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35 D ie Ausstellung »Babylon – Mythos und Wahrheit« erzählt von der Geburt und der Blüte der ersten urbanen Zivilisation der Menschheit, ihrer Verwandlung in einen My- thos und ihrer archäologischen Entdeckung. Schauplatz ist das Pergamon-Museum auf der Museumsinsel, das sich für die Dauer der Aus- stellung in ein »Babylon-Museum« verwandeln wird. Hier befinden sich das Ischtar-Tor und die Prozessionsstraße, die größten, als Rekonstruk- tionen mit originalen Bauteilen erhaltenen Bau- monumente Babylons. Die drei größten Sammlungen babyloni- scher Altertümer in Europa haben sich zusam- mengetan, um dieses Jahrhundertprojekt zu verwirklichen: das Musée du Louvre in Paris, die Staatlichen Museen zu Berlin und das Bri- tish Museum in London. Gegenüber den beiden Ausstellungsstationen in Frankreich und Eng- land kommt der Berliner Präsentation eine zen- trale Bedeutung zu: Die Kunstbibliothek berei- chert als weiterer Kooperationspartner die ar- chäologische Großausstellung um den »Mythos Babylon«, der Künstler, Literaten und Musiker von der Antike bis ins 21. Jahrhundert zu be- deutenden Meisterwerken inspirierte. Nur bei der Berliner Station wird dieses Thema in all seinen kunsthistorischen Facetten ausführlich dargestellt. In seiner ganzen Vielfalt und ge- heimnisvollen Geschichte wird dieser Mythos auf mehr als 1500 qm in den Sonderausstel- lungshallen des Nordflügels gezeigt. Zur Ausstellung »Babylon – Mythos und Wahrheit« erscheint ein zweibändiger Katalog im Hirmer-Verlag München. Zeitfenstertickets und Führungen sind erhältlich unter www.smb.museum/babylonshop Babylon – Wahrheit Pergamon-Museum, Südflügel, Vorder- asiatisches Museum »Babylon denken« ruft heute mehr Assoziationen hervor als noch vor etwa 100 Jahren. Zwar wusste man auch damals schon von der realen historischen Exis- tenz dieses Ortes und kannte so- gar seine Lage, doch überlager- te die christlich-europäische Tra- dition noch lange eine unabhän- gige Auseinandersetzung mit dem Altertum des Orients. Selbst als die Ausgrabungen durch Bri- ten, Franzosen und Deutsche ein- setzten, suchte man nicht selten in Babylon auch eine Bestäti- gung des bereits vorhandenen Bildes über jene entlegene Zeit. Immerhin war das Urteil Europas über Babel schon seit dem Mit- telalter gefällt, jedes Schulkind kannte die Verstrickung dieser Stadt am Euphrat in die Hybris und Verdammnis der Mensch- heit. Babylon war Symbol des Bösen, Unreinen und des Unter- gangs. Auch nach mehr als100 Jah- ren intensiver Forschung in der Altorientalistik und Vorderasiati- schen Archäologie hat sich an diesem Zustand im Grunde nur Pergamonmuseum Babylon – Mythos und Wahrheit Eine Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin, des Musée du Louvre und der Réunion des musées nationaux, Paris, und des British Museum, London 26. Juni bis 5. Oktober 2008 Ansicht des rekonstruierten Ischtar-Tores von Babylon im Vorderasiatischen Museum, 6. Jahrhundert v. Chr., Hauptobjekt der Ausstellung Foto: © Olaf M.Teßmer, Vorderasiatisches Museum

Babylon – Mythos und Wahrheitww2.smb.museum/smb/media/exhibition/11220/Babylon... · 2008-03-14 · Babylon – Mythos und Wahrheit Eine Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin,

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Die Ausstellung »Babylon – Mythos undWahrheit« erzählt von der Geburt und

der Blüte der ersten urbanen Zivilisation derMenschheit, ihrer Verwandlung in einen My-thos und ihrer archäologischen Entdeckung.Schauplatz ist das Pergamon-Museum auf derMuseumsinsel, das sich für die Dauer der Aus-stellung in ein »Babylon-Museum« verwandelnwird. Hier befinden sich das Ischtar-Tor und dieProzessionsstraße,die größten,als Rekonstruk-tionen mit originalen Bauteilen erhaltenen Bau-monumente Babylons.

