104
LIBER BETH (DE TIPH’ERETH) BEAUTY (the next incarnation) ייייPART ONE: ISIS (BEAUTY AND THE BEAST) Nur wenn es den Bereich seiner Neigungen und Ausfälle ausdehnt und wenn es alles der Wollust aufopfert, kann jenes unglückliche Individuum, das unter dem Namen Mensch bekannt ist und das wider seinen Willen in dieses traurige Universum geworfen wurde, einige Rosen über die Dornen des Lebens säen. (Marquis Donatien Alphonse François de Sade, „Die Philosophie im Boudoir“) / | \ Prelude : In Principio In principio creavit Deus caelum et terram. Nun lernen Sie mich also kennen. Ich möchte, daß Sie wissen, wer ich bin, wie ich denke und fühle; ich möchte, daß Sie mich verstehen. Glauben Sie nicht, Sie seien mir gegenüber damit im Vorteil. Was ich Ihnen über mich erzähle, weiß ich von Ihnen genauso; ich schreibe dies nicht an ein anonymes Publikum, sondern an Sie. Ich kenne Sie. Lernen Sie mich also kennen. Mein Name ist Losse. Betonung bitte auf dem „e“. Für den Fall, daß Ihnen dieser Name unbekannt ist, sollten Sie noch wissen: Ich bin ein Mädchen. – Zu dem Zeitpunkt, an dem meine Erzählung beginnt, liegt mein vierzehnter Geburtstag genau einen Monat und neunzehn Tage in der Vergangenheit. Ich bin ungefähr einen Meter und siebzig Zentimeter groß, habe wäßrig-blaue Augen und “We are come unto a palace of which every stone is a separate jewel, and is set with millions of moons. “And this palace is nothing but the body of a woman, proud and delicate, and beyond imagination fair. She is like a child of twelve years old. She has very deep eyelids, and long lashes. Her eyes are closed, or nearly closed. It is impossible to say anything about her. She is naked; her whole body is covered with fine gold hairs, that are the electric flames which are the spears of mighty and terrible Angels whose breastplates are the scales of her skin. And the hair of her head, that flows down to her feet, is the very light of God himself. Of all the glories beheld by the Seer in the Aethyrs, there is not one which is 1

BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

LIBER BETH (DE TIPH’ERETH)

BEAUTY(the next incarnation)

ירני

PART ONE: ISIS(BEAUTY AND THE BEAST)

„Nur wenn es den Bereich seiner Neigungen und Ausfälle ausdehnt und wenn es alles der Wollust aufopfert, kann jenes unglückliche Individuum, das unter dem Namen Mensch bekannt ist und das wider seinen Willen in dieses traurige Universum geworfen wurde, einige Rosen über die Dornen des Lebens säen.“

(Marquis Donatien Alphonse François de Sade, „Die Philosophie im Boudoir“)

/ | \

Prelude: In Principio

In principio creavit Deus caelum et terram.

Nun lernen Sie mich also kennen. Ich möchte, daß Sie wissen, wer ich bin, wie ich denke und fühle; ich möchte, daß Sie mich verstehen.Glauben Sie nicht, Sie seien mir gegenüber damit im Vorteil. Was ich Ihnen über mich erzähle, weiß ich von Ihnen genauso; ich schreibe dies nicht an ein anonymes Publikum, sondern an Sie. Ich kenne Sie. Lernen Sie mich also kennen.Mein Name ist Losse. Betonung bitte auf dem „e“. Für den Fall, daß Ihnen dieser Name unbekannt ist, sollten Sie noch wissen: Ich bin ein Mädchen. – Zu dem Zeitpunkt, an dem meine Erzählung beginnt, liegt mein vierzehnter Geburtstag genau einen Monat und neunzehn Tage in der Vergangenheit. Ich bin ungefähr einen Meter und siebzig Zentimeter groß, habe wäßrig-blaue Augen und trockenes, hellblondes Haar. Manche sagen, es sei weiß.Laut meinem Arzt bin ich Teilalbino und magersüchtig. Das heißt, ich bin schrecklich dünn und leichenblaß, nur wenn ich mich aufrege oder zu schnell bewege, bekomme ich häßliche rote Flecken auf der Haut. Sonne vertrage ich kaum.Machen Sie sich keine Illusionen: Ich bin häßlich. Würde ich einen Roman schreiben, wäre ich wunderschön, aber so bin ich, was ich bin. Ich esse gerne, nicht, weil ich Hunger habe, sondern weil es mir schmeckt. Hunger ist kein Problem für mich; er ist nur eine interessante Form des Schmerzes. Trotzdem nehme ich nicht zu. Mein Bruder hat einmal gesagt, ich sei vielleicht schizophren, weil ich früher immer abnehmen wollte und jetzt nicht mehr zunehmen kann. OC sagt, er weiß nicht einmal, was „schizophren“ bedeutet. Aber die beiden streiten sich ohnehin immer.

“We are come unto a palace of which every stone is a separate jewel, and is set with millions of moons.

“And this palace is nothing but the body of a woman, proud and delicate, and beyond imagination fair. She is like a child of twelve years old. She has very deep eyelids, and long lashes. Her eyes are closed, or nearly closed. It is impossible to say anything about her. She is naked; her whole body is covered with fine gold hairs, that are the electric flames which are the spears of mighty and terrible Angels whose breastplates are the scales of her skin. And the hair of her head, that flows down to her feet, is the very light of God himself. Of all the glories beheld by the Seer in the Aethyrs, there is not one which is worthy to be compared with her littlest finger-nail. For although he may not partake of the Aethyr, without the ceremonial preparations, even the beholding of this Aethyr from afar is like the partaking of all the former Aethyrs.

“The Seer is lost in wonder, which is Peace.

“And the ring of the horizon above her is a company of glorious Archangels with joined hands, that stand and sing: This is the daughter of BABALON the Beautiful, that she hath borne unto the Father of All. And unto all hath she borne her.

“This is the Daughter of the King. This is the Virgin of Eternity. This is she that the Holy One hath wrested from the Giant Time, and the prize of them that have overcome Space. This is she that is set upon the Throne of Understanding. Holy, Holy, Holy is her name, not to

1

Roland Mückstein, 03.01.-1,
Fortuna Imperatrix Mundi
Page 2: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Wie gesagt, mein ganzer Körper ist sicher keine Zierde. An meinen Ellenbogen spannt sich die blasse Haut über die Knochen wie an den Flügeln eines ausgelassenen Hühnchens; überall schimmern die Knochen durch; mein Haaransatz ist lächerlich weit oben auf der Stirn, so daß manche sagen, ich bekäme schon eine Glatze, weiße Haare hätte ich ja schon; meine Nase beschreibt auf halber Höhe einen hexenartigen Knick nach unten zu; ich habe so gut wie keine Brüste, obwohl ich seit beinahe einem halben Jahr die Regel habe; an meinen Beinen und Händen sprießen kleine, weiße, drahtige Härchen, die mich aussehen lassen wie ein gerupftes Huhn; und die Hälfte meiner rechten Augenbraue ist von einer Narbe versiegelt, die ich mir mit neun Jahren bei einem Fahrradunfall zugezogen habe.Verehrter Leser, Sie werden wahrlich nicht in Gefahr laufen, sich in mich zu verlieben. Wenn ich Ihnen am Ende meiner Erzählung auch nur ein minimales Verständnis für mein Wesen abgerungen habe, so werde ich schon zufrieden sein; zumindest aber werde ich vor Ihrer Sympathie sicher sein. Bemitleiden Sie mich nicht; meine eigenen Tränen und die meiner Lieben sind mir genug.Ich wage Ihnen all das zu sagen, lieber Leser, weil ich mich vor Ihnen sicher fühle: Ich kenne Sie. Und Sie sind mindestens genauso häßlich wie ich.

be spoken among men. For Kore they have called her, and Malkah, and Betulah, and Persephone.

“And the poets have feigned songs about her, and the prophets have spoken vain things, and the young men have dreamed vain dreams: but this is she, that immaculate, the name of whose name may not be spoken. Thought cannot pierce the glory that defendeth her, for thought is smitten dead before her presence. Memory is blank, and in the most ancient books of Magick are neither words to conjure her, nor adorations to praise her. Will bends like a reed in the tempests that sweep the borders of her kingdom, and imagination cannot figure so much as one petal of the lilies whereon she standeth in the lake of crystal, in the sea of glass.

“This is she that hath bedecked her hair with seven stars, the seven breaths of God that move and thrill its excellence. And she hath tired her hair with seven combs, whereupon are written the seven secret names of God that are not known even of the Angels, or of the Archangels, or of the Leader of the armies of the Lord.

“Holy, Holy, Holy art thou, and blessed be thy name for ever, unto whom the Aeons are but the pulsings of thy blood.”(Aleister Crowley, The Book of Thoth)

Bereshith bara elohim eth ha-shamajim we eth ha’ares.

/ | \

First Movement: Dancewherein is told of the primeval state of confusion and of the scienz or drawing therein, which is to set things in motion

ES IST NICHT GESTATTET SICH AUF DEN BODEN ZU LEGEN

Ich bin jetzt vierzehn, und ich tanze.Früher wollte ich fliegen können; heute danke ich der Schwerkraft für den Widerstand, den sie mir entgegensetzt, denn ohne ihn gäbe es keinen Tanz. Genauso wie man, wenn man viel Energie im Körper hat, nicht wirklich gehen kann, solange man keinen Gegenwind hat. – Ich habe oft viel Energie im Körper. Ich sammle Energie, um meinen Körper zu beherrschen. Ich glaube, wirkliches Leben besteht aus einer kontrollierten Entladung von Energie, aber so, daß immer noch etwas zurückbleibt, um einen weiter voranzutreiben. Ich mag es, wenn mir der Wind ins Gesicht bläst und ich mit angespannten Muskeln und glühender Stirn dagegen anrenne. Der Widerstand gibt mir die Kraft, weiterzumachen.

„... dürfe in Europa aber die Kinder nur dem Begriffe nach gelten lassen, nämlich als amerikanisches Zuckerwerk, höchstens gerade neunjährig, danach wie vaterlose Väter sich selber?“(Felix Cunctor, Das Leere Reich)

“It would be well indeed for our churches if some of the clergy could take a lesson in enunciation from this little child; and better still, for „our noble selves,“ if we would lay to heart some things that she could teach us, and would learn by her example to realise, rather more than we do, the spirit of a maxim I once came across in an old book, „Whatsoever thy hand findeth to do, do it with thy might.”(Lewis Carroll, ‘Alice’ on the Stage)

10. August Ich stehe in einer Talmulde, also am Fuße eines Berges, in der Talmitte ein Brunnen, alles eher schemenhaft. Plötzlich kommen von überall Kinder, ich weiß nicht wie, geradezu eine Lawine von Kindern von

2

Roland Mückstein, 03.01.-1,
Primo Vere
Page 3: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

dem Berghang links neben mir. Die Kinder: häßlich, gnomartig, eines mit dem Gesicht von Vanima. Ich kann nicht laufen. Sie überrollen mich, sie rollen tatsächlich, ich bin in einem Becken voll mit Kinderkugeln.

„Wie die meisten Tänzer“, sagte Forcalimo, „gebrauchst du beim Improvisieren hauptsächlich deine Arme und Beine. – Woraus besteht Tanz?“Losse war auf Unterbrechungen vorbereitet. „Aus – sprachlosem Gefühl? Kontrollierter Entladung?“ Sie kicherte. „Freigelassenen Körperteilen?“„Am ehesten letzteres. Zumindest bei dir. Arme und Beine: in dieser Hinsicht bist du schon weit fortgeschritten. Aber das weißt du.“ Er hielt für einen Moment inne und begann dann in affektierter Künstlerpose durch den Proberaum zu stelzen. „Du bewegst die Hände wie eine Flamencotänzerin, die Arme wie -:- eine Ente.“ (Sie krümmte sich innerlich wie unter einem Schlag.) „Deine Beinarbeit wäre zum Fechten geeignet. Alles in allem gar nicht schlecht. Zumindest weitaus besser als noch vor einem Jahr.“„Das hoffe ich doch“, wagte Losse einzuwerfen, doch Forcalimo schnitt ihr mit einer raschen Geste das Wort ab: Er war noch nicht fertig. „Du fuchtelst und stolzierst. Du springst und umklammerst, läßt los und fängst ein.“ – Während er sprach, parodierte der Tanzlehrer die typischen Bewegungsmuster seiner Schülerin; endlich blieb er stehen und blickte scheinbar gedankenverloren aus dem Fenster hinaus. „Losse -:- Wie würdest du tanzen, wenn du keine Arme und Beine hättest – ?“

Meine ersten Ballettstunden hatte ich in einem schäbigen alten Probesaal, blaugrauer Plastikfußboden, abgegriffene Haltestangen an den Wänden, ein Spiegel mit einem riesigen Riß an der Vorderwand. Mein Lehrer – es war reiner Gruppenunterricht – war ein sogenannter Künstler, dem jedoch schon längst alle Illusionen über einen höheren Sinn in seiner Tätigkeit verloren gegangen waren; beinahe hätte er meine Lust am Tanzen im Keim erstickt. – Nach drei Semestern beklagte ich mich bei meiner Mutter, und sie engagierte einen Privatlehrer für mich, der jedoch nur wenige Wochen später verhaftet wurde; wieso, weiß ich bis heute nicht. Dann starb meine Mutter, und für einige Monate wollte ich nicht mehr tanzen – bis mein Vater zufällig auf Forcalimo stieß und mich in seinen Unterricht schickte.Forcalimo W. Hagen ist 35 Jahre alt und ein ausgezeichneter Tänzer und Schauspieler. Ich habe alles, was ich über den Tanz weiß, von ihm gelernt, und noch einiges mehr; manchmal ist er für mich direkt wie ein zweiter Vater.Es ist schwierig, ihn zu beschreiben; er sieht eigentlich gar nicht so außergewöhnlich aus, außer vielleicht, daß er eine beginnende Glatze hat, die ihn irgendwie eckig aussehen läßt – aber dieser Eindruck verschwindet, sobald er sich bewegt. Ich habe mir schon oft gedacht, daß ich nie seine elegante Selbstverständlichkeit beim Tanzen erreichen werde; aber immer, wenn mir solche Zweifel kommen, versichert er mir, daß ich irgend-wann einmal viel besser sein werde als er „alter Mann“.Ich weiß nicht, irgendwie gibt er mir immer wieder das Gefühl, daß ich etwas Besonderes bin; mit ihm kann ich über so ziemlich alles reden, und er weiß zu jedem noch so komplizierten Problem eine Lösung. Wirklich, er ist so klug, daß es einem schon fast unheimlich werden könnte; aber dazu ist er wieder viel zu nett.

“O corpo de Nijinski, enquanto movimento, foi tornado estático pela fotografia, vindo a reencontrar sua dança no espaço específico do desenho: o movimento das linhas, das sombras, da luz, dos planos. Dançar e desenhar interagem. Nos desenhos, o movimento de Nijinski é o movimento do desenho. Mesmo porque o movimento de Nijinski não se realizava em ausência de música, e nos desenhos há como que uma abstração do som, transfigurado nos próprios elementos do desenho. Assim, as diluições, interações, superposições de cenários, figurinos, sombras e luzes recuperam, enquanto desenho, o espaço da dança de Nijinski. Os desenhos desmentem as fotografias. Ao se conformarem em livro, os dez desenhos denunciam uma unidade não apenas externa, mas fundamentalmente interna: as dez imagens, multifacetando-se em imagens inumeráveis, esboçariam, em conjunção prismática, uma imagem do Desenho.”(Júlio Castañon Guimarães, “Nijinski: imagens”)

„Ich will schreiben schreiben. Ich will sagen sagen. Ich will sagen sagen, ich will schreiben schreiben. Warum soll man nicht in Reimen sprechen, wenn man in Reimen sprechen kann. Ich bin Reim Reim Rifma Rif. Ich will Rifma Rif Narif. Du bist Rif, ich bin Narif. Wir sind Rif du Rif wir Rif. Du bist Gott und ich bin er. Wir sind wir und ihr seid sie. Ich will sagen sagen, daß du schlafen willst und schlafen. Ich will schreiben und will schlafen. Du willst schlafen nicht und schreiben. Ich will schreiben schreiben schreiben. Du du schreibst und schreibst und schreibst.“(Waslaw Nijinski)

„So“, sagte Forcalimo und zog den letzten Knoten an Losses Beinfesseln an. „Ich nehme an, du bist in deiner gewohnten Beweglichkeit jetzt ziemlich eingeschränkt.“„Äh“, sagte Losse, der die ganze Situation noch immer ein wenig unangenehm war. „Äh, schon. – Und wie soll ich jetzt tanzen?“

3

Page 4: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

„Tja“, sagte Forcalimo, „das ist der Trick.“ Für einen Moment stand er nur still da, in der Mitte des Raumes, und betrachtete sie, dann stellte er sich in der gleichen Körperhaltung ihr gegenüber. „Du kannst deine Beine nicht unabhängig voneinander bewegen; die traditionelle Beinarbeit ist also nutzlos. Du bist sozusagen auf die Unterpartie einer Meerjungfrau reduziert.“ Er hüpfte ein bißchen mit geschlossenen Beinen herum. „Peinlich, was? – Und deine Arme sind fix hinter deinem Rücken. Die denkbar unpraktischste Situation, falls dich jemand angreifen sollte: Du kannst dich weder wehren noch weglaufen. – Glücklicherweise ist das ja nur eine Übung.“„Nur eine Übung“, wiederholte sie, um es sich zu merken.Forcalimo ging zu seiner Tasche und kramte einige Zeit darin; dann zog er einen laminierten Druck von da Vincis „De Divina Proporzione“ heraus: „In seinem Urzustand, als Embryo, ist der Mensch einer Spirale am ähnlichsten, wie ein eingerolltes Farnblatt oder meinetwegen die Milchstraße. – Voll entwickelt, wie ihn da Vinci hier darstellt, ist er geometrisch am besten als ein Fünfstern zu beschreiben, wenn auch der Kopf in dieser Proportion ein wenig rudimentär erscheint. Aber darum geht’s ja eigentlich beim Tanzen: Weniger Kopf, mehr Körper.“ Mit einem Filzstift skizzierte er Spirale und Fünfeck auf den Kunststoff; wie ein Professor an der Universität, amüsierte sich Losse im Stillen, doch ihre ungewohnte Haltung sperrte jedes Lächeln ein.„Du bist jetzt weder Embryo noch Pentagramm“, fuhr Forcalimo fort und drehte das Blatt herum. „Du bist ein vertikaler Strich. Jede mehr als eindimensionale Ausdehnung kannst du hiermit vergessen.“ Er zeichnete eine Linie und ließ das Blatt dann fallen. „Du hast fünfzehn Minuten Zeit, dir zu überlegen, was man mit einer Linie alles anstellen kann. Wenn ich zurückkomme, zeigst du mir die ersten Permutationen; den Rest erarbeiten wir zusammen.“ Er nahm seine Tasche und ging zur Tür. „Viel Spaß auch.“„Viel Spaß“, wiederholte Losse, um es sich zu merken.

coito ergo sum: Nein, sagte der Doktor, ich müsse aufhören: es könne so nicht weitergehen, meine Knochen seien zu schwach dafür.(Altes Weib, meckerte Vanima, schon schleicht der Verfall heran...)Was brauch ich meine Zehen? Tanzen will ich, als Strich, Spirale, Fünfstern; ein bißchen Schmerz kann nicht schaden. Energie aus Schmerzen, das ist meine Lösung. Seit ich diese Lektion gemerkt habe, fürchte ich mich nicht mehr vor Nadeln, vor Verletzungen, ja sogar Kopfschmerzen nehme ich mit einer gewissen dankbaren Faszination entgegen; wenn man sich darauf einläßt, kann einen der erlebte Schmerz in eine Trance der Anspannung versetzen, in einen Zustand brodelnder, schwarzer Energie, die, wenn sie ihren Höhepunkt erreicht, in ein tobendes, wütendes Flammenmeer zerspringt, unaufhaltsam und wunderbar. ( ... and through my head resounds a high-pitched shriek: / this be a lesson for infidels who / in red howling madness consolation seek ... ) –Doch dann, wenn alle Energie verbraucht ist – und nicht immer gelingt es mir, etwas davon festzuhalten – sehe ich wieder mit Abscheu auf das Vehikel meiner Lust, und was ich vorher noch in geistigem Wahn vergötterte, erscheint mir nun als leere, wertlose Hülle, als krankes Spiegelbild des Wesens, das sein könnte. (I seed they give me sumthing and I was sreched on a allter. / I sore reel men in hoods. There big red things.)Und wieder weiß ich später, was ich werden kann; und wieder fehlt mir alle Disziplin. Mal denke ich, mein Wille ist zu schwach, das andre Mal beschuldige ich meinen Körper, der, krank geboren, niemals eins mit meinen Wünschen werden kann, ja der nun gar den Freuden meines Geistes jede Unterstützung zu verweigern scheint: Der Wunsch allein, unerreichbar, ist eine größere Folter als jedes Höhenfeuer. –(I feel the pain, and I use it. I know that I will succeed in the end, as I turn my eyes away from the inevitable

cogito ergo sum:„Osteoporose, Knochenerkrankung, die durch den Schwund von Knochengewebe gekennzeichnet ist. Durch den Abbau werden die Knochen poröser und brechen leichter als gesunde Knochen. Knochenbrüche (Frakturen) des Handgelenks, der Wirbelsäule und der Hüfte sind häufig die Folge, es kann jedoch auch das ganze Skelett betroffen sein. Weitere Symptome sind Schmerzen, die durch Fehlbelastungen der Muskulatur und der Bänder hervorgerufen werden. [...] Sekundäre Osteoporosen werden vor allem als Begleit-erscheinungen anderer Krankheiten mit Störungen des Stoffwechsels und Hormonhaushaltes hervorgerufen, beispielsweise durch Fehlbelastung von Knochen infolge von Lähmungen oder anderen Einwirkungen, z. B. Schwerelosigkeit im All, durch hormonelle oder ernährungsbedingte Störungen, wie Anorexia nervosa (Magersucht) sowie einige Arzneimittel.Anorexia nervosa, Erkrankung, die durch massive Angst vor Gewichtszunahme oder Fettleibigkeit gekennzeichnet ist. Diese Magersucht äußert sich in Essunlust und übermäßigem Bewegungsdrang, was zu extremem Gewichtsverlust führt. Anorexia nervosa ist nicht die Folge einer bereits bestehenden körperlichen Erkrankung. Sie tritt hauptsächlich in der Pubertät auf, besonders bei jungen Frauen. Fünf bis 18 Prozent der bekannten Fälle führen zum Tod durch Verhungern. Die Erkrankung kann auch Störungen des Menstruationszyklus sowie eine erhöhte Infektions-anfälligkeit nach sich ziehen. Einige Patienten leiden gleichzeitig an Bulimie. Bei dieser Störung nimmt der Patient phasenweise übermäßige Nahrungsmengen zu sich und führt im Anschluss daran selbst Erbrechen herbei, um schlank zu bleiben. Wiederholtes Erbrechen raubt dem Körper Flüssigkeit und Kalium; dieser Mangel kann die Herzfunktion gefährden.Bisher gibt es keine allgemein anerkannte Therapie für Anorexia nervosa. Häufig geht die Krankheit mit Depressionen und geringem Selbstwertgefühl einher,

4

Page 5: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

failure. I am destroying myself, but there is no other way ... and all I can do is dance.)Ein feiner Epikureismus – weinen zu können: kannst du die Bewegung sehen? den springenden Funken des Blutes? Das ist Leben – Leben! –

so dass der Einsatz von Antidepressiva den Zustand bessern kann. Die Wiederherstellung eines normalen Körpergewichts ist ein entscheidender Schritt in der Behandlung dieser Krankheit.”(Encarta 2000)

(post coitum omne animal triste.)

Was für mich wichtig ist: Der Regen, ein leichter Nieselregen, wenn ich einen Hang hinauf gehe oder die Straße hinauf (hinauf! ist wichtig, damit die Muskeln in den Beinen Fleisch schmecken können); die Tropfen sollen mir auf die Stirn fallen oder wo immer ich es spüren kann und verdunsten. Sie kühlen ein bißchen, aber sie verdunsten. Ich will laufen, eine ganz leichte Steigung entlang oder durch eine hohe, naß glänzende Wiese. Beim Laufen ist mir das Gewand immer nur im Weg. – I am continually surrounded by flames. (Isadora Duncan)Was noch wichtig ist: Wenn ich den Daumen an den ausgestreckten Mittelfinger lege, so wie eine geschlossene Lilienblüte, und damit ganz nah und angespannt an die Innenseite des anderen Handgelenks hinkomme, muß es Funken schlagen. Das Kreuz ist dann fast vollkommen gerade, der Schädel ruht nur auf den letzten Halswirbeln, ich brauche meine Halsmuskeln nicht mehr. Die Füße dürfen natürlich nicht zittern. – Die Bewegungen nun, die die Ballettschule unserer Tage lehrt, Bewegungen, die vergeblich gegen die natürlichen Gesetze der Gravitation, gegen den natürlichen Willen des Individuums ankämpfen und im Widerspruch stehen mit den Bewegungen wie mit den Formen, die die Natur schuf, müssen ihrer Natur nach sterile Bewegungen sein, die keine künftigen, neuen Bewegungen aus sich erzeugen, sondern hinsterben, wie sie geworden sind. Der Ausdruck, den die Tanzkunst im modernen Ballett gefunden hat, dessen Aktionen stets anhalten und in sich zu Ende sind, in denen keine Bewegung, keine Pose, kein Rhythmus in kausaler Folge sich bildet, noch zu weiter folgender Aktion entwickelt werden kann, ist ein Ausdruck der Degeneration, des lebendigen Todes. (Isadora Duncan)

Sie zerstach sich die Finger an den Rosendornen; ihre Blutstropfen schimmerten hell auf den Spitzen, und jeder Dorn wurde zu einem neuen Stiel, und auf jedem Stiel entfaltete sich eine neue Blüte in der Farbe ihres Blutes.„Es geht nicht um die Zehen“, sagte Forcalimo. „Nicht durchstrecken! – Du brauchst keinen Spitzentanz; vergiß für den Moment einmal alles, was dir Indil beigebracht hat. Wir leben in Zeiten der Avantgarde – wie immer – will sagen, in einer gewissen Regellosigkeit. Wenn du heute nach Cecchetti trainierst, wirst du vielleicht eine Pawlowa, meinetwegen ein durchdirigierter Nijinski wie Vanima, bekommst mit etwas Glück ein gutes, stabiles Engagement, aber nicht mehr. Du kannst gut werden, vielleicht sogar perfekt, aber keine Künstlerin. Wirklicher, bahnbrechender Erfolg – und das trau ich dir zu, Losse! – wirklicher Erfolg ist eine riskante Sache, ein Experimentieren mit Neuem, Ungewohntem; du mußt aus der Masse hervorstechen. Ballett ist inzwischen international, das heißt, es gibt keine lokalen Größen mehr. Gut ausgebildete Ballerinas gibt es zuhauf. Du mußt eine Persönlichkeit sein, ein Original, einen eigenen Stil darstellen.“ Forcalimo rammte eine Hand in ihren Rücken und schubste sie in eine wackelige Pirouette, nach der sich die gefesselte Losse nur schwer im Gleichgewicht halten konnte. „Vergiß deine Zehen!“, wetterte der Lehrer und drückte sie an der Schulter erdwärts. „Du bist keine Taglioni; du bist viel eher eine Elßler, Kastagnetten und Cachuca, Melusine statt Elfe. – Das ist es: Du bist wieder eine Melusine. Eine Nymphe, eine kindliche Hydriel, keine Sylphe wie Vanima oder die Taglioni. Tanze wie eine Nymphe.“ Mit hastigen Bewegungen löste er ihre Fesseln, schubste sie in die Mitte des Raumes. „Du bist jetzt die Tochter der Diana. Stell dir nicht zu viel vor. Tanze. Ich gebe dir den Rhythmus.“ Und er nahm das Tamburin und klopfte zu seinen Worten: „Hýdriel ómar penádon epýrma / narsóy greól fabelrúsin adíel / pedrúsy norévi melráys urémi / peán larfoý naes chémerotyn. – Weniger Fußarbeit! Bleib auf dem Boden! – Hýdriel ómar penádon epýrma ... – Denk nicht an deine Zehen, nicht an die Grisi, die Taglioni; denk nicht an Indils klassischen Spitzentanz. Denk nicht an Vanima“, fügte er hinzu, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Du bist eine Nymphe. Du bist nicht Vanima. Du mußt nicht versuchen, wie sie zu sein. Dianas Tochter! – und zur Hölle nochmal, vergiß Vanima! –“

- Fair Vanity -Lassen Sie mich von Vanima erzählen.Sie ist das schönste Mädchen der Welt. Und sie kann verdammt gut tanzen. Doch das schlimmste ist: Sie ist in meiner Tanzgruppe. Ich sehe sie beinahe täglich. Ich liebe sie.Sie ist unglaublich gemein. Forcalimo meint, sie könne eine Art weiblicher Nijinski sein, wenn sie nur einen Diaghilev hätte, der sie dirigierte; denn von sich aus, sagt Forcalimo, tanzt sie nicht so gut wie ich, hat sie

“November 8th. There was such a lovely young lady skating to-day, and she skates so beautifully, inside and outside edge and figures of 8. I skated along behind her. When she went to the cloak room there was such a lovely scent. I wonder if she is going to be married soon and whether she knows all about everything. She is so lovely and she pushes back the hair from her forehead so prettily. I wish I were as pretty as she is. But I am dark and she is fair. I wish I could find out her

5

Page 6: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

nur wenig natürliches Gespür; doch sie kann gegebene Figuren so gut umsetzen wie keine andere. (Ich kenne Nijinski nur aus den Bildern von Amador Perez, aber diese Kombination ist wohl die eindrucksvollste seit 1919. Ich werde nie wie er sein – selbst Forcalimo schaut zu ihm hinauf.)Zum ersten Mal habe ich Vanima in der Straßenbahn getroffen, als ich zehn Jahre alt war; das war auf dem Weg zur Tanzstunde. Ich war sofort begeistert von ihr; sie ist ein Jahr älter als ich, und schon damals waren ihre Bewegungen irgendwie unglaublich graziös oder so (melinir graciosa hat sie Forcalimo genannt), und ich habe mich zuerst nicht getraut, sie anzusprechen. Dann habe ich sie immer wieder in der gleichen Straßenbahn getroffen, und irgendwie sind wir dann ins Gespräch gekommen, und ich habe ihr sofort vor-geschlagen, sie soll doch tanzen lernen, das würde so gut zu ihr passen. Dann haben wir uns angefreundet, und sie hat auch bei Forcalimo Unterricht genommen, und sie ist viel besser als ich, und wirklich oft so gemein, aber ich kann ihr nicht immer böse sein: Sie ist einfach so toll, und ohne mich hätte sie wahrscheinlich nie zu tanzen begonnen, und Sie sollten sie beim entrechat sehen: als wäre sie eine Marionette, die jemand im Schreck nach oben reißt, ein plötzlicher Sprung ohne sichtbare Vorbereitung, und dann benimmt sie sich, als hätte sie ewig Zeit da oben. – Selbst wenn sie geht, sieht man es ihr an: Sie ist zur Tänzerin geboren, ihr gelingt alles mit gleichgültiger Einfachheit; ich dagegen will tanzen, so wie sie, besser als sie, doch mein Körper kann nicht ... im Vergleich zu ihrem ist er nur ein unförmiger Klumpen.

name and where she lives. I must go skating again to-morrow; do my lessons in the evening.“November 9th. I'm so upset; she didn't come to skate. I'm afraid she may be ill.“November 10th. She didn't come to-day either. I waited two hours, but it was no good.“November 11th. She came to-day, at last! Oh how pretty she is.“November 12th. She has spoken to me. I was standing near the entrance gate and suddenly I heard some one laughing behind me and I knew directly: That is she! So it was. She came up and said: Shall we skate together? Please, if I may, said I, and we went off together crossing arms. My heart was beating furiously, and I wanted to say something, but couldn't think of anything sensible to say. When we came back to the entrance a gentleman stood there and took off his hat and she bowed, and she said to me: Till next time. I said quickly: When? Tomorrow? Perhaps, she called back. . . . Only perhaps, perhaps, oh I wish it were to-morrow already.

“November 25th. I can't manage to go skating every day. I do love the Gold Fairy, that is my name for her, for I hate her real name.

“December 17th. She's nearly 14, and is awfully pretty.“December 22nd. Father says she is a beauty, and she's dark like me. But I'd rather be fair, fair with brown eyes or better still with violet eyes. Shall I grow up a beauty? Oh I do hope I shall!”(“A Young Girl’s Diary”)

15. August Ein Vulkan. Kinder. Schwangerschaft. Ein Alien (wie in Species?)

Hinter dem dunklen Horizont des Waldes ragten steile Felsen auf, von strahlenden Schneehängen und scharfkantigen Schatten in unzählige Splitter gebrochen; die Flecken eines vorüberziehenden Gewitters wanderten langsam über das niedere Hügelland, bis ein Tropfen nach dem anderen der sich erhebenden Sonne erlag.Um Caerfaban lag noch die Morgentrübe, aus der nur ein einzelner Wachtturm hervorragte; die wenigen Sonnenstrahlen, die durch den Dunst und die Kronen der treibenden Bäume bis zu den taufeuchten Matten des Burggartens vordrangen, konnten die Kühle der Nacht noch nicht spürbar vertreiben. Einige buntgekleidete Kinder trieben dort ihre Spiele, und ihr Gelächter vermischte sich mit dem Krächzen der Raben; doch Glynydd hatte sich sie Ohren mit Wachs verstopft, um nichts hören zu müssen, während sie in stillem Schmerz aus dem obersten Fenster des Turmes gegen die fernen Berge starrte.Im großen Tafelsaal zog Nuadan die Fingernägel durch die speckige Tischplatte, die bleichen Insignien seiner schwindenden Macht um sich gerafft; Glynydds jüngere Schwester Ghleanna saß in sich eingeschlossen am Fuß des Tisches und versuchte vergeblich, einen Blick ihres Vaters einzufangen. Eine hölzerne Klaue drückte ihr ins Kreuz.Verflucht seist du, irrer Sänger aus dem Wald, dessen laubumkränztes Maul schwarze Drachen gebiert: Verflucht seist du und all die Bestien, die dich in namenloser Nacht gezeugt. Du hast mir meinen Sohn genommen, meine Hoffnung: Wird mein Juwel den Kopf des Feindes von den Schultern trennen? oder wird er, betäubt von dessen Schwefelatem, seinen scharfen Zähnen zum Opfer fallen? Oh, das Werk ist groß und ohne Hoffnung. Oh, das Werk ist groß und ohne Ziel.Mit losem Drang trieb Licat seinen Reifen durch die Wiese und benetzte seine leichte Leinenhose mit dem Tau von ihm geknickter Halme; vom Ast des Apfelbaumes aus betrachtete ihn sorgenlos sein Bruder; und von höher auf der Schloßmauer starrte keifend ein hungriger Rabe herunter. Der Sohn des Küchenmeisters klapperte mit kleinen Stöcken; als Licat sich dem dichten Waldrand näherte, schoß neben ihm ein Spieß ins feuchte Gras. „Dort gibt es Birken“, rief der freche Spielgefährte, „und in den Birkendickichten wohnt Ghillie Dhu!“

6

Page 7: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Doch tiefer noch im Wald als Licat sehen konnte, stieg Myrddin, laubbekränzt, durchs Unterholz. In ihm und um ihn tobte Wahnsinn; vor seinem Blick verschmolzen Schicksale und Zeit. Leiloken hatten sie ihn genannt, verflucht hatten sie ihn, den immer neu bestehenden, den Entführer der Söhne und Verlocker der Töchter. Doch er war nicht der Herr des Drachen, obgleich er dessen Ränke kannte. Gwawddur war in böser Absicht zu ihm gekommen; auch der Wissende um das Leben konnte ihn nicht mehr vor seinem Schicksal retten.Blar hatte den Prinzen drei mal sieben Tage lang vorbereitet, hatte seinen Körper in der Hitze der Schmiede -kammer ausgeblutet und in der Kühle des Schloßkellers abgehangen; nun werkte er mit scharfen Klingen in der Küche, bereitete die Pastete für den Herrn: Er war traurig und wütend, aufgebracht gegen ein uneinsichtiges Schicksal, und nun war es an seinem Koch, ihn zu besänftigen.Der Rabe hatte die Feinde ihres Bruders verschlungen, man sah es seinen tiefen Augen an; Glynydd hatte dem eifersüchtigen Koch ein Messer entwendet und ließ das junge Sonnenlicht auf der Schneide tanzen und blitzen. Der Vogel rührte sich nicht, starrte sie schweigend an; als sie das Messer an seinen Hals setzte, spießte er sie mit dem Schrei eines Drachens auf, doch er floh nicht -:- sein Kopf prallte stumpf auf den Steinfliesen auf, sein Blut besprenkelte ihr bleiches Kleid.Sie tafelten mit heißer Gier am schweren Speisetisch, schweigend aufgereiht und mit verschlossenen Gesichtern; Blar brachte Kapaune, Klöße, Saucen, Wein und eine hervorragend gewürzte Pastete. In Glynydds Kiefern brannte noch der Geschmack des dicken Rabenblutes, den selbst das dicke Fleisch nicht übertönen konnte. Eine sonderbare Regung kroch durch ihrer aller Gemüt dahin, beschleunigte den Puls und das Kauen; hilflos erregte Blicke hasteten hin und her, bis endlich Glynydd das Wort hervorstieß wie einen unbezwingbaren Magenpuls.Gwawddur, rülpste sie; Schweigen trat ein und Blut aus Ghleannas Unterlippe. Der Drache hat ihn ver-schlungen.

- incubation -„Schon mal probiert?“ fragte er und hielt das Päckchen ins Licht. „Meskalin. The stuff that dreams are made on.“Oh, Scheiße, dachte sie, und „Äh, nein danke“ sagte sie, und „Hallo“, sagte Poice.„Hallo“, erwiderte Losse leicht verwirrt. Sie war in der Dusche, Schulhof. Nach der Gruppenstunde, Schularbeit. Dusche. „Wie heißt du?“Sie war so klein und hübsch. „Poice“, sagte Poice. Die Dusche rauschte.Losse sah sich mit dickem Bauch, schwanger, aufgebläht, irgendwas rührte sich in ihr. „Kein Risiko“, beteuerte der Kerl, streute das Pulver in einen Plastikbecher, füllte ihn mit Limonade. „Primitivste Technik. Der Geist der Peyote-Pflanze.“Losse schüttelte sich. Die Kleine lachte. „Vierzehn?“, fragte sie ungläubig. „Du hast ja gar keine Brüste!“„Dann eben nicht, du zurückgebliebene Nudel“, sagte der Kerl. „Entschuldigung“, sagte Poice kleinlaut. Losse drehte die Hitze höher. „Ist schon okay.“ (Sie war auch den Schamanen der amerikanischen Indianer bekannt, welche sie Peyote-Frau nannten. Sie ist die weibliche Version des Mescalito.)Der Boden dampfte; alles erstrahlte in Regenbogenfarben. Losse sah plötzlich so deutlich wie nie zuvor.„Du hast deine Uhr nicht ausgezogen“, fiel ihr auf, als sie ein weiteres Mal hinschaute. „Wasserdicht“, antwortete Poice. –Losse sollte die Kleine nie wiedersehen. Forcalimo erzählte ihr später, sie sei genau eine Woche darauf bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Oder so.

Sie sehen Losse, wie sie eine Straße hinaufhetzt, die Kapuze eines schäbigen blauen Pullovers über den Kopf gestülpt, eine graue Schnürlsamthose darunter, ein Paar Turnschuhe. Die Zeit ist: kurz nach der Tanzstunde am zweiten Dienstag des Schuljahres.In der Straßenbahn (stadtauswärts) trifft sie Vanima, die Beneidete, Geliebte, Verhaßte. Sie können sich Vanima als Venus vorstellen, als heidnische Hure [BAYADERE], im Gegensatz zur christlichen Madonna Losse [SYLPHIDE], zu einer Zeit, als der Gegensatz von dionysischer Selbstopferung und enthaltsamer Kontemplation noch mitten im Leben aller Beteiligten steht: Die Selbstkasteiung rechtfertigt sich auf moralische Art, sie sieht sich selbst als Zivilisation gegenüber der Wildnis, und drängt doch mit Macht zurück ins Vor-Gesittete.„Wenn man“, erzählt Losse ihrer Partnerin, „nur die Rückseiten der Oberarme und die Gegend direkt über den Knien warm halten könnte, wäre einem nicht kalt. Alle anderen Orte sind dann egal; das sind die Kältepunkte. Nein;“ – sie beugte sich, die Stirne leicht verziehend, vor – „die Spitzen der Brüste sind auch Kältepunkte. Das müßte man warmhalten, dann wäre alles Andere egal.“Ihr Blick ruht auf dem langen, ärmellosen Kleid, das Vanima umschwebt; es wäre Losse viel zu kalt an einem Tag wie diesem. Ein Salz-Seide-Muster ist in den blauen Stoff gewirkt und läßt ihn wie der Spiegel eines Meeres aussehen. Losse stellt sich selbst als Heuschreck vor, mit dürren Gliedern, die wie lose angehängt an einen weiten Stoffsack wirken, unter dem sich etwas Skelettöses krümmt. Ihr fehlt das Fleisch. Auf den kleinen, gut geübten Muskeln laufen Adern kreuz und quer und machen sie kantig wie einen Mann. Vanima ist rund: die Venus, Cupido, Hymnis.

7

Page 8: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

„Albert hat sich eine Ziehharmonika gekauft“, erzählt sie, „am Flohmarkt. Aber er kann sie nicht spielen.“ Rif. Rifma. Narif.Losse steigt an dieser Stelle aus.

- mind over matter -Es war diese ziemlich gemeine Kurve, wissen Sie, am Dorfausgang, wo unsere löchrige Hauptstraße in die Bundesstraße mündet, in so einem spitzen Winkel, ohne Spiegel oder so: eine Schikane der Straßenbastler, ohne Zweifel, und mein allmorgendlicher Alptraum. Damit Sie das verstehen, ich war außerdem noch müde: Wir haben uns mitten in der Nacht vor den Fernseher geschlichen, um uns Deep Throat anzuschauen, so verboten wie möglich. Das war kurz bevor Eruanno ausgezogen ist. Als ich dann so im Straßengraben gelegen bin, habe ich zuerst gedacht, ich heule: Aber dann habe ich gesehen, daß es Blut war. Und ich sah, daß es gut war. Budvar. Supar. Naja, daher hab ich also diese Narbe. Und ein halbes Jahr später meinen ersten Krampf:Das war im Frühling. In Meyers Enzyklopädischem Lexikon steht unter Krampf: „Unwillkürliche Kontraktionen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen (der quergestreiften und glatten Muskulatur). Rasch aufeinander-folgende und nur kurzfristige Kontraktionen werden als klon. Muskelkrampf (↑ Klonus) bezeichnet, Kontraktionen von längerer Dauer und stärkerer Intensität dagegen als ton. Muskelkrampf, z.B. bei Tetanie“ und so weiter, dann: „Lokalisierte Krämpfe einzelner Muskelgruppen sind z.B. Trismus, sardon. Lachen, Tic sowie Hals-, Nacken- und Schultermuskelkrämpfe. Der sog. Beschäftigungs-K. (z.B. Schreib-K., Geiger-K.) ist meist ton. und durch eine neurot. Erkrankung bedingt.“ Und gleich gegenüber, in der rechten Spalte ganz oben, ist der Eintrag „Krampus (Crampus), schmerzhafter ton. Krampf eines Muskels oder einer Muskelgruppe (z.B. Wadenkrampf, Zehenkrampf)“. Alasseon hat mich nur ausgelacht.Aber ansonsten war er ganz nett. Wir haben ja zu der Zeit gerade für Prag trainiert, für diesen blöden Wettbewerb, und er hat gesagt, ich bin zwar seine neueste Schülerin, aber schon gut genug um mitzumachen. Also haben wir voll trainiert: Das war außerdem das letzte Jahr in der Volksschule, also ziemlich einfach sonst, deswegen hatte ich Zeit genug dafür. Stressig war es schon.Ganz zu Beginn war das Dehnen ja noch lustig, das Dehnen der Sehnen, bis ich den Spagat hingekriegt habe vor diesem schrecklichen Spiegelriß, und das Beine-fliegen-lassen und strecken und zerren und auf den Zehen wackeln und Muskeln stärken. Muskeln, das war die Obsession meines ersten Lehrers, Meister Toron, der uns immer durchs Krafttraining gejagt hat: Fett weg, Muskeln her, und ihr müßt zehn Minuten den Arm ausgestreckt halten können ohne zu zittern, wenn aus euch mal was werden soll. „Es ist hart“, war sein Lieblingsspruch, wann immer sich jemand beklagt hat, oder wenn er schlecht drauf war oder müde oder verliebt, dann mit einem Seufzer, und „Ja, es ist hart“, hat er gesagt, als ich mich abgemeldet habe. Er wohnt jetzt, glaube ich, nicht mehr in Wien. Ich habe ihn jedenfalls nie wieder gesehen.

