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3. Auflage Die Beschleunigungs- falle oder der Triumph der Schildkröte Klaus Backhaus / Holger Bonus (Hrsg.)

Backhaus, Klaus - Holger Bonus - Die Beschleunigungsfalle Oder Der Triumph Der Schildkröte

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  • 3. Auflage

    Die Beschleunigungs-falle oder der Triumph der Schildkrte

    Klaus Backhaus / Holger Bonus (Hrsg.)

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    Erfolgreiches Arbeiten wnscht Ihnender Sch5er-Poeschel Verlag

  • vakat

    vakat

  • Klaus Backhaus/Holger Bonus (Hrsg.)

    DIE BESCHLEUNIGUNGSFALLEODER

    DER TRIUMPHDER SCHILDKRTE

    3., erweiterte Auflage

    1998Schffer-Poeschel Verlag

    Stuttgart

  • Dieses Werk einschlielich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. JedeVerwertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zu-stimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Verviel-fltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver-arbeitung in elektronischen Systemen.

    201 Schffer-Poeschel Verlag fr Wirtschaft Steuern Recht GmbH & Co. KG

    Einbandgestaltung: Willy LffelhardtSatz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart

    Schffer-Poeschel Verlag StuttgartEin Tochterunternehmen der Verlagsgruppe Handelsblatt

    Herausgeber

    Prof. Dr. Klaus Backhaus, Betriebswirt-schaftliches Institut fr Anlagen undSystemtechnologien, WestflischeWilhelms-Universitt Mnster.Prof. Dr. Holger Bonus, Institut frGenossenschaftswesen, WestflischeWilhelms-Universitt Mnster.

    E-Book-ISBN 978-3-7992-6501-0

    1

  • VVorwort zur dritten Auflage

    Time is money; den letzten beien die Hunde; und wer nicht schnellgenug ist, hat keine Chance. Also mssen wir schneller werden,aufholen, das Tempo beschleunigen, uns dem globalen Wandelrascher anpassen und liebgewonnene Gewohnheiten aufgeben, weilsie unsere Mobilitt behindern. Das alles ist wahr und zugleichvllig falsch. Schnelligkeit alleine fhrt zu gar nichts, und sinnloseBeschleunigung endet an der Leitplanke. Man mu den Weg undseine Tcken kennen, wissen, was man kann und wohin es gehensoll. Dazu mu man sich kennen und in sich selbst ruhen. Schnel-ligkeit mu gepaart sein mit Beharrung und Langsamkeit. StenNadolny hat dies in seinem Roman Die Entdeckung der Lang-samkeit wunderbar beschrieben: Die Arbeit auf dem Schiff be-obachtete John sehr genau. Er lie sich auch beibringen, wie manKnoten machte. Er stellte einen Unterschied fest: beim ben schienes mehr darauf anzukommen, wie schnell man einen Knoten fer-tig hatte, bei der wirklichen Arbeit aber darauf, wie gut er hielt.

    Gerade eine sich beschleunigende Welt braucht Identitt, et-was, das uns und unseren Partnern vertraut ist, das unser Tunverllich prgt, in dem wir uns wiederfinden. Selbst der Schnell-ste braucht eine Ruhepause, um sich zu erholen. Aus der Hektikmu er gewissermaen heimkehren knnen in ein Umfeld, dassich inzwischen nicht verndert hat, wo er sich wiederfindet.

    Dieses Buch ist ein Lesebuch. Es ldt dazu ein, in Mue, wie-derholt und von verschiedenen Gesichtspunkten aus ber dasTempo unserer Zeit nachzudenken, ber atemberaubende Ent-wicklungen, deren Ziel wir nicht kennen. Gerade weil wir nichtwissen, wohin die immer schnellere Reise geht, mssen wir mehrals bisher lernen, auf die Kontinuitt unserer persnlichen Ent-wicklung und auf die Tragfhigkeit unserer kulturellen Traditionzu vertrauen. Ruhe, Kontinuitt und Vertrauen, das sind Inbe-griffe von Langsamkeit. Zugleich will das Buch aber auch provo-zieren, eine Diskussion entfachen. Deshalb findet der Leser inden Beitrgen ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansichtenund Interpretationen.

  • VI

    Dieses Spektrum hat sich von Auflage zu Auflage verbreitert.Die erste Auflage, die 1994 herauskam, enthielt acht Beitrge(Backhaus/Gruner, Bonus, Flgraff, Grofeld, Lbbe, Ronte,Stahel, Steilmann), in der zweiten waren es zehn (hinzu kamenPeter Busch und Heinz Drr), whrend die vorliegende dritteAuflage bereits achtzehn Beitrge umfat. Gegenber der zwei-ten Auflage sind also acht Beitrge hinzugekommen. So konntemit Peter Glotz ein prominenter Politiker und zugleich angese-hener Wissenschaftler gewonnen werden; Norbert A. Platt, Ge-schftsfhrer (Vors.) der Montblanc International GmbH, steu-ert einen Beitrag ber Faszination Bestndigkeit bei. ManfredRommel, der frhere Oberbrgermeister von Stuttgart, ist einpopulrer Politiker, der sich mit dem Zeitdruck in der Politikbefat; Stefan Klein von der Spiegel-Redaktion schreibt ber dieEntmachtung der Uhren. Je ein neuer Beitrag stammt von Karl-heinz A. Geiler von der Universitt der Bundeswehr in Mn-chen, von dem Leitenden Archivdirektor der Stadt Mnster,Franz-Josef Jakobi und von dem Departementsvorsteher der Uni-versittsfrauenklinik Basel, Wolfgang Holzgreve. Die beidenHerausgeber steuerten gemeinsam einen zustzlichen Beitrag berUnternehmens-Identitt und Stil bei.