Die drei größten Sammlungen babyloni-scher Altertümer in Europa haben sich zusam-mengetan, um dieses Jahrhundertprojekt zuverwirklichen: das Musée du Louvre in Paris,die Staatlichen Museen zu Berlin und das Bri-tish Museum in London. Gegenüber den beidenAusstellungsstationen in Frankreich und Eng-land kommt der Berliner Präsentation eine zen-trale Bedeutung zu: Die Kunstbibliothek berei-chert als weiterer Kooperationspartner die ar-chäologische Großausstellung um den »MythosBabylon«, der Künstler, Literaten und Musikervon der Antike bis ins 21. Jahrhundert zu be-deutenden Meisterwerken inspirierte. Nur beider Berliner Station wird dieses Thema in allseinen kunsthistorischen Facetten ausführlichdargestellt. In seiner ganzen Vielfalt und ge-heimnisvollen Geschichte wird dieser Mythosauf mehr als 1500 qm in den Sonderausstel-lungshallen des Nordflügels gezeigt.

Zur Ausstellung »Babylon – Mythos und Wahrheit« erscheint ein zweibändiger Katalog im Hirmer-VerlagMünchen. Zeitfenstertickets und Führungen sind erhältlich unter www.smb.museum/babylonshop

Babylon – WahrheitPergamon-Museum, Südflügel, Vorder-asiatisches Museum

»Babylon denken« ruft heutemehr Assoziationen hervor alsnoch vor etwa 100 Jahren. Zwarwusste man auch damals schonvon der realen historischen Exis-tenz dieses Ortes und kannte so-gar seine Lage, doch überlager-te die christlich-europäische Tra-dition noch lange eine unabhän-gige Auseinandersetzung mitdem Altertum des Orients. Selbstals die Ausgrabungen durch Bri-ten, Franzosen und Deutsche ein-setzten, suchte man nicht seltenin Babylon auch eine Bestäti-gung des bereits vorhandenenBildes über jene entlegene Zeit.Immerhin war das Urteil Europasüber Babel schon seit dem Mit-telalter gefällt, jedes Schulkindkannte die Verstrickung dieserStadt am Euphrat in die Hybrisund Verdammnis der Mensch-heit. Babylon war Symbol desBösen, Unreinen und des Unter-gangs.

Auch nach mehr als 100 Jah-ren intensiver Forschung in derAltorientalistik und Vorderasiati-schen Archäologie hat sich andiesem Zustand im Grunde nur

Pergamonmuseum

Babylon – Mythos und WahrheitEine Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin, des Musée du Louvre und der Réunion des musées nationaux, Paris, und des British Museum, London

26. Juni bis 5. Oktober 2008

Ansicht des rekonstruierten Ischtar-Tores von Babylon im Vorderasiatischen Museum, 6. Jahrhundert v. Chr., Hauptobjekt der Ausstellung Foto: © Olaf M. Teßmer, Vorderasiatisches Museum

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recht wenig verändert. Zwar sind die Ergeb-nisse der Ausgrabungen und der kulturge-schichtlichen Forschungen zu Babylon durch-aus kein Geheimwissen, auch hat man sich aufSeiten der Fachwelt bemüht, durch Faktenprä-sentation das alte Bild Babels zu erneuern. Um-fragen auf den Straßen nach dem Begriff »Ba-bylon« jedoch bringen eher noch immer vor-rangig eine Bestätigung der alten, überkom-menen Meinungen, als dass sie die durch dieWissenschaft gewonnenen, durchaus abwei-chenden Erkenntnisse ausreichend widerspie-geln. Und ein Blick in die Lehrpläne der Schu-len verrät, dass dort im Wesentlichen gleich-falls noch jenes Bild vermittelt wird, das schon vor Jahrzehnten die Vorstellung von Babylon prägte.

Für Altertumswissenschaftler ist dieser Zu-stand nicht befriedigend, aber sind sie nichtselbst daran schuld? Reicht es aus, Vorträge zuhalten, wissenschaftliche Werke in großer Men-ge vorzulegen, Diskussionen und Foren zu füh-ren mit Leuten und für Menschen, die sich oh-nehin für das Altertum interessieren? WelcheWirkung hat das Sammeln von realem Wissenüber Babylon in der Gesellschaft, wenn man ei-nen vorbestimmten Kreis nicht verlässt? Dieseund weitere Gedanken zum Stand der Vermitt-lung des immens angewachsenen Wissens überden Alten Orient, von dem doch die Allgemein-heit nur begrenzt berührt wird, waren es, dievor einigen Jahren in Paris zu der Idee führten,eben jene nun schon seit vielen Dezennien ge-sammelten Kenntnisse neu vorzulegen. Die da-für wohl am besten geeignete Institution sollteein Museum sein, eines, das nicht nur passen-de materielle Zeugnisse für ein solches Unter-nehmen besitzt, sondern auch eine entspre-chende Forschungseinrichtung zum Fachbe-reich darstellt.