1. September Ich trau mich nicht.

(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Jungfrau mit den dünnen Armen, mit den kleinen Brüsten, Illusion von Kraft, die spielt, in der Grazie verborgen; unbestimmte Stunde des Körpers und verwirrter Punkt der Seele; zögernde Farbe, enharmonischer Akkord, Held und Nymphe, Gipfel der Form, die einzig Faßliche in der Welt der Geister! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, auch noch nach dem Erwachen; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)

/ | \

Second Movement: Homewherein we will talk of the first consolidation of the matter, and of the inevitable cracks preceding its fragmentation

(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Junges Mädchen mit den kurzen Haaren und fast jünglingshaft, deren Herz noch nicht gesprochen hat; Knospe, die sich vor dem sinnlichen Aufblühen verschließt; vielleicht wirst du sündigen, vielleicht bleibst du tugendhaft; schöne Maid, die das Leben im Gesang des Windes buchstabiert; Landstreicherin oder Edelfräulein, die sich bald Maria oder Venus weihen wird! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will es nicht sehen; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)

- variant a -Wissen Sie, Maito konnte sich nicht einmal richtig hinlegen. Er sah aus wie ein Walroß, wenn er da vor mir am Teppich lag und irgendwohin starrte. Ich bin froh, daß wir ihn los sind.

8

Roland Mückstein, 03.01.-1,
Uf dem Anger
Page 9: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

14. August Vielleicht ein Wohnmobil, oben (hinten) der Schlafraum mit Bett, ein schräger Gang mit drei Stufen (daneben das Klo) herunter in den Hauptraum, links, also von mir aus rechts davon die Kochecke, von mir aus links im Raum alles frei, schmutzige weiße Wände und ebensolcher Boden, ganz links vorne die Tür, hier an der rechten Wand eine hohe Liege wie im Krankenhaus, davor (zwischen mir und Küche) zwei hölzerne Kabinen wie Umkleidekammern. Das Ganze kann man fluten. Irgendwelche Freunde schwimmen herum, lachen und reden: Das Wasser kommt aus dem Schlafzimmer, füllt den Raum auf, fließt wieder ab. Das Schlafzimmer muß trocken bleiben, sagt Mutter, hier unten gibt es nur einen kaputten Wasserauslaß. Jemand macht die Türe auf, erschrickt, macht wieder zu. Alle lachen, ich verstehe es erst nicht, dann merke ich: Ich bin nackt.

Wenige Meter vor meinem Zimmerfenster steht eine große, schwarze Mauer. Es ist eine geteerte Ziegelmauer, glaube ich; sie gehört zu einem alten Elektroschaltwerk, das seit ich mich erinnern kann nicht mehr benutzt wird. Wer das aufgestellt hat, muß die Baugesetze mit irgendeinem Trick umgangen haben; das Ding ist gerade einen halben Meter von der Grundstücksgrenze entfernt. Die ist übrigens nicht abgezäunt oder so, man erkennt sie aber daran, daß auf unserer Seite das Gras niedriger ist als dort.Will it be like a wound opening up inside meUnser Haus ist übrigens auch schon ziemlich alt.Mein Zimmer ist im Erdgeschoß, auf der Südseite. Das Bett – Faulheit – in der nordöstlichen Ecke, ein weiß lackiertes Metallgestell mit übergroßer lila Matratze (french bed, meinte Eruanno); vor der häßlichen rosa-violetten Tapete bildet die Kopfstütze des Bettes ein weißes Strahlenmuster, eigentlich düster und verschmutzt, aber in der Lichtminute trotzdem ganz schön. Die Wand gegenüber dem Fenster ist zum Glück weiß – erst vor zwei Jahren frisch verputzt, weil mir schon der alte Belag ins Bett gebröselt ist – und über dem Bett hängt ein mäßig schönes Ölgemälde von drei Ballerinas im Tutu, das meine Mutter vor Jahren einmal auf einem Flohmarkt aufgetrieben hat. Das ist aber auch der einzige Grund, warum es noch immer da hängt.Will it be like urine pressing to get outNeben dem Bett ein Regal und ein Kasten, gegenüber das Fenster, neben dem Fenster: Auch Kästen. Einer davon – der in der Ecke – ist uralt, Renaissance-Bauernkasten, quietscht und kreischt wie ein wildgewordenes Rattennest und ist voll mit Gerümpel; dem Zeug, das man eben nicht wegschmeißen will und so weiter.Auf dem Boden ein Teppich, der wahrscheinlich aus der gleichen Zeit stammt wie die Tapete an der Ost- und Südseite: dunkelgrün, mittelschwer, vom schmierig-braunschwarzen Parkettboden nur mit Glück zu unter-scheiden und „eine Brutstätte mikroskopischen Ungetiers“ (Eruanno); etwas gemütlicher daneben die Polster-ecke, gleich rechts unterhalb vom Fenster, drei dicke rote Ikea-Pölster, und in etwas dunklerem Rot daneben meine Purpurvorhänge, die ein totes Fenster verdecken, und grün auf bettgestellweißem Gittertischchen eine Hängepflanze unbekannter Spezies, die mir schon seit drei Jahren den Boden verdreckt, weil sie OC in seinem Zimmer nicht mehr ausgehalten hat; ähnlich düster in der nächsten Ecke der überladene Biedermeier-Schreibtisch, ein häßliches krummbeiniges Ding mit dick versiegelten Intarsien, zu wertvoll, um ihn wegzuwerfen, und zu unpraktisch, um ihn wirklich zu verwenden. Darauf: ein paar Trockenblumen, kaum verwendetes Schminkzeug, die Oberklasse des dekorativen Kleinkrams, dessen noch geschmacklosere Unterschicht im Bauernkasten verstaubt. – Eine klemmende Lade mit abgegriffenem Schlüssel, darin noch mehr Überflüssigkeiten, vanities, einige handbeschriebene Blätter aus alten Notizblöcken – meine Schrift – eine Pferdebuchparaphrase in krakelig roter Kulischrift: Alec Ramsy und sein schwarzer Hengst Blitz befanden sich an [durchgestrichen: sich in einem im Flugzeug in] an Bord eines Flugzeuges. Die Stewades kam zu ihm und erbot ihm mitzukommen weil sie jetzt über Bergketten fliegen würden und man eine schöne Aussicht hätte. Alec erwiderte: „Es tut mir leid [mit Bleistift hinzugefügt: ,] aber ich muß bei ihm bleiben.“ und er deutete dabei auf den Hengst. usw., heute schauderhafter Aufsatzstil, auf der Rückseite: Sechs mit durchbrochenen Linien abgeteilte Felder, in jedem der Aufdruck

GARDAMATT BRILLANTESäurefrei, holzfrei

200 gm²fünf Kapitel mit dem Abschluß Vortsetzung folgt warscheinlich keine. Dazu diverse Bilder, Aquarell „Fluß mit Regenbogen“, Blei- und Filzstift „Vier Pferdeköpfe und ein -hintern“, Bunt- und Filzstift „Hund oder Pferd? auf Wiese“, noch eine blitzgescheite -Geschichte, Bleistift „Boot in einer Bucht an einen Pfosten angebunden, am gegenüberliegenden Ufer eine Palme“, ein poetisches Frühwerk: Eruanno du hast den Kuchen genommen, / gib ihn wieder her. / sonst wird dich der [durchgestrichen: Gremling] Werwolf holen / mit dem [durchgestrichen: Besenstiel] Schießgewehr., ein leerer Briefumschlag, Ansichtskarten.Will it be like that, will I be able to control itNeben dem Schreibtisch das einzig schöne alte Stück im ganzen Zimmer: Eine Stehlampe mit geschwungenem bronzenen Hals und einem gläsernen, rot-orangenen Lampenschirm in Form einer halbgeschlossenen Blüte. Ich habe die Lampe vor einen Spiegel gestellt, damit sie mehr Licht gibt und man mehr von ihr sieht. Sie steht auf einer dunkelschwarzen Kommode, die einmal wie ein Konzertflügel geglänzt hat; in den Laden sind nur Socken und Strumpfhosen und Malsachen und alte Schulhefte und Staub. – Eine Mappe: Früher gab’s mal Darstellendes Spiel bei uns in der Schule, da haben wir Sketches und manchmal auch richtige Stücke gespielt: Vollgekritzelte Kopien von „Der Lottogewinner“ (Ich heiße Erwin Lindemann, bin Rentner und 66 Jahre ...), „Das Märchen von

9

Page 10: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

der harten Nuß“, frei nach Estimated Time of Arrival Hoffmann, Büchners „Leonce und Lena“, einige Blätter Theorie. Immer wieder meine kleinen Kunstwerke am Zettelrand: 16mal Losse in 16 verschiedenen Schriften, 4mal Vanima, 5mal Onóno (oh no! in den Angeber war ich mal verknallt), kleine Herzen, Galgen, Salat- und Totenköpfe, immer wieder ein kläglicher Versuch von Rosen.Or will it be an unhemmed flood rushing relentlessly outMein Zimmer ist L-förmig, mit dem kleineren Knick in Richtung Norden, zur Tür; die schwere Holzplatte geht nach außen auf, und sie hat die einzigen lautlosen Angeln im ganzen Haus. Die Tür-Ecke ist mein Trainings-raum, mit drei alten Turnmatten am Boden und einer speckigen Übungsstange rechts an der weißen Wand; die gegenüber, bis zur Schreibtischecke hinüber, ist in diesem komischen Holzrahmenstil geschmückt, mit braunen Preßspanplatten zwischen ehemals weißen Türrahmen-Verzierungen, eine einzige Lampe, die zumindest ein ähnlich gelbliches Licht gibt wie meine Blumenlampe, ein Hängestecker, häßliche halbabstrakte Bilder zentral in den Wandrahmen. Tanzen bis zum Umfallen, schweißüberströmte Dehnübungen bei abgeschlossener Tür und knisternden Klängen aus dem kleinen Ghettoblaster zwischen Bett und Bauernkasten, mein Tamburin – einziges Musikinstrument – die quietschende, knarzende Bodenwelle, die Tür. Vielen Dank für Ihre Geduld.Knowing this, I curse the moonI fear the days of blood

Sie sehen Losse beim Zehennägelschneiden. Sie tut das jeden Sonntagmorgen, mit Hingabe und Überzeugung: Eingewachsene Zehennägel gehören zu den Dingen, die sie am meisten fürchtet, nach Knochenbrüchen und dem böhsen Onkel im Park. Vorsichtig streicht sie mit befeuchteten Fingerspitzen über die nicht nur absichtlich gekrümmten Zehen, totenbleiche Haut, rotgeschunden an den Gelenken, über gestauchten, verbogenen Knochenteilen, eingewachsene Zehen sind schmerzhafter und ausdauernder als jede Prellung.Sie sehen Losse beim Training, zehn Sit-ups, noch fünf, ein Hüftknochen knackst bedenklich, rätselhaft, die Bauchmuskeln verkrampfen sich, haben kaum Zeit zur Entspannung: Sie beobachtet es mit immer neuer Faszination und Neugier, Körpermechanik, der Mensch als Maschine. Sie öffnet das düstere Fenster, pendelt von Garten zu Zimmer, trampelt Zeichen in das hohe Gras, grüne Tapser auf das speckige Parkett. Losse gleicht in diesem Augenblick kaum mehr sich selber. Unter ihren gespannten Zügen ist etwas Furchtbares, Drohendes, Ewiges: das Gesicht einer barbarischen Gottheit. Ihre Arme fliegen in einem furchtbaren Rhythmus hinauf und wieder inab, todesdrohend, wie Keulen. Und ihre Augen scheinen angefüllt mit einer kaum mehr erträglichen Spannung inneren Glücks.Der Garten erstrahlt im Morgenlicht; jeder Dichter hätte in einer romantischen Regung die feinen Diamanten aus Tau, die millionenfach auf den zitternden Grashalmen saßen, mit wehmütigem Blick und zitternder Stimme in den Himmel gelobt; doch Losse sieht nur die gemalte Hölle, während sie mit schweißglänzendem Körper eine kreisförmige Furche aus zertrampeltem Gras in die Wiese gräbt, immer noch eine Runde, und noch eine Runde, bis die Sonne endgültig den Schutz der Berge verlassen hat und mit aller Kraft die nachtfeuchte Welt zum Dampfen bringt.Losse atmet schwer und betrachtet mit Abscheu ihre Füße, die, obwohl vom grünen Blut des Grases durchtränkt, noch immer in kränklichem Weiß zu ihr heraufstarren. Beinahe vorwurfsvoll blickt sie zur Sonne hinauf, schließt die Augen und stellt sich vor, auf dem Rücken am Strand zu liegen, herrlich bräunendes Licht auf ihrer Haut zu spüren, und erst nach Sonnenuntergang gut durchgebraten wieder aufzustehen – und wie durch Zufall entsteigen in demselben Moment die нимфетки den schäumenden Wellen, schön wie die Sonne selbst, und als Losse an ihrem eigenen Körper hinunterblickt, sieht sie erneut nur blasse, von kleinen, brennenden Wunden durchsetzte Haut auf breiten Fettpolstern, und von zertretenem Gras grünklebrige Füße.

„Die sogenannte Mädcenha}igkeit i# mei# nict+ andere+ al+ ein Zeicen kün#licer Dre^ur oder weiblicer Körper<wäce. Da+ Mädcen muß genau wie der Junge to\en, springen und laufen. Läßt man e+ hierin seiner Natur folgen, so wird e+ auc wie der Junge seine Lei#ung+fähigkeit behalten, und die Entwi%lung wird @c möglic# lange hinau+<ieben, wa+ für die spätere Gesundheit der Mädcen von größter Bedeutung i#. Um die+ zu bewirken, muß außer einfacer reizloser Ernährung auc der Grundsa~ herr<en, da+ Mädcen von a\en Unternehmungen zurü%zuhalten, die seinem Alter noc nict vo\kommen angeme^en @nd. Er# wenn die eigentlicen Entwi%lung+jahre abge<lo^en @nd, wird al+ Folge einer gesunden und natürlicen Erziehung die „Weiblickeit“ al+ solce zum Durcbruc kommen.“(Else Wirminghaus, „Die Frau und die Kultur des Körpers“)

Mit einem verzweifelten Satz ist sie in ihrem Zimmer, spürt die Bitterkeit aus dem Hinterkopf in ihre Augen kriechen. Noch immer wie wild keuchend und mit stierem Blick läßt sie sich rücklings auf die Matratze fallen. Sie sollte jetzt weinen. Sie schreit:

10

Page 11: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

„Hymnis, Hymnis! Ich liege da und weiß es – und habe es nicht! Ich möchte schreien und in mein Kissen beißen, in meinen Arm möchte ich beißen und mein Blut fließen sehen, daß solches auf der Welt ist, und ich habe es nicht! Wie eine glühende Kohle wird es brennen in mir, daß es irgendwo eine solche Insel gibt, wo sie tanzen und glücklich sind ohne den Stachel der Hoffnung. Denn das ist es, Hymnis, das ist alles, – alles, Hymnis: glücklich sein ohne Hoffnung.“Losses Blick wandert die Decke entlang, die Wand, bis zu ihrer eigenen Nasenspitze: Sie hat nicht gesprochen. Ihre Füße treten ohne ihren Willen nach vorne, schnellen zurück, ob sie nun radfahren oder stoßen; mit beiden Händen klammert sie sich an der Bettdecke fest, halb aufgerichtet, das Gesicht blind ins Leere starrend. Schweiß brennt in ihren Augen; die Brauen sind licht, ohnehin kaum zu sehen, halten keine Stirntropfen ab, davor eine anatomische Skizze, das menschliche Skelett mit Muskelansätzen. Sie sehen Losse beim Knochentasten.

20. August Schon wieder dieser Stier, diesmal habe ich sogar gesehen, wie er ausgebrochen ist; hinter uns noch das zerbrochene Gatter, die Sonne blendet mich, sie ist ganz hell und direkt vor meinen Augen, vor mir Berge und ein Brunnen, also der Brunnen. Ich erinnere mich nicht mehr.

Ich lese viel: billige Taschenbücher, John le Carré und Jakob Böhme, Meister Eckhart (ez ist zemâle inne, niht ûze, sunder allez inne), Ursula K. LeGuin und Barbara Hambly, Edmund Theil und Larry Niven; alte Bestände, Julius Wolff, Eichendorff, Dr. Hecks „Tierreich“ aus dem faden braunen Hausschatz des Wissens: Seite 669, Fig. 4, „Wirbelsäule und Wirbel verschiedener Wirbeltiere“, das war mir schon immer unheimlich, gefährlich aussehende Knochenspitzen und ineinander verschachtelte Röhrenstücke, fantastische Konstruktionen, keine Erwähnung des Menschen (kein Tier!). Encarta 2000: „Zu weiteren anatomischen Veränderungen, die den aufrechten Gang ermöglichen, gehören das breite Becken, ein Knie, das als Scharniergelenk gebaut ist, verlängerte Fersenknochen sowie der verlängerte, ausgestreckte große Zeh.“ Mein großer Zeh hat im Querschnitt wahrscheinlich die Form einer Welle, hinten aufgebogen, bricht sich nach vorne auf der blauen Gymnastikmatte. Wenn ich früher so mit dem Kinn auf der Matte gelegen bin, habe ich mich an den Geruch gewöhnt, Plastik, Schaumstoff oder was immer, dazu leise Musik vom anderen Ende des Zimmers, quasi als Metronom für die Beine, rückwärts hinauf und andere Seite, beiß in die Mattenkante wenn’s wehtut, und Oberkörper hoch, gestreckt halten, runter, mindestens eineinhalb Stunden am Tag, notfalls in der Nacht, sonntags zwei.Ich zähle neun Rippen, darüber ein bißchen Fett, Haut, ganz feine weiße Härchen die man nur spürt, wenn man ganz knapp über der Oberfläche mit der Hand vorbeistreicht. Ich zähle sechzehn Wirbel, wahrscheinlich sind’s mehr, ist auch eine ganz gute Übung zum Arme dehnen. Maito hätte nicht mal einen gefunden. Die Milchstraße ist die Wirbelsäule des Alls, sagen irgendwelche Indianer, das sieht gut aus (zumindest auf Fotos). Ich sehe immer nur viele Sterne.Die klassische VenusforschungVenus zeigt auf ihrer Oberfläche keinerlei Einzelheiten, die einer festen Oberfläche zugeordnet werden können. Die gelegentlich sichtbaren zarten Flecke oder Schattierungen sind vergänglich und gehören wohl der Wolkenhülle dieses Planeten an.

Sie sehen Losse am Schminktisch. Das Gesicht hat, wenn man es auf das Wesentliche reduziert (darum geht es!) etwa Eiform: Weg mit den Haaren, ich will Nacht, tiefe, ambrosische Nackt. Man kann auch aus diesem Trümmerfeld etwas machen.Sie nahm ein Messer und schälte der Rose ihre Dornen ab. Dickes Pflanzenblut floß ihr entgegen; sie trank es mit schwelenden Lippen, das Herz der Blüte voll wilder Melodien. „Wenn eine Bestie Rosen frißt, verwandelt sie sich in ein menschliches Wesen.“ –Die Haare: Ich habe schon kieferlange Strähnen probiert, nach innen gekrümmt, eine Umrahmung: Das betont zu sehr. Aufgeknotet, etwas länger, aber dafür versteckt, wird nichts betont, wird alles andere alleine stehen gelassen. Schon viel besser.Die Nase: Das Ideal wäre ein leichter Bogen, in einen mäßig großen Knorpel auslaufend, Tatsache ist: Die fast waagrechten, flachen Brauenkämme treffen flach zusammen, um sich dann unvermittelt vorzuwölben, ein Hexenknick darunter, der Knorpel klein und verkümmert, sodaß den seitlich hochgezogenen Nasenlöcher eine zentrale Spitze überhängt. Daran ist nicht viel zu ändern, höchstens das übrige Gesicht anzupassen: Immerhin originell, konsequent eckig, markant. Etwas Schatten unterhalb der Wangenknochen vervollständigt die Illusion eines Geiergesichtes, Moment: Noch das Kinn, den Unterkiefer betonen, Lippen verschmälern, fertig. Immerhin ist es kein Pfannkuchengesicht.Die Lippen sind ein ganz wesentliches Problem, entweder vertrocknet oder entzündet; gerne beiße ich kleine, harte Hautläppchen herunter, reiße mich dabei manchmal etwas auf. Fettcreme vertrage ich nicht (expert in the application of lipgloss), dieses rissige, verkraterte Aussehen wirkt von der Ferne einfach matt, näher heran kommt ohnehin keiner. Heute erforschen wir die Oberfläche des Mars. Darüber die Schattenlinie von der Nasenwurzel in stumpfem Winkel um die Mundecken herum zum Kinn; an deren oberen Ende ansetzend der düstere Bogen, die Schattenfläche unter den Augen. Das Gesicht ist eigentlich ein Muster; wenn man es aufzeichnet, nur die markanten Linien, kommt ein Affe heraus, am ehesten ein Husarenaffe: Abstrakzion, Sie

11

Page 12: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

werden um eine Stufe zurückversetzt. Der Brauenkamm ist eine deutliche, stark schattierte Obergrenze, davon abwärts die helle Linie des Nasenrückens, nach unten hin dunkler, die Augen von gewölbten Linien beinahe vollständig umringt, alles ein verzogener Stern mit dem Brennpunkt an der unteren Nasenwurzel. An der Waagerechten der geschlossenen Lippen bricht sich das Ganze, läuft mit den von außen hineingekrümmten Wangenschatten in das Kinn aus. Was stört, sind allein die Flecken, die Unreinheiten der Haut; alles andere, solange klar und in Linien zu fassen, ist erträglich. Es ist immerhin ein Kunstwerk. Eine Art Kunstwerk. Eben Avantgarde.

Brunnen: Ein Tunnel, der tief statt weit ist. (Udo Burghardt)

- variant b -DIRI-KALAMOS 2001:ARBEITSNOTIZEN:Die Patientin ist 13 Jahre alt; Behandlungszeitraum: 9. Jänner bis 2. Februar 2001.* 23. 07. ’87. Besondere Umstände: leichtes Untergewicht, Verdacht auf Anämie (A. BERGER ’87; unbestätigt). Familiäre Umstände: Mutter M. leichte Hysterika (Therapie bei C. RICHER ab September ’93, abgebrochen Dezember gl. J.). Patientin nimmt seit ihrem 7. Lebensjahr Ballettunterricht mit athlet. Training (Grundlagen, Aufbau, Leistungs-Training seit ’96).Mutter † Juli ’97, Patientin lebt bei ihrem Vater. Aug. gl. J.: Großm. väterlicherseits †. // Febr. bis Apr. ’97 Unterricht bei A. C---, der Apr. d.J. verhaftet & als Sexualstraftäter in 3 Fällen erkannt wird; Verdacht auf Mißbrauch an Patientin; Patientin gibt an, nichts zu wissen (& ist von den Vorwürfen gg. C--- lt. Vater O. nicht informiert).// nach Vater O.[...]09. 01. 2001. n. Unterlagen v. PARZ (’97-2000): reduziertes Beinlängenwachstum, Wachstumsschübe verringert, unregelmäßig <= auch Serumleptin < (ø-2,85 SDS), gonado-trop., ster.-s. dto. | Schwere Sonnenallergie (diagn.: RAMBERG). Ebd. 1992: verringerte Melaninproduktion (wg. Enz.e-Mangel), => partieller Albinismus. (deckt sich mit PARZ ’99)PARZ ebd.: diagn. ’97 relat. Östrogenmangel, ’99 verringerte Knochendichte, Verdacht auf Osteoporose --> diagn. 2000.[Patientin nimmt die Empfehlung, vom Ballett Abstand zu nehmen, nicht an. <-- Dr. Wilhelm CORVUS, Vater O.]PARZ ’99: Vit. A, B, D <; K-Fett c. 2,8 kg + unterkalorische Ernährung + Bericht RICHER (’99) => Diagn. anorexia nerv. (RICHER: -athl.) [...]In Bezug auf anorexia nerv. scheint eine Besserung vonstatten zu gehen; Patientin gibt an, Kochen als Hobby zu betreiben, K-Fett Febr. 2001 c. 3,1 kg (Tendenz steigend). Nach DAUB (2001) keine unmittelbaren Anzeichen für sexuellen Mißbrauch => Bericht RICHER abwarten (RICHER ’99: anorexia „athl.“ & Sympt. schiz. hyst. <= Tod von Mutter M. + Zusammenfall m. Pubertät); zweifelhaft. – Febr. 2001: Verwiesen an C. RICHER wg. verstärkten hysterischen Symptomen.

DAUB 1999-2001:ARBEITSNOTIZEN:25. 09. 1999:Verwiesen von PARZ wg. Verdacht auf prim. Amenorrhoe.Die Patientin ist 12 Jahre alt, (* 23. Juli 1987).[...] Trainingsvolumen: mind. 1,5h-2h tägl.; zusätzlich 5h Ballettunterricht wöchentlich (98/99: 6h), Aufbau- & Leistungstraining 6h wöchentlich / = c. 24h/Woche.Keine Menarche. Gewichtsabname von 3 kg in den letzten 4 Monaten (PARZ Juni 1998). Medikation: Enz.e-Aufbaustoffe (PrMe + PrE 3b, Pr-Homogentisin). Keine Abführmittel; Verdacht auf Galaktorrhoe (Beobachtung nahegelegt). Akne (-) ; Hirs. (-) ;28. 05. 2000:[...] Verdacht auf hypothalamische Dysfunktion wg. anorexia nerv. Verdacht auf prim. Amenorrhoe.Untersuchung: möglicherweise erhöhter

Tactile drill. Imagine yourself picking up and holding: a pingpong ball, an apple, a sticky date, a new flannel-fluffed tennis ball, a hot potato, an ice cube, a kitten, a puppy, a horseshoe, a feather, a flashlight. Knead with your fingers the followingimaginary things: a piece of brad, india rubber, a friend's aching temple, a sample of velvet, a rose petal. You are a blind girl. Palpate the face of: a Greek youth, Cyrano, Santa Claus, a baby, a laughing faun, a sleeping stranger, your father.(Vladimir Nabokov, „Lolita“)

„Ich bin krank“, sagt Pia, „laß mich in Ruhe.“„Du bist nur faul“, sagt Anton. „Du wirst schon fett. Du wirst schon sehen.“Der Vater kommt herein. Er sagt: „Was riecht hier so? Es riecht nach Schweiß.“ Er geht im Zimmer herum. Er sagt: „Anton, nimm ein Bad.“„Halt die Klappe“, sagt Anton. „Ich stinke nicht. Ich dusche mich jeden Morgen. Pia stinkt, weil sie die

12

Page 13: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Androgenspiegel (wg. Klit.größe); präpuberal. Hymen. Gestagentest angesetzt (Prodafen 5 mg: 3 Tabl. pro Tag über 5 Tage)04. 06. 2000:Gestagen (-).Best. d. Schilddrüsenhormone angesetzt: LH, FSH, Test., DHEA(-S), Prolaktin, TSH, T3 (fr.) T4 (fr.)Schilddrüsenhormone: ( \ durchschnittl. Ergebn.) Test. +0,02 ; DHEA(-S) +0,01 ; Prolaktin +0,33 ; TSH -0,02 ; T3 -0,24 ; T4 -0,07 // LH/FSH 2,2Diagnose: prim. Amenorrhoe m. Nebennierenrinden-Überfunktion (wahrsch. Ovarial-Insuffizienz); vermutl. psychogene Anorexia nerv.Oestrogen-Substitution ab Sept. 2000 angesetzt, bes. wg. Osteoporose-Gefahr (& Gefahr der psych. Dekompensation, vgl. EIHOLZER 1999: OeS; W. CORVUS 1998).

ganze Zeit faul im Bett herumliegt.“„Ich bin nicht faul“, sagt Pia. Gerold sagt: „Das stimmt, sie ist nicht faul, sondern sie ist krank. Und du sollst ein Bad nehmen.“„Du stinkst selber“, sagt Anton.„Nimm ein Bad“, sagt sein Vater. „Jetzt.“Anton geht hinaus und Pia und Gerold sehen zu. Bevor Anton die Türe zumacht, sagt er noch: „Idiot.“ Dann geht er ins Bad. Er sperrt die Türe zu, läßt sich heißes Wasser ein und zieht sich aus, dann legt er sich hinein.Beim Abendessen ist Gerold nicht da, weil er sich noch mit einem Arbeitskollegen trifft. Es gibt Fritattensuppe. Anton sagt: „Die Suppe ist grauslig und schmeckt nach Abwaschwasser.“ Die Mutter sagt: „Geh Anton.“ Anton sagt: „Was, ist ja so.“ Dann sagt keiner mehr was.(IONESCO)

AUS DEM JAHRESBERICHT CORIOLANUS RICHER 1998 (mit Kommentar von Dr. Johannes ALT):[...]Vierzehnjährige Patientin, ebenfalls schwere Hysterika, sieht in ihren Anfällen jeweilen die Leiche ihrer verstorbenen Mutter, welche sich ihr nähert, um sie an sich zu ziehen. Patientin hat Amnesie für die Anfälle.[...]

[...] entsprechende hysterische Zustände, in denen ein psychischer Schock (Notzucht und so weiter) die Veranlassung zum Ausbruch der hysterischen Anfälle war, und wo jeweilen das auslösende Ereignis halluzinatorisch stereotyp wiedererlebt wird. [...]

Mit einem Wort: diese unfruchtbare, wasserlose Wüste, die sich an einem sehr geheimen Ort befindet, soll der Alchemist in ein blühendes Paradies verwandeln!

- variant c -Das ist Ohtarcalimo, ein Wildschwein im Wald, Sie sehen die beginnende Glatze und schwarzgefärbten Grauhaare und wulstige Falten um den Mund, die sich so über die Lippen ziehen lassen, die fremde Haut, getrimmte Stoppeln eines Bartes, breite Flecken auf den müden Wangen, zuviel getrunken, zuviel ausgesaugt: Ach was muß man oft bei bösen / Menschen im Gedärme lesen / Wie bei Thieren oder Pflanzen / Eng verknüpft zu einem Ganzen / Flattern hier die großen langen / Zahlreichen Telegraphenstangen /Die Augen im Dreieck von Müdigkeit und Erstaunen flattern leuchtend durch den Dunst; er ist kein guter Koch, das mach lieber ich, wenn er Zeitung liest läßt er immer alles anbrennen. Er muß sich ja weiterbilden, er bildet ja, formt, er hat Macht. Die Klienten stellen alle möglichen Fragen, von Kuhmilch bis Afghanistan, wirklich blöde Fragen gibt es nicht, sagt OC, es spricht immer noch aus dem Unbewußten.Ein Gedicht! (von Eruanno, bevor er weggezogen ist, an den Kühlschrank geklebt):ach wie convenirt doch diemoderne psychologiemit unsern eitlen neigungenindem sie uns gestattetwas wir uns selbst nicht zuzuschreiben wagendem unerforschten unbewußtenanzulastendenn er war ein moderner Poet und hielt es für unter seiner Würde, Gedichte zu verfassen, die gereimt, verständlich oder frei von sexuellen Obertönen waren. Luna-lalalola-laulasch eben.Sie verstehen nicht, da steckt viel meer dahinter. Der Kubus ist die vollkommene Figur, Nullkanten und Einheizflächen, und das macht uns den Greis erst verständlich: Er ist genau, sparsam, gewandt, vorzeitig gealtert durch die Belastungen, aber nicht plump oder senil, Geieraugen, hell und lebendig, der zuckende schlaffhäutige halbgewürgte Hals: Zuviel getrunken, so einfach, zuviel Ruach, fremdes Feuer. Das kommt ja immer wieder vor, auch bei intelligenten Menschen, ich weiß das: Viele Vögel sah ich sprießen / Viele Blumen sangen mir / Klapperstühle muß man gießen / Aber wart! Ich komme dir /Jetzt muß ich die Zwiebeln wenden, Erdäpfel rein, warten, würzen, heißer Duft und schmalziger Dampf, ich liebe unsere kleine Küche; man hat gerade genug Platz hier, zwischen den altdunklen Regalfronten und der Osterglocken-Stehlampe, zwischen der industriegelben Waschecke und dem Heizkörper, gerade so viel Platz, daß die Arme fliegen und die Beine still stehen können, daß ich alles besitze, ohne es markieren zu müssen, dort

13

Page 14: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

der Zeitschriftenständer, in einer alten Ausgabe der WIENERIN eine aufstörende, verwirrende Diesel-Werbung, hier der kastenförmige Boiler mit seinem beängstigenden Blubbern und Krachen: Was heiß wird, stirbt und zerlegt sich, wenn es kalt wird auch, wir müssen es aber kalt machen, damit wir es anschauen können. Hitze ist Freiheit, Essen ist fertig.

- ne Margaritas obijce porcis / seu Asino substerne rosas -Bockerlfels, Zitronanschale, Buttasuppn. Zitronanpickats Madl, sschauflt maram Tella, iram Tella, Schöpfa voll, wasna jinglicha Schmaus, ned. Aba schlecht fias Beichl: Wos de Sitzlinian, da Pfeil noch untn, so krummat wia da Pfeil auf da Sehne. Hariga Pfeil. Is ned hungri.Nicht hungrig: ist das Wasser. Nur vielleicht ein Bissen. Oder zwei. Meigod, des Kleid kann’s vagessn, oarms Kind. Schaut mara magaraus. Pfutter und Erpfele, Erpfele und Pfutter. Imma erst nachdem’s as dalebt haben; probiert muaß ma’s ham. Schlecht fia di Ausdaua. Ein desperater Turm ist es, ein Fleischberg, aufgetürmt: So wird auch Gift verbreitet, Viren, Krankheiten, solche tollen Dingers. Türme und Essen: gar nicht so sicher. Daher kummt a de Hand- und de Voglseuche, hatta gsacht. Schmeckn tuats wiara Truthahn af Maroni, schlapp, Bockerl, Zitron. Friß a Schwein wiara Schwein. Aber wieso sind dann Salzwasser-Fische nicht salzig? Wiris n das? Ich aber liebe ihn, sagte sie und stand in der Mitte des ruckelnden Abteils (ihre Arme und ihr Kleid hingen an ihr herunter, und sie wünschte, der Wind würde darunterfahren und ihr den Schweiß vertreiben); Ich aber liebe ihn, sagte sie und stand in seiner Kirche (sie sah, daß seine Ohren unterschiedlich groß waren, ein kleines bißchen nur, und seine Haare standen wild darüber ab); Ich aber liebe ihn, sagte sie und stand auf einer Brücke (der Ort des Wahnsinns, wissen wir, ist immer eine Brücke).Imma no die eckatn Knochn, a Hautsack, nur Brot und schlabbaschlappa Suppe. Durndal! I wer no grantisch. Weiba, ned. De Neigia imma. Soizsö. „Bitte das Salz.“Koeds Fleisch, neda. Wecka. De buttan se sölba ein, Miri schmecktas sölba, min Schleia om. Komma ned schlecka, de Laschn. Oba olles inda bestn butta brotn. Na de kriagn vu mia ka Schmoiz. I bin ja scho laar, im Herzn und a sonstwo, wastuama? essn, trenzn. Sie woa jo damois noah Klankind. Miri hot des elegantfraue Kleid do g’habt, mit de Froschzöpf, handg’macht mit überzogene Knepf. Hodaraba guad paßt, wiara Handschuach, an de Schuitan und Hiftn. Grad ers gscheid ausgfüllt. Des woan no Zeidn. Gmiadlicha Raum woa des mid dera rotn Tapetn; d’Loss ihre Woschnacht, hab ia de a teire Seifn kauft, gieriga Gruch von den Badwossa. Komisch hots ausgschaud so ganz eigseifad. Gschmeidig aa. A foto, ned, n Voda sei Dauchterotypie-Studio, wosarimma davo gret hod. Vareabt si, ned. Aber da kann man ja gar nicht gscheit essen. Der wetzt da das Messer & die Gabel, schlingt’s in sich hinein, altes Schwein, stochert in seinen Zähnen herum. Rülpst, voller Mund, Wiederkäuer. Nur bloß nicht hinsehen. Vuaha und Nocha. Dankeschen nochm Essn. Schaud des aane Büd on, dann is andare. Stopft sich voll mit Erpfelgrösti, schmatzt und Brot und Zunge. Nocha schleck jetz no die Schüssl aus! Nichts wie weg hier.Schaud umadum, ziacht de Nasnfliagl ein, oide Kenigin im Badesessl. „Eigentlich muß es ja für die früher ziemlich gefährlich gewesen sein, wenn die noch nicht gewußt haben, was giftig ist und so. Da traut man sich ja gar nichts essen.“ Ziagt a Schnutn. Will nua ablenkn; kochn duats ja, aba essn wüs ned. Naguat. Also: „Besonders giftige Beeren. Wenn’s rund ist, hält man’s erstmal für gut, ned. Aber grelle Farben sind ein gutes Warnzeichen.“„Und der eine hat’s dann immer dem Nächsten erzählt, ned, ah, der und der is daran gestorben, besser nicht essen.“ Bessa essn, Knochnsack. Aba di werma schono zwangsaneahn. Wos isn jetz schowieda? „Zuerst am Hund ausprobiern.“ – „Na der erkennt’s wahrscheinlich am Geruch oder so. Is da scho im Hirn einprogrammiert.“ Mm. Süße Frucht, ned. Eistütten. Krem. Instinkt. Sowas wiara Obstschüssl, ois zastompft. Unappetitlich wie Gewölle. Sowas würde ich ja nicht einmal küssen. Na sisja woi a jungs Fleisch in da Pfannen, hupft wiarawos, brutzlt, haha. Schlechte Augn. A Frau, eigentlich. Wer war das nochmal, der seine eigenen Schuppen gegessen hat. Billig. Möhl. Aber es riecht so gut! nach wilden Kräutern und Betersilie und nach frischgebackenem Brot (ja, gut!). Und grinsend gschnüfflt, ned, Stückl für Stückl, Brod macht breit und schlank macht schlimma. A roes Gschnetzltes. Guad so. Perfrumious (Englisch einfach), so wias areinsiadla mocht, mid ana Fleischplattn, dossar de Versuchung ned spiat. Erkenn mi kumm ume und iß mid mia trink mid mia geh mid mia ham. Indar Bibl, ned. Und dann um Sechs arum oda so geht’s nocharan. Sechs, Sechs. De Zeit wiad a wecka sein. Es ...„Also mein Teller ist leer. Nach dir, mit unsan eingebautn Trinkbecha.“ Kwön. „Geh nimm an Klunkta.“ – „Jadubidad.“ Nocha se dudad. Wie ein König sitzt er auf dem pelzigen Thron, lebt in langwieriger Leidenschaft obwohl sein modischer Geschmack schon absurd genug ist, wahrscheinlich ein paar Jahrhunderte vor dem Trend. Rotes weiß saugen. Juju, türmt er. Juju. Bloß keine Butter, kein Fett. Sabbalot.Ai des woa itz netig. Swoa grad so foablos. Dealba me, Domine, et munda cor meum; ut, in sanguine Agni dealbatus, gaudiis perfruar sempiternis (quod sit Divinum Verum procedens a Domino). Quam clavi ferrei inseruerunt. Fünf bis 18 Prozent der bekannten Fälle führen zum Tod durch Verhungern.

14

Page 15: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Ohtarcalimo, das Wildschwein im Wald, ist nicht so gedankenlos, wie es durch die müden Augen seiner Tochter scheinen mag; er ist der eigentliche Gegenstand seiner Profession, ein wunderbares Exemplar, ein komplex-beladener Mann im mittleren Alter, mit einem geregelten Einkommen und einer resignierten Einstellung dem Leben und den Läufen des Schicksals gegenüber, die ihn durch Wechselbäder von dumpfer Untätigkeit und unmotivierten Verrücktheiten zerrt. Er ist derjenige, der sich früher oder später selbst auffressen wird in seinem Wahn, und der dennoch nicht aufhört, sich in anderer Menschen Köpfe hineinzudenken, ihre Ansichten und Standpunkte zu verdauen und sein eigenes Gehirn auf diese Weise unbemerkt zu übersättigen.Seine Klienten besuchen ihn meist am späten Nachmittag; als er an diesem Tag seine Ordination verläßt, hat er die vergangenen Stunden bereits vergessen und ist in Gedanken zurück beim Mittagessen, bei Losse, seiner Tochter, die er in Gedanken immer noch in Großbuchstaben und mit langem „e“ schreibt: LOSSĒ – und was ihn an diesem spindeldürren Geschöpf noch immer Sorgen macht, sind, leidiges Spiel, die Männer.Er war ja selber einmal einer, und er glaubt, die ganze Geschichte zu kennen; doch die gesamte körperliche und geistige Entwicklung seiner Tochter ist schon bisher derart ungewöhnlich verlaufen, daß er bezweifelt, sie mit den herkömmlichen Modellen beschreiben zu können.Er kann nicht einmal mehr ruhig schlafen, denkt er. Er glaubt zu wissen, wie sich Beziehungen und Freund -schaften unter den heutigen Jugendlichen entwickeln; immerhin hat er das alles schon bei seinem Sohn erlebt, dem Miststück, und er hört ja auch von seinen Klienten genug von solchen Dingen. Er wünscht sich nur ein bißchen pubertäre Normalität bei seinem Mädchen, er wünscht sich eigentlich nichts weiter, als daß sie möglichst bald eine Beziehung anfangen, sie dann mit Begeisterung rasch für immer andere austauschen und schließlich in den Armen eines idiotischen, verzweifelten Bräutigams landen würde, der ihren armen, geplagten Vater für längere Zeit von ihr erlöst.Natürlich funktioniert das nicht ganz so, und Ohtarcalimo ist deswegen bereits so unruhig, daß er prompt die Stadt verläßt, ins Gebirge hinaufsteigt und sich auf den Weg zum apollonischen Orakel begibt. Dort, in der felsigen Einöde, betet er zu dem alten Gott und opfert ihm, und endlich läßt ihm Apollo einen Spruch zukommen, dem Fragesteller zuliebe sogar in dessen eigener Sprache:

Hoch auf den Gipfel des Berges, Vater, stelle das Mädchen,Und als des Todes Braut trage sie festlichen Schmuck!Nimmer erhoff einen Gatten für sie aus der Sterblichen Stamm, dennGrausam und frevelnd und kühn wird einst ein Unhold sie frein,Der sich auf Schwingen ihr naht durch die Lüfte und alles beunruhigt,Wenn er mit Flamme und Pfeil alle Geschöpfe bezwingt.Jupiter selbst erzittert vor ihm, die Götter erschrecken,Vor ihm schaudert der Pfuhl, schaudert die stygische Nacht!

Natürlich ist Ohtarcalimo erfahren genug im Spiel der Symbole und Andeutungen, daß er die ursprüngliche Angst, die dieser Spruch ihm in die Knochen jagt, bald wieder abschütteln und als grundlos abtun kann; sieht er doch hinter die Worte und glaubt, die dort verborgene Bedeutung klar zu erkennen.LOSSĒ, so denkt er, ist zu aktiv, um mit ihrer gegenwärtigen Figur zu gefallen. Sie steht und tanzt und läuft zu viel; sie sollte vielmehr liegen. – – –

- final variant -Sie sehen Losse im Bett. Sie liegt auf der linken Seite, wie immer, beide Hände unter den Polster und diesen unter den Kopf geklemmt, den Rücken gekrümmt, die Beine halb angezogen, der rechte Fuß genau auf dem linken. Sie wackelt mit dem rechten Fuß hin und her, der Zehenknöchel dient als Achse, der ganze Körper wackelt mit, sie merkt es gar nicht: Sie kann nicht einschlafen. Sie fürchtet sich vor dem Traum.Sie will sich strecken und herumwälzen, aber sie traut sich nicht. Sie fürchtet sich vor dem Schmerz. Zuerst legt sie sich immer alles ausgestreckt auf den Rücken, weil das besser für die Wirbelsäule und nicht so kindisch ist, aber so kann sie erst recht nicht einschlafen. Sie klappert mit den Zähnen, merkt es irgendwann und macht ein Lied daraus, ein Klapperlied. Sie dreht sich versuchsweise auf den Rücken und streckt die Arme in alle möglichen Richtungen. Dann beginnt sie, an ihrem rechten Handrücken zu knabbern. Sie nimmt die dünne Haut zwischen die Schneidezähne und zieht sie ein Stückchen vom Knochen weg, läßt sie dann wieder los, das macht ein leises Knurpsgeräusch, und das nächste Stückchen Haut, die Fingerknochen und dann die Finger entlang, in einer festen Reihenfolge, zuerst die rechte, danach die linke Hand, dann die Handinnenflächen, später vielleicht noch die Arme, sie versucht, wie weit sie kommt: Nicht ganz bis zu ihren Schultern. Sie macht das sehr rhythmisch, sie macht ein Lied daraus, ein Hautkiefellied. Sie wackelt wieder mit den Füßen, diesmal absichtlich und abwechselnd.Sie hat genug Platz im Bett, die Matratze ist nicht besonders dick, aber sie liegt auf einem federnden Gitter. Es knarzt ein bißchen, wenn sie Liegestütze macht, aber OC schläft ohnehin auf der anderen Seite des Hauses und irgendwie muß sie sich ja müde machen. Beim Fenster scheint natürlich genau dort eine Straßenlaterne rein, wo die Sonne nur ein paar Minuten pro Tag hinkommt, ein bißchen sogar auf die grüne Zimmerpflanze. Immer wenn ein Auto auf der Querstraße vorbeifährt, wandern überlappende Lichtstreifen über die Decke, Losse kennt

15

Page 16: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

das Muster schon auswendig. Sie hat einmal versucht, es zu zeichnen, aber natürlich hat keiner erkannt, was es sein soll.Losse biegt ihre Finger nach hinten: Sie dehnt ihre Sehnen, indem sie die obersten Fingergelenke zwischen den Bettrahmen und die Matratze klemmt, so, daß sie in einem spitzen Winkel zum Unterarm gehalten werden, und dann mit einem Kugelschreiber, der auch zwischen Rahmen und Matratze steckt, auch den widerspenstigen Daumen zurückbiegt. So bleibt sie, solange sie kann; es funktioniert blöderweise nur mit der linken Hand.Irgendwann hat sie gemerkt, daß einschlafen nur dann funktioniert, wenn man irgendeinen Gedanken aus dem eigenen Kopf herausnimmt und ihn behandelt, als wäre er eine andere Person.

