388

Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

  • Upload
    cpthook

  • View
    2.875

  • Download
    4

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004
Page 2: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Norbert Juretzkomit Wilhelm Dietl

Bedingt dienstbereit

Page 3: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004
Page 4: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Norbert Juretzkomit Wilhelm Dietl

Bedingt dienstbereitIm Herzen des BND - die Abrechnung

eines Aussteigers

Ullstein

Page 5: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Für Karin

Page 6: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Wenn wir es vertreten wollen, dass Men-schen für uns in ihren eigenen Länderngegen die dort geltenden Regeln undGesetze verstoßen, dann übernehmenwir eine ganz besondere Verantwortung.Können oder wollen wir diese Verant-wortung nicht tragen, dann müssenwir es lassen - mit dem eigenen Nach-richtendienst.

Norbert Juretzko

Page 7: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004
Page 8: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Inhalt

Vorwort 11

Operation »Black Foot« 13Eine Villa mit Vergangenheit 18Der Weg der Atomsprengköpfe 24Die Operation läuft an 30Papa Bär, Mama Bär und Baby Bär 34Vorbereitungen auf Rügen 39Der erste Militärtransport rollt 43Begeisterung von Berlin bis Washington . . . . 50

Fremde Briefe Ost 54Unter dem Deckmantel von G-10 57Onkel Bens Geheimnisse 61Von Tomatenpreisen und anderen Banalitäten . . 64Adieu, Onkel Ben 70

»Stay Behind« 75Spionagezentrum Bonner Platz 76Mit Gehlen fing alles an 82Ein besonderer Tag am Tegernsee 83Die Schöne von der anderen Seite 89Das Schwert der Gladiatoren 91Dienstbeginn im »Heidehaus« 94Die Werbestrategien von »Stay Behind« . . . . 100Die Antenne in der Wäscheleine 117»Charles Bronson« dreht durch 120

Page 9: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Der Landeplatz im Aktenkoffer 126»Gladios« Ende 131

Freund und Feind 135Die geheime Mülltrennung 138Tausche Toaster gegen Geheimpapiere 141Wanzen im Föhrenweg 145Die russische Abwehr schläft nicht 152Die zehn Gebote 154

Technologietransfer 160Das Allerheiligste der russischen Armee 166»Einer der größten Erfolge meines Dienstes« . . 171

»Münchhausen« 177»Sängers« Erzählungen 180Ein russischer Oberst für den BND 184Warten auf »Münchhausen« 190Der »Lackmus-Test« in Hannover 196Die Bypass-Operation 199»Stay Behind« wird reaktiviert 203Das G-Verfahren 206

»Eulenspiegel« 209Schocktherapie bei der Anbahnung 212Klaransprache im Plattenbau 216Alltagsstress im Föhrenweg 222

Die Legendenfirma 228Der Kurier der Quellen 232Tarnfirma »Handelskontor Hamburg« 234

Page 10: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

MAD 238Als Brandstifter unter Verdacht 242Kooperation mit den Militäragenten 244

Operation »Spielball« 248Will man uns eine Falle stellen? 251Ein Wechselbad der Gefühle 257Die Untersuchung beginnt 259Die Amerikaner spielen nach eigenen Regeln . . 263Die Mitternachtskonferenz in der Kegelbahn . . 266Das Doppelspiel mit MI 6 272

Die Jagd beginnt 279Einmal Karpaten und zurück 279Böse Überraschung in München 287»Landesverrat« soll vertuscht werden 293Aufklärung für den Präsidenten 296Knüppel zwischen den Beinen 300Was geschah beim »Londontreff« wirklich? . . . 304Ein Rätsel löst sich auf 307

»Kosak 3« - Der Fall Foertsch 311Telefonterror 312Der Aktenkoffer wird beschlagnahmt 315Schwere Vorwürfe gegen Volker Foertsch . . . . 318Der falsche »Rübezahl« wird verhaftet 322Kündigungsschreiben an den BND 328Kritischer Gesundheitszustand 331

Show-down im Bundeskanzleramt 334Trauerspiel um »Eulenspiegel« 336

Page 11: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Ein Abteilungsleiter unterschwerstem Verdacht 344

Der »Rapport« wird geliefert 350Der Sicherheitschef wird überwacht 354Der Verfassungsschutz wird eingeschaltet . . . . 357Die streng geheime »Bonner Runde« 359

Von Verrätern und Betrügern 367Konflikt mit dem Bundesanwalt 372Das »Imperium« schlägt zurück 375Bundesweite Polizeiaktionen 377In den Fängen der Justiz 380

Empfehlenswerte Literatur 381

10

Page 12: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Vorwort

Der Bundesnachrichtendienst (BND) soll als Instrumentder demokratischen Grundordnung, aufgehoben in einemrechtsstaatlichen System, dem Wohle Deutschlands die-nen.

Wer in einer Behörde wie dem Bundesnachrichtendienstarbeitet, ist zu besonderer Verschwiegenheit und Diskre-tion verpflichtet. Eine ganz besondere Staatstreue und Zu-verlässigkeit wird von seinen Mitarbeitern erwartet. Unddas ist richtig so. Dennoch schreibe ich dieses Buch. EinWiderspruch? Nein, im Gegenteil.

Ich habe im BND sowohl ein Menschenbild als aucheine rechtsstaatliche Haltung vorgefunden, die sich nichtmit unserer Staatsphilosophie in Einklang bringen lassen.Deshalb fühle ich mich geradezu verpflichtet, gegen dasGebot der Zurückhaltung zu verstoßen. Täte ich das nicht,würde ich gegen meinen eigenen Treueschwur verstoßen.

Ich habe in meinem dienstlichen Alltag den demokrati-schen Rechtsstaat nicht mehr wiedererkennen können.Staat und Gesellschaft haben einen Anspruch darauf, aufdiese elementaren Mängel hingewiesen zu werden.

Zum Schutz von Personen, die an in diesem Buch ge-schilderten Vorgängen beteiligt waren, sind Namen, Bio-graphien und Orte verändert worden.

In den Jahren 1991 bis 1998 habe ich gemeinsam mitmeinem Partner Freddy einige der ergiebigsten nachrich-tendienstlichen Quellen im BND geworben und geführt.Mein Hauptaugenmerk lag dabei auf Osteuropa und auf

11

Page 13: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

dem Bereich der fremden Dienste. Die Arbeit meiner In-formanten war für die Bundesrepublik Deutschland vongroßem Wert. Waren die Ergebnisse ihrer Tätigkeit hierhoch angesehen, so bedeutete das gleichzeitig in ihrenHeimatländern Verrat. Unter meinen Zuträgern war nie-mand, der aus niedrigen Beweggründen handelte. Aber ge-rade dieser Umstand verpflichtete den BND zu besonde-rer Fürsorge. Dieser Verpflichtung ist der BND nichtgerecht geworden. Man liebte zwar den Verrat, verachteteaber den Verräter.

So beschreibt dieses Buch den Verrat in seinen vielfälti-gen Formen. Da ist zunächst der Verrat der Quellen füruns. Oder der Verrat von Mitarbeitern im BND für andereDienste. Mein Buch erzählt aber auch, wie Kameradschaft,Treue und Diensteifer verraten werden. Es berichtet überden Verrat am eigenen System. Wie Politik den eigenenRechtsstaat verrät. Oder wie ein BND-Präsident von sei-nen engsten Mitarbeitern verraten wird.

Hätte ich das Buch nicht geschrieben, hätte ich Verratan der eigenen Gesinnung begangen.

12

Page 14: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Operation »Black Foot«

Es begann im warmen Juli des Wendejahres 1990 mit einemungewöhnlichen Anruf meines damaligen Chefs: »Dan-nau, wie geht es Ihnen und was treiben Sie gerade? HabenSie in den nächsten Tagen Zeit? Vielleicht auch über dasWochenende hinaus?« - »Danke der Nachfrage«, erwiderteich knapp, »mir geht es gut.« In den nächsten Tagen solltendie Schlussarbeiten für unseren früheren Job stattfinden,und dann wäre ich eigentlich wieder frei. Feste Planungenexistierten noch nicht. »Prächtig«, entfuhr es dem Chef.Seine Stimme wurde eine Spur ernster und verbindlicher.

»Hören Sie mir ganz genau zu. Es ist absolut wichtig. Sielassen jetzt alles stehen und liegen. Fahren Sie nach Hauseund packen Sie nur das Nötigste ein. Fliegen Sie möglichstheute noch nach Berlin. Arnstein braucht Sie dort. Ein Auf-trag mit hoher Verantwortung wartet auf Sie. Bitte machenSie sich gleich auf den Weg.« Da war sie wieder, diese in-nere Spannung. Wenn Arnstein mich brauchte, dann gabes für mich kein Zögern. Ich versicherte dem Anrufer, dassich ganz bestimmt noch am selben Tag in Berlin sein würde.Kein Thema. »Machen Sie mir keine Schande und viel Er-folg«, hörte ich ihn sagen, bevor er den Hörer auflegte.

So ruhig und gleichzeitig so bestimmt hatte ich den Chefselten erlebt. Es musste wirklich etwas ganz Besonderesvorliegen. Bald darauf stand ich am Schalter der »BritishAirways« im Flughafen Hannover-Langenhagen und buchteeinen Flug in die geteilte Metropole. Es kam mir ein biss-chen wie im Film vor. Auf alle Fälle war ich sehr neugierig,

13

Page 15: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

was mich in Berlin erwartete. Knapp dreieinhalb Stundennach diesem Alarmruf stieg ich aus dem Flieger und ent-deckte am Ankunftsgate 10 zwei vertraute Gesichter.

Norbert Gassing und Gert Arnstein grinsten mich an. Ichwusste, dass unsere »Firma« den Gassing mit drei Leutennach Berlin geschickt hatte, um etwas völlig Neues vorzube-reiten. Keiner sprach darüber, aber keiner schien auchwirklich daran interessiert zu sein. Meine Gefühle warenalso gespalten, eine Art von professioneller Neugier aufder einen Seite und die mit unserem »Laden« verbundeneVorsicht auf der anderen.

Gassing war der Chef des Organisations- und Voraus-kommandos, oder wie immer man es nennen mochte, Arn-stein sein Vertreter. Hausintern hieß das Projekt 12YA. Ir-gendwo fühlte ich mich schon geehrt, dass die beiden selbstnach Tegel gekommen waren. Da lag was im Busch. Gassingtrug einen hellgrauen Anzug mit modischer Krawatte, Arn-stein eine blaugraue Kombination mit einem dunklen Po-loshirt darunter. Beide verbargen ihre Augen hinter dunk-len Sonnenbrillen, Sie wirkten wie zwei Privatschnüffler,die sich verzweifelt mühten, unauffällig rüberzukommen.Ich konnte nicht verbergen, dass es mich belustigte.

Die beiden begrüßten mich mit einem kräftigen Hand-schlag. In letzter Sekunde fiel mir noch ein, dass ich geradebei Arnstein aufpassen musste. Drückte man ihm nämlichdie Hand und ging dabei unkonzentriert zur Sache, konntees passieren, dass er sie einem derart zusammenquetschte,dass es vernehmlich knirschte. Also musste man selbst kräf-tig zupacken, um nicht für den Rest des Tages ein taubesGefühl in der Hand zu behalten.

Als ich Gassing die Hand reichte, machte ich einen höf-lichen Diener und schaute dabei unweigerlich zu Boden.Sofort musste ich erneut grinsen. Wir drei hatten die glei-chen Schuhe an. Jeder von uns trug ein braunes Paar Slip-per mit einem anthrazitfarbenen Rand. In der Mitte war

14

Page 16: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

jeweils ein kleiner Lederbommel befestigt. Unabhängigvoneinander hatten wir anscheinend in letzter Zeit dieKleiderkammer der Bundeswehr besucht, bei der Berufs-offiziere solche Markenschuhe günstig erwerben können.

Arnstein zog seine Sonnenbrille auf die Nasenspitze undzeigte mit spitzem Finger auf unsere schönen neuen Tre-ter. Dabei stellte er eine Fußspitze hoch. »Das hat wasSymbolisches, Chef«, sagte er zu seinem Boss gewandt,»oben ganz Spion mit dicker Sonnenbrille, und unten he-rum sieht jeder, der sich auskennt, da stehen drei Bundes-wehroffiziere mit Schuhen von der Kleiderkasse herum.Profis sind wir, absolute Profis.«

Sein Grinsen wurde breiter, und die Stimme senkte sichzu einem Flüstern. »BND, typisch BND. Täuschen und zin-ken, aber Klamotten von der Kleiderkammer.« Mit einerabfälligen Handbewegung beendete er das Thema undlegte seinen Arm um meine Schultern. »Na dann, Norbert,wollen wir mal. Große Ereignisse werfen ihre Schattenvoraus.« Arnstein geleitete mich aus der Halle, und Gas-sing, der immer noch verdattert unsere Schuhe anstarrte,folgte in einigem Abstand.

Mit Arnstein konnte ich bestens. Er war ein alter, erfah-rener Haudegen. Ein Macher, fleißig, korrekt und ausge-sprochen entscheidungsfreudig. Sein Spitzname aus altenFallschirmjäger-Zeiten lautete »Old McNeill«. Das wurdeaus seinem damaligen Dienstgrad als Oberleutnant abgelei-tet (kurz OLT) und von seiner Vorliebe für schottische Mili-tärmusik. Arnstein hatte keinen Moment gezögert, als ihnder Ruf nach Berlin ereilte. Er war der richtige Mann amrichtigen Ort.

Ihn trennten nur noch wenige Jahre vom Ruhestand,außerdem waren die Kinder bereits aus dem Haus und dieEhefrau wieder ganztags berufstätig. Der Idealfall für eineWochenendehe. Und auch für eine neue, spannende He-rausforderung kurz vor dem Ende der Karriere. Operativ

15

Page 17: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

war der Mann ein Glücksfall für jede Dienststelle, und des-halb hatte Gassing keinen Moment gezögert, ihn ins Bootzu ziehen.

In Pullach waren damals alle abgetaucht und für denBerlin-Job nicht verfügbar. Gassing selbst musste, gerade inder Anfangsphase, häufig für mehrere Tage in die Zentralereisen. Dann kam er ohne einen verlässlichen Stellvertre-ter nicht aus. Die Konstellation mit Arnstein war ideal.

Gassing schloss den neuen Dienstwagen auf und chauf-fierte selbst. Arnstein setzte sich zu mir auf den Rücksitz.Dabei raunte er mir ins Ohr: »Erst einmal die offizielleEinweisung mit dem Alten. Das Wichtige nachher unter vierAugen.« Er zwinkerte mir zu und fragte zu Gassing ge-wandt: »Wollen Sie, oder soll ich?« Der Chef wollte selbst.

Während er anfuhr, begann er mit seiner Erklärung:»Also die Sache ist die - irgendwann sollen die Atom-sprengköpfe der russischen Raketenverbände abgezogenwerden. Es gibt ein Gerücht, wonach das schon in dennächsten Tagen oder Wochen stattfinden soll. Aber darü-ber wissen wir noch nichts Genaues. Dannau, Sie müssenda ran. Sie und Arnstein. Die Amerikaner sind ganz wilddarauf, Messungen vorzunehmen und möglichst viele tech-nische Details zu den Atomwaffen in Erfahrung zu bringensowie den Abzug genau zu beobachten. Der Bundeskanz-ler hat allerdings entschieden, dass es keine amerikanischenAlleingänge im Zusammenhang mit dem Abzug der West-gruppe der russischen Streitkräfte geben darf. Deshalb wer-den wir die Operation >Black Foot< mit amerikanischerUnterstützung leiten.«

Ich fühlte mich geschmeichelt und hinterfragte neugie-rig, warum die Wahl gerade auf mich gefallen war. »Es gibtdoch sicher ein paar Topleute in Pullach, die bei einer sol-chen Sache Vorrang haben sollten.« Gassing deutete mitdem Daumen über seine Schulter und auf Arnstein, derkrampfhaft aus dem Fenster schaute und ein verqueres

16

Page 18: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Lied zu pfeifen begann. Er tat, als hätte er nichts gehört, zogdie Schultern hoch und versuchte jeglichen Blickkontaktzu vermeiden.

»Gibt es Erkenntnisse aus dem Dienst? In unserem Mut-terhaus müssen sie doch eine Ahnung haben, was die Rus-sen planen.« Meine Fragen hauchten Arnstein neues Lebenein. Er polterte los: »Nichts wissen die, wie immer. Rein garnichts. Die wissen da unten, wann die nächste Beförde-rung ansteht und wann Dienstschluss ist. Wahrscheinlichwissen die nicht einmal, dass die Russen abziehen.« Sokannte ich ihn. Wenn es um die Sache ging, dann nahm erniemals ein Blatt vor den Mund. Und wenn es sein musste,dann sparte er auch nicht mit Kraftausdrücken. In mirstieg eine Ahnung hoch, dass hier einiges nicht stimmenkonnte.

Als wir bereits das Internationale Congress Centrum(ICC) passierten und auf die Avus bogen, wetterte Arnsteinimmer noch. »Herr Gassing, nun erzählen Sie dem Dan-nau doch mal was von diesen Schnarchnasen in Pullach.Wir sollen hier nämlich ganz wilde Sachen machen, und dieinteressiert das alles einen Dreck. Da kommt null Unter-stützung.« Gassing versuchte diplomatisch abzuwiegeln,ohne wirklich zu widersprechen. »Na ja, soooo könnenSie das auch nicht sagen, Gert. Aber es gibt in der Tat ei-nige grundsätzliche Schwierigkeiten, die noch beseitigtwerden müssen. Wir arbeiten daran.« Arnstein nickte mitheruntergezogenen Mundwinkeln wie ein Wackeldackelauf der Hutablage.

Mittlerweile hatten wir die Stadtautobahn über die Aus-fahrt Hüttenweg verlassen und rollten durch den Grune-wald in Richtung Clayallee. Wir bogen links ein und nach300 Metern wieder rechts ab. Auf Höhe des Thielparks ginges links in den Föhrenweg. Eine Gegend, wo sich teure Vil-len und Militäreinrichtungen abwechseln. Ich spürte meinHerz klopfen. Stichworte und Halbsätze schossen mir durch

17

Page 19: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

den Kopf: Abzug der nuklearen Sprengköpfe - neueDienststelle - erste Zusammenarbeit mit den Amerika-nern - Probleme mit der Zentrale ...

Eine Villa mit Vergangenheit

Am Ende des Föhrenwegs, kurz bevor er in die Straße AmSchülerheim mündet, bogen wir auf ein stark gesichertesGrundstück ein. Das Terrain war mit einem schweren,zwei Meter hohen, von Stacheldraht umrankten Eisen-zaun umgeben. Ein schweres Eisentor rollte auf, als wiruns näherten. Aus einem mit Panzerglas geschütztenWachhäuschen trat der uniformierte Wachmann einer pri-vaten Sicherheitsgesellschaft. Als er meine beiden Chefserkannte, legte er freundlich zwei Finger an die Dienst-mütze und öffnete den Zugang. Jenseits des Parkplatzesstand ein massives, mehrstöckiges altes Backsteinhaus.

Gassing stieg als Erster aus und wartete hinter dem Wa-gen auf uns. »Das ist übrigens die alte Villa Keitel. Hier re-sidierte im Dritten Reich der Generaloberst gleichen Na-mens. Nachher übernahmen die Amerikaner das Objekt.Die nutzten es bis zur Wende als Militärmission. Dadurchist es allen gegnerischen Nachrichtendiensten seit langembekannt.« Mein erster Gedanke war: »Ach, du Scheiße.«Was das bedeutete, war mir sofort klar.

Noch ehe ich Luft holen und etwas sagen konnte, plau-derte Gert Arnstein in seiner unnachahmlichen Art dietraurige Wahrheit aus. Er legte wieder einmal seinen Armum meine Schultern und machte mit der anderen Handeinen 180-Grad-Schwenk über das gesamte Grundstück.»Das bedeutet, mein lieber Norbert, dass wir hier im ver-branntesten Objekt der westlichen Hemisphäre stehen.

18

Page 20: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die Super-Profis in Pullach wollen ganz bewusst, dass wirauf die Schnauze fallen. Herzlich willkommen.« Er lachteund ging voran. Gassing, dem das alles sichtlich unange-nehm war, tat so, als habe er nichts gehört, und ducktesich weg.

Der Haupteingang des großen Backsteinhauses befandsich unter dem Ostgiebel, der zum Föhrenweg wies. DasGrundstück war gepflegt und durch den alten Baumbestandsowie eine Vielzahl von Hecken und Büschen in tiefes Grüngetaucht. Am Haus war der Zahn der Zeit nicht vorbeige-gangen. Es wirkte aber immer noch sehr nobel.

Wir gingen die zwölf breiten Stufen hoch und stütztenuns dabei auf den alten schmiedeeisernen Handlauf, derin einer Ziegelmauer befestigt war und die Treppe zurStraßenseite hin abdeckte. Gassing öffnete die schwere Ei-chentür, indem er sein ganzes Gewicht dagegenstemmte.Wir kamen durch einen kurzen, kalten Flur. Arnstein warvorausgeeilt und hatte die nächste Tür geöffnet, um unsbeide eintreten zu lassen. Vor uns lag ein langer Gang, durchden man bis an das andere Ende des Gebäudes schauenkonnte. Am Ende war ein von Licht durchfluteter Raumzu erkennen.

Dort gab es einen halbrunden Erker, der ringsum ver-glast war. Am Ende befand sich eine doppelflügelige Glas-tür, durch die man auf eine großzügige Terrasse tretenkonnte. Links kam man in das Vorzimmer des Chefs. AlleTüren standen offen, und niemand war zu sehen. DasHaus verbreitete einen gespenstischen Eindruck. Von hieraus sollte also die Beobachtung des Abzugs der russischenTruppen, genannt Operation »Black Foot«, organisiertund gesteuert werden. Innerlich schüttelte ich den Kopf.Immerhin war der geordnete Rückzug schon angelaufen,und hier herrschte augenscheinlich tote Hose.

Gassing führte mich in sein Büro. Ein wertvoll wirken-der Perserteppich lag auf dem Boden. Links eine mit Le-

19

Page 21: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

der bezogene Sitzecke mit einem flachen, schweren Glas-tisch. Dahinter ein alter, massiver Schreibtisch aus dunk-lem Holz. Auf der rechten Seite ein Vitrinenschrank, deretwa ein Dutzend nostalgischer Automodelle beherbergte.Die Stühle erinnerten mich an Biedermeierkreationen.

Hinter dem Schreibtisch stand ein schwerer Ledersesselmit hoher Lehne. In einer der Ecken waren zwei großeFlaggen aufgestellt, eine amerikanische und eine deutsche.Durch ein großes Fenster konnten wir in den Park blicken.Ein stattliches Büro. Ich war beeindruckt.

Nach einer kurzen Einweisung schickte uns Gassing insUntergeschoss zu den Amerikanern. Ich folgte Arnsteinzwei kurze Treppen in den Keller der Keitel-Villa. Dort be-fand sich eine Stahltür mit Zahlenkombination. Wir klin-gelten. Ein uniformierter Sergeant erschien. Er hob dieHand zum militärischen Gruß und führte uns in dasDienstzimmer von Colonel Dego.

Der Offizier war Chef der amerikanischen Hälfte unse-rer Dienststelle. In den Monaten vor der Wende hatte erbereits die US-Militärmission geleitet. Dego, 1,85 Metergroß und dunkelhaarig, kam uns entgegen. »Hi, Gert«,begrüßte er uns auf Englisch, »das ist also Norbert, wennich recht informiert bin. Ich habe gehört, du sprichst Eng-lisch. Ich zeige dir gleich unsere Büros und auch deine wich-tigsten Kontaktpersonen.« Das hatten sie mir oben schongesagt: Bei den Amerikanern traten wir nicht mit unserenDecknamen auf. Wir sprachen uns mit richtigen Vorna-men an, und meistens siezten wir uns dabei. Wie es diePartner gewohnt waren.

Nun hatte ich einen Moment Zeit, mich umzusehen. De-gos Raum wirkte klein und spartanisch. Er trug ein kurz-ärmeliges Hemd zur Uniformhose und wirkte eher wie einDiplomat als wie ein Soldat. Glich der erste Stock einemausgemusterten Schlafwagen, so pulsierte im Unterge-schoss das Leben. Die Büros waren nahezu überfüllt.

20

Page 22: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Überall brummten modernste Computer, ratterten die Te-lexmaschinen.

Im Lageraum warteten sechs Personen auf uns. Vier inCamouflage, zwei in Zivil. Dego stellte mich den Zivilistenvor. »Das sind Mark Handridge und Hans Diethard. Hierbringe ich Ihnen Special-Agent Norbert vom BND.« Undan mich gewandt: »Wenn Sie etwas benötigen, was Ihnendiese Herren nicht organisieren können, dann kommen Sieeinfach zu mir.« Dego drückte mir symbolisch noch ein-mal die Hand und verließ den Raum.

