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Gary Blackwood Der Shakespeare-Dieb

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Gary Blackwood hat bereitsmehrere Jugendbücher veröf-fentlicht. Außerdem schreibter Theaterstücke und stehtals Schauspieler selbst aufder Bühne. Gary Blackwoodlebt mit seiner Familie auf ei-ner Farm in der Nähe vonCarthage in Missouri.

Bettina Münch, geboren 1962, arbeitete nach demStudium als Kinderbuchlektorin. Heute ist siefreie Autorin und Übersetzerin und lebt mit Mannund Tochter bei Frankfurt am Main.

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Gary Blackwood

Der Shakespeare-Dieb

Aus dem amerikanischen Englischvon Bettina Münch

Mit einem Nachwort von Frank Günther

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Neuausgabe 20143. Auflage 2017

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München© 1998 Gary Blackwood

Published by arrangement with Dutton Children’s Books,a division of Penguin Putnam Inc.

Titel der amerikanischen Originalausgabe:›The Shakespeare Stealer‹, 1998 erschienen bei

Dutton Children’s Books, New York© für die deutschsprachige Ausgabe und das Nachwort:

2000 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, MünchenUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild und -gestaltung: Felicitas HorstschäferGesetzt aus der Cheltenham 11/13.

Gesamtherstellung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · ISBN 978-3-423-71595-9

Ausführliche Informationen überunsere Autoren und Bücher

www.dtv.de

Die Wiedergabe der Shakespeare-Zeilenaus ›Hamlet‹ folgt der Übersetzung

von Frank Günther (Abdruck mit freundlicherGenehmigung der Hartmann & Stauffacher GmbH,

Verlag für Bühne, Film, Funk und Fernsehen).

Zu diesem Band gibt es ein Unterrichtsmodell unterwww.dtv.de/lehrer zum kostenlosen Download.

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Für Tegan,meine einzige Gemeinschaftsproduktion –

und ein Meisterwerk

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1.M utter und Vater habe ich nie kennen ge-

lernt. Sofern ich mich auf das verlassenkann, was ich gehört habe, starb meine Mut-ter im gleichen Jahr, in dem ich geborenwurde, im Jahre des Herrn 1587, dem neun-undzwanzigsten von Königin Elisabeths Re-gentschaft.

Den Namen, den ich meine ganze Kindheithindurch mit mir herumschleppte, hatte mirMistress MacGregor vom Waisenhaus mehroder weniger zufällig verpasst. IrgendeinNachbar übergab mich ihrer Obhut, und alssie sah, wie klein und zerbrechlich ich war,rief sie aus: »Ach, was für ein armes Hotte-mäxchen!« Von diesem unglücklichen Ausrufstammt der Name Hotte, der jahrelang wiePech an mir klebte. Es hätte natürlich schlim-mer kommen können. Sie hätten mich auchKlepper rufen können.

Ich habe mir angewöhnt mich so wenig wiemöglich an mein Leben im Waisenhaus zu er-innern. Das Waisenhaus war kurz gesagt eineAnstalt und in Anstalten gilt das Gebot derZweckmäßigkeit. Mistress MacGregor warkeine böse Frau, jedoch überlastet. Manch-mal verlor sie die Beherrschung und prü-

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gelte einen von uns, aber im Großen undGanzen wurden wir eher vernachlässigt alsmisshandelt.

Das Geld, das die Gemeinde für uns gab,reichte nicht, um auch nur ein einziges Kindordentlich zu kleiden und zu verpflegen, ganzzu schweigen von sechs oder sieben. Alsowaren wir mehr oder weniger von den mil-den Gaben anderer abhängig. Wollte jemandNächstenliebe zeigen, waren unsere Bäucheleidlich gefüllt. Ansonsten lebten wir vonGerstenbrei und wildem Gemüse. Wenn dieZeiten für andere hart waren, dann waren siefür uns doppelt hart.

Es war der Traum eines jeden Kindes in-nerhalb dieser tristen Mauern, dass eines Ta-ges eine echte Familie kommen und es zusich holen würde. Im besten Fall wären dasdie richtigen Eltern – die natürlich Adeligewaren –, aber jedes andere Elternpaar würdees auch tun. Das glaubten wir zumindest.