/ | \

Third Movement: Schoolwherein the first fragmentation of the primary matter is attempted, and some measures towards the second consolidation are taken

(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Reine Jungfrau, kaiserlicher Diamant unter allen Gemmen der Weiblichkeit; Schmuck, der beim Vergleich den himmlischen Kronen nicht nachsteht; deine kostbaren Glieder wissen von keiner Umarmung, und deine Nerven, empfindsame Saiten, haben keinen mißtönenden Finger erduldet; Geige, in der die Harmonie noch schläft, Klavier des Schweigens! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will seine Lügen nicht mehr hören; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)

1Ferdit trottete langsam die Schulgasse hinauf, die Kapuze seines weiten Pullovers tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Taschen. Der Wind blies ihm gelbbraunes Herstlaub vor die Füße, und einige Meter vor ihm klapperte eine leere Coladose auf dem Asphalt.Er war frustriert.Nicht, daß er dazu irgendeinen Grund gehabt hätte. Erst vor Minuten war er aus dem warmen Bett gekrochen, hatte geruhsam gefrühstückt und sich aufgemacht; als Einzelkind war er verwöhnt und damit meist zufrieden. Auch die Schule, auf die er gerade zusteuerte, war für ihn durchaus kein bedrückender Ort; in seiner Klasse war er recht beliebt, und auch der Lernstoff bereitete ihm keine großen Probleme. Er verkörperte das bessere Mittelmaß auf dem Weg nach oben, und auch aus seiner Perspektive zeigte sich kein ernsthafter Grund für seinen Frust.Doch er war da, und der offensichtliche Unsinn seines Gefühlszustandes verstärkte das bittere Gefühl in Ferdits Kopf und Magengrube nur noch. Aber da war noch ein anderes Gefühl, das sich in seine trübe Lethargie mit hineinmischte und ihn zunehmend unruhig machte. Irgend etwas geschah. Irgendein hämisches Instrument des Schicksals nagte da an seinem Lebensfaden, trieb sich heimlich in den Schatten seiner Gehirnwindungen herum, war so wichtig und doch so flüchtig, daß er beim besten Willen nicht hätte sagen können, was es war; wobei von einem besten Willen in seiner momentanen Verfassung ohnehin nicht zu sprechen war. Ein unbestimmbares, aber umso beklemmenderes Gefühl der Angst beschlich Ferdit, und er versuchte trotz der Morgenschmerzen in seinen Gliedern aus seinem Trott auszubrechen, schneller zu gehen, als könne er damit dem unbekannten Etwas davonlaufen. Er kickte eine leere Coladose zur Seite. Coladosen hatten den Vorteil, daß sie sich nicht wehrten, wenn man seine Wut an ihnen ausließ – jedenfalls normalerweise.Ferdit blieb das beginnende Knurren im Halse stecken, als die Dose sich auszubeulen begann. Sie machte immer mehr den Eindruck eines unförmigen, bunt bedruckten Balls – und explodierte schließlich in einem grellen Lichtblitz. Ferdit spürte keinen Schmerz, keine Druckwelle, nur ein gewaltiges Wühlen in sich, als würde er von innen heraus umgestülpt. Er griff sich an den Kopf, als ihm schwarz vor den Augen wurde, dann brach er ohnmächtig zusammen.

2Simon Ra saß in Lotusstellung inmitten seines rotgetäfelten Meditationsraumes, als der Schmerz wie ein häß-liches Geschwür in seinem Hinterkopf explodierte. Sein Oberkörper wölbte sich in einer unwillkürlichen Bewegung vornüber, als sich alle seine Muskeln mit einem Mal anspannten und in einem einzigen stimmlosen Schub alle Luft aus seinen Lungen gepreßt wurde.Die letzten Schmerzfäden zogen sich noch durch seinen Kopf, als Simon bereits in einer flüssigen Bewegung aufstand und mit geübtem Blick den Raum auf Veränderungen absuchte. Er kannte diesen Schmerz, wenn auch nicht in diesem Ausmaß; die Obersten der Gilde fügten ihn zuweilen ihren Schülern zu, um sie von einem Fehltritt abzuhalten, oder um sie aus der Trance zu reißen, bevor sie einer bösartigen Monade begegneten. Wer

16

Roland Mückstein, 03.01.-1,
In Taberna
Page 17: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

diesen Schmerz verspürte, mußte sich unverzüglich an seinen Lehrer wenden; er war das Rufsignal, die zornige Ermahnung.Aber Simon Ra hatte keinen Lehrer. Er war der Großmeister der Gilde, und keinem lebenden Wesen wäre es je gelungen, seine geistige Barriere zu durchbrechen. Er war unangreifbar.Die Tapetentür flog auf und Frater Josephus stürmte in den Raum; ein Verstoß, den er sich unter gewöhnlichen Umständen niemals erlaubt hätte. Simon brauchte nicht in seine gehetzte Miene blicken, um zu wissen, daß er es auch gespürt hatte.Josephus, weniger geschützt und beeinflußbarer als sein Meister, taumelte und suchte mit flatternden Armen nach Halt. „Alles bricht auseinander“, keuchte er; dann stürzte er zerschlagen zu Boden.

3Als Ferdit erwachte, lag er noch immer auf dem Bürgersteig. Die Coladose war verschwunden, aber noch immer meinte er, ganz nah eine dunkle, unbestimmbare Existenz zu fühlen. Er warf einen Blick auf eine Uhr: Eile war zwecklos, er war längst zu spät. Er würde sich irgendeine Ausrede einfallen lassen müssen; sein Lehrer würde ihm bestimmt keine Geschichte von einer leeren Coladose glauben, die durch seine bloße Berührung explodiert war.Zwar klang die Version mit der steckengebliebenen U-Bahn auch nicht besonders überzeugend, doch der Lehrer ließ die Sache auf sich beruhen. Während der noch immer etwas benommene Ferdit auf seinen Platz in der hintersten Reihe zusteuerte, fing er einen kurzen, irritierenden Blick von Losse auf, einer merkwürdig verschlossenen Mitschülerin, die in der Bankreihe vor seinem Platz saß. Mit angespanntem Gesicht setzte er sich hin und versuchte für einige Minuten, den Ausführungen des Lehrers über den mathematischen Nullwert von Linien oder Kanten, über Einheitsquadrate und den Kubus als vollkommene Figur zu folgen, bevor sein unsteter Blick an Losses schlohweißem Haar hängenblieb. So eine gestörte Person, dachte er, und: Könnte sie etwas bemerkt haben? – Der Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, verfolgte ihn; irgend etwas köchelte in dieser Bohnenstange.Sie wandte den Kopf; das Morgenlicht zog scharfe Kanten in ihre blasse Miene. Wieder trafen sich ihre Blicke, und es war wie ein Blitz.

4„Frater Antonius.“ Die Stimme des Großmeisters klang selbst durch den Zerhacker noch untypisch erregt; Antonius Gerentz nahm automatisch Haltung an und tauschte besorgte Blicke mit seinen Confratres. „Meister.“„Ihr geht dieser Sache sofort nach.“ Weitere Erklärungen waren unnötig; Simon Ra wußte, daß ein Ereignis von solcher Tragweite keinem seiner Adepten verborgen geblieben sein konnte. „Du und alle, die bei dir sind.“„Die gesamte Kongregation ist versammelt, bis auf Deleuze. Sie sind alle sofort hierher gekommen.“„Sehr gut; einige sollen hierbleiben.“ Der Großmeister unterbrach die Verbindung und wandte sich mit gefurchter Stirn dem Obersten Rat zu. „Das Gebot der Geheimhaltung bleibt aufrecht“, erklärte er mit Entschiedenheit. „Was immer hier geschieht, wird unser aller Leben auf nicht absehbare Weise verändern; aber es wäre nicht daß erste Mal, daß wir eine derartige Krise im Verborgenen meistern könnten.“„Es könnte das letzte Mal sein“, wandte einer der Räte ein. „Zyklisch gesehen –“„– läßt sich zu jedem Zeitpunkt eine Idealkonstellation für den Weltuntergang festlegen“, unterbrach ihn ein Anderer. „Verzeihen Sie meinen Zynismus, aber es ist jetzt wahrlich nicht der Moment für derlei Spekulationen.“Simon Ra bedeutete ihm, zu schweigen. „Das ist die Art, mit der Weltöffentlichkeit zu reden; aber wir wissen alle, daß es sich hier um einen auf vielen Ebenen wichtigen Vorgang handelt.“„Das Paradox“, sagte einer.„Es ist viel einfacher“, warf ein Weiterer ein. „Wir haben es hier mit einer allgemeinen Aufspaltung zu tun. Mit einer Zersetzung im ursprünglichen Sinn. Und alles, was wir tun können, ist, den Nexus dieser Zersetzung zu finden und zu bewahren.“

5Ferdit war wie betäubt. Irgend etwas war mit ihm geschehen, als ihn Losse das zweite Mal an diesem Morgen angeblickt hatte; und wieder konnte er nicht fassen, was es war. Es war, versuchte er zu formulieren, als bildete sich irgendwo in ihm ein kleiner Knoten, der sich immer enger zusammenzog und ihn ganz zu einem Ball aus verkrampften Muskeln reduzieren wollte; nein, es war, als würde sich vor seinen Augen die Wirklichkeit um ein kleines Stück verschieben, sodaß für einen kurzen Moment, und immer nur aus den Augenwinkeln, die großen und furchterregenden Dinge sichtbar wurden, die sich sonst dahinter verbargen.Einige Minuten saß er so still auf seinem Platz, wußte von Zeit zu Zeit nicht, ob er die Augen nun offen oder geschlossen hatte, bis er durch einen Anruf des Lehrers aufgeschreckt wurde und ihm, während er fieberhaft in seinem Gedächtnis nach einer Antwort auf die gestellte Frage kramte, der kalte Schweiß ausbrach.Jetzt, dachte Ferdit, war es vorbei. Es war ganz einfach vorbei. Aus.Aber er hatte sich zu früh gefreut.

17

Page 18: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

619. August Wieder ein Tal, diesmal Wüstenboden. In der Mitte ein Brunnen. Wind (?). Die häßlichen Kinder kommen aus allen Ecken gerannt und wollen mich fressen oder so. Ich laufe mit ungeheurer Anstrengung ein Stück, komme nicht mehr weiter, drehe mich um: Sie kommen auf mich zu, gaaanz langsam, bedrohlich. Ein grausliger Vogel fliegt über mir vorbei und lenkt mich ab. Ich habe Angst und beiße mir auf die Unterlippe, daß sie blutet.

7die riesin:

im erzwald, im osten / sitzt sie, die alte,wo wölfe nur / den winter künden.die brut des wolfes / bringt sie zur weltdes taglichts töter / trollgestaltet.

8Das kleine, scheppernde Etwas, das gerade mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit einen Felsbrocken umrundete und dabei Moos und Walderde zu kleinen Prallhängen am Rande der Fahrspur zusammenschob, war ein ausgemusterter Militärjeep, an dem sein jetziger Besitzer seine ganze Bastelleidenschaft ausgelassen hatte. Das Ergebnis sprach für sich: Remy Deleuze, der sich im Bereich der Hinterbank verspreizt hatte, um nicht bei jeder scharfen Wendung gegen eine Verstrebung zu stoßen, war dem Erbrechen nahe und hoffte nur, der eindeutig durchgedrehte Fahrer würde jetzt bald die versprochene Autobahn finden.„Festhalten!“ rief dieser, während er mit heroischen Bewegungen am Lenkrad zerrte. „Und bete für meine Stoßdämpfer!“Deleuze fand keine Zeit, sich über die Stoßdämpfer Gedanken zu machen, denn nur einen Augenblick später brach der Jeep aus dem Wald hervor – und hing für einen Moment in der Luft, bevor er mit übelkeiterregendem Krachen auf der tiefer liegenden Autobahn aufkam und dort für einige Sekunden im Leerlauf weiterrollte. Deleuze warf einen atemlosen Blick zurück auf die Geländekante, von der sie gerade gesprungen waren, große Brocken Erde und Botanik mit sich reißend; als er sich mit einem halb erleichterten Seufzer in den Sitz zurückfallen ließ, hatte der Fahrer bereits wieder einen Gang eingelegt und hielt mit steigender Geschwindigkeit auf die Stadt zu. „Ich weiß“, ließ er ungefragt vernehmen. „Wir haben es eilig. Okay. Ich tu, was ich kann.“

9Losse befand sich in einer verzweifelten Lage. Überall um sie herum zuckten Flammen in willkürlichen Abständen aus dem Boden und drohten sie zu verbrennen. Sie hüpfte wie wild hin und her, um den Feuerzungen auszuweichen, die immer schneller und unberechenbarer wurden.Sie befand sich in einem riesigen Raum, welcher der Innenseite einer Röhre glich. Sie stand in der Mitte der Röhre, auf einer massiven Säule ohne erkennbaren Anfang oder Ende, die nur durch einen schmalen Steg mit einem Loch in der Wand des Raumes verbunden war.Auf einmal fegte aus dem Grund des Schachtes eine gewaltige Feuersäule herauf und setzte die Röhre in dessen Mitte in Brand. Die heraufströmende Hitzewelle raubte Losse den Atem, und sie übersprang voll Panik die Feuerwand, die sie von dem Steg trennte.Sie sprang daneben. Sekundenlang war sie bewegungsunfähig, doch dann streckte sie in einer blitzschnellen Reaktion die Arme aus und klammerte sich am Rand des Stegs fest. Ein Schwall Hitze ergoß sich über sie, und sie zog sich unglaublich schnell hoch und begann zu laufen. Hinter ihr hatten die Flammen bereits die Brücke erreicht, die nun bei jedem Schritt bedrohlich krachte. Losse nahm Anlauf, sprang und –

10die drei gockel:

war auf dem hügel / der wölfe hüterwo er bewachte / der alten brut.bei ihm krähte / im kiefernbuschder feuer-hahn / der fjalar heißt.

den göttern krähte / der goldene gockelweckte die helden / des walvaters heer.krähte ein andrer / unter der erderuß-roter hahn / im hause der hel.

18

Page 19: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

11„Deleuze ist nicht zu erreichen.“Irgendetwas hämmerte im Hinterkopf des Großmeisters; keine noch so ausgefeilte Atemtechnik schien es vertreiben zu können. „Vergessen Sie ihn. Vergessen Sie Deleuze.“ Es wurde langsam Zeit, sich damit abzu-finden, daß nichts mehr so sein würde wie früher. Eine ungeheure Entladung auf der Astralebene – ganze Teile des Universums standen in Flammen – kaum ein Gebiet, auf dem nicht zerstörerische Umbrüche anstanden – selbst in der vollkommen abgeschirmten, bleiverkleideten Zentrale der Gilde, in der Gebetskammer der Kongregation, war der Ruf des Gjallarhorns zu hören, das Geräusch des Einen Auges, das sich öffnete ...„Aber“, widersprach Frater Antonius, „wenn die Zwölf nicht vollständig sind – “„Schweigt.“ Mit einer endgültigen Geste führte Simon Ra die linke Hand, Innenseite nach außen, von oben nach unten an seinem Gesicht vorbei. Antonius Gerentz war ein nützlicher Helfer, ein vielversprechender Adept, aber seine Kenntnis der tiefsten Geheimnisse beschränkte sich auf trüben Aberglauben. Zwölf! Er hatte ganz offensichtlich nichts verstanden. Elf – Elf war die Zahl, „eilf“, wie die Alten noch immer schrieben, und für diese magische Konstellation war die leibliche Gegenwart der Obersten Räte in keiner Weise von Bedeutung.Der Großmeister stieß die Türe des Gebetsraumes auf und huschte im kontrollierten Laufschritt durch die engen Gänge der unterirdischen Anlage. Wo er hinkam, eilten Boten von Raum zu Raum, drängten sich Menschen in Grüppchen zusammen, wurden Pläne geschmiedet, Spekulationen hin- und hergeworfen und Beruhigungs-übungen zelebriert. Wäre es nicht um die beruhigende Alpha-Musik aus den allgegenwärtigen Lautsprechern gewesen, die Zentrale wäre längst zu einem Tollhaus geworden; auch so war alles voll fieberhafter Aktivität, und doch schienen die hier versammelten feinfühligsten Menschen der Welt nicht den geringsten Hinweis darauf erhaschen zu können, warum – eine Coladose explodiert war!Das war alles schon einmal da, fuhr es wie ein Blitzschlag durch Simon Ras Gehirn. Wir haben das alles schon einmal erlebt – und es überstanden.– Wißt ihr auch, aus welchem Grund die Nordländer von den Götterdämmerungen erzählen, als hätten sie schon längst stattgefunden? –

12– kam genau auf dem letzten Endstück der Brücke auf. Sie hörte ein letztes, bedrohliches Knirschen, dann brach der Steg unter ihren Füßen weg, und sie stürzte, sich wild überschlagend, in den scheinbar bodenlosen Abgrund.

13das kriegshorn:

brüder einander / bringen ums lebenbrudersöhne / brechen die sippe.schwertzeit, beilzeit, / schilde berstenwindzeit, wolfzeit / eh die welt vergeht.

es gärt in der höhe / des gjallarhorns,des alten, klang / das ende kündet.hell bläst heimdall / das horn erhebt sichriesenheim rast / beim rat sind die götter.

14Auf der Bühne sprang der Hohepriester mit ungekanntem Furor hin und her und brüllte seine Litaneien ins Mikro, als spürte er bereits die kommenden Flammenstöße; die Zuschauermasse wogte und schrie sich ihre eigene Angst aus dem Leib. Von düsteren Vorahnungen getrieben, bewegte sich eine einzelne Gestalt gegen die Masse, drängte sich durch die stinkenden Menschenleiber und erreichte endlich die müllübersäte Campingwiese am Rande des Veranstaltungszentrums.Die Schlafplätze waren verlassen; es war der Band tatsächlich gelungen, nahezu alle Festivalbesucher auf die Beine zu bringen. Nur in einem einzigen Zelt war noch Licht; der Schatten einer liegend hingestreckten Gestalt zeichnete sich auf der weißen Plane ab.Mit unsicheren Schritten bewegte sich Onóno auf das Zelt zu. Der säuerliche Geruch von Erbrochenem stieg ihm in die Nase; ein Hauch von Kaffee; Gras. Er stieg über eine zusammengerollte Isoliermatte, beugte sich zum Zelteingang hinunter und grinste.Wer immer da drin war, er oder sie rauchte eine verdammt gute Mischung. Alamout Black oder so. Mal schmecken. – Er zog die Vorhänge auseinander.Holy shit, entfuhr es ihm. Auf eine dichte rote Matte waren helle Seidenschleider drapiert worden, darauf ein rosafarbener und ein tiefroter, blütenförmiger Polster, und in der rechten hinteren Ecke lag ein irisierender blauer Ball, der das ganze Zelt mit Licht und transparenten Schatten erfüllte. – Und direkt vor ihm, über die ganze

19

Page 20: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Pracht gebreitet, lag eine üppige Schönheit, nur mit einem dünnen gelben Kleid bekleidet, und lächelte ihm entgegen.„Hallo“, sagte sie und richtete sich ein wenig auf; in der Bewegung wurde das Licht schwächer, sodaß er sie bald nur noch als dunklen Schemen vor den kunstvollen Falten ihrer Ruhestatt erkannte. „Und vor dir“, fügte sie mit leisem Amüsement hinzu, „sollen wir uns fürchten? Die Nacht erschaudern? Die Nacht?“ – Sie lachte. – „Du warst doch schon einmal da. Wieso sollten wir vor dir erschrecken?“„Aber nein“, sagte Onóno, da er sich nicht ganz sicher war, ob er mit den Worten der Wollüstigen gemeint sein konnte. „Das ist es nicht, warum ich hier bin. Ich weiß ja nicht einmal, wer Ihr seid.“Das Licht erstarkte wieder; der Schleier war von ihr abgefallen, und sie blickte ihn geradeheraus an. „Rate.“„Aphrodite Porn.“ Das war geraten, aber er wußte nicht einmal, woher. Es paßte irgendwie, auch wenn es zunächst obszön klang. Sie war ja obszön. Ob-scena.„Na also“, sagte sie; „und dann weißt du wohl auch, warum du gekommen bist. – Nur keine Angst! es geht schon.“ Und sie räkelte sich auf ihn zu und griff in eine Tasche, die neben seinen Füßen stand. „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden, aber so zart und warm wie wahre Früchte. „Du wirst noch einen weiteren brauchen.“Onóno nahm die Äpfel und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. „Sie wird dir nicht entkommen“, versicherte ihm Aphrodite; „aber sie wird zittern: O ja, sie wird sich fürchten. Aber du mußt dich vor ihr hüten.“„Eigentlich“, erwiderte Onóno etwas unsicher, „bin ich ja hierher gekommen, um Musik zu hören.“Aphrodite lächelte und entließ ihn mit einem zarten Wink von ihrer Hand. „Nun geh schon, geh schon. Aber sie wird dich vernichten.“ –„Schon gut, schon gut.“ Als Onóno das Liebesnest verlassen hatte und sich unter freiem Himmel aufrichtete, war die Bühne längst zusammengebrochen; wo zuvor die Zuschauermassen getobt hatten, klaffte jetzt nur eine gähnende Spalte, aus der Hitze waberte und den Horizont verschleierte.„Ich glaube“, sagte Onóno für sich selbst, „daß ich der einzige bin, der hier noch auf zwei Beinen steht. Ich nehme an, dann muß ich es auch überleben.“

15– landete sicher auf der Plattform vor dem Ausgang. Schon züngelten die Flammen durch das Loch, als Losse zu laufen begann. Sie hatte sich nach dem Sprung schmerzhaft den Knöchel verstaucht, darum humpelte sie leicht, als sie das Landedeck erreichte. Ohne weiter zu überlegen, sprang sie in das Gleitboot, das für sie bereitgestellt worden war, und sauste los.

16„Ferdit, was glaubst du, passiert, wenn ich jetzt diese Säure mit Kalkwasser mische?“Laß mich doch bloß in Ruhe, Versager, dachte Ferdit; „Sie wird neutralisiert“, sagte er, ohne auch nur den Schatten einer Ahnung zu haben.„Bist du sicher?“, fragte der Lehrer in betont neutralem Ton. – „Absolut“, erwiderte Ferdit gelangweilt; nur Sekundenbruchteile später wunderte er sich bereits über die unbeabsichtigte Lüge.„Dann greif’ doch mal hinein!“, forderte ihn der Lehrer auf und schubste ihn zu der Glasschüssel.„Also, ich meine, ich bin mir nicht – “, wollte Ahmed sagen, doch da hatte er bereits die Hand an die Oberkante der Schüssel gelegt. Als er mit den Fingerspitzen die klare Flüssigkeit berührte, spürte er ein leichtes Prickeln und wollte schon die Hand zurückziehen, als er sah, wie sich die Flüssigkeit trübte und eine unangenehme, gelbliche Färbung annahm. Erst dachte er, das sei eine natürliche Reaktion auf den Kontakt mit seiner Haut gewesen, doch dann packte ihn der Lehrer unwillkürlich an den Schultern und riß ihn zurück, fort von der Versuchsanordnung. Das wissende Grinsen auf seinem Gesicht war verschwunden, und es zeigte nur mehr blankes Entsetzen.Die Flüssigkeit hatte inzwischen das Aussehen einer dunkelgelben, undurchsichtigen, dickflüssigen Pampe angenommen, und die Schüler zogen sich verängstigt in die Ecken des Versuchslabors zurück. Das allgemeine Murmeln verfestigte sich zu einem Schrei aus dem Mund von Thomas, Ferdits Sitznachbar, der nun in einem Anfall von Panik alle Mitschüler in seiner Nähe von sich stieß und im Begriff war, nach hinten umzukippen. – Losse bekam einen Stoß von hinten und schlitterte in die Mitte des Raumes, gegen den Versuchstisch. Sie griff nach der Tischkante und klammerte sich daran fest; als Thomas am Boden aufprallte und erneut schrie, zog sie sich blitzschnell und mit tänzerischer Gewandtheit hoch –

17Losse fiel und fiel. Der Flugwind sauste ihr um die Ohren und raubte ihr fast die Sinne. Sie konnte nicht abschätzen, wie lange sie bereits gefallen war, aber auf die Vorbereitung auf einen plötzlichen Tod war eine schnelle Ernüchterung gefolgt. Doch nun glaubte sie bereits den Boden des Schachtes zu erkennen, der schneller und immer schneller auf sie zuraste –

18

20

Page 21: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Losse tastete nach einem Halt und spürte den Rand der Schüssel zwischen ihren Fingern. Sie reckte sich auf, rutschte ab, und ihre Finger glitten an dem kalten Glas nach unten. „Nein!“, schrie Ferdit und wollte auf sie zu stürzen; „Paß auf!“Doch es war bereits zu spät. In dem Augenblick, als Losses Finger die Flüssigkeit berührten, erfaßte Ferdit ein überwältigendes Gefühl der Panik, das ihn kraftlos zu Boden sinken ließ. Wieder hatte er das Gefühl, eine dunkle, unnennbare Macht würde in seine Welt eindringen und sein Leben unwiderruflich verändern.Zuerst dachte er, irgendetwas versuchte, die Wand zu durchbrechen, aber bald wurde ihm klar, daß die Wölbung, die er sah, keine Ausbeulung in der Wand, sondern eine in der Wirklichkeit war.Ein gleißender Lichtblitz schoß aus der Öffnung, die nur für einen Moment aufplatzte und sich sofort wieder schloß, und verwandelte die Welt für einige Sekunden in eine einzige gleißende Fläche.Der Schein zog sich schnell zurück, doch Losse blieb noch einige Augenblicke von einem blendend hellen Schleier umhüllt, bis sich das Licht auch hier verflüchtigte und den Blick auf Losse freigab.Aber Losse war nicht mehr vorhanden; jedenfalls nicht mehr in ihrer wirklichen Form. An der Stelle, wo sie gestanden war, stand eine Statue, wie aus Glas, in der sich das Lampenlicht rätselhaft spiegelte. Aus unsichtbaren schrägen Schlitzen in ihrem Körper floß Blut, das sich auflöste, sobald es den Boden berührte. Das Blut rann widerstandslos an dem Glaskörper herunter und hinterließ keine Spuren.Erst nachdem Ferdit für einige Sekunden steif vor Schreck auf dieses undenkbare Bild gestarrt hatte, fand er seine Bewegungskraft wieder und wollte auf die Erscheinung zulaufen. Doch bereits nach wenigen Schritten rutschte er auf dem glatten Boden aus und schlug mit dem Hinterkopf auf den Fliesen auf. Ein Schleier senkte sich vor seinen Blick, doch bevor er in die gnädige Dunkelheit der Ohnmacht versinken konnte, sah er noch, wie der Blutfluß aus dem unmöglichen Glaskörper versiegte und sich die letzten Gerinnsel an den unteren Enden der imaginären Schlitze sammelten.Kaum waren die letzten Tropfen versiegt, wurde Losse erneut von einem gleißenden Lichtblitz eingehüllt und war dann mit dem Licht verschwunden.

19entfesselung:

gellend heult garm / vor gnipahellires reißt die fessel / es rennt der wolf.im riesenzorn / rast die schlangemit dem wolfe zieht / die wilde schar.

20Losse schloß die Augen. Sie tastete blind nach dem Knopf für die Automatiksteuerung des Gleitbootes, um sich zumindest für kurze Zeit auf die Bezwingung der Kopfschmerzen zu konzentrieren, die sie vor wenigen Minuten überfallen und seither nicht wieder losgelassen hatten. Auf einmal hatte sie das Gefühl, daß irgendein unbestimmter Teil von ihr mit gewaltiger Wucht zerschmettert würde. Sie zuckte wie unter körperlichen Schmerzen zusammen. Das Gleitboot neigte sich durch die Gewichtsverlagerung leicht zur Seite, und irgend-etwas schien seine Fortbewegung zu hemmen. Losse öffnete verwirrt die Augen, als sie den Widerstand bemerkte. Sie befand sich in einer scheinbar unendlichen, tiefen Schwärze, in der schemenhafte Figuren von noch dunklerer Farbe zu wogen schienen.

21„Zentrale Moch? Remy Deleuze, Außenstelle Kleinberg. Ein außergewöhnliches Ereignis – oh ja, sie wissen schon. Nun, jedenfalls befinden wir uns gerade auf dem Weg zu einem Nexus, der offenbar in irgendeiner Weise mit der Entladung zu tun hat. Ja, wir haben weitere Entladungen in dieser Richtung beobachtet, möglicherweise sind Sie in Ihre Richtung hin untergegangen. Wir sind in diesem Moment angekommen – ich melde mich wieder.“ Der alte Jeep hielt unsanft vor dem schmucklosen Zweckgebäude an, wodurch Deleuze beinahe aus dem Sitz geschleudert wurde. Unter leisem Fluchen kroch er aus dem Wagen, strich seinen fadenscheinigen Anzug glatt und steckte das Handy in die Tasche.„Sie sind bereits da“, sagte der Fahrer. „Die Trüffelschweine.“Deleuze blickte sich hastig um: Tatsächlich, zwei Polizeiwagen und ein Krankenwagen standen vor der Einfahrt des Gymnasiums aufgereiht, und gerade öffneten zwei Uniformierte das Tor für die Sanitäter mit der Kranken-trage.„Ferdit Alessio“, ließ sich Deleuze mit einem Mal vernehmen. „Wir suchen Ferdit Alessio. Vierte Klasse. Im Untergeschoß.“ Bevor die Trüffelschweine noch reagieren konnten, war er bereits in der Aula der Schule und steuerte auf die Stiege zu. Er erreichte das Labor noch vor den Sanitätern, doch zwei weitere Beamten waren bereits damit beschäftigt, die aufgeregte Klasse zu beruhigen und den Lehrer nach Einzelheiten zum Vorgefallenen zu befragen.

21

Page 22: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

„Hinaus hier“, sagte Deleuze, indem er den Raum betrat. „Geordnet und langsam hinaus und die Stiege hinauf in die Aula. Wir haben hier drin einen Klaustrophobiker.“Für verwirrte Blicke und Fragen war keine Zeit; der Lehrer hatte ihm bereits im Geiste zugestimmt und scheuchte die Schüler aus dem unseligen Laborraum. „Ferdit Alessio?“, fragte Deleuze indes in die schiebende und drängende Gruppe hinein, doch schon bevor er ausgesprochen hatte, wußte er, wen er suchte. „Komm mit“, erklärte er ohne Weiteres. „Es geht weiter.“Ferdit gehorchte.

22hitze und auflösung:

surt zieht von süden / mit sengender glutvon der götter schwert / gleißt die sonne.riesinnen fallen / felsen zerreißenzur hel ziehn die männer / der himmel birst.

23Langsam senkte sich das Gleitboot auf die bunt markierte Landefläche; kaum hatte es den Boden berührt, als sich die Hafenkuppel schon wieder lautlos darüber schloß. Mit unsicheren Bewegungen räkelte sich Losse aus dem Pilotensitz und kletterte aus dem Gefährt; die Luft in der Landehalle war dünn und trocken, und durchsetzt von einem schalen Geruch von Maschinenöl und Schweiß. Über der transparenten Kuppel türmten sich schwere Wolken; zu beiden Seiten versperrten ihr hohe Werkzeugschränke die Sicht, und der einzige Ausgang war ein niedriger, spärlich beleuchteter Stollen, der offenbar in einen tiefergelegenen Raum führte.Losse folgte den Leuchtanzeigen und betrat den Stollen; als sie eine kurze, konkave Stiege hinuntergestiegen war, fand sie sich in einem hellen Raum wieder, wo sich die braungoldene Wand- und Deckenvertäfelung in den glatten Bodenfliesen spiegelte. An der gegenüberliegenden Seite des halbkreisförmigen Raumes waren zwei schlichte Türen; Losse bewegte sich, scheinbar ohne es zu wollen, auf die rechte zu und blickte, eine Hand auf die glatte Vertäfelung gelegt, durch das große Schlüsselloch in den Raum dahinter.Dessen Beschaffenheit war nicht so einfach zu erkennen; erst nach einiger Zeit bemerkte sie, daß sie auf ein Netz hinunterblickte, unter dem seltsame Gestalten hin und her liefen; es waren zwei von ihnen, erkannte sie endlich, und es waren mit Sicherheit keine Menschen.Sie sollte die andere Tür probieren.Mit einem tiefen Atemzug löste sie sich von dem unwahrscheinlichen Anblick und trat, mit beträchtlicher Anstrengung, als müsse sie gegen einen starken Windstrom ankämpfen, einige Schritte zurück in die Mitte der Vorhalle.Losse, entscheide dich.

24Ein Flammenstoß erschütterte die Erde. Wenige sahen ihn kommen, noch weniger sahen ihn und kamen lebendigen Leibes davon, doch alle spürten die Begleiterscheinungen: Stoßwellen rasten durch die Erde, brachen zuerst hier, dann dort an die Oberfläche, rissen tiefe Gräben auf, ließen Gebäude einstürzen und Seen verdampfen. Die Menschen flohen aus den Städten, wähnten sich am Land in Sicherheit; doch es war nicht mehr zu kalkulieren, wo als nächstes die dünne Kruste der Erde aufplatzen würde.Ferdit sah im Rückspiegel die Straße aufbrechen. Neben ihm saß Remy Deleuze, der rätselhafte, stämmige Kerl, der ihn ohne weiteres aus dem Schulgebäude entführt hatte, offenbar aufs Höchste konzentriert und unberührt von dem Kataklysmus, der ihnen dicht auf den Fersen war.„Du brauchst nichts zu sagen, Junge“, brummte der Fahrer, als er Ferdits panischen Blick bemerkte. „Wir tun alle, was wir können.“Ferdit blinzelte; der Lärm hatte aufgehört. Rund um sie ging die Zerstörung weiter, doch hier, im Jeep, war es vollkommen still. – Wie lange schon?„Wohin fahren wir?“, fragte er endlich, nachdem sich die Situation, schrecklich und unglaublich wie sie war, nicht zu verändern schien. „Worum geht es hier eigentlich?“„Immer geradeaus“, kam die Antwort. „Immer weiter. Hab keine Angst.“

25Im Hauptquartier der Gilde brachen die Wände zusammen. Irgendwo aus den Tiefen des Berges ertönte ein Rumpeln, ein langgezogenes, häßliches Geräusch, das selbst den massiven Fels zum Schwingen brachte; aus den untersten Stollen drangen bereits Hilfeschreie und dichte Staubwolken heraus, bevor die Feuertüren sich automatisch schlossen und alle, die sie noch nicht passiert hatten, ihrem Schicksal überließen.

22

Page 23: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

„Eine einzige Fahrt“, schrie Frater Antonius in sein Funkgerät. „Mehr ist unter keinen Umständen drin. Der Fluchtzug muß in spätestens drei Minuten starten; dann können wir nur mehr versuchen, ihn mit Autopilot zurück zu schicken. – Wo ist Ra?“„Zentralarchiv“, drang die Stimme des Großmeisters durch die zunehmenden Störgeräusche. „Ich aktiviere das Siegel.“„Mitgehört?“„Mitgehört; geht sich aus.“ – Durch die glatte Wand neben Frater Antonius zog sich mit einem Mal ein Riß; mit einem markerschütternden Knarren gaben die Verstrebungen nach, und der Boden des Ganges begann sich zu senken. „Es ist soweit“, flüsterte Frater Antonius, indem er sich mit Händen und Füßen weiter vorwärts zu bewegen versuchte. „Wir sind zu weit gegangen.“ – Doch da hatte er bereits wieder sicheren Boden erreicht, und von purem Überlebensinstinkt getrieben hastete er auf die Anschlußstelle des Fluchtzuges zu.Er erreichte ihn nur Sekundenbruchteile vor dem Großmeister; von allen Seiten drängelten sich Leute in das riesige, röhrenförmige Gebilde, und es war noch nicht einmal die Hälfte der Besatzung eingestiegen, als sich die Türen auch schon mit Gewalt schlossen und das Gefährt sich in Bewegung setzte. Keinen Augenblick zu spät, wie sich erweisen sollte; denn keine zwei Sekunden nachdem der Zug den Bergkomplex verlassen hatte und auf dem Flugfeld der Gilde zu stehen gekommen war, erhob sich eine riesige Staubwolke aus allen Wunden des Berges und trübte das gleißende Sonnenlicht, das bis jetzt den Ort der Zerstörung beschienen hatte.„Gerentz! Zoesser!“ Simon Ra war unter den ersten, die den Behemoth wieder verließen; er steuerte sofort auf eine niedrige Garage zu, die am Rande des Flugfelds stand. „Keine Hubschrauber für euch. Wir nehmen den Jeep; Homberg soll uns fahren.“„Wohin fahren wir?“ fragte Zoesser, als er zum Großmeister aufgeschlossen hatte.„In die Stadt. Wir werden erwartet.“

2610. September Eine Kerze, und eine Rose, in einem Raum voll mit dunklen Möbeln und rotem Samt. Romantisch und angstmachend. Vampire? Mein linker Fuß tut weh.

27„Du bist nicht reif.“Losse erstarrte; die Türschnalle schien an ihrer Handfläche festgefroren zu sein. Die Tür – die Tür zum linken Raum, zum Raum der Rettung, des Friedens, der Ruhe – war noch nicht einmal zur Hälfte geöffnet, und schon wurde sie abgewiesen. Sie konnte nicht sehen, wer da sprach; aber obwohl es eindeutig eine männliche Stimme war, formte sich in ihrem Bewußtsein das Bild von Vanima, die sich genüßlich auf den dicken Polstern des Gästezimmers räkelte und hämisch lächelnd mit dem Schlüssel spielte. „Aber ich muß hinein!“„Du paßt nicht hinein. Es würde alles von dir abfallen. Du bist ja noch gar nicht am Leben.“„Nein“, sagte sie, und stemmte sich erneut gegen die Türe; doch diese fiel mit unerbittlicher Gewalt ins Schloß. „Nein! Ich muß hinein, ich kann ja gar nicht anders!“Sie glaubte, von drinnen ein hallendes Lachen zu hören, doch im gleichen Moment kam ein Wind auf und verschluckte selbst ihre verzweifelten Rufe. Vergeblich klammerte sie sich noch an der Türschnalle fest; vergeblich suchte sie mit Händen und Füßen einen Halt an der glatten, getäfelten Wand: Sie wurde unerbittlich fortgetragen, hinaus in die Luft in die Wolken: Sie hatte die falsche Tür gewählt.Sie würde nie wieder stehenbleiben können.

28Rund um den abgeplanten Jeep der Gilde erstreckte sich ein Bild der Verzweiflung. Unzählige Menschen stürzten unablässig von hierhin nach dorthin, offenbar ohne eine Ahnung davon, was zu tun war; doch niemand näherte sich dem Fahrzeug, in dem Großmeister Simon Ra und die Fratris Antonius und Vagus einem unbekannten Ziel entgegenstrebten. „Das Auge kann nicht stillstehen inmitten dieser Zerstörung“, sagte Frater Vagus endlich. „Wir sind verloren.“An der nächsten Straßenkreuzung stand ein junger Mann, nur mit einem dünnen Lendenschurz bekleidet, und lächelte mit penetranter Lässigkeit der Wolke der Vernichtung entgegen. „Kommen Sie mit“, sagte Ra, als sie den Jüngling passierten. „Wissen Sie, was hier los ist?“„Das Feuer“, sagte der Junge unberührt; es schien ihm keinerlei Mühe zu bereiten, mit de Wagen Schritt zu halten. „Alles zerlegt sich, bewegt sich immer schneller und verbrennt.“ –„Stehenbleiben, Fahrer!“, bellte Ra nach vorne; „wir sind da.“ Und wieder zu dem jungen Mann gewandt: „Wir konnten nichts dagegen tun. Wir waren vollkommen überrascht.“„Überrascht?“ Der Fremde lachte leise. „Dabei ist die Hitze doch ganz regelhaft gestiegen. Das letzte Mal –“„Das letzte Mal?“ Hinter dem Rücken des Großmeisters verlor die Nationalbank ihre Gestalt und löste sich in eine düstere Trümmerwolke auf. „Welches letzte Mal?“„Atlantis“, antwortete der Junge grinsend. „Weltreich-Calypso. Aussteigen und mittanzen.“Sie stiegen aus und tanzten mit. Durch das Straßenpflaster stiegen Gasblasen auf.

23

Page 24: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

29am siedepunkt:

die sonne erlischt / das land sinkt ins meervom himmel stürzen / die heiteren sterne.lohe umtost / den lebensnährerstarke hitze / steigt himmelan.

30Die rauhen Hanfseile scheuerten ihre Haut auf; sie wollte fliehen, doch konnte sie mit den Händen allein nichts ausrichten. Kurz gesagt, ihre Lage war miserabel.Kaum hatte sie den rechten Raum betreten, war es auch schon zu spät gewesen, ihren Fehler zu erkennen: Das Netz, das sie durch das Schlüsselloch gesehen hatte, zog sich auf Bodenhöhe durch die tiefe Halle – und sie war genau in seiner Mitte gestolpert, war mit den Beinen durch die Schlaufen gefahren und saß nun fest, rittlings in den Tauen verschlungen, und ihre zuckenden Beine waren in Reichweite der Bestien. Vergeblich zerrte sie mit den Händen an den Seilen, bis ihre Haut aufriß und Blut über ihre Unterarme rann; vergeblich strampelte sie und wand sich in ihrer Gefangenschaft; jederzeit konnte eines der Biester zuschnappen und ihr mit seinen messerscharfen Menschenzähnen die Beine vom Rumpf trennen. Sie sah sich schon mit blutenden Bein-stummeln über den Fliesenboden der Vorhalle rutschen und vor ihrem nutzlosen Gleitboot zusammenbrechen: Sie hatte die falsche Tür gewählt.Die Bestien im unteren Teil der Halle hatten den Hinterleib eines Pferdes, darauf aber einen menschlichen Oberkörper; eine gewisse Schönheit war ihnen durchaus nicht abzusprechen, doch ihre Boshaftigkeit war Losse von Anfang an bewußt. Sie wollten ihr Blut, und wenn sie es sich bisher noch nicht geholt hatten, so konnte das nur daran liegen, daß –Oder auch nicht.Losse hob die Arme vors Gesicht, musterte noch einmal ihre Handflächen: Kein Blut.Tiefe, klaffende Schnitte; bleiches, zuckendes Fleisch; aber kein Blut. Ihre Haut war wie die einer Leiche.Es muß alles in meinen Füßen sein, dachte sie, alles rinnt nach unten; sie streckte die Beine, das Bein: Sie waren zusammengewachsen. Kein Blut.Die Kentauren stürmten aufeinander los; erst jetzt bemerkte Losse, daß jeder ein kleines, spitzes Horn auf der Stirne hatten, womit sie sich nun gegenseitig zerrissen. Als der letzte Pferdekörper seinen Geist aufgab, als der letzte grollende Seufzer aus dem schrecklichen Menschenmund des langsameren Verlierers entwich, erschlaffte auch das Netz; und Losse wand sich, schon wieder beinahe zweibeinig, aus seiner Umklammerung heraus.Sie stand jetzt am Boden des Raumes. Vor ihr die Tür. Sie mußte laufen.Irgendetwas war da draußen; und sie mußte es fangen.

31Und mit einem Mal schälte sich wenige Meter vor ihnen ein massiger, dunkler Block aus dem Nebel, der schon seit Kilometern über der Straße hing. Ferdit sah den Nexus in der gleichen Zeit wie Frater Remigius neben ihm; beide schrien auf, doch im Augenblick des Erkennens war es bereits zu spät. Die Situation in dem rumpelnden kleinen Jeep hatte sich innerhalb weniger Sekunden von einer gewissen resignierten Aufregung zu einer jener neoarchetypischen Gefahrensituationen gewandelt, für die das limbische System des Menschen noch nicht ganz gewappnet war. Für einen Moment schien die ganze Szene still zu stehen; der rätselhafte, unscharfe dunkle Block vor ihnen, das Klicken der Kupplung, der aufheulende Motor, als der Fahrer in seiner Verwirrung auf das falsche Pedal eintrat; die Vorderlichter des Jeeps schienen heller zu leuchten, während seine Insassen ihre Hände um den nächsten scheinbar festen Punkt krallten; das überarbeitete ABS ratterte und kreischte – und dann kam der Aufprall.Die Karosserie schien auseinander zu brechen; Ferdit sah, wie sich die Seitenwand auf Deleuzes Seite einbeulte und den Adepten binnen Sekunden zu einer blutigen Masse zerquetschte; er sah, wie der Fahrer durch die Windschutzscheibe flog und in der Dunkelheit verschwand; er hörte das Krachen und Quietschen von zerbröselndem Metall. Er selbst schien sich auf merkwürdige Weise außerhalb der Szene zu befinden; zwar spürte er den Hitzeschwall, als der Tankinhalt explodierte, er hörte auch den scharfen Knall, er spürte auch die Druckwelle, die ihn aus dem verglühenden Wrack des Autos hob; doch nichts davon berührte ihn wirklich, die Glassplitter schienen widerstandslos durch seinen Körper zu gleiten, der Stahlträger rasselte kühl an seine Stirn. Ferdit bewegte sich jetzt nicht mehr aus eigenem Antrieb. Er mußte sich nicht rühren1, da sein Körper jetzt Ein Ding war, das zum Fortkommen keine Zerlegung mehr brauchte noch zuließ. Der Wind trug ihn in seinem Schoß und hob ihn hoch hinauf; die Erde unter ihm war eine schwärzliche, mit Brandwunden übersäte Wunde, aber Ferdit war frei, so schnell und so frei wie nie zuvor in seinem Denken. Alles war tot und verging; aber Ferdit flog.