So wandte sich deshalb die Abteilung orien-talischer Altertümer des Musée du Louvre mitdiesem Anliegen an ihre Partner in London undBerlin und es entstand seit nunmehr über vierJahren ein gemeinsames Vorhaben der Präsen-tation Babylons, erstmals seit Beginn der wis-senschaftlichen Entdeckung des Alten Mesopo-tamien in Form einer europaweit übergreifen-den Schau.

Was hier so trocken und zugleich anma-ßend klingt, war und ist doch ein aufregendesGeschäft. Immerhin musste das geeignete Ma-terial für eine solche Ausstellung nicht nur erstgefunden werden, es war auch so zusammen-

Ausstellungen

Zepter aus Onyx, rekonstruiert. Teil eines sogenannten »Marduk-Schatzes« aus Babylon. Etwa 6. Jahrhundert v. Chr. Länge 38,9 cm. Vorderasiatisches Museum. Foto: © Olaf M.Teßmer, Vorderasiatisches Museum

Grabinventar aus Babylon mit glasierten Grabgefäßen, Schmuck, Alabasterbank, Gewichtsente und Lampe aus ägyptisch Blau sowie Straußenei, 1. Hälfte 1. Jahrtausend v. Chr. Vorderasiatisches Museum. Foto: © Olaf M.Teßmer, Vorderasiatisches Museum

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zutragen, dass aus Sicht der Kuratoren dasbestmögliche Vermittlungsergebnis an jeweilseinem der Orte erreicht werden kann und diesunter ungleichen Bedingungen. Im Louvre ste-hen knapp 1000 qm zur Verfügung, im Perga-monmuseum über 3000 qm und in London nureinige Hundert. Konnte so durch Paris schondas Material angereichert werden (wofür diePartner dankbar sind), war doch in jedem Ein-zelfall die Konzeption an die äußeren Bedin-gungen anzupassen. Und weil von Beginn anklar war, dass für unsere Zeit die Behandlungdes Themas »Babylon« nicht nur rein archäo-logisch stattfinden konnte, wurde auch gene-rell die Präsentation der europäischen Rezep-tionsgeschichte Babylons geplant.

Hier allerdings unterscheiden sich die Rea-lisierungen an den drei Orten sehr. Wird inLondon neben der Archäologie die RezeptionBabylons nur marginal behandelt und spieltsie in Paris einen zwar größeren, doch eher re-sümierenden Part, so ist hieraus für Berlin eineeigene umfangreiche Ausstellung geworden,die in passender Weise die Behandlung dergeschichtlichen Realität Babylons durch die Be-trachtung der abendländischen Legenden undMythen in zwei Teilen unternimmt. So heißt dieAusstellung in Berlin »Babylon – Mythos und

Wahrheit« und soll den Besuchern in gleich-rangiger Weise die Möglichkeit eröffnen, diedurch die Altertumsforschung entdeckte Le-bensrealität Babyloniens kennen zu lernen, wieauch die eine ganz eigene Welt bildende euro-päische Traditionsgeschichte zu betrachten.

In beiden Teilen (die »Wahrheit« im Vor-derasiatischen Museum und der »Mythos« imObergeschoss des Nordflügels des Pergamon-museums) stand jedoch nicht nur die didakti-sche und museologische Abhandlung des The-mas im Mittelpunkt, sondern auch das Bemü-hen, für die Besucher das Staunen, Erkennenund Genießen der Objekte, Artefakte, Kunst-werke und anderer Überlieferungszeugen zuinszenieren. Ob dies gelingt, zumal das durchsehr unterschiedlichen Materialeinsatz zu leis-ten ist – archäologische Funde wirken nun ein-mal auf Betrachter anders als ein Gemälde –bleibt spannend und wird das Publikum zu be-urteilen haben. Die Kuratoren haben zumindestdurch die Ausstellungsphilosophie versucht,den Zugang zum Thema, der in beiden Weltennicht einfach ist, etwas zu erleichtern: Sowohlbei der Archäologie als auch bei der Kunstge-schichte ist es vornehmlich die kulturgeschicht-

liche Präsentation der Werke, die in Themen-kreisen wichtige Inhalte aufbereitet und dar-bietet.