Auf einem großen Tisch lag eine amerikanische Militär-karte der DDR. Darauf waren alle Standorte eingezeichnet,von denen man wusste oder vermutete, dass dort Atom-sprengköpfe lagerten. Mark Handridge wirkte etwas ge-stresst: »Das ist derzeit unser größtes Problem. Wir wissenzwar, wo das Zeug lagert, haben aber keine Ahnung, wannund vor allem wie es die Russen abtransportieren werden.«

Hans Diethard ergänzte, gleichfalls in gutem Deutsch:»Wir glauben, dass sie es sehr schnell aus der Ex-DDRrausbringen wollen. Es gibt zumindest Hinweise dafür.Wir haben bei euch in München anfragen lassen, aber dortschienen sie noch weniger zu wissen. Ehrlich gesagt, schie-nen sie auch nicht sonderlich interessiert zu sein.« Dabeiblickten sich die Amerikaner vielsagend an.

Nun war es Zeit, mit Arnstein Klartext zu reden. Dafürzogen wir uns in sein Zimmer im Obergeschoss zurück.»Wir sind hier ein Außenposten, der schon vergessen ist,bevor er noch richtig anläuft. In München schläft alles see-lenruhig. Die kümmern sich um gar nichts. In den näch-sten Wochen wollen sie eine Stellenausschreibung für12YA machen. Wenn die am Ende greift, dann sind dieRussen längst über alle Berge. Weißt du, dass wir in Pul-lach gar keine vorgesetzte Dienststelle haben? Gassinggeht unten bei den Amerikanern bereits um jeden Kugel-schreiber hausieren, da unser eigener Nachschub stockt.«

21

Page 23: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Das war die Situation: Aus der Münchner Zentralewollte offenbar keiner nach Berlin, weil das mit richtigemMalochen zu tun hatte. Gassing musste in Pullach vonPontius zu Pilatus laufen, um überhaupt etwas zu bewe-gen. Von der Abteilungsleitung I, die sich eigentlich hierbesonders engagieren sollte, blieben die Impulse aus. Solag die ganze Verantwortung für 12YA bei einem operativweitestgehend unerfahrenen Major und damit auch dasRisiko für den Fall, dass etwas schief ging. Wir waren unsselbst überlassen.

Es schien auch keinen zu interessieren, dass wir hier inengster Tuchfühlung mit einem ausländischen Nachrich-tendienst zusammenarbeiteten. Wenn ein BND-Kollegenach Washington fliegen musste, um unsere Partner beider CIA zu treffen, dann bekam er schon eine Sicherheits-schulung zu Hause und intensivste Verhaltensregeln mitauf den Weg. Manchmal dauerte die Unterweisung längerals der spätere Auslandsaufenthalt. Also wir mussten hierdas Beste daraus machen und durften uns jetzt vor denamerikanischen Kollegen nicht blamieren. Augen auf unddurch.

Gert holte eine zusammengerollte Militärkarte der ver-blichenen DDR aus einem alten Spind und breitete sie aufdem Schreibtisch aus. Er beschwerte die Ecken mit einemAschenbecher, einem Locher und zwei Büchern. Eines derWerke trug den bezeichnenden Titel Der Soldat in Staatund Gesellschaft. »Ich habe doch immer gewusst«, ent-fuhr es Gert, »dass der Schinken zu etwas nutze ist.« Dannschmetterte er sein Lieblingslied, das ich schon von einerfeuchtfröhlichen Tagung in unserem früheren BND-Lebenkannte. Das ging so: »Früher war'n wir Kommunisten,Zentrum und SPD - heut' sind wir Antifaschisten, Ehre seiGott in der Höh'!«

Etwas ratlos betrachteten wir die Markierungen. DieKarte kam natürlich von den Amerikanern, weil unsere

22

Page 24: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Pullacher Auswertung mit Hinweis auf den Quellenschutzkeine Infos herausgerückt hatte. Die meisten Raketen-sprengköpfe schienen im Süden der alten DDR gelagert zusein. Wie werden sie diese wohl abtransportieren? Mitdem Flugzeug? Nein, bestimmt nicht. Das wäre viel zu ris-kant. Mit der Bahn oder mit Tiefladern durch Polen?»Wäre möglich«, warf ich ein. »Wir sollten in Münchenjemanden haben, den wir fragen könnten.«

Wir beschlossen, Gassing aufzusuchen. Sein Büro be-fand sich einen Stock tiefer. Auf unserem Weg trafen wirunsere Bürokraft. Sie war eine nette, unkomplizierte undcharmante Frau in den besten Jahren. Sie flachste mit Gertherum und versorgte uns erst einmal mit Kaffee. Dann batsie uns, ihr beim Ausladen eingekaufter Büromaterialienzu helfen. »Aber«, so klärte sie uns auf, »es weiß nochniemand, wer das alles bezahlt. Der Chef fährt bald wie-der nach München und muss sich unbedingt um einenHaushaltstitel kümmern. Sonst geht hier rein gar nichts.«

Wir baten Gassing um einen Kontakt mit den zuständi-gen Auswertern in Pullach. Er griff zum Telefon und riefPullach an. Schon bald legte er mit einem Seufzer wiederauf: »Da wir es bereits nach 15.30 Uhr haben, ist keinerder Verantwortlichen mehr erreichbar. Gleitzeit - verste-hen Sie?« Ich hatte die Schnauze voll, noch ehe es über-haupt losgegangen war. »Wir sind unten bei den Amis«,sagte ich kurz und marschierte los. Gert folgte mir mit fra-gendem Blick. »Was hast du vor?« »Improvisieren! Lassmich nur machen.«

23

Page 25: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Der Weg der Atomsprengköpfe

Hans Diethard öffnete uns und blickte neugierig. »Wir wis-sen jetzt, wann und wie die Russen ihre Raketenspreng-köpfe wegschaffen.« Ich muss überzeugend gewirkt haben,weil Minuten später die ganze Mannschaft des Militärge-heimdienstes DIA mit uns zusammen vor der Karte standund gespannt auf mich schaute. Gert rollte mit den Augen,als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen. Auch ersagte keinen Ton. »Meine Herren, der Abzug beginnt inder nächsten Woche. Ich bin sicher, dass er zunächst mitder Bahn und dann per Schiff erfolgt. Ich vermute, überden Fährhafen Mukran auf Rügen oder über Rostock. Ichtippe aber auf Mukran.« Gert blickte stur zur Decke undpfiff leise vor sich hin.

Mark Handridge bat um einen Augenblick Geduld undkam nach einigen Sekunden mit Oberst Dego wieder zu-rück. Dann wiederholte er seinem Chef, was ich soebengesagt hatte. Dego nickte wissend: »Norbert, gute Arbeit,es deckt sich mit unseren Erkenntnissen. Die Polen habenabgelehnt, dass durch ihr Territorium Atomsprengköpfeabtransportiert werden. Diese Meldung ist erst ein paarStunden alt. Es gibt auch keine Überflugrechte. Auch nichtüber die Tschechoslowakei. Verraten Sie mir, woher Siedas wissen?« Ich zuckte mit den Schultern und lächeltewissend.

»Colonel Dego, wir brauchen Messgeräte und Personal«,wandte ich mich an den Chef der Amerikaner. »In 24Stunden steht alles in Frankfurt am Main«, erwiderte die-ser ebenso knapp, »müssen Sie noch etwas mit Pullach ab-sprechen? « Nun meldete sich Gert aus seiner Ecke: »Nein,nicht nötig, nur mit Gassing. Aber das geht schon in Ord-nung. In Pullach ist bereits Dienstschluss.« Wir hörten dasschallende Gelächter noch, als wir längst die Kellerräume

24

Page 26: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

verlassen hatten. Dachten die Amerikaner, wir würdenscherzen?

Nun stellte mich Gert zur Rede. »Woher wusstest du dasalles? Du marschierst einfach zu den Amis rein, als warstdu voll informiert.« Ehrlich gesagt, hatte ich gar nichts ge-wusst. Der zeitliche Stress, den die Amerikaner uns berei-teten, ließ auf einen Erkenntnisstand schließen, der darü-ber hinaus reichte, was sie bisher mitgeteilt hatten. Ichhatte einfach geblufft. Die Wut auf die Dilettanten in Pul-lach hatte mir dazu den Mut gegeben.

Und das bescherte mir letztlich die Achtung unsererPartner. Eines hatten wir bei dieser Gelegenheit auch er-kannt: Die Amerikaner wollten zwar mit uns zusammen-arbeiten, sie blieben aber stets sehr zurückhaltend, wasihre eigenen Erkenntnisse betraf. Erst als sie zu erkennenglaubten, wir wären genauso weit, bestätigten sie alles.Und so würden sie es in Zukunft immer mit uns machen.

Jetzt war es höchste Zeit, unsere schwierige Missionvorzubereiten. Wir hatten es auf der Gegenseite mit derehemaligen »Gruppe der sowjetischen Streitkräfte inDeutschland« zu tun, die sich jetzt »Westgruppe der Streit-kräfte« nannte, kurz WGT. Hier handelte es sich um dieschlagkräftigste Truppe der abgehalfterten Weltmacht, dienach der Rückkehr in die Heimat das Rückgrat der Armeebilden sollte. Obwohl es sich angeblich um die Elite han-delte, trafen wir in den kommenden vier Jahren überallauf eine Armee in Auflösung. Das hatten sie mit den Res-ten der »glorreichen Sowjetunion« gemeinsam.

In seinen Memoiren listete der letzte Oberbefehlshaberder WGT, Generaloberst Matwej Burlakow, die Stärke sei-ner Einheiten zu Beginn des Rückzugs auf: 546 200 Män-ner und Frauen, darunter 337 800 Militärs. Sie verfügtenüber 4197 Kampfpanzer, 11 500 gepanzerte Kampffahr-zeuge aller Art, 3 716 Artilleriegeschütze und über 2,5 Mil-lionen Tonnen Material, ein Viertel davon Munition. Dazu

25

Page 27: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

kamen über 623 Flugzeuge, 615 Hubschrauber und fast100 000 Fahrzeuge. Die Russen nutzten im Osten offiziellüber 1 500 Liegenschaften mit einer Gesamtfläche von290 000 Hektar, bei Bedarf das Doppelte bis Dreifache.Sie bildeten einen Staat im Staate, der sich in der Regel vorder ihn umgebenden DDR-Zivilgesellschaft abschirmte.Die meisten Kontakte zwischen Deutschen und Russenblieben der politischen und militärischen Führungsebenevorbehalten.

Eine kurze Erinnerung: Im November 1989 fiel die BerlinerMauer, und spätestens im Januar 1990 wurde überall vonder Chance der Wiedervereinigung geredet. Der Einigungs-prozess lief an, aber auch die Abnabelung von den Sieger-mächten. »Zwei plus vier« lautete die Formel der Gesprä-che zwischen den Deutschen und ihren Besatzern. Aufverschiedenen Ebenen trafen sie sich im Laufe des Jahres1990.

Im September unterzeichneten schließlich die Außenmi-nister einen »Vertrag über die abschließende Regelung inBezug auf Deutschland«. Darin wurde auch der Abzug derWestgruppe der sowjetischen Streitkräfte bis Ende 1994vereinbart. Einen Monat später ratifizierten Außenminis-ter Genscher und der sowjetische Botschafter den »Sta-tionierungsvertrag«, der den weiteren Aufenthalt und denRückzug der fremden Truppen regelte.

In diesem Sommer des Jahres 1990 mussten wir überNacht einsatzfähig sein, denn die Operation »Black Foot«näherte sich mit Riesenschritten. Zuerst benötigten wireinen Basiswagen, ein Wohnmobil oder Ähnliches. Unddann Personal, mindestens zwanzig Personen. Schon amTag nach unserer schicksalhaften Besprechung kam Degozu uns. Ich stand gerade mit Gert in Gassings Büro.

Dego war ganz aufgeregt. »Wie versprochen, meineHerren! In Frankfurt Rhein-Main Airbase steht ein Jumbo

26

Page 28: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

der U. S. Air Force. Darin wartet auf uns alles technischeGerät, das wir brauchen. Dazu fünfzig Spezialisten, diederartige Einsätze schon gemacht haben. Sie sind in derLage, alle Geräte zu bedienen, sprechen deutsch und rus-sisch und können sich in fremdem Gelände bewegen. Wirmüssen nur noch auf die Genehmigung der Bundesregie-rung warten. Erst dann dürfen unsere Leute hier aktivwerden.«

Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass die Amerika-ner wirklich nur 24 Stunden gebraucht hatten. Die Ge-nehmigung aus Bonn hielt ich im ersten Augenblick für eineFormsache. Trotzdem kam sie nicht. Erst später wurdeuns klar, was sich ereignet hatte. Die US-Regierung hattevorschriftsmäßig im Bundeskanzleramt angefragt. Ein Re-ferent der Abteilung 6, zuständig für den BND, wollte inPullach wissen, ob denn alles seine Richtigkeit habe.

Im Münchner Süden war das Interesse am Abzug derWGT so gering gewesen, dass keiner der Verantwortlichenin der Abteilung 1, zuständig für »Operative Aufklärung«,genau wusste, was im fernen Berlin gerade lief. So teiltendie Befragten dem vorgesetzten Kanzleramt sinngemäßmit, von einem solchen Einsatz sei nichts bekannt. Wennerforderlich, dann verfuge man selbst über genügend Per-sonal und Technik. Deshalb blockierte die politische Füh-rung in Bonn die Aktion der Amerikaner.

Es verging wiederum keine Stunde. Dann stand ein wü-tender Dego vor uns und fragte nach dem Warum. DieDrähte liefen heiß, und ein heilloses Hin und Her begann.Plötzlich erkannten einige BND-Obere die Chance, sich inBonn zu profilieren. Ein kurzes und heftiges Interesse ander Dienststelle 12YA flackerte auf. Am Ende revidierteBonn seine Entscheidung dahingehend, dass zwar US-Elektronik eingesetzt werden dürfe, jedoch kein US-Be-dienungspersonal. Dego stand nun kurz vor einem Wut-ausbruch. Gert und ich konnten ihn verstehen.

27

Page 29: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die Führungsriege der Beschaffungsabteilung war nichtnur unfähig gewesen, eigenes Personal zu rekrutieren.Durch Unwissen und Unvermögen war auch der Einsatzamerikanischer Spezialisten verhindert worden. Ein Desas-ter für die Sache und eine grenzenlose Peinlichkeit gegen-über den Partnern. Nun ordneten die Amerikaner kurzer-hand an, die Experten und ihre gesamte Ausrüstung nachWashington zurückzufliegen. Dego teilte uns das lapidarmit. Gassings Telefonate mit Pullach klangen immer pani-scher. Plötzlich geschah das Wunder. Irgendwo wurde einKornpromiss gefunden. Bonn entschied, die wichtigstenGeräte durften eingesetzt werden ~ bedient von einemTechniker der CIA. Der Zirkus war zu Ende und alle Be-teiligten versorgten ihre Wunden.

Kurz darauf zeigte eine weitere Begebenheit noch ein-mal ganz deutlich, wie schwer sich der BND damit tat,eine solche Operation auf die Beine zu stellen. In Berlingab es in dieser Umbruchphase nur wenig Leihfahrzeugeund schon gar keine Wohnmobile auf Mietbasis. Der Auf-bau Ost hatte bereits begonnen, und manche Firmen konn-ten ihre Leute nicht anders unterbringen. Wir brauchtenaber dringend ein solches Gefährt, um mobil zu sein undden Einsatz leiten zu können. Schon am frühen Morgenbaten wir telefonisch unseren persönlichen Vertrauensmannin der Münchner Zentrale, ein Fahrzeug dieser Art zu be-schaffen.

Als wir ihn endlich, Stunden später, wieder am Apparathatten, befand sich gerade Dego bei uns und bekam dasProblem mit. »Sie sind sicher, in einem Nachrichtendienstzu arbeiten?«, witzelte der Amerikaner. »Das ist alles nichtso einfach«, hob unser Vertrauensmann in gedehntemDeutsch zu einer Erklärung an, »das Wohnmobil habe ichbereits beschafft. Aber wir kriegen es nicht nach Berlin.Wir haben bereits Freitag Nachmittag, und die Fahrbe-reitschaft ist längst weg. Ich habe auch keinen Freiwilligen

28

Page 30: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

für diese Tour gefunden. Sie wissen, wie das so ist. Damüssen Sie sich etwas einfallen lassen.« Ich war wie ge-plättet und streckte erst einmal alle Viere von mir.

Da sprang Dego auf und brüllte: »Das kapiere ich nicht!«Für ihn war das Maß anscheinend endgültig voll. Er griffin seine Umhängetasche und fingerte ein dickes Bündelgrüner Dollarnoten heraus. »Mein Gott, Norbert, dannkaufen Sie sich ganz einfach so ein Scheißwohnmobil.« Erknallte den Packen auf den Schreibtisch. Geldnoten flogendurch die Gegend. Dego sammelte einige wieder ein unddrückte sie mir in die Hand. Andere presste er Gert an dieBrust. Der Oberst verschwand schimpfend im Keller.

Wir sammelten die Scheine ein und zählten sie auf Gas-sings Tisch nach. Es waren gut 100 000 Dollar. Einer vonuns brachte das Geld nachher zurück. Es war so peinlich.Sprachlos verschwanden wir in unsere eigenen Räume. Gertmurmelte Verwünschungen vor sich hin, als wir die Treppenach oben erklommen: »Das ist kein Nachrichtendienst.Das ist eine Nachrichtenverwaltung. Hätte ich doch nurwas Gescheites gelernt,«

Minuten später stand Dego wieder im Raum. »HörenSie zu! Das ist alles hochgradig unprofessionell, was beiIhnen abläuft. Bitte entschuldigen Sie meinen Auftritt,aber was zu viel ist, das ist zu viel. Lassen wir das Telefo-nieren mit München und machen ab sofort einfach guteArbeit. Wenn Sie etwas benötigen, dann wenden Sie sicheinfach an Hans.« Schon stand der Genannte im Raum.»Hans wird Sie ab sofort persönlich unterstützen. Egal,was Sie brauchen, Sie bekommen alles.«

Plötzlich verschwand das burschikose Grinsen aus sei-nem Gesicht. Er wurde offiziell, ja beinahe feierlich. »DieVereinigten Staaten von Amerika legen sehr großen Wertauf das Gelingen dieser Operation. Deshalb gibt es auchkein finanzielles Limit. Haben Sie das verstanden?« Nundurften wir unsere Wunschzettel ausfüllen.

29

Page 31: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die Operation läuft an

Zuerst bekamen wir drei hochmotorisierte Mercedes-Ge-ländewagen, die vorher der US-Militärmission gedienthatten. Zwei von ihnen waren gerade erst umlackiert wor-den. Sie hatten sich von natogrün in tiefblau und metal-licgrün verwandelt. Der Dritte, noch immer im Nato-Look, wurde von Gert und mir als Führungsfahrzeugeingesetzt. Diese Allradkarosse, von allen Beteiligten spä-ter als »James-Bond-Auto« bezeichnet, unterschied sich ineinigen wesentlichen Punkten von den handelsüblichenAusführungen.

Wir hatten einen Dreisitzer. Der dritte Sitz war hintenmittig zwischen den beiden Vordersitzen etwas erhöht ein-gebaut worden, um die Sicht von dort aus zu verbessern.Ringsum befanden sich schwarz lackierte, abschließbareStaukästen. Über den beiden Vordersitzen stand uns einMetallklappdach zur Verfügung. Zudem hatten dieAmerikaner diverse technische Finessen eingebaut. Da gabes eine komplette Infrarotanlage. Die Scheinwerfer befan-den sich unsichtbar im Kühlergrill. Damit konnten wirauch in völliger Dunkelheit unbemerkt observieren. Dielotwendigen Spezialbrillen wurden in eigenen Ablagen imFond aufbewahrt. Durch eine Reihe von Zusatzschalternwar es möglich, alle Fahrzeuglampen separat zu schalten,eine andere nützliche Besonderheit bemerkten wir bei un-serem ersten Tankstopp.

Gert und ich waren bereits am Abend in Richtung Stral-sund gefahren. In jenen Wildost-Tagen gestaltete sich dieSuche nach einer offenen Tankstelle wie jene nach der be-rühmten Nadel im Heuhaufen. Schließlich, kurz vor demRügendamm, wo rechts die Straße Schwarze Kuppe ab-zweigt, fanden wir eine Servicestation. Sie war für DDR-Verhältnisse sehr groß und verfügte über mehrere Zapf-

30

Page 32: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

säulen. Gert, der selbst gefahren war, steckte den Zapf-hahn in den Tankstutzen unseres »007-Mobils«.

Die Tankuhr lief und lief. Zunächst bemerkte ich nicht,dass Gert immer wieder verschwand und unter das Autoschaute. Dann öffnete er die Beifahrertür. »Norbert,kannst du mal schauen?« Die Tankuhr zeigte bereits 160Liter und lief immer noch. Ich musste unweigerlich lachen.Gert zog den Zapfhahn leicht heraus, um festzustellen, obüberhaupt Benzin floss. Dabei goss er sich einen Schwallüber die Schuhe »Scheiße«, brüllte er laut, »wo bleibt dennder ganze Sprit?«

Die Situation hatte etwas von der Comedy-Show »Ver-steckte Kamera«. Ich stand lachend daneben, als Arnsteinnoch einmal unter das Auto tauchte und ein vermeintli-ches Leck suchte. Ich öffnete die Heckklappe. Hätte ja seinkönnen, dass der Treibstoff nach innen läuft. Ich mussteso lachen, dass mir alles wehtat. Die Tankuhr blieb bei240 Litern stehen. Als Gert auf den Preis guckte, musste erebenfalls lachen. Diese uralte DDR-Zapfsäule zeigte näm-lich nur zweistellige Beträge an. Das heißt, sie hatte bei 99Mark wieder bei Null angefangen. Wie sich herausstellte,verfügten wir über einen Spezialtank, der 280 Liter fasste.Für die getankten 240 Liter sollten wir am Ende lediglich37,50 Mark bezahlen. Nachdem wir uns von den Lach-anfällen erholt hatten, ging Gert an die Kasse und stelltemit Hilfe eines Taschenrechners die genaue Summe fest.Der etwas verwirrt blickende Tankstellenpächter solltenicht draufzahlen müssen.

Als wir losfuhren, saß er immer noch in seinem Häus-chen und schüttelte den Kopf. Für uns war diese urkomi-sche Situation ein befreiender Moment, in dem die ganzeLast für einen Augenblick von uns abfiel. Sie zeigt, unterwelchem Druck wir damals standen.

In Stralsund wählten wir das »Hotel am Bahnhof« alspassendes Basislager. Es war erst kürzlich frisch gestrichen

31

Page 33: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

worden und vermittelte deshalb von außen einen gutenEindruck. Damit hob es sich von seiner Umgebung bereitspositiv ab. Die Innenausstattung zeigte den morbidenCharme des untergehenden Sozialismus. Das wurde durchdie Freundlichkeit der Menschen wieder ausgeglichen.

Das Haus lag zentral, und wir gelangten von hier aus raschnach Rügen. Hier wollten wir den Abzug der heißen Warebeobachten und unsere Messungen durchführen. Wenndie Sowjets den damals russischen Fährhafen Mukran nut-zen würden, dann wäre der Rügendamm ihr Nadelöhr.Würden sie über Rostock abziehen, dann wäre das für unsauch gut erreichbar gewesen. Nun galt es bloß noch einProblem zu bewältigen. Das Hotel war komplett ausge-bucht. Mit der Macht des von uns repräsentierten Kapi-talismus gelang es uns aber, alles zu regeln. Wir überboteneinfach die anderen. Außerdem buchten wir sechs Dop-pelzimmer für zehn Tage, mit Option auf Verlängerung.Das war ein Argument, dem keiner widersprechen konnte.

In der Zwischenzeit hatten sich Mitarbeiter aus Münchenund Berlin in Marsch gesetzt. Gassing hatte über seinen Ex-Chef Ollhauer den Mitarbeiter Wulf aktiviert. Zwei weitereMitarbeiter fand er in Berlin. Unser Pullacher Vertrauens-mann überredete zwei Junggesellen, die gerade die BND-Schule absolviert und noch keine feste Verwendung ge-funden hatten, uns zu helfen. Ansonsten herrschte inMünchen weiterhin Funkstille.