1 Newton’s First Law of Movement: Nothing stirs if it doesn’t have to.

24

Page 25: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

32„Essen ist fertig!“

/ | \

Fourth Movement: TMPwherein the primary matter is consolidated for the second time, and then split up into the inevitable balance of opposites

(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Frau, die empfindet und morgen lieben wird; das ist Desdemona, die sich nicht kennt, und Julia vor dem Ball; Versuch zum Nachdenken, das im Träume endet; Pandora und Neugierige, die den Mond bittet, das Begehren zu erleuchten, das im Schatten ihres Herzens kauert; harmlose Bradamante, die unter ihren langen Zöpfen einschläft und Endymion gleicht mit dem blühenden und stolzen Körper! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will seine Lockungen nicht spüren; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)

Der Zug polterte durch die Dunkelheit; Losse ahnte etwas, wollte die Welt nicht sehen, klammerte sich blind an die kühle Stange und hoffte, es würde aufhören, einfach vorbei sein, aus.Als sie die Augen öffnete, stand die U-Bahn still, und auf dem Sitz neben ihr lag eine Rose.Sie blickte nicht einmal auf, um zu sehen, was die Anderen davon hielten; ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Blume, dieser unwahrscheinlichen, grazilen Erscheinung, Auswuchs eines unbedachten Wunsches, ein Zufall im Gewebe der Wahrscheinlichkeit. Sie zitterte am ganzen Leib, als sie die Hand danach ausstreckte; erst jetzt bemerkte sie, daß sich der Zug mit unverminderter Geschwindigkeit fortbewegte und die Rose selbst auf dem speckigen Sitz herumtanzte.Als sie nach dem dornigen Rosenstiel griff, fiel mit einem Mal die Blüte auseinander; die ätherischen Blätter zerstäubten, schienen teils in der Luft aufzugehen, teils im Sitz zu versickern. Mit einem leisen Schrei der Überraschung bemerkte Losse, daß sie sich am Daumen gestochen hatte, so daß ein paar Tropfen ihres rosigen Blutes über ihre Haut rannen.Auf ihren Laut hin wurde es vollkommen still im Wagen, und mit einem Schlag wurde sie sich bewußt, daß sie das Zentrum der Welt war und alles ihr zublickte. Berauscht von Schmerz und Schwindel hob sie langsam den Kopf, um sich der Herausforderung zu stellen.Vor ihrem Sitz stand eine schmale Gestalt, ein hochgeschossener Jüngling, ein junger Mann in auffallend altmodischer Kleidung, und wandte ihr scheinbar ungerührt den Rücken zu. Aus allen Richtungen züngelten Blicke nach Losse, schienen sie festnageln, paralysieren zu wollen; doch sie blickte auf das Blut in ihrer Hand, krümmte den verletzten Daumen und floß aus dem Sitz, schwebte durch den Mittelgang, den Blick spöttisch und selbstsicher auf den Ignorant vor ihr gerichtet. Die Feuchte, die Heldenhafte, die Makellose eilte auf ihn zu als ein schönes junges Mädchen, mächtig, von prächtiger Gestalt, hoch gegürtet, schlank gewachsen, edel, von hehrer Abkunft, an den Knöcheln funkelnde Schuhe mit goldenen Riemen. Sie ergriff ihn bei den Armen, und es geschah alsbald, daß er sich schnell der Erde näherte, der gottgeschaffenen, gesund, heil und wohlbehalten wie zuvor, bis an sein eigene Haus. – „Blutest du?“, fragte er, noch bevor sie ihn umrundet hatte. „Eisprinzessin.“Die Gespräche hatten wieder begonnen; die U-Bahn hielt und ließ neue Zuseher herein, ohne daß Losse sich stören ließ; sie war jetzt die Rose, sie hatte die Initiative, die Dornen, die Macht. Der Ignorant, nein: der Gnom, wurde vor ihren Augen zur eiförmigen Gestalt, wuchs dann wieder, er war schlank und kräftig und humpelte wahrscheinlich. Sie zeigte ihm ihren Daumen; ein wenig Blut tropfte auf den Boden, verschwand dort spurlos. Der Gnom lächelte ihr mit geschlossenen Lippen zu. „Du bist pathetisch“, sagte er. „Was hat dein Daumen denn damit zu tun?“Sie verließen den Wagen, blieben am Fuße der Rolltreppe stehen. „Wir müssen an unserer Kommunikation arbeiten“, sagte Er.„Hast du einen Namen?“„Drei Buchstaben, wenn du willst. T-M-P.“„Fünf Buchstaben. LOSSE.“„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“„Die Rose – “, versuche Losse zu erklären; sie stockte, als sie Seinen Atem an ihrer Wange fühlte. Er war heiß und trocken, und sein schaler, pilzartiger Geruch ließ sie erschaudern. „Sehr gut“, sagte Er mit unbewegtem Gesicht: „Es ist immer die Rose, nicht wahr? – Aber das meine ich nicht.“„Kommunikation“, antwortete sie. „Sprich nicht in Rätseln.“ „Meine Frage ist ganz einfach die: Hast du die Regel?“

25

Roland Mückstein, 03.01.-1,
Cours d’Amours
Page 26: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Primäre Amenorrhoe, sagt der weise Mann, wir werden spritzen müssen. Für zwei Wochen unter Beobachtung. Blut, mußt du wissen, Blut muß du lassen. Frauen lassen Blut. Du bist ein kleines Kind, Losse, ein unfertiges Ding, wenn deine Blüte noch nicht blutet. Verflüssige dich, wisse! das Hindernis ist nur in deinem Geist, und als du dich verkrampft hast, hast du dir die Möglichkeit zu bluten genommen. Du hast dich nicht verletzt. Du mußt essen, Eiweiß, Erfolg, und es wird Blut, das für euch hingegeben wird. Dies ist mein Leib, den ich dem Feuer opfere:„Ja“, sagte Losse knapp. „Seit fünf Monaten.“ –

- pubertäre hybris -„Ha, Lüge! branlish! museyroom! Sag nur, du hast auch Regen verbrannt und Flocken gezupft von der Decke, und – na? na?“ (Losse war jetzt eingeschüchtert, sie blickte ihren Quälgeist nur noch furchtsam an.) „Mit gestreckten Armen auf mich zuzulaufen wie eine Somnambule, Töterin, Verflüssigerin, was willst du eigent-lich?“ (Er hatte sie brutal am Arm gepackt und in die Mitte der Passagierhalle gezogen.) „Frag also, los doch, frag!“(Ihre Finger rieben nervös an dem Buckel in ihrem Nasenrücken; die Unterlippe krümmte sich wiederholt, um die oberen Schneidezähne zu berühren.) „Was soll das für ein Name sein, T-M-P?“ (Das war mutig, schon beinahe aggressiv gefragt; und er hatte schon gedacht, er hätte es ihr abgewöhnt.) „Drei Buchstaben, drei Namen? oder wie? oder was?“„Drei Buchstaben, drei Ebenen, eine Bedeutung.“ (Man beachte! : Er ist tatsächlich über seinen Schatten gesprungen. Irgendwie mußte er wohl bemerkt haben, daß er hier nicht nur das übliche Strohfeuer vor sich hatte.) „Ursprünglich sollte ich ja The Mad Prophet heißen, das ist der Verrückte Prophet, oder auch der Mad Philosopher, von dem Bierce immer wieder so herrliche Auszüge brachte. Aber darüber, meine kleine Mörderin, bin ich längst hinaus. – Ein Freund nannte mich einmal Thelema Mysterion Priapus, was durchaus zutrifft, vorausgesetzt, du schließt wirklich deine Augen (du wirst sie schließen, glaub mir, früh genug). In glücklicheren Stunden war ich bereits The Maiden’s Pyromeo und werde es wieder sein, und auch das sagt bereits viel über mein Wesen aus, nicht so viel allerdings wie mein Titel als Tenebrae Maximus Princeps, wenn du verstehst, was ich meine, (natürlich ist das blanker Hochmut, verleih mir). Manche sagen, ich sei in der Mitte zwischen Tiamaat und Pan, oder sogar schuld am Tod der Markéta Pichlerova (Idioten: mir die Verirrungen eines Zeitalters zuzuschreiben, das so getränkt war von Magie, daß für einen kleinen Wanderer wie mich gar kein Platz darin gewesen wäre); ebensowenig bin ich ein Anhänger, wie etwa mein Freund und Quartiergeber Zoesser, von Thelema und der Magick des Perdurabo (war er nicht einmal auch dein Lehrer, der alte Fröschequäler?). Im Oxford Dictionary of Abbreviations (Clarendon Press, 1992, Seiten 346, 347) wird TMP als “thermomechanical pump” gedeutet – sehr treffend, wenn du mich fragst – und die Permutation TPM mit “triphenylmethane” (übrigens auch “The Phantom Menace”); und noch unzählige andere Namen und Attribute habe ich im Laufe meines bisherigen Lebens ertragen müssen. Meine besten Freunde sogar, all die Weisen, sie wollen nicht und nicht davon lassen mir neue Bedeutungen zuzuordnen und mir entsetzliche Behandlungen zukommen zu lassen: Ich bin ihnen ihr Grobes und Feinstoffliches, ihr Abgesetztes und ihr Stinkendes, ihr Mann, ihre Frau, und manchmal ihr Hermaphrodites, was immer wie gerade von mir wollen. Mich korrodieren und erhöhen sie; sie sublimieren, reduzieren und überkommen mich, und sie filtern und waschen und wischen mich. Mit ihrem Salz und dem Schwefel, den Ölen und Soßen, den wäßrigen Laugen und Essigen, machen sie Koch-TMP und Brat-TMP, Salz-TMP und Räucherstange, TMP-Müsli, TMP-Pulver und TMP-Braten aus mir. Die alten Griechen sagten Tau (das Kreuz) Mü (das Boot) Pi (und die Hebräer: Pé as mouth giving forth); du wirst schwitzen, wenn dir aufgeht, was das alles wirklich bedeuten kann. – Du willst also die wirkliche, die wahre, die einzige Bedeutung meines Namens wissen, kleine Frau? Tanz Mit Pan, wenn du so willst: Aber du kannst mich nicht verstehen, so, wie dein Schädel brennt. Du kannst mich nicht bannen, Losse, du kannst mich nicht fassen. Ich habe keinen wirklichen Namen, ja nicht einmal ein wirkliches Ich.“ (Er fiel für einen Moment auf die Knie und blickte sofort darauf schon wieder auf sie herab; Er lächelte jetzt.) „So freundlich und nett bin ich, Losse. Ich würde keinen Andren jeh verletzen. Und wahrlich, von welch lieblicher Natur bin ich! und der schändliche Sohn eines schändlichen Vaters.“ – (Genaugenommen sagte Er das nicht, auch tat Er nichts dergleichen, und dennoch lag eine gewisse Faszination in der Art, wie Er Seinen Finger von der Hosentasche zum Auge führte, ja: damit einen Schutz- und Liebes-Reflex auslöste, und dann entglitt ihr ganz benimmbuchmäßig das Taschentuch, mit dem sie sich vor Seinem Atem schützte, und Er hob es elegant mit seinem Klumpfuß auf und führte es höflich an ihre reizte Nase: )„Perfekt“, (sagte Er,) „du verdammte Tussi. Du bist, ach was: Du bist doch weder Mann noch Weib.“ (Und ging.)(fit res amarissima)

Ahmeinarmen! woblistuhin? wasserlimachn?Awewewewewehg! Marihmah!

26

Page 27: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Und die Sterne leuchten, und die Nacht ist voll vom Duft der Rosen. Ein Lacherl läuft den Berg hinab, ein Duft rollt durch die Dunkelheit. Er ist Geist und in uns, wir sind Luft und in ihm. O verschmotene Träume, opsaaltermerde! Es ist glänzend, tot und so allein.Doch Issie weint. Was muttert sie?

Anc Deus no fetz trebalhas ni martire,ses mal d’amor, qu’eu no sofris en patz;mas d’aquel sui, si be.m peza, sofrire,c’Amors mi rai amar lai on li platz;e dic vos be que s’eu no sui amatz,ges no reman en lai mia nualha.

Que Dieus li det tant de ventura, per son bel captenemen e per son gai trobar, qu’ella li volc ben outra mesura, que no.i gardet sen, ni gentilessa, ni honor, ni valor, ni blasme, mas fugi son sen, et seget sa voluntat.

Tristans, ges no.n auretz de me,qu’eu m’en vau, chaitius, no sai on,De chantar me gic e.m recree de joi e d’amor m’escon.

Losse lag am Boden und blickte unter bittersten Klagen dem Flug ihres Gatten nach. Was sollte sie noch beginnen? Ihr Leben hatte angefangen mit der Rose (war’s ein Traum?), und ein ungeschlachter, angreifender Eber hatte sie verwundet, ihr die Seite aufgerissen und die Geister aus dem Leib getrieben, und da flog er! flog er wie die vielen, eine Libelle inmitten der Fliegen, ein Heuschreck inmitten der Schrecken, wie sie sein wollte, fliegen wollte, wie Vanima, wie die нимфетки.Und sie selbst? Ihr war versprochen worden, ihm ins Aug zu sehen; das hatte sie; doch jetzt war er fort und weg. Der Geist mit der Flöte, der Bock mit dem Einhorn, der Baum hatte sich in ihr gespiegelt und sich daran gefreut, sie aber war zu weich und ist zerflossen, oder: zu hart, um sich nach seinem Bilde formen zu lassen. Sie war nichts über ihm noch unter ihm; sie war ihm nichts, von vorne und von hinten; sie hatte alles falsch gemacht und nichts geschafft. – Doch was darum? Noch war sie LOSS, noch hatte sie die Karte (aus dem Bus) des andern Freundes, noch war sie nicht daran, sich vollends in der Gegend zu verlieren. Sie lebte gut, so wie sie war, wie es Forcalimo gesagt hatte. Sie war nicht Linie, nicht Fünfstern, nicht Spirale, lag auch nicht zu viel und stand nicht, sondern wolkte, flog und wellte sich. „Es scheint mir nämlich, daß für den Tanz als reine und eigene Kunst weder der reife Mann noch das Weib vorzüglich geeignet sind, sondern der Jüngling als ein Wesen, das noch zwischen beiden steht und noch gleichsam die Möglichkeiten beider Geschlechter in sich vereinigt.“ (Alexander Sacharoff): Der Schwan ist weiß und weich, & biegsam, & er gehorcht. Sein Hals ist Phallus, & sein Körper Kteis. So drückte sie die Fingerspitzen in die Kiesel und hob den Hintern vom Asphalt. So zerrte sie den linken Fuß darunter, ließ, als sie auf dessen Spitze saß, den rechten bogenförmig ausschwenken, knicken pyramid leg horizontal und zog sich hoch an dem unsichtbaren Geflecht, das in meterweise gestaffelten Schichten über der Oberfläche der Erde hing und für manche glücklichen Gestalten zu erfassen war.Die schiebende Menge verschluckte sie, und sie tapste langsam hügelabwärts, in einem synkopierten Rhythmus, ohne mit den Fersen den Boden zu berühren. Vor ihr lag der Fluß, und sie wartete auf das Signal, hineinfallen zu können, um a) zu treiben oder b) zu sterben. Es waren viele um sie, die den gleichen Gedanken hegten; alle warteten auf etwas Großes, wie den Einbruch des Himmels oder des Asphalts. Es kam aber nur das Signal.

hudoronwumyitonanbyijakutaridubikoskupolovenynazyvenzuhalufilosofundsonzijobaqi.voduzironiychizyelenyle-valasifapui. makarabuambeniporschtschechnodisaygentilsurhiytomachtizijobaquedonebeskenchyridion. magua-samaio. samaibotidajimyrkaibonuschemesiquamari. samaicorrodante.

An der Straßenecke gegenüber saß ein alter Mann von dessen Gliedern, soweit sie nicht durch das kurzgeschnittene Kostüm aus grobem, dunklem Stoff verdeckt wurden, eine unwahrscheinliche Anzahl an dichten, dunklen Haaren dem trüben Sonnenlicht entgegensproß; er spielte, scheinbar völlig in sich versunken, auf einer kleinen Ziehharmonika fröhliche Weisen, welche ein kleines, rundliches Mädchen an seiner Seite mit Begeisterung nachsang. Als Losse die Straße überquert hatte und einen Fuß auf den sicheren Gehsteig setzte, blickte der Alte auf und ihr direkt ins Gesicht.(o sodales, ludite) „Komm her, müdes Mädchen“, rief er mit väterlicher Stimme. „Setz dich doch zu uns.“Unsicher ging Losse auf die beiden zu und setzte sich schließlich, auf einen Wink des Alten hin, auf dessen Instrumentenkoffer.„Du reizendes Kind“, sagte der Alte in singendem Ton, ohne sein leises Harmonikaspiel zu unterbrechen, „ich bin zwar nur ein arbeitsloser Musiker, aber als alter Mann reich an Erfahrung. Wenn ich an deinen zögernden, unsicheren Schritten, deiner unnatürlichen Blässe und deinem beständigen Seufzen, nein, schon aus deinen traurigen Augen den Schluß ziehe – was man klüglich als weissagen bezeichnet – , so leidest du an Liebes -kummer! Also höre auf mich und versuch nicht wieder auf die Straße zu springen oder sonstwie deinem Leben

27

Page 28: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

ein gewaltsames Ende zu bereiten! Hör auf zu klagen, sei nicht traurig und bete zu Cupido, dem mächtigsten der Götter, der ein zärtlicher und verwöhnter Bursche ist und dessen Gunst du dir erbitten und erschmeicheln mußt. Es hilft dir nicht, hier die Kämpferische, die Dramatische zu spielen! Wenn du erreichen willst, was du ersehnst, mußt du nur warten, nicht davonlaufen, warten und sehen, was mit dir geschieht.“(vos qui scitis dicite)So sprach der Musiker, vor dessen Huld und Erhabenheit sich Losse, ohne ein Wort zu erwidern, nur ehrfürchtig verneigte, ehe sie weiterging.Ein leichter Wind war aufgekommen und scheuchte Taubenschwärme durch die Straßenschluchten. Von der sinkenden Sonne her trieben Plastikfetzen und lose Zeitungsblätter den Wandernden entgegen; Losse wollte die Arme ausbreiten und fliegen, aber sie konnte das Netz nicht ertasten, und ihr Feuer glomm nur mehr still vor sich hin. Wie die Kastanienbäume am Straßenrand wogten ihre Herzkammern im Abendwind hin und her, und was sie fühlte und hörte schien ausschließlich aus ihr selbst zu kommen, als wäre alles Andere nur Kulisse, zum schönen Schein und Widerstand gemacht.

- willing done -Nun gemahnten sie die Krähenschreie in den Lüften zur Einkehr; und im rosigen Feuer der Abendsonne wandte sie sich zu einem öffentlichen WC; sie dachte: „Die Stunde der Rast ist gekommen, und obwohl ich nicht einmal den Namen dieser Straße kenne, die wir doch niemals wieder finden werden (ach! du bist auf meinem Weg gekommen, dunkler Bruder, zu den Funkelseen und in den warmen Wald; und niemand weiß, was wir dort sprachen, als wir zwei, die wir im Garten jenes alten, weißen Hauses wandelten), so will ich doch dort Ruhe und Herbert suchen und nicht mehr länger weiterwandern: Denn schön erscheint mir dieser Ort, und Wohlgerüche umwehen ihn. Mich dünkt, der Hauch vieler alter Geheimnisse liegt hier, der Schatten prächtiger und wunderbarer Dinge, die er in seinen Schatzkammern, in edlen Plätzen birgt, und in den Herzen derer, die in seinen Mauern rasten.“Und als sie so die Treppen hinunterstieg, da schien es ihr, als ritte sie auf einem großen weißen Pferd, und selbst als sie das Schloß erreichte, wollte sie nicht mehr absteigen, sondern ritt – was der Kaiser nie durfte! – bis hin zum Thron und blieb, bis es ploppte, blieblieb, schaufelte nach ihrem Buch und und fond Laiban und brumm-brumm während sie vorgab zu lesen und erwetter wehrend sie liff. Siliff. Silivren. Sliffa. Sliff. uh

Inzwischen trafen sich Losses Dämonen bei Buysmans Phyllotaxis Irrsee, um einander zu berichten, was sich in den letzten Wochen an bösen Omen zugetragen hatte. Sie waren allegorische Wesen; der eine, Yllmaryon, hatte die Gestalt eines uralten Mannes, dessen Haut sich im Wald zur Borke gewandelt und dessen ganzes Aussehen sich an seine Freunde, die Bäume, angeglichen hatte; ein anderer, der Feuerflammende, ihm verwandt, kam in der Form eines lohenden Pentagramms. Auch ein zierliches Mädchen war dabei, in Lumpen gehüllt, die aber jedes Mal, wenn man sie nicht direkt ansah, von ihr abzufallen schienen; sie wurde von den Anderen Laika genannt, da sie sonst in einem uralten Park am Prager Weinberg wohnte. Ein weiterer Gast war Emil Glaend, ein Mann von weniger als dreißig Jahren, doch mit vollem Bart und den funkelnden Augen seiner Vorfahren; er blickte mit finsterem Gesicht in die Runde, stand stets ein wenig abseits am Ufer des nebelumspülten Bergsees und schien sich in der Gesellschaft überhaupt nicht wohl zu fühlen. – Neben Glaend hatte sich Arithmetock aufgepflanzt, der Dämon der Seefahrt: Er schien eine Kreuzung von Schiffsuhr und Klabautermann zu sein, mit hölzerner Haut wie Yllmaryon, aber von Wind und Meer durchlöchert und gefurcht.Als die Sonne hinter den Bergen verschwunden war und nur noch gefiltertes Abendlicht den Steinkreis erhellte, begann Yllmaryon seinen Bericht. „Wir alle“, sprach er, „fürchten Tû, den Bruder des Feuerflammenden, den Mörder der Adelaïde, der nun schon seit vielen Äonen versucht, in seinen finsteren Frühling zurückzukehren, in den Staat und den Kult, von dem er seit seiner Verzauberung träumt, zur Verehrung und Vernichtung unserer Großen Göttin, ihre Rille bestehe. Wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis jetzt noch überall seufzt und mit Schmerzen der Neugeburt harrt. Aber nicht nur sie, sondern auch wir selbst warten auf das Offenbarwerden der Bruderschaft, nämlich auf die Erlösung unseres Leibes.“ Und er fuhr fort, von den Vorzeichen zu berichten, welche ihn veranlaßt hatten, dieses Treffen einzuberufen; er erzählte von dem Hirschmagier, der sich in der Waldeinsamkeit auf den Langen Winter vorbereitete, von der Wilden Jagd, deren unglücklicher Zeuge er in einer Regennacht geworden war, und er gab weiter, was die alte Baumnymphe ihm zum Herbstanfang erzählt hatte von den düsteren, nassen Vorgängen in den Alpen und von der Neringa bis nach Dalmatien. In seinen Worten fauchten Werwölfe und heulten gefesselte Geister, so daß alle Anwesenden bis auf Emil Glaend erschauerten.Als nächstes erzählte der Feuerflammende, wie er in demselben Herbst inmitten der Ruinen von Blumau einer Wachpatrouille entwichen und ins Zentrum des abgesperrten und verödeten Dorfes vorgedrungen war, wo unter militärischer Beobachtung im knöchernen Licht des Mondes ein tiefer, stinkender Pfuhl aufgebrochen war, in dem sich Tsathoggua, die schwarze Ziege, genüßlich wand und ihre tausenden Abkömmlinge gebar. Da erbrachen sich alle bis auf Arithmetock, welcher einen starken Magen hatte, und Emil Glaend, der all das nur für elende Lügenmärchen hielt.Nun fragte Yllmaryon die kleine Laika, was sie aus ihrem Achet zu berichten hatte, und diese sagte, sie habe Losse in Gedanken Milchreis mit Rosinen kochen sehen, aus dem beständig Blasen aufstiegen, so daß er am

28

Page 29: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Ende beinahe, aber eben nicht ganz, übergekocht sei. Da wand sich Emil Glaend vor Lachen und forderte Yllmaryon mit abschätziger Geste auf, sein Untergangs-Szenario in dieses Bild hinein zu spiegeln. „In meiner Welt“, fuhr Glaend daraufhin fort, „in meinem Gesichtskreis steht jedenfalls alles zum Besten. Mehr noch: Seit Jahrhunderten schon erwarte ich Tû, denn sein Kommen verkündet einen neuen Frühling; das Kandelaber, das zerbrochene, wird neu geschmiedet werden, und der König soll es tragen. Laßt ihn doch kommen; es wäre nicht das erste Mal, daß ihr euch ohne Anlaß über ihn erregt!“Da schwiegen sie alle für einige Minuten, bis dann Arithmetock das Wort ergriff.„Noch hast du nicht von allen Zeichen gehört, alter Junge“, sprach er, „und auch du wirst am Ende der Mutter folgen, wenn sie uns Drachen gibt und mächtige Waffen, den Widersacher zu jagen, der ihr ewiger Mörder ist. – Ich habe alle Küsten dieser Welt bereist, und von den Flüssen und Bächen viele Nachrichten gehört, die anderen verborgen geblieben sind; überall fühlt es sich an, als würde im nächsten Moment der Himmel zerbersten und alles auf uns niederbrechen, was wir im Laufe der Zeit dort abgelegt haben. – Höre also, was ich geschaut: In den Ruinen von Suakin erhebt sich ein Schatten, und schwarzgesichtige Reiter strömen aus den Souks und blockieren den Hafen; an den Hamburger Kais werden täglich neue Bruchstücke uralter Schiffe angeschwemmt, aus den Tiefen der Meere aufgestört von einem dunklen Wirbel, der nun schon drei Schipper auf dem Gewissen hat und, während er die Elbe aufwärts wandert, giftige Dämpfe entläßt. – Im Bauch einer kleinen Yacht in Dalmatien probt der Widersacher seine Rituale, und es kann nicht lange hin sein, daß er sie auf festem Land erprobt. Und der haarige Prophet, der von den Sternen kam, hat sich im Meer der Träume den Piraten angeschlossen und haust nun die längste Zeit in einer finsteren Höhle in den Uferklippen von Ranabar, statt seine heilige Mission zu erfüllen. – Unseren wortgewandten Bruder Glaend scheint die Wiederkehr des Verdrängten nicht zu beunruhigen, doch er erkennt nicht die Zeichen der endgültigen Auflösung, er sieht nicht, daß die Rückkehr seiner Ahnen ihn nicht in den Mutterleib zurückversetzen, sondern ihn vielmehr der vollständigen Erstarrung anheimfallen lassen wird. Der Milchreis, den unsere Herrin, mögen ihre Flüsse ewig fließen, in Gedanken kochte, während ihre Kollegen und Freunde starben, ist nur ein weiterer Teil unserer Welt, die nun mit immer höherer Geschwindigkeit auf den Nexus, den Tod, den Stillstand zusteuert. Mein lieber neoromantischer Friedhofsgänger, Freund der Kerzen, in der Fäulnis ist keine Läuterung, und diese Dunkelheit wird ewig andauern. Oh, das Werk ist groß und ohne Hoffnung. Oh, das Werk ist groß und ohne Ziel.“Da blickten sie alle unvermittelt in die Mitte des steinernen Spargels, wo gerade eine Kugel aus blauem Feuer einen orangefarbenen Funken verschlungen hatte; und mit diesem Anblick verschwanden sie wieder alle in ihre Reiche. Emil Glaend war der Einzige, der sich nicht wie die anderen durch die Luft an seinen Platz begeben konnte; mit schockgefrorener Miene machte er sich daran, den grünen Hügel zu erklimmen, hinter dem das Reich der Wechselbälger lag; und als er endlich in seinem Schloß aus glasiertem Zucker angekommen war, fand er den Kerzenständer vor, wie er ihn verlassen hatte: intakt und mit allen seinen Klauen in das weiche Holz der Tischplatte gegraben.

Wissen Sie noch, wie es unserer Verlassenen erging?Die arme Lissa sitzt trinkelnd, zährend Thompas zurgund zinkt. Klingeteuil beschmutzt das Bild, all offen, mit Liebklang, und um die Ecke kein Schwann. Durndal! Wofürchtst dü Zähren, züsterne Eisholde, Tu tumbe frangasische Prinzipessin? Ihr Pollen ist fort, und die Biene: sie kommt erst im Winter wieder; (Doch komm! komm! komm!) wenn die Blume verblaßt und veraltet ist. Ungewißheit! Wenn er irgendwo ist, wird sie schon darum da sein: Und wenn es auch nirgends zu tun ist, so wird sie dennoch! Maskle! Der WAL, mon jouvain, gehört zu den Muttertieren, also geht das Wildschwein zu den Affen. Bring Todlos und Mörte, streu reus, reus, reus! Sie nutzt sich ab wie Reisekleider, bald ist sie schon nicht mehr zu sehen. Beiderzeits der tryste Turgenwall, doch wir wissen (alles offen!), was in den Schatten geschieht, jetzt, da der Tag heruntergestiegen ist von der Nacht und das farbige Blut in ihre Adern zurückkehrt. Mammy war, Mimmy ist, Minuskoline wird sein.Braunlishel, grabmach Tisanes, Vaníma, hat’s der Turm dir nicht verboten? Ein Blick in die verbotene Schachtel, so schönklang, dulcirima. All denkt Es offen, Es ätzt, Es frißt, Es eult! Stück für Stück, vor und rück, Glanz und Glück, das Licht wirbelt im Kreis und spaltet sich, ein Engelsschleier, Reygenbogen, Pop! Ob ei sie aktief ob feder passeve. Dasweras Finimus.Jetzt schneit es in ihren Gedanken, wir wissen (alles offen!), was sie tut: Etwas zerschunden und seelisch wund schleicht sie nach Hause, trifft (siehe oben!) ihre Vanima, sieht im Zug die Нимфетки und trottet endlich mit müdem Blick an der großen, schwarzen Mauer vorbei, steht jetzt an ihrem Fenster und träumt:Sie blutet. Ac primo quidem squalens pilus defluit, ac dehinc cutis crassa tenuatur, venter obesus residet, pedum plantae per ungulas in digitos exeunt, manus non iam pedes sunt, sed in erecta porriguntur officia, cervix procera cohibetur, os et caput rutundatur, aures enormes repetunt pristinam parvitatem, dentes saxei redeunt ad humanam minutiem, et, quae me potissimum cruciabat ante, cauda nusquam! Und dann, obwohl verwandelt, frißt es sie. (stetit puella rufa tunica)Einige Tage später traf ich Ihn wieder. Ich lief noch immer wie in Trance herum, und hinter jeder Ecke schien Mirima hervorzulugen, auf jedem WC türmte sich OC vor mir auf, schrie mich an! Klorake. und auf der Straße

29

Page 30: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

bewegte der Strom sich nur zäh vor sich hin, ich kroch durch die Nassen, nichtsehend, und von hinten stach Er mir mit ausgestrecktem Finger in die Schulter. „Wach auf!“(si quis eam tetigit, tunica crepuit)Ich sah Ihn an und erwachte. „Jetzt siehst du“, sagte er, „wohin dich deine Eitelkeit geführt hat. Wäre es nicht um mich, würdest du wohl bis ans Ende deiner Tage in geistiger Nacht umherwandeln; aber fürchte dich nicht, denn ich bin zu dir zurückgekehrt.“(eia!)„Zwar hast du mich verletzt mit deinem Dorn, Hyäne“ – und er strich mir die Haare glatt! – „doch habe ich mich in der Kammer meiner heiligen Mutter erholt. Sie wollte mich gar nicht mehr zu dir lassen, da bin ich fortgelaufen.“ –„Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich.(stetit puella, tamquam rosula)„Ich habe geträumt, von einer Rose. Eine Bestie kam und fraß sie auf; da wußte ich, was ich tun mußte.“ Er hob eine Hand und strich mir damit über die Wange; diesmal blieb ich vollkommen still. „Verzaubert hast du mich, Támisrâ“, sagte Er, „ja, du bist schön. Besonders diese feinen Wangenhärchen.“Ich mußte lachen, und alles zitterte, alles klimperte und klang.(facie splenduit, os eius floruit)Er sprach: „Verzaubert hast du mich, meine Schwester Braut; ja verzaubert, mit einem Blick deiner Augen, mit einer Perle deiner Halskette.“ Seine Finger malten Schmuck auf meine Haut, und mit den Lippen saugte er den Schweiß von meiner Stirn. „Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester Braut; wieviel süßer ist deine Liebe als Wein, der Duft deiner Salben köstlicher als alle Balsamdüfte. Von deinen Lippen, Braut, tropft Honig; Milch und Honig ist unter deiner Zunge. Der Duft deiner Kleider ist wie des Liebanon Duft. Schön bist du, meine Freundin, ja, du bist schön.“Ich wußte, das er log; spürte ich doch die Kante meiner Nase in seine Wange drücken, wußte ich doch, daß mein Körper keine Substanz hatte, ihm zu widerstehen. Wäre ich mehr, sagte ich mir, wären wir ähnlicher, ich würde dich küssen; niemand dürfte mich deshalb verachten. Führen wollte ich dich, in das Haus meiner Mutter dich bringen, die mich erzogen hat. Würzwein gäb ich dir zu trinken, Granatapfelmost. Ach, diese Wunde blutet noch; ich konnte nicht mehr tun, als ihm folgen.(eia!)

„Du bist mein Engel, mein Gespons“, sagt Er, „Du hast die KraftMein sternenloses Schicksal zu verwandeln,Die dunkle Bahn zu ändern. O zu spätGewinn ich deine Liebe! zu frühzeitigVerfiel ich dir!“ (Zurück in die Erzählzeit):

Wir saßen dann noch lange in diesem Kaffeehaus mit den großen Fensterscheiben; draußen war es dunkel, und viele Leute flohen vor der Straßenkälte herein, man vergaß ja fast, daß man hier in einer Oase war; das Fensterglas spiegelte nur das Licht zurück, und von innen sahen wir nicht, daß wir vom Dunkel umgeben waren. Es hatte begonnen zu regnen; die Leute trugen jetzt Regenschirme und nasse Mäntel.Er saß mir gegenüber, die Beine mit den meinen verschränkt, die Hände um ein warmes Glas Schwarztee gefaltet, und fing meine schweifenden Blicke auf. Seine Augen sind groß, die Pupillen tief. Meine Lippen sind rauh; ich möchte sie an seinen reiben.TMP ernsthaft: Weißt du noch, als wir uns das erste Mal begegnet sind?Ich war, wie meistens, wenn Er zu reden anfing, verblüfft, dann mußte ich wehmütig kichern.TMP: Ich habe gerade einen Döner gegessen, und es war mir ungeheuer peinlich. Ich wollte dich unbedingt ansprechen, aber das Essen war dabei ziemlich entmutigend – du glaubst gar nicht, wie schwierig es ist, beim Döneressen auch noch attraktiv oder zumindest nicht schweinisch auszusehen!Seine Lippen wölbten sich nach vorn, so daß ich die rosa Haut hinter den rissigen Wülsten sehen konnte. Er habe mich beobachtet, erzählte Er, lange bevor ich es bemerkt hatte, worin Er irrte; und lange Zeit vergeblich versucht, Blickkontakt zu mir herzustellen. Mir gegenüber, hinter Seinem Rücken, sitzt ein gekrümmtes Männchen, das einer fülligen Schönheit gerade eine Ansprache hält, die letztere offenbar sehr bewegt; eine fuchtelnde Hand ragt jetzt hinter Seinem Ohr hervor.TMP: und dann bist du in den Bus eingestiegen, hast dich in die hinterste Reihe gesetzt, wo dich dann dieser Türke angesprochen hat ...Ich: Ja. – Meine Gedanken rotierten um irgendetwas, vielleicht die Tränen in den Augen der Fülligen. – Quatsch.TMP: Er hat dir seine Visitenkarte gegeben. Du hast sie ins Geldbörsl gesteckt.(Er spricht nur leere Worte. Man vergißt es gern, doch deren Wirkung ist immens: Er macht die Körper rot, löst auf und wird zugleich coaguliert. Er ist darin wie in allem schneller als seine Gefährtin, auch wenn sie von manchen für unbesiegbar gehalten wurde. In einer anderen Gestalt erhielt er von Venus drei Äpfel, die wirft er

30

Page 31: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

ihr jetzt in den Lauf; er wird sie einfrieren, sie wird zu seiner Eisprinzessin werden.) Da ist sie! Ferdit Alessio, Favoritenstraße 24, 1130 Wien, das ist ein schlechter Scherz.Ich: Ich kann mich nicht erinnern ...TMP: Ferdit Alessio hatte Probleme mit dem Frauenzimmer; er wollte Mufti werden und all das. Das Kostüm ist sonst nicht weiter wichtig. Damals war ich vielleicht interessiert, weiter nichts. Ich suchte ja nicht, oder nichts bestimmtes.Ich: Ich ...TMP: Das hast du gut gemacht. Woher hast du diesen Gürtel?Ich: Den hat mir eine Freundin geborgt. Vanima. Sie ist sehr schön. – Er grinst jetzt ganz ekelhaft, das ist beinahe anzüglich. Was soll ich tun?TMP: Komm, wir gehen aufs Feld.Ich: Aufs Feld?TMP: Wo der Baum der Weisheit wächst. Da gibt’s ein ehemaliges Bordell, das klügste von allen Häusern, da sollst du tanzen.Ich: Tanzen?TMP: Ich werde dazu singen. Fürchte dich nicht; wenn er innerhalb des Kreises steht, kann er ihn nicht durchbrechen, wenn du ihn anmutig ziehst. – Deswegen muß ich ihm folgen.

Vergib mir, denn ich weiß nicht, was ich Tu.Die Kiesel fliegen rund um meine Schuhe, alles zittert, alles wirbelt mich herum, die Lampe hebt mich hoch und der Saum meines Kleides, in Blut getränkt, schneidet aus der Nachtluft einen Kreis.Ich leide an der Mauer und zertrete den Beton, die Erde muß durch meine Füße erst erzogen werden. Die Königin ist tot, tu siehst die Schlangen, die sie rasend machten, sie sich winden ließen, wie die Bienen um den Kopf.Tu stehst mit Bart und Szepter, und mit Rückwärts-knien, und wenn ich dich nicht bannen kann und nicht verzaubern wirst du sterben, weil du dich zerlegen mußt in einer Welt, die dir zu weit ist.Was willst tu? weißt, der Faden ist gebrochen.

„Laß mich nie das Bild verlierendeiner marmorweißen Augen, des Gefühlsdas die einsame Rose deines Atemsin der Nacht auf meine Wange zaubert.Ich fürchte nur, an diesem Uferein Strunk zu werden, astlos, stumpf,dem Wurm meiner Verzweiflung nichts zu bieten:kein Blut, keine Blumen, und keine Erde.Wenn du mein verborgener Schatz bist,wenn du mein Kreuz bist, mein dumpfer Schmerz,wenn ich ein Hund bin, und du mein Besitzer,laß mich nie verliern, was ich gewonnen,und bekränz die Äste deines Flussesmit den Blättern meines fremden Herbstes.“(nach F.G. Lorca)

So sang der Verbannte;Es horchte die AlteIn nächtlichen Höhlen,Denkt Kinder und EnkelUnd schüttelt das Haupt.

Aus einer Seitenstraße ergoß sich ein Rudel finsterer Gestalten auf unseren Weg, gesichtslose, grölende Biester in schwarzen Kapuzenpullovern, die, vollkommen mit sich selbst beschäftigt, die heilige Ruhe der Nacht zerstörten.„Sie suchen nach Rosen“, sagte Er, indem er mich in eine Ecke drückte. „Es sind Tiere, wilde Bestien, die vielleicht vor langer Zeit einmal Menschen waren. – Sie wollen zurück, weißt du?“Ich spürte Seinen Atem an meiner Halsschlagader, Seine Hände umfaßten meine Oberarme. Hinter seiner Schulter umarmten sich zwei der düsteren Gestalten und fielen nach einigen Verrenkungen unter knatterndem Gelächter zu Boden. „Du mußt auf deine Rosen achtgeben, heutzutage“, sagte Er. „Wenn eine Bestie Rosen frißt, verwandelt sie sich in ein menschliches Wesen. – Cholam Shevarim, wo sind wir hier!“, rief Er zu den Fremden am anderen Ufer hinüber, und ein boshaftes Lachen wie „Johovoho!“ kam zurück, dann zerstreute sich die Meute in die Seitengäßchen, und ich war wieder mit Ihm allein.Sein Atem roch jetzt unangenehm und säuerlich, und ich spürte Seine Hände meine Arme hinabkriechen, Seine Finger an meinem Handrücken, Spinnenfinger, Knochenfinger. Mein Geliebter wurde vor meinen Augen zu Feuer, Er wurde vor meinen Augen zum Skelett. Als Er sein Knie zwischen meine Beine schob, stieß ich ihn beiseite. „Geh sofort von mir weg!“, rief ich.„Perfekt“, sagte er. – Ich lief noch im selben Moment davon.

31. August Wieder das Tal, wieder die Kinder. Ich laufe weg, und plötzlich bin ich beim Brunnen. Die Steine sind kalt, und von unten kommt kalte Luft; die Sonne leuchtet langsam in den Schacht hinein und zeigt die

31

Page 32: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

gekräuselte Wasseroberfläche, da bin ich, mein Spiegelbild, sonnenumrahmt, wunderschön. Ich will hinein, die Kinder drängen, aber ich trau mich nicht.

Ich wußte lange nicht, wo ich noch hingehen sollte; ich war doch schon überall gewesen, und außer ständiger Bewegung war in dieser Stadt nirgendwo Ruhe zu finden. Auf einem leeren Spielplatz fand ich zwei küssende Gestalten in Stein gemeißelt und dachte, Er ist grausam, Er ist gemein und will mich schwach und milchig sehen, weiß, ich bin zerbrechlich, will mich zwingen, Seinem Lied zu folgen. Ich hasse Seine Hände und liebe Seine Knochen; ich hasse Seinen Atem und liebe Seine Hitze. Er istgroß und schlank, jedoch der Oberkörper etwas tonnenförmig; die Schultern sehen breiter aus durch seinen grauen Mantel; der Bart ist wie ein Büschel Schamhaare am falschen Ort, ist die Spitze des Gesichtsdreiecks; ein Affe von den Zügen her, wenn man will, überzeichnet, und mit hypnotischen Augen, die immer wieder etwas anderes wirklich werden lassen. Er will mich brechen und mich vergewaltigen; hat er nicht schon?; nurIch aber liebe ihn, sagte sie und stand in der Mitte des ruckelnden Abteils (ihre Arme und ihr Kleid hingen an ihr herunter, und sie wünschte, der Wind würde darunterfahren und ihr den Schweiß vertreiben); Ich aber liebe ihn, sagte sie und stand in seiner Kirche (sie sah, daß seine Ohren unterschiedlich groß waren, ein kleines bißchen nur, und seine Haare standen wild darüber ab); Ich aber liebe ihn, sagte sie und stand auf einer Brücke (der Ort des Wahnsinns, wissen wir, ist immer eine Brücke).Da plötzlich konnte ich riechen, wie sich der Himmel zusammenballte und herunterdrückte auf die Erde und der Staub des Asphalts sich vor dem Gewitter fürchtet. Und ich weiß, seine Hände dufteten nach Essen, nach Resten von Zwiebeln vielleicht, und sein Kragen nach Ihm und sein Mund nach unserem getrockneten Speichel. Und er schlug ein, obwohl ich durch mein Spiel mit der Rose vorgewarnt war schlug er ein in mich und zerschmetterte meinen Schädel meine Mauern und wenn ich es nun, da ich aus mir gefallen bin, von außen betrachte, ist es zum Lachen und zum Weinen zugleich: denn er quält mich, und ich liebe ihn, er spricht in Rätseln, und ich verstehe.(sicut splendor fulguris / lucem donat tenebris)

Jeder große Spiegel hat in der Mitte einen Riß.Er verfolgt mich, sogar bis hierher, bis hinter diese Tür, die mir bisher als Tor in eine völlig losgelöste Welt erschienen ist; er war bei mir, als ich in der Garderobe mein verschwitztes Hemd gegen den Sportanzug austauschte, war bei mir, als ich die Schlüssel fand, war bei mir, als ich nun in der Halle auf dem Boden lag und den Spiegel verfluchte, das Fenster und das Licht. Natürlich wagte ich es nicht, die Lampen einzuschalten, lieber zitterte ich im Dunkeln und wand mich auf dem kalten Kunststoff unbeleuchtet; doch von der Straße tröpfelte noch Licht herein, das Fenster, das an heißen Tagen immer offen stand, das keinen Vorhang trug, das andere Spiegelglas, hinaus zur Welt. Ich fluche ihm.Ganz langsam sank ich nieder, spürte, war nicht aufgewärmt; ich fühlte, meine Beine streckten sich, die Sehnen klagten. Ich fluchte ihm und fürchtete, ihn damit nur zu locken; ich schrie ihn an, er sollte gehen, trat ihm zwischen die Beine, und wurde selbst getreten und mißbraucht. Ich sah ihn vor mir, Oberkörper vorgereckt, sah ihn als Spiegelriß, er kehrte um; er blickte kalt und kehrte um; er grinste schmal und kehrte um; er drehte sich von mir und zeigte seinen Rücken, grau und einförmig, ein Loch darin? er selbst ein Loch; er kehrte um und stieg mir noch im Umdrehen auf den Fuß; er sagte „gut“, nicht schmollend, ernsthaft, unabänderlich, und ging.Wenn er mich schlägt, muß ich ihm dennoch schmeicheln.„Nein“, hauchte ich in den Spiegel, während meine Muskeln schrien. „Komm zurück. Ich kann ohne dich nicht leben.“Der Spagat war gelungen; ich blutete; mein Körper zerlegte sich. Wer würde mich wieder zusammensetzen?

