hat, wenn ich mit Kay 27

getanzt habe.“ 28

Kays Mutter lachte, wobei sie die Hände auf die Schultern 29

ihrer Tochter stützte. „Danke, Sir Scott.“, entgegnete sie, 30

319

eine ihrer blondierten Haarsträhnen hinter das Ohr 1

streichend. „Ich hatte solch eine Angst, den Kindern wäre 2

irgendetwas Schlimmes zugestoßen. Dort draußen sollen 3

allerlei böse gesinnte Menschen herumstreunen, die nur 4

darauf warten, Ausländer zu entführen und zu erpressen. Ich 5

weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann.“ 6

Am besten gar nicht! Tief durchatmend starrte ich in mein 7

halb ausgeleertes Glas, die Hände in den Stoff meiner Hose 8

gekrallt. Das durfte doch nicht wahr sein! Der Meister 9

verkauft sich tatsächlich als der Wohltäter, der Held, der 10

Hänsel und Gretel vor der Hexe gerettet hatte, sie aber 11

gleichzeitig in den Ofen stieß. 12

„Nicht der Rede wert. Sicherlich hätten Sie dasselbe für 13

meine Tochter getan.“ Maurice Scott streichelte mir 14

freundschaftlich über das Haar, dann nahm er meine Hand, um 15

mit Kugelschreiber eine Nummer auf die Innenfläche zu 16

kritzeln. „Nicht vergessen, Tim.“ Er ballte meine Finger zu 17

einer Faust. „Du kannst immer anrufen, wenn etwas sein 18

sollte. Wenn du einmal Rat brauchst, jemanden, der dir zu 19

hört… wie dein Vater. Ich weiß, ich werde ihn nie 20

zurückholen können, aber ich hoffe, ich kann ihn ein wenig 21

für dich ersetzen.“ Mit diesen Worten stolzierte er zu Kay 22

herüber und küsste sie vorsichtig auf die Wange. „Auf 23

Widersehen, meine Kleine. Du wirst mir fehlen, besonders 24

deine lebhafte Fantasie.“ 25

Angewidert verzog sie das Gesicht, bemüht ruhig zu 26

bleiben, obwohl sie innerlich zu beben schien. „Ich werde 27

Sie auch vermissen. Vor allem die leckeren Kekse.“, 28

behauptete sie mit gespielter Höflichkeit. 29

320

„Nun denn. Lebt wohl! Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages 1

einmal wieder. Ihr seid jeder Zeit willkommen! Sie im 2

Übrigen auch, Mrs. Brown und ihr Mann. Ich würde die Eltern 3

dieses netten, kleinen Mädchens zu gerne einmal näher kennen 4

lernen.“ 5

Josefine Brown zeigte dem Mann den Weg nach draußen. „Ich 6

werde Sie noch bis zur Türe begleiten. Eine angenehme 7

Heimreise! Und noch mal meinen Dank, dass Sie sich so gut um 8

die Kinder gekümmert haben.“ 9

„Tess! Kommst du, Schatz?“, rief Scott, ohne sich 10

umzudrehen, bereits hinter dem Türrahmen verschwunden. 11

„Ich möchte mich noch verabschieden, Daddy!“ 12

„Okay, ich werde im Wagen auf dich warten.“ 13

Anerkennend hob ich die Augenbraue. Du musst noch viel 14

über die Kunst des Schauspiels lernen, dachte ich seufzend, 15

Denn dies hier war ein Theaterstück der Meisterklasse. 16

Sowohl Tess, als auch Maurice Scott und Kay, hatten ihre 17

Rollen unabhängig voneinander eingeübt, sodass es Kays 18

Mutter sicherlich nicht schwer gefallen war, dass zu 19

glauben, was man ihr vorgetäuscht hatte. Immerhin hatte ihr 20

einer der reichsten Männer dieses Landes persönlich die Hand 21

geküsst, um sich zu entschuldigen, dass ihre Tochter 22

seinetwegen derart spät nach Hause kam! Nur du, Tim, 23

kanntest nicht einen einzigen Satz dieses Drehbuchs. Wie 24

immer. Was hast du anderes erwartet? 25

„Dein Dad weiß also nichts über deine Pläne nach Spanien 26

zu fahren?“ 27

Kays Frage riss mich aus meinen Gedanken. Verwirrt ließ 28

ich meinen Blick zwischen den beiden hin und her schweifen. 29

321

Der unterschwellig verächtliche Tonfall, den die Stimme des 1

schottischen Mädchens anschlug, war kaum zu überhören. 2

„Nein. Er würde mich niemals gehen lassen. Ebenso wenig 3

wie meine Mom. Deshalb haue ich ab. Nach Spanien. Von dort 4

aus fliege ich nach Amerika, wo mein Bruder lebt. Meinen 5

Pass habe ich. Geld auch. Und den Rest werde ich schon 6

regeln.“ 7

Den Rest werde ich schon regeln. Ins Geheim bewunderte ich 8

Tess selbstbewusste Art. Denn im Gegensatz zu mir hatte sie 9

so etwas wie einen Plan. Wenn ich nach Spanien käme, hätte 10

ich… nichts. Nichts, außer einem durchnässten Rucksack mit 11

ein paar Spielsachen drin. Kein Geld, keine Unterkunft, in 12

der ich leben könnte, keine Eltern, die mich wie nach einer 13

Klassenfahrt herzlich empfingen. Ich hätte absolut gar 14

nichts. 15

„Und wie bitte willst du das anstellen? Ich meine, willst 16

du dich einfach in Luft auflösen, ein paar Stunden warten 17

und dann auf das Schiff teleportieren.“ 18

„Zum Beispiel. Wäre doch eine Lösung, Kayli. Aber lass 19

das einmal meine Sorge sein. Auf gar keinen Fall werde ich 20

in diesem Land versauern.“ Mit dem Finger schnipste sie in 21

die Luft und rief dem herbeieilenden Kellern ihre 22

Bestellung, zwei Limonaden, zu. 23

Warum zwei? Wir sind doch zu dritt! Oder ist Tess derart 24

durstig, dass sie zwei Getränken unmittelbar hintereinander 25

in sich hinein kippen wollte? 26

Doch, als der Kellner nun die beiden herrlich 27

erfrischenden Limonadengläser, die mit seiner Orange und 28

jeweils einem Strohhalm verziert waren, auf den Tisch 29

stellen, bemerkte ich erstaunt, wie Tess mir ihr zweites zu 30

322

schob. „Lecker. Probier‟ mal.“, fügte sie grinsend hinzu, 1

wobei sie die Flüssigkeit an ihrem spiralförmigen, 2

durchsichtigen Strohhalm ansaugte. 3

„Und Kay?“, fragte ich, ohne meine Limonade anzurühren. 4

„Ist schon okay, Tim. Ich hatte sowieso keine Durst 5

mehr.“, erklärte das schottische Mädchen, sprang von ihrem 6

Barhocker, um die leeren Gläser zurück auf den Tresen zu 7

stellen und sich anschließend in die ausgebreiteten Arme 8

ihrer Mutter zu flüchten, die an der Tür erschien. Strahlend 9

küsste die Frau die Stirn ihrer Tochter, säuselte undeutlich 10

etwas. 11

Wie meine Mama wohl gewesen wäre. Ob sie sich auch 12

derartige Sorgen gemacht hätte. Für einen Moment schloss ich 13

die Augen, stellte mir vor, dass meine Mutter in der Tür 14

stände, mir lächelnd das Haar küsste. Dabei wäre es 15

unwichtig, was sie flüsterte. Allein ihre Wärme würde 16

ausreichen, um mich zu einem der glücklichsten Jungen zu 17

machen. Mama… 18

„Wo ist deine Mutter, Tess?“ 19

Das Mädchen zuckte die Achseln. „Irgendwo in den USA. Aber 20

wenn ich dort bin, werde ich meinen Bruder nach ihr fragen 21

und sie finden, da bin ich mir sicher.“ 22

„Meine Mama ist immer bei mir, egal wo ich bin.“, 23

erwiderte ich lautlos, mehr zu mir selbst, als zu Tess, die 24

den Blick von Kay abgewandt hatte und misstrauisch das 25

Gelände des Hotels betrachtete. Von ihren Liegen aus, 26

winkten ihr zwei ältere, hellhäutige Jungen zu, die das 27

Mädchen bemerkt haben musste. Der eine, ein Hagerer mit 28

blonden Locken und einer schwarzen, modischen Sonnenbrille 29

im Haar, zwinkerte. Tess ihrerseits tat das gleich, 30

323

gestikulierte mit den Finger ein Zeichen, woraufhin der 1

zweite belustigt den Daumen hob. 2

Seufzend wanderte mein Blick zurück zu Kay, die nun mit 3

ihrer Mutter auf uns zukam. 4

„Meine Mum fährt heute Abend nicht nach Hause, weil sie 5

sich um das Hotel kümmern muss. Wieso verstehe ich nicht. 6

Aber das war damals auch schon so, also von daher…“ Sie 7

zuckte die Achseln. „Einer der Tagungsräume ist frei. Darin 8

könnten wir für einen Nacht schlafen, vorausgesetzt, wir 9

bereiten Mum keinen Ärger. Und… Tess?“ 10

Widerwillig drehte sich die Genannte um. „Ja?“ 11

„Du auch, wenn dir das nicht zu… zu eklig ist. Mum meinte, 12

weil es unsere letzte gemeinsame Nacht ist, würde sie 13

versuchen, deinen Dad zu überzeugen. Morgen müsse sie 14

ohnehin in Kpalimé einige Besorgungen machen. Da könnte sie 15

dich auf dem Weg nach Hause bringen.“ 16

„Wirklich? Danke, Mrs. Brown, wenn Sie meine Anwesenheit 17

nicht stört.“ 18

Josefine Brown lachte. „Nein, Tess. Es ist das Mindeste, 19

was ich als Entschädigung für dich tun kann. Oder gäbe es 20

Problem mit der Schule? Mit Privatlehrern?“ 21

„Nein. Samstags habe ich keinen Unterricht.“ 22

„Okay, dann werde ich nochmals mit deinem Vater sprechen. 23

Kay, Schatz, könntest du bitte den Tagungsraum vorbereiten?“ 24

„Klar, Mum. Helft ihr mir?“ 25

Ich nickte. Der Gedanke, eine ganze Nacht über mit Kay 26

zusammen sein zu können, setzte in mir Glückgefühle frei, 27

die ich lange nicht mehr gespürt hatte. Im Grunde sogar sehr 28

lange nicht mehr. Auch wenn es nur ein paar Sekunden wären, 29

es wäre Sekunden, in denen ich vergessen konnte. In denen 30

324

ich vergessen konnte, was in dieser Villa geschehen, wie 1

Papa gestorben war, wie ich die Cola bezahlen muss, wann und 2

wo ich wieder zur Schule gehen werde. Ich bin frei, wenn sie 3

mich berührt, frei, wenn sie einfach nur in meiner Nähe ist, 4

dass ich ihren warmen Atem auf meiner Haut spüren, das 5

Flattern ihrer dunklen Wimpern hören kann. 6

Verheißungsvoll spreizte Tess die Lippen, ein wenig 7