Als ich sieben Jahre alt war, kam mein Le-ben an einen entscheidenden Wendepunkt –manche meinen ja, dass dies im Leben einesMenschen alle sieben Jahre geschehe. UnserWaisenjungentraum wurde für mich plötzlichWirklichkeit.

Der Prediger des nahe gelegenen WeilersBerwick kam auf der Suche nach einem Lehr-jungen vorbei und entschied sich, dank Mis-tress MacGregors Lobpreisungen, für mich.

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Der Mann hieß Dr. Timothy Bright. Trotz sei-ner Tätigkeit als Geistlicher war sein Titelkein religiöser, sondern ein medizinischer. Erhatte in Cambridge Heilkunde studiert und inLondon praktiziert, ehe er in den Nordennach Yorkshire zog.

Natürlich war ich dankbar und bemüht esihm recht zu machen. Ich tat, was immer vonmir verlangt wurde, und zunächst schien es,als hätte ich wirklich großes Glück gehabt.Dr. Bright und seine Frau waren nicht liebe-voll zu mir – nein, das waren sie nicht einmalzu ihren eigenen Kindern. Aber sie gaben mireinen bequemen Platz zum Schlafen am an-deren Ende der Apotheke, dem Raum, in demder Doktor seine Arzneien und Tränke zube-reitete.

Irgendein Mittelchen simmerte immer in ei-nem Kessel über dem Feuer und es gehörtezu meinen Pflichten, mich um beides zu küm-mern. Das beständig lodernde Feuer hielt denRaum einigermaßen warm. Die Mahlzeitennahm ich in der Küche ein. Obwohl die Situa-tion wohl kaum unseren heimlichen Waisen-jungenträumen entsprach, war sie mehr oderweniger das, was ich erwartet hatte – mit ei-ner Ausnahme. Ich sollte Lesen und Schrei-ben lernen, nicht nur in englischer Schrift,sondern auch in lateinischer, und darüber hi-naus auch noch eine merkwürdige verkürzteSchriftweise, die Dr. Bright selbst erfunden

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hatte. Chiffrologie nannte er sie. Es war, ummit seinen Worten zu sprechen, »eine Kunstdes kurzen, raschen und geheimen Schrei-bens, durch welche man das gesprocheneWort ebenso schnell niederzuschreiben ver-mag, wie es sich von der Zunge löst«.

Wie ich bald erkannte, lag es weniger inseiner Absicht, mir eine Ausbildung zukom-men zu lassen, als mich darauf vorzuberei-ten, sein Gehilfe zu werden. Ich sollte seinewissenschaftlichen Aufzeichnungen für ihnführen und seine wöchentlichen Predigtenniederschreiben.

Ich war immer ein gelehriger Schüler gewe-sen, aber nie war ich schnell genug, um demDoktor zu genügen. Er war der Auffassung,dass seine Kurzschriftmethode im Laufe we-niger Monate erlernt werden könne, und erbeabsichtigte dies durch mich zu beweisen.

Ich war eine bittere Enttäuschung für ihn.Es war eine seltsame Methode und ichbrauchte ein volles Jahr, um darin einigerma-ßen geschickt zu werden, und ein weiteresJahr, ehe ich Wort für Wort niederschreibenkonnte, ohne ihn zu bitten doch langsamerzu sprechen. Dies verdross ihn, denn einmalin Gang gesetzt, kam sein profundes Mund-werk nur ungern wieder zum Stillstand. Fürseine Begriffe lag der Fehler natürlich nichtin seiner Methode, sondern bei mir, da ich sobegriffsstutzig war.

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Ich habe ihn nie selbst etwas in seinerKurzschrift schreiben sehen und bin geneigtzu glauben, dass er sie nie gemeistert hat. Alsich sicherer wurde, begann ich der Methodemeine eigenen kleinen Verbesserungen hin-zuzufügen – ohne das Wissen des Doktors na-türlich. Er war ein eitler Mann. Weil er einmalein Buch geschrieben hatte, eine trockeneAbhandlung über die Melancholie, meinte er,die Welt müsse ihm für alle Zeiten besondereVorrechte einräumen. Soweit ich weiß, hat erdanach nie wieder ein größeres Werk ver-fasst. Nicht einmal seine wöchentlichen Pre-digten schrieb er alle selbst, wie ich baldherausfinden sollte.