Die Häuser lehnten sich aneinander, als der kalte Nachtwind zwischen sie drängte und leise pfeifend über das naßglänzende Pflaster schlich. In den Mauerritzen hingen noch die ersten sus-Klänge von Purple Rain, und kaum war der hohle Gesang des Windes verhallt, drängten auch schon einsame Schritte die freien Rhythmen dazu in die Gasse, und ein halbherzig gespitzter Mund wisperte eine Art Melodie dazu. In Schwarz gekleidet, den Bestien ähnlicher als dem strafenden Ritter, als der er sich gerade noch gesehen hatte, stieg der verrückte Prophet in die Gasse, die Stirne gefurcht wie ein Künstler, der an eine schwere Arbeit geht; am höchsten Punkt des hochgewölbten Straßenpflasters blieb er stehen und nahm Witterung auf. Seine Lefzen senkten sich und sein Hals straffte sich, indem er kaum merklich den Kopf zurücklegte und seine Nasenflügel blähte: Stählerne Luft heute Nacht, Regen und Staub, und die Kälte der Verzweiflung.Sie konnte nur nach oben gehen, konnte nicht hinunter. Sie war verzweifelt, brauchte Widerstand. Gegen den Wind, gegen die Steigung. Sie liebt die Schwerkraft, sie liebt mich. Er gab mit einem Ausfallschritt den Takt an und ging weiter, rhythmisch frei, aber beständig. Die Häuser blieben, horchten noch, wie er verschwand; der Wind kam nach und spülte seinen Duft aus allen Winkeln.

Er fürchtet seine Träume, sagt er ihr; seine Gedanken fliegen. Er träumt von einem Biest, das Rosen frißt. Er

„Though Daphne fly from Phoebus bright, Yet shall they both be one,

32

Page 33: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

träumt seit Tagen, Wochen, immer nur das Eine. Er weiß, er macht ihr Angst mit diesen Worten; er ist Prophet, er kündet, was ihr blüht. Aber er ist auch schwach und arm, von seinen Träumen nur geplagt, und sucht bei ihr Verständnis, vielleicht Trost. Erzähl mir was du denkst, komm, TMP, ich liebe dich, erzähl mir, was du denkst.Da war sie! Ihr Geruch, eindeutig, ihre Spuren in der Erde. Den Weg hinauf; er mied die Kirche. Dort, weiter oben, waren Leute, leere Hüllen, einsame Gestalten, die sich in Gruppen durch die Leere drängten, die eilten, heimzukommen, oder liefen, fort. Eine von ihnen berührte ihn; er fauchte, griff mit beiden Klauen nach ihrem Arm; dann sah er ihre einfältigen Augen, schreckgeweitet, Todesangst, doch stumpf, und ließ sie fahren, stieß sie weg, ging weiter.Komm, TMP, ich liege dich, erzähl mir, was du willst. Komm, TMP, ich liebe dich, Komm, TMP, ich fresse dich, Komm, TMP, dein Maul, Komm, TMP.

And if you understand this right, You have our hidden Stone.For Daphne she is faire and white: But volatile is she;Phoebus a fixed god of might, And red as blood is he.Daphne is a Water Nymph, And hath of Moysture store,Which Phoebus doth consume with heate, And dryes her very sore.They being dryed into one, Of christall flood must drinke,Till they be brought to a white Stone: Which wash with Virgins milke,So longe untill they flow as wax, And no fume you can see,Then have you all you neede to aske, Praise God and thankfull be.“(Anonymous)

In der Mitte des Tanzraums, Studio 1, liegt Losse auf dem Rücken, ausgestreckt; sie trägt das enge Tutu ihrer Kinderzeit, ein ausgeleiertes T-Shirt darüber, und ihre Haare liegen wirr um sie herum. Sie war zum Sterben krank und betete nur mehr um Erlösung. Nach ihrem Tod würde sie Rosen auf die Erde regnen lassen. Vor ihrer rechten Fußspitze ist der große Spiegel mit dem Riß, in den sie nicht zu sehen wagt, weil darin zu viel von ihr steckt, zu viele Stunden, zu viel Angst; ihr linker Fuß zeigt auf den Seitenraum, den spiegellosen, der durch einen nie geschlossenen Vorhang vom Studio abteilbar ist, und von dem ein gekipptes Fenster zur Straße hinausspiegelt. Links von ihr ist die Wand mit der Trainingsstange und eine kleine Tür in einen Abstellraum; und oberhalb der Ausgang in den Vorraum, die Metalltür, davor die Hängestiege links hinauf zum Zwischenstock, die Galerie, Studios 3-6, dann rechts die Rezeption mit dem Regal dahinter, wo in kleinen Holzvierecken paarweise Ballett- und Gymnastikschuhe gelagert sind; und die offene Lade an der Innenseite der dunkelhölzernen Theke, in der sie den Schlüssel zum Tanzraum fand. Halblinks nach hinten, an der Rezeption vorbei, geht es zum Stepsaal, wo erst neulich dieser fremde Gitarrist gespielt und sie die ganze Zeit beobachtet hatte, aber das Klappern der Schuhe auf dem frisch eingelassenen Parkett, die Hände der Flamencotänzerin, das hatte sie getröstet. Daneben ist die Garderobe, deren Vordertür nie zu ist, und die auch hinten eine Tür zum Stepsaal hat; niedrige Volksschulgarderobenbänke aus drei breiten Sprossen mit alten, innen meist beschmierten Holzkästchen dahinter zu beiden Seiten des Raums, und Losses Kleider ausgestreut links auf der Bank: Pullover, noch mit T-Shirt drin, verschwitzt, noch warm, wenn man hineingreift; die Socken, einer auf der Bank, einer darunter; die Hose eingeknittert, Röhrenbeine, irr gefaltet, in der Eile nur hinausgerutscht und rein in die Gymnastiksachen aus dem Kästchen. Danach zum Ausgang, innen Holztür, dann die schmale, ausgetretene Steinstiege, Altbau, Wien, hinunter, zur Metalltür, der Grenze der Welt, der Durchgang zur Kälte der Nacht.Wir sind jetzt draußen, im Innenhof des Hauses, von dessen rechter Seite uns in Halbstockhöhe die Fenster der Tanzschule entgegenstarren, alle noch dunkel; von oben fällt schwaches, nicht zu kaltes Licht in den viereckigen, nicht ganz rechtwinkeligen Hof mit dem betonierten Boden. Hinter uns ist die Metalltür, die Grenze zur anderen Welt, auf der anderen Seite der Durchgang zur Straße, dort rechtsrechts das Fenster zum Tanzraum, zum Studio 1. Die Wand links von uns ist ganz blank bis weit oben, wo vielleicht noch irgendwo Fenster auftauchen; wir sehen sie nicht; vielleicht sind auch unscheinbare Pflanzen im Hof, etwa links hinten oder grad vor uns, gleich neben dem Durchgang, Topfpflanzen, graugrün, kaum bemerkbar. Der Wind geht hier nicht, darum liegt auch der Dreck ganz still auf dem Beton.Es betritt nun ein spitzbärtiger Jüngling die Szene; er hat das Aussehen eines jungen Mannes, dessen edle und regelmäßige Züge durch böse Dünste angewelkt sind. Verzweiflung und Stolz malen sich in seinen ernsten, funkelnden Augen; sein Haar mag struppig und seine Brauen düster sein, und Manchem mag die ausgeprägte Habichtnase nicht auf den ersten Blick nicht behagen, doch sein luftiger Gang und seine zuvorkommende Freundlichkeit zersetzen sogleich jede Abneigung, die bei seinem flüchtigen Anblick noch erwachen mochte. – Er trägt altmodische, elegante Kleider, eine dunkelgrüne Schnurhose und einen ebensolchen Janker, unter dem gelegentlich ein feuerfarbenes Hemd hervorblitzt; der große, mit einer Hahnenfeder verzierte Hut bedeckt fast das ganze schwarzgelbe Gesicht. Angenehm, sittig grüßt er jeden von uns, vorzüglich aber die Frauen und Mädchen pflegt er mit verbindlichen, wohlgesetzten Reden auf anmutige Weise anzusprechen.Nachdem er sich also an uns vorbeigedrückt hat, streckt er die Hand nach der Klinke aus, nach der Metalltür, um die Grenze zu durchbrechen. Er geht, wie wir flüchtig bemerken, ohne Schatten, denn er hat seine drei Wesen

33

Page 34: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

wieder zu einem gemacht; darum kann er nun handeln und Welten verändern. Er öffnet die Tür, hinter der, wie er weiß, seine entflohene Geliebte zu finden ist.Wir folgen ihm über die dunkle Stiege und durch den Gang, vorbei an der Rezeption und hinein in den Tanzraum, wo Losse sich aufgerichtet hat und hektisch tanzt, als müßte sie sich gegen etwas wehren. Er tritt mit ausgestrecktem Arm auf unsere Protagonistin zu, so, als hätte er sie schon von weitem erkannt und ins Auge gefaßt; sie schwitzt, das sieht er auch, hat ihren Schweiß bereits gerochen, ihre Witterung; er weiß, sie kann sich seiner Anziehungskraft nicht erwehren, will aber, da noch zerlegt, vor ihm fliehen.„Es ist wichtig“, sagt TMP; etwa in der Mitte des Raumes verläßt er den geraden Weg und zeichnet mit langsamen, betonten Schritten einen Bannkreis gegen den Uhrzeigersinn in den Raum. Sie tanzt weiter, spasmodisch, zergliedert, jetzt aber zu ihm hin; ächzt seinen Namen. Er hält an (Hearing his name called before many instants had passed he most sagaciously ceased to walk about and turned, his look now charged with purpose.), folgt ihr mit dem Blick, wie sie, ächzend und seufzend, sich immer mehr dem Boden nähert.

„Bleib stehen“, sagte TMP.Losse seufzte ein letztes Mal auf und hielt sich an der Gymnastikstange fest. „Ich kann nicht“, sagte sie, „ich sterbe.“ Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt. Ihr rechter Fuß kratzte am Parkett, bis in die Zehenspitzen gestreckt; in ihrem Rücken, seitlich der Wirbelsäule, spannte sich eine Sehne und lockte erneut Tränen der Wollust in ihre Augen, machte, daß sie sich flennend auf die Lippe biß. Zitternd wandte sie den Kopf zur Seite, ihre ganze Miene geschlossen.„Mach die Augen auf“, sagte TMP.„Was ist da hinten?“„Mach die Augen auf.“Losse ließ sich an der Wand zu Boden gleiten, bis sie das kühle Holz an ihrer Wange spürte, in eine schmerz-hafte Grätsche gedehnt und beständig vor und rückwärts wippend.„Hör mir zu, Kutchuk Hanem“, sagte TMP. Losses Tutu knarzte. „Hör mir wirklich zu:“Emil Glaend hing an seinem Kerzenständer; weißer Speichel tröpfelte ihm aus den Mundwinkeln und rann spiegelnd an dem feinen Schmiedeeisen hinab. An der Wand hingen in dunklen Pastellfarben die Bilder seiner Ahnen: Cecil Glaend, sein Großonkel väterlicherseits, der seinen schlechten Ruf durch ein abnormes Faible für dicke Jungfrauen erworben hatte; ihm wurde in den Wirtsstuben noch nachgesagt, er hätte aus dem überzähligen Speck sich eine Suppe kochen, die dermaßen abgespeckten Opfer aber makabrerweise doch am Leben lassen. Seine Bankette waren im ganzen Landkreis berühmt, und wenn auch allen Gästen eine gewisse Neigung zur Perversion nicht abgesprochen werden konnte, so waren die meisten doch hoch angesehene Vertreter ihrer jeweiligen Schicht, Großbürger, Aristokraten oder reich gewordene Bauern wie der fuchshaarige Jethro, der dem Vernehmen nach noch heute, wenngleich aufgrund eines unglücklichen Vorfalles kopflos, auf seinen verödeten Gemüsefeldern fröhlich Umtrunk halten sollte. Jethros Tochter hatte dann den nächsten Abgebildeten geheiratet, jenen damals noch jungschönen Alastair aus einer Nebenlinie des Geschlechts, der sie allerdings noch um drei weitere Frauen überleben sollte; ihre vielgerühmte Nacht im Speisesaal hatte den Kerzenständer unrühmlich beschädigt, doch ein kunstfertiger Schmied aus dem nächsten Dorfe hatte aus den aufgefundnen Splittern bald ein festes, neues Bild geschaffen, das die blutigen Spuren jener Braut vergessen ließ und zurückerinnerte an noch fernere Zeiten, als das Kunstwerk in Hylea Glaends Schreibstube gestanden hatte: Diesen hatten sie gefunden, eines Tages, als seine früheren schriftstellerischen Durchbrüche ihn längst dar-nieder und im Stich gelassen hatten, wie er, tränenüberströmt und unter unerhörtem Kreischen, auf den gepflegten Rasen des Schloßgartens einstach, die Krume hochwirbelnd und sein rauchiges Gesicht damit beschmierend, dem ersten erschrockenen Beobachter aus rasselnder Kehle entgegenschrie, Sie, die er immer geliebt habe, Sie, sei eine Hure: die Mutter, die Würdigste und Ehrenhafteste, die Urälteste Erde sei nichts als ein wollüstiges Freudenmädchen, das seine Reize noch dem Niedrigsten unverhohlen darböte und sich von jedem fremden Hauch befruchten ließe.Man hatte kurz zuvor nicht unweit des Landstriches, in dem sich das Anwesen der Glaends befand, die Überreste eines Meteoriten geborgen, ein Fall, der zu jener Zeit noch immer mit großem Zweifel betrachtet wurde; der unglückliche Lord aber gab noch an demselben Tag Befehl, sein Schloß möge von allen bis auf seinen liebsten Diener geräumt werden, und er selbst ließ sich in der höchsten Kammer des Nordturms einschließen, die seit jeher sein Lieblingsort gewesen, und wollte niemand zu sich lassen außer den dürren Veith, der ihm das Essen brachte. Eines anderen Tags dann verließ ihn auch noch dieser; man fand, zwei furchtsame Generationen später, neben seinem Skelett Fragmente eines letzten, großartigen und wahnsinnigen Romans, den Lord Hylea wohl in Hunger und Einsamkeit begonnen hatte, durch selbige aber auch wieder verlassen mußte: Von ausschweifenden Festen und glanzvollen Menuetten war da die Rede, von Intrigen und heimlichen Mysterien-spielen, und von einem alles umspannenden Maskenball, auf dem ein grausiger schwarzroter Harlequin all jene heimsuchte, die es wagten, vor Anderer Blicke ihr wahres Gesicht zu entdecken.Das Bild dieses ausgezehrten, von wechselhaften Leidenschaften getriebenen Mannes war längst stark verblaßt, und, wie so viele Gegenstände in dem alten Raum, die nicht zum täglichen Gebrauch gehörten, dazu von einer

34

Page 35: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

dicken Staubschicht überzogen, die seine Gesichtszüge verschwimmen ließ und dadurch selbst die Möglichkeit zu einem Anblick des Alten als der seinem Geist entsprungene Harlequin selber bot.Die Erde, die er umgewühlt – denn der Vorfall hatte sich zu seiner Zeit sehr schnell herumgesprochen und war vielen seiner ebenso erfolglosen Geistesgenossen zum Vorbild und zur Inspiration gediehen – wurde mit einem heute moosüberwucherten Gedenkstein versiegelt, der in großen Lettern den unentschlüsselten Stammspruch des unglücklichen Dichters verkünden sollte: ME IGITUR, gefolgt von dem nicht weniger kryptischen Familien-wappen der Glaends, einem schwarzroten Schild mit der goldenen Signatur N.C.R., zu einem Dreieck an-geordnet, darauf. Das selbe Siegel prangte auch am Fuß des Kerzenständers; dem Vernehmen nach ging ein Großteil jener Wort- und Symbolgeheimnisse, die sich durch die gesamte Familiengeschichte zogen, ursprünglich auf die Rechnung des potenten aber eigenbrötlerischen Ayma, dessen Lebenswerk der Versuch einer vollständigen Erfassung seiner Sprache gewesen war, ein riesiges, größtenteils unleserliches Volumen voller Notizen, mit unzähligen Querverweisen von einem Wort zum anderen, mit Ableitungen, symbologischen Intermezzi, mit Abbildungen und in das Papier geriebenen Erdspuren. – Nil Ayma, der jüngste Sohn, hatte das Werk fortgesetzt, war so zu einer schwächlichen Kopie seines Vaters verkommen, kinderlos und alleingelassen, und hatte erst kurz vor seiner rätselhaften Flucht aus dem Stammland das ganze vermessene Projekt seinem Neffen Hylea überlassen – der es gelesen und weggeschlossen hatte, um seinen eigenen Weg des Wahnsinns zu gehen. Keiner von ihnen war je über die Sprache bis zur Wirklichkeit gekommen; Emils Geist war schon früh in das Leben abgeglitten, und seine alles beherrschende Ina hatte ihm den Zugang zu den finsteren Vermächtnissen verwehrt. Hatten seine Vorfahren so vergeblich den Weg aus der Sprache, der Geschichte, dem Tod gesucht, so sah sich ein verzweifelter Emil nun in einem reißenden Fluß gefangen, auf der blinden Suche nach einem rettenden Ast, nach einem stillstehenden Punkt, an dem er sich festhalten, sich festmachen, sich selbst erschaffen konnte –und dann lernte er, das Wasser erstarren zu lassen, lernte, aus dem eigenen Leben Geschichte zu machen. Wie schon Aesha ihren unbekannten Liebhaber, so hatte auch Emil seine Ina inmitten des rauschenden Brigg Fair gefunden; beseelt von einer gänzlich neuartigen Schwermut, von einem intensiven Gefühl für jedes sterbende Herbstblatt erfüllt, in den Gedanken gejagter Kinder und verlorener Händler schwebend, nahm er mit einem Mal alles auf und erstarrte in demselben Moment, als all die Sorgen, all die Zweifel, die prachtvolle Tapete der Vergangenheit und die schreckenerregende Leere jeder möglichen Zukunft in einem einzelnen Geist zusammen-liefen. Er sah eine offenbar leere, womöglich konkave Gestalt, ein Weibchen, der treibende, pathetische Teil seiner Stammeserinnerungen, nicht der kalte Wahnsinn seiner Männer. Er wußte in diesem Moment, daß seine Augen durchsichtig waren und irgendwo in seinem Kopf ein Licht brannte, das in die glatte Hülle dieser Frau alles Weibliche aus seinem Geist hineinstrahlte; und er belebte sie dadurch, er brachte sie zum Tanzen, brachte sie zum Küssen und in sein Quartier; er gebrauchte ihren Körper und hielt sich an jedem ihrer Glieder fest, so lange, bis seine Augen sich wieder verfestigt hatten und nun seinen eigenen Blick nach innen spiegelten.Emil Glaend rieb seine Stirne an dem kalten Metall des Kerzenleuchters; das rauhe Gußeisen fraß sich in seine Haut, in seinen Schädelknochen, und während er noch den erlösenden Schmerz, der von seinen Lippen tropfte, mit der Zunge einzufangen suchte, vermischte sich sein Blut mit dem der Geliebten. Die Erzählung endet mit einem lauten Knall, als der Leuchter, von Emils zuckender Hand gestoßen, auf die Tischplatte kippt und seine diversen Ausläufer tief in das weiche Holz eingräbt. Mehr brauchst du nicht zu wissen.Der Blick des Erzählers fällt nun endlich wieder auf Losse, welche in einer verdrehten Stellung zwischen der Gymnastikstange und dem Boden hängt. Sie hat aufgehört zu atmen.TMP, die Augen halbgeschlossen, beugt sich zu ihr herunter FACIT QUINTO MENSE SPIRACULA und siehe da! sie beginnt wieder zu atmen.„O meine Schöne“, sagt das Biest, „kannst du mich riechen? Ich bin es, dein Donas, Ama-uschumgal-an-na. Willst du nicht zu mir kommen, meine Schöne? A las, Alatheia, meine liebe, liebe Jenny, Geschtinanna, Belit-seri, Uschumgal-an-na-ge (pulchra tibi facies / oculorum acies); Du schläfst noch, willst noch schlafen, den Traum deiner Kindheit weiter träumen; Erwache! (capillorum series / o quam clara species!); Du bist schwächlich und ein zartes Wesen, frischer bist du als die Rose, weisser als Schnee. (rosa rubicundior / lilio candidior); deine Liebe, deine Haut ist wollüstige Gefangenschaft in Tirzah, ist Hobelbanat, ist meer; gisôtet hast du mich, mo airgeadach, calman geal. (omnibus formosior / semper in te glorior!)“Sie erwachte mit einem Zusammenfahren, als sie Seinen Atem roch. Die Welt setzte sich nur langsam wieder aus ihren Körperteilen zusammen. „Folge mir“, sagt Er, „Ma Belle. Komm schon, Es eult! Und laß dir raten, habe die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne; komm, folge mir ins dunkle Reich hinab. Komm, komm!“

Haud equidem credo, quia sit divinitus illisIngenium, aut rerum fato prudentia maior.

Sie folgt der düster strahlenden Gestalt in eine Wohnung, an der Kirche mit dem großen Heilandsmosaik vorbei, bei deren Anblick sie zusammenschreckt. Sie geht mit kleinen Schritten hinter ihm, doch immer nah genug, daß er sich nicht umdrehen muß, um ihrer Gegenwart gewiß zu sein. Er blickt mit düsteren Augen voran, im Gegen-satz zu ihr edel gekleidet. Sie blickt auf seine Haare, seinen Kragen; ihre Haut ist bleicher als die seine.

35

Page 36: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Jetzt wird es langsam Nacht in seiner Wohnung; ich werde bei ihm bleiben, ihm vertrauen, aber vorsichtshalber wachsam sein und warten, bis er schläft. Die Wohnung ist klein und warm und sehr gemütlich; das Bett ist breit, zerlegen, fast ein wenig schmierig; doch wenn man auf dem Rücken liegt wie ich, während er seine Schuhe von den Füßen klaubt, sieht man den Baum des Lebens an der grauen Zimmerdecke ganz leicht leuchten, die bereits leicht verwitterten, mit bunter Farbe hingemalten Kreise und die verzierten Linien, verspielt, mein großer Liebster, bis zur Decke. Er ist zu groß, um nicht bedrohlich zu sein mit seiner Liebe; aber ich werde ihm vertrauen, werde schlafen.Ich schließe die Augen, und es klingt nach Schubert, ja, es riecht nach Klaviermusik mit süßlichem Gesang. Ein Esel beugt sich über mich, ein Rosel streichelt meinen Bauch, ja, seine Ohren kitzeln meine Wangen. Der Esel singt (gracios!), [I.] Ich habe geträumt von einer Rose, Auf einem Rosenstock von drei. In all dem Wirbeln konnt ich nicht sehen, Ob meine Liebste war dabei. [II.] Husch um den Rosenbusch, Zehen zählen, husch, husch, husch! Ros und Hügel sind verschneit, und die Geister kreisen: Frauen aus vergang’ner Zeit, verblichene Gesichter, geschrumpelt, gepreßt und auf Papier getropft zu herrlichen Sonetten, ach! bistunette! und als leiche noch zerstückelt, gefolgt von den jüngeren, noch lebendigen, deren preis die liebe ist, tanzt zu meinen liedern! zu des gottes liedern! rund um den rosenstock grüße verstreuend, hin und her ich und wer sprach der doktor nimmermehr! und sie dürfen denn sie sind engelschmuck und [III.] armerosel eimenu du hängst geköpft und bleichst und saugst mich nicht und paßt! und zack! und [IV.] bleibnur und loch und atem und schweige und still und knochen und steh! und stein! verbrennen und frieren und kalt konservieren und alles zerbrechen dich nicht zu verlieren und dichmich zu habenlassen herzmich zu brüßenlassen herzmicheins flammicheins ziermicheins saugmicheins ach! und rundum umdie [V.] rosederwelt! dein mortaukelch isseins nur schalaus rubein! wieschömtas lichtinicher necktarös blutent austierem herzoharker pecher willich farbelyaben [VI] so thief wieder tropfen auf heißmarmorsplittern dort kreisentzwei beinen auf komm! auf der himmelsplate kommkomm! gelocktefangen paßt, zack, so grabmichunter aufgebrannt will fallen stoßen todfinden und! und! alle luft raus! wandgemalt raus! und zwei augen zwei lippen ein körper gefaltert geraupft und gemöchelt gehaucht und entschluffen geritzt und gespalten gebunden gedreht! gedreht! gewirbelt geblendet und schneeweiße fliepaßt undnein schlaffmirnieder undweg undniewieder du rosätherwelt! dornenlose erblüthe gelichtharpte thorin dievierte dieletzte dimittre dierote das schweigende dingsda der blütenbewohner erotender morgen thiefintier verborgen der strahl und das prinzma [VIII] gib fliegel mein schratzz jammir fliagol paszack ins kaltehinauf wodinblumewohonigt und ferneblestpan schilfrohrsiegen zehmichfnort knepfmich andubist unsekhmir dublinst! undulachest wie ein baum im wald fällt einsam blühter taumirnichtan mein ohr wurmzerfressen wächstu aus fleischmeinesfleisches und blutvonmeimblut und bist fremd und bist schön und bist ausmir gewachsen bist aus meinem kopf und die form meines geistes, und immer! nimmfettki! nimm Ki! dreht sich alles im Blumenfall-Tanz um den Stock, um das Kreuz, um die Rose, um mich! Dann ist Morgen; und all die weißen Blütenflocken fallen mit lautlosem Knall zu Boden. Durch Fenster und Vorhang und Augenlider kommt weißes Licht von der Morgensonne. Kether. Blut. Kether, Chokmah, Bi-, Blut, Binah, Blut. Bitterkeit. Malkuth, Jessod, Blut, Jessod, Hod, Nezach, Tiph’ereth. Ah ...

Ich erwache in seiner engen, vollgestopften Wohnung, in einem brennend heiß verschwitzten Bett; verkrampft liege ich da, fühle mich leer, und winde mich aus seinen Armen. Er grummelt nur ein wenig, blinzelt mir nur nach; ich muß jetzt ein paar Schritte gehen, über seinen Unrat, seine Welt; die Luft ist besser als das Bett; ich fliehe in den Gang, wo es nach Haus riecht mehr als nach Verlangen.Voll steht das Morgenlicht im Fenster, drängt mich beinah wie ein Keil im Raum wieder zurück; es schließt die wenigen tanzenden Staubflocken zu einem Prisma zusammen und schlägt wie Sonnenwind gegen meine Haut, als ich in seinen Wirkungsbereich trete. Die Welt ist verzaubert in diesem Licht; ich stehe nur, schließe meine Augen, fühle, wie mich der Tag wieder zu einem eigenen Wesen macht ... und bereit, mich wieder zu verlieren.Er rumort hinter mir, raschelt und steigt, blickt mir vielleicht kurz in den Rücken, ganz egal; dann geht er und macht Frühstück, guter Mann. Er läßt mich hier in Frieden und macht Frühstück. Er hat nicht das geringste Gefühl für Losse; sie ist für ihn das „Weib“, femina super bestiam.Ein Blick zurück: da steht er, noch kaum angezogen, mit durchgestreckten, dicht behaarten Beinen, schmalem Oberkörper, langen Armen, und macht Frühstück. Die Küche ist zu klein; es riecht nach Fett.„Ich träume schon seit längerem von einem Tier, das Rosen frißt“, sagt TMP; die Eier brutzeln. „Ein sehr beängstigender Traum. Weißt du, wenn Tiere Rosen fressen, werden sie zu menschlichen Wesen.“ An seiner Küchenwand eine speckige, braune Tapete, nicht viel anders wie bei uns, nur kleiner, jünger, Sechziger. „Viele von meinen Freunden haben das verlacht und mich darum mad Prophet benannt; just because I know that beasts will eat roses, just because I see the milk rising.“ Das Vorzimmer ist kühler, hier ist auch in allen Ecken Chaos, Kisten, Kleidungsstücke, Holzgestelle, Masken. Ein Buchregal, mehr noch: eine ganze Bücherwand, vom löchrigen Boden bis zu schimmligen Decke hinauf. Ha, Chaos und Staub und viele Notizzettel, die zwischen den Büchern hervorragen; Stapel und Reihen, ein einziger bibliophiler Balanceakt. Oben, auf der dunkelhölzernen Einfassung des Regals, ist eine kleinere Holzplatte befestigt, schräg zwischen Decke und dem rohen Bücherholz,

36

Page 37: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

auf der in dicken schwarzen Lettern ein grausiges Wort steht, DAATH, und rundherum flüchtig gemalte Tentakel, von Pflanzen oder Tintenfischen, in Rot und Schwarz.„Sie hören mir meistens nicht recht zu, und wenn sie es doch tun, verstehen sie mich nicht.“ Er klappert mit Geschirr. Die Hälfte der Buchtitel verstehe ich nicht; da ist eine „Pansophie“, ein „Ionesco“, daneben irgendwelche „Schlüssel“; darunter klebt ein kleines Etikett, Aufschrift: Theurgia; da sind Titel in seltsamen, massiven Schriftzeichen und andere in feiner, kalligraphischer Schrift, Taschenbücher und schwere, dicke Wälzer, zwei französische Titel: „Le Dragon Rouge“ und „Le Roi en Jaune“ (jeweils Figuren und Farben, nett); „Historia Glaennd“: Woran erinnert mich das jetzt? (stehenbleiben!) daher also! Nein, das will ich jetzt nicht auch noch lesen. Ah: ein dünnes, unmarkiertes Büchlein, mal sehen, was sich darin verbirgt –Seltsam: links gedruckt ein englisches Gedicht, rechts daneben in beunruhigender Klaue eine Riesenmenge Text mit Pfeilen und Querverweisen aufs Gedruckte, eine Arbeitsausgabe? So:

The Seeds of Love

[I.]I sowed the seeds of love,And I sowed them in the spring:I gathered them up in the morning so soonWhile the small birds so sweetly sing.

[II.]My garden was planted wellWith flowers everywhere.But I had not the liberty to choose for myselfOf the flowers that I love so dear.

[III.]The gardner was standing by,And I asked him to choose for me.He chose for me the violet, the lily and the pink,But those I refused all three.

[IV.]In June there’s a red rose bud,And that is the flower for me.I often times have plucked that red rose budTill I gained the willow tree.

(Somerset)

I.seeds: both metaphorical and literal (cf. IV,4 willow tree)spring means very early; while “the transformation from the primal death of the First Winter [in the cycle, TMP] to the blush of the First Summer” (e.fuhrmann) is not yet completemorning ... soon: in the context of spring, the beginning of the Blush, “the defloration of Night as Father Day heaves itself upon it, making it blush” (e.f.)the small birds seem slightly misplaced, conventional though they are. INQUIREIII.The gardener: Glauflicht, after having confessed & been absolved, after he has his friends had evaluated by God, still “fears the gardener”. Don’t go out of the mountains (where you have been born). Creeping from the womb, from the Mother Earth, walking out into the Open, gets you into the zone of influence of the Gardener, the Father, feared and yet waited for (terrible! cf. Meyrink’s “Angel”). And that this He (who is not I, nor meta, Freud to the contrary with his puerile symbolism), that Samweis, should tell me which way to choose (you see: once I trusted Him who reared me, Him who is of no impotance), leading me to weakness (but I have seen the mirror, man! I know that everything is terrible, and only Red, Red Fire can absolve me). Stay at home, old man! don’t you dare to listen nor intrude! You have no business at the Fire anyway: it is not yours. Listen: IT IS NOT YOURS! – you knew it, old man, didn’t you? You always did. And yet you tried. You tried! but it is I who will be dead, and you will live on feebly for all time. Wort des lebendigen Gottes.the violet, the lily and the pink: As colours, all “weak” approximations to red (intermediate rather than basic colours); ergo weak love, the meaningless follies of youth, as opposed to the Red of grownup passion. – As flowers: (note that there are three of them: “and which of its roses three / is the dearest rose to me?”, Browning)IVJune: I. Juno, sister & bride of Jove; II. the month June as “early summer” (of the rosebud, i.e. of womanhood; cf. Spring as “early in the Year of Life” above)bud: sthg. in an early stage of growth; the dewdrop is yet firmly enclosed within. This is the flame and the stone (ignis noster / lapis noster)to pluck: to make sthg. your own, thus in the long run killing it; as in “carpe diem”. You can pluck sthg. more than one time, whereas you can kill it only once. The dewdrop is not lost, nor found, by plucking. (cf. also Claudel)the willow-tree: mainly spreading, as sometimes a poplar; not merely embracing, but mourning (“Trauerweide”). Crowley’s TOWER in Tarot; 16=7 (krisis); Pé as mouth bringing forth

„Was ist das?“, frage ich, scheinbar müßig. „Was bedeutet das alles, was steckt dahinter?“ Er bringt den Geruch von Frühstück mit sich, von gerösteten Spiegeleiern, von Brot.„Ach, das“, sagt Er, „das ist eine alte Prophezeiung aus Somerset, wo unser alter Herr William Mortgole sein Unwesen getrieben hat, die mich sehr angesprochen hat. Es geht um den Kampf zwischen Tishtrya und Apaosha, Hund gegen Wüste. Es sieht so aus, als ob der Hund gewinnen würde, aber in Summe ist es immer noch der lachende Dritte. Der aus dem “red rose bud” entsteht. Du hättest nicht gedacht, daß er mit Dee zu tun hatte, was?“

Er war zu groß, um nicht bedrohlich zu sein mit seiner Liebe. Und dennoch zog mich jeder Bissen zu ihm hin, und in den Morgenstrahlen lächelte ich dümmlich, lachte ich, umschlang ihn und verzehrte ihn mit meinen Augen. Wir gingen auf den Markt; ich war nah an ihm. Wir aßen, Spiegeleier, Brot, ich wankte mit ihm. Ich komme, Freund, mit Freuden. Wir gingen auf den Markt, und selbst die Kirche machte mir keine Angst mehr, als wir durch die Morgennebel zogen. Dann schrieb ich ihm meine Adresse auf die Hand und weinte glücklich zur Verabschiedung. Ich war ganz sein. „Geh schon weg“, sagte er und hielt mich fest. „Ich weiß ja jetzt, wo ich dich finde. Man beachte, daß Losse Rechtshänderin ist! Das hätten Sie nicht gedacht, was?“ Ich war ganz sein,

37

Page 38: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

und ging, und sah ihn in den Nebeln stehn, ein Schatten vor der roten Sonne, zu groß, um nicht bedrohlich zu sein mit seiner Liebe. Dann wandte ich mich um und lief davon, um nicht zu ihm zurückzulaufen.

- parce que dante préparait l’apocalypse -G r e g o r. Der Grasaff. Ist er weg?T h o m a s. Hast wieder spioniert?G r e g o r. Ich hab’s ausführlich wohl vernommen.Nun, heute nacht –?T h o m a s. Was geht dich’s an?G r e g o r. Hab ich doch meine Freude dran!

/ | \

Interlude: Love

“He loved her with an ardour –Such a hot one,

That her father had to guard herWith a shotgun.”

(Ovid, d.i. Ambrose Bierce, “The Devil’s Dictionary”)

(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Sanftes Geschlecht, dessen Anblick den Einsamen tröstet; ruhiges Geschlecht, das die suchenden Nerven einschläfert; zartes Geschlecht, das reines Vergnügen ausströmt; liebkosendes Geschlecht, das uns die Seele küßt; berauschendes Geschlecht, das uns nach oben führt; barmherziges Geschlecht, das uns unsere Träume gibt; Geschlecht der Jungfrau von Orleans, Geschlecht des Wunders! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will seine Dünste nicht mehr riechen; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)

PROLOGWas die Liebe betrifft, muß man scherzen. Sonst sähe man Augen! würde Augen im Buch leuchten sehn und schlimm enden, womöglich hinter der Schlußseite des Buchs. Teuflische Augenmasquen und verfolgende Fratzen: das Bizarrium der Commedia Rosicruciana (Falling Towers, Jerusalem, Athen, Alexandria, Wien, London 1979-83; Unreal, Dublin, Prag, Zürich 1991, The Mime of Mick, Nick and the Maggies, Feenichts, Dublin, Paris 1922-1939),präsentiert (in Zusammenarbeit mit Dr. James FRAZER von der Miskatonic University, Arkham, Mass. (historische Beratung), a.o. em. Prof. Ekkehard FUHRMANN, A.M.R. (Choreographie), und Mr. Ernest ARTBUTHNOT, Ph.D., welcher einen Großteil der verwendeten Sklaven zur Verfügung gestellt hat), die

HIEROTOGAMIA SEMADARI,das ist

Die Heilige Hochzeit der Losse Anupadaka und des Thot Mega Perian,ubi gratiam prophanatum amittit; & Asino rosa substerni est,

Erster Versuch.

Dramatis Personae:DER CHORUS, eine Mondration von schwarzen Puppen, welche den Boden stampfen, die Handlung kommentieren und gleichzeitig ein Schafsauge haben aufLIKSOM (miramage), eine hexisch bezaubernde hellblonde Dame che quando bacia sta in punta die piedi, mit großem Kopf und kleinen Grübchen darin, gerade so lieblich wie ihr Schwesternbild im Spiegel, oh danke! bitte! sinti herrlich! köstlich! bistunette! Was für feinliche Hände du hast, zerbeiß nicht deine Nägel! Das Auge sieht und blickt nicht; die Nase ist gebieterisch, wenn auch die Nüstern offen sind. Der lebhafte Mund ist zu sehr gespalten. Die Haut durchweg gebräunt, von einem gleichmäßigen Ton vergoldeter Blässe, sticht grell ab gegen die kalte und immer steife Haltung.Die schönen Hände, das feine Handgelenk und eine gewisse Fülle der Formen, unter dem wenig passenden Schülerinnenmieder kaum sichtbar, offenbaren ihre verborgenen Schönheiten nicht der Bestie, denn nichts darf sie verletzen, unsre Schwester. Ist sie eine Mauer, bauen wir silberne Zinnen auf ihr. Ist sie eine Tür, versperren wir sie mit einem Zedernbrett. Ich bin eine Mauer, singt sie, und meine Brüste gleichen Türmen. Da hab ich in seinen Augen Gefallen gefunden. Und so trägt unsre Nymphe beim Blätterfest ein Kleid aus den Blumen der Flur: das ist, die Schönheit, um die jede sie beneiden wird: Düstere Wolke, aus der Blumenfarbe ausgewaschen, und doch: wird ihn irgendjemand haben wollen, irgendjemandem wird er gegeben sein, der Heilige, der Name,

38

Roland Mückstein, 03.01.-1,
Blanziflor et Helena
Page 39: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

und die Liebe. Das Gesetz der Pflanzenerde, das Gesetz des Weiberwalds: Komm in meine Wellenstube!, sprach der Spinner zu der Floh. Denn sie wird gebraucht und dann gefressen werden, gebraucht und gefressen werden, majowele: Denn ihr Vater hat sie gezeugt aus dem Blut seines Fingers, das sich vermengte mit dem Saft einer sterbenden Blume, und beim Feste mußte sie geben, geben und geben und wurde endlich in ein Loch gestoßen, begraben, gefunden, zerstückelt und ausgesät, freundlich lächelnd: Und gegessen. Was ist da noch ihr Bruder, der im Ereike-Baum ruhen durfte: Er lebte, sie aber mußte geben, geben, geben. Dann, der BruderTSCHUMP (nur außen kränklich, aber innen roh), der Gute, um das klarzustellen, der nun Vereinte, der verfluchte Esel aus dem Märchen, selber gut und groß genug, daß kleinere Wesen ihm beständig folgten, Holzbretter in den Händen, und sangen in iesu morimur; doch er selbst war bereinigt, hatte sich bereits per Selbstmord von den Drogen gelöst und die alten Verfehlungen hinter sich gelassen; dennoch ist er nach wie vor ein wenig hektisch, eilig, und ein bißchen zu pathetisch, und steht stets in Streit mitGLÖCK (ein weiser Schurke), dem Bösen aus dem Bubenbuch, der seine Vaterschaft in Rechnung stellt und den Sohn damit erniedrigt; ein Relikt aus alten Zeiten, nicht mehr arbeitsfähig, nur noch als Widersacher gut, zur Überwindung. Ihn hat der Chorus hinzugezogen, um die Dinge zu verlangsamen.

ERSTE SZENE: TRAUM

Die Liebenden sollen zu beiden Seiten der Bühne in ihren Nachtgewändern auftreten, Beren zur Rechten und Tinúviel zur Linken, und sie sollen im Schlaf und ohne einander zu bemerken ihre Lieder singen:

TMP: Lean out of the window, Goldenhair, I hear you singing A merry air.

My book was closed, I read no more, Watching the fire dance On the floor.

I have left my book, I have left my room, For I heard you singing Through the gloom.

Singing and singing A merry air, Lean out of the window, Goldenhair.

LOSSE: Ich schlief, doch mein Herz war wach. Horch, mein Geliebter klopft:„Mach auf, meine Schwester und Freundin, meine Taube, du Makellose!“

Mein Kopf ist voll Tau, aus meinen Locken tropft die Nacht.Ich habe mein Kleid schon abgelegt, soll ich es wieder anziehen?

Die Füße habe ich gewaschen – soll ich sie wieder beschmutzen?Mein Geliebter streckte die Hand durch die Luke; da bebte mein Herz ihm entgegen.

Ich stand auf, dem Geliebten zu öffnen. Da tropften meine Hände von Myrrhe am Griff des Riegels.

Ich öffnete meinem Geliebten: Doch der Geliebte war weg, verschwunden. Mir stockte der Atem: Er war weg.

Ich suchte ihn, ich fand ihn nicht.Ich rief ihn, er antwortete nicht.

39

Page 40: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Exeunt. Kein Vorhang.

ZWEITE SZENE: WEG

Der Geliebte soll, noch schlaftrunken, in Wanderkleidern auf die Bühne stürzen und singen:

TMP: Es war amal an Abend spat, a wunderscheane Nacht.Die Stern am Himmel leuchtn so hell, es war a liabliche Pracht.

Auf einmal fallt mirs in mein Herzen ein:Heut möchte is bei meiner Herzliabsten sein,

und waar das Wegerle no so weit – so kunnt i’s net gratn mehr heut.

So machet ich mich also flugs aus dem Bett, mehr begierig zu erfahren, was doch geschehen möchte, denn daß ich genug geschlafen hätte.Nachdem ich mich nun angezogen und die im Schlaf gewohnten Stiegen hinab begeben und niemand anders in dem Saal gefunden hatte, ging ich, von meiner Sehnsucht geleitet, alsbald etliche Stiegen unter die Erde, zu einer großen eisernen Türe, worauf nachfolgende Wörter in großen Kupferbuchstaben angeheftet waren:

Hie ligt begrabenVENUS

Die schön Fraw, so manchenHoen man

umb glück, ehr. segen, und wolfartgebracht hatt.

Nachdem nun diese Tür eröffnet, drückte ich mich durch einen ganz finsteren Gang, bis ich wieder zu einem kleinen Türlein kam, das noch versiegelt war, da man es gestern erst eröffnet und die Verschalung davon abgenommen hatte, das also noch nicht aufgeschlossen war. Wie ich nun hineingetreten, sah ich das allerköstlichste Ding, das jemals die Natur erschaffen.Denn dieses Gewölbe hatte kein anderes Licht als das von etlichen übergroßen Karfunkelsteinen, und dies war, wie ich es vorausgesehen hatte, des Königs Schatz: Das herrlichste und vornehmste aber, das ich darinnen gesehen, das war ein Grab, das in der Mitte stand, von solcher Köstlichkeit, daß es mich wunderte, daß solches nicht besser versorget wurde; und dachte, ich hätte mich billig gegen meinen Planeten zu bedanken, dank dessen Einfluß mir nun etliche Stücke zu sehen würden, die keines Menschen Auge sonst jemals gesehen, außer des Königes selbst.Dies Grab war dreieckig, hatte in der Mitten einen polierten Kupferkessel, der überquoll von lauter Gold und Edelgestein.In dem Kessel stand ein Engel, der hielt in Armen einen unbekannten Baum, von dem tropfte es stetig in den Kessel, und so oft die Frucht abfiel in den Kessel, wurde sie auch zu Wasser, und floß von dannen in drei goldene Nebenkesselchen.Dieses Altärlein trugen die drei Tiere, Ader, Ochs und Löwe, und standen auf einem überaus köstlichen Postament.

Hie ligt begrabenVENUS

Die schön Fraw, so manchenHoen man

umb glück, ehr. segen, und wolfartgebracht hatt.

Hierauf erblickte ich eine kupferne Türe auf dem Boden; die, sagte ich mir, konnte ich mit all meinem Mut weiter hinab gehen. Hiemit kam ich die Stiegen hinab, da war es ganz finster, aber mir war ein kleines Kästlein, darin stund immer ein wehrendes Lichtlein, von dem zündete ich mir eine beiliegende Fackel, deren viel waren, an; obgleich ich erschrak bei dem Licht und mich ernstlich fragte, ob ich dies tun dürfe? Doch da die königliche Person jetzund ruhen, hätte ich mir nichts zu befürchten.Und dann ersah ich ein köstlich bereitetes Bett, mit schönen Vorhängen umzogen, deren einer eröffnet war.

40

Page 41: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Da sah ich die Geliebte nun ganz bloß, denn die Decke war auch aufgehoben, in solcher Zierd und Schöne liegen, daß ich schier erstarrte, auch nicht wußte, ob es nur also geschnitten oder ein Mensch tot hier liege, denn sie war ganz unbeweglich, noch wagte ich es, sie anzurühren.Hiemit wurde sie wieder bedeckt, und der Vorhang vorgezogen, mir aber war sie noch als in Augen.

Hier soll sich der Geliebte starren Blicks zum Bühnenrand zurückziehen, um schweigend dem Auftritt der Geliebten beizuwohnen, bis diese ihn ergreift:

LOSSE: Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt.Ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, die Gassen und Plätze, ihn suchen, den meine Seele liebt.Ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Mich fanden die Wächter bei ihrer Runde durch die Stadt.– Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebt? –

Kaum war ich an ihnen vorüber, fand ich ihn, den meine Seele liebt.

Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los, bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte, in die Kammer derer, die mich geboren hat.

Exeunt wie gesprochen.

- homo homini lapis -DRITTE SZENE: WECHSELGESANG

LOSSE: Ich bin eine Blume auf den Wiesen des Scharon, eine Lilie der Täler.With my whiteness I thee woo and bind my silk breasths I thee bound!

TMP: Eine Lilie unter Disteln ist meine Freundin unter den Mädchen.

LOSSE: Ein Apfelbaum unter Waldbäumen ist mein Geliebter unter den Burschen.In seinem Schatten begehre ich zu sitzen. Wie süß schmeckt seine Frucht meinem Gaumen.

Mit den Küssen seines Mundes bedecke mich. Süßer als der Wein ist deine Liebe.

TMP: Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm!Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.Ihre Gluten sind Feuergluten, gewaltige Flammen.

LOSSE: Seine Linke liegt unter meinem Kopf, seine Rechte umfängt mich.

Hier sollen die beiden in Liebe einander umfangen, doch die Braut soll sich versteifen, als sie hört, wie vor dem Zimmer ein Tritt geht auf der Treppe.

LOSSE: Da draußen! Molech! Sei jetzt still!

TMP: Er wird nichts tun. Er hört uns nicht. Hör zu!

41

Page 42: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

LOSSE: Sei still! Hörst du es nicht? Er singt: soto de matteru, sotooo ...

TMP: Still! du reizende Lossía; schließ in deinen Mund all meine Sünden ein. Geh in ein Kloster! Warum solltest du auch Sünder zur Welt bringen? Ich bin selbst leidlich tugendhaft, dennoch könnte ich mich solcher Dinge anklagen, daß es besser wäre, meine Mutter hätte mich nicht geboren. Ich bin sehr stolz, rachsüchtig, ehrgeizig; mir stehn mehr Vergehungen zu Dienst, als ich Gedanken habe, sie zu hegen, Einbildungskraft, ihnen Gestalt zu geben, oder Zeit, sie auszuführen. Wozu sollen solche Gesellen wie ich zwischen Himmel und Erde herumkriechen? Wir sind ausgemachte Schurken, alle: trau keinem von uns! Geh deines Wegs zum Kloster! Wo ist dein Vater?

LOSSE: Er ist im Haus. Da draußen.

TMP: Dann schließ die Türe ab, daß er die Narrheit nicht hier noch hereintrage, nicht in deinen Kopf, in deinen Mund. Denk nicht an ihn, denk nicht an den Menschen! In dir zentriert sich alles, Omphalosse. Wenn draußen vor der Höhle die Dämonen stürmen, auch wenn dort hinter den Steinen dunkle Biester schleichen, hülle dich ein und decke dich zu, und um dich wird der Ofen rund und fest, und nichts durchdringt das vas mirabile als der, den du hineinläßt. Lasse mich! Du trägst das Salz, das Elixier, den Stein. Komm, denk nicht weiter! Lasse mich!

CHORUS: Wie glaubwürdig ironisch er aus den dunklen Büchern süßes Leben lügt: Da liegt der schlanke Hirte unter Stein und Baum und nagt bei seiner Dornenschwester wiedergefundene Männlichkeit; und zwischen jung-fräulichen Halmen versteckt sich der dreieinige Klee. Seit Evas Schöpfung tragen die Kinder von Land und von Stadt sich die Staubblumen zu, schmiegen in Rausch sich Tulippen aneinander, sind Männer angeschmolzen, Pfarrer abgesunken, wünscht die Holde sich vom Braunen einen Kuß; und immer noch bitten die Floras aller Felder ihre scheuen Waldgeister, sie zu pflücken, während sie noch blühen. Und sie fallen aufeinander, und sie selber sind gefallen. Und, das ist der Humor dabei, das alles mit den wichtigsten Gesichtern, und ohne zu merken warum, und meinen Gott weiß was dazu. Hört ihn euch an, wie er ihr Sinn in ihren Wahnsinn lügt:

TMP: Der Dinge Anfang war ein Wasser oder eine feuchte Natur, worüber der Geist Gottes geschwebt hat. Im Innern dieses Wassers bildete sich sodann eine subtile Erde. –Die Alchemisten unterscheiden uns nämlich als zwei Arten von Wasser oder Merkur: eines, das luftig aufsteigt; und ein anderes, das sich zu Salz coaguliert und im Grunde fix wird. – Paracelsus bezeichnete mit Salz „das Zentrum des Wassers, worin die Metalle sterben sollten.“ Wenn dieses „sal circulatum“ mehrfach destilliert wird, verliert es seine Festigkeit und wird zu einem vitriolischen Wasser, d.h. zur materia prima.Solange dieses Salz der Natur noch ausgebreitet in deinem Limbo oder Chaos steckt, und gleichsam in seinem Wasser noch erstickt ist, erscheint es in keiner anderen Form und Eigenschaft als der eines bitteren salzigen Wassers. In diesem Zustand bleibt es solange, bis mit Hilfe des Alchemisten durch die Wärme in der Scheidung das überflüssige Wasser ausgedämpft wird, und die salzige Erde erscheint, wie eine Insel im Meer. –So finde ich den Stein, den die Weisen suchten, das Vitriol.

Hier soll der Bräutigam seine Rechte an ihr spielen lassen, bis sie ihre Beine für ihn schließt und ihn ernst anblickt.

LOSSE: Ich habe da keinen Stein. Ich weiß es, ich habe mich erforscht.

TMP: Und doch sehe ich in deinen Augen diesen Spruch, verschlüsselt zwar, doch mit dem Blick der Liebe einfach lesbar: ‚Wenn die Frucht meines Baumes wird vollends verschmelzen, werde ich aufwachen und die Mutter sein eines Königs.‘ – Nur was, o meine Freundinnen, soll das bedeuten?

CHORUS: Das sollst du, Prinz, wohl später noch erfahren.

Kein Vorhang.

VIERTE SZENE: UNTERSUCHUNG

Hier sollen die Mädchen das Licht auslöschen und dem Bräutigam bedeuten, daß er die Braut umfange und sie nah betrachte. Und der Bräutigam soll gehorchen.

CHORUS: Siehst du nun, Schüler, wie an jenem Ort ein Lichtlein brennt, das du beim hellen Tag nicht wahrgenommen? Sieh, das Feuer ist so hell, daß es einem Steine gleicher sieht denn einem Licht! Von dieser Hitze muß der Baum für immer schmelzen, und doch bringt er immer neue Frucht hervor. –

42

Page 43: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Nun sieh, teurer Freund, was uns vom König übermittelt wurde: Wenn der Baum (sagt er) wird völlig verschmelzen, so wird Frau Venus wieder erwachen, und Mutter eines Königs sein; doch bis dahin mußt du erst wachsen, und so lange die Mauer noch steht, wirst du dies Ziel niemals erreichen. Doch hast du dir den Stein verdient, den wir im Inneren der Erde fanden: Erhebe dich, denn noch bevor der Morgen graut sollst du unsterblich gemacht werden.

Hier soll der Bräutigam sich aus dem Bett erheben, um das Wyrd der Blumenmädchen zu empfangen.

CHORUS: Auf dem Weg deiner Schwester bist du gegangen, darum gebe ich dir ihren Becher in die Hand. Den Becher deiner Schwester sollst du leeren, den tiefen und weiten, der viel faßt. Von Trunkenheit und Qual wirst du voll sein. Ein Becher des Grauens und des Schauderns ist der Becher deiner Schwester Semadar. Du sollst ihn leertrinken, ja ausschlürfen, du sollst seine Scherben zerbeißen, und dich selbst sollst du darin zerfleischen.

Hier soll der Bräutigam sich wieder seiner Braut zuwenden, während die Нимфетки ihr lüsterne Dinge ins Ohr flüstern; und er soll sprechen wie folgt.

TMP: Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut; ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell. Und doch erstrahlt bereits die blaue Blume dort, in ihren Mauern, meine Rettung, mein Tor, mein Weg, den ich finden muß und ihn betreten. – Ich will dir Gerechtigkeit widerfahren lassen, kleine Frau: Du gefällst meinen Augen, das muß ich gestehn. Die Quelle des Gartens bist du, ein Brunnen lebendigen Wassers. Wie schön bist du und wie reizend, du Liebe voller Wonnen! Wie eine Palme ist dein Wuchs; deine Brüste sind wie Trauben. Die Form deiner rechten Ohrmuschel ist nahezu vollkommen. Ich sage: Ersteigen will ich die Palme; ich greife nach den Rispen. Trauben am Weinstock seien mir deine Brüste, Apfelduft sei der Duft deines Atems, dein Mund köstlicher Wein, der glatt in mich eingeht, der Lippen und Zähne mir netzt.Hörst du die Blumen, die dir tausendfache Freuden versprechen? Hohohoho, ich höre sie, du wirst dich aufrichten wie ein Mann. Hahahaha, ich sehe schon, verflüssigen wirst du dich und versauern; und wer versalzt nicht aller seine Suppe, wenn er im Takt der Liebe schwingt? – Dir ist die Wand im Weg? Warte du nur, wir brechen sie nieder. – Hörst du die jungfräulichen Bräute Christi? Schreckliche Dinge verkünden sie mir, doch dich nennen sie Mutter Gottes; sie schmeicheln dir und versprechen dir ewiges Leben, wenn du deine Flamme lodern läßt. Komm, komm!

Hier soll Semadar ihre Schenkel öffnen für den Blick des Bräutigams, denn die glatten Worte der Нимфетки haben ihren Geist ganz aufgesogen, und es sorgt sie nicht mehr, ob der Vater sie höre.

LOSSE: Nordwind, erwache! Südwind, herbei! Durchweht meinen Garten, laßt strömen die Balsamdüfte! Mein Geliebter komme in seinen Garten, und esse von den köstlichen Früchten.

CHORUS: Das ist ein reizendes Schauspiel, eine unermeßliche Kette von Liebe und von reiner Wollust. Unsere Herrin tut sich auf wie die steinernen Tore einer Gruft; siehe, ihre Schenkel teilen sich zu beiden Seiten, bis unsere Flamme dem Bräutigam bedeutet, sie anzunehmen; und han in hende wachsen sie.

Hier soll der Bräutigam sich zwischen ihre Schenkel beugen.

TMP: Ich komme in meinen Garten, meine Schwester Braut; ich pflücke meine Myrrhe, den Balsam; esse meine Wabe samt dem Honig, trinke meinen Wein und die Milch. Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide, gefertigt von Künstlerhand. Dein Schoß ist ein rundes Becken, Würzwein mangelt ihm nicht. Hier finde ich den Stein, den die Weisen suchten.

CHORUS: Denn aus ihnen fällt er, die sie Alles davon denken, und Alles ist der kleinste Teil davon. Der Kopf, die schwarze Erde, die aus dem Wasser der Sündflut auftaucht, ist das Rabenhaupt der Alchemisten, die Kröte, die den Adler oder Geist auffrißt, unser philosophischer Saturn, der den Mond verschlingt und in seinem Bauche bewahrt, die Erde der Weisen, die begierig den goldenen Regen in sich schluckt, kurz: es ist unser Laton, der gewaschen und siebenmal im Jordan getauft werden muß.

Und die Braut soll den Bräutigam siebenmal in ihren Säften taufen, sich dann aber abwenden und ihre Schenkel verschließen, damit der Bräutigam gereinigt werde und bereitet für das eigentliche Werk.

LOSSE: Das Unaussprechliche Wassesist Wasserwahr Erdermus Wirkeinstein Willit beelike awound opening upinside meWillit beelike urine pressing toget outWillit beelike thatWill Ibe ableto control itOr willit bean unhempt floodrushing relentlessly outKnowing this Icurse the moonIfear the dazeof blootnicht im Dunkeln du schneidiger Zungenforscher, ugu blob, skai! O Gott! arme Leiche! Du ruhst so lieblich auf dem schwarzen

43

Page 44: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Bahrtuch der Nacht, daß die Natur das Leben haßt und sich in den Tod verliebt. Wo ist nun deine Mutter, schwaches Kind? Ein Schild von Feuer senkt sich in den salzigen Himmel; er sucht den Auriel, den Lustgeist, die Synkope, doch die Haut allein trägt keine Zeichen, keinen Sinn. Sieh nur! auf deinen Blumengrund, den, wie du denkst, nur deine Saat berührte, sieh zu mir her! über den hohen Beckenknochen, erhöre meinen Atem, wie sich Hände unsereinsam in die Decke krallen! O Schande o Schule o Milchreis o mit! O niemand sie ecktief umwirbelted Schlange, o pass! o die ärstliche Schale zerbrochen, zerbröselt, gerissen, o zack! in die Zwiebel und fensterlos kochend, o nein! hier erstochen, geschaufelt, gegraben, durchs Wandloch gekrochen, gerollt und gefunden, gestraft! und gewunden, o ring! jetzt geschlossen. Versuchen Sie’s nächstes Mal wieder.

TMP: Aber –

Hier soll der Vater der Braut, von den Geräuschen des Liebespaares aufgeschreckt, laut und vernehmlich an die Türe klopfen.

LOSSE: Pirilta scha Ischtar usur!

TMP: Nein aber –

LOSSE: Ich kann nicht! ’s ist die Frucht der Nacht.

Sie soll das letzte flüsternd sprechen; ebenso soll jedes weitere Wort bis zu TMPs Abgang nur geflüstert werden. – Für einige Sekunden sollen beide schweigen. Endlich spricht

TMP: Du hast recht; Gott ist nicht wie die tägliche Morgensuppe zu verzehren (auch wenn er, wie du wußtest, ähnlich schmeckt).

Hier soll der Vater der Braut erneut an die Zimmertüre klopfen, woraufhin der Bräutigam sich von seiner Braut lösen und in den schmalen Streif von Mondlicht treten soll, der durch das Mauerfenster in ihr Zimmer fällt. Der Vater soll sprechen:

OC: Omphalosse! Du bist doch nicht allein!

Hier soll sich die Braut am Bette zusammenkauern; der Bräutigam aber zieht sein Bärengewand über und geht als ein Bär hinaus.

Szenenwechsel: wüster Ort.

FÜNFTE SZENE: SCHLUSS

Der Bräutigam, allein, soll hin und her spazieren, einen Finger an der Nase, mit schweren Gedanken schwanger. Er erzählt, wie es ihm erging:

TMP: Der Alte war zuerst ob meiner Gegenwart etwas bewegt, doch wie er sah, daß wir beide dem Tode näher, als den Lebendigen, erweichte sich seine steinerne Miene um ein Stück, fragte mich also, welcher Geist mich daher gebracht hatte? – Dem antwortete ich mit Zittern, ich wäre in dem Haus verirret, und von ungefähr hierher gekommen; so hätte ich ihn überall gesucht, und endlich da angetroffen. – Ich verhoffte, er sollte mir es nicht arg deuten.Nun steht es noch wohl, sprach der Alte, aber leicht hättet Ihr mir einen groben Zotten reißen können, so Ihr meiner Tochter nahgekommen wäret. Nun muß ich sie besser versorgen – legte also ein starkes Schloß an meiner Geliebten Türe, zu der ich mich zuvor herabgebeugt. Ich dankte Gott, daß er uns nicht eher angetroffen hatte, sah ich doch jetzt schon jenen alten Zwist wieder zwischen uns ausbrechen; noch hoffte ich, daß er mir nur hinausbehelfen und weiter nichts mit mir zu tun haben wollte.Ich kann doch, sprach er aber, das nicht ungerochen lassen, daß Ihr meine liebe Tochter schier hätten über-kommen; und da zog er seinen spitzen Pfeil und machte sich also über mich her, damit stopfte er mich vor der Liebsten Tür, und ich war hienach doch froh, daß mir das Meiste wohl gelungen, und ich doch ohne weitere Gefahr davongekommen war. – Als er dann aber die Türe hinter mir schloß, vernahm ich ihn noch, wie er lachte ob meiner Schmerzen und mir anzeigte, ich solle binnen Kurzem verscheiden. Mich wunderte sehr, wie er nach dem Geschehenen so lustig sein konnte, da er doch ohne Zweifel wußte, wes Flämmchen ich ihn beraubet hatte: Aber da war kein Trauern.

44

Page 45: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Hier soll der Bräutigam zur linken Bühnenseite gehen, während in der Mitte ein Paravent herabgelassen wird; und auf der rechten Seite soll die Braut auftreten für ihren Schlußmonolog:

CHORUS: Doch Novalossa, in ihr schlimmerndes Schafgewand gewickelt, hatte trotz allem zugesehen, über die Ballestrade gelehnt, und wie ein kleines Ding gelauscht. Sie war alleine; all ihre kleinen, tanzenden Kind-freundinnen waren von ihr gegangen, als sie das eigentliche Werk bereitete.

LOSSE (Sie steht einsam auf der Bühne, den Kopf gesenkt, die Schultern hängend, und geht rast- und kraftlos hin und her. Sie singt mit leiser, brechender Stimme, für sich) :

[C:\Eigene Dateien\schwesterlein.bmp]

TMP: Des Nachts auf meinem Lager suchte ich sie, die meine Seele liebt. Ich suchte sie und fand sie nicht. Aufstehen will ich und / meine Lieder brechen und / es ist Abend und die Rose verbrannt.

Some speak of our potion as unknown. We found it early wherethe gods find children. This it is alone, which none can find unlessthey rear their fire well, and keep the heat. To burn means failure, andto freeze, to lose the salt, for this is fleet. It binds the fire, though,and links it to the earth, to make it bleed. Consume the blood and findthat naught is left except a lump of weed, which is the star you sought,if you will let it rot. It is the throne, on which the saviour-kingwill sit in all his glory. Yea, it shone upon his birth,

and when you die, it will be all there is, and earth shall meet the sky.

/ | \

Fifth Movement: Textwherein is told of how the two emergent forces meet in opposition and consolidate, and how truth is found in the doctrine of death

MEIN SPIEGELBILD ... DARF NICHT ZERBRECHEN

Mein Geliebter ist ein Apfelbaum unter den Büschen; ich sitze in seinem Schatten; wie schmeckt mir seine Frucht! Ins Weinhaus hat er mich geführt; sein Zeichen über mir heißt Liebe. Er füttert mich mit Trauben-kuchen und mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe.Mein Geliebter ist weiß und rot; er ist ausgezeichnet vor allen. Seine Locken sind Rispen, rabenschwarz. Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen. Seine Zähne sind wie Milch, und seine Wangen sind wie Balsambeete. Sein Mund ist voll Süße; alles ist Wonne an ihm. Horcht, mein Geliebter singt!

„Rose of the World !Red glory of the secret heart of love!Red flame, rose red, most subtly curledInto its infinite flower, all flowers above!Its flower in its own perfumed passion.Its faint sweet passion, folded and furledIn flower fashion;And my deep spirit taking ist pure partOf that voluptuous heartOf hidden happiness!“(Aleister Crowley, Rosa Mundi)

21. August Wunderschöne Gegend in der Morgendämmerung (Annaberg?), aber die Sonne ist bedrohlich, hinter mir ein Gebirgspfad, ich laufe vor der Sonne weg, weil ihre Strahlen brennen oder so. Ich sehe einen Tunnel, will dorthin. Kurz drehe ich mich um, sehe die Sonne, sie wird dunkel, ich kann mich nicht bewegen. Sehr beängstigender Traum.

Die Erschütterung hatte niemand überlebt. Als Losse und ihr Geliebter nach langem Schweigen wieder auf die Straßen traten, zog nur ein kalter Wind durch die Schluchten und nahm einige Blätter bis zur nächsten Kante mit; dann rollte er sich ein und ergoß sich über die Liebenden.Die Trümmer zerfallener Wesenheiten, die Glieder besiegter alter Häuser, von schmerzhaften Rissen getrennt, säumten ihren Weg; jede Ordnung war durcheinandergebracht, keine Straße führte mehr zur anderen, kein Weg, kein Schritt, war wie gewohnt. Nur die beiden roten Türme leiteten sie, die einzigen, welche das Erdbeben

45

Roland Mückstein, 03.01.-1,
Fortuna Imperatrix Mundi
Page 46: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

verschont hatte, und zu diesen strebten sie hin, da von dem stumpfen Rot der Ziegel selbst noch in der Ferne eine Hoffnung auf Erlösung aus der Leere strahle, ein Versprechen von Gesellschaft und Versöhnung.Als sie in der Ketzerkirche ankamen, ließ sich die Orgel schon mit musikalischer Pracht hören, und eine unermeßliche Menschenmenge wogte darin. Das Gedränge erstreckte sich bis weit vor den Portalen auf den Vorplatz der Kirche hinaus, und an den Wänden hoch, in den Rahmen der Gemälde, hingen Knaben, und hielten mit erwartungsvollen Blicken ihre Mützen in der Hand. Von allen Kronleuchtern strahlte es herab, die Pfeiler warfen, bei der einbrechenden Dämmerung, geheimnisvolle Schatten; die große von gefärbtem Glas gearbeitete Rose in der Kirche äußerstem Hintergrunde glühte, wie die Abendsonne selbst, die sie erleuchtete; und Stille herrschte, da die Orgel jetzt schwieg, in der ganzen Versammlung, als hätte keiner einen Laut in der Brust. All diese Geister, die alten und die jungen, die Gutsherren und die Skater, die Goths und die ehrwürdigen Doktoren, erwarteten mit Staunen und Furcht die Ankunft des neuen Paares, das sie aus ihren Gräbern und Gemäuern gerissen und in Freiheit gesetzt hatte, um bis zum nahen Ende durch die Welt zu eilen. Da waren viele, die das Tageslicht für Jahre nicht gesehen hatten, aus den tiefsten Schichten dieser Stadt; da waren bleiche Mörder, Liebende und Schwelgende, da waren dekadente Dandys und geschmierte Geschäftsleute, niedrige, gebeugte Kreaturen und überspannte Läufer, Tänzer, Sportler. Dazwischen ab und zu ein leidendes Gesicht, den ihren ähnlich: Kinder aus der Familie Glaennd, arme Verfluchte, die in nicht zu befriedigenden Leidenschaften kochten, die auf die Erde fallen wollten und sie küssen oder zum Himmel fliegen und in ihm vergehen, und die doch, von der Menge festgehalten, nur aufrecht leiden konnten, zwischen Körpern eingepreßt und unbeweglich.Losse bestaunte die Gesichterreihe, die vor ihnen zurückwich, mit einem Gefühl aus Mitleid und Furcht; zur Musik ihres gespenstischen Flüsterns schritten sie durch den Mittelgang der Kirche auf den Altar zu, und Losse hoffte, von dort die Menge überblicken zu können; als sie aber dort angekommen waren, berührte ihr Bräutigam das Ewige Licht mit einem Finger, und die Geister schwanden.Sie sah nicht, wie sie gingen; als sie sich herumdrehte, war alles leer. Ihr ausgestoßener Atem hallte durch die Räume wie ein Schrei; sie blickte wild um sich; niemand war da, nur ihr Geliebter neben ihr.„Komm“, sagte dieser, „setzen wir uns in den Kasten. Wir wollen sie zurückholen: Erzähle mir von ihnen. Erzähl mir von den Geistern deines Lebens.“

Forcalimo war der netteste Mann meines Lebens, und der größte Künstler, sagte ich, um ihn zu ärgern. Ich sagte irgendwas von Prag, und er war gleich so gierig da: „Alasseon, sagst du? Alasseon? Erzähl mir mehr von ihm.“ Aber das ist längst vorbei, sage ich. Daran brauche ich gar nicht mehr zu denken. „Du hast ihn vergessen?“, sagt er da plötzlich, offenbar ganz entsetzt, und „war er dir nicht ein Lehrer, ein Vater?“ Ich verstehe ihn nicht mehr. Er ist vorbei, jetzt laß mich, sage ich, doch er: „Und weißt du denn nichts von den Taten, den Wünschen und Sünden deiner Vorfahren? Was habe ich dir erzählt? Was ist mit deiner Mutter: Hast du sie auch bereits vergessen?“ Und ich dachte, Nein. Wir hatten Der Widerspenstigen Zähmung gesehen, die Generalprobe, ich hatte nichts kapiert; sie trug ihre altmodischen grauen Schuhe mit den Schleifen drauf und zwei Perlenketten, und wir waren in der U-Bahn zurück. Ich legte dann meine offene Hand auf ihre Handtasche, die sie auf den Schenkeln trug, die Handfläche nach oben, und sie streichelte mit ihren Fingerspitzen in kreisenden Bewegungen meine Handinnenseite, ganz sanft, aber ohne zu kitzeln, dann auch mein offenes Handgelenk. Ich war so glücklich zu dieser Zeit, ich glaube, ich bin an ihrer Schulter eingeschlafen.ADDENDUM: Es war schön zu beobachten, wie ihr [des kleinen Mädchens] Blick immer stiller, immer träumerischer wurde; schließlich verloren sich ihre Blicke im Nirgendwo hinter der Wagendecke. Zuvor hatte sie mit beiläufigem Interesse ein jüngeres, runderes Mädchen beobachtet, das sich gegen den Willen ihrer hageren Großmutter vor mir an der Tür-raumstange wand; ich fragte mich, woran sie wohl

„Am nächsten Tag steht Anton früh auf und geht allein zur Schule. Pia fühlt sich nicht mehr krank; sie steht zwanzig Minuten später auf und geht ebenfalls allein zur Schule. Auf dem Nachhauseweg braucht Anton länger als Pia, weil er sich noch mit Freunden unterhalten hat. Gerold ist noch in der Arbeit, er kommt erst am Abend heim. Zum Mittagessen gibt es Bröselnudeln mit Apfelmus. Anton sagt: „Na, das ist wenigstens einmal ein gescheites Essen. Sicher nur, weil der Vati heut nicht da ist.“

Am Sonntag geht Anton mit seinen Freunden Fußball spielen. Pia bleibt zu Hause, um vollständig gesund zu werden. Jetzt wird aber Adelaïde krank, und weil sie sich beim Mittagessenmachen übergeben muß, macht Pia das Mittagessen für sich und Anton. Gerold ist nicht da, und Adelaïde hat keinen Appetit. Zum Mittagessen gibt es Gemüselaibchen mit Gurkensalat, weil Pia kein Brathähnchen machen kann. Pia setzt sich auf Gerolds Platz und Anton bleibt auf seinem Platz auf der anderen Seite des Tisches.Am Nachmittag geht Pia zur Mutter ins Krankenzimmer und sagt, daß Gerold sie in den Prater eingeladen hat. „Geh nur“, sagt Adelaïde, „Anton wird solange auf mich aufpassen.“ Darum muß Anton am Nachmittag zuhause bleiben, falls seine Mutter etwas braucht. Sie hat nämlich hohes Fieber und soll sich nicht zuviel bewegen.

Am Montag Nachmittag kommen Pia und Anton wieder gemeinsam von der Schule nach Hause. Anton kocht Backerbsensuppe. Gerold ist noch nicht zuhause. Adelaïde ist immer noch krank, deswegen trinkt sie nur

46

Page 47: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

denken mochte, ob an ihre eigene, frühere Zeit, oder an die Möglichkeit, daß sie selbst eines Tages Kinder haben möge; oder ob jener Zustand des Stangendrehens ihr noch so nahe war, daß bei dessen Betrachtung keine Zeitverschiebung in ihre Gedanken dringen mußte. Ich dachte an Hannah, und unsere Kinder.Und sagte, vergiß es doch, vergiß es, ich hab es schon vergessen. Forcalimo ist nichts mehr als ein Name, den ich nehmen kann und wegwerfen oder damit basteln. Und meine Vorfahren sind tot. Sogar der Kerzen-ständer ist kaputt, du hast es selbst gesagt. Forcalimo, der ist noch, darum ist er wichtig. Die Glaends sind unwichtig, so wie Forcalimo, sie sind vorbei!

einen Kräutertee und ißt Backerbsensuppe ohne Backerbsen. Pia sitzt heute beim Essen wieder auf ihrem eigenen Platz.Nach dem Essen begleitet Pia ihre Mutter auf ihr Zimmer, während Anton das Geschirr wäscht. Als Anton fertig ist, geht er auf sein Zimmer und dreht laute Musik auf. Eine Stunde später kommt Gerold heim und sagt laut „Hallo.“ Als er keine Antwort bekommt, schaut er zuerst in Pias Zimmer, aber Pia ist nicht da. Aus Antons Zimmer kommt laute Musik. Gerold geht ins Elternzimmer, da liegt Adelaïde auf dem Bett und ist tot. Erwürgt.“(IONESCO)

Und auf dem Backsteinmarmor des Kirchenmonsters lehnen sich die Kontrahenten an die starken Säulen und destillieren sich bis zu den Propyläen oberhalb der Akademie hinauf. „Natürlich ist die Vergangenheit nicht zu verachten“, sagt Losse, „denn sie ist ja der Treibstoff, den wir verheizen, unsere Feuerkohle, ohne die unsere ganze Maschine nicht laufen würde; aber wir schaffen ja jeden Augenblick neue Vergangenheit, die wir erneut verbrennen, um vorwärts zu kommen. Das ist ja das Wesen der Zeit, daß alles in Flammen aufgeht, und wir können uns an nichts festhalten als an uns selbst; das ist ja der Windhauch. Brennen muß alles!“ – und sie wirft die Arme hoch und läßt sie flatternd und zitternd wieder zu Boden sinken. „Mir liegt nichts daran, zurückzuschauen. Hinten ist alles schwarz und verkohlt.“Ihr Widerpart wartet noch einige Sekunden und wünscht sich fast, er hätte ihre Atemlöcher in geschlossenem Zustand belassen. Als er weiterspricht, ist seine Stimme kühl und sachlich; er geht auf ihre Metaphern ein, warnt sie in eindringlichen Tönen, unbesehen alles in das Feuer ihrer Fahrt zu werfen, das ja nichts weniger als ihren Lebensweg bestimme; er spricht von erstickendem Rauch und vernichtenden Explosionen; und obwohl sie, einmal festgelegt, nach außen hin ihren verneinenden Eispanzer bewahrt, so wecken seine trefflich gewählten Worte doch in ihr ein leises Fünkchen, das sie treiben und ihre Ablehnung unterwandern wird; er hat sie neugierig gemacht auf das, was sie nicht für beachtenswert zu halten vorgibt, und ehe sie sich’s versieht, ja ehe sie sich es noch selber eingestanden hat, hat sie bereits in ihrer ganzen Welt die Geister der Vergangenheit aufgestört, die ihr nun jedes Ding zumschweben und die befremdlichsten Versprechungen bezüglich ihrer tieferen Bedeutung machen. –Und als sie sich nun, von schwerem Glockenläuten zum Schweigen gebracht, dem Heiligen zuwenden, dem warmen Inneren der Kirche, vom schlichten Außen des Holzkastens zu der lebendigen, steinernen Innenwelt, da fiel die ganze Geisteswelt über sie her, und aus den Bodenplatten kroch ihr eine Ehrfurcht ins Herz, die über ihrem Hirn zusammenschlug und sie zu Boden sinken ließ. Das Licht, das jetzt wieder durch die Rosette hereindrang, traf grade ihre Stirne, ihre Augen, und sie warf sich vor dem Vater auf den Boden, kühlte sich am Stein, wie sich Hylea in die Erde wühlte. Doch Seine Gnade hob sie auf und führte sie bei aller Ehrfurcht zu einem neuen Bewußtsein ihrer selbst; und dann wußte sie wieder, daß alles, was hier schwebte, ihr gehörte.Denn vor ihrem Vater war sie die „kleine Königin“, der alle Schätze zu eigen gehören. „Kleine Königin, das heißt noch viel mehr als „Prinzeßchen“, es besagt vor allem die unbedingte Herrschaft, die dieses Kind über sein Herz ausübte. „Was willst du, sie ist eben Königin!“ pflegte er schon in den ersten Jahren der Mutter zu erwidern, wenn sie ihn besort ermahnte, die Kleine nicht zu sehr zu verwöhnen: „Du wirst sie noch zugrunde richten!“ Er liebte es, Gedichte vorzutragen und sie auf seinem Schoß in den Schlaf zu singen. Seine übergroße Empfindlichkeit, seine Neigung zu Verstimmungen und Tränen ist bezeugt.Und der Geliebte neigte sich vor ihr. Um seinen Scheitel kräuselten sich dunkle Haare wie ein Spindelstreifen um ein schwarzes Loch, und sie versank in einem Zwischenraum von Fensterlicht und Haaresschatten. Sie war jetzt Herrscherin. Sie war jetzt Herrscherin. Sie war jetzt Herrscherin.

- mutabor -Es ist eine unheimliche Szene; der Mann kommt aus den Tiefen der Höhle, wo sein Echo weit ist, er trägt Bart und Zauberstock und ist mir unangenehm vertraut. Er hat mich aufgenommen in seine Höhle, und ich habe ihn daraus vertrieben. Ich habe ihn in meine Welt gelassen, habe mich damit ihm ausgeliefert; doch noch muß er hören, was ich ihm zu sagen habe.Der Mann kommt aus den Tiefen der Höhle, wo sein Schatten tief ist, er hängt sein Kleid an einen Haken

Vase. Ce n'est pas de ce vase-là dont les Chymistes Hermétiques ont fait un mystère, et qu'ils ont enveloppé sous le voile des allégories, des fables et des énigmes. Le vase secret des Philosophes est leur eau, ou mercure, et non le vase de verre qui contient la matière. C'est pourquoi ils disent que si les Philosophes avaient ignoré la qualité et la quantité du vase, ils ne seraient jamais venus à bout de l'Œuvre. Notre eau, dit Philalèthe, est notre feu; dans elle consiste tout le secret

47

Page 48: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

und sieht mich an. Me gusta la menina, me gustas tú. Me gusta la villa, me gustas tú. Ich habe sie gesehen in der Straßenbahn. Ich habe sie berührt, aber sie hat es nicht gemerkt; habe sie gehaßt, aber sie wußte es nicht.Es ist eine unheimliche Szene; ich atme tief den Weihrauch ein, um meinen Widerwillen zu verdrängen. Me gusta la menina, me gustas tú. Me gusta la mar, me gustas tú. Ich hänge meinen Mantel an einen Haken; ich bin ein Mann. Ich habe sie gesehen, sie ist so schön; ein wenig zurückhaltend und doch spöttisch, helle Haut und rote Lippen, scheuer Blick und wenig Worte. Gregor, du mußt mir die Dirne schaffen!Der Mann kommt aus den Tiefen der Höhle; es ist eine unheimliche Szene, und ängstlich verstecke ich mich in einem Riß des Zeitfelsens. Bin ich ein Mann? Er lacht. Me gusta la menina, me gustas tú. Me gusta la fuente, me gustas tú. Ich habe sie gesehen, ich hasse sie. Ich will mich ihr verschließen, ich hasse sie. Ich habe sie getötet, ich hasse sie. Ich werde mich verwandeln

de notre vase, et la structure de notre fourneau secret est fondée sur la, composition de cette eau. Dans sa connaissance sont cachés nos feux, nos poids et nos régimes. VASE. Philalèthe et plusieurs autres en distinguent deux; l'un contenant, et l'autre contenu, et celui-ci est aussi contenant. Ce dernier est proprement le vase Philosophique; ils l'appellent aludel non verni, mais de terre. Ce vase est le réceptacle de toutes les teintures, et, eu égard à la pierre, il doit contenir vingt-quatre pleins verres de Florence, ni plus ni moins. Philalèthe ajoute que ce nombre de vingt-quatre doit être divisé en deux, c'est-à-dire douze après le mariage. Tous les Philosophes ont bien recommandé à leurs élevés, ou enfants de la science, comme ils les appellent, d'étudier et de connaître la nature de ce vase, parce qu'il est la racine et le principe de tout le magistère. Il faut donc le distinguer du fourneau et du vase contenant, parce que Albert le Grand dit que le contenant engendre le contenu.

- robatum -

Was für mich wichtig ist: Ihre weißen Hände, die traubenzarte Haut über den Knochen, der enge Mund mit den scharfen kleinen Zähnchen und der spitzen Zunge (Das Oxford Dictionary of Abbreviations definiert LOSS als “large object salvage system”); wenn sie mich beißt, dann fließt mein Blut nicht, sondern stockt, daß sie es kauen kann und schlucken. Sie schlägt mich tot mit ihrer Stirn, aber sie reißt mich wieder hoch mit ihren Zähnen. Das ist das Wichtigste, das Fleisch darunter, das sie so begehrt, das sie nicht kennt. Sie ist noch nie in ihrem Leben tiefer gekommen als zur Haut, bei ihr nur Blut und Knochen. – Add lightest knot unto tiptition. (James Joyce)Was noch wichtig ist: Ihr zuzusehen, wenn sie schläft oder ganz unbewußt und wach ist; vor ihrem Fenster oder neben ihr im Bett, und ihren Atem in der Luft zu sehen. Wenn ich sie durch die Straßen führe, blickt sie leer und großäugig auf all die herumlaufenden Menschen, die tanzen, wie sie nie tanzen können wird, und klappert mit ihren Zähnen einen Takt dazu; auch hat sie die unschöne Angewohnheit, sich in der Mitte des Brustbeins zu kratzen: dort, wo normalerweise der Busen, d.h. die Vertiefung zwischen den Brüsten ansetzt. – Und du, kleines heranreifendes Mädchen, träumst du nicht vom Filmhelden? Hast du nicht sein Bild nachts in seinem Bett? Schleichst du nicht an ihn heran und verführst ihn mit dem Vorwand, du wärst bereits 18 Jahre alt? Und dann? Gehst du nicht zu Gericht, um ihn der Vergewaltigung anzuklagen, deinen Filmhelden? Er wird freigesprochen, oder auch verurteilt, und deine Großmütter küssen seine Hände, die Hände des Filmstars! Du begreifst, kleines Mädchen! (Wilhelm Reich)

Sie zerstach sich die Finger an den Rosendornen; ihre Blutstropfen schimmerten hell auf den Spitzen, und jeder Dorn wurde zu einem neuen Stiel, und auf jedem Stiel entfaltete sich eine neue Blüte in der Farbe ihres Blutes.„Vlaterundser“, sagte TMP, indem er sich zum Altar hinwandte, „der du hingst am Baume: Zerstückelt werde dein Name, Dein Leich komme, Dein Willi erstehe, Wie im Lichte, so auch in der Finsternis. Bittebitte gieb uns heute unser mondlichtes Blut, Und sieh nicht auf unsere Mistel, Wie auch wir nicht auf die Misteln unsrer Nächsten sehen wollen. – Und setze uns nicht in Bewegung, sondern schmiege deinen glatten Körper an unseren, Denn dein ist der Kelch. Und die Nacht. Und die Flüssigkeit. Keuch! niemals hört es auf. – In deinem, in meinem, in unser aller Namen! Nemati ...“ – Der Liebhaber stöhnte und stürzte zu Boden. „Ich kann sie jetzt sehen“, flüsterte er, nachdem Losse neben ihm auf die Altarstufen gesunken war. „Ich kann sie sehen, sie, die dich verführten!“ Seine Hände geisterten im Gleichtakt mit seinen Blicken wild in der Luft herum, bezeichneten am Horizont der Deckenfresken einmal einen pummeligen Engel, dann das Jesuskind, Maria: ein Dreieck. „Anne, Ania, Lara, Arne, Eris, Eve, Ana, Elene, Lotta“, zählte er auf, „am-lotta, ay-lesse, u-lut, ay-ladra, am-lara, em-latna.“„Jetzt sei doch ruhig“, sagte Losse, besorgt, sie möchten aus der Kirche ausgestoßen werden; mit zwei Fingern strich sie über seine Stirn und seine Augenlider. „Du unverbesserlicher, unerlöster Esel.“Da schlug er die Augen wieder auf. „Essel“, sagte er, „na-essel, ev-essed, ay-lesse, an-eissel. Nemati ...“„Was ist das?“, fragte Losse, inzwischen ernsthaft in Sorge. „Was sagst du da?“Ihr Geliebter ließ die Hände sinken, blickte sie an, richtete sich auf und lächelte. „Die Finnen nennen es Naisenkaari.“ –„Das“, erwiderte Losse nach kurzem Nachdenken, „hilft mir aber nicht sehr viel weiter.“„Es tut mir leid“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Ich muß so reden. Es gehört zu meiner Natur.“

48

Page 49: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Da fragte Losse: „Wieso? – Mir scheint, wir haben zwei Wochen lang geredet, und ich weiß noch immer nichts von dir.“TMP antwortete: „Frage!“Losse fragte: „Wie alt bist du?“TMP antwortete: „Das kann ich nicht so genau sagen; meine Freunde und meine Feinde streiten sich schon lange um mein wirkliches Alter. Aber stelle mir eine andere Frage, ich will antworten.“Losse bat und fragte: „Gib mir doch wenigstens einen ungefähren Wert; eine Generation: Geb oder Osiris?“ (Geb war der Vater von Osiris, hatte er ihr kürzlich erst erklärt, auch wenn Plutarch das zu verschleiern suchte.)TMP grinste ihr ins Gesicht (wie alt? wie alt?) und antwortete: „Horus.“Losse fragte: „Welcher Horus?“TMP antwortete: „Beide.“Losse fragte: „Aber du mußt doch Eltern haben, und Familie. Was ist mit ihnen, wieso kann ich sie nicht kennenlernen?“TMP antwortete: „Manche sind tot; Andere kennen mich nicht mehr. Emil lebt, aber er ist nur eine Metapher. Und mein Alleinerbe stammt aus einem Geschlecht, das ich vernichtet habe. Du siehst: Ich bin am mächtigsten allein.“Losse fragte: „Aber irgendwann mußt du doch geboren worden sein. Wann?“TMP antwortete: „Gezeugt wurde ich 1780 in einer Kirchenruine im Fellinschen. Unter Anderem. Gemacht wurde ich 1641 im Hochland von Dartmoor. Aber das ist alles sehr kompliziert. Geboren werde ich erst.“Losse fragte: „Wann?“TMP antwortete: „Am Dienstag, den 27. 11. 2001.“Losse sagte: „Aber das ist in ... nicht einmal drei Wochen!“TMP sagte: „In neunzehn Tagen kann vieles geschehen. Meine Inkubationszeit ist sehr gering.“Losse fragte: „Cid arndid í in ben atom-gládathar? Cid nach é in fer atom-gládathar?“TMP antwortete: „In fer sin at-gládaither su.“Losse fragte: „Cía do chomainm-siu féin?“TMP antwortete: „Ní ansae. In ben sin at-gládaither-su, fóebar becbéoil, coimm diúir, folt scenb, gairit sceo úath í a hainm.“Losse sagte: „Fóebarbecbéoilcoimmdiúirfoltscenbgairitsceoúathíahainm!“TMP antwortete: „Und du zehrst mir tatsächlich meinen Körper aus, doltach ben.“Losse sagte: „Und dabei bist du doch nichts als ein flüchtiger Geist, graues, zerfließendes Merkurium. Wenn ich dich ausgezehrt habe, Fóebarbecbéoilcoimmdiúirfoltscenbgairitsceoúathíahainm, wird von dir nichts mehr übrig sein, denn du bist nichts als deine Seele selbst. Arind lind-se ar sóegul dean-taíth.“TMP antwortete: „Nicht die Seele, meine Freundin, ich verabscheue diesen Begriff, – die Monas ist es, die liebe Monade, das ist: das Wandernde, der Peregrin, der sich verfestigt hat.“ Er lüpfte fröhlich die Augenbrauen und blähte für einen Moment die Nasenflügel. „Und das Wort ist Fisch geworden.“Losse fragte: „Bist du oder ich nun Mann oder Weib?“TMP antwortete: „Nein, das Wort. Das Wort ist Fisch geworden.“Losse fragte: „Warum ist deine Stimme so rauh?“TMP antwortete: „Weil ich immer brenne.“ – Hier sah sich Losse für einen Augenblick wie in einem Spiegel, und fürchtete sich.Losse fragte: „Warum hast du so einen großen Mund?“ – Da lachten sie beide, weil sie es nicht verstanden.