enttäuscht, die beiden Jungen, die ihr nun eine Kusshand zu 8

warfen, verlassen zu müssen. Dennoch folgte sie Kay und mir, 9

drängelte sich zwischen uns, ihre Arme um unsere Schultern 10

gelegt. „Dann lasst uns mal aufräumen.“ 11

Kay breitete die Decke auf dem rot karierten Teppich aus. 12

„Fertig!“ 13

„Fertig!“, pflichtete ich ihr lachend bei, mit dem Rücken 14

einen Tisch gegen die Wand drückend, die in einem warmen 15

Gelb-orange gestrichen worden war. 16

Als hätten wir uns abgesprochen, schossen unsere Köpfe zu 17

dem anderen Mädchen herum, das damit kämpfte, einen Kasten 18

Wasser in den Raum zu schaffen, den Josefine Brown 19

großzügiger Weise spendiert hatte. Das Wiederauftauchen 20

ihrer Tochter musste sie derart glücklich stimmen, dass es 21

sogar ihren ansonsten oftmals geradezu krankhaften, 22

egoistischen Geiz verdrängte. So bemerkte sie zudem nicht 23

einmal mehr, dass die von ihr herbei getragenen 24

Nahrungsmittel zum größten Teil auf mysteriöse Weise 25

verschwanden. Auch mochte sie den zerbeulten Laster nicht 26

realisieren, der vor dem Hotel parkte. Vielleicht aber sah 27

Kays Mutter all dies, konnte sie jedoch keinen Reim darauf 28

machen. Wer wusste dies schon? Ich jedenfalls wusste es 29

nicht. 30

325

„Tess, bist du fertig?“, erkundigte sich Kay. 1

Das Mädchen zog eine Grimasse. Entkräftet schwang es sich 2

auf einen der Tisch und tupfte sich mit dem Ärmel seines T-3

Shirts den Schweiß von der Stirn. „Und wie fertig ich bin!“, 4

stöhnte es und ließ sich vollenden auf den Rücken fallen, 5

die Arme ausgebreitet. 6

Ich kicherte, Kay stimmte mit ein, wofür wir beide einen 7

beleidigten Blick kassierten, der Bänder sprach. 8

„Du bekommst gleich auch einen großen Lolli, Tess Ann-9

Caroline.“, stichelte ich sie an. 10

„Sag niemals diesen Namen!“, fauchte sie, sprang auf und 11

gestikulierte mir drohend mit dem Finger, wobei sie ein paar 12

Schritte auf uns zu machte. „Niemals, kapiert?“ 13

„Natürlich, Tess Ann-Caroline.“ 14

„Ich hasse dich!“ Wütend drehte sie sich weg. Als wir ihr 15

folgten, hob sie abwehrend die Hände. „Lasst mich in Ruhe!“, 16

rief sie zu einem Teil ernst, zum anderen belustigt. Dann 17

stürzte sie zur Türe hinaus, die hinter ihr zu fiel. 18

Ich wollte ihr nachlaufen, um mich zu entschuldigen, doch 19

Kay hielt mich an der Schulter zurück. „Lass sie. Sie wird 20

darüber hinweg kommen müssen. Glaubst du nicht, wir sollten 21

einmal nach Mathieu und den anderen sehen? Sonst haben sie 22

nachher den leckeren Pudding ganz alleine gegessen!“ 23

„Du sagst mir aber nicht erst jetzt, dass in dieser gelben 24

Schüssel Pudding war, oder?!“ Als sie mir die Frage mit 25

einem Nicken bestätigte, jagte ich augenblicklich davon. 26

„Pudding! Ich will Pudding!“ 27

Ein älteres, gut gekleidetes Ehepaar, welches mir in den 28

Weg trat, schüttelte irritiert den Kopf, flüsterte etwas in 29

einer fremden Sprache. 30

326

Heiße Luft schlug mir entgegen. Obwohl die silbernen 1

Zeigen der riesigen Uhr im Eingangsbereich erst sieben 2

anzeigten, trug der Himmel bereits sein rötliches 3

Abendkleid. Wie Schleifer warf die untergehende Sonne ihre 4

Schatten auf den kleinen Laster, aus dem nicht das kleinstem 5

Geräusch nach draußen auf den Parkplatz drang. Scheinbar 6

mochte Amani die anderen angewiesen haben, sich ruhig zu 7

verhalten, aus Angst, ein Hotelgast könnte auf sie 8

aufmerksam werden und sich im schlimmsten Fall über sie 9

beklagen. Vorsichtig ließ ich meinen Blick umherschweifen 10

und, als ich mir sicher war, dass mich niemand beobachtete, 11

öffnete ich die Plane und starrte in die elf mir 12

wohlbekannten Gesichter. 13

„Tim, Kay! Kommt rein!“ Dominique, die in diesem 14

Augenblick das Essen gerecht zu verteilen versuchte, winkte 15

mir verschwörerisch zu. 16

„Ist noch Pudding da?“ 17

„Ja, ein Rest. Warum?“ 18

„Weil Tim Angst hat, sein Pudding hätte Beine bekommen und 19

würde ihm weglaufen.“, antwortete Kay, wobei sie sich 20

atemlos auf einer Holzkiste neben Suleika nieder. 21

„Wenn das so ist.“ Kichernd hielt Dominique mir die 22

Schüssel hin. Ohne Besteck. 23

Dies war der Anfang eines amüsanten Abends, wie jeder von 24

uns ihn seit langem nicht mehr erlebt hatte. Von unseren 25

Decken am Boden aus, erzählten wir einander Witze und 26

Geschichten, aßen dabei mit den Finger, die wir anschließend 27

gierig ableckten. Obwohl es kaum ausreichte, um gesättigt zu 28

werden, fühlte ich mich, wie sich Jesus von Nazareth 29

vielleicht bei seinem letzten Abendmahl gefühlt haben 30

327

musste: Irgendwie verraten von der Welt, aber beschützt von 1

dem kleinen Kreis Freunde um mich herum. 2

„Hast du Lust, spazieren zu gehen?“ Kay beugte sich etwas 3

vor, um mir dies ins Ohr zu flüstern. Kurz überlegte ich. Im 4

Grunde wollte ich Farajis Geschichte weiterhin lauschen, 5

aber dann entschied ich mich, den Wunsch meiner besten 6

Freundin zu erfüllen. Unseren letzten gemeinsamen Abend. Der 7

Gedanken daran schnürte meinen Hals zu, sodass ich kaum Luft 8

bekam. Hastig verbahnte ich ihn in den hintersten Winkel 9

meines Gedächtnisses. Nicht jetzt. Noch war dieser Abend 10

nicht vorbei. 11

In gebührendem Abstand folgte ich ihr über den Parkplatz 12

ins Hotel hinein, dann durch das Le Mercure, ein 13

klimatisiertes Restaurant mit einem atemberaubenden Blick 14

auf die tropischen Pflanzen im Garten des Hauses. 15

Größtenteils europäische Urlauber speisten an luxuriösen, 16

holzfarbenen Tischen im sanften Licht der Abenddämmerung. 17

Leise klang Musik aus der Bar Sio unmittelbar daneben, in 18

der ein afrikanischer Künstler auf seiner Gitarre spielte. 19

Auch Tess entdeckte ich unter den Anwesenden. Angeregt 20

unterhielt sie sich mit den beiden Jungen, die sie bereits 21

von dem Nachmittag her kannte. Dabei genoss sie es 22

sichtlich, derart umschwärmt zu werden. 23

Ich gönnte es ihr. Wie lange hatte sie unter ihrem Vater 24

gelitten? Immer alleine, mit Ausnahme von Kalli, der sich 25

nun gähnend unter dem Tisch räkelte. 26

Kays beschleunigte ihre Geschwindigkeit, sodass es mir 27

schwer fiel, ihr zu folgen. Die Umgebung blendete ich völlig 28

aus - bis das Mädchen plötzlich anhielt. Neben ihr verlief 29

der 50 Meter lange, in ein bläuliches Licht getauchte Pool, 30

328

der von einem gefliesten Weg umrundet wurde. Die Liegen 1

musste jemand nach Ende der Badezeit feinsäuberlich alle in 2

eine Richtung gedreht haben, denn nicht ein einziger dieser 3

blauen Stühle war abgewandt. 4

„Tim…“ Kay drehte sich auf der Zehnspitze ihrer Sandalen 5

um ihre eigene Achse, wobei sie beinahe das Gleichgewicht 6

verlor, hätte ich sie nicht in letzter Minute festgehalten. 7

Dicht drückte ich sie an meine Brust. Ich erwartete, dass 8

sie mich von sich stieß, aber stattdessen verlagerte sie ihr 9

Gewicht zur Seite des Pools. Schwankend wurde ich im Kampf 10

um meinen Balance besiegt, denn, als ich das nächste Mal 11

etwas realisierte, tauchte mein Kopf durch die glatte 12

Wasseroberfläche. Für Sekunden verschwanden die Klänge der 13

Musik, das Rauschen der Bäume, es wurde totenstill. Ich 14

konnte nicht mehr sehen. Nur ein verschwommenes Blau. 15

Explodierend Luftblasen strichen über meine Wangen. Wo ist 16

Kay? Mein Blick schweifte hektisch über das Becken, während 17

ich zurück zum Beckenrand kraulte. Sie kann nicht schwimmen, 18

schoss es mir durch den Kopf. „Kay? Kay!“, brüllte ich. 19

Keine Antwort, kein Lebenszeichen. Im Begriff 20

zurückzutauchen, drückte mich jemand unter Wasser. „Glaub ja 21

nicht, ich hätte nichts gelernt, wenn ihr am Fluss wart.“ 22

Das Mädchen klammerte sich mit einer Spur von Respekt an den 23

Beckenrand, schien aber ansonsten munter. 24

„Wenn das so ist.“ Ich zuckte die Schultern, umklammerte, 25

ohne dass sie hätte reagieren können, ihre Taille und warf 26

sie ein Stück weiter ins Wasser, immer darauf bedacht, sie 27

jederzeit hinaus zu ziehen, für den Fall, dass sie in Panik 28

geriet. 29

329

Wie ein Küken in einer Schüssel Wasser ruderte sie wild 1

mit den Armen. In Gedanken zählte ich bis drei, dann kraulte 2

ich zu ihr herüber und zog sie an meiner Hand an den 3

Beckenrand zurück. „Alles okay?“, fragte ich besorgt, als 4

sie zu husten begann. Bitte, lass mich keinen Fehler gemacht 5

haben. Nicht bei diesem Mädchen, das niedlicher ist, als 6

Strupi, mein Meerschweinchen, damals als es gerade einmal 7

ein paar Wochen alt war und noch ganz weiches Fell hatte… 8

Tim, sie ist dein bester Kumpel! Sie muss so etwas 9

wegstecken können. 10

„Du bist gemein.“, erwiderte sie in einem bemühten, 11

ernsten Tonfall, der ihr misslang. 12

Ich schüttelte mein nasses Haar. „Ich weiß. Aber du wehrst 13

dich auch nicht.“ 14

Sie wiegte den Kopf. „Ich…“ Furchtvoll blickte sie auf die 15

glatte Wasseroberfläche, stellte sich vor, wie es wäre, 16