Für das Altertum, also die »Wahrheit« überBabylon, bedeutet dies, dass die Objekte je-weils nach ihrem Aussagewert zum Thema zu-sammengeführt sind und nicht hinsichtlich ihrerexakten Herkunft oder Datierung. Hieraus er-gibt sich ein übergreifender Querschnitt mitun-ter durch Jahrtausende. Dennoch steht immerder Wert für unser Denken über Babylon an ers-ter Stelle. Folgerichtig werden auch nicht nurFunde der Ausgrabungen in Babylon selbst zusehen sein, sondern alle historisch wichtigenZeugen des babylonischen Altertums, über wel-che die Museen und Sammlungen der Weltheute verfügen1. Somit steht der Begriff »Ba-bylon« auch nicht nur für die Stadt, sondernschließt selbstverständlich Babylonien als histo-rische und geographische Ganzheit ein und er-laubt auch den Blick auf die kulturell ohnehineng vernetzten Nachbarn wie Assyrien oderElam.

Insgesamt erwartet die Besucher daher eineso noch nie zu sehende Panoramawelt des ori-entalischenAltertums vom3.Jahrtausend v.Chr.

Ausstellungen

Steinstele mit Symbolhandlung einer Rechts-übertragung von Land durch den babylonischenKönig Mardu-apla-iddina II. an einen hohen Beamten. Auf der Rückseite dieses öffentlichenRechtsdokuments ist der Text der Übertragungs-urkunde wiedergegeben, Ende 8. Jahrhundert v. Chr. Höhe 46 cm. Vorderasiatisches Museum. Foto: © Olaf M.Teßmer, Vorderasiatisches Museum

Rekonstruktionsmodell des Tempelturms von Babylon von H. Schmidt, 1991. Höhe 56 cm.Vorderasiatisches Museum. Foto: © Olaf M. Teßmer, Vorderasiatisches Museum

Terrakottafigur eines Gottes mit Flasche, aus der Leben spendendes Wasser quillt, 18.–17. Jahrhundert v. Chr. Höhe 7,5 cm. Vorderasiatisches Museum. Foto: © Olaf M. Teßmer, Vorderasiatisches Museum

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bis in die Jahrhunderte nach Beginn der mo-dernen Zeitrechnung, eine Kollektion von bis-lang nie gemeinsam gezeigten Spitzenwerkender beteiligten Museen neben reichen, bis datounbekannten Magazinschätzen des Vorder-asiatischen Museums. Ausgebreitet wird dieseSchau in den zu diesem Zweck völlig umgestal-teten Räumen des sonst nur als Dauerausstel-lung zu sehenden Museums, wodurch das ge-samte Haus im Verein mit der Seite des »My-thos« zu einem Babylonmuseum wird. Die wei-teren hier beheimateten Sammlungen (Antiken-sammlung und Museum für Islamische Kunst)sind auch als Leihgeber für Babylon mit einbe-zogen, sonst jedoch weiterhin wie gewohnt zu-gänglich.

Inhalt der Ausstellung sind die Themen Kö-nigtum, Baukunst, Religion, Recht und Alltag(um nur einige zu nennen), eingebettet in dieRäume um die Prozessionsstraße von Babylon,die selbst mit dem berühmten Ischtar-Tor zu ei-nem gewandelten Erlebnisbild gestaltet werdensoll. Kann man so die aus der Forschung ge-wonnene Lebenswirklichkeit Babylons betrach-ten, wird darüber hinaus auch die Wirkung desgeistigkulturellen Erbes dieser Region auf Eu-ropa untersucht. In den Ausstellungsbereichen»Wissenschaft« und »Transformation« soll man

die Überlieferungsstränge von Babylon im Al-tertum bis in die abendländische Welt nachver-folgen können. Dabei wird deutlich gemacht,dass »Babylon« viel länger existierte und nach-wirkte als heute gedacht, wie auch gezeigtwird, dass neben der griechisch-römischen Tra-dition auch die arabisch-islamische Welt undvor allem die jüdische Überlieferung sehr vielvon Babylon bewahrt und uns Europäern ver-mittelt haben. Ein Ausblick auf die inhaltlichvöllig gewandelte Wahrnehmung desselbenThemas durch die christliche Tradition beendetden Ausstellungsteil »Wahrheit« und leitet überzum »Mythos«, bis zu dem der Besucher freilicheinige Entfernung zurücklegen muss, vielleichtdie Zeit schon nutzend, über das Gesehene zureflektieren, Babylon denkend.

