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26 A1 REALITÄT UND FIKTION – KURZPROSA LESEN UND VERSTEHEN 25 30 35 40 5 10 15 20 Interpretation von Kurzprosa – Grundlegende Fragen zur Analyse Was ist das ó Thema des Textes (z. B. Lebenskrise) und welches sind seine zentralen Motive (z. B. Doppelgänger)? Welche ó Figuren kommen vor, und in welcher Beziehung stehen sie zueinander? Was sind die entscheidenden ó Handlungen oder Ereignisse? Wie ist der Handlungsablauf? Wie ist der Aufbau der Erzählung? Gibt es z. B. einen unvermittelten Anfang und ein offenes Ende? Wie sind ó Ort, Zeit und Atmosphäre der Geschichte gestaltet? Gibt es Besonderheiten in der Zeitstruktur, z. B. Rückblenden oder Vorausdeutungen? Wie sind verschiedene Zeitebenen miteinander verbunden, z. B. durch Assoziationen oder durch „Schnitt“ wie im Film? Wer ist der ó Erzähler/die Erzählerin der Geschichte? Handelt es sich um eine Ich-Erzählung oder um eine Er-/Sie-Erzählung? Welches ó Erzählverhalten herrscht vor: auktorial (kommentierend, bewertend), personal (an eine Figur gebunden) oder neutral? (˘ S. 97) Wie werden Äußerungen und Gedanken einer Figur wiedergegeben, z. B. durch direkte oder indirekte Rede, durch inneren Monolog oder erlebte Rede? Gibt es Besonderheiten in der ó Sprache, z. B. verschiedene Stilebenen, Metaphern und Vergleiche, Wiederholungen etc.? Wie wirken sie? Methode „Vor dem Gesetz“ – Parabeln zum Motiv der Wahrheit Franz Kafka: Vor dem Gesetz (1914) Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bit- tet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewäh- ren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseitetritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den An- blick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelz- mantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich doch, lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Tür- hüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öf- ters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit Vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu beste- chen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt da- bei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Tür- hüter fast ununterbrochen. Er vergisst die an- dern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das

„Vor dem Gesetz“ – Parabeln zum Motiv der Wahrheit · miteinander verbunden, z. B. durch Assoziationen oder durch „Schnitt“ wie im Film? ó Wer ist der Erzähler /die Erzählerin

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Page 1: „Vor dem Gesetz“ – Parabeln zum Motiv der Wahrheit · miteinander verbunden, z. B. durch Assoziationen oder durch „Schnitt“ wie im Film? ó Wer ist der Erzähler /die Erzählerin

26 A1 R eAlität u n d Fi ktion – ku RzpRosA lesen u n d veRsteh en

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Interpretation von Kurzprosa – Grundlegende Fragen zur Analyse

Was ist das ó Thema des Textes (z. B. Lebenskrise) und welches sind seine zentralen Motive (z. B. Doppelgänger)?Welche ó Figuren kommen vor, und in welcher Beziehung stehen sie zueinander?Was sind die entscheidenden ó Handlungen oder Ereignisse? Wie ist der Handlungsablauf? Wie ist der Aufbau der Erzählung? Gibt es z. B. einen unvermittelten Anfang und ein offenes Ende?Wie sind ó Ort, Zeit und Atmosphäre der Geschichte gestaltet? Gibt es Besonderheiten in der Zeitstruktur, z. B. Rückblenden oder Vorausdeutungen? Wie sind verschiedene Zeitebenen miteinander verbunden, z. B. durch Assoziationen oder durch „Schnitt“ wie im Film?Wer ist der ó Erzähler/die Erzählerin der Geschichte? Handelt es sich um eine Ich-Erzählung oder um eine Er-/Sie-Erzählung?Welches ó Erzählverhalten herrscht vor: auktorial (kommentierend, bewertend), personal (an eine Figur gebunden) oder neutral? (˘ S. 97) Wie werden Äußerungen und Gedanken einer Figur wiedergegeben, z. B. durch direkte oder indirekte Rede, durch inneren Monolog oder erlebte Rede?Gibt es Besonderheiten in der ó Sprache, z. B. verschiedene Stilebenen, Metaphern und Vergleiche, Wiederholungen etc.? Wie wirken sie?

Methode

„Vor dem Gesetz“ – Parabeln zum Motiv der Wahrheit

Franz Kafka: Vor dem Gesetz (1914)

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bit-tet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewäh-ren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseitetritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den An-blick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelz-mantel genauer ansieht, seine große Spitznase,

den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich doch, lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Tür-hüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öf-ters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit Vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu beste-chen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt da-bei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Tür-hüter fast ununterbrochen. Er vergisst die an-dern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das