darin zu ertrinken, erdrückt von den Tonnen von Wasser über 17

ihr. 18

„Keine Angst. Ich bin ja bei dir. Es tut mir Leid. Ich 19

hätte es nicht tun dürfen.“ 20

„Warum?“ 21

„Warum?“ 22

„Weißt du, ich hatte überhaupt keine Angst… Jedenfalls 23

nicht mehr so viel. Weil ich wusste, du würdest mich nicht 24

im Stich lassen. Ich konnte sogar schwimmen.“, erklärte das 25

Mädchen stolz und ließ ihre Hand einige Mal auf das Wasser 26

klatschen, als wolle sie es schlagen. Ich tat es ihr gleich. 27

Immer größer werdende Kreise zogen, wölbten sich, 28

verschwanden. 29

330

„Warum kannst du nicht hier bleiben?“, fragte Kay nach 1

einer Weile. 2

Ich sah sie nicht an, starrte nur in das tiefe Wasser. 3

Warum kannst du nicht hier bleiben? Ja, warum? Warum konnte 4

ich es nicht? Ich wäre bei Kay, so wie ich es mir damals in 5

den Fängen des Meisters oft gewünscht hatte. Aber 6

irgendetwas in mir drängte mich dazu, diese Menschen nach 7

Spanien zu führen. Ohne mich würde sie… 8

„Sie können nicht ohne dich in See stechen, nicht wahr?“ 9

Erstaunt schüttelte ich den Kopf. Woher weiß sie, woran 10

ich denke? 11

Das Mädchen zog sich lächelnd am Beckenrand entlang zu 12

einer Leiter, um den Pool endlich zu verlassen. Nass hing 13

seinem Wickelrock und Top von seinem Körper herab. Nur die 14

linke Sandale, die fehlte. Kurzerhand tauchte ich unter und 15

nach dem dritten Versuch entdeckte ich ihre verschwommen 16

Umrisse. 17

„Du bist viel zu lieb, Tim. Ständig sorgst du dich um alle 18

anderen um dich herum. Bloß um dich selbst, sorgst du dich 19

nie.“, flüsterte sie auf einer Liege hockend, um ihre 20

Kleidung auszuwringen. Nachdem ich ebenfalls die Leiter 21

hinaufgeklettert war, setzte ich mich neben sie. „Ist das 22

schlecht?“ 23

Schweigen. „Nein.“, meinte Kay nach einer Weile, „Nein. 24

Das ist es, was ich so sehr an dir mag.“ Zögerlich näherten 25

sich ihre Lippen meinen, doch kurz vor der Berührung wandte 26

sie sich errötet ab. Verdammt, was ist die Liebe für eine 27

blöde Erfindung! Wer diese Art von Gefühl in einen Menschen 28

eingebaut haben musste, weil er es für eine großartige Idee 29

hielt, musste seinen Spaß an diesem Spiel haben. Ich hatte 30

331

in der Schule hoch und heilig geschworen, dass mich diese 1

komische Liebe niemals fangen könnte, nachdem ich wochenlang 2

einer meiner damaligen Freunde dahin schmelzen gesehen 3

hatte, wenn eines der Mädchen ihm einen Zettel mit einem 4

Filzstift „HDL“ zuwarf. Weil ich für sie viel zu schnell 5

wäre. Schließlich war ich einer der schnellsten Läufer 6

meines Alters. Warum also hätte ich mir Sorgen machen 7

sollen, wenn ich einfach davon rennen kann? Doch nun hatte 8

sie mich doch bekommen, schätzte ich, denn seltsamerweise 9

mochte ich Kay anders als Tess oder Reni. Anders, vielleicht 10

war dies der richtige Ausdruck dafür. Denn anders ist nicht 11

falsch. Anders ist… anders. Verschieden halt. Oh Mann! Warum 12

kann man nicht wenigstens davor verschont bleiben. Kay ist 13

doch dein allerbester Kumpel, ausgeschlossen, dass… Nein, 14

Tim. Hör endlich auf damit! Du bist zu langsam gewesen, 15

nicht schnell genug. Und nun verlässt du dieser Mädchen. Für 16

immer vielleicht. Nein, für immer klingt so lange, so 17

unendlich. Sagen wir für ein paar Jahre. Ein paar Mal 18

Silvester feiern. Ja, das klingt so, als wäre ich nur kurz 19

weg. Als käme ich wieder. Und dann wäre ich wie Papa. Älter, 20

nicht mehr zehn, sondern ein starker Mann. Mit einem Auto, 21

einem Porsche Cabrio in Stahlblau. 22

„Wollen wir heiraten?“, fragte ich Kay unvermittelt, 23

obgleich ich mich im selben Augenblick Ohrfeigen können 24

hätte. Tim, du bist ein Junge. Jungen fragen nicht, ob sie 25

ein Mädchen heiraten will - vor allem nicht, wenn es der 26

beste Kumpel ist! Verfluchter Mist! 27

„Ja.“, entgegnete sie grinsend. Mädchen antworten nicht 28

auf solche Fragen von Jungen - vor allem nicht, wenn es die 29

ihres beste Kumpel ist! Zweifach verflucht Mist! 30

332

„Okay.“ 1

„Okay... Und jetzt?“ 2

„Weiß nicht.“, gestand ich achselzuckend. „Ich habe so 3

etwas noch nie gemacht.“ 4

„Ich auch nicht.“ 5

„Hm… Dann sind wir jetzt einfach verheiratet.“ 6

„Okay.“ 7

Kay legte den Kopf schief, aber ich boxte sie lediglich 8

liebevoll in die Seite, woraufhin sie, ohne zu zögern, mit 9

ihrer kleinen Fäusten konterte. Außer Atem und prustend 10

landeten wir gemeinsam auf der Liege, als plötzlich ein 11

zornig dreinschauender Bademeister vor uns stand, der uns 12

befahl, wegen der Nachtruhe augenblicklich in den 13

Tagungsraum zurückzugehen. 14

Da keiner von uns beiden müde war, beschlossen wir 15

einstimmig, nochmals unsere afrikanische Familie zu 16

besuchen, doch mit Ausnahme des alten Mannes, der gegen die 17

Wand gelehnt vor sich hinstarrte, schlief diese bereits. 18

Lautlos glitt ein Gebet von seinen wulstigen Lippen. Völlig 19

vertieft in seinem Gespräch mit Mawu, der Göttin der Ewe, 20

realisierte er nicht einmal mehr, dass wir die Plane 21

zurückgezogen hatten und uns nun erschöpft zu unserem 22

Schlafnest begaben. Das Letzte, was ich spürte, bevor ich 23

einschlief, war Kays Hand, die die meine kurz drückte. 24

333

15. Kapitel 1

Eine Ratte schwamm aufgedunsen zwischen den vom Salz 2

zerfressenen und längst an Glanz verlorenen Rümpfen der 3

Schiffe in dem öligen, schwarzen Wasser - obwohl man dieses 4

Gemisch dort unter dem Steg nicht einmal mehr Wasser hätte 5

nennen dürfen. 6

Der moderne Tiefseehafen von Lomé ist von großer 7

Bedeutung. Denn das Transitland Togo gilt als eine 8

internationale Drehscheibe für den Drogenschmuggel. 9

Nun erinnerte ich mich an den Artikel in der Zeitung, den 10

ich einmal aus Langweile verständnislos überflogen hatte. 11

Weil Papa stolz darauf war, dass ich mich für die Welt der 12

Erwachsenen interessierte, hatte versucht, mir all dies zu 13

erklären, doch erst jetzt, als ich Teil dieses Artikels 14

wurde, verstand ich seine Worte. 15

„Das Schiff liegt dort drüben vor Anker.“, erklärte Sir 16

Scott, wobei er mir leicht die Kiste, die er trug, in den 17

Rücken stieß, damit ich weiterging. 18

Gemeinsam mit den anderen sechs Kamikazemitgliedern hatte 19

der Meister in den frühen Morgenstunden vor dem Hotel 20

Sarakawa auf mich gewartet, um uns persönlich zu dem Schiff 21

zu führen. Wie Kay vermutete, tat er dies wahrscheinlich 22

nicht aus Freundlichkeit, sondern vielmehr aus dem Interesse 23

daran, zu wissen, dass wir dieses Land wirklich endgültig 24

verließen. Unbehagen keimte ihn mir auf. Ein unbestimmtes 25

Gefühl begleitete mich über den Steg zu einem kleinen, 26

motorisierten Boot hinüber, welches zwischen zwei weiteren 27

Schiffen seiner Größe angekettet war. Man hatte es auf den 28

334

Namen Kamikaze 08 getauft, dessen verblasste Buchstaben sich 1

sowohl an der Seite als auch am metallischen Heck erhoben. 2

„Unser Schiff.“, flüsterte Reni gebannt ihrer Mutter ins 3

Ohr. Fasziniert ließ sie die Lebensmittel fallen und stürmte 4

über eine winzige Brücke auf das hölzerne Decke. Die anderen 5

Togolesen lachten verschmitzt, wobei sie einer nach dem 6

anderen ebenfalls ihre neue Hoffnung betraten. Nur ich 7

rührte mich nicht, blieb bewegungslos am Kai stehen, ohne 8

meinen Blick von dem Boot abzuwenden. Unser Schiff. Aber 9

würden wir damit die zu Spanien gehörenden, 3000 Kilometer 10

entfernten Kanarischen Inseln erreichen können? Diese Frage 11

beschäftigte mich seit einigen Stunden und je länger ich 12

darüber nachdachte, desto mehr begann ich, an meiner 13

Entscheidung zu zweifeln. Vor allem nachdem Kay mir von 14

ihrem Albtraum erzählte hatte, in dem ein Schiff in den 15

Fluten des Meeres versank, seine Besatzung mit sich in die 16

Tiefe riss und nie wieder auftauchte. Für immer verschluckt 17

von den tausenden, Milliarden Tonnen von Wasser. 18

„Tim! Worauf wartest du denn noch? Komm endlich!“, brüllte 19

Kassian über die Reling, hinter der auch Mathieu Kopf 20

schüttelnd auftauchte. 21

Geh schon, Tim. Es ist dein Schiff, es gehört dir, dir 22

alleine. Aber erneut ließ dieses unbestimmte Gefühl jede 23

meiner Bewegungen zu Stein erstarren. Du kannst es nicht. Du 24

kannst es einfach nicht. Mein Blick wanderte über die 25

strahlenden Gesichter der Kamikazemitglieder, die die Daumen 26

hoben, zu Maurice Scott, der mir beiden Hände auf die 27

Schultern legte, damit ich gezwungen war, ihm in die Augen 28

zu sehen. „Versprich mir, dass du diese Menschen sicher nach 29

Spanien bringst. Du bist immer ein starker Junge gewesen, 30

335

Tim. Genau wie dein Vater. Selbst wenn du mir diese 1

vermutlich nie glauben wirst, aber ich werde dich vermissen. 2

In den letzten Monaten habe ich durch dich so viel Neues 3

gelernt. Danke.“ Sich eine Träne aus dem Augenwinkel 4

reibend, fiel er mir um den Hals, als sei ich sein Sohn, der 5