Joachim Marzahn

Dr. Joachim Marzahn ist Kustos am VorderasiatischenMuseum und der Kurator des Ausstellungsteils »Wahrheit«.

Anmerkung1 Aus konservatorischen, aber auch kulturpolitischen wie

weltpolitischen Gründen standen Leihgaben aus Bagdadbedauerlicherweise nicht zur Verfügung.

Mythos BabylonPergamon-Museum, Nordflügel,2. Ausstellungsgeschoss

Im Babylon-Mythos, der die europäische Kunstund Kultur von der Antike bis heute fortwährendprägte, gewinnen die Urängste der Menschheitzeitlose Anschaulichkeit. Babylon ist die zen-trale Metapher für die dunklen Seiten der Zivi-lisation: Unfreiheit und Unterdrückung, Terrorund Gewalt, Hybris und Wahn. Hier erlebendie Besucher die mythische Geschichte vomAufstieg und Fall Babylons als Stadt der Sündeund der Tyrannei, als Schauplatz der Sprach-verwirrung und als Metropole der ewigen Apo-kalypse. Die Ausstellung ist eine Expedition zuden geheimnisvollen Quellen dieses Bildes, sei-ner Entstehung und Tradierung über die Jahr-hunderte bis in unsere aktuelle Gegenwart des21. Jahrhunderts. Sie erzählt mit ihren siebenthematischen Schwerpunkten nicht die histo-rische Wahrheit über Babylon, sondern dieWahrheit über eine Zivilisation, die den MythosBabylon braucht, um sich selbst zu verstehen.

Ausstellungen

William Blake, Nebukadnezar, zwischen 1795 und 1805. Farbig gedruckte Radierung, Tinte und Aqua-rellfarbe, 54,3 x 72,5 cm. Tate London, presented by W. Graham Robertson 1939. © Tate, London 2008

Fragment einer Keilschrifttafel mit Verzeichnisder Ausgabe von Öl- und Sesamrationen an Würdenträger. Erwähnt sind der in Babylon gefangene König von Juda, Jojakim, und seine Familie, 6. Jahrhundert v. Chr. Höhe 30 cm.Vorderasiatisches Museum. Foto: © Olaf M.Teßmer, Vorderasiatisches Museum

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Babylon-System

Das »Babylon-System« führt in die Zeit der Jü-dischen Gefangenschaft und damit zum Ur-sprung aller Babylon-Mythen.Keineswegs erlit-ten die Juden im Babylonischen Exil unter Ne-bukadnezar II. (605–562 v. Chr.) ein leidvollesMartyrium unter barbarischer Fremdherrschaft.Vielmehr erfuhren sie eine wohlwollende Be-handlung, die ihnen die Fortführung der jüdi-schen Traditionen und die Entfaltung ihrer reli-giösen Identität erlaubte. Dennoch wurde dieGefangennahme der Israeliten in der christ-lichen Überlieferung zu einer Leitmetapher fürVerfolgung, Knechtschaft und Unterdrückung.Die junge Judäerin Judith beispielsweise, dieden babylonischen Heerführer Holofernes beider Belagerung ihrer Heimatstadt Bethulia ent-hauptete – eine apokryphe Geschichte (Judith10–13), die in der Bibel ohne historische Basisin die Zeit Nebukadnezars verlegt wurde –,wurde zu einer Identifikationsfigur der Verfol-gung und des Widerstands. In gleicher Weisemythifiziert wurden der nach Babylon ver-schleppte und von Nebukadnezar in die Lö-wengrube geworfene Prophet Daniel (Daniel 6,1–27) sowie Jeremias, der Künder, der die Zer-störung Jerusalems weissagte und trauernd aufden Trümmern seiner Stadt zurückblieb (Jere-

mia 21, 3–14). Diese Schreckensszenarien wer-den ergänzt durch die zahlreichen Illustratio-nen und Vertonungen des Psalms 137 über dieTrauer der ihrer Freiheit beraubten Juden »anden Wassern zu Babel«, fern ihrer Heimat. Die-ser Mythos übertrug sich in der Vorstellungsweltder jamaikanischen Rastafari – ausgehend vonder kolonialen Versklavung und Verschleppungihrer afrikanischen Vorfahren in die Karibik –auf die gesamte westliche Zivilisation und präg-te den Begriff des »Babylon-Systems«.

