28
Semiose im Drama Bedeutungsproduktion auf der Bühne und im Film am Beispiel der Verfilmung „Romeo und Julia“ von Baz Luhrmann, USA 1996 Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte von Tobias Gramowski an der staatlich anerkannten Berufsfachschule: Schauspielschule Theaterwerkstatt Mainz30. Januar 2000 Tobias Gramowski Forsthaus Stüterhof 67661 Kaiserslautern

Bedeutungsproduktion auf der Bühne und im Film im Drama an Romeo und Julia.pdf · Theater, Kino- und Fernsehfilm, Werbefilm, Daily Soap, Musical, Ballett, Pan- tomime, Sketche in

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Semiose im Drama

Bedeutungsproduktion

auf der Bühne und im Film

am Beispiel der Verfilmung „Romeo und Julia“

von Baz Luhrmann, USA 1996

Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte

von Tobias Gramowski

an der staatlich anerkannten Berufsfachschule:

Schauspielschule „Theaterwerkstatt Mainz“

30. Januar 2000

Tobias Gramowski

Forsthaus Stüterhof

67661 Kaiserslautern

Inhaltsverzeichnis

Seite

I Einleitung

1

II Was ist Drama?

2

III Bedeutungsproduktion im Drama:

Gemeinsame Grundlagen filmischer und theatraler

Zeichensprache

4

IV Besonderheiten theatraler Bedeutungsproduktion

6

V Besonderheiten filmischer Bedeutungsproduktion

8

VI Semiotische Analyse ausgewählter Zeichenebenen in der

"Romeo und Julia" - Verfilmung von Baz Luhrmann,

USA 1996

10

VII Schluß

22

VIII Literaturverzeichnis

24

IX Anhang

26

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 1

I Einleitung

Was heißt es, Schauspieler zu sein im ausgehenden 20. und beginnenden 21.

Jahrhundert?

Der technische Fortschritt des 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, daß sich die

Berufsausübung des Schauspielers längst nicht mehr auf das live aufgeführte

Bühnendrama beschränkt.

Neue Technologien schaffen neue Medien. Neue Medien haben neue Charak-

teristika und stellen neue Anforderungen an den Schauspieler.

Als Schauspieler kann man sich dem Umgang mit diesen neuen Medien stellen

oder versuchen sich Ihnen - zumindest was die eigene Arbeit betrifft - zu ent-

ziehen.

Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich mich auf theoretischem Wege dieser

Herausforderung stellen.

Ich gehe dabei von der Annahme aus, daß alle Formen des Dramas auf den

gleichen „Grundgesetzen“ basieren und daß der Umgang mit den verschiede-

nen Medien durch Modifikationen der Art des Ausdrucks und der handwerkli-

chen Techniken der Künstler erreicht werden kann.

Zuerst werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der theatralen und fil-

mischen Bedeutungsproduktion behandelt.

Dann geht es darum, an einigen Aspekten der „Romeo und Julia“ - Verfilmung

von Baz Luhrmann semiotische Vorgänge exemplarisch aufzuzeigen.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 2

II Was ist Drama?

„Drama simuliert, spielt oder spielt Ereignisse nach, die in der ‘wirklichen’ oder

einer erfundenen Welt stattgefunden haben oder stattgefunden haben könn-

ten.“1

Allgemein kann man sagen: Drama ist „mimetische2 Handlung im Sinne des

Nachspielens wirklicher oder erfundener Ereignisse, die mit Handlungen und

Interaktion von Menschen, echten oder simulierten (zum Beispiel Puppen oder

Zeichentrickfiguren), verbunden ist und vor einem Publikum stattfindet, als ge-

schähe sie genau in diesem Moment.“3

„Ein dramatischer Text ist ein Entwurf für solch eine mimetische Handlung; er

selbst ist im eigentliche Sinne noch kein Drama. Unaufgeführt ist ein dramati-

scher Text Literatur. Er kann als Geschichte gelesen werden.“4

Diese sehr weit gefaßte Definition hebt die alte, einfache Definition Drama =

Bühnenstück auf und schließt viele der Medien, die im Laufe des 20. Jahrhun-

derts entstanden sind mit ein.

Theater, Kino- und Fernsehfilm, Werbefilm, Daily Soap, Musical, Ballett, Pan-

tomime, Sketche in einer Comedy-Show, Puppentheater, Hörspiel alles das

ist Drama, egal ob live auf der Bühne, im Kino, im Fernsehen, von einer Video-

kassette, einer CD-ROM oder via Internet rezipiert.

Diese im 20. Jahrhundert neu entstandenen Medien (v.a. Film und Video)

führten zu einer viel weiteren quantitativen Verbreitung von Drama als das vor-

her überhaupt möglich war.

Drama wurde dadurch zum „Alltagsereignis“ und wird heute von den meisten

Menschen fast täglich konsumiert.

1 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 24, Reinbek bei Hamburg 1989 2 mimetische = abbildende, nachahmende 3 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 28, Reinbek bei Hamburg 1989 4 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 24, Reinbek bei Hamburg 1989

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 3

Ob die Zunahme an Quantität auch automatisch einen Qualitätsverlust mit sich

bringt, ist zwar eine interessante Fragestellung, aber nicht Gegenstand dieser

Betrachtungen hier.

Vielmehr geht es hier um die Frage, welche künstlerischen Möglichkeiten durch

diese neuen Medien geschaffen wurden. Denn jedes Medium hat seine spezi-

ellen Möglichkeiten und seine speziellen Probleme, mit denen der Künstler um-

gehen können muß.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 4

III Bedeutungsproduktion im Drama: Gemeinsame

Grundlagen filmischer und theatraler Zeichensprache

Wenn ein Mensch Drama konsumiert (aus welchen Gründen auch immer er

dies tut, ob zur Unterhaltung, zur Bildung, zur Zerstreuung oder, wie in unserem

Fall, beruflich) ist er zur Wahrnehmung, genau wie im Leben, auf seine Sinnes-

organe angewiesen: Er nimmt Sinneseindrücke auf, die von anderen Menschen

(den „Machern“ des Dramas) ausgehen.