Überraschenderweise meldeten sich die BND-Technikeraus unserer Zentrale mit einem Auftrag. Sie hatten zwarselbst keine Zeit, an unserer Operation mitzuwirken, woll-ten später aber alles über die amerikanischen Messgeräteerfahren. Eigentlich war das ein ungeheuerlicher Vorgang.München unterstützte uns zwar nicht, kam aber mit einerAufklärungsforderung, die den eigentlichen Auftrag ge-fährdet hätte. Also wurde dieses Ansinnen im weiteren Ver-lauf von »Black Foot« einfach ignoriert.

32

Page 34: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Am Samstagabend war das Team komplett. Gassing hatteden amerikanischen Techniker mitgebracht, der nun in sei-nem weißen Kastenwagen vor dem Hotel saß. Der Ärmstehatte den Auftrag, seine hochgeheime Ausrüstung nicht ausden Augen zu lassen. Von unserem Hotelzimmer, das alsLage- und Besprechungsraum diente, sahen wir ihn sitzen.

Zum Auftakt gerieten Gassing und Gert sich in die Haare.Am Ende der Auseinandersetzung fuhr Gassing nach Ber-lin zurück. Dort wurde er dringender gebraucht und wirkamen auch ganz gut ohne ihn zurecht. Gassings Autofuhr vom Hof.

Nun war es Zeit. »So, Norbert, den einen Pflegefall habeich erledigt«, Gert deutete mit dem Finger auf unserenGast, »und der andere gehört dir. Übrigens, er spricht keinWort Deutsch. Viel Spaß!« Eine kleine, unscheinbare Fi-gur lümmelte auf dem Beifahrersitz herum und guckte teil-nahmslos aus dem Fenster.

Also setzte ich mein Kumpelgesicht auf und schlendertezum Kombi. Der Amerikaner kurbelte das Fenster herun-ter und grüßte mit einem müden »Hi«. - »Hi - ich binNorbert Dannau.« - »Larry Wosetzky«, lautete die Ant-wort. Ich glaubte, so etwas wie ein Lächeln zu erkennen.»Willst du nicht reinkommen?« - »Keine Chance!« Erzeigte mit dem Daumen über seine Schulter, auf die Kistenmit der hochsensiblen Technik.

Auf der Ladefläche hatte er alle Geräte verstaut. Zu sehenwaren unterschiedlich große Alukisten. Weiter konnte icheinen großen Steinfindling mit schätzungsweisen 80 Zen-timeter Breite und ein paar Steuergeräte erkennen.

»Wir müssten etwas besprechen.« - »O. k.«, war seineknappe Antwort. Er entriegelte die Fahrertür, und ich setztemich neben ihn. Larry war etwa vierzig Jahre alt undmittelgroß. Sein Gesicht wirkte wettergegerbt und strapa-ziert, die Hände dagegen eher zierlich. Der Mann trugJeans, Sweatshirt, eine Wollmütze und nagelneue Camel-

33

Page 35: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

boots. Unser Dialog lief sehr einseitig, weil er nur in derjeweils knappsten. Form antwortete.

»Wollen wir nicht doch ins Hotel gehen? Ich bestelleeine Wache für das Auto.« - »Nein.«

»Wie war die Anreise?« - »Schlecht.«»Hast du Hunger?« - »Ja.«»Soll ich dir was im Restaurant besorgen?« ~ »Ja.«»Was?« - »Egal.«Erst als ich regelrecht provozierte, wurde er konkreter und

orderte ein Schnitzel mit Coke. Weit gefehlt, wenn ichdachte, er würde nun in das Restaurant kommen. UnserTechniker speiste in seinem Transporter und verbrachte diefolgende Nacht im Schlafsack auf dem Beifahrersitz. We-nigstens konnten wir vorher noch die Operation besprechen.

Papa Bär, Mama Bär und Baby Bär

Larry erklärte mir zuerst einmal seine Geräte. Die langeKiste trug den Namen »Papa Bär« und musste so nahe wiemöglich an das Gleis herangebracht werden, auf dem derZug unseres Interesses nahte. Der Abstand zu den vorbei-rollenden Waggons durfte nicht weiter als ein Meter sein,Die kürzere Kiste, »Mama Bär«, musste in einem exakt ver-messenen Abstand zu »Papa Bär« installiert sein. Der Ab-stand zum Gleiskörper spielte dabei keine Rolle. »BabyBär«, der Findling, war genau einem Originalstein nach-empfunden und daher relativ unauffällig.

Alle drei Kisten waren mit Spezialelektronik vollgestopft,die sämtliche technischen Werte und Details der Atom-waffen erkennen und aufzeichnen konnte. Unsere erste Auf-gabe war, sie so zu installieren, dass sie möglicherweiseauch über Wochen unerkannt blieben.

34

Page 36: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Wie kamen wir nun an die Information über den Ab-transport der hochgefährlichen Waffen? Wir benötigtendringend einen Kontakt zur Reichsbahn. Wo sollten wir inder Hierarchie einsteigen? Wenn wir zu weit oben unserGlück versuchten, dann war eindeutig die Gefahr des Ver-rats vorhanden. Denn die hochrangigen Beamten stamm-ten zum Teil noch aus den Parteikadern der SED. So ver-stand sich eine gewisse Nähe zur abziehenden Westgruppevon selbst. Das Risiko schien uns zu groß, an leitendeBahnoffizielle in Stralsund oder Berlin heranzutreten.

Da kam uns der Zufall zu Hilfe. Durch einen alten Zei-tungsartikel stießen wir auf einen Bahnhofsvorsteher, derbestens in unsere Pläne passte: den Bahnhofsvorsteher vonSamtens, einem der zehn für uns interessanten Bahnhöfezwischen Stralsund und Mukran. Der Chef von Samtenshatte, wie wir unserer Zeitung entnahmen, unmittelbarnach der Wende auf dem Bahnhofsvorplatz kurzerhandeine bundesdeutsche Fahne gehisst. Das brachte ihm er-heblichen Ärger mit den noch amtierenden Parteigenossenin Bergen auf Rügen ein. Diese Betonköpfe waren richtigaufgebracht. Die Fahne ließ sich nämlich nicht so leichtentfernen, weil ihre Schnüre weit oben abgeschnitten wa-ren und man sie deshalb schwer erreichen konnte.

Wir erkundeten alle Bahnhöfe und prüften, ob sie nachden Regeln unserer Operation zu gebrauchen waren. DieStrecke zwischen Bergen und Saßnitz beispielsweise warfür unser Vorhaben weitgehend unbrauchbar. Schwer zu-gänglich, zum Teil dicht besiedelt und weit entfernt vonunserem Hotel. Letztlich blieb nur noch die 12,5 Kilome-ter lange Strecke zwischen Rambin und Teschenhagenübrig.

Wulf bekam den Auftrag, den Bahnhof von Rambin zuprüfen. Er sollte sich auch die Bahnbediensteten ansehen,weil sich unser Mann in Samtens immer noch als »Niete«herausstellen konnte. Wir mussten von Anfang an zwei-

35

Page 37: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gleisig fahren. Zwei weitere Mitstreiter sahen sich denBahnhof Stralsund-Rügendamm und den Fährhafen Mu-kran aus der Nähe an.

Gert und ich fuhren nach Samtens. Wir parkten unserenGeländewagen direkt vor dem kleinen Bahnhof. Wir hat-ten uns vorgenommen, den Vorsteher in gewissem Umfangeinzuweihen und um Mithilfe zu bitten. Es war ein strah-lend sonniger Vormittag. Das schöne Wetter hatte uns aufder Fahrt über den Rügendamm, vorbei an Drammendorf,bis nach Samtens begleitet. Ein paar Minuten saßen wirschweigend im Fahrzeug und atmeten tief durch. » Greifenwir an«, drängte ich Gert. Während er das Auto verschloss,stimmte er leise »sein« Lied an: »Früher war'n wir Kom-munisten, Zentrum und SPD ...«

Wir umrundeten das Gebäude. Gert flüsterte mir zu:»Erst mal keinen Ton über den BND. Du führst das Ge-spräch. Wir nehmen es, wie es kommt.« Am Bahnsteig an-gekommen, blickten wir in Richtung Süden auf den aus-gedehnten Güterbahnhof. Am nördlichen Ende der Gleisebefand sich ein beschrankter Bahnübergang. Nur wenigeMenschen warteten auf den Nahverkehrszug, der sich ausRichtung Stralsund näherte. Eine Frau in Uniform regeltedas Ein- und Aussteigen. Mit Trillerpfeife und Handzei-chen schickte sie den Zug wieder los.

Von lautem Klingeln begleitet, öffneten sich die Schran-ken wieder. Die Uniformierte stand immer noch da undblickte uns fragend an. »Wir suchen hier den Bahnhofsvor-steher«, sprach ich sie an. Sie musterte uns von oben bis un-ten und antwortete etwas schnippisch: »Aus dem Westen,oder?« Auf mein Nicken zeigte sie auf eine alte Holztür, dieim selben charmanten DDR-Grau getüncht war wie derganze Bahnhof. »Den Herrn Bahnhofsvorsteher finden Siedort hinten. Gehen Sie nur, mein Mann sitzt an seinemSchreibtisch.« Darm verschwand sie wieder in dem kleinenKassenraum, wo sie Fahrkarten verkaufte.

36

Page 38: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Wir klopften an der Holztür. Eine Stimme fragte vondrinnen: »Wer ist denn da?« Die Tür war verschlossen.»Wir würden gerne mit Ihnen ein Gespräch fuhren.« EinSchlüssel drehte sich im Schloss, und schon stand ein großgewachsener, hagerer Mann vor uns. Er war Mitte vierzigund ziemlich blass. Ich hielt ihm kurz meinen BND-Dienst-ausweis so knapp vor das Gesicht, dass er nichts mehr er-kennen konnte. »Wir sind von der Bundesregierung undmüssen dringend mit Ihnen sprechen.«

Nun riss er die Tür weit auf und bat uns herein. Auf derStirn standen ihm Schweißperlen. Der Mann zitterte amganzen Körper. Er versuchte etwas zu sagen, stammelteaber nur. »Bundesregierung - ja — aber - warum - was -kann ich - wollen Sie - bitte nehmen Sie Platz.« Geistesab-wesend versuchte er ein paar Unterlagen auf seinemSchreibtisch zu ordnen. Sein dünnes Haupthaar, durch dasschon eine Glatze schimmerte, wurde feucht.

Ich versuchte ihn zu beruhigen. »Waren Sie das, mit derBundesflagge vor dem Bahnhof? Ich habe selten so mutigeLeute gesehen. Diese Geschichte hat uns gut gefallen.« Eratmete tief durch. Ich hatte das Gefühl, dass er seit unseremEintreten das erste Mal geatmet hatte. Seine Gesichtszügebegannen sich zu entspannen. »Nun setzen Sie sich end-lich hin und erzählen uns, wie das war.« Beinahe mecha-nisch zog er seinen Stuhl heran, wirkte aber immer noch,als ob ihm ein Stasiverhör bevorstünde. Stocksteif, dieKnie zusammengedrückt, die Fingerspitzen auf demSchoß. »Sie kommen nicht wegen meiner Stelle?« Wir ver-neinten ganz entschieden.

Nun wurde er immer lockerer und begann zu erzählen.»Ach, wissen Sie, die Fahnengeschichte hat mir erheb-lichen Ärger eingebracht. Die Parteileitung in Bergen setztemich danach auf die Abschussliste und unternahm alles,um mich loszuwerden. Dann war es eine Zeit lang ruhig,weil alle damit beschäftigt waren, im neuen System Fuß zu

37

Page 39: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

fassen. Aber jetzt sitzen die alten Parteikader schon wie-der in Schlüsselpositionen, einer von ihnen in der Bahn-verwaltung von Rostock. Der ist nun wieder, wie auch frü-her, für mich zuständig. Ich war einer der Ersten, die zurWende standen, und deshalb sägen die alten Kader immernoch an meinem Stuhl. Sie nennen mich einen Fahnen-flüchtigen. Als Sie vorhin hereinkamen, dachte ich schon,das wäre jetzt mein letzter Arbeitstag.«

Bald war unser Gespräch so entkrampft, dass wir unsereigentliches Anliegen vortragen konnten. Er erwies sich alssehr zugänglich und auskunftsfreudig. Im Zusammenhangmit dem Abtransport der WGT über Mukran auf Rügensollten in den nächsten Tagen so genannte Gefahrentrans-porte stattfinden. Das Ungewöhnliche daran war, dass sienicht vorab angekündigt wurden. Die Bahn wusste, dassetwas rollen würde, dazu aber keine Einzelheiten. Im All-tagsbetrieb lagen die Fahrpläne schon wochenlang vor.Die Fahrten der östlichen »Brüder« bildeten die totaleAusnahme. Einige der Transporte waren schon vorbei, an-dere kamen noch.

Die Züge wiesen einige Besonderheiten auf. Sie umfass-ten maximal zehn Wagen und wurden immer von zweiDieselloks gezogen. Die zweite Diesellokomotive dienteals Reserve für den Fall, dass die erste ausfallen würde. DieZüge hatten freie Fahrt und durften nur im echten Notfallgestoppt werden.

Nach den beiden Zugmaschinen folgte immer ein kurzerund offener Flachwagen, auf dem ein Flugabwehrgeschützmontiert war. Geschützpersonal stand bereit und dazu einpaar Scharfschützen zur Absicherung. Es folgte ein Wagenmit fünfzig Mot-Schützen, danach die eigentlichen Güter-wagen, von denen nur ein oder zwei Fracht geladen hat-ten. Die anderen waren bloß Dummies. Am Ende hing einweiterer offener Waggon mit Luftabwehr.

Der Bahnhofschef sagte uns seine Unterstützung zu, und

38

Page 40: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wir hatten ein gutes Gefühl dabei. Er war zur nächstenNachtschicht eingeteilt, und deshalb verabredeten wir unsmit ihm entsprechend. Während des Tages wollten wirnicht mehr in Erscheinung treten, und so passte uns dasganz gut in den Kram. Als wir uns verabschiedeten, schiener erleichtert zu sein, und auch wir waren zufrieden. Ichdrehte mich noch einmal nach ihm um: »Dieser Auftragist für die Bundesregierung von so großer Bedeutung, dasswir hinterher sicher etwas für Sie tun können. Ich werdemich persönlich für Sie einsetzen.« Mit einer Mischungaus Stolz, Neugier und Erleichterung entließ er uns.

Gert konnte sich nicht mehr zurückhalten, als wir wie-der im Auto saßen: »Hast du gesehen, wie der auf einmalgeschwitzt hat?« - »Unser Auftreten war aber auch etwasmartialisch«, entgegnete ich ihm. »Schau uns doch beideeinmal an. Wir sehen aus wie die Schwarzen Sheriffs.« Inder Tat, wir wirkten beide wie uniformiert. Beide trugenwir Jeans und schwarze Seidenblousons, dazu weiße Hem-den und weinrote Krawatten. Diese Übereinstimmungenfielen uns erst jetzt auf. Wir konnten locker als Scientolo-gen oder Mitglieder anderer Sekten durchgehen.

Gert war fröhlich. Er chauffierte uns zurück nach Stral-sund. Beim Wegfahren sang er wieder: »Früher war'n wirKommunisten ...«

Vorbereitungen auf Rügen

Zurück in unserem »Hauptquartier« entwickelten wir denendgültigen Einsatzplan. In der Nähe des Bahnhofs Rügen-damm richteten wir einen Beobachtungsposten ein, der je-weils während der Nacht im Schichtbetrieb besetzt wurde.Er sollte alle Züge melden, die das bekannte Schema auf-

39

Page 41: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wiesen. Weil es uns an Personal fehlte, konnten wir hiernur eine Person mit Funkgerät einsetzen.

Die Gegensprechstelle befand sich in dem Geländewa-gen, mit dem Gert und ich unterwegs waren. Damit woll-ten wir uns im Bereich des Bahnhofs Rambin postieren.Von dort lief die Bahnstrecke bis Samtens stets parallel zurBundesstraße. Wir wollten den einen oder anderen Trans-port auf der Straße begleiten und ihn mit einer Infrarot-kamera filmen. Als wir dies bei harmlosen Zügen testeten,mussten wir feststellen, dass es praktisch unmöglich war,durchgehend neben ihnen herzufahren. Wir befanden unsauf der einzigen einigermaßen gut ausgebauten Straße derInsel Rügen. Dadurch war sie auch bei Nacht ziemlichfrequentiert. Unsere geplante Zugbegleitung wurde regel-mäßig von langsam fahrenden Lastwagen und anderenFahrzeugen verhindert. Ein Überholen war ohnedies nurin den seltensten Fällen möglich. Eine erfolgreiche Obser-vation der Züge erwies sich als reines Glücksspiel.

Auf der anderen Seite der Gleise entdeckten wir einenbefestigten Feldweg, der noch dichter am Schienenweg lagals die Bundesstraße und der bis Samtens führte. Auf derStrecke zwischen Rambin und Samtens biegen zwei Stra-ßen von der Bundesstraße nach Süden ab. Die erste führtnach Sellentin, die zweite nach Götemitz. Zwischen diesenbeiden Abzweigungen war der Feldweg auf einer Streckevon rund zweieinhalb Kilometern in einem brauchbarenZustand. Das sagte uns besser zu. Testfahrten fördertenunsere Entscheidung zugunsten dieser Strecke.

Hier sollten unsere Aufzeichnungen entstehen. Eines deramerikanischen Spezialgeräte sollte im Bahnhof von Sam-tens eingesetzt werden, die beiden anderen im folgendenStreckenabschnitt. »Papa Bär« durften wir, nach Abspra-che mit dem Bahnhofsvorsteher, an einer Weiche direkt imGleisschotter einbauen. Voraussetzung für eine erfolgreicheArbeit war jedoch, dass der Zug an dieser Stelle rnindes-

40

Page 42: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

tens drei Minuten lang stehen blieb. Nur dann war es mög-lich, exakte Strahlenmessungen durchzuführen.

2 500 Meter nach dem Bahnhof verläuft die Trasse nochneben der Bundesstraße. Von Zirkow Hof bis zur Stönk-vitzer Siedlung entfernen sich die Bahngleise in einem wei-ten Bogen bis zu 500 Meter von der Straße. Zudem ist dasGelände, das westlich von Samtens noch völlig offen ist,ab hier relativ dicht bewaldet. An dieser Stelle wollten wirdie anderen Geräte einsetzen. »Baby Bär«, der Findling,brauchte nur irgendwo in Gleisnähe positioniert zu werden.»Mama Bär« würden wir mit einem Tarnnetz zwischenGleis und Waldrand verstecken.

100 Meter jenseits der Gleise befindet sich lichter Hoch-wald, dem sich zur Bundesstraße hin eine kleine Dickunganschließt. Von hier konnten wir, in leicht erhöhter Posi-tion, sowohl Gleise als auch Geräte gut einsehen. Wenn dieZüge sich näherten, würden wir in der Dickung verschwin-den können. Im Vorfeld dürften wir natürlich bei der Ins-tallation der Geräte nicht auffallen. Wer immer uns in die-sem Gelände sehen würde, konnte uns bei irgendwelchenDienststellen melden, die uns nicht wohlgesonnen waren.Das musste um jeden Preis verhindert werden.

Als letzten Einsatzort vor Mukran wählten wir einenwilden Campingplatz im Süden von Lietzow, der direktneben den Bahngleisen lag. Dort postierten wir später dasWohnmobil mit den beiden Absolventen der BND-Schule,den »Frischen«, wie wir sie nannten. Rasch zeigte sich, wieverantwortungslos es war, totale Newcomer in einen sol-chen Einsatz zu schicken.

Sie waren unbedarft und verhielten sich entsprechendunvorsichtig. Ihre Anwesenheit gefährdete die ganze Ak-tion, weil sie unsere Operation zeitweise mit einem James-Bond-Film verwechselten. Ich wusste mir schließlich nichtmehr anders zu helfen, als ihnen das Verlassen des von ih-nen aus München mitgebrachten Wohnmobils zu verbie-

41

Page 43: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ten. Sie sollten die vorbeifahrenden Züge beobachten undmit einer Infrarotkamera fotografieren. Als »Pfleger« fürdie beiden Anfänger teilten wir Wulf ein. Damit war derDienstaufsicht Genüge getan.

Wulf war ein Fall für sich. Er hatte sich inzwischen mitder Bahnhofsvorsteherin von Rambin angefreundet. EineKlaransprache als BND-Mann schloss er aber aus, da dieDame aktives SED-Mitglied war und anscheinend immernoch dem alten Regime nachtrauerte. Als allein erziehendeMutter musste sie sich tagsüber um ihre Kinder kümmern,und deshalb übernahm sie vorwiegend die Nachtschicht.

Wenn wir den Atomzug ein oder zwei Kilometer beglei-ten wollten, dann mussten wir das Bahngelände vonRambin überqueren. Dabei bestand die Gefahr, dass dieBahnhofsvorsteherin uns bemerken und melden würde.Deshalb bekam Wulf den Auftrag, sie jeden Abend zu be-suchen und ihr den Hof zu machen. Der Kontakt entwi-ckelte sich gut. Zuerst durfte er nicht in ihr Dienstzimmer,aber das erledigte sich nach einigen Tagen von selbst.

Die Vorbereitungen liefen zügig. Jeder wusste, was er imEinsatzfall zu tun hatte. Alle waren motiviert und gespannt,wann wir den ersten Zug erblicken würden, der mit »Vor-spann« über den Rügendamm rollte. Am nächsten Abendging der Beobachtungsposten im Bahnhof Rügendamm inStellung. Wulf war bei seiner Bahnhofsvorsteherin. Die»Frischen« saßen in ihrem Wohnmobil. »Papa Bär« wareingebaut und »Mama Bär« wie auch »Baby Bär« akti-viert.

Larry Wosetzky saß in seinem kleinen Kastenwagen anden Steuergeräten. Er war mit einem Funkgerät ausgestat-tet und hatte Direktkontakt zu Gert und mir. Wir pendeltenzwischen den einzelnen Stationen, indem wir immer wie-der die Strecke zwischen Stralsund und drei Kilometer hin-ter Samtens abfuhren. Die Spannung wuchs.

Zwei unserer Leute warteten am Bahnhof Samtens. Sie

42

Page 44: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

mussten »Papa Bär« bewachen. Für den zweiten Transporthatten sie noch einen Sonderauftrag bekommen. Beim ers-ten Durchgang wollten wir nur unsere versteckten Mess-geräte einsetzen und möglichst viel filmen und fotografie-ren. Alle nahmen ihre Posten ein. Gert und ich fuhren hinund her und versorgten sie mit dem Nötigsten.

Die erste Nacht verging, und nichts war passiert. Wirkehrten in unser Hotel zurück und schliefen den Tag über.Vorsichtshalber ließen wir eine Notwache am Rügen-damm zurück und einen Helfer bei Larry, dem Unermüd-lichen. Er weigerte sich, ins Hotel zu gehen, weil er dann»Baby Bär« unbeaufsichtigt gelassen hätte. Der Findlinglag, schön drapiert, unmittelbar bei den Gleisen.

In jenen Tagen war das Wetter schwülwarm. Wir hattenbeim Schleppen der schweren Geräte viel Schweiß vergos-sen und zwangsläufig Myriaden von Mücken angelockt.Zu deren Abwehr hatte ich den gesamten Bestand einerlokalen Apotheke an Mückenschutzmitteln aufgekauft.Eigentlich konnte man es nur im hermetisch verschlosse-nen Auto aushalten, aber dort war es dann wieder viel zuwarm. Nur unseren Special-Agenten von der CIA schiendas alles nicht zu beeindrucken. Er nahm die Insektenplageeinfach nicht zur Kenntnis.

Der erste Militärtransport rollt

Ein weiterer Tag verging ohne besondere Ereignisse. Immerwenn sich ein Güterzug näherte, stieg bei uns allen derPuls an. Wenn aber zu erkennen war, dass die Wagen nurvon einer Lokomotive gezogen wurden, fiel die Anspan-nung sofort wieder ab. Wir warteten eben auf einen ganzbesonderen Transport, auf einen besonderen Zug, dessen

43

Page 45: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Zusammenstellung keiner von uns jemals zuvor gesehenhatte.

Inzwischen waren wir uns auch ziemlich sicher, dass un-sere Informationen stimmen würden. Wulf hatte nämlichüber seine »Quelle« alles zusätzlich bestätigen lassen.Trotzdem nagte in uns leichter Zweifel. Was wäre, wenn dieRussen ihre strahlende Fracht doch über Rostock ver-schiffen würden? Mit jeder Stunde, in der nichts geschah,wurden wir unsicherer. Diverse Male kontaktierten wirunseren Bahnhofschef in Samtens und ließen uns alles wie-der und wieder erklären. Wir benötigten das zu unserereigenen Beruhigung.