Nebukadnezar

Die Geschichte kennt Nebukadnezar II., denBegründer des neubabylonischen Reiches, alsruhmreichen Heerführer und erfolgreichenStaatsmann, der sein eigenes Land zu großemWohlstand und innerem Frieden führte. Oft-mals fälschlich mit Nimrod gleichgesetzt, nenntihn die Bibel einen »gewaltigen Jäger vor demHerrn« (1. Mose 10, 9). Im Alten Testament wirder als gottloser Tyrann dargestellt, als erbar-mungsloser Zerstörer Jerusalems und maßloserDespot. Seiner Befehlsgewalt entmachtet ende-te er, für die begangene Todsünde der Superbia

büßend, schließlich im Wahnsinn. Im Mittelalterund in der Renaissance wurde Nebukadnezarzur populärsten Negativfigur der Herrschafts-kritik. Sein historisch nicht verbürgter Befehl, diedrei Freunde Daniels in den Feuerofen zu wer-fen (Daniel 3, 1–30), nimmt in schrecklicherWeise den Holocaust voraus. Als vorgeblichlegitimer Nachfolger stellte sich zweieinhalbJahrtausende später Saddam Hussein in die fik-tive Erbfolge Nebukadnezars. Beide verbandüber die Jahrtausende hinweg das brennendeVerlangen nach triumphaler Herrschaft über einWeltreich. Gleichermaßen mündeten die Visio-nen von der allmächtigen Regentschaft einesWelt umfassenden Imperiums bei beiden Herr-schern in der absoluten Niederlage.

Stadt der Sünde

»Sünde« wurde im Babylonischen als Begrifffür schuldhaftes Vergehen gegenüber den sitt-lichen Maßstäben menschlicher und göttlicherNatur im umfassenden Sinne genutzt. Eine Be-griffswelt unmoralischer Handlungen im sexu-ellen Umfeld existierte nicht. Das die Neuzeitbeherrschende Zerrbild von Babylon als Stadt

Ausstellungen

Douglas Gordon, Black and White (Babylon), 1996. Videoinstallation. Patrick Painter Inc., Santa Monica, Kalifornien. © Courtesy Lisson Gallery, London

Heisterbacher Bibel, Köln um 1240. Buchmalerei,36 x 24,5 cm (Blattmaß), fol. 336 v.: Die Zerstörung Jerusalems im Jahre 586 v. Chr.Staatsbibliothek Berlin. Foto: Ruth Schacht. © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

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der Sünde hat seinen Ursprung bei Augustinus(354–430 n.Chr.), dem bedeutendsten christli-chen Gelehrten der Spätantike. In seiner Schrift»De Civitate Dei«1 entwickelte Augustinus dieIdee vom Gottesstaat, verkörpert durch dashimmlische Jerusalem, der dem irdischen Staatals von widergöttlichen Kräften beherrschtesReich des Bösen, manifestiert im teuflischen Ba-bylon, gegenübersteht. Ausgehend von diesenzwei, in allenGesellschaften präsentenReichen,entwirft Augustinus eine umfassende Mensch-heitsgeschichte. Ein Jahrtausend später greiftMartin Luther (1483–1546) dieses Denkbild aufund setzt in seiner programmatischen Schrift»De Captivitate Babylonica«2 Rom als Zentrumder ihm verhassten katholischen Welt mit derbabylonischen Hure gleich. Dieser Vergleichwurde geprägt durch die von der Offenbarungdes Johannes ausgehende Symbolik Babylonsals gottesfeindliche Macht und Metropole derSünde und Dekadenz.

Auch in der Bilderwelt des 20. und 21. Jahr-hundert kursiert dieses Bild von Babylon alsMetropole der verbotenen – und ebenso oft ver-

lockenden – Lüste, kulminierend nicht zuletzt imGenre der Pornographie.

Semiramis

Die Legende der sagenhaften Gründerin derStadt Babylon, Semiramis, deren Name ver-mutlich auf die assyrische Königin Sammura-mat zurückgeht, entstammt den Schriften derantiken griechischen Historiker. Herodot (um484–420 v. Chr.) beschreibt sie als Königin, dieganz Asien regierte. Diodor (1. Jh. v. Chr.) er-wähnt sie als Tochter der syrischen Göttin Der-keto von Askalon und schildert ihre ruhmreicheErrichtung der glanzvollen Stadt Babylon mitden Hängenden Gärten, die seit der Neuzeit zuden sieben Weltwundern der Antike gezähltwurden. Außerdem stellt er sie in das Licht ei-ner Männer verschlingenden Königin undmächtigen Kriegerin, die das feindliche Heerder Meder besiegte. Athenagoras von Athen(2. Jh. n. Chr.), einer der Apologeten, bezeich-net Semiramis in seiner Schrift »Legatio pro