Ein Mensch sendet, ein anderer nimmt wahr. Das nennt man Kommunikation.

Und Kommunikation bedarf Zeichen, also Signale die vom Sender bewußt oder

unbewußt ausgesendet und vom Empfänger wahrgenommen werden.

Dieser interpretiert sie entweder bewußt-kognitiv oder unbewußt-intuitiv. Diesen

Vorgang nennt man Dekodierung der Signale oder Zeichen.

„Zeichen (...) sind Hilfsmittel, die (...) eingesetzt werden um Kommunikation

herzustellen; Hilfsmittel, mit denen eine Person oder eine Gruppe von Personen

beabsichtigt, einer anderen Person eine Aussage oder Botschaft zu übermit-

teln.“5

Im Zusammenhang mit der Schaffung von Drama künstlerisch tätig sein, be-

deutet, solche Zeichen bewußt zur Bedeutungsproduktion, d.h. zur Vermittlung

einer Aussage einzusetzen, wobei die Kunst des Schauspielers besonders da-

rin besteht, nicht-intentionale Zeichen zu produzieren.

Nicht-intentionale Zeichen sind „spontane, unbeabsichtigte menschliche Hand-

lungen oder Gesten, die verborgene Gefühle offenbaren und von einem Be-

obachter gedeutet werden können.“6

Wenn solche Zeichen im Zusammenhang mit den Charakterzügen und der

Vorgeschichte der Figur, sowie den situativen Rahmenbedingungen einer

5 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 44, Reinbek bei Hamburg 1989 6 Eco, Umberto: Semiotik - Entwurf einer Theorie der Zeichen, Seiten 39-41, München 1987

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 5

Szene stehen, vermitteln sie die Illusion lebensnaher Menschen auf der Bühne

oder auf der Leinwand.

„So könnte die Kunst der Darstellung beschrieben werden als größtenteils be-

schäftigt mit dem bewußten, absichtlichen (...) Gebrauch ‘nicht-intentionaler’,

‘unbeabsichtigter’ Zeichen oder ‘Symptome’. Ein Schauspieler, der auf der

Bühne bewußt errötet, produziert ein Bild (...) einer Person, die nolens volens

solch ein ‘unbeabsichtigtes’ Symptom der Verlegenheit zeigt. Tatsächlich ist die

Fähigkeit willentlich zu erröten, zu lachen oder zu weinen, Teil des Handwerks

des Schauspielers.“7

Je mehr der einzelne Künstler in der Lage ist, sich der Zeichen, die er setzt be-

wußt zu sein, und sie zu kontrollieren, desto präziser kann er seine Wirkung

und damit seine Aussage determinieren.

Der Schauspieler simuliert also das Senden unbewußter Signale seiner Figur.

Doch genau dem Umstand, den der Schauspieler bei seiner Figur simuliert,

nämlich der unterbewußten Zeichenproduktion, unterliegt er - der ja selbst ein

Mensch ist - bei aller Kontrolle natürlich auch selbst. Er wird also auch immer

einige Zeichen aussenden, die nicht aus seiner Figur, sondern aus ihm entste-

hen. Das führt zu einer gewissen Unschärfe und Unkontrollierbarkeit der Wir-

kung.

7 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 46, Reinbek bei Hamburg 1989

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 6

IV Besonderheiten theatraler Bedeutungsproduktion

„Was das ‘Live-Theater’ betrifft, so ist sein einzig wirklich spezifisches Merkmal

und eines, das einen gewaltigen Vorsprung gegenüber den mechanisch repro-

duzierten Formen von Drama ausmacht, seine Fähigkeit, zwischen Darstellern

und Publikum eine unmittelbare Interaktion herzustellen, ein kontinuierliches

Feedback von Reaktionen. (...) Angesichts solcher Reaktionen können die

Schauspieler ihr Spiel sofort modifizieren und anpassen.“8

Was ist also das fundamentale an einer Live-Aufführung?

Die Darsteller sind wirklich persönlich anwesend und spielen die Handlung ge-

rade in diesem Moment für genau dieses Publikum. Die sich aus der Schau-

spieler-Publikums-Relation ergebenden Modifikationen sind einzigartig. Sie

treten so nur bei dieser einen Aufführung auf. Das schafft die besondere Atmo-

sphäre von Live-Aufführungen und erhöht die Spannung.

Theaterproduktionen sind, wenn sie abgespielt sind, nicht weiterhin verfügbar,

so wie beispielsweise alle halbwegs erfolgreichen Kinofilme in Videotheken

ausleihbar oder als Kaufkassetten erhältlich sind oder irgendwann im Fernse-

hen vermarktet werden. Eine Serie von Live-Aufführungen ist irgendwann end-

gültig vorbei. Auch das erhöht die Spannung.

Außerdem ist eine Live-Aufführung grundsätzlich ein prekäres Unterfangen, bei

dem eine ganze Menge schiefgehen kann. Und auch das trägt zum besonderen

Reiz einer Live-Aufführung bei.

Der „Fokus“ in der Live-Aufführung

Auch wenn in einer Theaterinszenierung sicherlich viele Zeichen gesetzt wer-

den um den Fokus des Zuschauers auf einen bestimmten Teil der Spielfläche

8 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 94, Reinbek bei Hamburg 1989

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 7

oder auf eine bestimmte Figur zu lenken, so bleibt der Zuschauer doch sehr frei

in der Wahl seines Fokus.

Die Bühne ist ein dreidimensionaler Raum mit meist mehreren Darstellern, ei-

nem Bühnenbild, Requisiten, Kostümen, usw.. Alle Darsteller auf der Bühne

sind - auch wenn sie nicht sprechen - grundsätzlich immer in ihrer Rolle.