    Damit ist die dritte Auflage eigentlich ein neues Buch, demwir eine neue Struktur gegeben haben. Langsamkeit wie Schnel-ligkeit haben mit Zeit zu tun. Deswegen haben wir die Beitrgein fnf Abschnitten zusammengefat, die unterschiedliche Aspek-te der Zeit zum Gegenstand haben: Zeitreise, Zeitspannung, Zeit-konomie, Zeitrhythmus, Zeithorizonte. Wir hoffen, da dieses neueBuch zum Nachdenken einldt, zu mehr Verstehen und zu mehrGelassenheit.

    Unser besonderer Dank gilt dem Mitglied der Geschftslei-tung des Schffer-Poeschel Verlages, Frau Ass. jur. Marita Roll-nik-Mollenhauer, die sich fr dieses Buch engagiert eingesetzthat und in manchen Bereichen (Mit-) Herausgeberfunktionenbernommen hat.

    Mnster, Klaus Backhausim Juli 1998 Holger Bonus

  • VII

    Inhalt

    I. Zeitreise

    Heinz DrrMue im rasenden Zug der Zeit

    3

    Peter BuschVergleichzeitigung um Zeit zu gewinnen!?

    15

    II. Zeitspannung

    Klaus Backhaus/Holger BonusUnternehmens-Identitt und Stil

    27

    Holger BonusDie Langsamkeit der Spielregeln

    41

    Georges FlgraffEntschleunigung

    57

    Peter GlotzKritik der Entschleunigung

    75

    Bernhard GrofeldRechte Zeit

    91

  • VIII

    III. Zeitkonomie

    Klaus Backhaus/Kai GrunerEpidemie des Zeitwettbewerbs

    107

    Klaus SteilmannBeschleunigung eine Modeerscheinung?

    133

    Walter R. StahelInnovation braucht Nachhaltigkeit

    149

    Norbert A. PlattFaszination Bestndigkeit

    179

    IV. Zeitrhythmus

    Stefan KleinDie Entmachtung der Uhren

    197

    Manfred Rommelber den Zeitdruck in der Politik

    217

    Karlheinz GeilerDie Produktivitt unproduktiver Zeitformen

    225

    V. Zeithorizonte

    Dieter RonteDie Langsamkeit der Ewigkeit

    239

  • IX

    Hermann LbbeGegenwartsschrumpfung

    263

    Franz-Josef JakobiDie Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

    Ein Diskussionsbeitrag aus historischer Sicht295

    Wolfgang HolzgreveVon der Forschung zur Praxis

    Medizin in der Geschwindigkeitsfalle?315

    Die Autoren341

  • vakatvakat

  • Salvador Dali: Die Bestndigkeit der Erinnerung, 1931, Museum of Modern Art,New York

    Demart pro arte B. V./VG Bild-Kunst, Bonn 1996

  • I. ZEITREISE

  • vakat

  • 3Mue im rasenden Zug der Zeit

    Heinz Drr

    Beschleunigung effektiv und effizient?

    Schneller, hher, weiter dieser Anspruch gilt gerade imGter- und Personenverkehr. Lngst sind die Zeiten be-schaulichen Reisens vorbei, in denen Jim Knopf mit Lukas, demLokomotivfhrer, durch Lummerland fuhr: Jeden Tag fuhr Lu-kas viele Male ber das geschlngelte Gleis durch die fnf Tun-nels von einem Ende der Insel zum anderen und wieder zurck,ohne da sich jemals etwas Nennenswertes ereignete. Emma (dieLokomotive) schnaufte und pfiff vor Vergngen. Und manch-mal pfiff auch Lukas ein Liedchen vor sich hin, und dann pfiffensie zweistimmig, was sich sehr lustig anhrte. Besonders in denTunnels, weil es so schn hallte.1

    Diese Beschaulichkeit ist lngst zu einem zweifelhaften Ver-gngen unter Zeitdruck geworden. Denn heute ist Mnchenverkehrstechnisch zu einem Vorort von Hamburg geworden und umgekehrt. Der eilige Geschftsreisende will, morgens inHamburg startend, noch vor dem ersten Frhstck seinen Ver-handlungspartner in Mnchen getroffen haben und selbstver-stndlich zum Abendessen wieder bei der Familie in Hamburgzu Hause sein.