Christianis« als »unzüchtiges und mörderischesWeib«.3 Diesen vermeintlich historischenQuellen entsprang der Mythos einer anrüchi-gen und lüsternen »femme fatale«, die zur ge-heimnisvollen Protagonistin zahlreicher litera-rischer Werke, Opern und Theaterstücke wur-de. In Dante Alighieris (1265–1321) »Gött-licher Komödie« wird sie als Sünderin der maß-losen Wollust und Willensschwäche in denzweiten Höllenkreis des Inferno verbannt. Derösterreichische Autor Leopold von Sacher-Ma-soch (1836–1895), verschrien als Schilderersexueller Ausschweifungen und Perversionen,widmete der Mythen umwobenen Babylonierinseinen Roman »Afrikas Semiramis« und stelltsie in das Licht einer wollüstigen Exotin. Der Re-gisseur Carlo Ludovico Bragaglia(1894–1998) verlegt in seinem schauprächti-gen Monumentalfilm »Semiramis. Die Kurtisa-ne von Babylon« (1954) die Geschichte der sa-genhaften Frau endgültig ins Halbweltmilieu.

Der Turm

Der in der antiken Stadt Babylon stehende Tem-pelturm des Stadtgottes Marduk besaß dieForm einer stufenförmigen Zikkurrat auf recht-eckigem Grundriss. In der europäischen Kunst-geschichte jedoch erscheint der Turm stets in derGestalt der jeweils zeitgenössischen Architek-turepoche: In mittelalterlichen Handschriften,die zumeist den Turmbau zu Babel unter Schil-derung aller handwerklichen Details in denMittelpunkt stellen, tritt er auf als Wehrturm, ab-gelöst von Bauwerken, die an gotischen Kirch-türmen orientiert sind. Mit der Wiederentde-ckung und neuen Wertschätzung der antikenBauformen des Kolosseums in der Renaissance,initiiert vor allem durch Filippo Brunelleschi(1377–1446) und Leon Battista Alberti (1404–1472), nimmt auch der Babylonische Turm sei-ne runde Form an. Diese Vorstellung des Bau-werks, nach dem Vorbild von Pieter Breugheld.Ä. (1525/31–1569), prägte die folgendenJahrhunderte: Zahllose Turmbilder entstehenkongenial in der Nachfolge des großen nie-derländischen Meisters. Als gigantisches Denk-mal für den Fortschrittsglauben des 19. Jahr-hunderts errichtete Gustave Eiffel (1832–1923)zur Weltausstellung1889 seinen eisernen Turm,dessen Bau seinerzeit den Protest der Künstlerhervorrief. In deren berühmtem Manifest wur-de er als »nutzloser und monströser« »neuer

Ausstellungen

Christian Köhler, Semiramis, 1852. Öl auf Leinwand, 139 x 162 cm. Nationalgalerie SMB. Foto: Andres Kilger

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Turm zu Babel« bezeichnet.4 Bis heute ist derBabylonische Turm Synonym für eine Kolossal-architektur, deren Ambition keine menschlichenGrenzen kennt. So erhielt New York in dergigantomanischen Bauwut der 1920er Jahreseinen Beinamen »New Babylon«, eindrucks-voll gespiegelt in Fritz Langs Machtarchitektu-ren von »Metropolis« (1927). Diese negativeBedeutung des Turms als Kathedrale des Bö-sen, geprägt durch den Größenwahn und dieHochmut seines legendenhaften Erbauers Nim-rod, lebt in der Populärkultur bis heute fort, bei-spielsweise in Saurons Turm Barad-dûr in derVerfilmung von Tolkiens »Herr der Ringe« (2001–2003).