So hat der Zuschauer immer die Möglichkeit, seinen Fokus frei zu wählen; also

bewußt oder unbewußt frei zu entscheiden, was er wahrnimmt und was nicht.

„In dieser Hinsicht tut der Zuschauer einer Live-Aufführung das, was die Ka-

mera in den filmischen Formen des Dramas für ihn tut: Er schafft eine Reihe

von Großaufnahmen oder Totalen, eine selbständig ausgewählte ‘Montage’ von

konzentrierten Bildern.“9

Daraus ergibt sich eine logische Konsequenz für die Rezeption einer Live-Auf-

führung:

Wenn jeder einzelne Zuschauer in hohem Maße selektieren kann und muß,

welche Zeichen er nun aufnimmt, welche nicht, und das gemäß seines eigenen

Charakters, seiner Psyche, seiner Kunstauffassung, seiner Konzentration, sei-

nes Alters, seiner Generation, seines Geschlechts, usw. auch tut, dann ergibt

sich ein breites Spektrum an möglichen Rezeptionen, Reaktionen, Auslegun-

gen und Wirkungen.

Ganz anders ist das beim Filmdrama in Kino:

„Die Fähigkeit des Mediums, durch Manipulation des Blickwinkels die Aufmerk-

samkeit aller Zuschauer auf die gleichen Details zu lenken, verstärkt hier die

Uniformität der Publikumsreaktion.“10

Deutlich wird das meiner Ansicht nach auch daran, daß Film- und Fernseh-

drama viel zielgruppenorientierter produziert und damit viel stärker kommerziell

vermarktet werden kann.

9 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 96f, Reinbek bei Hamburg 1989 10 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 104, Reinbek bei Hamburg 1989

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 8

V Besonderheiten filmischer Bedeutungsproduktion

„Die Kamera als Auge des Zuschauers“11

Die wichtigste Grundvereinbarung des Films ist die, daß die Zuschauer das,

was sie auf Leinwand oder Bildschirm sehen, obwohl es gefilmt, bearbeitet und

projiziert ist, als selbst gesehen akzeptieren.

Daß dieses Phänomen nicht nur auf einer künstlerischen Grundkonvention12

beruht, sondern im Menschen selbst verankert zu sein scheint, wird an einer

Anekdote über eine der ersten Filmaufführungen in Paris deutlich:

Die Zuschauer, die noch nie einen Film gesehen hatten, bekamen bei einer

Aufnahme der Bahngleise in einem Bahnhof, bei der ein Zug auf die Kamera

zurollte, tatsächlich Angst überrollt zu werden. Sie hatten „mit eigenen Augen

gesehen“, daß ein Zug auf sie zurollt und das instinktiv als Bedrohung „ihres

eigenen Lebens“ gewertet.

Das funktioniert prinzipiell auch heute noch. Man denke nur an die sogenann-

ten 180°- oder 360°-Kinos, bei denen über eine spezielle Projektionstechnik ein

spezieller Film auf eine kuppelförmige Leinwand projiziert wird, die den Zu-

schauer ganz umgibt. Man nimmt dann sogar aus den Augenwinkeln Bewe-

gungen wahr. Die Illusion ist so perfekt, daß einem bei rasanten Szenen kör-

perlich richtig übel werden kann.

Der Zuschauer nimmt also das Bild, das er gezeigt bekommt so wahr, als

würde er es selbst sehen. Im Theater ist das von vornherein so, da die Figuren

ja sowieso leibhaftig auf er Bühne stehen.

11 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 98, Reinbek bei Hamburg 1989 12 „Jede Kunst und die Kunst des Dramas im besonderen basiert im wesentlichen auf Übereinkünften zwischen dem Künstler und seinem Publikum und ist daher eine erworbene Fähigkeit, die letztlich gelernt werden muß. Ein großer Teil dieses Lernprozesses geschieht fast automatisch, einfach durch regelmäßige und anhaltende Konfrontation mit den herrschenden Konventionen.“ (Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 51, Reinbek bei Hamburg 1989)

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 9

Der „Fokus“ im Film

Eine der Hauptgestaltungsmöglichkeiten des Films besteht darin, den Fokus

des Betrachters zu lenken.

Das was im Theater meist durch Einsatz von Licht, proxemischen Zeichen13

und einer Präsenz- oder Spannungshierarchie erreicht wird, geschieht im Film

zunächst einmal durch die Wahl des Bildausschnittes und der Kameraposition.

Im Theater sitzt der Zuschauer gewöhnlich auf seinem Stuhl. Auf der Bühne

findet in einem Bühnenbild eine Handlung statt, die er von außen beobachtet.

Der Zuschauer kann weder wesentlich näher ans Geschehen ran, noch weiter

weg. Er kann nicht von oben, unten oder seitlich auf die Szene schauen, sieht

nicht, wie eine Figur aus der Position einer beliebigen anderen Person aus-

sieht, usw..

Genau das und vieles mehr ist im Film durch die Wahl der Kameraposition und

die Verwendung verschiedener Objektive möglich.

„Auf der anderen Seite erlaubt diese ‘totale Kontrolle über das Auge des Zu-

schauers durch die Kontrolle der Kamera’ dem Regisseur auch, den Blick des

Zuschauers willentlich einzuschränken: Er kann ihm die Hand des Mörders zei-

gen, ohne das Gesicht, das die Identität des Mörders offenbaren würde, zu ver-

raten (...)“14

Für das Medium Film ergeben sich also eine große Zahl spezieller Gestal-

tungsmöglichkeiten, die sogar Spezialisten erforderlich gemacht haben, die es

im Theater gar nicht gibt. Es entstand der Beruf des Kameramanns.

Dieser bedient nicht nur die Technik der Kamera, sondern ist vielmehr als „Bild-

regisseur“ (wie man die treffendere englische Bezeichnung „director of photo-

graphy“ frei übersetzten könnte) künstlerischer Spezialist für die besonderen

Ausdrucksmöglichkeiten des Mediums Film.