Dann war es plötzlich so weit. Auf dem Weg nach Stral-sund, beim Überqueren des Rügendammes, erreichte uns einFunkspruch: »Leitung, hier Posten, Achtung Vorspann-lok! Leitung, hier Posten, Achtung, Achtung Vorspannlok!Sie kommen, Jungs. Sie kommen tatsächlich.« Ich gab Gasund raste die restliche Strecke zum Bahnhof. Das wollteich mir nicht entgehen lassen. Direkt neben dem Gebäudeführte eine steile Treppe mit etwa dreißig Stufen zum Gleis-körper. Dort sprang ich aus dem Wagen und stürmte dieStufen hinauf.

Völlig außer Atem und sehr aufgeregt stand ich am Gleisund blickte nach Südosten, wo ich den Zug erwartete. Ichcheckte kurz meine Spiegelreflexkamera, die mit einemhochempfindlichen Film von 1 600 Asa bestückt war. Fo-toapparat und Film hatten uns die Amerikaner im Eil-tempo zur Verfügung gestellt, da der eigene Dienst für dieBeschaffung eine Ewigkeit benötigt hätte. Ich drückte zwei-mal ab, um zu hören, ob der Motorantrieb funktionierte.Alles in Ordnung. Dann sah ich in großer Entfernung diedrei Frontlampen eines Zuges extrem langsam näher kom-men.

Die Schilderungen des Bahnhofschefs waren offensicht-lich richtig. Er hatte uns erzählt, dass diese Transporte

44

Page 46: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

durch die Bahnhöfe und über den Rügendamm immer imSchritttempo gefahren wurden. Der Zug kroch auf denBahnhof zu. Durch eine lange Linkskurve konnte ich ihnvon seiner linken Seite in voller Länge sehen. Mein Pulsraste. Der Apparat klickte und surrte, was das Zeug hielt.Als der Transport den Bahnhof erreicht hatte, verschwandich rasch wieder im Auto. »Sie kommen tatsächlich«, riefich Gert in einer seltsamen Euphorie zu. Die Zweifel derletzten Stunden waren wie weggewischt.

Mein Partner raste über den Rügendamm zurück auf dieInsel. »Hoffentlich brennt uns jetzt bei Wulf nichts an«,sinnierte er. Beim Blick nach hinten erkannten wir an denLichtern des Zuges, dass er gerade anfing, über den Dammzu schleichen. In Rambin unterquerten wir die Bahnlinie,um direkt dahinter nach links auf das Betriebsgelände ab-zubiegen. »Scheinwerfer aus«, rief ich. »Scheinwerfer sindaus«, antwortete Gert wie ein Pilot im Cockpit seiner Ma-schine. »Infrarotscheinwerfer an!« - »Sind an!« - »Infra-rotbrillen auf!« - »Sind auf!«. Nun bewegten wir uns aufReichsbahngelände, das uns eigentlich versperrt war.

Wulfs Geländewagen stand neben einem Trabi vor demBüro der Bahnhofsvorsteherin. Sie durfte uns auf keinenFall sehen. Tags zuvor hatte uns Wulf noch gefragt, was erdenn machen sollte, um die Dame ruhig zu stellen. GertsAntwort war: »Das weiß ich doch auch nicht. Spiel mit ihrMensch-ärgere-dich-nicht, und wenn das nicht funktio-niert, dann lass dir was einfallen. Hauptsache, sie kriegtnicht mit, dass wir auf dem Kolonnenweg neben der Bahn-strecke fahren.«

Nun rollten wir langsam an dem Büro vorbei. Es war al-les ruhig - und stockfinster. Nicht einmal die Schreibtisch-lampe brannte. Ich gab mich gespielt entrüstet: »Ich fassees nicht. Wir ziehen in den Krieg, und Wulf vergnügt sichim Bahnhofsbüro.« Feixend und kichernd rollten wir vomBahnhofsgelände auf den Feldweg. Nach ein paar hundert

45

Page 47: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Metern hielten wir an. Hinter uns war alles ruhig geblie-ben. Das Faltdach des Geländewagens wurde aufgeklappt,und ich brachte mich mit einer Videokamera in Position.

Kurze Zeit später sahen wir die Frontlichter des Mili-tärzuges, der beim Verlassen des Bahnhofs Rambin lang-sam wieder Fahrt gewann. »Gert, es geht los«, rief ich. DieLichter der Lokomotive kamen rasch näher. Mein Herzschlug wie wild, als Gert langsam anfuhr und die Geschwin-digkeit erhöhte. Wir hatten gut sechzig Sachen drauf, alsder Zug uns langsam überholte. Unser Weg war mit denInfrarotgeräten gut zu erkennen. Mit der schweren VHS-Kamera visierte ich die erste Lok an. Dann schwenkte ichlangsam zurück. Gert schrie in die Nacht: »Hast du ihn,verdammt, hast du ihn?« Ich brüllte zurück: »Ja, aber derist zu schnell, verdammt noch mal!«

Die Waggons zogen sehr zügig an uns vorüber. »Gib Gas,gib Gas«, schrie ich. Plötzlich wurde ich zu Boden geschleu-dert. Gert hatte ein Schlagloch übersehen und war unge-bremst durchgebrettert. »Ist alles o. k.?«, fragte er in dieDunkelheit. »Ja, aber fahr doch«, kam meine Antwort. Ichkletterte wieder zu meiner Luke. Wir waren nun auf glei-cher Höhe mit dem Zugende. Die Soldaten auf der Plattformdösten und bemerkten uns nicht. Am Güterwagen, der dasSicherheitspersonal beförderte, war die Schiebetür einenMeter geöffnet. Im Rahmen lehnte ein Soldat und rauchte.

Nachdem ich meine Kamera wieder in Stellung gebrachthatte, schrie ich nach unten: »Gert, fahr schneller, schnel-ler; fahr, fahr, fahr doch.« Langsam und ohne eines der tie-fen Schlaglöcher auszulassen, kamen wir wieder näherund näher. Endlich überholten wir unsererseits den pol-ternden Zug. Alles zog an meinem Objektiv vorbei. DieFlaksicherung, die Güterwagen, der Wagen mit dem Siche-rungspersonal, wieder eine Flak und schließlich die beidenLokomotiven. Gert hielt an. Der Zug donnerte erneut anuns vorüber.

Page 48: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Über einen unbeschrankten Feldweg wechselten wir dieSeite und folgten dem Gespann mit 200 Metern Abstandauf der Bundesstraße, bis wir es dann in Samtens überhol-ten. Wir rasten mit Vollgas weiter in Richtung Lietzow. DieInfrarotaufnahmen der beiden »Frischen« von der BND-Schule sollten auf alle Fälle gelingen. Nach einer kurzenEinweisung der beiden Jungen versteckten wir unserenGeländewagen in einem Seitenweg. Vor uns lag ein großerGüterbahnhof. Ein langer Güterzug stand direkt nebendem Hauptgleis.

Um den Gefahrentransport weiter im Auge zu behalten,kletterten wir in einen Wagen dieses stehenden Güterzu-ges und ließen die Schiebetür einen halben Meter weit of-fen stehen. Der gesamte Güterbahnhof war dunkel, die Be-leuchtung ausgeschaltet. Am klaren Himmel leuchtetendie Sterne. Da hörten wir schon das Rattern des sich nä-hernden Zuges. Ich drückte wieder auf den Auslöser mei-ner Kamera. Der Konvoi fuhr Schritttempo. Da passierteetwas vollkommen Unerwartetes.

Bremsen quietschten, und plötzlich stand der Konvoi di-rekt vor uns. Zu allem Übel ging auch noch die gesamteBeleuchtung des Rangierbahnhofs an. Auf einmal war estaghell um uns. Direkt gegenüber von unserem Versteck imGüterzug stand der Wagen mit den Sowjetsoldaten. Wes-halb der Zug plötzlich gestoppt hatte, konnten wir nichterkennen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Jetzt brach Hek-tik aus.

Die schwer bewaffneten Soldaten sprangen aus ihremWaggon und rannten eilig um den Zug, um sich zu vertei-len. Dann peitschte ein Gewehrschuss durch die Nacht.Gert und ich schauten uns einen Augenblick schweigendan. Dann ergriff ich die Initiative: »Los, raus hier. Lass unsabhauen! Weg!« Wir öffneten die Schiebetür auf der denSoldaten gegenüber liegenden Seite des Waggons und klet-terten nach draußen. Wenn die Russen uns jetzt erwischen

47

Page 49: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

würden, gäbe es arge Probleme. Wir zählten bis drei undrasten los. Fünfzig Meter entfernt konnte man eine Schre-bergartenkolonie erkennen.

Wir rannten, so schnell wir konnten, und hechteten übereinen alten Maschendrahtzaun. Gert landete zwischen einemWasserbottich und einem Komposthaufen. Ich schlug ineinem Gemüsebeet auf. Für einen Moment hielten wir inneund betasteten unsere Knochen. Es schien alles heil zu sein.Dann lauschten wir in Richtung Bahntrasse. Es herrschteimmer noch Betriebsamkeit, aber auf unserer Seite, bei demabgestellten Güterzug, schien alles ruhig zu sein. »Alter,mir tut alles weh«, stöhnte ich. Damit konnten wir leben.

Gert, immer noch wie ein Maikäfer auf dem Rücken lie-gend, stöhnte ebenfalls: »Vorschriftsmäßige Landung, HerrHauptmann. Fuß, Arsch, Kopf, Revier.« Wir schlichendurch das Gartengelände und entfernten uns so weit, dasswir sicher waren, aber trotzdem den Zug wieder einsehenkonnten. Nach etwa zehn Minuten rollte er wieder an.Was geschehen war, konnten wir noch nicht einordnen.Natürlich hatten wir zuerst unsere Agentenlehrlinge imWohnrnobil in Verdacht. Hatten sie sich unbedacht ver-halten? Es stellte sich aber rasch heraus, dass sie keinenAnlass geliefert hatten. In ihrem Wohnmobil war alles ru-hig geblieben.

Weshalb ein Schuss gefallen war, konnten wir auch spä-ter nicht ermitteln. Vielleicht hatte er sich versehentlichaus einer ungesicherten Waffe gelöst. Die Verzögerung desTransports hatte aber dazu geführt, dass wir ausgezeich-nete Bilder von den Nuklearsprengköpfen fertigen konn-ten. Die Amerikaner hatten uns eine Kamera mit Infra-rottechnik zur Verfügung gestellt, und deren Fotos warenso gut, dass sich sogar die Seriennummern der Geschosseentziffern ließen.

Auf dem Rückweg legten wir einen Stopp bei Larry ein.Wir waren neugierig, ob auch hier alles geklappt hatte. Der

48

Page 50: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Mann war wie ausgewechselt. Als wir auf die Lichtung ka-men, führte er einen Tanz auf, als sei er ein Indianer, dernach Regen fleht. Dann fiel er uns um den Hals. »Ich habealles im Kasten. Es ist nicht nur gut - es ist super. So etwasgab es noch nie. Superarbeit mit euch, Jungs, Superarbeit.«

Erleichtert und stolz fuhren wir nach Samtens, um mitdem Bahnhofsvorsteher die Einzelheiten für den nächstenTransport festzulegen. Er blickte uns triumphierend undlobheischend an. »Na, wie habe ich das gemacht? Ich habeden Zug einfach im Rangierbahnhof gestoppt. Das wardoch klasse, oder?« Gert wusste nicht, ob er lachen oderweinen sollte. »Sie waren das!?« Mit seinen von roter Erdeverschmierten Haaren, der völlig eingesauten Hose undeinem dicken Loch im schwarzen Seidenblouson guckte erunseren Helfer an, als wolle er ihn gleich lynchen. Wirnahmen dem Bahnhofschef das Versprechen ab, auf künf-tige Extraeinlagen zu verzichten.

Die Operation »Black Foot« lief am nächsten Abendweiter. Ab 17 Uhr befanden wir uns wieder in der Aus-gangsposition. Bis 1.30 Uhr wurde unsere Geduld auf dieProbe gestellt. Dann kroch der nächste Atomtransport denRügendamm entlang. Heute sollte »Papa Bär« eingesetztwerden. Um absolut sichere Vergleichsmessungen durch-führen zu können, brauchten die Amerikaner diese speziel-len Werte. Larry versicherte uns, dass sie dann in der Lageseien, alle anderen Fahrten exakt berechnen zu können.

Dazu musste der Zug aber noch einmal still stehen. AmBahnhof Samtens bereiteten wir alles vor. Larry schaltete»Papa Bär« scharf. Dann schlüpfte er in sein Versteck. Wirhatten einen Trabi organisiert. Nun stellten wir ihn aufden Bahnübergang. Zwei unserer Leute hantierten an demFahrzeug herum. Ich stand im Bahnhof bei unserem Freund.Gert saß auf der gegenüber liegenden Seite, mit einer Ka-mera bewaffnet, in einem Schuppen.

Der »Nuklearexpress« rollte in den Bahnhof. Doch die

49

Page 51: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Signale blieben auf Rot, und die Schranken schlossen sich.Mit lautem Gequietsche blieb der Zug stehen. Unser Bahn-hofsvorsteher ging nach draußen und sprach mit dem Lok-führer. Bei den Russen war alles in heller Aufregung. Kom-mandos wurden gerufen. Die Flakbesatzung sprang vomWagen und rannte in Richtung Trabi. Ein Fähnrich zückteseine Pistole. Plötzlich hatte ich Angst, dass unsere Aktionschief gehen könnte. Die Soldaten erhielten Anweisung,den Trabi zur Seite zu schieben.

Der Fähnrich redete nun auf den Lokführer und dannauf den Bahnhofsvorsteher ein. Wild gestikulierend, diePistole immer noch in der Hand, forderte er die sofortigeWeiterfahrt des Transportzuges. Der Bahnhofschef kameilig zurück. »Hat die Zeit gereicht?«, fragte er im Vorbei-laufen, ohne mich anzusehen. »Warte noch ein paar Sekun-den«, raunte ich ihm zu. Nach einer kurzen Weile standdas Signal auf Grün, und der Militärzug rollte davon. Al-les hatte tadellos geklappt. Nach Larrys Worten hätten dieMessungen nicht genauer sein können. Am nächsten Tagbauten wir alles ab. Nur »Baby Bär«, der Findling, bliebliegen. Mit Hilfe der bisher gewonnenen Daten konnte un-ser Gerät nun das weitere Rückzugsgeschehen allein auf-zeichnen.

Begeisterung von Berlin bis Washington

Zurück in Berlin war die Hölle los. Die Amerikaner hattenhinter dem Haus einen großen Schwenkgrill aufgestellt,dazu eine Batterie Getränkekisten und ein Salatbuffet heran-geschafft. Gassing und einige neue Mitarbeiter von 12YA,die in der Zwischenzeit aus Pullach hinzugekommen wa-ren, feierten bereits. Wir gesellten uns zu ihnen und tranken

50

Page 52: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ein Bier. Schulterklopfen von allen Seiten war angesagt.Mehrere Reden wurden gehalten. Wir bekamen ausdrück-liche Glückwünsche aus München übermittelt. Damalswusste ich noch nicht, dass ein Lob des BND eine kürzereHaltbarkeitsdauer hat als ein Joghurt.

Die Neuen aus Pullach berichteten, dass sich der zustän-dige Unterabteilungsleiter (UAL) 12 bei seinem Abteilungs-leiter und sogar beim Präsidenten des BND feiern ließ.Schließlich hatte »sein« Personal doch so gut gearbeitet.Gert wurde sauer, als er das hörte. Ich sah seinen missmu-tigen Gesichtsausdruck. Wie konnten die in Pullach dieKorken knallen lassen, nachdem sie uns in dieser Sachebeinahe verheizt hatten.

Bevor wir die Party verließen, zog mich Larry Wosetzkyzur Seite. »Würdest du in zehn Tagen mit mir nach Rügenfahren, um das Baby wieder abzuholen? Ich komme nachHannover und hole dich ab. Du wohnst doch dort in derNähe.« Spätestens an dieser Stelle wurde mir bewusst, dasswir höllisch aufpassen mussten. So nett und umgänglichsich die Amerikaner auch gaben, es waren Schlitzohren.Sie waren ND-Profis und versuchten deshalb, alles aufzu-klären. Auch den eigenen Partner. Die Amerikaner waren -im Gegensatz zu unseren eigenen Leuten - immer hoch-konzentriert und neugierig. Selbst dann, wenn es um etwasso Banales wie den Namen des Hundes eines unserer Mit-arbeiter ging. Sie interessierten sich für alles, einfach alles.

Zwei Wochen später kehrte Larry zurück. Wir schlos-sen die gemeinsame Operation ab. »Bei uns herrscht Top-stimmung«, berichtete er mir. »Unser Präsident wurdepersönlich informiert. Es wird einige Orden und Aner-kennungen regnen.« Dann platzte er heraus: »Ich habeerst einmal eine kleine Gehaltsaufbesserung bekommen.Nächste Woche werde ich auf Staatskosten nach Floridafliegen. Man hat mich und meine Familie zu einem Sonder-urlaub eingeladen. Sogar die spanische Brieffreundin mei-

51

Page 53: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ner Tochter, sie befindet sich gerade bei uns, wurde kurzer-hand mit eingeladen. Und wie war es bei dir? Was hast dubekommen?« Ich musste leider mit den Schultern zucken.Keiner hatte sich bei mir in der Zwischenzeit gemeldet.Um nicht ganz mein Gesicht zu verlieren, antwortete ichknapp: »Weißt du, das kommt noch. Bei uns dauert allesetwas länger.«

In Wahrheit gab es für meinen Einsatz auf Rügen natür-lich nichts, rein gar nichts. Bei unserer Rückkehr nach Ber-lin verkündete mir Gassing stolz, er sei zum Oberstleutnantbefördert worden. Ein paar Wochen später wurden ihmund unserem Pullacher Führungsstellenleiter für ihren mu-tigen und engagierten Einsatz beim Abzug der russischenNuklearraketen der höchste militärische Orden verliehen,den Amerikaner an Ausländer vergeben.

Einige Wochen später riefen mich die Amerikaner in denKeller. Dego und sein Stab befanden sich im Besprechungs-raum. Feierlich verlas er ein Dankesschreiben seines Prä-sidenten George Bush senior. Bush, selbst ein ehemaligerCIA-Direktor, wandte sich an alle, die auf Rügen dabei ge-wesen waren. Dego wörtlich: »Besonderer Dank auch anGert und Norbert. Ich habe mit großer Freude ihren gran-diosen Einsatz zur Kenntnis genommen. Ich kann Ihnenversichern, die Amerikaner waren noch niemals so nahean russischen Nuklearsprengkörpern. Die beigefügte Video-kassette ist derzeit mein Lieblingsstreifen. Vielen Dank da-für und die besten Wünsche nach Deutschland.«

Gert und ich sahen uns fragend an. Allgemeines Ge-lächter unter den zwanzig Amerikanern. Der Raum wurdeverdunkelt und jemand drückte auf die Fernbedienung.»Das ist die Szene, die dem Präsidenten so gut gefallenhat«, hörte ich Degos Stimme. Auf dem Bildschirm warder russische Transport zu sehen. Dann drehte jemand denTon laut. Zuggeräusche, das Aufheulen des Automotors.Dann hörten wir: »Hast du ihn? Verdammt, hast du ihn?

52

Page 54: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Ja, verdammt ja, aber der ist zu schnell. Gib Gas, Gert, gibGas. Ja, nun fahr doch endlich ... Scheiße, ich sehenichts ... Gert, fahr schneller, schneller, fahr, fahr, fahr ...«

Es war uns richtig peinlich. An den Ton hatten wir beiunseren Aufnahmen gar nicht gedacht. Wir hatten dieBänder nach unserer Rückkehr sofort bei den Amerika-nern abgeliefert und sie nie wiedergesehen. Bis zu jenerVorführung im Keller ... Als das Licht wieder anging,wurden unsere ersten Worte von lang anhaltendem Beifallverschluckt. Das war ein Moment, der mir sehr nahe ging.Auch Gert war gerührt.

Gleichzeitig schämten wir uns für die phlegmatischeHaltung unserer eigenen Vorgesetzten. Als wir später imnahe gelegenen Park eine Runde drehten, sagte ich zuGert: »Es ist schon kurios. Wir sind deutsche Offiziere undarbeiten für die Bundesrepublik Deutschland. Wenn wiretwas benötigen - Material, Unterstützung, Fachwissen -,müssen wir zu den Amerikanern gehen. Sogar Lob undAnerkennung kommen von dort. Ist das nicht absurd?«

Im Nachgang gab es noch einen weiteren Wermutstrop-fen zu unserem Rügeneinsatz. Wir hatten dem Bahnhofs-vorsteher von Samtens unsere Hilfe zugesagt. Pullach ver-sprach uns, sich für ihn bei der BundesbahndirektionRostock zu verwenden. Wochen später änderte sich dieSprachregelung drastisch. »Wie konnten Sie so etwas ver-sprechen? Die Rechtsabteilung prüft gerade, ob Sie nichtmit einer Disziplinarstrafe rechnen müssen. Seien Sie froh,wenn Sie da wieder heil rauskommen.«

53

Page 55: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Fremde Briefe Ost

Meine Arbeit für den Bundesnachrichtendienst begann imHerbst 1984 und sollte mein bisheriges Leben radikal ver-ändern. Und das, obwohl ich damals schon manchen Ner-venkitzel hinter mir hatte, besonders bei der Tätigkeit inSpezialeinheiten und in Kommandostäben der Bundes-wehr. Außerdem ging es bei dem Angebot, vom Militär zumGeheimdienst zu wechseln, nicht gerade um einen James-Bond-Einsatz gegen atemberaubend hübsche feindlicheAgentinnen, sondern erst einmal um eine ziemlich profaneAufgabe. Mir wurde allerdings sehr schnell klar, dass ichmich damit nicht lange zufrieden geben würde.

Der 2. Oktober 1984, ein Donnerstag kurz vor meinem31. Geburtstag, war mein erster Tag als Mitarbeiter desBND. Ich musste mich bei einer regionalen Dienststelle inHannover melden. Mein Auto parkte ich hinter der Operund ging dann zu Fuß in die Theaterstraße, unweit vonKröpcke und Hauptbahnhof. Das Ziel trug die Hausnum-mer 4/5 und beherbergte unter anderem die Filiale einesAutovermieters. Ich studierte die Schilder. Ein Detektiv-büro, eine Versicherung, ein Immobilienmakler und — nurdas konnte meine neue berufliche Heimat sein - eine selt-sam geschraubt klingende »Dokumentationsstelle derHauptstelle für Fernmeldestatistik«. Dieses mysteriöse Un-ternehmen hatte den vierten und den fünften Stock belegt.

Eine freundliche und etwas rundliche Dame empfingmich. Sie war die Sekretärin der Dienststelle. Als sich dieTür des Chefs öffnete, blickte ich in die strahlend blauen

54

Page 56: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Augen eines ergrauten älteren Herrn, den ich spontan aufAnfang sechzig schätzte. Er war mittelgroß und stand etwasgebeugt vor mir. Mein erster Eindruck war zwiespältig.Der Körper des Mannes vermittelte einen geschundenenund verbrauchten Eindruck, während Mimik und Gestikauf einen hellwachen Geist schließen ließen.

Mit einem Schmunzeln begann er das Kennenlernge-spräch. »Nun sagen Sie mir bloß, was Sie hier bei uns wol-len. Ich habe Ihre Akte gelesen. Bundeswehroffizier, besteNoten, Offiziersschule mit Auszeichnung, Fallschirmsprin-ger, Einzelkämpfer. Und da schickt man Sie hierher, in die-ses Verließ.«

Der Mann stellte sich als Bensberg vor. Er gab sich freund-lich, aber unverbindlich. Das Gespräch endete mit der üb-lichen Floskel: »Wenn Sie mal ein Problem haben ...« Daskennen wir schon. Die Tatsache, dass Bensberg so lockerwar, machte ihn sympathisch. »Sie wollen sicher hören,was das hier für ein toller Laden ist. Damit kann ich abernicht dienen. Es ist nämlich ein richtiger Scheißladen.Wenn Sie mal was Echtes zum Thema Nachrichtendiensthören wollen, dann kommen Sie zu mir. Dann erzähle ichIhnen was. Aber verwechseln Sie nicht den BND und dashier mit Nachrichtendienst.«

Der Chef rief seinen Stellvertreter, einen Herrn Dimitroff.»Nun lernen Sie mal einen richtigen BND-Beamten ken-nen. Ist nur ein bisschen lange im Dienst.« Bensberg grinstewieder und machte eine wischende Handbewegung vordem Kopf. »Noch eines. Erzählen Sie ihm so wenig wiemöglich. Kleiner Tipp von einem Profi.« Schon klopfte esan der Tür. Ein hochgewachsener Mann mit einem aufge-setzten freundlichen Lächeln stand vor uns. Er stellte sichmir als Sicherheitsbeauftragter (SiBe) der Dienststelle 14CCvor. Herr Dimitroff schien aufgeregter zu sein als ich. SeineWangen leuchteten blutrot. Ein sicheres Zeichen für Blut-hochdruck.