    Die Concorde ermglicht den Abflug um 10.00 h in Paris,um unter Bercksichtigung der Zeitverschiebung um 6.30 h also vor Abflugzeit in New York zu landen. Nach unserer Zeitist es dann schon 12.30 h; und die biologische Uhr des Reisen-den registriert das genau. Um 22.00 h abends (also um 4.00 h

    1 ENDE, MICHAEL: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivfhrer; Stuttgart, Wien1990, S. 8.

  • 4morgens nach unserer Zeit) hebt die letzte berschallmaschinein New York wieder ab, die um 8.00 h des nchsten Tages wiederin Paris landet. Das war zwar ein langer Tag mit einer kurzenNacht, aber man hat die Zeit effektiv genutzt. Bereits um 9.00 hist man, etwas unausgeschlafen, wieder im Bro des 4. Arrondis-sements und kann ber das Vertragsergebnis in New York Be-richt erstatten.

    Und die Beschleunigung geht weiter. Schon heute reisen dieBesprechungsunterlagen dem Reisenden voraus. Auf breitbandi-gen Datenhighways hat der Verhandlungspartner in New Yorkschon alle Besprechungsunterlagen vorab erhalten. Er nutzt sei-nerseits die Zeit des dreieinhalbstndigen Concorde-Fluges, umdie digitalisiert vorliegenden Daten zu bearbeiten und so schonneue Verhandlungsvorschlge zu unterbreiten. Die bentigteVerhandlungszeit verkrzt sich weiter. Man erreicht jetzt nochdie Concorde, die schon sechs Stunden frher zurckfliegt. Pariswird sptabends erreicht, und man kann noch einige Stundenim eigenen Bett schlafen. Da wird der Nutzen beschleunigtenReisens doch unmittelbar evident! Immer weitergehende Be-schleunigung ist offenbar doch effektiv! Ist sie aber auch effizi-ent? Rechnet sie sich?

    Halten wir einen Moment inne. Warum mute der Reisendeberhaupt persnlich nach New York jetten? Alle Informationen,die es auszutauschen gab, htte man auch transatlantisch berdie Datenhighways katapultieren knnen. In Wahrheit drehtesich die schnelle Reise um etwas ganz anderes, das digital nichtzu vermitteln, aber fr komplexe Geschftsabschlsse unentbehr-lich ist. Bevor man Vertragswerke in Kraft setzt, die langfristigVorteile, daneben aber auch schwerwiegende Abhngigkeiten mitsich bringen, mchte man dem knftigen Partner in die Augensehen, seine Krpersprache studieren, die Frbung seiner Stim-me, die Betonung wichtiger Silben registrieren, um zu sehen, ober gut ist fr sein Wort. Vertrge sind nie vollstndig; immer ge-hrt auch Vertrauen dazu, da der Partner einen nicht ber den

  • 5Tisch zieht, wenn man nicht mehr heraus kann aus der Bindung.Der Reisende mute persnlich nach New York kommen, umden prospektiven Geschftspartner von seiner persnlichen Inte-gritt zu berzeugen, die fr die Integritt des Unternehmenssteht, das er reprsentiert, und um sich seinerseits ein Bild zumachen von dem amerikanischen Unternehmen, das wichtig seinwird in Zukunft.

    Warum konnten die beiden Gesprchspartner in New Yorkaber tatschlich fr ihre jeweiligen Unternehmen sprechen, wo-bei in Wirklichkeit der nonverbalen Kommunikation die Schls-selrolle zukam? Wieso kann fr das deutsche und das amerikani-sche Unternehmen nonverbal verbindlich sein, was beide Mn-ner unter vier Augen miteinander erwgen? Die deutsche Firmahat nicht ihren Portier nach New York geschickt; und dort sprachder Emissr nicht mit einem kleinen Buchhalter. Beide Gesprchs-partner waren wichtige Persnlichkeiten, die das Vertrauen ihresUnternehmens genieen. Dort haben sie das Sagen, weil sich dieMenschen, aus denen jedes Unternehmen besteht, in ihnen wie-derfinden und sich deshalb etwas sagen lassen von ihnen. Mitanderen Worten: Der schnelle Jet-Transfer diente dem Transportvon Unternehmensidentitt. Identitt aber, das heit in sich ru-hen, sich nur langsam wandeln, so da Verla bleibt auf denPartner. Die ganze Hektik kreiste um innere Ruhe, um Lang-samkeit; sonst htte sie keinen Zweck gehabt.