für längere Zeit verreiste. 6

„Danke, Sir.“, entgegnete ich, dem Meister ausweichend. 7

Ich fühlte mich von ihm bedrängt, vor allem wenn man 8

bedachte, dass dieses Mensch uns derart lange in seinen 9

Klauen quälte und mich im Grunde längst hätte töten wollen, 10

wäre nicht dieser… unglückliche Unfall passiert. Hatte 11

dieses Erlebnis tatsächlich seine Sicht auf ein Leben in 12

Freiheit verändert? Seltsamerweise bezweifelte ich dies, 13

obgleich ich nicht wusste, weshalb. Im Augenblick schien mir 14

all dies auch völlig gleich. Es gäbe kein Zurück. Nie mehr. 15

Ich versank in ihren blauen, geheimnisvoll Augen. Immer 16

tiefer sank ich herab zum Grund, umschwärmt von tausenden 17

leuchtenden Seesternen. 18

„Kay…“ Unbeholfen kitzelte ich sie unter dem Kinn, damit 19

sie lachte. Aber dieses Mal blieb ihr trauriger Blick starr 20

an mir hängen. Kalt, bemüht, wenig Gefühl in ihre Stimme zu 21

legen, erwiderte sie leise: „Tim, du musste nichts sagen…“ 22

Weiter kam sie nicht. Die Tränen, die über ihre rosigen 23

Wangen liefen, unterdrückten jedes ihrer Worte. „Ich werde 24

dich vermissen.“, formte ihre glänzend roten Lippen immer 25

wieder. „Ich werde dich vermissen.“ Ihr zarter Körper 26

zitterte. Ihre Knie drohten, nachzugeben, doch, bevor sie 27

auf den verschmutzen Boden sinken konnte, presste ich sie 28

fest an meine Brust. Ich würde meine beste Freundin nicht 29

loslassen. Selbst dann nicht, wenn uns zwei Raketen 30

336

auseinander reißen wollten. Einmal hatten sie es geschafft, 1

damals in jenem Dorf in Kpalimé, aber nochmals würde sie es 2

nicht schaffen. Denn ich würde mich verbissen dagegen 3

wehren… Ich würde… 4

„Wir sind mit dem Einladen fertig.“ 5

„Das Schiff legt gleich ab, mein Junge. Du solltest dich 6

beeilen.“ 7

„Tim! Kommst du?“ 8

Wild wirbelten die Stimmen in meinen Kopf durcheinander. 9

Eindrücke - Gerüche, Geräusche, Berührungen -, alles 10

prasselte auf mich nieder, sodass ich mein kleines 11

Schwesterchen plötzlich nicht mehr spürte. Entsetzt schlug 12

ich die Augen auf. „Kay? Ich möchte dir noch etwas sagen.“ 13

Ich möchte dir sagen, dass ich dich mehr liebe als nur einen 14

besten Kumpel. Aber diese Worte erklangen lediglich wie 15

dumpfe Silben in meinen Gedanken. Es war zu spät. Amani 16

zerrte mich von dem Mädchen weg zur Brücke, obwohl ich mich 17

dagegen zu wehren versuchte. Nein, sie ist meine Freundin! 18

„Du musst sie loslassen, Tim.“, raunte er mir zu, aber ein 19

letztes Mal schüttelte ich ihn ab, stürzte zum Kai zurück. 20

Ich bleibe hier, ich werde nicht fortgehen. Nicht… 21

Die immer noch weinende Kay Linn starrte in das schwarze 22

Wasser. Als ich ihre Schulter streifte, drehte sie 23

überrascht den Kopf. In diesem Moment berührten sich unsere 24

Lippen. Leicht lagen sie aufeinander, leicht und warm. Der 25

süßliche Geschmack ihres Himbeerbonbons füllte meinen 26

Mundraum, kitzelte in meinem ganzen Körper. In meinen Ohren 27

konnte ich das gemeinsame Schlagen unserer Herzen hören. 28

Poch, poch. Ganz leise und harmonisch, als wären wir eins. 29

Zwei Seelen, die einander glich wie zwei Schokoladentafeln 30

337

derselben Marke, derselben Sorte. Erst langsam tauchte ich 1

aus diesem Traum auf und die Erkenntnis traf mich wie einen 2

Blitz. Ich hatte Kay geküsst! Meinen besten Kumpel! Gott, 3

wie konntest du nur? Küssen ist doch etwas für Ältere, für 4

Mamas und Papas! Als ich mich entschuldigen wollte, legte 5

Kay sacht ihren Zeigefinger auf meine noch feuchte 6

Unterlippe. Sie lächelte kopfschüttelnd. „Du musst nichts 7

sagen.“, wiederholte sie, „Ich bin dir nicht böse… deswegen, 8

denn…“ 9

Stöhnend packte Amani meinen Arm und riss mich endgültig 10

von meiner besten Freundin fort. Dieses Mal war meine 11

Gegenwahr sinnlos, ich zu schwach. An Bord des Schiffes 12

angelangt, legte dieses bereits vom Kai ab. Entsetzt rannte 13

ich zur Reling. Es waren nur wenige Meter. Wenn ich nun 14

sprang, könnte ich es schaffen. Auch wenn du dir dabei 15

vermutlich sämtliche Knochen brichst, ergänzte ich in 16

Gedanken. 17

Das schottische Mädchen inmitten der winkenden Erwachsenen 18

zwinkerte mir zu, wobei sie den Kuscheltierlöwen hochhielt, 19

den ich ihm geschenkt hatte, damit dieser mich ebenfalls 20

verabschieden konnte. Der zweite Teil meines Lebens, den ich 21

in diesem Land zurücklassen musste. Dass du mir gut auf sie 22

aufpasst, wies ich ihn tonlos an. 23

„Komm zurück!“, schrie meine beste Freundin, die über den 24

Kai hinter dem Schiff her rannte. „Komm zurück irgendwann!“ 25

Ich nickte. Ja, ich werde zurückkommen. Bestimmt. Großes-26

Togo-Ehrenwort. Versprochen. Irgendwann würden wir beide 27

einander wieder sehen. Vielleicht nicht jetzt, vielleicht 28

erst in ein paar Jahren, aber irgendwann, irgendwann ja. 29

Seufzend starrte ich, die Reling umklammert, zurück, bis ich 30

338

realisierte, dass nun auch der wichtigste Mensch in meinen 1

Leben verschwunden war. 2

339

16. Kapitel 1

Auf dem Rücken liegend lauschte ich dem Rauschen des 2

Motors. Über mir spannte sich wie ein Tuch der Nachthimmel, 3

unter mir das schwarze Wasser, welches das Schiff von dem 4

Land dort drüben in weiter Ferne trennte. Beinahe bildete 5

ich mir ein die Lichter der Stadt San Pedro, Elfenbeinküste, 6

sehen zu können, obwohl dies unmöglich schien. 7

Seufzend beugte ich mich über den Plastikeimer, in dem 8

sich ein großer Teil meines Mageninhaltes angesammelt hatte. 9

Die drei Tage auf hoher See mochte nicht nur meine 10

Orientierung beeinträchtigen, sondern auch alle übrigen 11

Funktionen meines Körpers. Röchelnd spie ich in den Eimer, 12

wobei ich mich an der Reling hochzog, um ihn über dem Meer 13

zu entleeren. Doch mein Gleichgewichtssinn war ebenfalls 14

angegriffen, sodass ich zurücktaumelte, alles doppelt 15

sehend. Schwindel erfasste mich und hätte Dominique mich 16

nicht besorgt aufgefangen, wäre ich vermutlich gestürzt. 17

Behutsam legte mich die junge Afrikanerin auf die Decke 18

zurück, tätschelte mir den Kopf. „Alles wird wieder gut. 19

Ruhe dich erst einmal aus.“ 20

Dann half sie der schwach fluchenden Tess neben mir auf. 21

Ich hasse es, seekrank zu sein, hörte ich das Mädchen 22

stöhnend, bevor auch es sich erbrach. Ob es den übrigen 23

Passagieren ebenso erging wie uns beiden, wusste ich nicht. 24

Auch wusste ich nicht, wer das neun Knoten, umgerechnet 16,2 25

km/h schnellem Schiff steuerte, denn soweit ich mich 26

erinnern konnte, war niemand an Bord, der Erfahrungen als 27

Kapitän gesammelt hatte. Zu Beginn unserer Reise hatte 28

Faraji das Boot lenken wollen, aber als dieses sich nun 29

340

langsam fortbewegte, hatte Amani angeordnet, einen neuen zu 1

suchen. Seither mochten wir etwa 780 Kilometer zurückgelegt 2

haben, obwohl es mir aufgrund der Übelkeit weitaus mehr 3

vorkam. 4

Am vierten Tage hatte sich mein Körper an die ungewohnten 5

und neuen Gegebenheiten angepasst, sodass zum ersten Mal 6

wieder den Drang verspürte, etwas zu essen. Trotz der 7

unruhigen Nacht gelang es mir, mich langsam zu den 8

Nahrungsmitteln zu bewegen - oder dort, wo ich sie 9

vermutete hätte. Die Erkenntnis traf mich wie einen Schlag 10

in den Magen. Doch es war nicht die Tatsache, dass ich 11

seekrank war, die mich dazu veranlasste, mich über die 12

Reling zu beugen, um zu erbrechen, sondern vielmehr der 13

Schock. Obwohl wir erst vor vier Tagen in See gestochen 14

waren und noch mindestens drei oder vier weitere hier 15

draußen auf dem Atlantik ausharren musste, bis wir 16

spanisches Festland erreichten, mochten unsere Vorräte zu 17

Neige gehen. Hektisch schüttelte ich einen Wasserkanister 18

nach dem anderen. Spärlich lief einigen Tropfen in meinen 19

Mund. Sicherlich ein Irrtum. Amani hatte die übrigen 20

Kanister bestimmt zu einer anderen Stelle schaffen lassen, 21

als ich schlief. Dennoch, gleich wie sehr ich mir dies 22

einzureden versuchte, ahnte ich, dass Scott für uns noch ein 23

letztes Ass im Ärmel gehabt hatte, einen letzten durchaus 24

geglückten Spielzug. Wie konnte ich nur so dumm sein und 25

diesem Menschen trauen!? Es hätte mir auffallen müssen. Es 26

hätte… 27

„Tim? Weiß du, wo das Wasser ist?“ Reni lehnte mit einer 28

grob zusammengeflickten Puppe im Arm gegen die 29

Kapitänskajüte. Ihr rotbräunlich schimmerndes, langes Haar 30

341

fiel geflechtet über ihre schmalen Schultern. Sie wirkte so 1

zierlich, wie sie da stand, oberkörperfrei nur in ihrem 2

bunten Wickelrock. Und sie braucht das Wasser. Dringend. 3

„Nein, aber ich werde Amani danach fragen. Warte, ich bin 4

gleich wieder da.“, log ich, wobei ich mich an der Kleinen 5

vorbei drückte, um unseren Führer zu suchen. Denn Amani war 6

derjenige, der für mich noch eine Art Überblick hatte, den 7

wir übrigen längst verloren haben mussten. Kurz lugte ich 8