55

Page 57: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Bensberg zündete sich ein Zigarillo an. Dabei fiel mirauf, dass im Aschenbecher auf der Fensterbank noch einesglimmte und auch im Aschenbecher auf seinem Schreib-tisch. Wie sich später herausstellen sollte, war das eine von»Onkel Bens« Macken. Und an dieser Stelle gleich nocheine Eigenart von Onkel Ben.

Während des Gesprächs hatte er plötzlich das Krawatten-ende von Dimitroff in der Hand. Als er sprach und do-zierte, tippte er ihm immer wieder auf die Brust und zogdann unvermittelt an der Krawatte, so dass sich der Knotenverzog. Diese Szene habe ich bei ihm immer wieder erlebt.Manch einer musste ihm die Krawatte förmlich entreißen,um nicht in Atemnot zu geraten. Onkel Bens prominen-testes Opfer war wohl der damalige BND-Präsident KlausKinkel während einer Visite in Hannover. Dimitroff je-denfalls stand in diesem Moment völlig hilflos und bewe-gungsunfähig vor seinem Chef, der ihn offensichtlich be-wusst traktierte. Es war Dimitroff sichtlich peinlich. Er batmich darum auch schnell in sein Zimmer.

Dimitroff nannte eine Bundesdienstflagge und eineDeutschlandkarte sein Eigen. Sein Zimmer war ein Mus-ter an Ordnung. Auf der Fensterbank standen sogar Blu-men. »Und Sie wissen nicht, was wir hier machen?«, hörteich ihn plötzlich mit einem geheimnisvollen Tonfall sagen.»Dann kommen Sie mal mit.«

Wir durchquerten einen langen Gang. Links und rechtsbefanden sich kleine Büros. Am hinteren Ende war die of-fene, schwere Panzertür eines ASR (Aktensicherungsraum)zu erkennen. Dieser Bereich war zusätzlich durch eineAlarmanlage gesichert. In der Mitte des Flures führtenlinks eine Tür in Dimitroffs Domizil und eine gegenüberin den so genannten Dampfraum. Darin standen fünfgroße Tische, aus denen in der Mitte jeweils eine Düse ragte.Es sah aus, als stünden da Tischmikrofone. Den Tischenfehlten Schubladen. An deren Stelle waren große Tanks mit

56

Page 58: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

destilliertem Wasser angebracht. Aus den Düsen trat, wennman die Apparatur in Gang setzte, heißer Wasserdampf.Auf einem Abstelltisch lagen große Packen mit zusammen-gebundenen Briefen.

»Tja, Herr Dannau«, sagte Dimitroff mit einem gewis-sen Stolz in der Stimme, »hier wird also die Post geöffnet.«In diesem Moment trat einer der anderen Mitarbeiter in denRaum. Er hielt einen Packen offener Briefe in der Hand.Nach einer kurzen Vorführung begann er sie zu gummie-ren und mit einem Bügeleisen zu schließen. Das war einMitarbeiter vom DDR-Team. Die Mannschaft bestandaus weiteren zwei Männern, zwei Frauen und mir. Spätersollte noch ein Kollege hinzustoßen. Daneben gab es eindreiköpfiges polnisches Team.

Unter dem Deckmantel von G-10

Ich sollte also fremde Post lesen. Zunächst dachte ich ganznaiv, es wären Briefe von Verdächtigen, die ins Visier desStaates gekommen waren. Weit gefehlt. Wir bekamen wahl-los herausgegriffene Briefe von DDR-Bürgern, die an Adres-sen in der Bundesrepublik gingen.

Das lief unter dem Stichwort »Strategische Nachrichten-gewinnung zur Gewährleistung der äußeren Sicherheit derBRD«. Unter diesem Titel erhielten wir quartalsweise pau-schale G-10-Ermächtigungen von den zuständigen Rich-tern. Sie erlaubten uns, jeden fremden Brief zu lesen, deruns in die Hände fiel. G-10 war ein Hinweis auf den Ar-tikel 10 des Grundgesetzes, der das Postgeheimnis alsGrundrecht garantiert. Wir durften es auf der Basis derumstrittenen Notstandsgesetzgebung legal brechen.

Unsere Tätigkeit geschah wie folgt: Jeden Morgen acht

57

Page 59: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Uhr fuhren zwei Mitarbeiter mit einem Opel Kadett Cara-van zur Hauptpost Hannover, die in der Nähe des Haupt-bahnhofs lag, etwa zehn Gehminuten von unserer Dienst-stelle entfernt. Die Männer mussten aus Sicherheitsgründenzwanzig Minuten kreuz und quer durch die Stadt rollen.Das nannte man Schüttelstrecke. An der Rampe für Selbst-abholer wartete auf sie ein so genannter eingewiesenerMitarbeiter der Bundespost. Nun wurden Postsäcke aus-getauscht. Alt gegen neu - gelesen gegen ungelesen.

Aus Legendengründen folgte ein halbstündiges Früh-stück in der Postkantine. Die Männer vom Geheimdienstsollten so tun, als gehörten sie zu irgendeiner Privatfirma,die Sendungen abholte. Im Anschluss daran kehrten sie indie Dienststelle zurück. Das dauerte auch zwanzig Minu-ten, meistens länger. Am Ziel wurden die Postsäcke imDampfraum entleert und die Bündel nebeneinander auf-gestellt. In der Regel bekamen wir fünf Bündel russische,fünfzehn Bündel polnische und zwanzig Bündel deutschePost. Danach schlichen die »Erfasser« um den Gabentischund nahmen sich ein bis zwei Packen mit in ihr Zimmer.

Die operative Postkontrolle, die bis heute als typischePraxis der Stasi gilt, gab es — was bis heute kaum jemandweiß— auch im Westen. Wie so oft, nahm man sich dabei einBeispiel an den Amerikanern. 1962, während der Kuba-Krise, inspizierten CIA-Experten die Post der Deutschenan Adressaten auf der karibischen Zuckerinsel. Das warihnen als Besatzern erlaubt. Die Aktion wurde bekanntund öffentlich verurteilt. Das kümmerte die Freunde vomPartnerdienst nicht. Langsam kam der Bundesnachrich-tendienst selbst auf den Geschmack und ließ sich zur Post-und Fernmeldeschnüffelei ermächtigen. 1968 entstand derso genannte G-10-Aussehuss und ein »Dreierausschuss«mit Abgeordneten des Bundestages, die alles genehmigten.

Beim Bundesnachrichtendienst kümmerten sich rund250 Mitarbeiter der Unterabteilung ID Referat 2 (Beschaf-

58

Page 60: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

fung Sowjetblock, Post- und Fernmeldekontrolle) um die»Fremden Briefe Ost«. Arbeit gab es genug, weil allein ausder DDR jährlich mehr als 100 Millionen Briefe eintrafen.Das Magazin Stern (»Wie kommen Ihre Briefe zum Ge-heimdienst?«) zitierte 1978 aus dem beispielhaften Schrei-ben eines DDR-Bürgers: »Die Russen haben beim letztenManöver wieder gehaust wie die Schweine, Kartoffeln ge-klaut usw. Aber die Genossen behaupten ja immer, dieIwans seien unsere besten Freunde. Du kannst mir glau-ben, dass wir auf solche Freunde gerne verzichten.«

Ein typisches anderes Beispiel lautete: »Die Versorgungist bei uns seit einiger Zeit zufriedenstellend, wenn auchnatürlich nicht so gut wie in der >Hauptstadt<. Dort brauchtman natürlich dreimal so viel, weil den ausländischen Di-plomaten >Weltniveau< demonstriert werden muss und dieBonzen auch leben müssen.« Meistens waren die Mittei-lungen banal und im Sinne der bundesdeutschen Sicher-heit eher unwichtig. Beispiel aus Leipzig: »Margot be-kommt nun doch eine Stelle als Friseurlehrling bei einemprivaten Handwerksbetrieb. Da guckt Ihr, was? Die gibt eshier nämlich noch ...«

Nachdem der Stern 1978 diese heimlichen Aktivitätendes BND beleuchtet hatte, beschwerte sich die Bonner Ju-ristin Evelin Manteuffel beim Bundesverfassungsgericht inKarlsruhe. Bei ihren brieflichen und telefonischen Kon-takten mit der Verwandtschaft im Osten sah sie das Post-geheimnis verletzt. Im Übrigen, so ihre Argumentation,ließe sich auch bei massenhafter Auswertung der Kommu-nikation der Deutschen (West) mit den Deutschen (Ost)kein strategisches Lagebild gewinnen.

Erst sechs Jahre später bearbeitete das hohe Gericht dasAnliegen der Dame - und lehnte es ab. In der Begründunghieß es - typisch Kalter Krieg -, der BND müsse auch in derPost »Nachrichten über Truppenbewegungen« sammeln,um die Gefahr eines »bewaffneten Angriffs rechtzeitig zu

59

Page 61: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

erkennen«. Immerhin, die Richter waren richtig visionär:Diese »strategischen Überwachungsmaßnahmen« seiendann verfassungswidrig, wenn die entsprechenden Erkennt-nisse auch durch die Nutzung von Satelliten gewonnenwerden könnten.

Zur Zeit des Karlsruher Beschlusses - wir kannten ihnnicht - arbeitete ich gerade einige Wochen bei der Hanno-veraner Filiale des mächtigen Pullacher Dienstes. Die erstenTage war es noch interessant gewesen, Ost-Post zu öffnen,diagonal zu lesen, zu selektieren und wieder zu verschlie-ßen. Doch dann kamen mir erste Zweifel. Was war an denInhalten strategisch? Warum lasen einige Mitarbeiter nichtwirklich? Mein Zimmernachbar Eisi las lieber Zeitungenund Bücher, lernte Englisch, genoss seine ausgiebigen Früh-stückspausen und kehrte vor zwei Stunden Mittagspauseselten zurück.

Dabei lag er im Dauerclinch mit dem Erfasserführer, Si-cherheitsbeauftragten und stellvertretenden Chef Dimi-troff, der es liebte, seine Leute mit überfallartigen Besu-chen zu kontrollieren. Dimitroff wusste genau, dass Eisinicht wirklich arbeitete, konnte ihn aber dabei nicht pa-cken. Dimitroff beherrschte kein Polnisch, und wenn Eisisagte, es gäbe keinen meldewürdigen Text, dann war ihmdas nicht zu widerlegen. Während manch ein Kollege fünfbis sechs Meldungen am Tag formulierte, kam Eisi geradeauf zehn pro Woche. Unsere Arbeitsergebnisse gingenüblicherweise nach Pullach, zum »Personen-Bereichs-Ar-chiv« und zur »SPE« alias »Sachbezogene Personener-kenntnisse für Tippgewinnung und Anwerbung«.

60

Page 62: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Onkel Bens Geheimnisse

Das Klima in der Dienststelle war bizarr. Die Mitarbeiterließen sich in drei Kategorien einteilen. Die erste hatte mitdem Dienst und der besonderen Tätigkeit abgeschlossen undging nur noch persönlichen Interessen nach. Die zweiteGruppe, in der Regel ältere Mitarbeiter, ließen alles schlei-fen. Sie sehnten sich nach den Zeiten zurück, als sie nochfür den englischen Dienst gearbeitet hatten. Bensberg, ganzspeziell, schwärmte von den Tagen, als unter dem von denAmerikanern rekrutierten Ex-Nazi und legendären BND-Gründungspräsidenten Reinhard Gehlen die Arbeitsver-träge per Handschlag geschlossen wurden und das Gehaltjeden Monat bar abgeholt werden konnte. Die dritteGruppe, höchstens drei oder vier Leute, befolgte kritiklosalles, was ihr gesagt wurde. Die Männer waren stolz da-rauf, für den Nachrichtendienst zu arbeiten. Onkel Bensrespektlose Einstellung zu den höheren Instanzen missfielihnen. Trotzdem achteten sie ihn, weil ihn ein gewisser Nim-bus umgab und dazu eine Art von Narrenfreiheit. Ben galtals operatives Urgestein, und das ließ ihn irgendwie unan-greifbar werden.

Bensbergs Zigarillotick sorgte dafür, dass er gelegentlichbis zu fünf Minizigarren in mehreren Räumen brennenhatte. Das reizte mich eines Tages zu einem Scherz. JedenDonnerstag war Dienstbesprechung. Eine trostlose Runde,bei der es eigentlich nie etwas zu bereden gab. Bensbergdozierte wieder einmal über die gute alte Zeit, in der er dieAmerikaner in Berlin verarscht hatte. Es gab Kaffee, Tee,Kuchen.

Dabei zündete er sich prompt ein Zigarillo an. In Gedan-ken griff er dann im Aschenbecher nach meiner Zigaretteund zog an ihr. Die Runde guckte aufmerksam. Ich nahmebenfalls einen Zug aus der Zigarette. Dann wieder er und

61

Page 63: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wieder ich. Als die Zigarette aufgeraucht war, nahm ich seinglimmendes Zigarillo und zog daran. Noch ehe ich es in denAschenbecher legen konnte, nahm er mir den Stummel ausder Hand und rauchte wieder. Darauf reagierte er keines-wegs ungewöhnlich, sondern redete unbeirrt weiter.

Bensberg war in vielerlei Hinsicht kauzig zu nennen. Al-les, was traditionellen Nachrichtendienst betraf, konnte erscharfsinnig und versiert abhandeln. Kam ich aber aufPullach und den BND zu sprechen, verfinsterten sich seineGesichtszüge. Auch nach vielen Konferenzstunden ließ erkein gutes Haar am Auslandsnachrichtendienst der Deut-schen.

Seit meiner ersten offiziellen Begrüßung wurde ich denEindruck nicht mehr los, Bensberg habe einen Narren anmir gefressen. Das konnte ich mir zunutze machen.

Pullach hatte Onkel Ben, als er sich aus dem operativenGeschäft zurückzog, in Hannover geparkt. Quasi im Vor-ruhestand. Nach Pullach, in die Zentrale, wollte er nichtmehr zurück. Diese Örtlichkeit im Münchner Süden liefbei ihm nur unter der despektierlichen Bezeichnung »Ele-fantenklo« . Sein Verhalten gegenüber den Vorgesetztenwar entsprechend. Mit strahlend blauen Augen und einempositiven Lächeln begegnete er ihnen und ließ sie eiskaltabblitzen. Bensberg kam und ging, wann er wollte. Manch-mal saß er spät abends noch im Büro und ein andermaltauchte er gänzlich ab. Die Telefone liefen heiß, doch nie-mand konnte ihn finden.

Einmal war er sogar ganze vier Tage verschwunden. Derzuständige Unterabteilungsleiter 14, Dr. Brenner, rief imStundentakt aus München an. Am nächsten Tag erschiender Gesuchte wieder. Er rief mich zu sich. Ich sollte in sei-seinem Auftrag den UAL 14 anrufen. »Sagen Sie den Trottelnda unten, ich bin zurück. Ich war auf Zypern bei meinem

Zahnarzt. Und sagen Sie ihnen auch, wenn sie ein echterNachrichtendienst wären, dann hätten sie das in den letz-

62

Page 64: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ten vier Tagen herausfinden müssen.« Ich musste mit Bren-ner von seinem Apparat aus telefonieren. Der Vorgesetztefauchte mich an: »Geben Sie mir sofort Bensberg.« Dieserfeixte und ließ sich nicht sprechen. Brenner fing an zu to-ben. Plötzlich griff Bensberg, der über eine zweite Muschelmitgehört und sich diebisch gefreut hatte, selbst zum Hö-rer: »Brenner, treiben Sie es nicht auf die Spitze!« Schwei-gen in der Leitung. »Es ist jetzt elf Uhr«, fuhr Ben ungerührtfort, »in einer Stunde machen wir heute Dienstschluss. Siewissen schon, erzieherische Maßnahmen für die Mitar-beiter. Sie nennen das Menschenführung. Schönes Wo-chenende. «

Gesagt, getan. Bensberg versammelte die ganze Mann-schaft und entließ sie »wegen guter Leistungen« in die Frei-zeit. Seine letzte Ermahnung lautete: »Aber schreiben Siedie volle Stundenzahl auf.« Dimitroff platzte beinahe vorWut über die unkonventionelle Führung der Dienststelle.Er konnte jedoch nichts dagegen unternehmen.

Einer der Erfasser, Arbeitsname Pilar, war für die russi-sche Post zuständig. Seine Frau arbeitete ebenfalls beimDienst, erwartete aber gerade das fünfte Kind. Seine Schwä-gerin, eine Russin, gehörte auch dazu, und zwar zur Post-und Fernmeldekontrolle des BND in Frankfurt. Die dor-tige Dienststelle saß in zwei Büroetagen direkt über demKaufhaus Woolworth. Pilars Schwager schaffte für denBND in Mainz. Das war ein ideales Beispiel, wie sehr derBND inzwischen versippt war. Durch ein so genanntesSchottensystem, in dem die einzelnen Dienststellen vonein-ander abgeschottet wurden, wollte man gerade das jedochvermeiden.

Pilar zeichnete sich noch durch ein besonderes Talentaus. Er war Hobbygärtner und hatte sein ganzes Zimmer,inklusive einen Nebenraum, in ein Pflanzenparadies ver-wandelt. In seinem »Treibhaus«, wie er es nannte, standenSäcke mit Blumenerde und Dünger, kleine Gartengeräte

63

Page 65: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

und Blumentöpfe der unterschiedlichsten Größen. Einerseiner Hauptkunden, man mag es kaum glauben, war Di-mitroff. Der hatte selbst einen Garten und kam regelmä-ßig mit den Bestellungen seiner Frau.

Von Tomatenpreisen und anderen Banalitäten

Was inhaltlich oder fachlich in dieser Dienststelle lief, warmehr als dürftig. Dazu ein Beispiel für einen merkwürdi-gen Text im Sinne der strategischen Nachrichtengewin-nung. »Hermann muss ab Oktober zur Asche.« Das hieß,dass Hermann ab Oktober seinen Dienst bei der Nationa-len Volksarmee antreten musste. Der Vorgang wurde alsMIL (Militärische Meldung) abgesetzt und hatte sicher-lich höchste Auswertebeurteilung. Wenn man so einenText fand, dann war das ein echtes Highlight.

Viel häufiger bekamen wir Informationen über Toma-tenpreise oder die Wartezeiten für einen neuen Lada oderTrabant. Sie gingen als WIR-(Wirtschafts-) Meldungen zurPullacher Auswertung und waren rein statistisch gesehender häufigste Inhalt. Als wir meldeten, dass die Kopf-schmerzmittel knapp waren, wurde das als TWI-(Tech-nisch-Wissenschaftliche) Meldung abgesetzt und als be-sonders wertvoll eingestuft.

Wer den Hinweis fand, dass die Tomaten knapp warenund das ganze System in den Orkus wandern sollte, dergalt als Glückspilz. Er konnte zwei Meldungen absetzen,eine politische und eine wirtschaftliche Information. UnsereFundstellen wurden zunächst im Brief selbst mit zwei Büro-klammern markiert. Dann tippten wir den Text mit einerOlympia-Reiseschreibmaschine ab und brachten ihn mitdem Originalbrief auf Mikrofilm. Dazu wurde eine Mel-

Page 66: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

dungsnummer vergeben und das Ganze in einem Buch ein-getragen.

Schon nach wenigen Wochen war mir klar, dass hier einwichtiges Grundrecht für ein fadenscheiniges Ergebnis miss-braucht wurde. Ein untragbarer Zustand, der mit »Mel-dungsaufkommen« und »Statistiken« schöngeredet wurde.

Hin und wieder gab es auch ein ganz besonderes Post-aufkommen - einen so genannten Irrläufer. Dann verirrtesich ein Postsack nach Hannover, der eigentlich im natio-nalen Postverkehr der DDR bleiben sollte. Hier schriebenhäufig Soldaten nach Hause oder umgekehrt. So konntenwir auf diese Weise Feldpostnummern einzelner DDR-Ein-heiten melden. Auch über Motivation und Stimmungslageerfuhren wir einiges. Nie wussten wir aber etwas aus derPost, was ich nicht schon in den Medien gelesen hatte.

Wenn so ein Irrläufersack in die Dienststelle kam, dannstürzten sich alle Mitarbeiter aus dem DDR-Team darauf,besonders aber der Kollege Angerstein. Angerstein warüber Sechzig, und seine Pensionierung stand unmittelbarbevor. Er war untersetzt, hatte weiße Haare und trug einegroße Hornbrille. Angerstein verbrachte die meiste Zeitvon allen in seinem Büro. Wenn alle schon weg waren, saßer oft noch da und las Briefe. Besonders in der Ferienzeitkonnte er sich von der Dienststelle gar nicht trennen.

Als ich ihn einmal nach seiner Motivation fragte, guckteer mich traurig an und seufzte: »Wenn ich jetzt schon nachHause fahre, dann warten wieder meine Enkelkinder undwollen mit Opa spielen. Darauf habe ich aber überhauptkeine Lust.« Angerstein hatte bereits in den sechziger Jah-ren für die Engländer Briefe und Postkarten gelesen. In derNormalpost sammelte der freundliche Herr am liebstendie neuesten Honeckerwitze, die er auch immer als Mel-dung nach Pullach lieferte. Die liefen dann als politisch-strategische Information (POL) und wurden stets gut be-wertet.

65

Page 67: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Angerstein filterte mit sicherem Griff einzelne Briefe ausdem Irrläuferaufkommen. Das waren zumeist Mitteilun-gen zwischen einsamen Soldaten und deren Frauen oderFreundinnen. Der heimliche Leser sprach in solchen Fäl-len von »erotisch wertvollen Inhalten«. Zudem waren hinund wieder intime Fotos beigefügt, Haarlocken und sogarSchamhaare. Angerstein las diese Post akribisch, verpacktedie Briefe samt ihrem Inhalt in hygienische Plastikhüllenund gab sie uns zur internen Kenntnisnahme weiter. Wirsprachen von der »Angersteinschen Versorgungslage«. Ober auch dazu auftragsgemäße Meldungen abgesetzt hat, istmir nicht mehr in Erinnerung.

Eines Tages rief mich Bensberg ganz aufgeregt zu sich.Er und Dimitroff warteten in seinem Büro. Sie hatten geradeerfahren, dass die Hausfassaden in der Theaterstraße res-tauriert werden sollten. Vor unserem Dienstgebäude wur-den bereits Gerüste montiert. Das löste die Krisenstim-mung aus. Die Fenster waren nicht gesichert, und wenndort wochenlang ein Gerüst stände, wäre es Unbefugtenleicht möglich, in unsere Büroräume einzusteigen.

Mit Schrecken erinnerte sich Bensberg an die gerade pu-blik gewordene Panne beim Umzug unserer Schwester-Dienststelle in Frankfurt, vom Woolworth-Haus in dieBahnhofstraße. Zuerst lief alles absolut konspirativ ab. Aneinem Samstagvormittag musste dann die Bahnhofstraßegesperrt werden, damit ein mobiler Großkran die schwereTür des Aktensicherungsraumes in eine der oberen Etagenhieven konnte. Die Bild-Zeitung berichtete daraufhin mitFoto über den Frankfurter BND-Umzug.

Das musste in Hannover um jeden Preis verhindert wer-den. Mehrere Vorschläge wurden diskutiert. Sie reichtenvon den nächtlichen Streifen einer privaten Sicherheits-firma bis hin zu Eisis Idee: Er hatte angeregt, die Dienst-stelle für die Zeit der Außenarbeiten zu schließen. AlleMitarbeiter würden daheim bleiben und sich konspirativ

66

Page 68: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

verhalten. Pilar bot sofort ein wöchentliches Arbeitsge-spräch in seinem Garten an.

Schließlich blieb aber dann doch alles, wie es war. Hinund wieder verirrte sich ein Bauarbeiter in unsere Räume,weil er eine Toilette suchte. Irgendein Fenster war immeroffen, schon wegen der heißen Sommertage. UnsereDiensträume waren nämlich nicht klimatisiert. Nun redu-zierten wir die Arbeit auf ein Minimum, organisierten da-für aber dreimal pro Woche eine Kaffeerunde mit politi-scher Weiterbildung. Nach mehreren Monaten kehrte dasgewohnte Leben wieder zurück.

Eine weitere Marotte von Bensberg war sein weißerSchuh. Mir war schon am ersten Tag aufgefallen, dass erimmer einen weißen und einen rotbraunen Schuh trug.Keiner wusste warum, und niemand traute sich zu fragen.Es geisterten mehrere Theorien durch die Dienststelle. Ers-tens, er besaß nur zwei Paar Schuhe. Zweitens, es war einaltes Erkennungszeichen aus seiner Berliner Zeit. Drittens,Bensberg ist schusselig und schnallt es nicht mehr, dass erunterschiedliche Schuhe trägt. Irgendwann habe ich ihndann gefragt. Die Antwort war einleuchtend.