    Kehren wir aber zurck ins Alltagsleben. Rechnet sich die Be-schleunigung im Transport eigentlich? Die Frage ist nicht einfachzu beantworten, denn die Effizienz zunehmender Verkehrs-beschleunigung hngt von vielen Faktoren ab, ber die wirzu wenig wissen. Wie wirkt sich zunehmende Verkehrsbeschleu-nigung auf den Gesundheitszustand der Verkehrsteilnehmer aus?Es gibt medizinische Untersuchungen, die zeigen, da berschall-fliegen, insbesondere wenn es regelmig erfolgt, erhebliche Stre-und direkte physische Belastungen bewirkt. Aber da diese Studienkontrovers diskutiert werden und kurzfristig auch subjektiv keine

  • 6unangenehmen Belastungen auftreten, wird das Problem auf dielange Bank geschoben. Es wird also langsam erwogen, und das istangemessen. Manche Entscheidungen mssen reifen wie ein Wein.Wenn das eigentliche Ziel des Jettens darin besteht, Langsam-keit zu ermglichen, wollen die Implikationen wohlbedacht sein.

    Auch hier sollten wir aber innehalten. War der Trip nach NewYork denn wirklich erforderlich? Ging es in der Tat um die Lang-samkeit von Identitt, oder wurde nur einer Konvention gengt,wonach eben wahrzunehmen ist, was technisch irgend machbarsein mag? War am Ende auf beiden Seiten alles nur Imponierge-habe: Seht mal her, wir knnen das? Wenn das zutrfe, dannwrden die eiligen Geschftsreisenden mit ihren Aktenkffer-chen in Wahrheit verheizt. Da wir nicht wissen, welche der beidenMglichkeiten Identitt oder Imponiergehabe zutrifft, ms-sen wir die schnellen Trips vorerst mit einem Schu Ambivalenzbetrachten und zunchst einmal einige Fakten ins Auge fassen.

    Die immer weitergehende Beschleunigung kostet auch (ber-proportional) mehr Geld. Das ist kein Geheimnis: Die Concordefliegt nicht gerade Gewinne ein. Sie ist vielmehr ein subventionier-tes Verkehrsmittel. Macht das Sinn? Oder ist dadurch die ganzeBeschleunigung nicht bereits als Ritual entlarvt? Natrlich erzeu-gen die Erfahrungen mit der Concorde technologische Spin-Offs,die wir fr andere Entwicklungen nutzen knnen. Aber wird dasin der Bevlkerung akzeptiert? Oder beschleunigt hier mgli-cherweise eine Generation auf Kosten von Folgegenerationen?

    Die Fragen machen deutlich, da die weitere Beschleunigungvon Verkehrsmitteln weniger an technische als vielmehr anmenschliche und auch konomische Grenzen stt. Ein mit zehn-facher Schallgeschwindigkeit fliegendes Flugzeug wird innerhalbvon 10 Jahren technisch realisierbar sein. Aber ob es auch ko-nomisch betreibbar sein wird, das ist die Frage. Unter welchenBedingungen hlt der Mensch solche Geschwindigkeiten aus?Und vor allem: Gibt es gengend Menschen, die solche Beschleu-nigungsmaschinen zu den geforderten Preisen dann auch benut-

  • 7zen werden? Oder ist dies eine Veranstaltung, bei der viele Men-schen fr die rituelle Beschleunigung Weniger einen Obulus zuleisten haben? Anders gefragt: Reichen die Effektivittsvorteileaus, um die Effizienznachteile zu kompensieren?

    Dieselben Fragen stellen sich auch fr andere Verkehrstrger,also fr Bahn, Kraftfahrzeug und Schiff. Wieviel Beschleunigungist angemessen? Kein Verkehrstrger kann diese Frage fr sichalleine beantworten, denn alle Verkehrstrger stehen im Wettbe-werb miteinander. Wenn Auto und Schiff schneller werden, dieBahn aber nicht, dann verliert die Bahn Wettbewerbspositionen,weil kaufrelevant fr den Nachfrager die Laufzeit von Perso-nen und Gtern ist. Wer mit dem Auto dreimal so schnell vonHamburg nach Mnchen kommt, fhrt nicht mit der Bahn undumgekehrt; und wenn die Bahn den Reisenden ebenso schnellvon Hannover nach Mnchen bringt wie das Flugzeug, wird sieReisende hinzugewinnen. Fr jeden Verkehrstrger stellt sichdeshalb die Frage nach der optimalen Geschwindigkeit.

    Wieviel Beschleunigung braucht die Bahn?

    Geschwindigkeit ist fr die Bahn, wie fr jeden Verkehrstrger,kein absolutes Phnomen. Die Bahn beschleunigt, weil sie einenkomparativen Konkurrenzvorteil im Hinblick auf andere Verkehrs-trger erreichen mchte. Dabei bewegt sie sich in Effektivitts-und Effizienzgrenzen, die durch folgende Fragen beschriebenwerden knnen:

    Welche relative Geschwindigkeit braucht die Bahn, um sicham Markt zu halten und ihre Position auszubauen? Mu siewirklich immer als Temposieger abschneiden, oder darf siemanchmal vielleicht langsamer sein als andere Verkehrsmittel,um dennoch Erfolg zu haben (Effektivitt)?

    Was sind die kostengnstigsten Alternativen zur Erreichungder Effektivittsziele (Effizienz)?