13 Proxemische Zeichen sind Zeichen, die sich aus der Figurenkonstellation im Raum herleiten. 14 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 98, Reinbek bei Hamburg 1989

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 10

VI Semiotische Analyse ausgewählter Zeichenebenen in

der "Romeo und Julia" - Verfilmung von Baz Luhrmann,

USA 1996

Ein Umstand, der die Verfilmung schon von vornherein interessant macht und

deshalb natürlich auch zur Werbung eingesetzt wurde, ist die scheinbare Wi-

dersprüchlichkeit der Verwendung klassischer Sprache in einem Film, der in

der Jetzt-Zeit spielt.

Es ist die Umsetzung eines klassischen Theaterstückes mit gebundener Spra-

che an einem modernen Schauplatz mit Requisiten, Kostümen, Frisuren, usw.,

die aus einer fiktiven Jetzt-Zeit, einer fiktiven Kultur und einer fiktiven Gesell-

schaft stammen.

Aus Shakespeares fiktivem Ort Verona wird der fiktive Ort Verona Beach.

Montague und Capulet sind Großindustrielle. Montague und die Lady Capulet

tragen amerikanische Vornamen. Graf Paris heißt mit Vornamen Dave und ist

ein junger Star-Anwalt. Escalus, der Fürst von Verona (Prince of Verona im

englischen Original) wird zu Captain Prince, dem kommunalen Polizeichef. Die

Angehörigen der Wache sind Angestellte von Sicherheitsunternehmen. Die

Nachricht für Romeo in Mantua soll von einem Briefzustelldienst ausgeliefert

werden, usw..

Wenn beispielsweise von einem Schwert gesprochen wird (Benvolio: „Steck ein

dein Schwert“), so ist damit eine Pistole gemeint, auf der der fiktive Marken-

name „sword“ (englisch für Schwert) eingraviert ist.

So wurden für viele Figuren, Berufe, Schauplätze und Requisiten moderne Ent-

sprechungen gefunden.

Der daraus entstehende besondere Reiz resultiert aus einer Kombination von

Zeichen und Zeichensystemen, die im Film normalerweise nicht miteinander

kombiniert werden.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 11

Er besteht in Dissonanzen zwischen den sprachlichen und visuellen Zeichen, in

einer Dialektik, die dazu führt, daß die Zeichen über ihre bloße ikonische15 Be-

deutung hinausweisen.

Das sprachliche Zeichen Schwert steht auf der ikonischen Ebene zunächst

einmal für ein Schwert, Das visuelle Zeichen Pistole steht für eine Pistole.

Die Synthese findet sich auf der symbolischen Ebene:

In der Geschichte, die hier erzählt wird, trägt ein Ding, das bei uns Pistole hei-

ßen würde eben die Bezeichnung Schwert.

Durch die Detailaufnahme der Gravur des fiktiven Markennamen „sword“ (Eng-

lisch für „Schwert’) auf der Pistole wird das zusätzlich verdeutlicht.

Das sagt den Zuschauern: Das hier ist nicht deine Realität, sondern eine

Phantasiewelt mit anderen Konventionen als deinen. Eine Phantasiestadt, eine

Stadt, in der alles möglich ist.

Die beschriebenen Modernisierungen werden in strenger Analogie zu Shake-

speares Text vorgenommen; ohne Rücksicht darauf, daß manches in unserer

heutigen Zeit so analog umgesetzt unrealistisch ist.

So ist in Shakespeares Stück der Fürst von Verona ein Alleinherrscher, der

Entscheidungen, wie beispielsweise Romeos Verbannung, monarchisch ver-

fügt. Daß ein Polizeichef in den USA solche Entscheidungen treffen kann, ist im

Sinne der Gewaltenteilung undenkbar.

Da die Macht des Souveräns in der Verfilmung aber eins zu eins auf den Poli-

zeichef umgesetzt wurde, können wir unmöglich annehmen, daß in diesem Ort

das Recht der Vereinigten Staaten von Amerika gilt, obwohl viele der Drehorte,

Requisiten, Kostüme, Frisuren usw. der amerikanischen „Kultur“ entstammen.

Mit einer Reihe weiterer Zeichen verhält es sich ähnlich: Zum Beispiel ent-

spricht die Selbstverständlichkeit, mit der in Verona Beach Schußwaffen offen

15 bildhaft, anschaulich (Ein Ikon ist ein Zeichen, das auf der einfachsten Bedeutungsebene einfach nur das abbildet, was es bedeutet.)

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 12

getragen werden - trotz der lockeren Waffengesetze in den USA - keinesfalls

US-amerikanischer Lebenswirklichkeit.

Und so ist Shakespeares Stück nicht einfach modernisiert und trivial in die heu-

tige Zeit umgesetzt, sondern es bleibt archaisch und modellhaft. Der fiktive

Schauplatz Verona wird nicht einfach zu Los Angeles oder New York, sondern

bleibt auch in der Modernisierung noch fiktiv.

Die Modellhaftigkeit der Geschichte wird zusätzlich durch eine Rahmung her-

ausgestellt, die in der An- und Abmoderation durch eine Nachrichtensprecherin

besteht:

Noch vor dem Vorspann erscheint ein Fernsehgerät mit einer Nachrichtenspre-

cherin auf der Leinwand, die den Film mit Shakespeares Prolog wie den Doku-

mentarbeitrag eines Nachrichtenmagazins anmoderiert. Der Film schließt mit

ebendieser Nachrichtensprecherin, die (mit dem Text des letzten Sprechaktes

des Fürsten) den Film wie einen Dokumentarbeitrag abmoderiert.

Das gibt der Geschichte den Charakter eines Einzelschicksals, das durch die

Verbreitung durch die Medien öffentlich betrachtet wird, und so für viele Men-

schen eine Bedeutung erhält.

Die Zeichen von Kamera, Schnitt und Montage

Die besondere Ästhetik dieses Films schaffen verschiedene filmische Effekte,

die in einigen Sequenzen zum Erzielen einer bestimmten Wirkung verwendet

werden.