durch die verschmierte Scheibe der Kajüte, in der ich den 9

Afrikaner vermutete. Tatsächlich unterhielt er sich im 10

Inneren mit seinem am Steuer stehenden Schwiegervater. 11

Kassian hockte in einer Ecke und spielte mit dem Gameboy, 12

den ich ihm ausgeliehen hatte. Er schien von der Diskussion, 13

die seine Familie führte, vollkommen unberührt. Für einen 14

Moment zögerte ich, ob ich mich einmischen sollte, entschied 15

mich aber mit dem flüchtigen Blick auf einen der Kanister, 16

Amani schnellstmöglich davon zu berichten. Je früher, desto 17

besser. Vielleicht würden wir den Kurs noch ändern können 18

und spätestens am nächsten Morgen irgendwo in Liberia an 19

Land gehen. Was dort mit uns als illegale Einwanderer 20

geschehen würde, wäre egal. Denn bei dem Gedanken, zu 21

verdursten… 22

„Amani, Richard? Wir…“ Als mich die beiden erstaunt 23

ansahen, biss ich mir auf die Zunge. Wie um alles in der 24

Welt sollte ich ihnen sagen, dass…? „Wir haben ein Problem. 25

Ein ziemlich großes Problem.“ Komm endlich zur Sache, Tim. 26

Doch bevor ich fortfahren konnte, vernahm ich an Deck einen 27

plötzlichen, entsetzten Aufschrei. Im Winkel meines 28

Blickfeldes bemerkte ich Renis Mutter, die neben den 29

Wasserkanistern zu Boden ging. Dort, wo ihre Tochter 30

342

gestanden hatte. Ohne mir weitere Beachtung zu schenken, 1

stieß Amani mich zu Seite, drängelte sich durch die Menge 2

der anderen Passagier zu der Frau, die den Kopf des kleinen 3

Mädchens in ihren Schoss legte. Beschwörend flüsterte sie 4

etwas, strich ihm immer wieder das Haar aus der Stirn. Mach 5

die Augen auf, Reni. Los, mach endlich die Augen auf, 6

bettete ich, als ich mich ebenfalls neben ihr niederkniete. 7

Aber aus ihrem Mund rann lediglich eine durchsichtige 8

Flüssigkeit. Vor Minuten hatte sie noch mit mir gesprochen. 9

Was war bloß geschehen? Ihre dunkle Haut fühlte sich seltsam 10

an, heiß und… und ausgetrocknet! Verwunderte ließ ich meinen 11

Blick umherschweifen, der plötzlich an einem Eimer hängen 12

blieb, der umgekippt in einer Lache lag. Dessen Inhalt 13

musste sich vor nicht allzu langer Zeit auf dem hölzernen 14

Untergrund verteilt haben. Wasser? Die Kanister mochte alle 15

leer gewesen sein. Trotz der misstrauischen Augenpaare im 16

Rücken kroch ich zu der Lache herüber, tauchte meinen Finger 17

in die Flüssigkeit. Es war Wasser… Sehr, sehr salziges 18

Wasser! Und Reni, Reni hatte es getrunken. Im Zweifelsfalle 19

drei Viertel des Eimers. Entsetzt fuhr ich zu dem kleinen, 20

immer schwächer atmenden Mädchen herum. Sie würde 21

austrocknen, bekäme sie nicht bald etwas zu trinken. 22

„Holt Wasser!“, schrie ich aufgeregt, doch als sich 23

Suleika in Bewegung setzte, realisierte ich die Ironie, die 24

das Leben meiner Freundin bestimmte. Sie hatte Wasser 25

getrunken, damit der sie quälende Durst aufhörte und nun 26

drohte sie, an diesem zu ersticken. Und ich konnte nichts 27

dagegen tun. Ich fühlte mich vollkommen hilflos, alleine 28

gegen Gottes ungerechte Welt. 29

343

„Wir haben kein Wasser mehr.“, meldete Suleika tonlos und 1

sprach somit das aus, wozu ich nicht fähig gewesen sein 2

mochte, bevor es zu spät war. Nein, es ist noch nicht zu 3

spät! Noch nicht! Irgendetwas mussten wir doch für Reni tun 4

können. Irgendwas! Ich war kein Arzt, ich hatte verdammt 5

noch mal keine Ahnung, aber ich wusste, ich würde das 6

kleinen Mädchen nicht im Stich lassen. Ohne Punkt und Komma 7

erklärte ich der Menge in knappen Worten, weshalb die 8

Jüngsten unter ihnen mit dem Tod rangen, als plötzlich Panik 9

ausbrach. Fassungsloses Gejammer. Wütende Beschimpfungen, 10

weil jeder jeden verdächtigte, die Vorräte für sich 11

beansprucht zu haben. Nur Reni lag da, völlig regungslos im 12

Schoss ihrer Mutter, konnte nicht mehr fluchen, nicht mehr 13

weinen, bloß schlafen. Verzweifelt klopfte ich auf ihren 14

Rücken, als könne ich so das Salz aus ihrem Körper prügeln. 15

Wach auf, Reni. Bitte, wach auf. Ihre Puppe, die sie immer 16

noch im Arm hielt, rollte zur Seite. Ihr Herz hatte 17

aufgehört zu schlagen. Nein, wach endlich auf! Ohne es zu 18

beabsichtigen, drückte ich auf ihre Oberkörper. Einmal 19

leicht, dann etwas fester. Immer darauf bedacht, ihr keine 20

Rippe zu brechen. So hatte ich es im Fernsehen gesehen - nur 21

mit dem Unterschied, dass in dem flimmernden Kasten niemand 22

wirklich Hilfe benötigte. Plötzlich fiel ein Schatten auf 23

mein Gesicht. Der alte Mann ohne Namen kniete sich vor mir 24

nieder, stieß die ängstliche Mutter und mich fort, um das 25

Ohr auf Renis Oberkörper zu legen. Traurig schüttelte er den 26

Kopf. Nein! Obwohl ich in diesem Augenblick verstanden, dass 27

es vorbei war, wollte ich es nicht wahrhaben. Verzweifelt 28

versuchte ich noch einmal, sie wieder zu beleben, betend, 29

344

dass sie endlich die Augen öffnete. Aber diese blieben 1

verschlossen. Kein Herzschlag, kein Lebenszeichen. 2

Auch das kleinen, fröhliche Mädchen, welches niemals die 3

Hoffnung aufgeben hatte, befreit zu werden, gleich, ob es in 4

Gefangenschaft aufgewachsen war, hatten die Todesengel zu 5

sich in den Himmel geholt. 6

Warum? Gott verdammt warum? 7

Den Kopf in die Hände gestützt, starrte ich fassungslos in 8

die sich unter mir schäumenden, wölbenden Fluten des 9

Atlantiks. Reni war weg; die Wellen hatten ihren in ein Tuch 10

eingehüllten, kleinen Körper fort getragen. Ob an Land oder 11

nur noch weiter auf den Ozean heraus entgegen der Grenze des 12

Horizontes, wäre vollkommen gleich, denn sie würde es nicht 13

spüren. Weder die Einsamkeit, die sie umgab, noch die Kälte. 14

Nichts mehr. Und daran war ich alleine Schuld, weil ich sie 15

nicht gerettet hatte. Sicherlich hätte es einen Weg gegeben. 16

Es musste einen Weg gegeben haben, doch diesen hatte ich 17

nicht genutzt. Ich war dafür verantwortlich, dass ihre 18

Mutter nun dort drüben neben der leeren Orangenkiste am 19

Boden kauerte, nach ihrem Kind weinend, flehend, dass dieses 20

zurückkäme. Warum? Gott verdammt warum? Das quälende 21

Bewusstsein, für etwas Schreckliches Rechenschaft ablegen zu 22

müssen, ließ mir zum wiederholten Male diese Frage vor Augen 23

erscheinen. Wie Neonleuchtreklamme, eine Irrfahrt durch eine 24

längst verlassene Stadt mit demselben Schild an jeder Ecke, 25

in jedem Schaufenster: Warum? - Du bist schuld, Tim. Gott 26

verdammt warum? - Du bist Schuld. Und ich könnte es nie 27

wieder gutmachen. Ich hatte sie sterben lassen an diesem 7. 28

August, dem ersten Samstag des Monates, an dem wir 29

eigentlich Gbagba-Za, das Erntedankfest der Ewe feiern 30

345

wollten. Doch seit Reni… Nein, ich durfte diesen Gedanken 1

nicht zu Ende führen. Glücklicherweise lenkte mich Tess ab, 2

die plötzlich neben mich trat. 3

„Amani hat mich gebeten, nach dir zu sehen. Ähm… Alles in 4

Ordnung?“ 5

Sie machte ein trauriges Gesicht. Da sie als blinde 6

Passagierin an Bord gelangt war, wurde sie vor allem in 7

unserer momentanen Situation von dem Großteil der 8

Afrikanerin - wenn auch oftmals unbeabsichtigt - 9

diskriminiert. Die Tatsache, dass sie die Tochter jenes 10

Mannes war, der uns gequält hatte, verstärkt dies zudem. 11

Immerhin hatte sie in den vergangen Tagen trotz ihrer 12

Krankheit einige der Nahrungsmittel für sich beansprucht, 13

die jetzt der Gesamtheit fehlten. Umgerechnet hätten wir 14

ohne sie jeder im Durchschnitt etwa einen halben Liter 15

Wasser und ein paar Brote mehr essen und trinken können, 16

doch das Ergebnis, dass wir alle gemeinsam entweder 17

verhungern oder verdursten würden, bliebe unverändert. 18

Lediglich der Zeitpunkt verschöbe sich um einen Tag nach 19

hinten. 20

„Dumme Frage, schätze ich.“, fügte das Mädchen zögerlich 21

hinzu. 22

Ich hatte sie noch nie derart verunsichert erlebt. „Nein, 23

schon gut.“ 24

„Es tut mir Leid, was mit der Kleinen passiert ist. Ich 25

habe sie kaum gekannt, aber nett war sie. Hat mich gestern 26

noch mit ihrer Puppe getröstet, als…“ Sie unterbrach sich 27

hastig, beobachtete die Wellen. „ Vergiss es.“ 28

„Ich weiß, was du meinst.“ 29

„Okay, gut, dann werde ich jetzt… Ähm… gehen.“ 30

346

Vorsichtig schlich sie zu dem besorgten Amani herüber, der 1

versuchte, einen Konflikt zwischen Suleika und ihrem Freund 2

Faraji zu lösen. Dabei schien er mit der Situation völlig 3

überfordert, denn er konnte nichts mehr tun, um seine 4

Mitreisen zu ermutigen. Diejenigen, die eine Orange mehr 5

gegessen haben, würden nicht einfach beim nächsten Mal auf 6

eine verzichten. Denn es gab nichts mehr, worauf sie hätte 7

verzichten müssen: 8

Unsere Kanister, Kisten, Kartons waren leer. 9

347

17. Kapitel 1

Menschen wissen, wenn ein Todesengel über ihnen die Arme 2

ausbreitet, um sie in Empfang zu nehmen. Menschen wissen, 3