  • 8Bahn-Reisen in der Zeitkapsel

    In manchen Fllen kommt es wirklich nur darauf an, der Schnell-ste zu sein. Aber das ist nicht immer so. Wir mssen auch fragen:Was kann der Reisende whrend der kurzen, schnellen Reiseneigentlich tun?

    Nehmen wir einmal den Individualverkehr. Der Reisendesitzt oftmals allein (durchschnittlich wird mit 1,7 Reisenden proPKW gerechnet) in einer, zugegeben, angenehm gestalteten Hlleund bewegt sich, sofern er nicht auf verstopften Straen im Stausteht und sich die geplante Reisezeit verdoppelt, durch die Ge-gend. Er kann Radio hren und hin und wieder einen flchtigenBlick auf die Landschaft werfen (sofern ihn nicht Schallschutz-wnde daran hindern). Aber ansonsten mu er sich auf Ampeln,Verkehrsschilder, Geschwindigkeitsbegrenzungen und vor allemauf die anderen Verkehrsteilnehmer konzentrieren. Nicht um-sonst sagt 1 der Straenverkehrsordnung:

    Die Teilnahme am Straenverkehr erfordert stndige Vorsichtund gegenseitige Rcksicht.

    Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, da keinanderer geschdigt, gefhrdet oder mehr, als nach den Um-stnden vermeidbar, behindert oder belstigt wird.

    Knnte es sein, da ein dergestalt Reisender bei hchster Ge-schwindigkeit ein gerade fr ihn unwiederbringliches, knappesund wertvolles Gut vergeudet seine Zeit?

    Vergleichen wir doch einmal die Fahrt im Auto mit einer Reiseim Zug. Vielleicht dauert die Bahnreise ein wenig lnger. Aberwelche Mglichkeiten hat der Reisende, diese Zeit effektiv zu nut-zen?

    Wer will, der kann sich im Zug eine Oase der Besinnung ge-gen Stre und Terminhetze schaffen. Er kann kreative Initiativenentwickeln. Ein Rundgang durch einen imaginren Zug belegtdas. Ein Reisender hat eng beschriebene Papiere neben sich ge-

  • 9legt und blickt versonnen-nachdenklich aus dem Fenster auf dievorbeihuschende bizarre Schnheit einer im Sonnenlicht flirren-den Winterlandschaft. Dabei stellt er fest, da sein ICE wie eineZeitkapsel wirkt, in der sich die Wahrnehmung der Auenweltverndert. Durch die hohe Geschwindigkeit werden nur Objek-te in der Ferne klar erfat. Was in der Nhe ist, zerfliet. Durchsein Vorbeihuschen wird es bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.Details werden nicht mehr wahrgenommen. Der Reisende sttan die Grenzen seiner Wahrnehmungsfhigkeit. Trbt zunehmen-de Beschleunigung nicht auch sonst den Blick fr naheliegendeDetails? Ist manchmal nicht auch Langsamkeit ntig, um zu er-fassen und zu bewerten, was direkt vor Augen liegt?

    Andere Reisende nutzen die Zeitkapsel anders:Im Bistro-Wagen haben sich zufllig Geschftsleute getroffen.

    Bei einem Bier fr den Autofahrer tabu! nehmen sie berufli-che Berhrungspunkte wahr, die man vielleicht nutzen kann.Visitenkarten wechseln die Brieftasche, man wird in Kontakt blei-ben und das alles geschieht bei Tempo 200. Man ist sich mensch-lich nahe im Zug.

    In der Zeitkapsel Zug wird Zeit nicht verspielt. Jeder kann sieindividuell nutzen. Man kann fr sich sein, ohne alleine zu sein.Man kann aber auch Kontakte knpfen.

    Das Ausblenden aus dem realen Zeitgeschehen wird im Zugmglich, weil die Verantwortlichkeit fr die Reisegeschwindigkeiteine andere ist als im Auto. Der schnelle Autofahrer ist eigenver-antwortlich fr sich und seine Umwelt. Je hher die Geschwin-digkeit des Autofahrers, um so hher ist auch die Unfallgefahrund damit das Gefhrdungspotential fr sich und andere. SolcheVerantwortung gibt der Reisende bei seinem Einstieg in den Zugquasi an der Tr ab. Er delegiert die Verantwortung fr die Rei-sezeit an den Zugfhrer. Dadurch gewinnt er Zeit fr sich selbst eine Verantwortungsteilung, die im Auto nicht mglich ist.

    Wer also Zeit fr sich selbst braucht, kann bei der Zugfahrt Zeitgewinnen durch das Delegieren von Verantwortung. konomisch

  • 10

    gesehen geht es eben beileibe nicht immer um das Maximierenvon Geschwindigkeit. Man mu sich fragen: Wieviel Reisezeit istmir der individuelle Zeitgewinn wert? Wenn von auen vorgege-bene Termine den individuellen Zeitgewinn einer Bahnreise illu-sorisch machen, wird die Reisezeit das Kalkl gnzlich dominie-ren. In anderen Fllen werden wir aber echte Entscheidungsalter-nativen haben. Dann mu jeder fr sich selbst die Frage beant-worten: Wieviel Reisezeit ist mir die gewonnene Mue wert, diemir das Verweilen in der Zeitkapsel bringt? Gerade in einer im-mer schnelleren Welt werden individuelle Ruherume (rumlichwie zeitlich) eine immer grere Bedeutung fr uns gewinnen.