Als ich zwölf war und mit einem Pferdebenso gut umgehen konnte wie mit einemBleistift, schickte mich der Doktor an jedemSonntag in die umliegenden Gemeinden, umdie Predigten der anderen Geistlichen nie-derzuschreiben. Er wolle ein Buch mit denbesten von ihnen zusammenstellen, wie ersagte. Ich glaubte ihm, bis zu jenem Sonntag,an dem ich mich, weil das Wetter mich zwangzu Hause zu bleiben, in Dr. Brights Gottes-dienst setzte und die gleiche Predigt ver-nahm, die ich zwei Wochen zuvor in Dews-bury niedergeschrieben hatte.

Zu erfahren, dass ich etwas Unrechtes ge-tan hatte, verursachte mir keine Gewissens-bisse. Im Waisenhaus hatten wir wenig Unter-

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weisung in Recht und Unrecht erhalten. So-weit ich das erkennen konnte, war Rechtetwas, das einem Vorteile brachte, und alles,was einem schadete, war Unrecht.

Meine Hauptsorge war, dass ich erwischtwerden könnte. Ich hatte noch nie um beson-dere Rücksichtnahme gebeten, aber nun batich Dr. Bright so demütig, wie ich nur konnte,von der Aufgabe entbunden zu werden. Erzwinkerte mich an wie eine Eule, als könne erseinen Ohren nicht trauen. Dann kratzte erseine lange, rot geäderte Nase und sagte: »Dubist mein Bursche und du tust, was ich dirsage.«

Er sagte das wie eine unumstößliche Tatsa-che. Und das entmutigte mich mehr, als jedeDrohung oder Unmutsäußerung es vermochthätte. Und er hatte Recht. Nach dem Gesetzwar ich sein Eigentum. Ich hatte zu gehor-chen oder wurde ins Waisenhaus zurückge-schickt. Wie Mistress Bright mir so gerne inErinnerung rief: Lehrjungen waren leicht zufinden und leicht zu ersetzen. In Wahrheithatte Dr. Bright allerdings viel zu viel Müheauf mich verwandt, um mich so leichthin zuentlassen. Aber er hätte gewiss nicht gezö-gert mich zu schlagen, und das auf übleWeise.

Es gibt eine bekannte Redensart, die be-sagt, England sei für Frauen ein Paradies, fürDiener ein Gefängnis und für Pferde die

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Hölle. Lehrjungen sind darin nicht einmal derErwähnung wert.

Schließlich wurde unser Predigtdiebstahlentdeckt. Der listige alte Geistliche vonLeeds bemerkte mein fieberhaftes Gekritzelund ein kleiner Skandal entbrannte. ObwohlDr. Bright nur einen milden kirchlichen Ver-weis erhielt, tat er, als sei sein Ruf ruiniert.Wie üblich wurde die ganze Schuld auf mei-nen schmalen Schultern abgeladen. Mit mei-nem Leben, das ohnehin nie sehr erquicklichgewesen war, ging es beständig bergab.

So, wie ich es in meiner Zeit im Waisen-haus oft getan hatte, begann ich mir auchnun wieder einen Retter herbeizuwünschen –jemanden, der kommen, meine herausragen-den Fähigkeiten sofort erkennen und michfortbringen würde.

In ganz verzweifelten Momenten erwog ichsogar auf eigene Faust davonzulaufen. Wäh-rend ich lernte, solche Werke wie HolinshedsChroniken und Raleghs Entdeckung vonGuyana zu lesen und in Kurzschrift zu über-tragen, entdeckte ich, dass sich jenseits vonYorkshire, von England eine ganze Welt auf-tat, und ich sehnte mich danach, sie mit eige-nen Augen zu sehen.

Bis jetzt war mein Leben freudlos und be-schränkt gewesen und es gab kein Anzeichenfür eine Veränderung. In einem neuen Landwie Guyana, so stellte ich mir vor, oder in ei-

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ner Stadt von der Größe Londons würde esfür einen Burschen mit ein bisschen Gripsund Geschick schon Möglichkeiten geben, et-was aus sich zu machen – mehr jedenfalls alsWaisenknabe und Arbeitssklave. Und dochhatte ich nicht ernsthaft die Hoffnung, je et-was zu Gesicht zu bekommen, was jenseitsder Grenzen von Berwick lag. Im Grunde ge-nommen ängstigte mich der Gedanke ansWeggehen eher.