Dann merke ich, daß es früher auch ihr Zimmer gewesen ist. Und es wird eng. Sie hatte hier gelebt, war hier gestorben, nicht vor Freude. Die Erde und der Meteor. Man hatte es ihr nicht geglaubt. Ich glaube es. Ich schwitze. Ich blute überall. Ich muß hinaus. Vor der Tür liegt der Schatten des grünen Gestrüpps unter dem Fenster; es ist Lichtminute. Die Fliesenwände werden glatt und werden eng. Das Wasser. Wasser. Die Wärme. Das Getöse des Heizlüfters. Das Wasser in der Dusche ist Anfangs zirka wie für Seehunde. Ich drehe den Regler auf sechsunddreißig Grad. Langsam wird es wärmer. Ein Händchen Duschbad ergibt eine Kabine voll Schaum. Ich pinkle. Unter der Dusche geht das oft nicht anders. Ich stelle mir vor, wie der Harnstrahl einen Tunnel in den Schaum bohrt. Dann schicke ich eine Miniatur-U-Bahn durch. Sie verschwindet im Abfluß. Meine Blase ist leer. Der Tunnel schließt sich

„E+ i# unmöglic, die zahlreicen Gebiete der Gesundheit+p]ege, die beim heranwacsenden Mädcen zu beacten @nd, auc nur zu #reifen; zweierlei möcte aber noc erwähnt werden, wa+ für eine erfolgreice Kultur de+ Körper+ sehr wictig i#: e+ i# die+ eine gründlice, regelmäßige Hautp]ege und die Erziehung zu regelmäßiger Verdauung+tätigkeit. Hierin vermag bekanntlic die Erziehung sehr viel. I# der Verdauung+vorgang ge#ört, so wird da+ Kind unlu#ig, träge, verdrießlic, und e+ fehlt die unbedingt notwendige Vorbedingung für eine fri<-fröhlice körperlice Erziehung. Diese Gewöhnung zur Regelmäßigkeit darf aber nict etwa dahin führen, daß da+ Kind an seinen Körper

49

Page 50: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

wieder. Achtunddreißig, vierzig. Die Würdigste, die Ehrenhafte, sie, die Hure. Ich weiß nicht, was die Blutgefäße meiner Haut in der Wärme machen, ich weiß nur, daß es sich gut anfühlt, ganz offen mit einem kleinen Brennen. Der fettessende Cecil. Der fuchs-haarige Jethro. Der Graf entkommt mit einem Boot und auf dem Boot spielt seine jungferliche, aber doch zum Bubeninzest geneigte Schwester, die berühmte Märchenkünderin und Künstlermuse Ziboria Hagen das Pianoforte. Der verschwundene Künstler, in den Farnen. Die Linie. Der nackte Mann. Er wird dort oben sterben, Armer, wegen mir.

denken lerne. E+ so\ wi^en, daß e+ den Bedürfni^en seine+ Körper+ unbedingt gehorcen muß, aber ohne daß e+ weiter darüber naczudenken hat. Da+ Nacdenken muß der Muµer a\ein überla^en bleiben. Sie hat da+ Kind so zu leiten, daß seiner Individualität nac jeder Rictung Recnung getragen wird; @e hat für die nötige Abwecªung in Ruhe und Bewegung und für eine sorgfältige Ernährung Sorge zu tragen. Aber die+ a\e+, ohne daß dem Kinde die müµerlice Sorgfalt zu sehr zum Bewußtsein kommt ! Ein gesunde+ Kind so\ nur insofern Körperbewußtsein haben, al+ e+ @c an seiner Bewegung und wacsenden Kra} freuen lernt. Je mehr diese beim Kinde gewe%t wird, de#o be^er für seine kün}ige Entwi%lung. Hier hat also die Erziehung besonder+ einzuwirken; denn die Freude, die bei dem Kinde in der körperlicen Bewegung zum Au+dru% kommt, i# sein Leben+element.“(Else Wirminghaus, „Die Frau und die Kultur des Körpers“)

13. November In einer sterbenden Oktobernacht stand sein Werk vor dem Abschluß. Ich sah ihn zu mir kommen, um seinen rauhen Tierkörper um meine Beine zu winden und mich zu Fall zu bringen, um mich zu umarmen und zu fressen; ich erinnerte mich an die nächtliche Verheißung und sah mit einer Verzagtheit, die an Todesangst grenzte, deren Eintreffen entgegen: Ich wußte, daß es geschehen würde, ich hatte keine Wahl; darum streckte ich also willenlos meine Rechte vor und hielt ihm die Rosen genau vors Maul. – Als er mich anrührte, schrie und erwachte ich.

Die Katastrophe lag hinter ihnen; noch hingen verblassende Schwaden von Staub und fettigem Rauch über der Ebene, und immer wieder trug der schwüle Wind einen Hauch von Zerstörung und Tod mit sich. In den Bergen von Zoar war es still; sie waren wie eine unschöne Narbe neben der frischen Wunde; nur aus der fruchtbaren Talmulde, die den Entflohenen ihre einsame Nahrung bot, klang das Geräusch von Baumkronen im Wind, das Pfeifen der Vögel und das Plätschern eines Baches bis herüber zu der Höhle, worin ein ausgezehrter Mann für seine beiden Töchter Fladen buk.Chasida war gegangen um Wein zu holen vom Kelter, sodaß Semadar, ihrer Schwester, nichts blieb als alleine ihre Zeichen in den Stein zu ritzen. Die Kanten des Glassteins schnitten ihr schmerzhaft in die Hand, während sie seine Spitze in das weichere Gestein des Berges grub; sie zog Linien und überkreuzte sie, kritzelte Figuren in die Form und drückte endlich mit verkrampfter Miene ihr Werkzeug neben sich in den gestampften Lehm, auf dem sie saß; sie haßte die Einsamkeit und die Leere der Welt, und auch ihre Figuren konnten sie nicht füllen.Am Rande des fruchtbaren Tals hielt Chasida, die Ältere, den groben Weinkrug mit beiden Armen umfangen; sie fühlte sich stark und entschlossen und sah die Welt und ihren Weg mit neuer Klarheit. Als sie über den staubigen Bergpfad zur Höhle kam, sah sie ihren Vater, der sich mit dem Feuer mühte, und hinten in den Schatten ihre junge Schwester, die ihren Glaskeil zornig in die Erde trieb. Semadar wußte von den Plänen ihrer Schwester, sie hatte zugesehen, was letzte Nacht geschehen war; niemand, dachte Chasida, war noch übrig außer ihnen, und an ihnen lag es, alles von Neuem zu beginnen.Verflucht seist du, alter, treuer Mann mit deinen Helfern aus der anderen Welt; verflucht seist du und deine Eitelkeit, die uns aus der Welt der Menschen hier in die Einsamkeit und Ödnis geführt hat. Du hast uns unser Leben genommen, unsere Hoffnung; als du uns nicht hergeben konntest, nahmst du uns mit und zwingst uns nun, deiner Narrheit durch größere Narrheiten ein Ende zu setzen. Die Welt, die mit dir geendet hat, wird durch uns neu beginnen; und doch wünschte ich nun, du hättest uns zugrundegehen lassen, uns oder die Fremden, daß das Spiel nicht noch einmal den gleichen Wahnsinn nähre. Oh, das Werk ist groß und ohne Hoffnung. Oh, das Werk ist groß und ohne Ziel.Semadar hatte den Kopf abgewandt und blickte in die Finsternis der Höhle. „Ich will da hinunter“, sagte sie, indem sie sich an der Höhlenwand abgestützt aufrichtete. „Vielleicht ist am anderen Ende der Höhle noch jemand. Vielleicht gibt es doch noch andere als uns.“Doch weiter unten, als sie sehen konnte, jenseits der Felsen und der Bergeinsamkeit, spielten die Kinder auf der Straße mit ihren Reifen und neckten einander, und die Erwachsenen liebten und fürchteten sich. Sie hatten die

50

Page 51: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Wunde gesehen und gedachten der Teergruben, in welche die Könige von einst gefallen waren; sie fürchteten den Zorn des Höchsten, und doch liebten sie und spielten weiter, und das Ende schien ihnen nicht näher als zuvor.Chasida aber brachte mit glühendem Stolz ihren Wein in die Höhle und sah sich als Anfang einer neuen Zeit. „Das Innere des Berges ist gefährlich“, sagte sie, „dort gibt es Wasser, das nicht fruchtbar ist, sondern den Tod bringt; dort sind gezackte Felsen wie die Zähne eines Raubtieres, die dich zerreißen, wenn du dich zu weit wagst.“ Sie wußte es, denn sie war dort gewesen; sie hatte den Weg gefunden, und nur das Bewußtsein des Großen Plans hatte sie wieder daraus hervorgeführt. „Aber du wirst es schaffen“, sagte sie. „Wir sind auserwählt, weißt du.“Der Glasstein war nicht mehr zu sehen; sie hatte ihn ganz in die Erde versenkt, sie würde ihn nicht mehr brauchen. Mit halboffenem Mund sah sie zu, wie Chasida das Abendessen bereitete, und als das Licht vor der Höhle sank, schien es ihr für einen Augenblick, als höre sie Kinderstimmen, lachende und weinende Menschen, Rufe aus Freude und Schmerz aus einer anderen Welt, und sie drückte ihre Füße in den kühlen und feuchten Boden, als wolle sie sich selbst vergraben, sich in die Erde drücken, bis nichts mehr von ihr zu sehen wäre.Sie aßen mit beherrschtem Drang am Höhlenausgang, in eine kleine Runde gedrängt; zwischen den Schwestern wechselten sprechende Blicke mit wissendem Schweigen. Semadar schlürfte den Wein mit Vorsicht, Chasida schenkte dem Vater nach; dieser trank wie ein Loch und wurde mit jedem Schluck träger. Da schlang auch die Jüngste vom Obst und vom Traubensaft in sich hinein, um den schalen Geschmack zu vertreiben, der ihr noch auf der Zunge lag; sie drückte die Fersen vor sich in die Erde und grub ihre Zehen hinein, als der Vater den letzten Becher hob und die Schwester ihn noch einmal bis zum Rand füllte.Prost, sagte sie; Semadar preßte die Augen zu. Es kocht schon in mir. Wir werden die Welt vernichten.

- exhumation -Sie lief hinaus aufs Klo und öffnete den Brief: Sei mein Freund. PS. kein Soja für das Kind.„Heilige Mutter“, hatte sie gesagt und war dafür gescholten worden; aber sie war so schön! Und eines Nachts erzählte sie ihr von der Quelle, wo sie Ohtarcalimo getroffen hatte, tief im Wald: Sie hatte ihm den Weg dorthin einmal in Eile aufgezeichnet und war seitdem jeden Tag dorthin gegangen, bis er endlich auch zu ihr fand und sie Eruanno zeugten.„Nenn mich nicht heilig! Maria ist heilig. Kleine Kinder sind heilig.“ Dann wurde ihre Stirne grau. „Weißt du, daß mich auch dein Vater einmal ein heiliges Kind genannt hat? Ich hatte damals Angst vor ihm.“ Das Singen draußen, und die Lichtminute! Derevaun Seraun! Derevaun Seraun!Und sie hatte ihr versprochen, nicht zu warten, bis sie ganz allein auf der Welt und ohne Hoffnung war, sondern sich einen Mann zu suchen und mit ihm Kinder zu bekommen, und die Kinder wieder Kinder bekommen lassen und immer so fort, bis die Welt wieder besiedelt wäre. Aber dann hatte sie gezittert und gesagt, „Andere Kinder! Andere Kinder! Es ist unmöglich, alles zu beachten!“Losse war außer Haus gewesen, als sie starb. Wo es gewesen war und sie gelitten hatte, wurde ihr verschwiegen.

Dieses Buch ist total kalt. Ich weiß nichts von den Figuren. Sie tun nur. Kurze Sätze. Sie sind nicht wirklich. Ein bißchen sind sie, weil sie tun. Es gibt aber nur ganz wenig Gründe überhaupt in dem Buch. Sie tun einfach.Die Tochter ist der Mutter gegenüber einsichtig & gehorsam, zum Vater jedoch reichlich frech (ein richtiges Nesthäkchen); mit ihrem Bruder zankt sie sich gern, vor llem wegen seinen vom Vater gewährten Freiheiten & in Gegenwart der Eltern; privat vertraut sie ihm jedoch alles (?) an.So richtig auf bundesdeutsch. Zankt sich. (Steht nicht drin, würde aber so drinstehen).„Lies das“, sagt Er, „von wegen Vergangenheit. Du kannst es dann verbrennen.“ Und: „Das Original war in einer viel schöneren Sprache geschrieben, in Provençal. Vielleicht ist es deswegen so blank auf deutsch.“Erster Teil, Erwartung. „Es gibt noch einen dritten Teil, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt geschrieben wurde.“Die Mutter ist ziemlich schwach & willenlos, versucht immer, allen Streit zu schlichten, setzt sich selten durch. Wischt den Tisch ab.„Als ob du Geschirr waschen könntest“, sagt Pia und streckt ihm wieder die Zunge raus. „Na gut“, sagt Gerold, „dann hilft dir eben Pia.“„Fauler Sack“, sagt Pia, als ihr Vater den Raum verläßt. „Dummes Huhn“, sagt er zurück. Pia lacht. Die Mutter beginnt, den Tisch abzuwischen.

- ego te absolvo -Ich hasse dieses Zimmer, dieses Eck. Und diese Matte. Sie ist daran gestorben, an der Ecke, an dem Bett, da bin ich sicher. Und nicht an Freude, sicher nicht. VOR MEINEM FENSTER STEHT EINE GROSSE SCHWARZE MAUER. DARF NICHT ZERBRECHEN.Und

51

Page 52: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Beim Abendessen ist Gerold nicht da, weil er sich noch mit einem Arbeitskollegen trifft. Es gibt Fritattensuppe. Anton sagt: „Die Suppe ist grauslig und schmeckt nach Abwaschwasser.“ Die Mutter sagt: „Geh Anton.“ Anton sagt: „Was, ist ja so.“ Dann sagt keiner mehr was.Am nächsten Tag steht Anton früh auf und geht allein zur Schule. Pia fühlt sich nicht mehr krank; sie steht zwanzig Minuten später auf und geht ebenfalls allein zur Schule. Auf dem Nachhauseweg braucht Anton länger als Pia, weil er sich noch mit Freunden unterhalten hat. Gerold ist noch in der Arbeit, er kommt erst am Abend heim. Zum Mittagessen gibt es Bröselnudeln mit Apfelmus. Anton sagt: „Na, das ist wenigstens einmal ein gescheites Essen. Sicher nur, weil der Vati heut nicht da ist.“Sie sind gemein, manchmal, und manchmal kalt, fast wie der Text, und reden fast wie wir. Das fällt mir auf, weil ich das so noch nie gelesen habe. Ich schreibe auch nicht, wie ich spreche; wer tut das? In Provençal? Nur eine Lüge. Ich spreche immer anders, gar nicht wie; ich tanze lieber, Buchstaben im Raum, von meinem Körper und den Wänden ausgehöhlt. Das habe ich gelernt, nicht sprechen, schreiben.Forcalimo unterrichtet in einem großen, spiegellosen Raum ganz oben im alten Kabelwerk, frisch weißgetünchte Wände, und wenn wir wollen, können wir in eine der riesigen leerstehenden Hallen ausweichen. Eugen. Dort hat er mich von einem Schutthaufen geworfen und gesagt, wenn ich nichts esse, bricht er mir die Knochen. Ich habe Milchreis gegessen und ein bißchen Blut getrunken aus meinem Ellenbogen.Das mit dem Ellenbogen hab ich von Nancy (schön!). Sie hat’s bei einem ihrer Cousins gesehen, selber nie probiert, aber mir mit schaudernder Stimme erzählt. Nancy geht in meine Klasse, so wie die anderen нимфетки auch: Laika, Latitia, Rolance, Vincienne, Virginie. Schauspielerinnen-Namen, wie de Sades Opfer. Ich konnte es bei Nancy gar nicht glauben, daß sie echt in meiner Klasse war; sie sah so jung aus, als ich sie dort sah, das erste Mal und auch das letzte. Sie bringt sich um. „Komm schon“, sagt Pia, „sei nicht eingeschnappt.“ Und Anton geht mit ihr nach Hause, endlich wiedermal. Am Anfang war’s ja auch so, immer wenn es ging gemeinsam wieder heim. Und sie erzählt ihm alles Mögliche, Unwichtiges, wen interessiert es, so etwas zu lesen? Und schweigt jetzt aber und erzählt nicht, oder nichts, das ich als Leser weiß. Ich hasse diesen Schulweg, und die Straßen, Ertel, Nibelungen. Joachim Ertel, Seidenfabrikant. Kapitalist. Sicher ein Sklaventreiber. Hat den größten Teil der verwendeten Sklaven zur Verfügung gestellt.Damals beschloß ich, jeden Tag, wenn ich in die Schule gehe, einen Dorn von unserem Rosenstrauch abzubrechen und ihn mir irgendwo in den Körper zu stechen. Ich begann mit meinem linken Zeigefinger; ich bohrte den Stachel soweit hinein, bis ich blutete, dann hob ich ihn in einer kleinen Dose auf bis zum Abend und verbrannte ihn dann auf meinem Fensterbrett.An dem Tag, an dem ich meinen Geliebten traf, hatte ich mir den Stachel bis tief in den rechten Oberschenkel gebohrt. Der Schmerz breitet sich ganz langsam durch die Nervenbahnen aus; ich lasse den Stachel stecken und lege die Hände neben mir auf die Bank. Ich versuche, mich zu entspannen; die Schmerzen erreichen meine Hüften und mein Knie, gleichzeitig auch meine Schultern. Mir rinnt der Speichel. Mit der rechten Hand drehe ich den Stachel tiefer hinein. – Als Blut austritt, atme ich auf. Ein kleiner, hellroter Tropfen auf meiner Haut. Rot auf weiß. Ich ziehe den Stachel heraus und schmeiße ihn weg; es ist genug. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

21. Oktober ichabegeträumtvoneinerose

(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Du nanntest dich Diotima für Platon; Sappho, Hypathia, Roswitha bezeichnen dich, Vielnamige, deren Ruhm das vollständige Prisma sterblicher, aber immer wiederkehrender Nuancen bildet; o Grazie, so heiter, daß Dante, in drei Flügen, zu den Wolken hat steigen können; o Dame der Schönheit, der Weisheit und des Ruhms, Walküre der christlichen Walhalla, Beatrice! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will seine Namen nicht mehr kennen; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)

/ | \

Sixth Movement: Showwherein is told of the mingling of the dysjunct, of zeal, love, and the defloration of the stage

(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Anteros, der du die banalen Zärtlichkeiten heilst, mächtiger Alchemist der unvollkommenen Begierde, Athanor des großen Werkes in der Welt der Seelen: dein Schicksal will die vergänglichen Irrtümer, die fruchtbaren Irrtümer, aus deren Netz du aufsteigst zum erhabenen Werden, unter dem neugierigen Erstaunen der Unwissenden! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will seinen Prophezeiungen nicht glauben; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)

- Mittwoch, 14. November 2001 -15:20 „Nun lernen Sie mich also kennen.

52

Page 53: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Forcalimo, also der Herr Hagen, hat Ihnen sicher schon einiges von mir erzählt, sonst kann ich mir nicht vorstellen, wie Sie überhaupt auf mich gekommen sind. Also, mein Name ist eben Losse, ich bin vierzehn Jahre alt und nehme seit 1995 Ballettunterricht, seit Oktober 1997 beim Herrn Hagen. Im Frühjahr 1997 habe ich in der Gruppe von Alasseon C. beim Internationalen Tanzwettbewerb in Prag teilgenommen, wo wir den zweiten Platz geschafft haben. Ich habe immer schon getanzt, immer. Ich möchte, daß Sie mich verstehen. Ich tanze unentwegt. Wenn Sie mir nicht glauben wollen, lassen sie es bleiben. Ich trinke nicht, aber ich weiß, wie das ist mit dem Trinken, denn ich habe Wein probiert und war betrunken. Ich bin ein gesundes Mädchen, aber mager, weil ich nicht viel esse. Ich esse, was Gott mich essen heißt. Ich denke wenig und verstehe deshalb alles, was ich fühle. Ich bin das Gefühl im Fleisch und nicht der Verstand im Fleisch. Ich bin das Fleisch. Ich bin das Gefühl. Ich bin Gott im Fleisch und im Gefühl. Ich bin ein Mädchen und nicht Gott. Ich bin schlicht. Man muß mich nicht denken. Man muß mich über das Gefühl verstehen. Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr. Ich habe keine ebenmäßigen Gesichtszüge. Ebenmäßige Gesichtszüge sind nicht Gott. Gott ist nicht ebenmäßige Gesichtszüge. Gott ist das Gefühl im Gesicht. Ein Buckliger ist Gott. Ich mag die Buckligen. Ich mag die Häßlichen. Ich bin ein häßliches Mädchen mit Gefühl. Ich tanze Bucklige und Gerade. Ich bin eine Künstlerin, die Gestalten und Schönheit aller Art liebt. Schönheit ist keine relative Angelegenheit. Schönheit ist Gott. Gott ist Schönheit mit Gefühl. Schönheit im Gefühl. Ich liebe Schönheit, den ich fühle sie, und deshalb verstehe ich sie. Denkende Leute schreiben dummes Zeug über die Schönheit. Über Schönheit debattiert man nicht. Schönheit kritisiert man nicht. Schönheit ist keine Kritik. Ich bin keine Kritik. Kritik ist Besserwisserei. Ich treibe keine Besserwisserei. Ich bin auf Schönheit bedacht. Ich fühle Liebe zur Schönheit. Ich suche keine geraden Nasen. Ich liebe gerade Nasen. Ich liebe Vanima und ihre Nase, denn sie hat Gefühl. Ich bin nicht ebenmäßig. Ich bin Gott.“Timor mortis conturbat me.

18:48 „Er hat mich genommen!“ Losse war freudig rot von der Nasenspitze bis über die Wangen. „Ich bin eine Tänzerin!“Er hob die Augenbrauen. „Und? Wie war’s?“„Er ist ein bißchen unheimlich, weißt du. Schemajah Hillel heißt er, ich hab’s dir glaub ich schon einmal gesagt. Er war früher angeblich einmal ein gefeierter Tänzer, Flamenco und so, aber jetzt sitzt er im Rollstuhl, und der surrt immer so, wenn er sich über die Bühne bewegt, und er bewegt sich viel, und man sieht so richtig in seinem Gesicht, wenn er die Augen geschlossen hat, daß da ganz viel Musik und auch Tanz in ihm drin ist, und ich glaube er macht aus uns Marionetten, aber er macht das ganz toll, und ich habe ihm ganz viel erzählt was ich gar nicht erzählen wollte, aber er war die ganze Zeit so still und nur sein Rollstuhl hat gesurrt wenn er herum-gefahren ist, und er ist ganz um mich herumgefahren und kennt mich wahrscheinlich jetzt schon auswendig. Ich weiß noch überhaupt nicht, was das wird, aber es wird sicher spannend. Ich freu mich so!“TMP blickte etwas heller drein als sonst. „Ich habe mir ein Video von einer seiner Inszenierungen angesehen, von Falling Towers in Athen. Er ist ein Freak; seine Choreographien sind eigentlich mehr rhythmische Gymnastik als eigentlicher Tanz. Und immer sehr, na, aufgeladen.“Sie nickte hastig, denn sie merkte gerade: das war ihr erstes gewöhnliches Gespräch. „Ja, er verlangt sehr viel. Ich weiß nicht, ob ich dabei ganz bleiben kann, ob ich es überhaupt schaffe.“„Sei vorsichtig!“, mahnte er rasch. „Wenn du dir was zu Leide tust, oder gar – stirbst: Dann bringst du unsere Erfindung um, unsere Liebe, Rose, unser Kind.“„Natürlich werde ich vorsichtig sein.“ Er denkt, er hat als Einziger das Recht, mich zu berühren, mich zu zerlegen. Er will mich ganz; da hat er mich geschnitten. „Willst du mir nicht gratulieren?“TMP gratulierte ihr. Sie hielt die Rose in Händen, und von ihrem Atem berührt löste sich die Knospe in Blut auf, benetzte die Dornen, berührte ihre Hände: rote Spinnweben auf weißer Haut, ein glühendes Netz des verlöschenden Lebens.Timor mortis conturbat me.

- Donnerstag, 15. November, 2001 -14:32 Der Herbstwind donnerte mit anhaltender Gewalt gegen die brüchigen Wände des alten Theaters. Innen stand die Luft vollkommen still; das Surren von Schemajah Hillels Rollstuhl und die wie zufälligen Knarzer der Bühnenbretter unter Losses Füßen hatten eine von der Lärmkulisse vollkommen unterschiedene Klangfarbe, so daß Außen- und Innengeräusche einander in keiner Sekunde übertönten oder eines über dem anderen den Vorzug gewann.„Ich will, daß du singst“, sagte der Choreograph. „Do re mi fa so la ti do.“ Er nestelte kurz an seinem Kopfhörer herum und begann dann, Losse mit dem Rollstuhl an den vorderen Bühnenrand zu schubsen. „Irgendein Lied, das du kennst, oder eine Tonleiter. Irgendetwas. Sag was.“„Ich kann nicht singen“, sagte Losse.„Unsinn. Du wirst singen. Dein Atem wird verstärkt, während du tanzt; wenn du singst, drehen wir das Mikro ab. Deine Stimme muß ganz allein das Theater füllen. Probier’s. Irgendwas. Wir sind allein hier; keiner wird’s hören außer mir.“

53

Page 54: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

„Aber“, sagte Losse, „mir fällt nichts ein.“„Sing Happy Birthday.“Losse fürchtete sich; das letzte Mal war sie von ihrer ganzen Klasse ausgelacht worden. Salley Gardens. – Es scheint mir nämlich, daß für den Tanz als reine und eigene Kunst weder der reife Mann noch das Weib vorzüglich geeignet sind, sondern der Jüngling als ein Wesen, das noch zwischen beiden steht und noch gleichsam die Möglichkeiten beider Geschlechter in sich vereinigt. – „Ich singe Salley Gardens.“„Dann sing Salley Gardens.“Und Losse stellte sich ganz an die Bühnenkante, den Rücken zu Hillel, das Gesicht zu einem imaginären Publikum gewandt, und sang. Ihre Stimme klang etwas heiser und sehr ungeübt, aber sie schwebte wie Staubflocken durch das leere Theater.

„Down by the Salley Gardens my love and I did meet.She passed the Salley Gardens with little snow-white feet.She bid me take love easy, as the leaves grow on the tree.But I being young and foolish, with her did not agree.

In a field down by the river my love and I did stand,And on my leaning shoulder she laid her snow-white hand.She bid me take life easy, as the grass grows on the weirs,But I was young and foolish, and now am full of tears.

Down by the Salley Gardens my love and I did meet.She passed the Salley Gardens with little snow-white feet.She bid me take love easy, as the leaves grow on the tree.But I being young and foolish, with her did not agree.“

„Na bitte“, sagte der Choreograph, packte sie am Arm und zog sie zurück in die Sicherheit der Bühne. „Und nun zum Tanz.“Timor mortis conturbat me.

- Mittwoch, 14. November 2001 -15:52 „Die Bühne ist ein Bild. Lesen Sie Fortuny. Wir verwenden zur Beleuchtungsoptimierung eine cupola, das ist ein Rundhorizont für die Bühne, aus Seidentüchern. Man wird außer Ihnen nicht viel sehen, ja: nichts sehen müssen, und Sie werden sich hoffentlich in Formen auflösen, ansonsten können Sie jetzt gleich als Ganzes wieder gehen. – Ihre Kostüme stehen noch in Diskussion, sie werden auf alle Fälle minimalistisch sein, vielleicht auch gar keine. Kein Talkum, kein Puder, kein Magnesium. Wenn Sie schwitzen, dann schwitzen sie; die Kostüme werden, wie gesagt, dem angemessen sein. Wir arbeiten außerdem mit Sologesang, natürlich live. Keine Konserven. Wir werden Projektionen haben auch die werden live gespielt, die zweite Gruppe wird in diesem Moment im Probenraum eingewiesen und wird dann direkt vor dem Projektor tanzen. Und nein, Sie dürfen die Story nicht erfahren, junge Dame, Sie bekommen jeder Ihren Part und werden vielleicht ein-, zweimal alle zusammen proben. Alles andere wäre zu gefährlich. – Das Sprechen. Sie werden vieles von dem, was Sie sagen werden, nicht verstehen; das ist gleichgültig, aber sie müssen es mit Überzeugung sprechen. Es sind größtenteils Invokationen, Beschwörungen, oder zumindest sollen sie so wirken. Wir werden bei einigen von Ihnen auch den Atem verstärken, und zwar das ganze Stück hindurch, mit Oberlippenmikros. Strengste Disziplin. Ich kann Ihnen gleich sagen, daß Sie alle im Moment ungefähr doppelt so viele Leute sind, wie wir im Endeffekt brauchen werden. Bei den anderen entschuldige ich mich schon einmal im Vorhinein, aber Sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin freiwillig abspringen. Sehe ich schon die Ersten gehen? – Auf Wiedersehn. – Fräulein, wie heißen Sie? Losse. Sie kommen morgen Nachmittag vortanzen, halb drei, dieses Theater, gleich oben auf der Bühne. Herr Minde, Martha, Sie haben Ihre Termine. Sie bleiben gleich hier. Wer von Ihnen heute noch Zeit hat, ich bin bis etwa zweiundzwanzig Uhr für Ihre Vorstellungen hier. Fräulein Losse, gute Nacht.“

- Donnerstag, 15. November 2001 -02:28 Ich bin ein kluges Kind. Ich will keine klugen Kinder. Ich. Ich. Ich bin ein vernünftiger Mensch. Ich möchte nicht, daß sie ein kluges Köpfchen wird. Du sollst kein kluges Köpfchen werden. Hörst du. Ich. Ich werde sie mit allen Mitteln an der geistigen Entwicklung hindern. Liebe Mirima. Ich weiß, du wirst sagen, ein Mensch ohne Verstand ist ein Verrückter oder ein Strohkopf. Darauf sage ich, daß einer mit Verstand ein Verrückter oder ein Strohkopf ist. Ein Verrückter ist kein vernunftbegabtes Wesen. Ein Verrückter ist einer, der nicht weiß, was er tut. Ich weiß, was ich Schlechtes und Gutes tue. Ich weiß, was ich tue. Ich meine es nicht böse mit dir. Ich habe dich lieb. Ich will das Leben, und deshalb werde ich mit dir zusammensein. Ich habe mit dir gesprochen. Ich habe Ich habe sodomorrhoepharrghillantitlessemiprasseldoremarrsupriapissturgonntimeinkopf! Ich träume nicht. Ich will spielen, aber mir bleibt wenig Zeit. Ich will lange leben. Ich will, daß sie dich im Stich

54

Page 55: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

läßt. Ich will, daß du mein bist. Ich will nicht, daß du sie mit der Liebe des Mannes liebst. Ich will, daß du sie mit der Liebe des Gefühls liebst. Ich will, daß du mein bist. Ich will sagen sagen dir daß ich liebe dich nur dich. Ich will sagen sagen dir daß ich liebe dich nur dich Ich will sagen dir daß ich liebe liebe dich. Ich will sagen dir daß ich liebe liebe dich. Ich dich ahlesstitoctalingustotumbalyammorhoemensilldoremesarrchiolatriniatorfassetu! Ich will, daß Losse mich liebt, deshalb tue ich alles für ihre Entwicklung. Liebe Mirima. Der Entwicklungsgrad ihres Verstandes ist hoch, der ihres Gefühls aber niedrig. Ich werde zu ihrer Entwicklung ihren Verstand vernichten. Ich fürchte um ihren Verstand. Ich kenne Leute, die von ihren großen Ideen um den Verstand gebracht worden sind, und ich habe Angst um sie, denn sie denkt zuviel. Liebe Mirima. Ich kenne deine Fehler, denn ich habe sie begangen. Ich Liebe Mirima. Liebe Ich. Ich. Liebe Mirima. Liebe mairimfettkitohrraufnarruhn-terreinschenkohsallohrrennühnetzechrainarrheibah! Du denkst nicht an den Tod, denn du willst nicht sterben. Ich denke an den Tod, denn ich will nicht sterben. Und Gemeinplätze und Kitsch, wie, Ich fürchte den Tod, und deshalb liebe ich das Leben. Ich fürchte den Tod, und deshalb will ich ihn nicht. Tod. Tod ist Leben. Der Mensch stirbt für Gott. Gott ist Bewegung, und deshalb ist der Tod notwendig. Der Körper stirbt, die Vernunft aber lebt. Ich lieb dich doch du liebst nicht. Du liebst mich nicht so wie Er. Ich lieb so wie Er wie Er. Du bist Tod du bist der Tod. Ich will sagen sagen dir daß du Tod bist du bist Tod. Ich will sagen sagen dir daß du Tod bist du bist Tod. Tod ist Tod und ich bin Leben Ich bin Leben du bist Tod. Smertiju smé’ert popraw. Ich Ich. Ich. Ich bin Tod und du nicht Leben. Ich will sagen sagen dir daß du Tod bist und ich Leben. Ich will sagen sagen dir ich bin Leben du bist Tod. Ich will Ich. Ich ich rrifadamirifadamirifakhlesstatuairrhimammarmyaparrhyolrinaui-ghoterrhangalaff! Liebster Ohtarcalimo. Ich fürchte um dich, denn du fürchtest um mich. Der Tod ist unverhofft gekommen, denn ich habe ihn gewollt. Ich habe mir gesagt, daß ich nicht länger leben will. Ich habe wenig gelebt. Ich habe ganze sechs Monate gelebt. Ich dachte, ich sei lebendig. Ich dachte, ich sei lebendig. Ich dachte, Ich Ich ich unntadairishelfotherfuckinlipottlesstarrhimembrostuhnekhierthelemmagajarrl!Timor mortis conturbat me.

08:55 Das Licht ist viel zu hell, schöne schwarze Mauer, der Vorhang könnte noch viel dumpfer sein. Alle Ecken sind eckiger und alle Kurven schärfer. Mein Fingernagel auf der Fingerkuppe fühlt sich an wie eine Nadel. Fiiiiep.Zwar kann ich gehen, laufen, auf und ab, und mich anziehen, die Pflanze verfluchen, die vor mir über den Boden wuchert; doch kann ich keinen Finger rühren ohne damit den ganzen Körper zu zerreißen. Der Vorhang ist wie Schleifpapier; mein Schweiß wie Scheiße; der Holzboden ist eine Eisplatte, der Teppich gespickt mit Fuß- und Fingernägeln. Die Mauer starrt mich an, ein schwarzes Loch, scheint jeden Augenblick auf mich zu fallen. Rumms.Zwar kann ich Plan und Karte finden, die Worte, die ich aufgeschrieben habe, den Rucksack; doch jeder neue Schritt kommt überraschend, obwohl es doch ich bin, der ihn tut. Was ist ein Schritt, inmitten der Bewegung, Muskelkrampf, vom Gehirn bis zur Sohle, wenn er den Magen und die losen Teile nicht mit einbezieht? Mit jeder Drehung bleibt ein weiteres Stück von mir zurück.Noch eine Drehung, noch eine, noch eine. O wie schmerzhaft ist es, in dem Äußern ganz stark und frei zu sein, indessen man im Inneren ganz schwach ist, wie ein Kind, ganz gelähmt, als wären uns alle Glieder gebunden!Timor mortis conturbat me.

- Dienstag, 23. Oktober 2001 -16:09 „Wenn du mitmachen willst“, sagte Forcalimo. Losse nickte erneut: Nur tanzen jetzt. In neue Welten. Dachte sie. „Das Stück ist hochinteressant, was ich gehört habe. Es heißt das Niesen des Herkules, Numen Herculi. Nach irgendeinem Marionettentheater aus dem Rokoko, das heißt: wiedermal Tanzen wie an Fäden. Die Bühne ist ein Körper, nämlich der des Herkules, auf dem ihr als Pygmäen herumlauft. Und wenn er niest, ist das eine Katastrophe. Ihr werdet, glaube ich, sein Schnarchen darstellen. Eine der Pygmäenfrauen liebt den Riesen. So etwa mußt du dir das vorstellen.“Sie fragte nach dem Choreographen, um den Forcalimo so viele Andeutungen geschichtet hatte. Er antwortete: „Sein Name ist Schemajah Hillel (Betonung auf der zweiten Silbe, wie bei dir); keiner weiß, woher er wirklich kommt. Er war in Rußland und der Ukraine, in Japan und Thailand und beinah am ganzen amerikanischen Doppelkontinent. Mit der Commedia Rosicruciana hat er die Hierotogamia inszeniert, und mit Aimosh Laugh hat er sich endgültig gesundgestoßen. Er sammelt sich zusammen, wen er braucht, aus allen Gegenden der Welt; doch mindestens ein Drittel seiner Leute sind immer aus dem Aufführungsland. Die Sache hat also internationale Proportionen. – Ich hoffe, du kannst Englisch.“„Leidlich“, sagte Losse.“Stop – ”“Sufficiently”, she said.“That’s right. I know the date of the audition, if you’re still intent on going there. Are you?”“I am”, she said, and thought: to dance, only to dance, into new worlds, to dance, to break through. “I want to. When is it?”

55

Page 56: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

“On Thursday, November 15th, 2001”, he said. “In the old theatre. The one they wanted to pull down. The awful one.”Losse was on fire.Timor mortis conturbat me.

27. August Ich laufe und laufe, vor irgendwas weg, auf einem Berggipfel, unten das Tal, aber statt dem Brunnen ist dort ein glänzender See, wunderschön, ich will hinunter und falle. Es tut weh (besonders die Füße).

- Thursday, November 15th, 2001 -15:15 Now that the free section was done, he began to instruct her, to explain movements and sequences in minute detail: “What is a step?”, he asked at one point, “a step as a medium of art? It cannot be in the performing foot only, but all my limbs must know it, must participate. A step, any step, is movement that sets even the relaxed body parts a-flowing; it must be a whole from the soles of your feet to the very top of your head.” – And so he told her, while she listened with eyes closed, listening to the humming of the spotlight that burned into her hair and made her feel even more transparent than her mirror image was. And every two minutes or so, he would ask her to execute the action he had just described, and she tried, and tried hard; she was trembling a little, tensed up, but she moved the way he guided her.And then, after about half an hour of this procedure, he wanted her to let herself drop, as flabbily as possible, down on the floor in front of him. Carefully at first, then spasmodically, Losse simulated a downwards tumble and rested her brow at last on the cool, dusty floor of the stage; but the Master was not satisfied: “Relax, girl!”, he shouted, “relax! Do you never relax, girl?” –“Relaxation is not a part of Dance, is it? I relax when I am not dancing. Sometimes.”“Everything is part of the Dance; there can be no natural movement without relaxation. Dance flows; you are attempting to kill it.”“Flows.”“Once you have encountered Dance, there can be no step without it. – And even when there is no step, there is still Dance.”“But it is only a game!”“But there is nothing but the game; and therefore the game is serious. – Now, relax.”“I cannot.”“You can. You cannot tumble over your legs, tensed up like that. You will have to tumble over your legs. Ergo, relax.”Losse relaxed.Timor mortis conturbat me.

- Tuesday, November 6th, 2001 -17:44 “You will find no respect”, Forcalimo had said, “merely admiration. People will want to see you hop and roll on their command; they’ll want to make you lift your legs and look under your Toutou in civil voyeurism. But the one person they will congratulate, the one they will respect and envy, will be me, Fuscara. Of course there is a certain unfairness involved; it is an unfairness of Fate and social norms alike. They think that I am to be envied, and maybe I am, but I am surely not to be respected. As Cleveland has it: ‘It is the rose that bleeds when he / nibbles his nice phlebotomy.’ And it is you who will die, for the advancement of my glory.”“You will inherit all I leave”, Losse had answered, “for other than the memory of me, and some indelible traces in the Akasha, I will leave nothing behind: and that which I choose to preserve I will take with me into the Darkness, whereas everything else that belongs to me I shall burn up while I am still going.”And Forcalimo had laughed about her pooribathetic speech, because he did not understand.Timor mortis conturbat me.

- Thursday, November 15th, 2001 -15:03 “The schema is SCHeMA, and it has four sequences with four stages each. Have you forgotten your stances?”“I’m trying.”“Try harder. The first sequence is called UMBO, and it is all about the uterus, or rather the vagina dentata. It is dangerous, water, what we fear most. You cannot know it. Ergo, you will have to playact.”Losse was still standing upright, not moving a limb, and scarcely breathing. “Now move”, Hillel said. “Breathe regularly. With my whiteness I thee woo and with my silk breasths I thee bound. Listen: The First Stage. Ready?”It took Losse a few moments to find back to her natural breath rhythm, or to what she thought was her natural breath rhythm, and when she had found it, or believed she had found it, she felt all dizzy in the head, and the five thunderwords of the night returned to her. “Ready”, she said.“The First Stage: Closing in on yourself. Make a ball. Stop. Upright. Feet no more than two centimetres apart, toes oriented outwards. Now, bend your spine forwards ever so slightly. The head leads the movement, it

56

Page 57: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

commands, but it does, too, like a king of old, more, do not let your arms drop. Lift the elbows a bit; when your spine is horizontal, your arms must form a hexagon, shoulders the upper side, arms two sides each, feet the fifth. Right, turn your toes slowly inward until they meet. Stop.” – The wheelchair whirred, and Hillel took the part of the audience. – “Left elbow lower, a more acute angle on the right hand side, try for a straighter spine. Your knees may touch if they must. Memorise. That’s not it; stay.” – He moved back to the side of the stage. – “Now listen, but do not execute. You must fall backwards, upon your hindquarters – you are too bony there, it will hurt a bit, bad luck – you can move your feet a bit apart, toes still inwards-oriented, hands clasped and arms around your knees. – Interlude: Terminology. Toes in, toes out is clear; knees follow if not otherwise stated. Limb plus pyramid plus axis means that the limb in question is to form the cathets of a right-angled triangle with either the vertical body axis or the ground or any parallel of the two as its hypotenuse. Angles for limbs are given as clock times referring to the vertical body axis, the head being twelve o’clock. More terms later. – Now, when you drop backwards, you do legs pyramid ground. Got it? Memorise. Do it now.”Losse tried to keep her limbs under control while falling but couldn’t. When her bottom hit the floor, she gave a little squeak, but tried to fold herself into the requested position as quickly as possible, although she knew that she’d already failed the exercise. – “Now move your head in between you knees, as when the plane is crashing. All this must be one movement, no break, no disorientation. From when your head tells your spine to follow it downwards until you rest your head between your knees, all this is the first stage of the first sequence. It’s called Closing. Got it? Memorise.”Losse memorised.“Stay where you are”, the choreographer continued mere seconds later. “Second stage: Somersault. Draw your legs close to your body; keep your head protected. Shift your weight to the feet. No, you will have to lift your bottom from the ground, right, go on, now you are resting on your feet. Powerful ankles you have. Now do a forward roll. – That’s right, propel yourself forward, you are a wheel! Stop, don’t. Wait. When you roll, make sure you have enough impetus to stand up afterwards without using your hands. It will hurt a bit on the spine – too bony there, bad luck – and probably everywhere else. Try. Now.”Losse let herself drop forward, pushed helplessly with her feet, managed a tumbling roll during which the ground seemed to thump repeatedly upon all exposed places of her body, and landed like a helpless hedgehog somewhere near the edge of the stage, all sore and dangerously dizzy. “Not enough, eh?”, she asked, forcing a tense little laugh.“Again”, Hillel said.“But it hurts!”“Get back and try again. This is the second stage; getting up is the third. Try to do both in one flux.”Losse did; of course she had to move her hands in order to get up, but the whole exercise did not seem as impossible as it had before. She would have to do this over and over again, for weeks and months perhaps, until it looked any better than an uncontrolled tumble, but it was possible. And she was rather sure that her body would be perfectly numb in a few minutes, anyway.“Fourth and last stage of the first sequence”, the choreographer said; “First Death. Stand upright; legs six-thirty and five-thirty respectively, toes out, arms pyramid vertical. Memorise. Memorise.”Timor mortis conturbat me.

- Friday, November 16th, 2001 -04:30 It will be a dreary November night when I behold the accomplishment of his toils, and my ruin. I see him coming towards me, slowly, creeping, wheelchair whirring, he was going to die with me! He was going to die while stroking my body, was going to die because of me. I knew it, and yet I let him come. When beasts eat roses, I have learned, they turn into men and women. Honorable men and women, all.His fur was rough and it scratched my skin, drawing myriad lines of pleasurable pain over my legs, over my body; he was come to embrace me and to drag me down, he was going to make me his own and devour me. I remembered the prophecy, that it would be a heart attack, a mere heart attack, maybe for joy; but with a fear bordering on terror I saw that it was going to happen while I danced, and that I had no choice; so I reached out with my right hand and offered him the roses, and he ate, and died – then I awoke.Timor mortis conturbat me.

- Thursday, November 15th, 2001 -14:46-15:02 “Do not think. Do not look into the mirror, any mirror. Sooner or later, we will have to purge life’s poison out of your veins. You are too conscious. Think.““Please. What am I supposed to do?”“Whatever you think you can do best. You can stand still, if you want, but do it right. It’s one of the most distressing things for a dancer to do, to stand still. Can you hear the music? No? Imagine. Think. The most important thing is that you’re properly weighted. You have too little substance, by the way. I could break you with one finger; have you ever been broken? No, don’t run. Stay. Listen. We’re breaking the rules. He thought so; he feared it. Can you hear the music? A quick violin in the foreground, an accordeon, acoustic bass, sweet

57

Page 58: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

silent percussion; souse. You cannot stand on one foot; use your weight. You have to be properly sousled. Look at the old Pretschauer mother playing Daphne hunted by Apoll: her soul is in her upper spine, she bends as if to break it, like one of Bernin’s Najades. Look at your little Hagen, as Paris before the three Goddesses, giving the apple to Venus: his soul is actually in his elbow, it is a gruesome thing to see. Have you received your apples? Have you? Where’s your sumsa now?”Too much obvious tension in the elbow, she thought. The centers are all wrong, the joints inorderly distributed. What can she do but break the rules? His wheelchair whirrs.Timor mortis conturbat me.