    Zeitgewinn mit System

    Wenn es ums Tempo geht, mu man auch fragen, was eigentlichZweck der Reise ist. Was nutzt es dem Reisenden, da der Flugvon Hamburg nach Mnchen nochmals um 20 Minuten ver-krzt wurde, wenn die gewonnene Zeit beim S-Bahn-Anschluwieder verlorengeht? Mit einer um 20 Minuten verzgerten An-kunft htte man dieselbe S-Bahn ebenfalls erreicht. Man mualso auf den Verkehrsverbund sehen, dem man sich anvertraut.

    In Verkehrssystemen kommt es nur begrenzt auf die Geschwin-digkeit des einzelnen Verkehrsmittels an; denn entscheidend istdie Gesamtreisezeit. Sehen wir uns die Flugreise einmal genaueran (was sinnvoll nur ist, wenn die Reisezeiten einigermaen ver-gleichbar sind). Fahre mit dem Auto zum Flughafen, suche ei-nen Parkplatz, gehe zu Fu zum Abfertigungsschalter, warte inder Lounge, fliege eine Stunde, in der ich allerdings relativ wenigmachen kann. Immer das gleiche Spiel, bei der Anfahrt von Awie nach der Ankunft an meinem Zielort B. Und wenn sich we-gen der immer schwierigeren Parkplatzsuche und der wachsen-den Staus bei Anreise zum Flughafen whrend der Rush-hourdie Zubringerzeiten verlngern, hilft es wenig, da die Flugzeit

  • 11

    selbst verkrzt wird. Die Reisezeit-Struktur hat sich verschlech-tert, weil der Anteil der delegierten Reisezeit, die ich zum indi-viduellen Zeitgewinn nutzen kann, immer kleiner wird. Da wirdbeim Zwanzig-Minuten-Flug der PC erst gar nicht mehr aus-gepackt, weil die Elektronik des Flugzeugs, das nach dem Startsofort den Landevorgang beginnt, irritiert werden knnte. DerBordlautsprecher verkndet auch deutlich: Please dont use anyelectronic devices during take-off and landing. Zeitgewinn aufder einen Seite fhrt zu gleichzeitigem Verlust an gestaltbarerZeit. Die Zeit frit sich selber auf! Damit wird deutlich: Eineimmer weitergehende Beschleunigung von Verkehrsmitteln istnicht zwangslufig hocheffektiv. Ganz im Gegenteil! Wir mssendas Phnomen schon differenzierter betrachten.

    Hochgeschwindigkeit: Immer effizient?

    Hochgeschwindigkeit: Wenn schon nicht immer effektiv, dannwenigstens effizient? Die Verkehrswege, auf denen wir uns perBahn, Auto oder Schiff bewegen, werden im Regelfall aus derStaatskasse finanziert. Auch bei Landepltzen fr Flugzeuge sindSteuergelder beteiligt. Immer wieder aufs Neue mssen wir unsdeshalb fragen: Wieviel Geld ist die Gesellschaft, sind wir dieSteuerzahler bereit, fr wieviel Reisezeitgewinn auszugeben?Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn mit einem gege-benen Budget kann man unterschiedliche Formen von Beschleu-nigung realisieren. So knnten wir zum Beispiel neue Streckenbauen oder alte ausbauen. Auch ausgebaute Strecken knnendurch den Einsatz von Innovationen so genutzt werden, da dieReisezeit ohne Erhhung der Spitzengeschwindigkeit verkrztwird. Dies kann etwa durch den Einsatz von Zgen mit Neige-technik erreicht werden, also von Zgen, die sich wie ein Motor-radfahrer in die Kurve legen und dadurch auch auf kurvenreichen,sonst eher langsamen Strecken Fahrzeitgewinne ermglichen.

  • 12

    Entscheidend ist mithin nicht, ob die Hchstgeschwindigkeitauf irgendeinem Stck im flachen Land bei 250 km/h oder300 km/h liegt, sondern ob die Reisezeit zwischen A und B ins-gesamt passabel ist. Die Technik wird uns in der Zukunft nochsehr behilflich sein knnen, Zeitgewinne fr den Reisenden zugenerieren, ohne die Geschwindigkeit zu erhhen eine auchunter Umweltgesichtspunkten erfreuliche Perspektive.

    Entschleunigtes Reisen: Bahnvergngen im Wertewandel

    Die Bahn mu beschleunigen, um im Wettbewerb der Verkehrs-trger zu bestehen. Das war sozusagen unsere Ausgangsposition.Im Gter- und Geschftsreisebetrieb ist dies alles in allem wohlunumstritten. Aber wie steht es mit dem Segment der Ferienreisen,wo der externe Termindruck weitgehend entfllt und das Erlebenvon Zeit in der Zeitkapsel Bahn ganz in den Vordergrund tritt?