Das sind vor allem die Szenen, in denen die Montague- und die Capulet-Boys,

die Amme und die Lady Capulet auftreten.

Besonders aber der Vorspann des Films „Romeo und Julia“, der im Drama dem

Prolog, dem Personenverzeichnis (Dramatis Personae) und der Exposition ent-

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 13

spricht, bedient sich dieser Zeichen, die an dieser Stelle auch gleichzeitig als

Tonart-/Schlüsselzeichen16 für den ganzen Film fungieren.

Es sind: der rasante Zoom, Zeitraffer, Zeitlupe, Standbild, Schrifteinblendung,

extreme Detailaufnahmen, schneller Schwenk (Wischeffekt), Kamerafahrt, spe-

zielle Toneffekte und Achsensprung.

Sie sind in den Bildersturm, der durch eine extrem schnelle Montage (Schnitt-

folge) entsteht, integriert und erhöhen die Rasanz dieser schnell geschnittenen

Sequenzen. Die eingebauten Standbilder, die die Figuren und deren Namen-

einblendung zeigen, stoppen diese schnellen Sequenzen dialektisch für kurze

Momente ab, bleiben aber nur so kurz stehen, daß man den Text gerade noch

lesen kann.

Die einzelnen Einstellungen sind immer nur gerade so lang, wie man unbedingt

braucht, um sie überhaupt wahrnehmen zu können.

Eine weitere Steigerung findet sich im Inhaltlichen, also darin was die Bilder

zeigen. Es gibt extreme Detailaufnahmen oder Nahaufnahmen (z.B. nur den

Schriftzug auf dem Lauf einer Pistole oder die Augen einzelner Darsteller) die -

oft auch noch über rasanten Zoom - mit Totalen (z.B. Übersichts- oder Luftauf-

nahmen der Stadt, der Kirche oder anderer Schauplätze) kombiniert werden.

Gerade im Vorspann, der ja noch keine lineare Handlung vermittelt, sondern

vielmehr dem Zuschauer Versatzstücke des Schauplatzes und der Figuren

zeigt, sind dabei ganz besonders auch Dinge montiert, die nicht logisch zu-

sammengehören oder nur aus lockerer Assoziation zum Thema entstehen.

Die Ferne der in kurzer Folge aneinander geschnittenen Gegensätze sowohl

inhaltlicher (was die Bilder zeigen) als auch formaler (Größe des Bildaus-

schnitts, Verfremdung) Art fordert den Zuschauer weitaus mehr als in konventi-

onelleren Filmen.

16 Tonart- oder Schlüsselzeichen sind Zeichen, die in einer dramatischen Aufführung als Hinweise auf den Stil der Aufführung oder eines Teils der Aufführung fungieren. Die dienen dem Zuschauer als Indikator für die Gattung und liefern so eine Hilfestellung unter welchen „Vorzeichen“ die Aufführung rezipiert werden soll; ähnlich dem Notenschlüssel in der musikalischen Notation.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 14

Hinzu kommt die Wirkung des oben genannten Achsensprunges, der hier in

sehr interessanter Weise eingesetzt ist.

Normalerweise ist der Achsensprung ein Fehler, der dem Kameramann beim

Drehen unterlaufen kann. Und zwar in folgender Art und Weise:

Wenn zwei Darsteller im Dialog gefilmt werden, bleibt die Kamera normaler-

weise immer auf einer Seite der gedachten Verbindungsachse dieser beiden

Darsteller, genau wie der Zuschauer im Theater ja auch immer an derselben

Stelle sitzen bleibt.

Das führt auf dem Bildschirm dazu, daß ein Darsteller immer rechts im Bild ist

und einer links. Und das ändert sich nie, es sei denn, die beiden Darsteller tau-

schen sichtbar ihre Plätze.

Durch Unachtsamkeit bei der Wahl der Kameraposition kann es vorkommen,

daß die Kamera für eine Einstellung auf die andere Seite der beiden Darsteller

(und der gedachten Verbindungsachse zwischen ihnen) kommt. Im Theater

käme das einem Platzwechsel des Zuschauers vom Zuschauerraum auf die

Hinterbühne gleich, der dann quasi von der anderen Seite auf die beiden Dar-

steller blicken würde.

Nun wüßte natürlich der Theaterzuschauer, wenn er tatsächlich einen solchen

Platzwechsel vornehmen würde, daß er dies tut und es würde seiner Illusion

keinen Abbruch tun.

Tritt auf der Leinwand oder dem Bildschirm ein Achsensprung auf, weiß der

Zuschauer aber nicht, daß die Kamera auf einmal aus einem anderen Blickwin-

kel filmt.

Optisch führt das dazu, daß plötzlich, für die Dauer der „falschen“ Einstellung,

der Darsteller, der vorher rechts im Bild war ohne erkennbaren Grund jetzt auf

einmal links im Bild ist und sich umgekehrt der andere Darsteller auch auf der

falschen Seite befindet.

Der Zuschauer hat plötzlich keine Orientierung mehr und seine räumliche Vor-

stellung wird zerstört. Insbesondere dann, wenn nach der „falschen Einstellung“

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 15

wieder in eine Einstellung mit richtigem Kamerawinkel zurückgeschnitten wird,

denn dann sind die beiden Darsteller auf einmal wie von Geisterhand wieder

da, wo sie vorher waren.

Da das Filmdrama gewöhnlich räumlich richtige Illusionen schaffen will, wird der

Achsensprung normalerweise immer entweder vermieden, oder die neue Ka-

meraposition wird durch einen Zwischenschnitt etabliert.