wenn sie sterben. Die Passagiere der “Kamikaze” wusste dies 4

ebenfalls, als die erste Welle gegen ihr Schiff schlug. Es 5

war der 8. August, genau einundzwanzig Uhr fünfzehn, an dem 6

sich die vielen Adern dieser Welle wie Bleistifte durch ein 7

Papierboot zu bohren versuchten. Meerwasser prasselte wie 8

der Speichel des Himmels auf ihre Köpfe herab. Erst wenig, 9

langsam, schwach, plötzlich immer mehr, immer schneller, 10

immer kräftiger. Blitze zuckten über die schwarzen Wolken. 11

Es setzte zu regnen ein. 12

Dann traf die zweite Welle auf das Schiff. 13

Blind kroch ich über das schwankende Boot, rutschte auf 14

dem nassen Holzboden ab. Da wir alle zu sehr mit dem Streit 15

um die Nahrungsmittel beschäftigt waren, hatte niemand von 16

uns die drohende Wolkenwand bemerkt, die sich rasend von 17

Osten näherte. Aber selbst wenn wir die Gefahr rechtzeitiger 18

wahrgenommen hätten, wäre unser Schicksal trotzdem besiegelt 19

gewesen. Denn wo sollte unser kleines Schiff Schutz suchen? 20

In gewisser Weise ähnelten wir einem Kaninchen auf einer 21

Lichtung, welches der Jäger längst im Visier gehabt hat. 22

Die Glasscheibe der Kajütentür barst, Splitter schnitten 23

mir ins Fleisch. Qualvoll riss ich den Mund auf, doch bevor 24

ich schreien konnte, füllte er sich mit Meerwasser. Salzige 25

Tränen rannen über meine Wangen, vermischten sich mit Blut. 26

Wild flatterte die togolesische Flagge am Heck im 27

aufkommenden Sturm. Ihr Schatten huschte über die Gesichter 28

der in Panik versetzten Menschen, die wie Gespenster in 29

348

ihren durchnässten Gewändern über das Deck irrten. Durch die 1

zerbrochene Fensterscheibe konnte ich Richard ausmachen, der 2

das Steuer fest in seinen Händen hielt, jedoch nicht gegen 3

das Kippen ankämpfte. In einem Fünfzigrad-Winkel neigte sich 4

das Schiff. Wasser flutete über die Reling. Kanister und 5

andere lose Gegenstände rollten über das Deck, fielen in die 6

Dunkelheit herab. Nicht einmal der Aufprall, mit dem sie 7

versanken, war zu hören. Schliddernd rutschte auch ich dem 8

Abgrund entgegen, mit Händen und Beinen strampelnd, Augen 9

und Mund geschlossen. Warmes Erbrochenes tropfte von meinen 10

Mundwinkel in den Atlantik. Plötzlich wurde das Boot 11

zurückgeworfen. Alles wirbelte durcheinander, drehte sich. 12

Chaos. Ich sah nichts, spürte nur das Brennen der 13

Schnittwunden, sonst nichts. Gott, lass es endlich vorbei 14

sein. Doch anstatt meine Bitte zu erhören, spülte mich eine 15

Welle erneut über das Deck. Kullernd wie ein altes Rohr 16

krach ich mit dem Rücken gegen die Außenwand der Kajüte. 17

Schmerzen jagten durch meinen Körper. Völlig entkräftet 18

blieb ich auf dem Bauch liegen. Gleich, was mit mir 19

geschehen würde, ich konnte nicht mehr. 20

„Tim!“ Tränenblind grunzte ich leise, bäumte mich schwach 21

auf. Ein Blitz schoss über den Himmel, gefolgt von einem 22

tiefen Donnergrollen. Dadurch motiviert, zu töten, erfasste 23

eine drei Meter Welle das Boot, ließ es auf sich reiten, nur 24

um abschließend über ihm zusammenzubrechen. Als sich das 25

Wasser für einen neuen Angriff zurückzog, war Suleika 26

verschwunden, die mir hat aufhelfen wollen. Sekundenspäter 27

verlor auch Faraji den Halt, der sich an die Reling 28

gegenüber gekrallt hatte. Im Sturz wurde er hart von einer 29

Orangenkiste am Kopf getroffen, woraufhin sein entsetztes 30

349

Brüllen nach seiner Freundin augenblicklich erstarb. Er war 1

tot, noch bevor er mit weit ausgebreiteten Armen in der 2

Finsternis aufschlug. Nein! Verzweifelt klammerte ich mich 3

an allem fest, was sich mir bot, fand… nichts! Nichts als 4

Leere. Wind strich an meinen Wangen vorbei. Irgendwo - ich 5

konnte nicht einmal mehr die Richtung ausmachen - schrien 6

Menschen. Der Klang ihrer panischen Stimmen brannte sich wie 7

ein Tinitus in mein Gehör. Als könne ich gegen den Fall 8

ankämpfen, versuchte ich in den zwei Sekunden, die ich in 9

der Luft verbrachte, wie ein Vogel mit den Armen zu rudern. 10

Nur fliegen, fliegen konnte ich nicht. Fest presste ich die 11

Lider aufeinander. Unter mir rauschten die Wellen wie eine 12

Herde wild gewordener Stiere… 13

Die brutale Kälte des Atlantiks war das Erste, was ich 14

spürte, als mein, zu einem Stein gewordener Körper durch die 15

Wasseroberfläche stieß. Wie ein Hammerschlag trieb sie mir 16

die Luft aus der Lunge, hüllte mich in Eis, schleuderte 17

meine Gefühle fort. Ich spürte mich selbst nicht mehr, nicht 18

mehr das Kribbeln, mit dem die Bläschen meine Lippen 19

berührten, nicht mehr den Druck auf meinen Ohren, der 20

entstand, als ich immer weiter in die Dunkelheit herab sank. 21

Hier unten war es tot. Lautlos, still. Um mich herum alles 22

schwarz. Salzwasser füllte meinen Mundraum, sodass ich 23

diesen entsetzt aufriss. Hoffnungen, jemals wieder 24

aufzutauchen und so etwas wie Wärme zu empfinden, hatte ich 25

nicht, aber einen noch kläglichen Rest an Überlebenswille. 26

Und dieser winzig kleine, klägliche Rest war stark. Du musst 27

atmen, Tim. Meine Lungen waren bereits zum Zerreisen 28

gespannt. Blut pochte in meinen Adern. Atme. Langsam 29

vollführte ich einen schwachen Brustbeinschlag, einen 30

350

zweiten, einen dritten. Doch jedes Mal wurde ich von einer 1

eisernen Klaue zurückgezogen. "Lasst mich los!", schrie ich 2

tonlos, lasst mich endlich los! Ich hatte keine Kraft mehr, 3

ich musste aufgeben, ich war kurz davor, ohnmächtig zu 4

werden. Kay würde ich niemals wieder sehen. Schockiert 5

schlug ich mit den Armen um mich. Nein, Tim, kämpfe. Kämpfe 6

weiter. So schwer kann es nicht sein, diesem Meer zu 7

entkommen. Es hat keine Augen, keine Ohren, keine Nase. Es 8

kann dich nicht riechen, hören, sehen. Erneut unternahm ich 9

einen Versuch, als ich plötzlich kurz vor dem Auftauchen das 10

Bewusstsein verlor. Meine weit aufgerissenen Lider 11

flatterten. Du schaffst es… Nein, meine Lungen waren 12

ausgepumpt, alle Wärme aus meinem Körper gewichen. Schwach 13

machte ich einen letzten Brustarmzug. Verloren… Ob mich Haie 14

ausfressen würden? Oder mich andere Fische in Stücke rissen? 15

Wäre ich jetzt in den Fluten ertrunken, wäre dem sicherlich 16

so gewesen. Aber seltsamerweise hörte ich einen 17

verzweifelten Ruf. Um diesem zu antworten, klappte ich den 18

Mund auf, wieder zu, auf. Erstaunt bemerkte ich, dass der 19

Widerstand des Wassers fehlte, und da wurde mir bewusst, ich 20

hatte es geschafft. Irgendwie. Irgendwie, egal wie, ich 21

hatte es geschafft. Japsend schnappte ich nach Luft, legte 22

mich dabei auf den Rücken, damit mich die Wellen nicht 23

sofort übermahnten. Meine Zähne klapperten, meine Lippen 24

waren blau. Ich zitterte am ganzen Körper und könnte ich 25

nicht meine bloßen Füße sehen, würde ich behaupten, 26

tatsächlich zu einer Eisskulptur geworden zu sein. In weiter 27

Ferne vernahm ich ein tiefes Raunen, Rufe. Langsam glitt ich 28

auf den Bauch. Hilfe! Hierher! Die dünne Kleidung bauschte 29

sich unter Wasser auf, erschwerte mir das Schwimmen. Salz 30

351

brannte in meinen Augen, die ich zusammenkniff, um besser 1

meine Rettung auszumachen. Dabei winkte ich, erwiderte die 2

Rufe. Hilfe! Ich bin hier! Hierher, hallo! Beinahe senkrecht 3

geneigt, kippte die Kamikaze zur Seite. Ihr Todeskampf war 4

entschieden, sie geschlagen. Und plötzlich erkannte ich, 5

dass es keine Rettung gäbe. 6

Ich konnte immer noch nicht begreifen, vielleicht wollte 7

ich es auch gar nicht. Vielleicht wollte ich nicht einsehen, 8

dass ich sterben würde. Hier draußen, einsam, verlassen, 9

alleine. Aber… Die ungeheure Kraft der Welle, die entstand, 10

als sich das stolze Schiff langsam auf dem Grund zu Bett 11

legen wollte, zog mich mit in die Tiefe. Für einen 12

Augenblick hatte ich das Gefühl, nun wäre tatsächlich alles 13

vorbei, doch die Angst, im Himmel gefangen zu werden und nie 14

wieder zurück auf diese Erde zu können, spritzte mir 15

Adrenalin. Zurück an der Wasseroberfläche versuchte ich, 16

meine aufsteigende Panik niederzukämpfen, um mir einen 17

Überblick zu verschaffen. Obwohl mir dies kaum gelang und 18

ich immer hektischer mit den Armen zu rudern begann, 19

erkannte ich zu meinem Glück in einiger Entfernung einen 20

länglichen Schatten. Hoffnungsvoll kraulte ich gegen die 21

Wellen auf ihn zu, schrie dabei um Hilfe. Hallo? Ist hier 22

jemand? Hallo! Keine Antwort. Tess? Mathieu? Amani, 23

Dominique? Irgendwer? Bitte… Keine Antwort, keine Reaktion. 24

Verzweifelt klammerte ich mich an den Gegenstand, bei dem es 25

sich wohl um ein Brett handeln musste. 26

Leise heulte der Wind, besänftigte die wütenden, Unheil 27

bringenden Fluten, als wolle er sagen, dass es ihm Leid 28

täte. Doch dadurch erwachte die Kamikaze dennoch nicht zu 29

neuem Leben. Auch nicht Suleika oder Faraji. 30

352

Kopf und Hände auf das Brett gelegt, den restlichen Körper 1