    Joseph von Westphalen hat das in einem Artikel ber das Lobdes ruhigen Reisens treffend auf den Punkt gebracht: Da derMassentourismus auf Langsamkeit setzt, ist kaum zu erwarten.Aber eine relevante und zu Buche schlagende Minderheit scheintbereit zu sein, auf breiten Flssen auch ohne aufregendes Nacht-leben an Bord ruhig durch den Urwald zu kreuzen; tagelang ohneden Kitzel spannender Mordflle in luxurisen Zgen durch In-dien, China oder die Mongolei zu rattern, sich mit dem Ballondorthin treiben zu lassen, wohin der Wind einen weht.

    Die guten alten Zeiten wollen diese Menschen nachspielen;eine Zeit, als noch nicht alles immer schon am liebsten gesternfertig sein mute. Schon liebugelt die Tourismusbranche mitlngeren Zeppelinreisen und schier endlosen Wanderungen, werwei, bis nach Neuseeland gar.2

    2 Vgl. WESTPHALEN, JOSEPH von: Lob des ruhigen Reisens, in: manager maga-zin, Juni 1996, S. 300302.

  • 13

    Das erscheint gar nicht so verwunderlich. Wenn alles immerschneller geht, dann will man wenigstens in seiner Frei-(!)Zeitdem Termindruck entgehen, will sich selbst wieder entdecken,will erkennen, wer man selbst eigentlich ist. Im Trubel der Tech-nik verliert man leicht die eigene Identitt. Wie vieles anderedroht auch unsere Identitt virtuell zu werden ungreifbar, ei-gentlich gar nicht mehr existent.

    Damit droht uns die Orientierung verlorenzugehen. Wenn allessich fortwhrend immer schneller bewegt, gibt es keinen Anker-punkt mehr, der uns das Tempo der Entwicklung wahrnehmenlt. Nur wer einen Ruhepunkt hat, erkennt die Geschwindig-keit um ihn herum. Nur dann ist sie auch reflektierbar. Wer im-mer nur im Strom der Geschwindigkeit mit gleichem Tempomitschwimmt, kann die Geschwindigkeit nicht mehr erkennen.

    Deswegen ist es nur zu verstndlich, da die Menschen imUrlaub nach einem Halt im Strom suchen. Zitieren wir nocheinmal von Westphalen: Diesem Strudel im Urlaub entkom-men zu wollen, ist entschuldbar. Wem es allzu schwindelig ge-worden ist, wem mit Segeltrns und Trekkingtouren nicht mehrzu helfen ist, der macht sich auf die langsame Reise zu sich selbstund quartiert sich in einem Kloster ein. Die Mnche sind selig:Endlich sind die Zellen wieder belegt mit reumtigen Hochge-schwindigkeitsmanagern, die artig Besserung geloben. Nach 14Tagen das erste Erfolgserlebnis: Beim Radieschenzupfen im Klo-stergarten vertraut der Workaholic mit dem 800 000-Mark-Jobdem Bruder Emeran sein Glck an: Stellen Sie sich vor, heutehabe ich mich seit Jahren zum ersten Mal gelangweilt.3 Einegute Perspektive? Eine schne Neue Welt?

    3 WESTPHALEN, JOSEPH von: Lob des ruhigen Reisens, in: manager magazin,Juni 1996, S. 300302.

  • vakat

  • 15

    Vergleichzeitigung um Zeit zu gewinnen!?

    Peter Busch

    Der Zwang sich kurz zu fassen

    Verehrteste, entschuldigen Sie den langen Brief, ich hattekeine Zeit, Ihnen einen kurzen zu schreiben.1 DieserSatz von Madame de Savigny zeigt, welch eine Kunst es ist undwelcher Mhe es bedarf, sich kurz zu fassen. Heute wird alleAnstrengung unternommen, dieser Forderung nachzukommen,und die Mglichkeiten dazu wachsen ins schier Unermeliche.Die Medien-Spezialistin Carmen Thomas beklagt den Zwang zum1'30" (1 Minute 30 Sekunden) Journalismus und damit denVersuch, in diesem kurzen Zeitintervall alles Wichtige an Infor-mation rberzubringen. Der moderne Hr- und Sehkonsumentwill nur noch ein Minimum seiner wertvollen Lebenszeit fr ei-nen Informationsblock opfern; vor 20 Jahren waren es noch 5 Mi-nuten, heute ist es weniger als ein Drittel dieser Zeitspanne. Wozulange Artikel in Zeitungen oder Journalen lesen? Alles mu aufeiner Seite oder hchstens zwei gegenberliegenden Seiten zu fin-den sein selbstverstndlich mit reicher Bebilderung, um dieeigene Vorstellungskraft nicht berzubeanspruchen. Wozu lang-atmige Reflexionen, wenn es auch ein paar Sprechblasen tun?Alles strebt danach, immer mehr in immer krzer werdende Zeit-abschnitte zu packen. Florierende Time Management-Seminareleiten zum konomischen Umgang mit der Zeit an, zu Techni-ken zur Bewltigung bedrngender Informationsflle, etwa zumDiagonal-Schnell-Lesen oder Schwerpunktlesen, bei dem manblitzschnell den tragenden Gedanken in einem greren Textab-