Ich war schlecht gerüstet, um mich alleinin die Ferne zu begeben. Zwar konnte ich le-sen und schreiben, doch ich besaß keine dernotwendigen Fähigkeiten, um in der unbe-kannten und vielleicht feindseligen Welt jen-seits der Felder und Hügel unseres kleinenWeilers zu überleben. Und so wartete ichund arbeitete und hoffte.

Hätte ich auch nur eine Ahnung gehabt,was mich tatsächlich erwartete, dann hätteich mir eine Veränderung meiner Lage wohlnicht so sehnlich herbeigewünscht.

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2.Als ich vierzehn war, brach der entschei-

dende Wendepunkt ein zweites Mal übermich herein und mein Schicksal nahm einenVerlauf, der mich veranlasste, mich nach derSicherheit und Geborgenheit des Bright-schen Hauses zurückzusehnen.

Im März stattete ein Fremder der Pfarrei ei-nen Besuch ab, aber es war kein Edelmann,der gekommen war, um mich als seinen Er-ben einzufordern. In der Tat war er über-haupt kein Edelmann.

Der Doktor und ich befanden uns in derApotheke, als die Wirtschafterin den Frem-den hereinführte. Obwohl es bereits dunkelwurde, hatten wir die Binsenlichter nochnicht angezündet. Damit wartete der geizigeDoktor immer so lange wie möglich. DieFlammen unter dem Kessel warfen groteskeflackernde Schatten auf die Wände.

Der Fremde stand schweigend und bewe-gungslos in der Tür. Man hätte ihn für einender Schatten halten können oder für eineGeistererscheinung – den Tod oder den Teu-fel –, die gekommen war, um einen von uns zuholen. Er war überdurchschnittlich groß undein langer, dunkler Umhang aus rauem Tuch

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verbarg seine übrige Kleidung, bis auf die Le-derstiefel mit den hohen Absätzen. Er hattedie Kapuze weit nach vorn gezogen, so dasssie sein Gesicht verdunkelte. Das Einzige,was ich ausmachen konnte, war ein eigenwil-liger schwarzer Bart, der sich bis über seinenKragen kräuselte. Eine Ausbuchtung auf derlinken Seite seines Umhangs deutete auf ei-nen verborgenen Gegenstand hin – ein Ra-pier, vermutete ich.

Wir alle standen einen langen Momentschweigend da, die Stille nur unterbrochenvom Brodeln der köchelnden Tinktur überdem Feuer. Dr. Bright blinzelte wie im Wach-werden und holte mit einer Zange das Tonge-fäß aus den Flammen. Dann wandte er sichder Kapuzengestalt zu und sagte mit gespiel-ter Beherztheit: »Nun denn. Was kann ich fürEuch tun, Sir?«

Der Fremde trat vor und griff unter seinenUmhang – nach dem Rapier, wie ich fürch-tete. Stattdessen zog er ein kleines, in rotesLeder gebundenes Buch hervor. SeineStimme klang tief und hohl, wie es sich füreine Geistererscheinung geziemte. »Dies hierist Euer Werk, nicht wahr?«

Zögernd ging der Doktor näher und warfeinen Blick auf das Buch. »Aber ja. Ja, so istes.« Nun erkannte ich es ebenfalls. Es ge-hörte zu einer kleinen Anzahl von Büchlein,die Dr. Bright im letzten Jahr unter dem an-

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sehnlichen Titel Chiffrologie: Die Kunst desKurzen, Raschen und Geheimen Schreibenshatte drucken lassen.

»Funktioniert sie?«»Wie bitte?«»Die Methode«, sagte der Mann irritiert.

»Funktioniert sie?«»Natürlich funktioniert sie«, erwiderte Dr.

Bright entrüstet. »Mit meiner Methode ver-mag man ohne Mühe das geschriebene odergesprochene Wort . . .«

»Wie lange dauert es?«, unterbrach ihn derMann.

Dr. Bright blinzelte wieder. »Nun, wie ichgerade im Begriff war zu sagen, vermag manGesprochenes damit ebenso schnell nieder-zuschreiben, wie es gesprochen wird.«

Der Mann machte eine ungeduldige Geste,als wollte er die Worte des Doktors beiseitewischen. »Wie lange braucht man, um sie zulernen?«

Der Doktor warf mir einen Blick zu undräusperte sich. »Nun, das hängt vom Ge-schick des . . .«

»Wie lange?«Der Doktor zuckte mit den Achseln. »Zwei

Monate vielleicht. Vielleicht länger.« Viel-leicht auch viel länger, dachte ich.