Apokalypse

Für eine gewaltsame Zerstörung der Stadt Ba-bylon, wie in der Genesis (1. Mose 11, 5), beiden Propheten (Jesaia 13, 1–22; Jeremia 50,1–3) und in der Apokalypse des Johannes (Of-fenbarung 18,1–24) geschildert, ist kein histo-rischer Beleg bekannt. Nach der Eroberung Ba-bylons durch den Perser Kyros II (539 v. Chr.),verlor die Stadt ihre einstige Größe und wichin ihrer Bedeutung neu gegründeten Siedlungs-zentren. In der Apokalypse des Johannes ent-lädt sich Gottes Gericht über der Stadt, sich an-kündigend im Auftritt der großen Hure Babylon(Offenbarung 17,1–18). Vor der Bestrafung der

Verderbnis der Menschheit warnt typologischbereits das Alte Testament: Gott prophezeitdem babylonischen König Belsazar währendseines letzten ausschweifenden Gastmahls denUntergang seines Reiches mit den legendärenWorten »Mene mene tekel u-parsin«. Danieldeutet die Verkündung: »Mene, das ist, Gott hatdein Königtum gezählt und beendet. Tekel, dasist, man hat dich auf der Waage gewogen undzu leicht befunden.Peres, das ist, dein Reich istzerteilt und den Medern und Persern gegeben«(Daniel 5, 25–27). Bis heute ist die ZerstörungBabylons, der Mutter der Hurerei und allerGräuel auf Erden, das symbolträchtigste Sze-nario eines selbst verschuldeten Untergangs.Auch die Angstbilder der nationalsozialisti-schen Verbrechen an der Menschheit und dievernichtenden Gräueltaten des beginnenden21.Jahrhunderts sind auf beunruhigende Weisemit diesem Motiv des Niedergangs verknüpft.

Ausstellungen

Monsu Desiderio, Turm zu Babel, 1630. Öl auf Leinwand, 152 x 130 cm. Privatsammlung Rom

C. W. Kiesslich, Intoleranz, 1. Teil: Der Untergang von Babylon, 1919. Filmplakat.Filmmuseum Berlin.© Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin

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Sprachverwirrung

Im multikulturellen Babylon lebten Menschenverschiedenster Nationen friedlich zusammen.In den Straßen der Stadt waren die SprachenallerVölker derErde zu vernehmen.Dem gegen-über steht die biblische Überlieferung der Ge-nesis, in der Gott die Anmaßung der Mensch-heit, verkörpert durch das größenwahnsinnigeTurmbauprojekt, durch die Sprachverwirrungstrafte (Mose11, 7–9): »Wohlauf, lasst uns her-nieder fahren und dort ihre Sprache verwirren,dass keiner des anderen Sprache verstehe! Sozerstreute sie der Herr von dort in alle Länder,dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr da-selbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sievon dort zerstreut hat in ihre Länder.« Die ba-bylonische Sprachverwirrung steht also für denSündenfall einer urbanen Zivilisation, die den

Bezug zur göttlichen Sprache der Natur verlo-ren hat. An die Stelle der Sprache Gottes tretenin unkontrollierbarer Vielfalt die Sprachen derMenschen. Während der christliche Glaube aufdie Erlösung durch das Pfingstwunder hofft,überrascht die Wissenschaft seit der Neuzeitmit immer neuen Lösungsvorschlägen:mit künst-lichen Bildsprachen im Barock, mit der Idee derTelepathie oder der Erfindung von Volapük undEsperanto im19. Jahrhundert sowie mit der Ent-wicklung von Übersetzungsprogrammen wie»babelfish« im 20. Jahrhundert. Erst mit derGlobalisierung unserer Zeit wird offenbar, dassVielfalt auch Reichtum bedeuten kann.

Der »Mythos Babylon« erzählt keine Geschich-ten aus längst vergangenen Zeiten. Bis in unse-re Gegenwart lebt dieser Mythos in unvermin-

derter Aktualität fort und prägt als beständiggreifbare Metapher unser alltägliches Denken.Babylon wird mit dieser Ausstellung zu einemSchlüssel des Verständnisses für unsere Her-kunft, für unsere Gegenwart und unsereBestimmung. Die Botschaft lautet: Wir sind Ba-bylon.

Hanna Strzoda und Moritz Wullen

Dr. Hanna Strzoda und Dr. Moritz Wullen sind Kuratorender Ausstellung »Mythos Babylon«.

Anmerkungen1 Aurelius Augustinus: De civitate dei. Basel 1489.2 Deutschsprachige Ausgabe: Martin Luther: Von der Ba-

bylonischen Gefengknus der Kirchen. Straßburg 1520.3 Miroslav Marcowich (Hg.): Athenagoras. Legatio pro

Christianis. Berlin/New York 1990, S. 12. Vers 30, 1–5.4 Protestation des Artistes. In: Le Temps, 14. Februar 1887.

Ausstellungen

Danica Dakic, ZID/WALL, 1998. Videoinstallation. © Danica Dakic