im Wasser hängen lassend, aus Angst, dass Stück Holz könne 2

unter meinem Gewicht sinken, schloss ich erschöpft die 3

Augen, obgleich ich wusste, dass es ein tödlicher Fehler 4

wäre, einzuschlafen. Ich dachte an Mama und Papa. Trieb 5

ziellos dahin. Dachte an Kay. Ob meine beste Freundin jemals 6

davon erfährt, dass unser Schiff gesunken ist? Hoffentlich 7

nicht. Sie soll sich keine unnötigen Sorgen machen müssen, 8

sondern glücklich sein. Einfach nur glücklich in einer 9

gerechten Welt, die es nicht gibt. Die Erinnerung an Kay 10

erweckte in mir neuen Überlebenswillen. Ich will sie wieder 11

sehen. Schließlich hatte ich ihr dies versprochen. Und 12

Versprechen sind nicht zum Brechen da. Vorsichtig tauchte 13

ich die rechte Hand ins Wasser, dann die linke. Wie groß ist 14

der Atlantik? Ein paar tausend Meilen? Egal, ich werde bis 15

zum Ende dieses Universum schwimmen, wenn es erforderlich 16

wird. Mama und Papa, euch treffe ich später. Und die gute, 17

alte Oma auch. Meine Beine unterstützten die Armbewegungen, 18

jedoch nur langsam, um Kraft zu sparen. Da ich keinerlei 19

Orientierung mehr besaß, entschied ich mich zunächst zu der 20

Stelle zurück gelangen, wo die Kamikaze verschluckt worden 21

war. Vielleicht wäre ich nicht alleine. Immer wieder brüllte 22

ich um Hilfe, rief die Namen der anderen. Lauschte dem 23

schwach Südostwind, dem Rauschen der nun milden Wellen. Im 24

Mondschein erkannte ich zwei regungslose Menschenkörper. Ein 25

Bild des Grauens. Renis Mutter lag auf dem Rücken, die Augen 26

starr. Als ich sie zögernd antippte, ertrank sie. 27

Bewegungslos sank ihre Leiche in die Finsternis herab, 28

obgleich ich verzweifelt versuchte, sie festzuhalten. „Es… 29

Es hat keinen Sinn, Tim…“, flüsterte eine heisere Stimme. 30

353

Der alte Mann ohne Namen schüttelte schwach atmend den Kopf. 1

Glücklich, nicht alleine zu sein, paddelte ich auf die Kiste 2

zu, die er zitternd wie einen Schatz umklammerte. Eine Weile 3

trieben wir schweigsam auf den Wellen, horchten dem 4

Zähneklappern des anderen, sodass ich trotz der Müdigkeit 5

wach blieb. Wie lang konnte ein Mensch frieren, bis sein 6

Wärme vollständig aus allen Zellen seines Körpers gewichen 7

wäre? Ein paar Stunden vielleicht, schätze ich, um mir Mut 8

zu machen. Je nachdem, wie dick sein Fell war. 9

„Wo sind die anderen?“ Die Frage erklang als Echo in 10

meinem Gedanken. Wo sind die anderen? Wo sind die anderen… 11

die anderen? Dabei war dieser Einwurf lediglich einer, der 12

den Frieden spaltete. Denn solange niemand antwortete, 13

bliebe mir die Hoffnung. Der alte Mann wich meinem Blick 14

aus, starrte auf die sich sanft wölbende Wasseroberfläche. 15

Aus seinem leicht geöffneten Mund qualmte sein im Mondlicht 16

sichtbarer Atem Vorsichtig hauchte er unterschiedlich große 17

Kreise in die alte Nachtluft, sodass ich annahm, er habe 18

mich nicht verstanden. Doch dann plötzlich schoss ein Kopf 19

ruckartig zu mir herum. Sekunden beäugte er mich durch seine 20

glasigen, fast grauen Augen, die Brauen ein Stück 21

hochgezogen. 22

„Sie sind tot. Alle samt.“ 23

Entgeistert schüttelte in den Kopf. Nein! Und möglich. 24

Alle samt tot. Ausgeschlossen. Sicher haben sie es geschafft 25

und der Afrikaner hatte sie lediglich nicht bemerkt. 26

Bestimmt waren wir getrennt worden und trieben verstreut 27

herum. Denn das Meer war groß. So groß. 28

„Richard wollte das Steuer nicht loslassen.“, fuhr der 29

Alte tonlos fort. „Selbst, als das Schiff sank und er nicht 30

354

mehr hätte tun können. Seine Kinder Dominique und Kassian 1

blieben bei ihm. Amani ebenfalls. Dieses Mädchen… Die 2

Tochter des Sirs…“ Er unterbrach sich. 3

Nicht auch noch Tess. Bitte… „Was ist mit ihr?“ Bitte, sie 4

ist nicht tot. Gott, lass sie nicht in der Kajüte gewesen 5

sein, als das Schiff von den Fluten verschluckt wurde. 6

„Ich weiß es nicht.“, erwiderte der Togolese zu meiner 7

Erleichterung, „Da war ein Hund, der durch das zerbrochene 8

Fenster stürzte. Kalli, hat sie geschrien. Völlig panisch. 9

Ich hatte ihre Schultern umklammert, um sie zu beruhigen, 10

aber ich konnte sie nicht aufhalten, als sie ebenfalls 11

losließ, um ihrem Tier zu helfen. Wie im Affekt löste auch 12

ich das Seil, mit dem ich mich gesichert hatte. Im Fall 13

bemerkte ich eine weitere Gestalt. Einen Jungen. Doch, was 14

nach dem Aufprall mit ihm geschah, kann ich dir nicht sagen. 15

Nur, dass kurz danach der Todeskampf unseres Schiffes 16

beendet war und dass es die anderen mit sich in die Tiefe 17

zog. Sie hatten keine Chance mehr. Faraji nicht. Suleika 18

nicht. Amani nicht. Dominique nicht. Kassian nicht. Richard 19

nicht. Renis Mutter mochte es wohl noch geschafft haben, 20

aber sie konnte nicht schwimmen. Und ich nehme an, die 21

beiden anderen Kinder und Jabali ebenfalls nicht. Es tut mir 22

Leid.“ Den Kopf gesenkt faltete er die Hände zum Gebet und 23

murmelte unverständlich etwas auf Ewe. Ich selbst tat es ihm 24

gleich. Gott, was hast du mit ihnen gemacht? Sie alle haben 25

dir gedient. Alle samt ehrliche, wenn auch arme Togolesen… 26

meine Freunde. Dir haben sie gedient, obgleich sie litten. 27

Unter Hunger, unter Krankheit, unter dem Tod ihrer Familie. 28

Warum hast du sie zu dir in den Himmel geholt, jetzt, wo ihr 29

Traum greifbar wurde? Wieso hast du sie nicht zu einem 30

355

früheren Zeitpunkt von ihrem Leid befreit? Ich kann dich 1

nicht verstehen. Damals, Gott, habe ich dir geschworen, für 2

Gerechtigkeit zu kämpfen. Leichtsinnig habe ich angenommen, 3

du würdest mich dabei trotz unserer Feindschaft 4

unterstützen, weil es auch in deinem Interesse sein musste, 5

Menschen zu helfen. Doch scheinbar irre ich wie in sehr 6

vielen Dingen. Vermutlich lerne ich nie dazu. Gott, 7

allmächtiger Vernichter, meine Familie, Oma, Mama und Papa 8

sind Gläubige. Jeden Sonntag waren wir in der Kirche, vor 9

jedem Mahl haben wir gebetet und vor dem zu Bett gehen 10

ebenfalls. Abends wenn ich müde bin, zehn Englein mit mir 11

schlafen gehen… Wo ist deine Mannschaft? Wo sind die 12

Verteidiger, die die bösen Träume vertreiben? Wo die 13

Stürmer? Wo bist du Gott? Wo bist du? Schaust du bei einem 14

Glas Blutorangensaft von deinem hohen Trainerstuhl auf das 15

Feld herab, ohne einzugreifen? Wie soll ich dir vertrauen, 16

wenn du das Spiel aus dem Gleichgewicht bringst? Nun gut, 17

ich persönlich vertraue dir nicht mehr. In deinem Namen, 18

bitte beschütze Amani, der immer ein guter Anführer und 19

sicherlich auch ein wunderbarer Vater und Mann für Dominique 20

gewesen wäre. Beschütze Kassian, meinen Freund, der oft das 21

aussprach, was wir übrigen nicht taten. Faraji und Suleika, 22

die mit ihrer Eleganz Probleme für Sekunden einfach fort 23

wichen konnten. Bewahre auch ihren Frieden. Und den von 24

Renis Mutter, die das aufgeweckte, kleine Mädchen zur Welt 25

gebracht hat, das uns selbst in schwierigen Zeiten durch 26

sein Unwissen ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Den von 27

Richard ebenfalls, der nie die Vorstellung von Freiheit 28

losgelassen hat, und den von… 29

356

„Jabali!“ Der erstaunte Aufschrei riss mich jäh aus meinen 1

Gedanken. Verwirrt ließ ich meinen Blick durch die Schwärze 2

der Nacht gleiten, als sich tatsächlich grobe, unförmige 3

Bewegungen vor uns abzeichneten. Zunächst hatte ich den 4

Körper aufgrund seiner Hautfarbe für den Schatten eines 5

Monsters gehalten, aber beim Nähern wirkte er durchaus 6

menschlich. Jabali, der großwüchsige Wächter des Hauses 7

Scott, hob grüßend die zitternde Hand. 8

„Mawu sei Dank, dass wir euch finden.“ 9

Wir? Dies musste bedeuten, dass noch jemand anders den 10

Untergang des Schiffes überlebt hatte. Für einen Augenblick 11

vergaß ich unsere missgünstige Lage. Strahlend vor Glück 12

trommelte ich mit den tauben Fingern auf das Holz. 13

„Wir? Wer ist wir?“, fragte ich von Spannung erfüllt. Noch 14

bevor Jabali antworten konnte, tauchten hinter ihm zwei, mir 15

wohlbekannte Gestalten auf. „Mathieu! Tess!“ Freudig machte 16

ich den beiden auf dem Brett Platz, damit sich diese 17

festhalten konnten. Ich wusste es. Ich wusste, sie waren 18

nicht tot. Ein forscher Seitenblick jedoch verdeutlichte mir 19

zu meinem Entsetzen, dass es nicht mehr lange dauern würde, 20

fände uns nicht bald jemand. Obwohl uns das sterbende Schiff 21

nicht mit in die Tiefe gezogen haben mochte, nagte dennoch 22

die Kälte an uns wie eine Ratte an einem Stück Brot. Es war 23

eine Frage der Zeit und des Willens, wie lange jeder 24

Einzelne ihr fortlaufen konnte. Da die anderen drei bereits 25

ein größeres Stück hatten schwimmen müssen, zerrte der Tod 26

deutlicher an ihren Kräften, als es bei dem alten Mann und 27

mir der Fall war. 28

„Timothy…“ Zaghaft berührten Mathieus Finger meine Wangen, 29