In der vorliegenden Verfilmung von "Romeo und Julia" wird der Achsensprung

an einigen Stellen in interessanter Weise zum Erzielen einer bestimmten Wir-

kung eingesetzt. Nämlich in den oben beschriebenen sehr dynamischen Sze-

nen zur Verwirrung des Zuschauers:

Dadurch, daß so viele Detail- und Nahaufnahmen, Zeitraffer und rasante

Zooms in schneller Folge aneinander geschnitten sind, hat es der Zuschauer

sowieso schon schwer einen „Überblick“ über den gesamten Schauplatz zu

behalten. Der Achsensprung tut sein übriges um dem Zuschauer die Be-

obachterposition zu nehmen.

Durch seinen gezielten Einsatz wird die räumliche Vorstellung des Schauplat-

zes zerstört. Die Kamera filmt quasi ständig aus einer anderen, nicht vorher-

sehbaren und nachvollziehbaren Richtung.

Es bedarf schon eines gut entwickelten räumlichen Vorstellungsvermögens,

Kenntnissen über filmische Konventionen und Techniken und ein mehrmaliges

Anschauen dieser Sequenzen in Zeitlupe um die Szenen auflösen und ein

komplettes räumliches Bild des Handlungsablaufes entwickeln zu können. Bei

normalem, einmaligem Anschauen des Films ist das überhaupt undenkbar.

Vielmehr entsteht hierbei der Eindruck, einige Sekunden aus dieser Richtung,

einige Sekunden aus einer anderen Richtung, einige Sekunden aus der Sub-

jektiven17 einer Figur aufs Geschehen zu blicken.

17 Eine Subjektive ist eine Kameraeinstellung bei der die Kamera und damit der Zuschauer (denn die Kamera ist ja das Auge des Zuschauers) aus der Position und damit sozusagen aus den Augen einer beteiligten Figur aufs Geschehen blickt.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 16

Auf einer höheren Wirkungsebene führt das dazu, daß der Zuschauer die Situ-

ation zumindest optisch und akustisch, wenn auch nicht geschmacklich, ge-

ruchlich oder über den Tastsinn, so erlebt, wie sie vielleicht eine beteiligte Figur

ungefähr erleben könnte. Und das wiederum führt zu einer verstärkten emotio-

nalen Beteiligung des Zuschauers am Geschehen und erhöht den Erlebnischa-

rakter.

Insgesamt führen die verwendeten Zeichen in den besprochenen Szenen die-

ser Verfilmung zu einer sehr rasanten unkonventionellen Ästhetik, die dem Zu-

schauer kaum Zeit zu einer reflektierten Rezeption läßt, sondern vielmehr auf

das Unterbewußtsein wirkt. Ich möchte sogar behaupten, daß die Geschwin-

digkeit der Schnittfolgen zum Teil an der Grenze des biologisch Wahrnehmba-

ren liegt.

Andererseits gibt es auch Sequenzen im Film, die gänzlich ohne die oben be-

schriebenen „Spezialeffekte“ auskommen. Und das sind vor allem die Szenen

zwischen Romeo und Julia, sprich

die Kennenlern-Szene auf Capulets Fest (1. Akt, 5. Szene im Shakespeare

Text bzw. Aquarium / erster Wortwechsel / Kuß im Fahrstuhl in der Verfilmung),

die Balkonszene (2. Akt, 2. Szene in Shakespeares Text, bzw. „Swimming-

Pool“-Szene in der Verfilmung),

Julias Schlafzimmer (3. Akt, 5. Szene in Shakespeares Text),

und in der Gruft (5. Akt, 3. Szene in Shakespeares Text, bzw. „in der Kirche“ in

der Verfilmung)

sowie weitere Szenen, wie beispielsweise ‘Romeo allein’ oder ‘Julia allein’.

Gerade durch den Verzicht auf Effekte werden diese Szenen aus dem übrigen

Geschehen herausgehoben. Neben der beschriebenen effektreichen „MTV-

Ästhetik“ wirken diese Szenen dann einfach und pur.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 17

Sie sind im bewährten Hollywood-Liebesszenen-Stil umgesetzt: schöne Men-

schen in schöner Umgebung in schönem Licht; klassische Kameraführung;

dezenter Einsatz des vorher etablierten musikalischen Romeo-und-Julia-Lie-

besthemas, Wasser als Symbol für Gefühl, usw.

Diese sanften und klassisch-filmischen Mittel neben die opulenten Bilder- und

Tonorgien gesetzt, wirken als Oase der Ruhe im hektischen Film.18 Das kann

analog zu dem gesehen werden, was zwischen Romeo und Julia passiert,

nämlich eine tief empfundene Liebe, die die Liebenden die Welt um sich herum

vergessen läßt.

So vergessen auch die Zuschauer die Hektik des Films und lassen sich ganz

auf die Emotionen und die Spannung zwischen den Figuren ein. Damit erfüllt

sich die Intention des Regisseurs, der in seinen Zuschauern eine Identifikation

und damit ein Mitfühlen bewirken will.

Kostüme

Durch den Vorspann sind wir schon darauf eingestellt, daß dieser Film weder

mit Symbolhaftigkeit, noch mit visueller und ausstatterischer Opulenz geizt.

(vergleiche: Wirkung des Vorspanns als Tonart-/Schlüsselzeichen, Seite 12

unten / Seite 13 oben)

Betrachten wir die Kennenlern-Szene zwischen Julia und Romeo auf Capulets

Kostümfest (1. Akt, 5. Szene in Shakespeares Text).

18 Diese Wirkung wird durch ein ganz einfaches akustisch-technisches Mittel verstärkt: durch den Pegel. Er weist in "Romeo und Julia" eine starke Amplitude auf, d.h. die „lauten“ Stellen des Films sind absolut gesehen (in Dezibel gemessen) auch wirklich laut, die „leisen“ Stellen sind auch wirklich leise. Das ist nicht zwingend so. Denn es gibt Filme deren Pegel-Amplitude nicht so hoch ist; die „vorsichtiger“ oder „sanfter“ gepegelt sind. Das bedeutet: „Laute“ Stellen werden in der Tonmischung heruntergeregelt, „leise“ Stellen werden verstärkt. Ein lauter Autocrash unterscheidet sich dann von einem leisen Flüstern in der absoluten Lautstärke kaum noch.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 18

Romeo im Ritter-Look in Kettenhemd und Rüstung, ein junger Held, der sich

um seine Angebetete, Julia, eine engelsgleiche Schönheit in einem weißen

Kleid mit Feder-Engelsflügeln, bemüht.