Nach wiederholten Gichtschüben im Fuß hatte er sichbei einer seiner Zypernreisen einen Spezialschuh für denkranken Fuß anfertigen lassen. Das einzige Leder, das ihmweich und elastisch genug erschien, war eben weiß. Dasstörte ihn nicht. Dass er nur einen einzigen Treter anferti-gen ließ, hatte dagegen mit seinem beinahe krankhaftenGeiz zu tun. Es passte ins Bild, dass er angeblich seinemachtzehnjährigen Sohn aus Kostengründen das täglicheDuschen verbieten wollte und bei Dienstbesprechungenam liebsten einen - preislich ermäßigten - Kuchen vomVortag aß.

Eines Tages, ich war zum Telefondienst eingeteilt und ver-trat dabei die Sekretärin, sah ich durch die weit geöffneteTür, wie Bensberg eine Stahlkassette entleerte. Er holte meh-

67

Page 69: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

rere Reisepässe und verschiedene Ausweise heraus unddann stapelweise Geld: D-Mark, Dollar, Schweizer Frankenund andere Währungen. Onkel Ben begann zu zählen. Ichschätzte den D-Mark-Stapel aus einigen Metern Entfer-nung auf mindestens 300 000 Mark.

Plötzlich kam Dimitroff herein, sah Onkel Ben zählen unddrehte sofort wieder ab. Er raunte mir zu: »Na, zählt er wie-der?« Ich folgte ihm vor die Tür und fragte, was das fürGeld sei. Dimitroff wusste es auch nicht, verriet mir aber,das es insgesamt über eine Million Mark sei. Das wisse ervon Bensberg selbst. Dimitroff verabschiedete sich mit denWorten: »Glauben Sie nur nicht, Bensberg hätte so ein Spek-takel wegen des Baugerüsts und unserer Dienststelle ge-macht, weil er Angst um dienstliche Belange hätte. Der hatnur Angst um seine Kohle. Genauso hat er es mir gesagt.«

Während meines zweiten Jahres bei der Dienststelle inHannover folgte eine personelle Veränderung der anderen.Zuerst ging Bensberg in Ruhestand. Das passierte sang-und klanglos. Kurzer Abschied während einer Kaffee-runde. Keine Rede, keine Würdigung, nichts. Am nächstenTag war er weg. Keiner konnte ahnen, dass er uns nocheine Menge Ärger bescheren würde.

Für Onkel Ben kam Lukas. Ein kleiner, unscheinbarer,ausgesprochen ruhiger Mann. Er hatte sich im Nahost-Re-ferat verdient gemacht und war deshalb auf eigenenWunsch an die Leine versetzt worden. Im nahe gelegenenHeide-Städtchen Celle lebte seine alte, kranke Mutter. Nunkonnte er sich besser um sie kümmern. Lukas war über-qualifiziert und ganz sicher thematisch am falschen Platz.Wir genossen, dass er uns gegenüber fair und offen war.

Als Bensberg gegangen war, erkannte Dimitroff die Zei-chen der Zeit. Er intrigierte hinter dem Rücken des Neuenund sammelte Treuepunkte in München. Zur Belohnungdurfte er ein halbes Jahr später eine Verwendung als Quel-lenführer antreten. Er betreute Verbindungsmänner beim

68

Page 70: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

BGS an der innerdeutschen Grenze. Das benagte dem altenGrenzschützer.

Als Ersatz für Dimitroff kam Frau Rath aus unserer Füh-rungsstelle in München. Dort hatte sie sich bereits um dasMeldungsaufkommen aus Hannover gekümmert. OhneVerzögerung trat sie in die Fußstapfen von Dimitroff. Beijeder Gelegenheit ließ sie Lukas auflaufen. Schon nacheinem halben Jahr wurde er nach München zurückversetzt.

Als sein Nachfolger stellte sich ein junger »Durchlauf-erhitzer« vor. Er schien die Arbeit beim BND mehr oderweniger als Hobby oder Zeitvertreib zu empfinden. SeinHauptinteresse galt seiner eigenen Firma. Über ein Münch-ner Reisebüro bot er Gesundheitstrips an, und KolleginRath sorgte sich um die Dienststelle.

In der Zwischenzeit waren zwei junge Erfasser mit Spe-zialisierung Polnisch angekommen, Ute und Thomas. Nachdem Abitur hatten sie sich beim BND beworben, in dreiJahren die Fremdsprache gelernt und auch alle Grundlagenfür den Schlapphut-Beruf. Dienstintern wurde die BND-Grundausbildung an der eigenen Schule übrigens als»Spionageabitur« bezeichnet.

Die beiden waren herzerfrischend. Nach mehreren Prak-tika in verschiedensten Abteilungen der Zentrale verfüg-ten sie über einen besseren Überblick als so mancher Alt-gediente in einer Außenstelle. Rasch stellten wir fest, dasswir auf derselben geistigen Wellenlänge tickten, und freun-deten uns an. Es bildete sich eine Art Gruppe der Abtrün-nigen, die sich über die Personalstruktur der Dienststellemokierte und den Missbrauch der G-10-Regelung durch»Dienst nach Vorschrift« sabotierten. Bald schloss sichuns ein weiterer Neuling an, Peter, ein Luftwaffenoffizierder Bundeswehr.

Thomas flüchtete bald in verschiedene Krankheiten mithypochondrischen Ansätzen und war nur noch sporadischim Büro anzutreffen. Nach zwei Jahren als Postleser nahm

69

Page 71: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

er eine Stelle bei einer Stadtverwaltung an. Er quittierteden Dienst mit großer Enttäuschung. Peter ging nach dreiJahren mit Frau und Tochter in eine Außenstelle des BND.Ute kündigte nach Jahren der dienstlichen Enttäuschun-gen und lebt jetzt in Süddeutschland. Im Sommer 1997 er-zählte sie mir, dass sie drei Jahre gebraucht hatte, um dieDämonen dieser Tätigkeit zu vertreiben. Mit Ute und Pe-ter bin ich heute noch befreundet.

Adieu, Onkel Ben

Es geschah irgendwann im Herbst 1986. Eines Abendsging ich auf dem Nachhauseweg gedankenverloren durchden Hauptbahnhof von Hannover. Menschenmassen wa-ren unterwegs. Doch plötzlich sah ich zwischen all denLeuten am Boden einen einzelnen weißen Schuh, der sorichtig herausleuchtete. Ich schaute noch einmal genauerhin und versuchte den Menschen zu finden, der zu demSchuh gehörte.

Tatsächlich, es war Onkel Ben. Er war mit einem beige-farbenen Trenchcoat bekleidet und trug seine große, brauneLedertasche. Mit nach vorne gebeugtem Oberkörper, hän-genden Schultern und langsamen, schlurfenden Schrittenschien er den Flughafenbus anzusteuern. Wie immerbrannte ein Zigarillo. Ich musste schmunzeln. Er war alsonoch der Alte. Was er wohl trieb? Aus der Ferne konnteich sehen, wie er in den Airportbus stieg. Damals ahnte ichnicht, dass es das letzte Bild sein würde, das ich von ihmim Kopf behalten sollte.

Eine Woche später erreichte die Dienststelle eine traurigeNachricht. Onkel Ben war tot, ein halbes Jahr nach sei-nem Ausscheiden gestorben. Er hatte sich einen wahrhaft

70

Page 72: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»standesgemäßen« Abgang verschafft. Nicht im Bett odergar im Krankenhaus war er dahingeschieden, sondern aufeiner Gangway des Frankfurter Flughafens. Bensberg wolltegerade eine Boeing 737 der Lufthansa betreten. Bevor er dasFlugzeug erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um undblickte zum Flughafengebäude. Während er mehrere Sekun-den verharrte, blieb sein Herz für alle Zeiten stehen. Ersank zusammen und starb wortlos. Übrigens sollte ihn dasFlugzeug nach Zypern bringen. Niemand weiß bis heute,warum er so regelmäßig auf die Insel der Aphrodite reiste.

Nun sollte man meinen, die Geschichte von Onkel Bensei damit abgeschlossen. Ganz falsch, sie fing erst richtigan. Auf seinen Tod reagierten alle in der Dienststelle betrof-fen. Seltsamerweise schien Dimitroff besonders stark zutrauern. Der große, kräftige Mann, der immer gegen Bens-berg intrigiert hatte, war plötzlich regelrecht weinerlich.Ich wurde den Eindruck nicht los, dass ihn ein schlechtesGewissen drückte. Er fühlte sich unwohl, und ich gönnteihm dieses Unbehagen von Herzen.

Nun stand ein Besuch bei Bensbergs Witwe an. Wir ver-suchten, uns an seinen Klarnamen zu erinnern. Keiner inder Dienststelle kannte ihn. Onkel Ben, der Profi, hatte sei-nen wahren Namen immer verschwiegen. Die ersten An-fragen aus Pullach trafen ein. Man wolle einen Kranz schi-cken, finde aber bei der Sicherheit keine Unterlage, aus derder Klarname hervorgehe. Das war kaum zu glauben. Pul-lach kannte Bens Klarnamen nicht, und wir hatten auchkeine Ahnung. Plötzlich zog Dimitroff die Fotokopie einerSteuererklärung, die Onkel Ben 1985 eingereicht hatte,aus seinen Unterlagen.

Darauf war klar und deutlich der Name Gräber zu lesen.Ha - nun wussten wir, wie er hieß. Nach langem Hin undHer rief Dimitroff die Zentrale an und gab den Namenpreis. Eine Stunde später war München wieder am Tele-fon. Sorry - Gräber war nicht seine Klaridentität. Die Pa-

71

Page 73: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

piere waren vom Dienst angefertigt worden, ein Pass undein Führerschein. Zeitgleich stellten wir vor Ort fest, dassdie angegebene Privatadresse falsch war.

Dimitroff, der Sicherheitsbeauftragte der Dienststelle,war völlig verwirrt. Was nun? Wir kannten keine privateTelefonnummer, und auch sonst gab es immer weniger, wowir einhaken konnten. Sein Ruhegehalt hatte er sich nachwie vor auf ein Konto einzahlen lassen, das er unter einemanderen Arbeitsnamen eingerichtet hatte. Ein Relikt ausder strikt abgesicherten Gehlen-Zeit und von Bensbergsoperativer Tätigkeit in Berlin.

Nun riefen wir wieder in Pullach an. Bensberg hatte nureinen Reisepass besessen, und der trug natürlich keineStraßenangabe. Aber da gab es ja noch unseren Fahrer,Postholer, das Mädchen für alles. Er erinnerte sich, Bens-berg eines Abends in einer Straße in Hannovers Süden ab-gesetzt zu haben. Die Stelle wurde wiedergefunden, unddie halbe Dienststelle schwärmte in der Umgebung aus.Ein wahres Wunder, wir fanden ein Türschild mit dem Na-men Gräber. Dort hatte er auch gewohnt.

Aber er war weder mit der Frau verheiratet gewesen, diedort lebte, noch stammte der Sohn, für den er immer Kin-dergeld bezogen hatte, von ihm. Er hatte ihn auch nichtadoptiert. Sohn und Mutter kannten Onkel Ben nur unterdem Namen Gräber. Ob der BND irgendwann einmal denrichtigen Namen seines ehemaligen Hannoveraner Büro-chefs herausgefunden hat, ist mir nicht bekannt. An derBeisetzung durften Mitarbeiter der Dienststelle aus Si-cherheitsgründen nicht teilnehmen. Auf der Schleife desKranzes wurde auf jeglichen Namen verzichtet.

Jetzt hatte ich endgültig meine erste existenzielle Kriseerreicht. Der Nimbus des BND war für mich auf einenTiefstand gesunken. Pilar und Eisi hatten möglicherweisedoch Recht. Dieser Apparat war ihrer Meinung nach völ-lig unfähig. Ein richtiger Nachrichtendienst müsse nach

72

Page 74: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

anderen Kriterien arbeiten und viel zielorientierter. Außer-dem würden die Mitarbeiter zu wenig gepflegt, genau ge-sagt, zu schlecht behandelt.

Ich wollte mich damit nicht abfinden. Irgendwo musstees doch Fachkompetenz geben und so etwas wie eine sinn-volle Aufgabe für mich. Vielleicht war ich ja nur verse-hentlich in eine ganz marode Ecke des Dienstes geraten.Einen Versuch musste ich noch machen. Ich schrieb alsoein Versetzungsgesuch. Rasch merkte ich, dass es Pullachgar nicht erreichte, weil meine Stehzeit auf dem aktuellenDienstposten fünf Jahre war. Ich sprach meinen Dienst-stellenleiter darauf an. Ohne Erfolg.

Also, dann anders. Onkel Ben hatte es mir ja vorgemacht.Ich dehnte meine Mittagspausen aus. Die nahe gelegeneMarkthalle von Hannover bot sich dafür geradezu an. Cap-puccino mit Amaretto und dazu ein kleiner Imbiss, hin undwieder ein Pinot. Dabei war ich nie allein. Eisi oder einerder anderen kamen gern mit. Es gab bei uns einen Stempel-automaten. Wenn ich also in die Mittagspause ging, danngab ich meine Karte unserem Fahrer. Er sorgte maschinellfür meine pünktliche Rückkehr. Ich war übrigens keineAusnahme. Manchmal musste er bis zu sieben Zeitkartenbedienen. Gelegentlich revanchierte man sich bei ihm.

Morgens um 8.45 Uhr meldete ich mich zur Massageab. Seit meiner Fallschirmspringer-Zeit hatte ich schon re-gelmäßig über Rückenprobleme geklagt, aber nun kam ichendlich dazu, etwas dagegen zu unternehmen. Also schlen-derte ich jeden Tag zu einem Fitnessstudio am Kröpcke.Abwechselnd bekam ich Krankengymnastik und Massageverabreicht. Danach nahm ich ein Frühstück im »Möven-pick« ein. Kaffee mit Mandelhörnchen. Es dauerte nichtlange, dann schlossen sich andere an. Peter klagte plötz-lich über ein HWS-Syndrom. Ute musste ständig zum Gy-näkologen. Thomas ließ eine Hautkrankheit und diverseMagen-Darm-Beschwerden verarzten.

73

Page 75: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Bei der BND-Außenstelle Hannover war ein kleinerAufstand im Gange. Während Peter, Ute und Thomas nochMeldungen absetzten, also den einen oder anderen Brieflasen, verabschiedete ich mich nahezu gänzlich von mei-ner dienstlichen Tätigkeit. Dieses völlig widersinnige Le-sen fremder Briefe war für mich unerträglich geworden.Ich ekelte mich davor.

Mein Verhalten blieb unseren Vorgesetzten nicht verbor-gen. Ich sprach mit ihnen Klartext und forderte eine Ver-setzung, möglichst in den operativen Bereich. Das beantwor-teten sie zuerst einmal mit Drohungen. Sie wollten michmit disziplinarischen Maßnahmen traktieren. Dann, someine Antwort, wäre ich gezwungen, die Tätigkeit derBrieföffner einer breiteren Öffentlichkeit mitzuteilen. Daswar zu viel. Dr. Brenner kam eigens aus München angereistund nahm mich ins Gebet. Die Reihenfolge hätte aus demLehrbuch für Personalführung beim BND stammen kön-nen: Drohungen - Vorwürfe - Einforderung von Loyalität.

Das half nichts, weil ich von Unrecht und Unsinn unsererTätigkeit überzeugt war. Bei irgendeiner überzogenen Re-aktion meiner Vorgesetzten hätte ich den Dienst sofortverlassen. Das wusste auch der hanseatisch-sachliche Dr.Brenner. Im Frühjahr 1987 zitierte er mich dann nochmalsin die Zentrale nach Pullach. Nun eröffnete er mir, dassich im Herbst in eine andere Unterabteilung wechselnkönne. Ich denke, dass er meine Motive verstand. Auf derArbeitsebene hakte es, aber menschlich kamen wir gutmiteinander aus. In diesem Sinne verabschiedete er sichauch von mir.

Dr. Brenner verstarb 1988 infolge einer schweren Krank-heit. Ich habe ihn leider nicht mehr gesehen. Im Dienst ver-breitete sich die Nachricht, dass seine Witwe den Pulla-chern untersagt hatte, an der Trauerfeier teilzunehmen.Ein offizieller Kranz wurde dem BND zurückgeschickt.

74

Page 76: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Stay Behind«

Bei meinem Personalgespräch in Pullach im Frühjahr 1987hatte mich Dr. Brenner mit dem Angebot überrascht, in dasDDR-Referat von Bundeswehroberst Gigl zu wechseln.Gigl leitete die Außenstelle in Bremen.

Die Aufgabe schien interessant zu sein, Bremen als Dienst-ort durchaus sympathisch. Von meiner damaligen Woh-nung im Norden von Hannover konnte ich schnell in Bre-men sein. Mein Entschluss stand rasch fest: Ich wechsle indas DDR-Referat! Als Termin wurde der 1. Oktober 1987bestimmt. Die Pullacher luden nun zum Einweisungsge-spräch. Meine damalige Ehefrau, die beim Landesarbeits-amt Hannover-Bremen arbeitete, formulierte ihr Verset-zungsgesuch.

In München erwartete mich eine junge, sehr engagierteMitarbeiterin aus der Personalstelle, dem so genanntenStatusreferat. Es gäbe da noch ein paar Änderungen, er-wähnte sie beiläufig und etwas nebulös. Den ersten Tagnutzte ich, um persönliche Angelegenheiten in der Zen-trale zu erledigen. Am nächsten Morgen traf ich dann, ausdem nahe gelegenen Waldhotel Buchenhain kommend, imCamp ein. Die Personalleute bugsierten mich in ein Auto.Wir fuhren auf verschlungenen Wegen in die MünchnerInnenstadt, genauer gesagt nach Schwabing. Unser Zielwar der Bonner Platz.

75

Page 77: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Spionagezentrum Bonner Platz

In Sichtweite des Schwabinger Krankenhauses stellten wirunseren Wagen ab und gingen zur Karl-Theodor-Straße 55.Direkt unter dem Gebäude mit dieser Hausnummer befandsich eine U-Bahn-Station. Wenn man aus dem U-Bahnhofauf die Straße trat, stand man vor einem Obst- und Gemü-sestand. Dahinter führte eine Glastür in das nüchterne Bü-rohaus, das eigentlich nur aus vierzig Fenstern und viel Be-ton bestand. Unser Ziel war der zweite Stock. Eine schwereEisentür wurde uns geöffnet. Da stand ich also, in einerder geheimsten Außenstellen des Bundesnachrichtendiens-tes, dem »Sattelhof« am Bonner Platz. Von hier aus wurdeein Großteil der gesamten operativen DDR-Aufklärunggesteuert. Als Hausherr fungierte die Unterabteilung 12.12A befand sich direkt in diesem Gebäude, ebenso 12C(»Stay Behind«). 12B war die Außenstelle in Bremen, zuder ich wechseln sollte.

Meine Begleiter und ich wurden in das Büro des Chefsgeführt. Sein Stellvertreter begrüßte uns. Er hieß Wirsing,war groß gewachsen und machte auf mich einen charman-ten und sehr verbindlichen Eindruck. »Welche Nachrichtwollen Sie zuerst hören?«, fragte er, wohl um die etwassteife Atmosphäre ein bisschen aufzulockern. Ich standnoch unter dem ersten Eindruck, dass es beim BND an-scheinend doch so etwas wie operative Dienststellen gab,und antwortete zögerlich. »Dann fangen Sie doch mit derguten Nachricht an.«

Wirsing nahm den Ball auf und schmunzelte. »Sie kom-men, wie versprochen, in den Gigl-Laden, zu 12B.« Nachaußen gelassen, jubelte ich innerlich. »Gott sei Dank, Bre-men, ich komme.« Wirsing hatte noch nicht zu Ende ge-sprochen. »Tja, nur nicht nach Bremen. 12B wird nachMünchen verlegt, die Bremer Dienststelle aufgelöst. An-

76

Page 78: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

sonsten bleibt alles wie besprochen.« Rasch verwies ichdarauf, dass sich meine Ehefrau schon nach Bremen hatteversetzen lassen. Ein neuer Dienstort München war fürmich deshalb völlig unmöglich. Was nun? Wir diskutier-ten hin und her. Es stellte sich nun sogar heraus, dass dieAuflösung des Bremer Büros schon bekannt war, als manmir die Stelle angeboten hatte.

Wir suchten eine Weile gemeinsam nach einer Lösung.Plötzlich aber verstand ich gar nichts mehr. Der Kollegeder Pullacher Personalmitarbeiterin hatte eine Idee. »Wasist eigentlich mit Ollhauer?«, fragte er Wirsing. »Dannauist Soldat und bringt alles dafür mit.« - »Weiß nicht, Siekennen ihn doch. Außerdem wäre das ja genauso hier imHaus. Wenn seine Nase dem Ollhauer am Ende nichtpasst, dann hat er eh' keine Chance.« - »Der Dienstpos-ten wäre hier, aber eigentlich im Heidehaus«, lautete dieAntwort. Wie sich herausstellte, war mit dem »Heide-haus« eine Außenstelle in Hannover gemeint. Für meineFrau würde es sicher leichter sein, die Versetzung nachBremen rückgängig zu machen, als sich kurzfristig nachMünchen versetzen zu lassen. Wirsing wandte sich nunwieder zu mir: »Vielleicht haben wir noch eine Alterna-tive.« Er griff zum Telefonhörer und rief besagten Oll-hauer an. Ich konnte hören, wie auf der anderen Seite je-mand in den Hörer brüllte. Dann verschwanden Wirsingund der Pullacher Personalmitarbeiter. Ich blieb mit derhübschen Kollegin des Pullachers zurück und wartete.

Sie erzählte von 12A. Diese Außenstelle sei völlig abge-schottet, eines der interessantesten Objekte des Dienstes.Von hier aus würden die geheimsten Operationen gegendie DDR durchgeführt. Beinahe wurde es schon weihevoll.So ein wichtiger Laden, und ich würde vielleicht in Kürzeschon dazugehören. Ja, das war Nachrichtendienst. Geheim,konspirativ, wichtig, etwas ganz Besonderes. Ich war ange-kommen.

77

Page 79: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Darin aber hatte ich mich gewaltig getäuscht. Hätte ichdamals schon gewusst, was ich nach der Wende erfuhr, ichwäre schreiend weggelaufen. Die ganze Wahrheit kam näm-lich erst heraus, als im Jahr 1990 ein asketisches Männ-lein im Trenchcoat, eine abgegriffene Aktentasche unterdem Arm, vor der Dienststelle am Bonner Platz stand undläutete. Als ihm von einem verdutzten Mitarbeiter aufge-tan wurde, bat der heftig sächselnde Fremdling um ein Ge-spräch. Seine Begründung war einfach und alarmierend:»Ich habe Sie in den letzten Jahren bearbeitet!«

Fazit: Der »Sattelhof« gehörte beileibe nicht zu den ge-heimsten aller geheimen Orte. Die Stasi kannte ihn schonlange. Die Karl-Theodor-Straße 55 wurde von der Gegen-seite permanent observiert, die Mitarbeiter des BND akri-bisch bei ihren Außenaktivitäten überwacht. Damit nochnicht genug. Die Staatssicherheit aus der Ostberliner Nor-mannenstraße veranstaltete etwas, was jeden unserer Mit-arbeiter im Nachhinein erniedrigen musste. Die Stasi nutztedas Objekt im Herzen der bayerischen Landeshauptstadtals eigenes Schulungsobjekt.

Wenn die Staatssicherheit der DDR einen Observations-lehrgang abgeschlossen hatte - das muss man sich auf derZunge zergehen lassen -, dann wurde die Abschlussprü-fung nicht etwa in Potsdam oder Wittenberge durchgeführt,sondern am Münchner »Sattelhof« mit seinen geheimstenVerbindungsführern. Also tummelten sich am Bonner Platzhin und wieder ganze Kommandotrupps von Stasioffizie-ren. Im Sportjargon würde man sagen, hier spielten zweiMannschaften aus unterschiedlichen Ligen gegeneinander.

Dabei hatten die Leute von der Sicherheit des BND im-mer alles gründlich überprüft. Der Marktleiter vom Super-markt war sauber, alle seine Angestellten von der Kassie-rerin bis zur Wurstverkäuferin. Auch Putzfrau und Azubiwaren gecheckt. Das natürliche BND-Misstrauen blieb je-doch am Gemüsehändler vor dem U-Bahn-Eingang kle-

78

Page 80: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ben. Er schien das Leck zu sein, die vermeintliche Sicher-heitslücke, das Risiko schlechthin für den »Sattelhof«.