    1 THOMAS, CARMEN: 1'30 und kein Ende?; Der Weg (1996) Nr. 26, S. VI.

  • 16

    schnitt erfat. Wissenschaftliche Vortrge drfen nicht mehr wiefrher 45 Minuten dauern, sondern mssen in 20 oder sogar nur10 Minuten ihre Kernbotschaft vermitteln. Um die Redezeit aufNull zu verkrzen, werden oftmals erstaunlich wichtige Infor-mationen ber Poster-Beitrge angeboten. Auch die Kirchenschwimmen auf der Kurzzeit-Welle mit; in nicht wenigen Gro-stdten findet man das Angebot: Kommen Sie zu einer besinn-lichen 10-Minuten-Andacht!

    Die Zapping-Gesellschaft

    Die beiden am meisten zu erstrebenden Gter in unserer Gesell-schaft sind immerwhrende Gesundheit und Gewinn an Zeit.Man mchte Zeit gewinnen, um noch mehr Zeit fr etwas ande-res zu haben nach dem Motto: Schn ist es auch anderswound hier bin ich sowieso. Die Gleichung lautet: Zeit zu haben,bedeutet Freiraum gewinnen fr Entscheidungen und (mglichstlustvolle) Erfahrungen. Von daher die Sucht, in jeden Zeitab-schnitt mglichst viel hineinzupacken. Die Optionen dafr wach-sen stndig, der moderne Zeitgenosse sieht sich stndig den Fra-gen ausgesetzt: Was ist wichtig? Was ist lustvoll? Versume ichetwas, wenn ich mich auf das gerade Angebotene einlasse? Ist derKrimi oder das Fuballspiel oder die Katastrophen-Nachrich-tensendung vorzuziehen? Also zappen wir hin und her zwi-schen 10, 20, in Krze 50 und mehr Programmen. Manche emp-finden das noch nicht gleichzeitig genug und installieren inihren Wohnungen Fernsehgerte, die das simultane Betrachtenunterschiedlichster Sender ermglichen. Das Zapping be-schrnkt sich nicht nur auf den Mediengenu. Wir wollen allesohne Zeitversatz haben, die Erdbeeren im Winter, zu Weihnach-ten den Sommerurlaub, in dem wir uns in der Karibik einquar-tieren, den angenehmen Einkaufsbummel bei jedem Wetter ineiner der groen Malls. Kurz mu alles sein und spontan zu

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    bekommen. Die Last-Minute-Reise, die man von jetzt auf gleichbuchen kann, Kurz-Stdte-Reisen am Wochenende nach Dres-den, Prag oder gar nach New York. Schnell rein und ebenso schnellwieder raus. So verliert die Entscheidung ihre Tragweite oder ih-ren schmerzlichen Charakter. Ich mache sie ja im nchsten Au-genblick quasi wieder rckgngig. Wenn mein zeitliches Enga-gement das nicht bringt, was ich als Bereicherung oder Lust be-werte, dann gehe ich ebenso schnell zum nchsten Happening.Frher freute man sich ber viele Wochen und gar Monate hin-weg auf die Abwechslung eines Festes gem dem Ratschlag SaureWochen, frohe Feste, sei dein knftig Zauberwort. Heute gilt esals schick, nicht nur zu einer Party, sondern in kurzen Zeitab-stnden zu zwei, drei oder mehreren zu gehen. Es ist Erfahrungvon Verantwortlichen fr Jugendgruppen, da nicht mehr dasKontinuierliche luft, sondern das Punktuelle. Chorleiter bekom-men Mnnerstimmen am besten, wenn sie die Kantate zumMitsingen anbieten, fr die eine oder zwei Proben gengen. Einreiches und erflltes Leben bedeutet die immer schneller rotie-rende Abwechslung. Wir schaffen es, indem wir mglichst vielgleichzeitig betreiben. Vergleichzeitigung als die Mglichkeit, derBegrenztheit unseres Lebens durch die Zeit zu entfliehen!

    Zeitgewinn durch Vergleichzeitigung

    Was ist der Grund fr diese Sucht? Vermutlich das, was denMenschen seit jeher zu seinem technischen Tun antreibt. Er siehtsein Leben eingegrenzt in Raum und Zeit und kann somit injedem Augenblick nur an einer Stelle sein. Diese Begrenzungversucht er aufzuheben, indem er die Zeitabschnitte seiner rum-lichen Gebundenheit krzt. Einem modernen Geschftsmannkommt es kaum noch in den Sinn, fr seine Termine nicht dasFlugzeug zu benutzen, kann er sich doch so z.B. innerhalb Euro-pas in 2 Stunden praktisch berallhin verfgen. Alles, was uns