doch ich spürte sie kaum. „Vielleicht vergesse ich es, wenn 30

357

wir in Spanien sind. Und damit du mich nicht in meiner 1

Hängematte störst… Ich war dabei, als dein Papa starb.“ 2

Entsetzt fuhren die Blicke zu meinem besten Freund herum, 3

der eine Grimasse schnitt. Dabei zuckte sein zerfallenes 4

Gesicht immer wieder, seine Mundwinkel hoben sich 5

unregelmäßig. 6

Schon damals, als wir im Sand gesessen und die Orange 7

geschält hatten, beschlich mich das Gefühl, dass der 8

afrikanische Waisenjunge mehr wusste, als er preisgeben 9

wollte. Viel mehr. Woher kannte er den Namen Scotts, ahnte, 10

dass dieser ein Häscher war, ein böser Mensch? Das wirst du 11

noch früh genug herausfinden. Nun war es beinahe zu spät. 12

„Hat mein Dad etwas damit zu tun gehabt?“, raunte Tess am 13

anderen Ende des Brettes. Die Hand des britischen Mädchens 14

umklammerte den Hals eines erfrorenen Hundes. Ob es merkte, 15

dass Kalli ebenfalls längst von den Todesengeln geholt 16

worden war? Selbst falls dem so wäre, würde es niemand zu 17

lassen, dass sein geliebtes Tier im Meer versank. 18

„Nein.“, erwiderte ich an Mathieus Stelle kopfschüttelnd. 19

Tess sollte es nicht wissen. Nicht jetzt, vielleicht 20

einander Mal. Kays Stimme tauchte in meinen Gedanken auf. 21

Vielleicht einander Mal. Ja, wenn sie dies sagte, klang es 22

voller Hoffnung. Mein leerer Magen flatterte. Der Geschmack 23

von Erdbeeren lag mir auf der Zunge, die bislang nur noch 24

den des Salzes wahrnahm. Kay… 25

„Ich wollte Keenan an seinem Geburtstag unbedingt eine 26

Freude machen. Weil ich am Morgen keinen Fisch gefangen 27

hatte, beschloss ich kurzer Hand flussabwärts mein Glück zu 28

suchen. Dabei musste ich mich verlaufen haben. Schon gut, 29

ich gebe es zu. Mit dir, Besserwisser, wäre das natürlich 30

358

nicht passiert. Jedenfalls bin ich in meinem Eifer einfach 1

weiter gerannt. Bis zu einer Lichtung, auf der dieses Haus 2

mit einer Plantage stand, das aussah wie eine…“ 3

„…Burg?“ 4

„Burg? Was ist denn eine Burg? Egal. Ein tolles Haus. Dort 5

wollte ich einen Fisch für Keenan stehlen, damit endlich 6

einmal jemand meine Fangkünste bewundert. Die riesige Mauer 7

wäre kein Hindernis gewesen. Schließlich bin ich ein guter 8

Kletterer. Aber die Menschen. Wie sollte ich an denen 9

vorbei? Als ich mich dazu durchgerungen hatte, es zu 10

versuchen, entdeckte ich… Zarin. Wirklich, er war‟s. Einer 11

der Männer war Zarin. Erinnerst du dich?“ Nach meinem 12

bestätigenden Nicken fuhr er fort: „Ich habe ihn fragen 13

wollen, ob er mir hilft, einen Fisch zu holen, doch dann ist 14

er verschwunden. Zunächst habe ich mich gewundert, als 15

plötzlich der Motor des Planwagens startete, in dem ich mich 16

versteckt hatte. So musste ich wahllos mitreisen. In einer 17

Kurve angekommen, stieg Zarin aus, verbarg sich in einem 18

Gebüsch. Aus Angst vor anderen Männer bin ich auf der 19

Ladefläche geblieben und habe das nun Folgende beobachtet: 20

Ein Cabrio kam, bremste leicht in der Kurve ab. Sein Fahrer 21

war dein Papa, Tim. Zarin bewegte sich langsam. Geschockt 22

realisierte ich die beiden Messer in seiner Hand. Er zielte, 23

zögerte, warf sie dennoch. Alle beide. Und beide trafen. 24

Dann gab es einen fürchterlichen Aufprall. Ich dachte nur, 25

vergiss den Fisch, lauf. Das tat ich auch. So schnell ich 26

konnte.“ 27

Atemlos rang Mathieu nach Luft. Das Sprechen fiel ihm 28

sichtlich schwer, sodass lediglich die dumpfen Schatten 29

seiner letzten Worte in meinem Gehör erklangen. 30

359

Zitternd wollte ich ihm auf die Schultern klopfen, als 1

sein Kopf plötzlich widerstandslos nach vorne sackte und 2

beinahe auf dem harten Holz aufgeschlagen wäre, hätte der 3

alte Mann diesen nicht vorher aufgefangen. 4

„Mathieu! Hey, Mathieu!“ 5

„Was… was ist mit ihm?“, erkundigte sich die entgeisterte 6

Tess leise. 7

Niemand antwortete ihr. Der Alte flüsterte Jabali etwas 8

ins Ohr, woraufhin dieser mit traurigen Gesicht die 9

festgefrorenen Hände des Jungen vom Brett löste. Sofort 10

versank mein bester Freund in den Tiefen des Meeres. 11

Mathieu! Nein, wir müssen ihm helfen. Großes-Spanien-12

Ehrenwort. Er muss es schaffen. Es ist sein Traum. Ohne zu 13

zögern, tauchte ich unter, fingerte blind nach seiner Hand, 14

um ihn zurückzuholen. Salz brannte in meinen Augen. Schwarz, 15

überall schwarz. Mathieu, Mathieu! In Spanien ist alles 16

bunt. Sonnenschirme, Strand, Meer. Komm zurück. Ich bin dir 17

nicht böse. Niemals! Du bist doch mein Freund. Lass uns für 18

immer Freunde sein, ja? Doch, als ich versuchte, weiter in 19

das Herz des Ozeans vorzubringen, zerrte mich etwas am 20

klammen Stoff meines T-Shirts zurück an die 21

Wasseroberfläche. Nein, Mathieu! Dort unten ist nicht 22

Spanien. 23

Schwach strampelnd klammerte ich mich an das Brett. Tränen 24

rannen mir über die Wangen. Wie durch eine zerschlagene 25

Fensterscheibe betrachte ich die drei übrigen Menschen. Ihre 26

weißen Gesichter verschwammen vor meinen Augen, wurden in 27

tausend Stücke eines Mosaiks zerschlagen. In der Dunkelheit 28

erkannte ich, dass auch Jabali seine Schwimmhilfe losließ. 29

360

„Mir ist so kalt… So… so kalt.“, hörte ich Tess in weiter 1

Ferne säuseln. 2

Väterlich küsste der alte Mann der Tochter des Monsters 3

die Stirn. „Mawu möge dich beschützen.“ Mit einem 4

absichtlich gewählten, beruhigenden Unterton drückten seine 5

Hände dabei die ihre. „Euch… euch beide.“ Die Klauen der 6

Kälte, die dort untern lauerte, zupfte immer kräftiger an 7

seinem Gewand. Die von ihm in die Luft geblasenen Ringe 8

wurden unregelmäßiger, bis sie vollständig verschwanden. 9

Es ging alles derart schnell, dass ich es kaum begreifen 10

konnte. Wir sind zu erschöpft, um zu trauern. Zu erschöpft, 11

um wahrzunehmen, wie jeder unserer Freunde von uns geht… bis 12

wir schließlich selber gehen, jeder für sich an einen 13

unbestimmten Ort. Ob ich zu Mama und Papa in den Himmel 14

komme, obwohl ich ungezogen bin? Und werde ich dort oben 15

Mathieu und Reni und Zarin und die anderen wieder sehen? 16

Verdammt, ich mag kein Weiß, ich hasse es sogar. Ich möchte 17

nicht gehen müssen, möchte hier unter auf der Erde bleiben. 18

Hier unten bei Kay. 19

„Bestimmt kommt bald ein Schiff vorbei.“, flüsterte ich in 20

die Stille hinein, als wir inmitten des riesigen, 21

atlantischen Ozeans trieben, tausende Meilen von unserem 22

Ziel, der Küste Spaniens, entfernt. 23

Es soll der einzige Satz bleiben, der in den nächsten 24

Minuten und Stunden meine blauen Lippen verlässt. Bestimmt 25

kommt bald ein Schiff vorbei. Doch es kommt kein Schiff, 26

weder heute, noch morgen, noch irgendwann. Nie mehr, Kay… 27

361

Epilog 1

Am 9. August 2004 wurde unmittelbar vor der britischen 2

Atlantikinsel Sankt Helena Wrackteile eines aus Togo 3

stammenden Schiffes entdeckt. Die bisher gefundenen 4

Flüchtlinge an Bord konnten jedoch nur tot aus den Fluten 5

geboren werden. Unter den Opfern seien, laut Aussage eines 6

Polizisten, auch zwei europäische Kinder, deren Alter auf 7

zehn bis zwölf Jahre geschätzt wird. Die Ursache für die 8

Tragödie ist bislang unklar. 9

Dennoch kann vermutet werden, dass sich das Schiff in 10

einem bereits nicht mehr seetauglichen Zustand befunden 11

haben musste, als es das afrikanische Festland verließ, und 12

daraufhin in dem gestern wütenden Sturm gekentert war. 13

Obwohl man dem britischen Millionär und Forscher Sir 14

Doktor Maurice Anthony Scott aufgrund der Telefonnummer, die 15

man bei der Obduktion des toten Junges in dessen Handfläche 16

fand, mit dem Sinken der Flüchtlingsschiffes “Kamikaze” in 17

Verbindung brachte, konnte diesem nie etwas nachgewiesen 18

werden. 19

Vierzig Jahre nach der Tragödie erlag Scott einer 20

Überdosis eines von seinem eigenen Unternehmen hergestellten 21

Medikamentes, welches vor dem HIV-Virus schützen sollte. 22

Daraufhin beendete der portugiesische Neurologe Vasco 23

Igmanias als letzter Anhänger des Mannes kurze Zeit später 24

aus Angst vor Enthüllung die Ausbeutung der togolesischen 25

Bevölkerung. 26

Kay Linn Brown erfuhr nie von dem Tod ihres besten 27

Freundes, obgleich sie nach ihrem Studium als 28

Heilpraktikantin zwei Jahre lange vergebens in Spanien 29

362

Nachforschungen anstellte, bei denen sie ihren späteren 1

Ehemann Riccardo O‟ Neil kennen lernte, mit dem sie ein lang 2

ersehntes Leben genoss. 3

Der Kuscheltierlöwe erhielt einen Ehrenplatz neben ihrem 4

Kopfkissen und wenn immer ihre beiden Töchter oder ihre 5

Enkel sie danach fragten, erzählte sie mit einem Strahlen in 6

ihren geheimnisvoll funkelenden Augen von dem kleinen 7

Jungen, der mit seiner Angst, die aller Übrigen vertrieb. 8

“Stell dir vor, es kann nur einen geben. Aber es wird 9

einen geben. Und dieser eine, der warst du, Tim.” 10