Eine kitschige, überfrachtete Symbolhaftigkeit die - zumindest mir - normaler-

weise aufstoßen würde.

Vermieden wird dies durch einen semiotischen Trick.

Auf der ikonischen Ebene stehen die Kostüme erst einmal für das, was sie

sind, nämlich für Verkleidungen.

Eine stückimmanente Rechtfertigung für das Tragen von Kostümen, die sich

daraus ergibt, daß sich die Figuren ja auf einem Kostümfest befinden und sie

deshalb alle Kostüme tragen müssen.

Wenn sie uns also schrill und kitschig erscheinen, so lasten wir das nicht dem

Ausstatter des Films, sondern höchstens Capulets Fest an.

Da es auf der ikonischen Ebene also einen Grund für eine solche Überdetermi-

nierung19 gibt, steht der symbolischen Wirkung der Kostüme nicht mehr im

Wege.

Tybalt ist als Teufel ( der Böse) verkleidet, Mercutio als Showgirl ( schrill

und glamourös), Dave Paris als Astronaut ( angepaßt, im Dienstes des

Staates, er genießt Vertrauen und Ansehen, ist ein Auserwählter), Romeo als

Ritter ( hat Ehre, ist bereit zu kämpfen), Gloria Capulet als ägyptische Herr-

scherin ( abgehoben, Sein und Schein), Julia als Engel ( rein, unbefleckt,

überirdisch, schön, ehrlich, etwas Besonderes).

Obwohl die Figuren handlungsbedingt einfach nur irgendwelche Kostüme tra-

gen müssen, so tragen sie von der ‘Ausstattung’ festgelegt, genau die, die et-

was über sie und ihren Charakter aussagen.

19 Eine Überdeterminierung, die darin besteht, daß sich der Charakter der Figuren plakativ in ihrer Verkleidung doppelt.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 19

Ein Zuschauer kann nach dem Film vielleicht nicht mehr sagen, als was Tybalt

auf dem Fest verkleidet war, aber die kleinen roten Teufelshörnchen hat er si-

cherlich unbewußt wahrgenommen und gedeutet.

Genres

An einigen Stellen bedient sich Baz Luhrmann verschiedener bereits etablierter

Filmgenres um sich deren Grundstimmung zunutze zu machen.

Das sind das „MTV-Musikvideo“, der klassische Liebesfilm im Hollywood-Stil,

die Nachrichtensendung, der Horrorfilm und der Monumentalfilm.

Bestimmte Charakteristika dieser Genres tauchen in gewissen Szenen der Ver-

filmung auf und übertragen deren Wirkungen in diese Szenen.

Nachdem zum Beispiel Mercutio von Tybalt tödlich verwundet wurde, verflucht

er die beiden Häuser Capulet und Montague („Die Pest auf eure beiden Häu-

ser“). Unnatürlich schnell zieht daraufhin ein Sturm auf, der Himmel verfinstert

sich, Wolken ziehen auf, die Menschen verbarrikadieren sich in ihren Häusern,

es donnert, und wir sehen ganz lange eine unbewegte Totale des Schauplat-

zes. alles Inhalte und Stilmittel des Monumentalfilms.

Wir bekommen also quasi eine kurze Sequenz Monumentalfilm gezeigt, die (für

den, der die Zeichen dieses Genre kennt) dessen gesamte Ernsthaftigkeit mit-

bringt und damit die Folgenschwere von Tybalts Mord an Mercutio zeigt.

Danach springt der Film kurz in das Genre des Horrorfilms um. Ich meine damit

besonders die Einstellung in der Romeo in Zeitlupe mit monsterhaft verzerrtem

Gesicht im Auto sitzt und Tybalt verfolgt.

Der einsetzende Regen nachdem Romeo Tybalt erschossen hat, entstammt,

so wie er folgenschwer auf den Asphalt tropft, wieder dem Monumentalfilm und

zeigt eine Wendung in der Handlung an. (Schließlich war im ganzen Film bisher

sonniges und trockenes Wetter.)

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 20

„geteilte Leinwand“20

Eine weitere sehr interessante Wirkung eines filmischen Mittels erleben wir,

wenn Pater Lorenzo Julia seinen Plan bezüglich des Schlaftrunkes schildert (4.

Akt, 1. Auftritt in Shakespeares Text).

In der linken Bildhälfte sehen wir das Gesicht des sprechenden Pater Lorenzo

in Großaufnahme, in der rechten Bildhälfte sehen wir simultan eine Sequenz,

die visionär Lorenzos Plan wiedergibt.

Zusammengesetzt ist diese Sequenz aus Bildern, die die scheinbar tote Julia,

das geleerte Fläschchen, die trauernden Eltern auf Julias Trauerfeier, usw. zei-

gen.

Eigentlich würden beide Bildhälften für sich alleine ausreichen, um die für das

Verständnis der Handlung erforderlichen Informationen zu transportieren: Der

sprechende Pater Lorenzo in Großaufnahme oder die visionäre Bildersequenz

mit Lorenzos Stimme aus dem Off.

Die vorliegende Verfilmung jedoch kombiniert beides; mit dem Effekt, daß für

den Zuschauer die Menge der zu verarbeitenden Eindrücke zunimmt.

Das was er auf der Leinwand sieht und was auf ihn wirkt, ist eine interessante

Entsprechung dafür, was Julia in diesem Moment erlebt:

Einerseits nimmt sie über den Sehsinn das Gesicht des ihr dicht gegenüberste-

henden Pater Lorenzo wahr linke Bildhälfte.