Erstens war er strategisch ideal postiert. Er sah jeden,der kam und ging, kannte einige aus den oberen Etagenwegen ihrer regelmäßigen Einkäufe während der Mittags-pause sogar persönlich. Zweitens: Er war Ausländer! DieSicherheitsauguren des BND riefen einstimmig: Risiko!Und so wurde der arme Mensch, er war wohl Grieche, überJahre hinweg immer wieder observiert und überprüft. Alleahnten es: Der ist bestimmt von der Stasi angeheuert. Dochbeweisen konnte es niemand.

Die Kollegen aus der DDR hatten natürlich die gesamteUmgebung exakt erkundet und aufgearbeitet. Der Händlerwar ihnen auch aufgefallen. Eine Werbung hatte man je-doch in Ostberlin ganz schnell verworfen. Sein Standortwar viel zu exponiert und musste jedem Profi sofort insAuge springen. Also blieb er verschont.

Nachdem ich eine gute Viertelstunde mit der jungen Dameaus Pullach geplaudert hatte, kam ihr Kollege von der Per-sonalstelle zurück. Er war aufgeregt und nahm mich so-fort mit. Wir eilten eine Etage höher. Während der eigent-lich unnötigen Hast versuchte er, mich in Stichwortenvorzubereiten. »Wir gehen jetzt zu Ollhauer. Chef 12C. EinOffizier von den Fallschirmspringern. >Schwarze Hand<,Sie wissen schon!« Ich wusste nichts. »Ein knallharterHund, sehr militärisch, hat eine Außenstelle in Hannover,nicht ganz einfach mit ihm ...« Schon standen wir völligatemlos vor seinem Dienstzimrner und klopften. Eine dröh-nende Stimme holte uns herein.

Da stand Ollhauer, ein Poltergeist in den Fünfzigern, derauf seine Armbanduhr guckte, als habe er unseren Laufgestoppt. Er wollte mit mir zuerst einmal allein sprechen.Jetzt nur keinen Fehler machen. Ollhauers Blicke durch-drangen mich wie Röntgenstrahlen. Ich musste etwas sa-

79

Page 81: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gen. Tausend Formulierungen schossen mir durch denKopf. Ich griff zur vielleicht am nächsten liegenden Me-thode, nahm Haltung an und knallte die Hacken zusam-men: »Herr Oberstleutnant, ich melde mich wie befoh-len. «

Seine Gesichtszüge ließen keine Regung erkennen, aberseine Augen. Da funkelte es plötzlich fürsorglich, ja sogarväterlich. Wir musterten uns gegenseitig für einige weitereSekunden, und dann bot er mir in völlig gelassenem Ton-fall einen Platz in einer kleinen Sitzecke an. »Ich habeschon einiges gehört. Sie sind Fallschirmspringer, nicht?Auch Freifall?« Ich nickte bescheiden. »Einzelkämpfer-lehrgang mit Auszeichnung, stimmt das?« - »Jawohl«,meine knappe Antwort, »Gut, Dannau, das ist sehr gut.«

Dann zählte mir Ollhauer in einer Mischung aus fra-gendem und wissendem Tonfall die bisherigen Stationenmeines Berufslebens auf. Ich war beeindruckt. Wie konnteer sich das alles in der Kürze der Zeit gemerkt haben? Undwie hatten die ihn so schnell briefen können? Gleichzeitigahnte ich, dass Ollhauer kein einfacher Vorgesetzter wer-den würde.

Ich wusste noch gar nichts über ihn, musste mir das nachund nach zusammentragen. Ollhauer war ausgesprochenschlank und drahtig, mit einem aschfahlen Gesicht. Er sahnicht gesund aus. Viel später erfuhr ich, dass er sich zu je-ner Zeit gerade von einem Hörsturz erholte. Er gehörtedem BND schon viele Jahre an. Vorher hatte er eine Fern-spähkornpanie in Weingarten befehligt. Danach eine Spe-zialtruppe, die bei der Bundeswehr als die »SchwarzeHand« bekannt war. Ollhauer vermittelte mir von Anfangan das Gefühl absoluter Verbindlichkeit, Loyalität von un-ten nach oben, aber auch umgekehrt.

Er ließ keinen Zweifel aufkommen, wer hier der Oberund wer der Unter war, und das tat er mit absoluter Souve-ränität, die keineswegs überheblich wirkte. Während rnei-

80

Page 82: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ner Jahre im BND habe ich immer wieder meinen erstenEindruck über andere Menschen revidieren müssen. Nichtso bei Ollhauer: Der hielt, was der erste Augenblick ver-sprach. Er wusste genau, was er wollte. Hielt man sich anseine Vorgaben, dann gab er im Gegenzug alles. Wehe, je-mand befolgte seine Anweisungen nicht. Dann wurde Oll-hauer zum wilden Tier, dem niemand in die Quere kom-men durfte. Nur manchmal stieg in mir der Verdacht hoch,er würde denen einen oder anderen Wutanfall gezielt ein-setzen.

Ich fühlte mich wohl, glitt in eine Stimmung, als sei ichendlich nach Hause gekommen. Ich spürte Verlässlichkeit.Auch die Mittelmäßigkeit, die mich zweieinhalb Jahre um-geben hatte, war plötzlich weg. Ollhauer spürte anschei-nend meine psychische Lage und ließ sich von meiner bis-herigen Tätigkeit erzählen. Ich informierte ihn und hieltauch meine Meinung nicht zurück. Ollhauer schüttelte ver-legen den Kopf. Es entglitt ihm ein leises »Wahnsinn, dieserDienst!«. Dann strahlte er plötzlich. »Dannau, Sie nehmeich. Bei mir sind Sie richtig.« Er drückte meine Hand, alshabe er mich gerade befördert.

Der Abschied geriet knapp und erfolgte im abgehacktenBefehlston. »Morgen, Donnerstag, Betriebsausflug. GanzeFührungsstelle, Tegernsee, ganztags, Abfahrt acht Uhr vordem Schwabinger Krankenhaus, Sie dabei, klar. Bis mor-gen.« Ende der Audienz. Nun war ich bei 12C und damitbei »Stay Behind«. Ich hatte zwar keinerlei Ahnung, wo-rum es ging, aber es war eine operative Tätigkeit, die dannauch sehr interessant wurde. Außerdem konnte ich so innächster Zeit nach Hannover zurückkehren.

81

Page 83: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Mit Gehlen fing alles an

Ab sofort lebte ich in dem Gefühl, einem wirklichen Nach-richtendienst anzugehören. Der BND, das hatte ich mir an-gelesen, war aus der »Organisation Gehlen« des von denAmerikanern reaktivierten Nazigenerals Reinhard Gehlenhervorgegangen. Dieser hatte zuvor die 12. Abteilung desGeneralstabs der Wehrmacht, auch bekannt als Abteilung»Fremde Heere Ost«, kommandiert. Gleich nach demKrieg wurden Gehlen und seine Leute in die US-Armee ein-gegliedert, 1949 von der gleichfalls neu gegründeten CIAübernommen. Der erste Geheimdienst in einem befreitenDeutschland saß im US-Camp »King« in Oberursel. Ende1947 zog er nach Pullach bei München, in das so genannte»Camp Nikolaus«, wo früher Rudolf Heß residiert hatte.Hinter hohen Mauern und Stacheldraht entstand eine her-metisch abgeriegelte kleine Agentenstadt.

Zehn Jahre lang arbeiteten der spartanische Gehlen undseine hoch motivierten Ostaufklärer überwiegend für dieamerikanischen Freunde. Der Kalte Krieg hatte begonnen,und der einstige Alliierte Stalin war zum gemeinsamenGegner geworden. Der kommunistische Herrscher dehntesein Reich auf ganz Osteuropa aus, was im Westen mitgrößtem Misstrauen beobachtet wurde. Dazu kam dieschleichende Teilung Deutschlands. Der Prozess begannmit der Gründung eines zweiten deutschen Staates und fandseinen Höhepunkt in der Abriegelung durch den Mauer-bau 1961. Beide Seiten, und vor allem ihre Führungs-mächte, rüsteten auf und standen sich bald waffenstarrendgegenüber. Der Aufklärungsbedarf stieg hier wie dort ingleichem Maße an.

Am 1. April 1956 entstand der bundesdeutsche Auslands-nachrichtendienst. Gehlen leitete ihn bis zu seiner Pensionie-rung im Frühjahr 1968. Der alte Krieger war übereifrig,

82

Page 84: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

und deshalb trug er nicht nur Informationen aus dem Os-ten zusammen, sondern bespitzelte auch zahlreiche Mit-bürger, die ihm verdächtig erschienen. Über diese ließ erDossiers anlegen. Niemand hinderte ihn daran, weil einsolches Vorgehen von höchster Stelle, dem ersten Bundes-kanzler Konrad Adenauer, gedeckt war. Der BND war vonAnfang an dem Bonner Kanzleramt unterstellt. Das ver-hinderte keineswegs den politischen Missbrauch, sondernförderte ihn nachgerade.

Gehlens Spione waren sehr erfolgreich, weil sie im Rah-men der »Operation Hermes« die aus der Sowjetunion zu-rückkehrenden deutschen Kriegsgefangenen intensiv befrag-ten. Das ergab ein für die fünfziger Jahre ziemlich dichtesLagebild, von dem auch die Westmächte profitierten. Nurin die Nomenklatura des Kreml konnten auch die Kund-schafter aus dem Isartal nicht eindringen.

Seit den sechziger Jahren kümmert sich der Dienst umweltweite Aufklärung. Nach dem Ende des Kalten Kriegesund dem Wegfall des Ostblocks stellten sich viele der 6 000Experten schwerpunktmäßig auf Extremisten aus der isla-mischen Welt ein. Die Anschläge des 11. September 2001haben einen insgesamt langsam schrumpfenden und be-deutungsloser werdenden BND wieder wichtiger werdenlassen.

Ein besonderer Tag am Tegernsee

Am Tag nach meinem ersten Zusammentreffen mit Oll-hauer kam ich vorsichtshalber eine halbe Stunde zu frühan die geplante Abfahrtsstelle des Betriebsausfluges. Es warniemand zu sehen. Ich stand mit dem Rücken zum Schwa-binger Krankenhaus und blickte in die Bonner Straße, wo

83

Page 85: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

am anderen Ende das Dienstgebäude am Bonner Platznoch schemenhaft zu erkennen war. Plötzlich fiel mir in eini-ger Entfernung ein blonder Haarschopf auf, der aus Rich-tung Bonner Platz kam und zielstrebig auf meinen Stand-ort zusteuerte.

Es war eine junge Frau mit einer großen Schultertasche.Sie legte den Kopf zur Seite und steuerte mit einem freund-lichen Lächeln auf mich zu. »Sie sind doch der Herr Dan-nau, oder?« Ich nickte und erkannte sie in diesem Augen-blick wieder. Ich hatte sie tags zuvor in Wirsings Vorzimmergesehen. Mit einem starken bayerischen Akzent stellte siesich vor: »I bin die Carmen.« - »Ich bin der Norbert«,antwortete ich.

Sie war eine beeindruckende Erscheinung, Mitte zwan-zig, schlank und gut gewachsen. Ihre vollen, naturblondenHaare waren kinnlang. Ihren hellen Teint präsentierte sieungeschminkt. Die blauen Augen hatten etwas Magnetischesan sich. An diesem Tag trug sie weiße Jeans und einen hell-blauen Pullover.

So standen wir ein paar Minuten zusammen und plauder-ten. Ich gab mir Mühe, besonders charmant zu sein, undvergaß darüber meine innere Aufregung. Schließlich warwieder einmal alles neu an diesem ersten Tag meines Diens-tes bei Ollhauer. Ich hatte mir vorgenommen, jedes Fett-näpfchen zu meiden. Schließlich würden alle da sein, mitdenen ich künftig arbeiten müsste. Das beunruhigte mich.Aber Carmen wischte das innerhalb von Minuten weg.

Ganz nebenbei bemerkte ich, wie sich auf dem Platz etwastat. Überall standen auf einmal kleine Grüppchen zusam-men, immer drei bis vier Personen, die auf etwas warteten.Seltsamerweise waren sie weit verstreut. Sie reichten bis zumGrünstreifen der Parzivalstrasse, die von meinem Stand-ort aus nach Westen führte. Dann ging alles ganz schnell.Ein Bus fuhr vor und der Fahrer fragte knapp: »Bundes-vermögensverwaltung?« Carmen nickte und sagte zu mir:

84

Page 86: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Steig scho amoi ei.« Mit einem tiefen Blick in meine Au-gen fügte sie hinzu: »Hältst du mir an Platz neben dir frei?Ich mach noch die Anwesenheitslist'n.« - »Einen Platz?Gern! Ich kaufe den ganzen Bus für dich, wenn du willst.«

Nun setzten sich die einzelnen Trupps um den Treffortin Bewegung. Nach wenigen Minuten war der Bus voll.Zuletzt kam Ollhauer. Wie aus dem Nichts stand er aufder Treppe im Bus. Sein Blick suchte durch die Reihen undblieb bei mir hängen: »Ach, das ist ja schön. Ist alles glattgegangen? Ich stelle Sie nachher vor.« Mein erster Be-triebsausflug mit dem Bundesnachrichtendienst konnte be-ginnen. Carmen saß neben mir am Fenster und plauderte.Sie erzählte, dass es einige Herren in der Dienststelle gäbe,die sie immer »anbaggern« würden. Dem könne sie dies-mal entgehen. Da der größte Teil der Tour zur freien Ver-fügung war, sollten wir ihrer Meinung nach einfach zu-sammenbleiben.

So kam es dann auch. Zuerst gab es ein gemeinsamesFrühstück in einem Gasthaus am See. Hier schlugen wirpraktisch unser Basislager auf, wo wir immer wieder zu-sammentrafen. Einige kamen nicht viel weiter, sondernblieben gleich im Biergarten hinter dem Wirtshaus. Oll-hauer stellte mich einigen Kollegen aus dem DDR-Referatvor. Zum Teil wirkte es so, als würde er eine Trophäe prä-sentieren. Dann begann auch für mich der inoffizielle Teil.

Carmen, die an einer Bootsanlegestelle auf mich gewar-tet hatte, drängte zum Aufbruch: »Bloß weg von hier, ambesten wir fahren rüber nach Bad Wiessee.« Gesagt, ge-tan. Wir nutzten die erste Fährmöglichkeit zum Ostufer.Es war ein herrlicher Sommertag. Carmen und ich saßenan einem kleinen Tisch. Sie zog ihren warmen Pullover ausund präsentierte sich im weißen Seidentop. Ich blickte ihrtief in die Augen und flüsterte Komplimente. Sie schnurrteund griff nach meinen Händen.

Es hatte gefunkt. Sicher lag es auch daran, dass es in mei-

85

Page 87: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ner Ehe bereits kriselte. In Tegernsee waren wir als Kolle-gen losgefahren, in Bad Wiessee verließen wir das BootHändchen haltend. Der Zustand dauerte allerdings nichtlange, weil wir plötzlich von einer ganzen Meute Kollegenaus der 12A umgeben waren. Auch sie hatten sich für einpaar Stunden absetzen wollen.

Die jungen Verbindungsführer erkannten sofort, washier los war. »Na, der neue Kollege ist wohl von der ganzschnellen Truppe. Hoffentlich ist er beim Quellenwerbengenauso schnell. Und Carmen will es wohl mal im freienFall ausprobieren...« So und ähnlich lauteten die Kommen-tare. Meine bildhübsche Begleiterin fragte, was mit demfreien Fall gemeint sei. Ich konnte das nur mit der Fall-schirmspringerei in Verbindung bringen. Irgendwie wardie Stimmung der anderen etwas kalt und feindselig. Manwünschte uns noch viel Spaß in der Kirche und wies unsdarauf hin, dass die Beichtstühle linker Hand stünden.Prima, dachte ich, das fängt ja gut an.

Wir gehörten zu den Letzten, die den Bus in Tegernseeerreichten. Einige bemerkten das sowieso nicht mehr, weilsie schon so angetrunken waren. Kaum hatten wir unserenPlatz gefunden, legte Carmen ihren Kopf auf meine Schul-ter und schlief ein. Ollhauer, der als Einziger der Chefs mitdem Bus fuhr, stand auf und kam nach hinten. Er setztesich auf die andere Seite des Ganges und blickte mich mitstrengem Blick an. Mein Puls raste. Nun war wohl ein An-schiss fällig. Vielleicht war dies mein erster und letzter Tagbei 12C gewesen.

Ollhauer beugte sich nach vorne, damit er Carmen sehenkonnte. Dann lehnte er sich entspannt zurück und strecktedie Beine im Gang aus. »Nun, Dannau, was treiben Siesonst noch? Ich meine, in Ihrer Freizeit!« Ich begann zu er-zählen, wofür ich mich interessierte. Plötzlich, mitten imAufzählen meiner Hobbys, ergriff er meine Schulter. Ichhatte gerade beiläufig angemerkt, dass ich gern koche. »Was

86

Page 88: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

kochen Sie?«, fragte er neugierig. Nun war er hellwachund absolut gespannt. »Rote Grütze«, warf Ollhauer ein,»erklären Sie mir mal ein Rezept für Rote Grütze. Ich liebeRote Grütze.«

Wenn es weiter nichts wäre. Ich begann also artig, meinRezept herunterzuspulen. »Man nehme 100 Gramm roteJohannisbeeren, 150 Gramm Himbeeren, 150 Gramm Erd-beeren, 100 Gramm Blaubeeren. Die Johannisbeeren müs-sen gewaschen und von den Stielen gestreift werden. DieHimbeeren werden verlesen, aber nicht gewaschen.« Oll-hauer nickte wissend.

»Die Blütenansätze von den Erdbeeren entfernen unddie Blaubeeren waschen. Von jeder Fruchtsorte etwa dieHälfte als Einlage beiseite stellen. Die übrigen Früchte miteinem halben Liter Rotwein und einem halben Liter Was-ser, zusätzlich mit 100 Gramm Zucker und einer Zimt-stange in einen Topf geben und mit einer halben, in Schei-ben geschnittenen Orange aufkochen lassen. Dann beigeringer Hitze fünfzehn Minuten garen. Den Sud durchein Sieb streichen und nochmals aufkochen. 40 GrammSpeisestärke in Rotwein anrühren und den Sud damit bin-den. Die Früchte in Glasschüsseln füllen und mit dem Sudauffüllen. Mit Vanillesauce servieren.«

Da staunst du, Ollhauer, dachte ich mir. Wenn er michjetzt noch nach dem Rezept für einen Schweinekrusten-braten fragen würde, dann wäre die blonde Schöne nebenmir sicherlich kein Thema mehr. Die schlief fest und unter-stützte meine Bemühungen, Ollhauer gegenüber souveränzu erscheinen, indem sie ihre Hand auf meinen Oberschen-kel legte und sich noch dichter herankuschelte.

»Sie haben das Sago vergessen«, trumpfte ein nachdenk-lich wirkender Ollhauer auf. »Welches Sago?«, fragte ichratlos. »Rote Grütze wird mit Sago gemacht, das nimmtman zum Binden. Klar, Mann. Rote Grütze wird mit Sagogemacht. Ich esse Rote Grütze nur mit Sago. Ohne Sago,

87

Page 89: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

schmeckt das denn überhaupt?« Ich versprach, beim näch-sten Mal Sago zu verwenden und ihm dann davon zu be-richten.

Ollhauer richtete sich wieder auf. »Wir sehen uns mor-gen früh um 8.30 Uhr.« Ich nickte kurz. »Jawohl, HerrOberstleutnant.« Er blickte auf die Schlafende und flüs-terte: »Aber allein: Heben Sie sich das für die Mittagspauseoder die Zeit nach Dienstschluss auf.« Dann nahm er wie-der seinen Platz neben dem Fahrer ein.

Am nächsten Morgen erschien er im »Sattelhof« mitgrimmiger Miene und verschwand wortlos in seinem Zim-mer. Ich überlegte, wie man bereits frühmorgens so einenGesichtsausdruck hinbekommt. Nach zehn Minuten holteer mich rein. Nun folgte die Abreibung, die ich bereitswährend der Rückfahrt vom Ausflug erwartet hatte. ImPrivaten, sagte Ollhauer, könne ich machen, was ich wolle,aber nicht das Private im Dienst ausleben. Übrigens sei umzehn Uhr eine Dienstbesprechung angesetzt. Dann werdeer mich dem Stab von »Stay Behind« vorstellen.

Wenn man die Diensträume von 12C betrat, befand sichlinks ein kurzer Korridor, und wiederum links das Zim-mer von Ollhauer. Durch sein Fenster konnte er nachWesten, direkt auf die Ansprenger Straße und ein paarhundert Meter weit in die Karl-Theodor-Straße blicken.Sein Vorzimmer bestand aus zwei Räumen, die verbundenwaren. Von dort blickte man nach Norden, direkt zumEnde der Karl-Theodor-Straße, die dort in den BonnerPlatz mündete. Das Vorzimmer hatte eher den Charaktereines Besprechungsraumes. In der Praxis war es dann auchso, dass hier immer irgendwelche Leute zusammenstandenund redeten. An Ollhauers Büro schlossen sich nach rechtszahlreiche kleine Räume an. Ihre Fenster waren ausnahms-los mit Gardinen verhängt.

8 8

Page 90: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die Schöne von der anderen Seite

Das erinnert mich wieder an das große Interesse der DDR-Staatssicherheit an diesem Objekt. Die Stasi hatte sichzwar um unseren Gemüsehändler nicht weiter bemüht,wollte den »Sattelhof« aber natürlich trotzdem umfang-reich beobachten. Dafür ließ man sich etwas ganz Beson-deres einfallen. Das erheitert mich heute noch, weil es nichtnur gut gemacht, sondern auch hübsch in Szene gesetztwar. Noch vor meiner ersten Dienstbesprechung hatte ichein Schlüsselerlebnis, das damit zusammenhing. Plötzlichöffnete sich eine Bürotür. Paul winkte mich zu sich. Derfreundliche Bayer war seit vielen Jahren Verbindungsfüh-rer bei »Stay Behind«. Er war durch und durch nett. Nunwinkte er mich wild gestikulierend in sein Zimmer. Vor-sichtig zog er die Gardinen zur Seite. »Da«, er zeigte aufein Gebäude gegenüber, »damit Sie nicht glauben, dass esbei uns langweilig zugeht.« Paul lächelte.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein Fen-ster weit geöffnet. Der Raum dahinter war hell erleuchtet.Ich schaute einmal hin, ich schaute zweimal hin. Eine junge,blonde Frau mit großen Brüsten und hinten zum Zopf ge-bundenen Haaren beschäftigte sich vor dem offenen Fens-ter mit ihrer Morgengymnastik. Sie war dabei splitternacktund schien nicht zu ahnen, dass sie von der gegenüber-liegenden Straßenseite beobachtet wurde. Was ich in diesemMoment nicht sehen konnte, war, dass nicht nur bei Pauldie Gardinen zur Seite geschoben wurden. Links und rechtsneben uns wie auch im Stockwerk darunter standen dieVoyeure an den Fenstern.

An diesem Tag fotografierte mich die Staatssicherheitder DDR zum ersten Mal. Erst nach der Wende wurde be-kannt, dass der blonde Lockvogel von gegenüber mögli-cherweise nicht nur geographisch auf der Gegenseite stand.

89

Page 91: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die Ostaufklärer saßen im Dachfenster und fixierten unssowie das eine oder andere Dokument mit scharfen Tele-objektiven.

Um Punkt zehn Uhr begann die Dienstbesprechung. Esnahmen etwa 14 Mitarbeiter teil, unter ihnen mehrere Ver-bindungsführer, der Leiter »Operative Sicherheit« (kurzOpSi), zwei so genannte Anbahner, außerdem der Fern-meldeleiter, der Ausbildungsleiter und der Leiter »Opera-tionen«. Die meisten von ihnen stammten aus der Bundes-wehr, waren von Ollhauer mitgebracht oder auf Irrwegenangelockt worden. Ein bunter Haufen von mutigen, zu-verlässigen und entschlossenen Männern.

So etwas wie Kameradschaft habe ich beim BND niemehr derart intensiv erlebt wie in der »Stay Behind«-Truppe. Auch jene, die sich nicht besonders nahe standen,konnten sich trotzdem auf den Nebenmann blindlings ver-lassen. Das lag wohl an der Fallschirmjägerei, die denmeisten gemeinsam war. Bei diesem Truppenteil mussteich immer wieder feststellen, dass zuerst der Mensch kamund dann der Dienstgrad. In der Regel ging es rau, aberherzlich zu.