15:17 “Second sequence, NIKE. This is air, you may know it; indeed, I guess you do. Walking against the rain, wasn’t it? Fighting gravity. Probably one of your most dominant topoi. Together with what we just did (which you will only yet come to really know), it forms the mercurium axis of our SCHeMA reading, which will be a kind of crucifixion all in all, familiar to the hashishim, no doubt. – Anyway, let’s go.”Losse had understood almost nothing, but she was getting used to that. “Please let’s”, she wanted to say, because her arms were beginning to ache in their pyramid vertical position.“Elbows back, hands remain in place just beside the hips. Listen: make a step forward with your right foot, slowly, with the tips of your toes scratching the ground. Breathe, girl, breathe. Now do it. – That’s the first stage already. Next one, shift your weight to your right foot and morph to arms pyramid horizontal, outstretched to the sides, at about the height of your shoulders. Slowly, girl, ever so slowly. Now do it. – You can also start to reel in your left foot in the meanwhile, but do not take your toes off the ground. – Very good. You are trembling now, of course, because we are going far too slow; anyway, some power training might be a good idea. Relax for a minute before we go on.”Relieved, Losse lowered her arms, feeling tinges of pain crop up every once and again beneath her clammy skin; then she sat down on the ground, stretched her feet, and laid down at last, all limbs outspread, on the dusty black planks of the stage.Schemajah Hillel was watching her with restless eyes, she knew; she had become accustomed to his stare as well as to the incessant whirring of his wheelchair, the strange beat in his voice and the faint echoes of Iberian music that escaped from his earphones every now and then. Sometimes Losse would think that he was not a cripple at all, but a cruel impostor who liked to make people pity him by his apparent physical incompetence, then take them to some lonely theatre for an “audition”, only to frighten them to death by hurling himself at them from the useless wheelchair, whirling like mad over the stage, and at last eating the corpses and telling everyone “they didn’t come to the audition! I waited for them for god knows how long, but nobody came, so I went home again, frustrated and hungry, um ...”“Rest is over, girl, up, arms pyramid horizontal shoulders, toes out, feet about twenty centimetres apart. Third stage, fold out your wings, arms straight, two-thirty and nine-thirty respectively, hands a bit behind your body axis, very good. Ever seen the Nike of Samothrake?”“Pictures of it”, Losse whispered; her throat was as tight as never before.“Fourth stage, listen: two steps forward, starting right, rather fast, leaving your hands behind, head upright. Stop with the weight on your left foot, right foot still trailing; when I watch you from the side, I want to see two lines, curves, one running up from toes right to your head, that is, from back bottom to front top, the other one from toes left to fingers, that’s from front bottom to back top. Smooth curves. When I watch you from the front, I want to see three lines, one straight from center to top, belly to head, the other two from toes left to fingers left, toes right to fingers right, smooth outward curves. Got it? Go.”Flying is quite a difficult exercise, even when you have done it before; and although Losse tried it three times in succession this time, she would tumble ever again over her toes (relax girl! eat shit!), see the ground, and kiss it. Eat dust! But still, every time she propelled herself forward to become air once more, her spirits soared as she met her mother’s loving gaze down in the auditorium, and when she fell, she fell in peace and happiness.“The point”, Schemajah Hillel said, “is that you will have to stop in Nike position. This is essentially impossible, but you will do it anyway. This is where we jump across the gap to get to the downward slope, the sulfur axis, the vertical bar of the cross. – But please take a rest again. I want to watch you.”Something snapped in Losses brain; a door opened, and suddenly she felt with the characters of IONESCO. She did not understand what they were doing, of course, but now she knew that she would have done the same in their place. “Go, go,” said Adelaïde.Timor mortis conturbat me.

- Wednesday, November 14th, 2001 -15:47 “When I say, make a circle, make a circle. Please. A circle. No, that’s an egg. Around me. I like to be in the center of the circle. I’m sorry, everybody, you don’t know me. Yet. OK, Martha, you do. So, now, do I get a circle? I want to be in the center, got it? I promise not to move. Thank you.”Timor mortis conturbat me.

58

Page 59: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

15:30 “HAUWA. Be vigourous, but not tensed up; take your measure nice and open-hearted. You must try and carry a simple air; your movements must appear simple, even if they require force and vigour. Be as relaxed as you can; remember, you are performing as a bird, a flying kite at best: you need to be pulled down, not up, by our strings. Memorise! we are not here, neither of us, because in fact we are not. We are puppets on the strings of unknown forces; not a thing, not a thing ourselves! – now go.”Haul in the other foot. What is a step. Nod. Numen Herculi. Back on the ground. Bottom on the ground. Feel your muscles. Relax. Rest. Whirr of the Wheelchair. He is a thing. Close up. Close in. “You are an embryo now. Oral bio-security. Up with you. Next sequence. Last.”Timor mortis conturbat me.

15:48 “MAINAD. Tear him apart and eat him up. Elephants on the stage. Everything going down. Up on your knees. Arms pyramid globe human. Now up again, upon your feet. No hands allowed; the impetus must come from your legs only. Jump. Now.”The autumn wind thundered against the walls of the old theatre; Losse heard it whispering between the bricks, sucking the air from inside out, pressing itself in, trying to get to her, longing to drink the sweat from her skin. – “Arc de cercle. Bend your back unto the point of breaking.” – Lights rose in front of her, vanished as she threw her arms back and screamed in bio-anxiety at the pain of it. Thick clouds of dust rose from the ruins of a demolished building, accompanied by meditative piano music. Her heart was pounding in the ancient scar on her forehead as she rose and fell into the other extreme, dropping forward to the commands of the choreographer, rolling over, and resting at last, spread out on the floor, on her back and half dead, hoping that she would be free at last, free at last. Whirr of the Wheelchair. Heart attack.“Wonderful”, said the freak. “And now do it all in one flux.”Timor mortis conturbat me.

- Friday, October 19th, 2001 -11:40 “Your friend will have to be immersed; in the end, she will be broken. This is all about Grace, you see.”Forcalimo nodded, although he did not. “Grace.”“The natural in the artificial, the redundant in the teleological. You have never seen graceful ballet.”“She dances in her sleep sometimes.”“Simulation. Deceit. They are good at that; want to be broken. Buzzed, stuck. She knows her stances well?”“They’re there.” Forcalimo’s security vanished. “I don’t know whether they’re in her head or in some other part of her body, but there they are.”“I will, of course, flood her with a new system of commands. For her to learn while doing, not by doing, at the same time. There will be some resistance, automatisms, free will, communication flaws; all the better for that. Stuck. At the end, she will be broken, and endure real dance, gracious dance. Forgive me.”“But you will not harm her, will you?”“It will be all death and resurrection, my friend.” Hillel’s wheelchair whirred. “You will inherit what is left.”Timor mortis conturbat me.

- Thursday, November 15th, 2001 -15:57 The anguish came back; everything threatened to collapse. “Do I really have to?” Losse asked, her arms clenched tightly around her waist, her aching back bent to avoid the pain. – “Well, I cannot do it for you, can I?”, said Hillel. (Losse dachte: deswegen! Pan kann nicht tanzen, weil er einen Klumpfuß hat; doch darum! tanzt um ihn alles herum! und darauf rammte er einen Huf tief in den Boden und riß sich, beidhändig, am Andern entzwei: Askeats, I am told! I am told! Devlinadummit, meankind’s oldest trickser! andiluvya) and she turned around on the spot and threw herself into the movement and became a flame; and she forgot her stances and twisted according to the rules of her subconscious, and her living being was in pain. Would it never end? her fingers cried; she whirled around and somersaulted, and all her muscles, then her bones, too, joined in the crying. Would no-one speak the word of loosening to hem the madness? But one last desperate effort succeeded in reactivating the Will; a sudden jerk flashed through her body, forcing it to stop amidst the most torrentious rotation; and then the immediate loss of all tension and control and the fall of the once wallstrait corpus to the floor. Leaving alive only one single feeling, that of the absolute loss of the body. And rose again, not moving by herself now but the center of a restlessly revolving world; nunc tellus pedibus pulsanda est!, the satyr cried, and Losse stumbled, fell again, over her tumptitumtoes and out of the world, not herself now, but a prop, a piece of stage, a putrefact, a head tropped dead: BANG.Timor mortis conturbat me.

16:05 Seine Augen starren noch immer, starren mich an und durch mich hindurch. Seine Augen starren noch immer, starren mich an, seine Hände um die Steuerung gekrallt, seine Haut blaß, hervortretende Adern, Mann. Der bleiche Lichtkegel auf der Bühne schien enger zu werden; der Wind pochte nicht mehr, ihre Wunde nicht,

59

Page 60: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

endlich kam die Angst; das Licht fiel aus – hatte sie nur ihre Augen geschlossen? – sie tastete sich hektisch durch die Stoffbahnen zum Ausgang, stieß sich die Stirn an der Türkante, und rannte laut schreiend hinaus.Timor mortis conturbat me.

16:27 Forcalimo taucht ein letztes Mal auf, beinah gleichzeitig mit der Rettung, in einer schreiend dummen, hastigen Szene; sie tragen Hillel auf der Bahre hinaus, haben ihn aus seinem Rollstuhl genommen; der surrt auf der Bühne noch vor sich hin; Herzversagen. Wunderbar. Töte mich. Ich bin dein Hund. Aus der Zukunft? Losse sieht schwarz.Timor mortis conturbat me.

/ | \

Interlude: Black

(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Wahre Engel des wahren Himmels, brennende Seraphs und denkende Cherubs, die am Throne Jehovas stehen! Rittertum und gottgemäßes Wesen! Prinz der Siebenzahl, der bald befiehlt und bald gehorcht! O ursprüngliches Geschlecht, endgültiges Geschlecht, unabhängig von der Liebe, unabhängig von der Form, Geschlecht, welches das Geschlecht leugnet, Geschlecht der Ewigkeit! Lob sei dir, Androgyn!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, zerplatzt unter dem Druck von seinem Eifer; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)

Поне да можех да преодолея умората

Adelaïde sagt: „Pia, du sollst deinem Vater nicht die Zunge herausstrecken. Schon gar nicht am Eßtisch.“ – Gerold ißt weiter seine Spaghetti, er hat aber jetzt die Augen geschlossen. – Anton sagt zu seiner Mutter: „Versuche gar nicht erst, sie zu erziehen. Erstens ist sie schwer erziehbar, und zweitens schaffst du es sowieso nicht.“Zweiter Teil, Die Erfüllung. „Es gibt noch einen dritten Teil, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt geschrieben wurde. Worden ist. Auf Provençal. Verklärung.“„Als ob du Geschirr waschen könntest“, sagt Pia und streckt ihm wieder die Zunge raus. „Na gut“, sagt Gerold und kneift Pia mit zwei Fingern in den Nacken, „dann hilft dir eben Pia.“„Fauler Sack“, sagt Pia, als ihr Vater den Raum verläßt. „Dummes Huhn“, sagt er zurück. Pia lacht kurz und drängt dann ihre Mutter vom Waschbecken weg. „Ich mach das schon“, sagt sie. Die Mutter sieht sie kurz an und beginnt dann, den Tisch abzuwischen.

На границата насмъртта

Da, unter dem Bett, ganz weit hinten: Ich sehe schon Sterne, der Staub kratzt mir in der Nase und der rissige Boden am Bauch. Und über mir knarrt die Matratze; es ist dunkel hier; mein armer Hinterkopf, du dummes Gitter. Da, unter dem Bett, ganz weit nach hinten geschoben, eine Kiste. Es war ihr Zimmer, ist ihre Kiste. Heraus damit, ans Licht.Ans Licht: Es ist gerade Lichtminute. Nur keine Zeit, mich in den Sonnenstrahl zu stellen; gleich ist die Wand wieder davor. Was ist in der Schachtel? Papiere. Viele beschriebene Zettel in ihrer Handschrift, der kleinen, niedrigen, feinen, wie auf meiner Geburtsanzeige, auf meinen Karten. Ich brauche ein wenig, um die Schrift wieder zu entziffern; ich habe den Karton in den Lichtstrahl gestellt, gleich wird er weg sein, wieder die Mauer davor, dummer Thomas!Da steht ein Märchen drauf, ein Märchen:

Vor ihrem Hause war ein Hof, darauf stand ein Wacholderbaum, unter dem stand die Frau einst im Winter und schälte sich einen Apfel, und als sie sich den Apfel so schälte, so schnitt sie sich in den Finger, und das Blut fiel in den Schnee."Ach," sagte die Frau, und seufzte so recht hoch auf, und sah das Blut vor sich an, und war so recht wehmütig, "hätte ich doch ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee." Und als sie das sagte, so wurde ihr so recht fröhlich zu Mute; ihr war recht, als solle das was werden.

Und dann bekam sie ein Kind, Lilien außen und Rosen darin. Sie bekam mich, aber zuerst Eruanno. Und das Blut fiel in den Schnee und wurde zur Rose, zum Kind, und wenn das Tier Rosen frißt, wird es zum Mensch, zum Mensch. Und bevor das Licht wieder ganz weg ist, auf der Rückseite:

Da ging sie nach Hause,

60

Page 61: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

und es ging ein Monat hin, der Schnee verging; und zwei Monate, da wurde es grün; und drei Monate, da kamen die Blumen aus der Erde: und vier Monate, da drangen sich alle Bäume in das Holz, und die grünen Zweige waren alle ineinander gewachsen; da sangen die Vögelchen, daß das ganze Holz schallte, und die Blüten fielen von den Bäumen; da war der fünfte Monat weg, und sie stand unter dem Machandelbaum, der roch so schön, da sprang ihr das Herz vor Freuden, und sie fiel auf ihre Knie und konnte sich nicht lassen; und als der sechste Monat vorbei war, da waren die Früchte dick und stark, da wurde sie ganz still; und der siebte Monat, da griff sie nach den Wacholderbeeren und aß sie so gierig, da wurde sie traurig und krank; da ging der achte Monat hin, und sie rief ihren Mann und weinte und sagte: "Wenn ich sterbe, so begrabt mich unter dem Wacholderbaum." Da wurde sie ganz getrost und freute sich, bis der neunte Monat vorbei war, da bekam sie ein Kind so weiß wie Schnee und so rot wie Blut, und als sie das sah, so freute sie sich so, daß sie starb.

Und schon ist das Lied wieder fort, das Licht, und draußen steht nur die speckige schwarze Mauer. Ach, dumme Schachtel, dumme dumme schwarze Schachtel. Aber. Noch ein Zettel: Auch ihre Handschrift. Mirimas. Mamas. Ein Gedicht

In the green morningI wanted to be a heart.A heart.And in the ripe eveningI wanted to be a nightingale.A nightingale.(Soul,turn orange-colored.Soul,turn the color of love.)In the vivid morningI wanted to be myself.A heart.And at the evening's endI wanted to be my voice.A nightingale.Soul,turn orange-colored.Soul,turn the color of love.

Jetzt ist es dunkel. Eine orangefarbene Seele würde kein Tier fressen. Eine orangefarbene Seele macht eine lilafarbene Hülle, einen magischen Schutzmantel, und kein Tier könnte mich fressen. Die dumme Mauer versperrt mir die Sicht. Eine orangefarbene Seele könnte draußen im Feld liegen und müßte sich nicht fürchten vor dem Tier oder dem Mähdrescher. Dumme dumme schwarze Schachtel.

Отче наш

(Sie sehen Losse, wie sie einen Daumen in den Mund steckt und vor der Schachtel hin und her wippt; dann wird es ihr offensichtlich zuviel, und sie schlägt mit einem Trotzlaut die andere Hand auf den Boden und wälzt sich darüber in die Höhe, streckt ein Bein vor und legt es auf die Bettkante, stellt sich mit beiden Armen auf den Boden, streckt einen Arm zum Bett und zieht sich hin, macht zwanzig Situps und bleibt dann am Rücken liegen. Den Tag heute verträgt sie nicht; sie hat sich in dem Zimmer ihrer Mutter eingesperrt; sie will nichts hören von der Liebe, von der Kunst, auch nichts vom Tod, seit sie Hillel getötet hat. Sie will nur ihre Ruhe, ihren Frieden. Irgendwann kauert sie sich dann zusammen und liest den zweiten Teil von IONESCO.)

61

Page 62: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Тревожни очи които неспират безумниДа молят

Original in Provençal. Erfüllung. Genau das Gleiche nochmal, aber man sieht ganz ein bißchen mehr. Anton geht hinaus und Pia und Gerold sehen zu. Bevor Anton die Türe zumacht, sagt er noch: „Idiot.“ Dann geht er ins Bad. Er sperrt die Türe zu, läßt sich heißes Wasser ein und zieht sich aus, dann legt er sich hinein. Er ist ganz leise, und er hört ein bißchen aus dem Nebenraum. „Jaja“, sagt er leise ins Badewasser. „Jaja, krank. Urlaub am Bauernhof. Die Geplagte.“

Зимата в която ще бъде написанДневникът на мечтите

18. November Ich liege in meinem Bett und schreibe Traumtagebuch. Ich habe nicht geträumt. Es ist die Nacht von Samstag auf Sonntag. Heute, in dieser schrecklichen Novembernacht, steht sein Werk vor dem Abschluß. Ich sehe ihn zu mir kommen, um seinen rauhen Tierkörper um meine Beine zu winden und mich zu Fall zu bringen, um mich zu umarmen und zu fressen; ich erinnere mich an die Verheißung und sehe mit einer Verzagtheit, die an Todesangst grenzt, deren Eintreffen entgegen: Ich weiß, daß es geschehen wird, ich habe keine Wahl; drum strecke ich also willenlos meine Rechte vor und halte ihm die Rosen genau vors Maul.Da faßt er das schimmernde Gewinde aus lieblichen Rosen mit begehrlichen Lippen und schlingt es nach Erfüllung lechzend hinunter. Ich sehe, es wird sich erfüllen, und er ist am Ziel, ich bin verloren: Wenn eine Bestie Rosen frißt, wird sie zum menschlichen Wesen. – Mit einem Mal fällt die Tiergestalt von ihm ab: Erst rieseln die grauen Borsten zu Boden, dann bildet sich die feiste Schwarte wieder zurück, der dicke Wanst glättet sich, die Hufe werden wieder zu Füßen mit Zehen, die Hände sind keine Füße mehr, sondern strecken sich und laufen in schmale Finger aus, der lange Hals verkürzt sich, Maul und Kopf runden sich, die großen Ohren gewinnen ihre alte Form zurück, die Zahnquader erhalten menschliche Zierlichkeit, und selbst das Schrecklichste, nämlich der Schwanz, verschwindet. Er ist jetzt ganz Mensch; seine helle Haut spannt sich straff über das Spiel der Muskeln und das Pulsieren der Adern darunter; sein schimmernd schwarzes Haar wallt über seine Schultern; seine Zähne sind makellos weiß wie Perlen. Er hat das Gesicht des Propheten, er hat TMPs Gesicht! – Er rührt mich an – ich tue nichts – bin tot – und ich erwache – nein – ich schlafe ein.

ИдеИде

- letzte notizen -Die Welt ist schwarz, genauso wie die Mauer. Pochendes Kopfweh, als ob Unterdruck in meinem Schädel wäre, so, als müsse man nur einen Hunderternagel im Stirn- oder Schläfenbereich ansetzen, ein kleines Loch klopfen, und mit einem kurzen Einsaugen von Luft wäre alles wieder in Ordnung. Was aber, wenn nicht? dann müßte sich die Stirn nach innen wölben, wie bei einem Ball aus Hartgummi, den man von unten her aussaugt. Plopp.

Инстинкт за самосъхранение сред титена на тресенияAm Sonntag, den 18. November 2001, lief Losse Anupadaka mit dem Kopf voran gegen die schon brüchige, geteerte Steinmauer vor ihrem Zimmerfenster. Sie war aus dem Fenster geklettert, dem einzigen ihres Zimmers, durch welches nur einmal am Tag für kurze Zeit ein Streifen direkten Sonnenlichts in den Raum fiel, und war über die Wiese gelaufen, was an ihren grün gefärbten Füßen noch erkennbar ist. Die Mauer kollabierte über ihr, als sie dagegenlief; die Ziegel gaben nach, und sie wurde von einer Person, die angibt, ihr Vater zu sein, unter den Trümmern gefunden. Es grenzt, nach den jüngsten Berichten aus der Notaufnahme, geradezu an ein Wunder, daß sie den Einsturz überlebte und ihr nicht sämtliche Knochen zerschmettert wurden.

А спасението ни линава през другите

“[2 volle Seiten Schwarz im Textbereich.]” (Laurence Sterne, „Tristram Shandy“)

/ | \

Seventh Movement: Textwherein the revelation of truth is presented as the final step towards the lower alchemical marriage, death and all

62

Page 63: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Ja hier, Sonnemann, ich kann dich fühlen, Muttermond über den Hügeln, fliegend, schwimmend, laß es regnen wenn es will, sanft oder stark, ganz wie es will, nur laß es ganz und teil es nicht und beiß nicht, nein, denn du verstehst mich nicht (ich träume noch): o könnte ich mich irren!A mon réveil, l’hôpital était méconnaissable. Ma chambre avait les dimension d’une salle de bal. J’étais allongée, seule. Mon lit était suspendu au plafond par des courroies: quand je bougeais, il remuait comme une escarpolette.und ich träumte, daß du glitzertest mit edelstem Betragen, aber du bist nur ein Bauer, und ich träumte, du seist überall der Größte, in der Schuld und in der Schönheit, aber du bist nur ein Bastard, geh nach Hause: meine Freundinnen sind anders, und man schilt sie, weil sie stolz und schlimm und schwammig sind, die Wasserhexen, aber nein!La distance qui me séparait du sol semblait de deux mètres. J’hésitai à sauter. Quand je me retrouvai par terre, une douleur à la tête me rappela l’accident que j’avais subie.sie haben nie gesehen, wie wir in ihren Hainen tanzten, wie ich unter ihnen war, Lassie Ohnepadecke, und wie sie hübsch war, Weinimma, wenn sie nach meinen Brüsten griff, und wie sie mich zog, Nimmfitte, wenn sie an meinen Haaren riß, deswegen sagt man, sie sind Windhauch und nicht mehr, deswegen sagt man, sie sind Eitelkeit, weil sie mich in die Höhe ziehen, ja, ja hier, schon höre ich dich singen, du erlöst mich?Tant pis. Je n’allais pas demander l’aide des infirmières pour si peu. Je me dirigerai vers la porte. Je l’ouvris et je tombai dans le vide.nein, beiß nicht, ich höre dich schon singen, wie ich hing, hing hoch, im Äußersthimmelwind, im einen, nein, mich kümmert nicht mehr, wie du heißt, wenn wir uns freibeißen, oh Frühling, nein, ich habe Angst, ich höre dich schon singen, Adler, nein, ich habe alles mitgenommen, was ich kriegen konnte, aber nein, ich fürchte mich, ich kann mich nicht mehr halten, wenn du singst, ich werde närrisch in der Einsamkeit, ich werde einsam in der Närrischheit, ich gehe fort, für deine Schuld, nur deine Schuld, ein schlimmes Ende, beiß nicht, nein, ich werde fortschleichen, bevor sie wach sind, und sie werden mich nicht sehen, werden es nicht wissen und mich nicht vermissen:

„Rose of the World !Ruby with blood from the bright veins of GodCaught in the chalice of your heart, and pearledWith dew at many a melting periodWhen the amethyst lustre of your eyes dissolvesThe veil that hides your naked splendourFrom these infirm resolvesAnd halting loves of your poor poet's soulWith radiance mild and tender,So that I see awhile the golden goal!Yea! all your light involvesMe, me tenebrous, me too cold and baseEver to kindle to the maiden face(Three years my wife, three years of me unwon!)That would be mine, be mine,Were I but man enoughTo endure the rapture of that sudden sunThe knowledge of your love,The assumption of me into that sweet shrineWhose godhead duly knowsOnly the one wind of the utmost heavenThrough hyacinthine deepsDown from the sapphirine steepsAnd azure abyss that blows;Only the one sun on the stepped snows;Only the one star of the sister seven;Only the one moon in the orchard closeIn the one hour that unto love is givenOf all the hours of bliss;Only the one joy in a world of woes;Only the one spark in the storm-cloud riven;Only the one shaft through the rose-dawn drivenThy shaft, Eros!Not as Apollo or as ArtemisLoosing grey death from golden thongTo slay the poet in a song,The lover in a kiss;But to divide the inmost marrowWith that ensanguine arrow;But to unite each bleeding partOf that most universal heart;Leaving us slaves, and kings;Bound, and with eagle's wings;One soul, comprising all that may be thought,One soul, conscious of nought.“(Aleister Crowley, Rosa Coeli)

Wer sind Sie?

Sie hätten Ihren Raum nicht verlassen sollen.

Ist mir etwas passiert?

Ja, das kann man so sagen.

Wer sind Sie? Jetzt erkennt sie langsam etwas, Lippen, die zusammenklappen, plopp, und wieder auseinander, dunkel ist es drin und glänzend, Spucke, dunkelrot, die Zunge legt sich an den Gaumen, an die Rückseite der Zähne, löst sich los und schnalzt, ein zärtliches Geräusch, der Druck beginnt in ihrem Herz und wandert durch

63

Page 64: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

den Hals in ihren Kopf, in ihre Schläfen, ihre Haut wird dick, sie sieht die kleinen Borsten auf der Oberlippe, er, die Haare in der Grube zwischen Kinn und Unterlippe, seine Nase, seine Nasenlöcher weiten sich, er kommt ein wenig näher, seine Nasenhaare zittern, wenn sie sich anstrengt, kann sie seinen Atem riechen, seine Augen sind verschwommen, groß und feucht, sie zucken, seine Lider fahren hastig drüber, zucken links und zucken rechts, jetzt sind sie nah und scharf, sie kann schon seine Wimpern unterscheiden, viele stehen schief, und dann berührt er mit der Nasenspitze ihre Wange, und sie zuckt zusammen und wacht auf und hört, was er gesagt hat:„Bald wird es dir wieder besser gehen. Bleib ganz ruhig. Die Ärzte wissen noch nicht, daß du wieder aufgewacht bist. Du bist schwächlich und ein zartes Wesen, frischer bist du als die Rose, weisser als der Schnee.“Jetzt drückt er seinen Wangenknochen tief in ihre Wange, er ist kalt und sie ist warm, nein, er ist warm und sie ist kalt, und seine Haut ist rauh und ihre glatt, er schabt mit seiner Wange über ihr Gesicht, dann reiben seine Lippen sich an ihren, bis sie ihre Augen schließt, dann öffnen seine Lippen ihren Mund, dann sagt er ihr das Wort in ihren Mund, dann küssen sie einander, und er schnurrt.

- mel et lac -Sie küssen einander. Er vergewaltigt ihren Mund. Sie ist zu schwach und kann sich nur verwundern.Der dicke, speckige Rauch von grünverbrannten Sträuchern ist in diesen Kuß mit eingeschlossen; der Rauch, mit dem die Bienen aus der Wabe vertrieben werden, auch der Stock, mit dem die Wabe aus der Astgabel gepflückt wird. Der Geruch zertrampelten Grases mischt sich in den Kuß, melkende Hände oder röhrende Maschinen, der feuchte Mund der Flasche und der Rahm, der oben schwimmt.

„O rose, thou art sick!The invisible worm,That flies in the night,In the howling storm,

Has found out thy bedOf crimson joy,And his dark secret loveDoes thy life destroy.“(William Blake, The Sick Rose)

„Ich werde dich verlassen“, sagte er; sie hielt die Augen noch geschlossen. An der Unterlippe fühlte es sich gut an; sie war zu schwach, um nachzusetzen, aber sie bemerkte. Es war seltsam. Sie schluckte, und die Dornen kratzten ihr die Speiseröhre auf. Aus ihren Mundwinkeln rann Blut. „Ich werde dich verlassen und nach Hause gehen. Ich bin müde, und hier kann man nicht schlafen. Aber ich komme wieder.“Sie schmeckte Blut auf ihren Lippen; ihr Kopf war leer. Metallischer Geschmack, nicht klar, woher, doch ansteckend. Ich bin im Sterbezimmer. 11. September Ich habe Angst. Das Tal, die Kinder, der Brunnen. Ich stehe am Rand, und irgendwas macht mich heiß, ich springe hinunter, ich habe Angst. Ich falle durch den kalten Wind, er wird stärker, das Wasser wirbelt auf, wird zu Gischt, zu weißem Schaum, rast auf mich zu, erfaßt mich, schleudert mich hoch wie eine Gummimatte. Der Brunnen zerspringt, schon tief unter mir, mit einem Klirren wie von Glas, und ich fliege. Also, ich falle fast schon wieder, ich sehe unten im Tal den See mit dem Wind, und über mir fliegt der häßliche Vogel und lenkt mich ab. Ich halte mich fest. Der Geier krächzt und erstickt und ich muß ihn loslassen und falle, alles ist schwarz wie eine Wolke falschrum, ich ziehe mich zusammen und wackle hin und her. Ich knabbere an meiner Hand. Ich will mich nicht bewegen: Alles ist kalt. Ich muß schneller atmen, ich will mich ausstrecken, alles tut weh, sticht durch den ganzen Körper von unten bis oben, ich sehe mich von oben, ich liege alles ausgestreckt auf einer endlosen weißen Fläche, ich wache auf.

Es schmeckte gut, es roch erbärmlich, aber egal, es roch nach ihm. Sie rieb sich mit den Schneidezähnen ihre Unterlippe; auf einmal wünschte sie ihn wieder her und krampfte sich zusammen, fast schon weinend, aber in Wirklichkeit wollte sie nur seinen Geist umfassen, seine Erinnerung, seinen Geruch. Sie blieb nicht lange eingerollt; mit wehleidigem Gesicht legte sie sich auf den Rücken.Ich bin im Sterbezimmer.Er ist gegangen und hat mich hier alleingelassen. Sie haben mich verlegt, weil sie wissen, daß ich sterben werde. Meine beiden Zimmergenossinen sind tot, sie haben sie bereits weggebracht, draußen in der Badewanne gewaschen und verbrannt oder begraben oder was immer sie hier mit den Toten tun. Ich werde bleich sein und starr und sie werden mich wegnehmen. Ich bin allein im Sterbezimmer, über mir die Haken, an denen sie die Toten wie Schweine aufhängen, an denen sie sie aufhängen, an den Fersen, um sie ausbluten zu lassen, einen Kübel darunter für die Eingeweide, kopfüber, Bauch offen, austrocknen lassen und rösten und die Schwarte in die Suppe werfen. Appetitlichere Menschen kommen in den Eintopf, ungetrocknet. Ich bin allein im Zimmer, werde starr sein.

Jetzt träume ich. Ich träume und sehe mir selber dabei zu. Ich sehe eine Katze, die über den Schreibtisch springt und alles durcheinanderbringt. Es ist eine Geschichte, die von ihr selber handelt. Sie frißt die Blütenblätter von

64

Page 65: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

den Rosen, die der Liebhaber gebracht hat. Dabei fällt die große Vase um, Kristallglas, und das Wasser löscht die Tinte aus. Oder, sie frißt die Blätter, nicht die Rosen. Und der Liebhaber: „Wenn Tiere Rosen fressen, werden sie zu Menschen, weißt du das.“ Die Frage ist nur: Träume ich das wirklich, oder denke ich es mir gerade aus?

- ich entschied, ich sei doppelt -Kaum hatte ich die Unterscheidung getroffen, als ich auch schon vor ihrer Türe stand und lauschte, wie ich sang. Es war ein moralisches Lied:O n ó n o. So keusch wie Eis, so rein wie Schnee seist du,

Du wirst doch der Verleumdung nicht entgehen;Geh in ein Kloster! Adieu!Und wenn du gar nicht anders kannst,Nimm einen Narren dir zum Mann,Denn wer zu klug ist, der weiß wohl,Daß er zum Monstrum wird an dir;Geh in ein Kloster! Geh nur rasch! und Adieu.

P e r d u r a b o. Dem Teufel deine Seel’! O dreifach WeheTriff zehnmal dreifach dein verfluchtes Haupt,Des Untat ihr das ihre hat verdreht!

Schon war ich drei, und focht mich mit dem Sänger; ich schlug, parierte, schlug wieder zurück. Mein Werkzeug ging entzwei; ich hielt mich an ihn; wir tauschten Waffen, drängten zu, und töteten – einander – mich. Ich ging, verzweifelt, denn sie war verloren. An mich verloren, leer und voll der Schande.

Und nun zu ihr. Ich ging zu ihr ins Zimmer und legte ihr wortlos das Buch auf den Nachttisch, das sie in meiner Bude vergessen hatte. Sie lag schweigend da, auf dem Rücken, die Decke in den Achseln eingeklemmt, die dürren Arme bloß darüber liegend. Ihre Augen waren hell und schwammig, kaum mehr lebendig, und sie blickte wortlos an die Decke, kurz auf mich, und nahm das Buch.

Noch einmal lese ich. Den ersten Teil, den zweiten Teil. Was wird im dritten sein? Wer ist der Mörder? Nein, ich frage noch einmal: Wer ist das Opfer? Einerseits die Mutter. Wer hat sie getötet? Ihre Tochter. Das bin ich. Oder ihr Sohn. Aber der hat das Buch geschrieben. Aber der hat das Buch geschrieben.In der zweiten Version stirbt dann der Vater. Wieso stirbt er? Weil der Leser mehr weiß. Und wer tötet ihn? Die Mutter. Weil die Mutter mehr weiß. Das bin ich. Der Leser ist die Mutter. Erst wird er getötet, weil er zu wenig mitbekommt. Dann tötet er, indem er mehr weiß. Tötet den Vater. Aber der hat das Buch geschrieben. Nein. Das Buch geschrieben hat der Sohn. Vater und Sohn und Autor sind eine Person? Nein, der Vater ist oben, im Himmel, und der Autor, der Geist also, ist Fleisch geworden, also Sohn.Wer die Geschichte liest, die von mir handelt, wird an diesem Punkt nicht mehr besonders überrascht sein, zu erfahren, daß mein Bruder Eruanno, den mein Vater Ohtarcalimo verstoßen hat, sich im Exil, das heißt in Wien, hier, in der Stadt, den Namen TMP gegeben hat, daß er jetzt mein Geliebter ist, mit voller Absicht, glaube ich, ich weiß es nicht, er muß es wissen. Aber ich, ich bin gerade erst drüber hinweg, es gar nicht wahrhaben zu wollen, und jetzt rast mein Herz und alles zittert und ich habe Angst. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt träume oder es mir ausgedacht habe.

Ich schreibe einen Brief an meinen Bruder. Er handelt von einem Molch, der aussen lacht, aber innen ist er voller Gift.

/ | \

Coda: Love

“And all shall be well andAll manner of thing shall be wellWhen the tongues of flame are in-foldedInto the crowned knot of fireAnd the fire and the rose are one.”

(T.S. Eliot, “Little Giddings”)

[ZEIT: alles am 17. Athyr = 13. November]

65

Page 66: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

[LOSSE angebl. in besorgniserregendem Zustand, da sie das Essen verweigert & verlangt, von ihrem Bruder mit selbstgebackenen Kuchen gefüttert zu werden (2 Sam. 13,1ff)– evtl. OC sagt das TMP, worauf dieser kursiv 1.Pers.Sg.Präsens ihn tötet (d.h. in Gedanken) und rausrennt – ]

[TMP geht aus dem Haus, wo er glaubt, OC ermordet zu haben – ABEND – STADT]Er, der sich immer auf die Kühle seines Verstandes, auf die klugen Schachzüge im Dienste seiner Intrigen und die reine, ungebundene Lösungskraft des Geistes gerühmt hatte, war nun in einem Zustand fieberhafter Erregung gefangen; eine Serie von Muskelzuckungen, nicht einmal durch spöttischen Rekurs auf Schundliteratur zu entkräftigen, entstellte sein Gesicht und zerrte seine Körperhaltung ins Lächerliche; seine Stimme dampfte, als sei er (er! die Verkörperung des Phlegmas, der merkurische Luftgeist selbst!) nun zu Schwefel geworden; und nichts wünschte er sich mehr als eine Salamanderhaut, auf daß er durch das Feuer gehen und unbeschadet wieder heraus kriechen könnte.Da trat mit einem Mal aus einer Seitengasse eine Gestalt zu ihm, ein junger Mann von weniger als dreißig Jahren, doch mit vollem Bart und den stieren Augen seiner Vorfahren. Die beiden erkannten einander sofort, und für einen Augenblick standen sie da, die Blicke verschränkt, das limbische System zu wahlweise Kampf oder Flucht bereit; dann hob Emil Glaend eine Hand, TMP duckte sich und streckte einen Fuß nach vorne, und der Ältere sprach: „Du Idiot hast das Familiengeheimis verraten. Dafür wirst du sterben.“Damit hatte TMP nicht gerechnet: Dem Schlag seines Gegners war er wohl entgangen (wenn er auch – noch konnte er sich’s nicht erklären – mit seinem Gegenschlag ins Leere gefahren war), doch dieser hatte mit Worten nachgesetzt und ihn schon halb vernichtet. „In diesem Moment liest deine Schwester nicht mehr; sie begreift. Und das, mein Freund, sollte bei aller Kunst doch nicht geschehen.“Sein rechter Fuß stak im Kanaldeckel, das Knie berührte fast den Boden; in einer pfeilschnellen Bewegung sprang der Junge auf und brachte sich in sichere Entfernung. Kaum merklich keuchend lehnte er an einer Mauerecke, ließ den bösen Glaend nicht aus den Augen. „Was willst du?“„Du brauchst mir nichts zu geben“, sagte der Bärtige; „nicht mehr. – Wir rotten uns zusammen.“„Du bist allein.“„Du verstehst nicht. Es war zuviel; du hast den Vater getötet und die Tochter eingesperrt. Sogar an Tiâmats Verbannung bist du schuld. Die Geister sind zu ihr gegangen, zu der Mutter, und sprachen ihr ins Gewissen. Sie sprachen: ‚Denke an Apsu, deinen Gemahl, und an Mummu, die in Ketten gelegt ward! Du bleibst allein, und irrest angstvoll umher. Liebst du uns nicht mehr? Unsere Augen sind geschwollen. Wir mühen uns unaufhörlich, damit wir schlafen können. Erhebe dich zum Kampfe, räche sie! Mutter, steh auf, vernichte sie!‘ – Und Tiâmat behagte diese Rede, und sie sprach: ‚Guten Rat gabt ihr. Laßt uns Ungeheuer schaffen, um die Götter zu bedrängen inmitten ihrer Wohnung. Laßt uns alle versammeln, die ihnen feindlich gesinnt sind; laßt uns die Götter bekämpfen!‘ – Und die Geister hörten dies und freuten sich, und sie alle begannen, Pläne des Zorns zu schmieden, ruhelos, den ganzen Tag und die Nacht hindurch. Sie nehmen den Kampf auf, sie toben, sie rasen; sie bilden eine Rotte, um den Kampf vorzubereiten. Die Chaos-Mutter, die alles gebildet, gab feste Waffen, gebar Riesenschlangen mit spitzen Zähnen, erbarmungslosen Kiefern; mit Gift anstelle von Blut füllte sie ihren Leib. Wütende Drachen von schrecklichem Anblick, von Furchtbarkeit strotzend, ließ sie erstehen: Wer sie erblickt, der soll erstarren; sie sollen springen, ohne sich zu wenden. Sie schuf Vipern, rote Drachen und graue Molche; den großen Löwen, den tollen Hund, den Skorpionmenschen; wütende Dämonen, Fischmenschen und Meer-widder, die schonungslose Waffen tragen und die Schlacht nicht fürchten. Gewaltig waren ihre Weisungen, unwiderstehlich waren sie: Elf Arten schuf sie so in Eile.“Als Emil ausgesprochen hatte, ertönte hinter den Häusern ein Rumpeln, und ein tiefes Zittern lief durch die Stadt, als würden ungenannte Kräfte in den tiefsten Tiefen der Erde rumoren; TMP drückte sich bleich gegen sein Mauereck, aller Mut und alle Kraft waren von ihm gewichen. Die Mutter kam! –da sah er den Vater. Der Geist mit verquollenen Augen, mit blutigem Gesicht und geplatzten Hautgefäßen, ein fettes, ithyphallisches Phantom, drängte sich aus den Schatten und vorbei an Emil Glaend, um dem Mörder, seinem Sohn, an den Hals zu fahren. – Doch Urizen blieb nicht allein; aus den düsteren Wolken des Himmels fuhr Enitharmon hernieder, die rächende Muse im Blutrausch, und Orc schrie heraus und wandte sich, er lief, wie von Winden getragen, durch die Gassen der Stadt, auf das Krankenhaus zu.Hinter ihm brüllten Dämonenhorden; Zoesser war da und Yllmaryon; Dahm und Arithmetock, Tanja und Laika; und mit OC und Mirima an ihrer Spitze hetzten sie Tû, den Verräter, den Spiegel, den Feind, der sie alle vernichten wollte; den Kalten, der nun endlich heiß geworden und schwach; doch noch floh er, noch war er nicht überwältigt.

[TMP flieht vor der Geisterhorde (Urizen und Enitharmon jagen Orc); gerade hat er allen Mut zusammengerafft & will den OC-Geist angreifen]

Doch gerade als er springen wollte, die Finger schon zu mörderischen Klauen verkrampft, stellte sich ihm ein riesiges Bild der Losse in den Weg, ein bleicher, aufgedunsener Schatten, und sprach: „Niemand kommt zum

66

Page 67: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

Vater denn durch mich!“ – Da packte den Jungen das Grauen, und er wandte sich herum und floh erneut, bis an die Tür des Krankenhauses, durch den Flur, an Losses Tür: Doch eines Tages würde er ihn kriegen.Hinter ihm wölbten sich die Gespensterleiber, drohten ihn zu ersticken, brachen sich über seinem gepeinigten Geist; er aber riß die Tür zum Krankenzimmer auf, drängte hinein, stieß die Türe zu und lehnte sich, im Fieber dampfend, mit dem Rücken fest dagegen.Losse blickte von ihrem Lager auf; in ihrem Herzen wogten Stürme. „Was ist mit dir?“, fragte sie unschuldig; doch jedes Wort war ihr ein Klumpen Glut. „Du bist gelaufen.“Da fiel die Furcht von ihm wie eine Schlangenhaut: Er wand sich kurz, und sie war fort. Die Spektren seiner Einbildung verflogen; nur noch ein Kern (ich krieg ihn noch!) verblieb und klopfte.„Es ist dein Vater“, wußte er, „und meiner auch. O Luna!“ – und er trat zu ihr.Ihr Blick war finster und ihre Haare wirr; sie wußte, was geschehen würde, und sie hieß es gut. Hinter ihrem Bett war eine Tafel, auf der stand: Ego genero lumen, nec tenebrae meae naturae sunt; dann kam ein Bild, und dann das Motto: Me igitur et fratri iunctis nihil melius ac venerabilius.

- femina super bestiam -„O Luna“, sagte er, „durch meine Umarmung und die süßen Küsse wirst du nun schön, und stark und mächtig, wie ich bin.“„O Sol“, sprach sie darauf, „dich schätz ich mehr als alles Licht! Doch auch du brauchst mich, wie der Hahn die Henne braucht.“Als er im Kerzenschein ihre Bluse öffnete, traten die Spitzen ihrer Brüste wie junge Knospen hervor. Sie war gewachsen, seit er sie zum letzten Mahl gesehen hatte, doch an ihr war kein Makel.Er stieg auf sie und rief nach seinem Vater: – „Tritt also ein zu deinem Sohn Gabricius, (der dir lieber ist als alle deine Kinder), und seiner Schwester Beya, die eine zarte, schöne und süße Jungfrau ist. Gabricius ist der Mann, und Beya ist die Frau, die ihm alles gibt, was an ihr ist. Und sie wird mir Flügel geben, wie die Taube, und ich werde mit ihr am Himmel dahinfliegen. Da werde ich sagen: Ich lebe ewiglich.“[OC widerspricht, er solle seine Tochter nicht vernichten]

[...]TMP: Du Narr, was du säest, es wird nicht lebendig, es sterbe denn. Ich trete ein als Korn und komme hervor als Brot. Die Götter leben in mir, ich lebe im Korn, ich wachse im Korn, das die Himmlischen säen, verborgen in Geb.(In H.C. Andersens „Der Rosenelf“ wird ein Prinz, während er eine Rose küßt, enthauptet.)OC: Du wagst! Du hörst nicht! halt! das ist zuviel! – –

- yoni soit ki mali pens -Der Feind! ich kann es noch nicht fassen. Das Feuer in den Augen meines Sohnes: hat er mich doch seiner Mutter beraubt, und nun umschlingt er noch meine Tochter. Er ist ein Pfeiler, ein brennender Stahl, und die Flammen greifen auf schon auf meine Tochter über! Er hat’s gewagt, der Feuermann, er muß bezahlen: Ich rette sie und sie ist doppelt mein!Er blickt mich an, er spottet noch, er ruft: – „So faßt Euch doch und fallt nicht aus der Rolle!“Und kann ich denn nicht seine Maske nehmen, und kann ich nicht an seiner Stelle sein? Ist denn der Sohn ein Andres als der Vater, und lebt nicht Mirima in Losse weiter? – „O meine Luna!“ nennt er sie, und wie errötet die Nacht, als sie vom Tag entjungfert wird: Sie wurde in der Nacht geboren, und sie gehört der Erde an; das Feuer des Tages muß an ihrer ruhigen Macht vergehen:„Tenibrarum principessa, devitiarum & infirarum, Dea, hunc Incubum in ignis eterni abisum, accipe aut in hoc carcere tenebroso, in sempeternum astringere mando.“

Und obwohl Gabricus von Beya mit innigerer Liebe gehalten wird, kann ohne Gabricus nichts geboren werden; denn in diesem Augenblick ist die Ver-einigung von Gabricus und Beya tot.Denn Beya steigt auf Gabricus und schließt ihn in ihren Schoß ein, so daß von ihm gar nichts mehr zu sehen ist. Mit so großer Liebe hat sie Gabricus umfangen, daß sie ihn völlig in ihre Natur aufnimmt und ihn in untrennbare Teile trennt.Der Mann spricht:Die Empfängnis verändert das Blut, das zuvor wie Milch war.Was bleich war, wird schwarz, das Rote ist aufgelöst und leuchtet.Wenn die Weiße Frau mit dem Roten Mann Hochzeit hält, umschlingen sie einander, und vereinigen sich in der Umarmung.Durch sich selbst werden sie aufgelöst, und durch sich selbst werden sie zusammengebracht,So daß sie, die einst zwei waren, zu einem einzigen Körper gemacht werden können.

„Tetelestali! –“

67

Page 68: BEAUTY - Zentraler Informatikdiensta0205667/BEAUTY4.doc  · Web viewAo se conformarem em livro, ... „Zwei Äpfel“, sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden,

„Wo sind sie? – “

Losse rülpste und sagte: „Consummatum est.“

Nostrum statum pingit rosa,nostris status decens glosa,nostrae vitae lectio;quae dum primo mane floret,defloratus flos effloretvespertino senio.

68