Der Fremde warf das Buch auf den Tisch,auf dem das Handwerkszeug des Doktors lag.Ein Glasgefäß fiel zu Boden und zerbrach.

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»Nun hört aber, Sir . . .«, begann Dr. Bright.Aber der Mann drehte sich um und sein lan-ger Umhang wirbelte so heftig herum, dassdie Flammen aufflackerten und rußten. EinenMoment lang stand er mit abgewandtem Ge-sicht da, als sei er tief in Gedanken verloren.Ich beeilte mich den zerbrochenen Becherwegzuräumen, ausnahmsweise damit zufrie-den, ein unbedeutender Lehrjunge und ander ganzen Sache unbeteiligt zu sein.

Der schwarzbärtige Fremde drehte sichuns wieder zu; sein Gesicht lag aber noch im-mer im Schatten und war unergründlich.»Wie vielen habt Ihr Eure Methode schon bei-gebracht?«

»Lasst mich nachdenken . . . Da ist meinBursche hier, Hotte, und dann . . .«

»Wie vielen?«»Nun, in der Tat . . . einem.«Die Kapuzengestalt wandte sich mir zu.

»Wie gut hat er sie erlernt?«Wieder nahm Dr. Bright seine falsche Be-

herztheit an. »Oh, perfekt«, sagte er zu mei-ner Überraschung. Er hätte mir gegenübernie zugegeben, dass ich auch nur halbwegsangemessen schrieb.

»Beweist es mir«, sagte der Mann, ob zumir oder dem Doktor, wusste ich nicht zu sa-gen. Ich stand da mit den Glasscherben inder Hand.

»Bist du denn taub?«, verlangte der Doktor,

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»dieser Gentleman wünscht eine Probe dei-ner Fähigkeiten zu sehen.«

Ich ordnete die Scherben zu einem Häuf-lein auf dem Tisch und nahm mein kleinesSchreibheft und den Bleistift zur Hand. »Wassoll ich schreiben?«

»Folgendes«, sagte der Fremde. »Hiermitübertrage ich dem Inhaber dieses Doku-ments die Dienste meines früheren Lehrjun-gen . . .« Der Mann hielt inne.

»Nur weiter«, sagte ich, »ich bin Euch ge-folgt.« Ich war so darauf konzentriert, sauberund schnell mitzuschreiben, dass ich dem In-halt seiner Worte keine Beachtung geschenkthatte.

»Deinen Namen«, sagte der Mann.»Äh, was?«»Wie ist dein Name?«»Er heißt Hotte«, antwortete der Doktor für

mich und lachte nervös, als ginge ihm plötz-lich auf, wie merkwürdig der Name war, mitdem er mich seit sieben Jahren anredete.

Der Fremde teilte seine Belustigung nicht.». . . meines früheren Lehrjungen, Hotte, ge-gen Annahme einer Summe von zehn PfundSterling.« Wieder hielt er inne und ich hobden Kopf. Aus irgendeinem Grund stand Dr.Bright der Mund offen, als hätte ihn derSchlag getroffen.

»Is das alles?«, fragte ich.Der Mann streckte eine unerwartet ge-

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pflegte Hand aus. »Lass sehen.« Ich reichteihm das Schreibheft. Er hielt es ins Licht.»Und du hast wirklich jedes Wort niederge-schrieben?« Ich konnte sein Gesicht nicht se-hen, aber ich bildete mir ein in seiner Stimmeein klein wenig Überraschung zu hören.

»Freilich.«Er warf mir das Heft wieder zu. »Lies vor.«Einem ungeübten Auge mussten die Kritze-

leien völlig rätselhaft und unleserlich er-scheinen:

Und doch las ich sie ihm ohne Zögern vorund diesmal traf mich die Bedeutung derWorte wie ein Blitz. »Meint Ihr . . . heißtdas . . .?« Fragend sah ich Dr. Bright an, docher wich meinem Blick aus.

»Und jetzt schreibe es in normaler Schrift«,verlangte der Fremde.

»Aber ich . . .«»Mach schon!«, keifte der Doktor. »Tu, was

er sagt.«Widerspruch war zwecklos. Welche jäm-

merlichen Einwände meinerseits vermoch-ten schon das Gewicht von zehn Pfund Ster-