Simultan sieht sie vor ihrem inneren Auge Bilder, die durch das, was Pater Lo-

renzo sagt in ihr ausgelöst werden rechte Bildhälfte.

Der Film versucht an dieser Stelle einen Ausdruck für eine Art der Wahrneh-

mung zu finden, die alltäglich und uns allen bekannt ist.

Auch wir haben ständig die Wahl zwischen der Wahrnehmung unserer Umge-

bung über die Augen oder der Wahrnehmung unserer Vorstellungs- und

Phantasiebilder.

20 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 107, Reinbek bei Hamburg 1989

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 21

Was auf der Leinwand zu sehen ist sind Julias Wahrnehmungsmöglichkeiten in

diesem Moment.

Der Zuschauer hat wie Julia die Möglichkeit, zwischen beiden Bildern hin und

her zu schalten Steigerung des Erlebnischarakters.

Insgesamt reicht diese Umsetzung mit dem Mittel der „geteilten Leinwand“21

sicherlich näher an das heran, was tatsächlich in Julia vorgeht, als eine einfa-

che Subjektive oder eine ‘over-shoulder-Aufnahme’22 von Pater Lorenzos Ge-

sicht es leisten könnte.

21 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 107, Reinbek bei Hamburg 1989 22 Eine over-shoulder-Aufnahme ist eine Aufnahme eines Dialogpartners über die Schulter des anderen. Sie zeigt das Gesicht des einen Dialogparners und die anderen Dialogpartner von schräg hinten im Anschnitt.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 22

VII Schluß

„Drama (...) ist prädestiniert dafür, Erfahrung von überwältigender Intensität und

Tiefe zu schaffen. (...)

Die Fähigkeit und die Kraft von Drama, ein emotionales Erlebnis der höchsten

Intensität zu schaffen (...), einer Erfahrung, die zu einem entscheidenden Wen-

depunkt im Leben eines einzelnen werden und diesen einzelnen verändern

kann oder umgekehrt eine tief verstörende Erfahrung (...), ist das wahre Maß

seiner Wichtigkeit im Gefüge unseres Lebens, unserer Gesellschaft und unse-

rer Kultur, die wahre Größe der ‘Kunst der Bühne’.“23

In nur zwei Stunden kann ich Kolumbus’ Euphorie Amerika entdeckt zu haben

erleben, ohne Jahre meines Lebens opfern zu müssen und an Skorbut zu lei-

den. Ich kann Orests Leidensweg gehen, kann fühlen wie es sein muß Vater

und Mutter verlieren, ohne daß meine wirklichen Eltern sterben. Ich kann einen

Flugzeugabsturz überleben und drei Jahre nackt auf einer Südseeinsel hausen,

ohne jemals Mitteleuropa zu verlassen.

Drama liefert uns auf sehr angenehme Art und Weise Erlebnisse und Erfahrun-

gen, die wir selbst nicht haben, nie hatten oder, weil wir uns vielleicht nicht

trauen, nie haben werden.

Im Idealfall, also wenn Drama wirklich ergreifend ist, komme ich nach ca. zwei

Stunden, die ich in einer anderen Welt verbracht habe, wieder auf meinem

Sessel im Kino oder Theater an, habe eine weite Reise und viel Angst, Freude

oder Leid hinter mir, bin vielleicht gereift, habe etwas verstanden und mich ein

wenig verändert. Ich habe etwas von der Welt gesehen, was ich noch nicht

kannte.

Es sind im Grunde die gleichen Motivationen, die mich dazu treiben als Dar-

steller selbst in diesem Stück Phantasie mitzuwirken. Was dazu kommt, ist das

23 Esslin, Martin: Zeichen des Dramas, Seite 182, Reinbek bei Hamburg 1989

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 23

Gefühl, daß mir ein bloßes Zuschauen nicht ausreicht. Es ist die Faszination

mit Illusion und Phantasie umzugehen. Eine Welt zu erschaffen und in ihr zu

leben. Selbst Kolumbus oder Orest zu sein.

Im Zusammenhang mit Drama habe ich die Möglichkeit in fremde Leben rein-

zuschauen, Dinge zu sehen und zu erleben, die ich so in meinem Leben nicht

oder nur in Ausnahmesituationen erleben kann.

Es ist eine Lust, Lust an Freude, Lust an Leid, Lust an der Phantasie.

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 24

VIII Literaturverzeichnis

Aus folgenden Werken habe ich Grundkenntnisse über das abgehandelte Ge-

biet erworben. Die Werke sind in der Reihenfolge der Wichtigkeit ihres Einflus-

ses auf die vorliegende Arbeit wiedergegeben.

Esslin, Martin: Die Zeichen des Dramas

Reinbek bei Hamburg 1989

Rowohlt Taschenbuch Verlag

Fischer-Lichte, Erika: Die Zeichensprache des Theaters

In: Möhrmann, Renate (Hrsg.): Theaterwissenschaft heute

Berlin 1990

Reimer

Shakespeare, William: Romeo und Julia

Stuttgart 1979

Verlag Philipp Reclam

Englisch/Deutsch

Deutsche Übersetzung von Herbert Geisen

Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander Reden 1; Miteinander Reden 2

Reinbek bei Hamburg 1997

Rowohlt Taschenbuch Verlag

Marmet, Otto: Ich und du und so weiter - Kleine Einführung in die

Sozialpsychologie

München 1996

Piper

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 25

William Shakespeares „Romeo und Julia“ - Das Buch zum Film

Frankfurt am Main 1997

Fischer Taschenbuch Verlag

Brauneck, Manfred und Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon

Reinbek bei Hamburg 1992

Rowohlt Taschenbuch Verlag

Tobias Gramowski Abschlußarbeit in Theatertheorie und -geschichte Seite 26

IX Anhang

Hiermit versichere ich, die vorliegende Arbeit selbständig angefertigt zu haben

und alle Quellen benannt und gekennzeichnet zu haben.

Kaiserslautern, den 30.01.2000

Tobias Gramowski