Nach der Besprechung der Tageslage nahm mich HeinzHill, der Leiter »Operationen«, mit in sein Zimmer. Er wardas exakte Gegenteil des steifen und stets korrekt geklei-deten Ollhauer. Hill trug einen auberginefarbenen Zwei-reiher. Sein Gürtel war nur lose um die Hüften geschwun-gen. Die modische Krawatte hatte er mit einem dickenKnoten versehen. Er vermittelte den Eindruck eines Ma-chers, der seine Autorität aus der eigenen Arbeitsleistungbezog.

Hill entpuppte sich als überaus freundlicher und offenerKollege, dem man alles anvertrauen konnte. Ich lernte ihnbald wegen seiner menschlichen und fachlichen Kompe-tenz schätzen.

90

Page 92: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Das Schwert der Gladiatoren

Hill führte mich in die Zielsetzung und den Alltag von»Stay Behind« bzw. »Gladio« ein. Seine damaligen Infor-mationen und die seither bekannt gewordenen Fakten zudiesem streng geheimen Nato-Dienst ergaben folgendesBild:

Wir waren eine geheime, paramilitärisch organisierteTruppe, die sich im Falle eines Angriffs aus Richtung Ost-europa überrollen lassen sollte. Angeblich bestand diedeutsche Sektion von »Gladio«, ein Name, der sich vom rö-mischen Kurzschwert der Gladiatoren ableitete, zu meinerZeit aus 104 Mitarbeitern und 26 hauptamtlichen Füh-rungspersonen beim BND. Auf dem Höhepunkt des Kal-ten Krieges sollen es bis zu 75 Hauptamtliche des Ge-heimdienstes und 500 Helfer gewesen sein.

Die Amerikaner sprachen in diesem Zusammenhangimmer von der »Stay Behind Organization« (SBO). Derunsichtbare Ableger zur Abwehr des Kommunismus warihre Erfindung. Der Nationale Sicherheitsrat in Washing-ton verabschiedete 1948 zwei Dokumente, die unserer Sa-che Leben einhauchte: NSC 10-2 und 68-48. Darin wur-den die Aufgaben der SBO-Agenten für den Fall einerkommunistischen Besetzung beschrieben: »Propaganda,Wirtschaftskrieg, vorbeugende Direktmaßnahmen ein-schließlich Sabotage, Anti-Sabotage, Zerstörung, Evaku-ierungsmaßnahmen. «

Darüber hinaus bereiteten die US-Planer »Subversion infeindlichen Staaten einschließlich Unterstützung für imUntergrund operierende Widerstandsbewegungen, Guerilla-kräfte und Gefangenenbefreiungskommandos sowie Unter-stützung einheimischer und antikommunistischer Kräftein bedrohten Ländern der westlichen Welt« vor.

Die SBO oder »Gladio« entstand in den meisten Ländern

91

Page 93: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Westeuropas im Laufe der fünfziger Jahre und wurde inder Praxis von den regionalen Geheimdiensten getragen.Die zentrale Koordination kam von einem ziemlich mys-teriösen »Allied Clandestine Committee« (ACC) mit Sitzim Nato-Hauptquartier unweit von Brüssel. Wir bildetendie unterste Ebene und sorgten dafür, dass unsere zivilenHelfer im Kriegsfall Zugriff auf Depots mit Waffen,Sprengstoff, Funkgeräten und Finanzen hatten und damitauch umgehen konnten. Unsere »Verdeckten Operationen«waren äußerst heikel. Ich erlebte gerade noch die letztePhase, bevor der Kalte Krieg endete und das Projekt »Gla-dio« im Nebel der Geschichte verschwand.

Hill erklärte mir meinen weiteren Weg. Zunächst waren14 Tage Einweisung im »Reitstall« geplant. Ein zusätz-licher Lehrgang an der BND-Schule als Verbindungsfüh-rer wurde sofort verworfen, weil man im »Sattelhof« derMeinung war, dies sei unnütz und weltfremd, auf alle Fällefür die besonderen Gegebenheiten bei »Stay Behind« unge-eignet. Ich sollte also zuerst Theorie pauken und dann eineWoche Praxis kennen lernen. Danach war eine Woche An-bahnung vorgesehen und eine zusätzliche Woche in derFührungsstelle »Sattelhof«.

So kam es dann auch. Olly und Hilly gönnten mir einpaar Wochen »Stay Behind-Druckbetankung«. In regelmä-ßigen Abständen fragten sie mich mit einem süffisanten Lä-cheln, wie es denn so liefe. Ollhauer kam immer wiederund ließ sich von mir gespielt naiv »Stay Behind« erklären.Diese Fragerunde hatte dann schon richtigen Prüfungs-charakter.

Einen großen Vorteil hatte ich. Ich musste das Morsennicht mehr lernen. Bisher war es vorgeschrieben, alle Quel-lenführer und »Stay Behind «-Quellen im Agentenfunk-verkehr auszubilden. Keine einfache Sache, weil die Mor-seausbildung schwierig und zeitraubend war. Die meistenvon uns hielten diese Praxis sowieso für antiquiert. Deshalb

92

Page 94: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

hatte der BND von Siemens ein neues Kommunikations-konzept entwickeln lassen, das Funkgerät FS 5000. ZumStückpreis von über einer halben Million Mark waren ge-rade, als ich bei 12C anfing, etwa 50 dieser Geräte ange-schafft worden. Alle bestehenden nachrichtendienstlichenQuellen mussten also auf diese neue Technik umgeschultwerden. Dabei war ich den anderen voraus.

Von einem Hauptmann namens Cello wurde ich »imGelände« eingewiesen. Er holte mich mit seinem Privat-wagen vom Waldhotel Buchenhain bei Baierbrunn ab, dasganz in der Nähe der Pullacher BND-Zentrale lag und mirdaher über Jahre hinweg während meiner Aufenthalte inMünchen als Domizil diente. Wir fuhren über Weilheimnach Peißenberg. Dort, in der Nähe des landschaftlichschön gelegenen Hohen Peißenbergs, war unser Ziel - dasBND-Objekt »Reitstall«. Plötzlich, mitten im dichten Wald,ein Schild mit der Aufschrift »Sicherheitsbereich. Betretenverboten. Fotografieren verboten«. Dann eine rot-weißeSchranke. Cello öffnete den Schlagbaum und verriegelteihn wieder, nachdem wir auf das Gelände gefahren waren.Ungefähr einen Kilometer entfernt lag der »Reitstall«. Dergesamte Bereich war mit einem 2,50 Meter hohen Zaun,Stacheldraht und Kameras abgesichert. Ein Schäferhundkläffte mörderisch. Wir läuteten. Darauf erschien ein Mannmit einem Fahrrad, grüßte freundlich und öffnete für unsdie letzte Barriere vor einer gepflegten alten Villa.

Wir parkten direkt hinter dem Gebäude. Der Radfahrer,er entpuppte sich als Hausmeister des Objekts, bat unsherein. Wir besprachen die Einzelheiten unseres Aufent-halts. Grundsätzlich wollten wir uns selbst versorgen. Nurdas Frühstück wurde von der Ehefrau des Hausmeistersgeliefert. Der »Reitstall« war in dieser Woche verwaist -Urlaubszeit! Cello führte mich durch das Gebäude, in des-sen Speise- und Schlafräumen etwa dreißig bis vierzig Per-sonen untergebracht werden konnten.

93

Page 95: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Das Anwesen hatte einen gewissen Charme und ver-mittelte zudem das Gefühl der Sicherheit. Es lag nebeneinem Bundeswehr-Übungsplatz und war bereits zu Geh-lens Zeiten für Schulungen und konspirative Treffen genutztworden. Nun diente es »Stay Behind« als Domizil. Aufdem Trainingsgelände konnten die Einsatzkräfte Kom-mandooperationen mit Waffen und Sprengstoff trainieren.

In den folgenden Tagen absolvierte ich bei Cello eine»Stay Behind «-Ausbildung, wie sie auch unsere Quellenim Laufe der Zeit erhielten. Das reichte vom neu konzi-pierten Agentenfunk über nachrichtendienstliche Verfahrenbis hin zu Feinheiten, die speziell bei »Gladio« gebrauchtwurden. Wir fuhren beispielsweise nach Füssen, um Tref-fabwicklungen zu trainieren. Cello führte im Allgäu selbstQuellen und konnte deshalb auf existierende Treffstreckenund -orte zurückgreifen. Alles war, wie für »Stay Behind«-Quellen üblich, vorher schriftlich festgelegt. Wichtig wa-ren für uns auch die Themen Ablageorte (AO) und Dau-erverstecke (DV). Die Zusammenarbeit mit Cello war sehrangenehm. Er stand kurz vor der Pensionierung. Deshalbkam Konkurrenzdenken gar nicht erst auf.

Dienstbeginn im »Heidehaus«

Ganz anders sollte dagegen meine Einweisung als Anbahnerverlaufen. Zunächst bekam ich von Ollhauer den Marsch-befehl nach Hannover zur neuen Außenstelle mit der Tarn-bezeichnung »Heidehaus«. Dort sollte ich mich beim kom-missarischen Dienststellenleiter melden. Er würde mir eineeinwöchige Grundschulung verpassen. Ich staunte nichtschlecht, als ich die genaue Adresse des »Heidehauses« be-kam.

94

Page 96: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Das Terrain war mir bestens bekannt. Es lag auf demGelände der Heeresoffiziersschule Hannover, wo ich erstdrei Jahre zuvor meinen Offizierslehrgang absolviert hatte.Ich hatte dort, in der Emmich-Cambrai-Kaserne, sogar einhalbes Jahr gewohnt. Von meinem damaligen Zimmer aushatte ich unwissend direkt auf mein zukünftiges Dienst-gebäude geblickt

Die Kaserne liegt an der Vahrenwalder Straße im Hanno-verschen Norden. Direkt hinter dem Zaun befinden sichzwei große Gebäudekomplexe, die baugleich von Südennach Norden aufgereiht wurden. Im nördlichen der Blöckebefand sich das »Heidehaus«. Der linke Eingang zu demvierstöckigen Bau war der richtige. Kein Schild, kein nochso einfacher Hinweis deutete auf die »Stay Behind«-FilialeHannover hin. Niemand ahnte, was sich im linken oberenBlockteil tat.

Selbst innerhalb der Schulleitung war nur wenigen be-kannt, dass es sich bei den angemieteten Räumen um eineAMK-Dependence handelte. AMK, ausgeschrieben »Amtfür Militärkunde«, war die offizielle Abdeckung für alleSoldaten im BND. Selbst das gehörte in meiner dienst-lichen Umgebung nicht zum Allgemeinwissen. Keinerahnte also, dass sich hier die Außenstelle 12CC von »StayBehind« befand, die später im Rahmen der so genanntenGladio-Affäre eine wichtige Rolle spielen würde.

In der obersten Etage führte ein langer Gang nachrechts, der auf beiden Seiten Schlafräume für Soldaten derKaserne bot. Auf der linken Seite sah man aber nur zweiTüren. Der Gang war im weiteren Verlauf einfach durcheine Zwischenwand mit schwerer Eisentür verkürzt wor-den. Dahinter verbargen sich die Einrichtungen des »Hei-dehauses«. Der wichtigste Raum diente für Besprechun-gen und wurde häufig zum gemeinsamen Frühstückgenutzt.

Als ich das erste Mal klingelte, öffnete mir eine junge

95

Page 97: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Dame mit blonden Haaren, die ganz offensichtlich schlechtgelaunt war. Es war die Bürokraft, das Mädchen für alles.Nach einigen Minuten des Wartens kehrte sie mit einemleicht ergrauten Herrn zurück, dem sie mich ganz neben-bei vorstellte. In der Hauptsache schimpfte sie auf eine Ar-beit, die ihr nicht lag. »Den Scheiß können Sie selbstschreiben. Sie glauben wohl, Sie dürfen mir jeden Mistaufhalsen. Ich bin hier die Zahlstellenverwalterin und sonstnichts. Nehmen Sie gleich alles wieder mit.« Dann setztesie sich, nippte an ihrer Kaffeetasse und schaute aus demFenster. Ein bizarrer Eindruck, diese ersten Minuten in derneuen Dienststelle.

Der Dienststellenleiter, selbst Bundeswehroffizier undim Rang eines Hauptmanns, nahm die besagten Papierevom Tisch und ging mit mir in sein Zimmer. Wir begeg-neten zwei weiteren Mitarbeitern, denen er im Vorbeige-hen »So eine dämliche Kuh« zuraunte. Die beiden grinstenund beugten sich wortlos über ihre Kaffeetassen, als wür-den sie in Deckung gehen wollen. Der Dienststellenleiterwar knapp 1,80 Meter groß und hatte lichtes Haar. DerWind hatte ihn gegerbt, die Sonne gebräunt. Er vermittelteeinen ruhigen und souveränen Eindruck.

Ollhauer hatte ihn angewiesen, mich in die Praxis derAnbahnung einzuführen. Außerdem sollte er mir die Quel-len »Deister« und »Manske« übergeben. Ich merkte sofort,dass ich ihm nicht so richtig in den Kram passte. Er be-sprach zwar mit mir die Vorhaben der nächsten Woche,merkte aber ständig an, dass er noch andere Dienstgeschäftehabe und sich nicht andauernd um mich kümmern könne.Außerdem redete er permanent um den heißen Brei herumund wurde nie konkret.

Er war das Gegenteil von Cello. Der hatte sich gefreut,wenn er mir Kniffe beibringen konnte. Mein jetztiger»Lehrmeister« blieb dagegen zugeknöpft und misstrauisch.Er schien sich für besonders kompetent zu halten und legte

96

Page 98: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

deshalb eine extreme Geheimniskrämerei an den Tag. Lei-der lernte ich während meiner Jahre beim BND viele ken-nen, die ihre fachlichen Defizite mit überzogenem »Ge-heimschutz« kaschierten. Meiner Meinung nach fandensich unter den besonders »Geheimen«, egal auf welcherFührungsebene, selten die Guten, aber nie die Besten desDienstes.

Die für die Anbahnung geplante Woche brachte nichtviel. Was ich dort lernte, hätte ich in ein, zwei Stundenauch im »Stay Behind«-Handbuch nachlesen können.

Nach unserem ersten Gespräch erhielt ich die Schlüsselfür das »Heidehaus« und wurde in die Handhabung desAktensicherungsraumes (ASR) eingewiesen. Dieser ASR,der mit einer schweren Panzertür verschlossen war, befandsich vor dem Geschäftszimmer. Jeder Mitarbeiter hattedort mehrere Panzerwürfel, in denen er seine Akten undGeräte deponieren konnte. Die Würfel waren in dem etwazehn Quadratmeter großen, ziemlich engen Raum bis un-ter die Decke gestapelt. Eine kleine Trittleiter stand amEnde des Zimmers. Sie war notwendig, um an die oberenWürfel zu kommen. Mir wurden zwei dieser kleinen Pan-zerschränke zugeteilt.

Das »Heidehaus« hatte eine obskure Entstehungsge-schichte. Alle dort beschäftigten Mitarbeiter kamen auseiner ganz anderen Verwendung. Mitte der achtziger Jahreunterhielt der BND auch in Hannover ein Observations-kommando. Es war in einer Kaserne an der Schulenbur-ger Landstraße stationiert. Diese Truppe sicherte Quel-lentreffs ab, beschattete aber auch die eigenen Kollegen.Eine Vorgehensweise, die meistens nur auf lose Verdachts-momente hin ausgelöst wird und dienstinternen Intrigan-ten eine richtige Spielwiese für Mobbing schafft.

Dieses Observationskommando Nord war seinerzeitnach einer Panne aufgeflogen und über Nacht zerschlagenworden. Was war passiert? Ein Mitarbeiter hatte eine junge

97

Page 99: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Frau kennen gelernt, die in einem Bordell in Hannover ar-beitete. Das hätte als Delikt schon gereicht, um ihn ausdiesem besonders sensiblen Bereich zu kicken. Mit der blo-ßen Beziehung begnügte er sich nicht. Da die Observantenhäufig über Wochen unterwegs waren, schmerzte ihn dielange Trennung von seiner Angebeteten. Deshalb nahm ersie kurzerhand mit. Das muss man sich so vorstellen:Vorne saßen im Dienstwagen zwei Observanten des BND,auf dem Rücksitz eine Prostituierte. Alle im Team wusstendavon, und alle deckten es. Selbstverständlich wollte imNachhinein niemand etwas bemerkt haben.

Nun kommt das Allerbeste. Als diese Zusammenhängeaufflogen, kam heraus, dass die Halbweltdame obendreinfür das Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit ar-beitete. Die Stasi begleitete also geheime Operationen desBND auf dem Rücksitz. Wie das aufflog? Die DDR-Spitzelversuchten den liebestollen BND-Observanten eines Tagesmit einigen tausend Mark auf ihre Seite zu ziehen. Da ka-men ihm erhebliche Zweifel. Er offenbarte sich der eigenenSicherheit. Observationsteam und Dienststelle wurdenaufgelöst. Da der Fall so pikant war, sah Pullach sogar vondisziplinarischen Maßnahmen ab. Es galt um jeden Preis,einen öffentlichen Skandal zu verhindern. Deshalb fandendie »mobilen Schlapphüte« plötzlich eine neue Heimat bei»StayBehind«.

Da war zunächst der »Tippgewinner« Korbach. Er kamnicht von der Truppe, sondern aus den Reihen der einfachenAngestellten. Korbach operierte vornehmlich im Norden.Dort suchte er nach geeignetem »Stay Behind«-Personalaus der Bevölkerung. Er stellte Tipps von mehreren hundertBundesbürgern zusammen. Diese personenbezogenen Da-ten wurden in Pullach gesichtet und archiviert. Bei Bedarf,und der bestand immer, erhielten die Anbahner zwanzig bisdreißig dieser Anschriften und begannen mit ihrer Arbeit.

Im »Heidehaus« saßen noch drei Verbindungsführer (VF).

98

Page 100: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Tegtmeier und Hippler waren Hauptleute, die »Stay Be-hind«-Quellen führten, ihr Kollege Urban ein Stabsfeld-webel. Tegtmeier war Mitte vierzig und der klassischeBeamtentyp. Mit seinen weißblonden Haaren, dem asch-grauen Gesicht und seinem überzogenen soldatischen Auf-treten war er für mich das genaue Gegenbild eines um-gänglichen Kollegen. Als leidenschaftlicher Radrennfahrernahm er sein Zweirad gelegentlich sogar auf Dienstreisenmit. Aus Legendengründen, also der Tarnung wegen, wieer immer feierlich versicherte.

Er war wohl der Einzige aus dem »Heidehaus«, der nochKontakte zur Truppe unterhielt. Gelegentlich, vor allemsonntags, fand er sich mit seiner Familie im Offizierska-sino zum Mittagessen ein. Tegtmeier hatte ein wichtigesHandicap. Er war in seiner aktiven Bundeswehrzeit Feld-jäger gewesen, und das erschwerte ihm jetzt das Leben mitden Fallschirmjägern. Er musste sich laufend Anspielun-gen gefallen lassen. Der Verbindungsführer Arnstein bei-spielsweise titulierte ihn ständig als »bewaffneten Schü-lerlotsen«.

Das exakte Gegenteil war Udo Hippler. Braungebranntund fröhlich, ein Kumpeltyp. Nebenbei gab er noch Tennis-stunden. Hippler kam meistens mit einer Palette Kuchenan und verteilte die süßen Teilchen an alle. Er reiste vielherum und verstand sich mit seinen Quellen bestens. Hipp-ler war eine Stimmungskanone und wurde von allen ge-mocht. Roland Urban, 1,85 Meter groß und ziemlich ha-ger, strahlte aber eine unglaubliche Herzlichkeit undOffenheit aus. Bei unserer ersten Begegnung musste ichunwillkürlich an Charles Bronson denken. Er war Einzel-kämpfer und Fallschirmspringer gewesen und hatte eineumfangreiche Kampfsportausbildung erhalten. Keinerkannte den »Stay Behind«-Laden so gut wie er.

Nachdem der Dienststellenleiter mir alle vorgestellt hatte,verabschiedete er sich ins Wochenende. Am Montagmor-

99

Page 101: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gen begann meine erste Dienstreise mit ihm in RichtungEmsland. Zunächst entfernte er seinen privaten Dachge-päckträger vom Dienstwagen. »Wissen Sie, Herr Dannau«,erklärte er, »ich nehme hin und wieder mein Surfbrett mitauf Reisen. Ich benutze es dann als Urlaubslegende, wennich gefragt werde, was ich mache. Da muss ich gelegent-lich auch surfen gehen.« Ich schmunzelte und dachte sofortan den Tegtmeier mit seinem Rennrad. Während der Auto-fahrt erzählte er mir von seinen Anbahnungserfolgen unddavon, dass er bald in das DDR-Referat wechseln wolle.

Wir hatten Zeit, und deshalb ging er richtig in die De-tails von »Stay Behind«. 12CC warb im gesamten Bundes-gebiet Quellen und Beschaffungshelfer an. Diese Leutesollten im Falle einer militärischen Intervention durch dieWarschauer-Pakt-Staaten ein Quellennetz bilden, das die(geflüchtete) Führung der Bundesrepublik über die ak-tuelle Lage auf dem Laufenden halten würde. Diese halb-professionellen Trupps sollten den Gegner auch mit Sabo-tageaktionen behindern und Personen schleusen. UnsereAufgabe war es, das Schweigenetz in Friedenszeiten zu or-ganisieren und zu betreuen.

Die Werbestrategien von »Stay Behind«

Die möglichen Kandidaten mussten aus einem Personen-kreis kommen, der im Kriegsfall für die Besatzungsmachtnicht sofort verdächtig wäre. Prominente und Leute mitherausragenden Funktionen, beispielsweise Leiter vonBankfilialen, fielen durch das Raster. Wer auch nur im wei-testen Sinn eine Uniform trug, wurde nicht geworben. SelbstBeamte im höheren Dienst sollten gemieden werden. Ge-sucht wurde der einfache Industriearbeiter, die Sekretärin,

100

Page 102: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

der Angestellte im mittelständischen Unternehmen - derunauffällige Durchschnittsbürger.

Ein Kriterium war besonders wichtig: Unsere Zielper-sonen sollten ein frei stehendes Einfamilienhaus besitzen.Das hing damit zusammen, dass die meisten von ihnen miteinem Funkgerät ausgestattet wurden, mit dem sie zu an-deren Stationen in den USA Kontakt halten konnten. Da-für mussten wir eine Langdrahtantenne installieren. Nichtselten waren Umbauten erforderlich, weil kein Außenste-hender die Antennen sehen durfte. Außerdem warenHausbesitzer in der Regel bodenständiger als der durch-schnittliche Mieter.

In den frühen Jahren des Unternehmens »Stay Behind«waren bei der Anwerbung vier Schritte vorgeschrieben:Zuerst gab es einen Tipp, der das Vorsortieren geeigneterPersonen ermöglichte. Es folgte die Anbahnung mit demPrüfen des Kandidaten und einer erneuten Selektion. Beider Anwerbung erfolgte schließlich die »Klaransprache«.Wenn alles geklappt hatte, wurde die Verbindung vomBND geführt. Wir mussten regelmäßigen Kontakt pflegenund unseren »Stay Behind «-Mitarbeiter schulen.

Gegen 1986 wurde das System variabler gestaltet. DieTippgewinnung blieb unverändert. Die dazugehörigen per-sonenbezogenen Daten holten wir uns von Meldeämternund Passstellen. Aber auch andere lokale Behörden, wiePolizeistationen oder Wehrkreisverwaltungen, wurden beiBedarf hinzugezogen. Die Bereiche Werbung, Anbahnungund Führung wurden immer stärker in einer Hand ver-einigt. Das bedeutet, der Anbahner warb seine Quelleselbst und führte sie dann in eigener Regie. Die Übergabevon einem zum anderen entfiel dadurch, und die Arbeitder Verbindungsführer wurde umfangreicher und interes-santer. Diese Art, Kontakte zu werben, lässt sich in grobenZügen auf alle Bereiche des BND, in denen man sichmenschlicher Quellen bedient, übertragen.

101

Page 103: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Bei »Stay Behind« gab es noch eine zwischengeschalteteKontrolle, die aus zwei Teilen bestand. Zum einen ging esum den Funkcheck. Was nützte die bestausgebildete und-motivierte Quelle, wenn es unmöglich war, aus ihremHaus Funksprüche abzusetzen? Aus diesem Grund wur-den bereits vor der »Klaransprache« die örtlichen Gege-benheiten untersucht. Die Geländemerkmale in der Um-gebung des Objekts spielten eine wichtige Rolle, zumBeispiel die Existenz größerer Gebäude oder von Einrich-tungen, die den Funkverkehr beeinflussen oder gar ver-hindern konnten. Verlief der ersten Check positiv, wurdeein zweiter durchgeführt.

Beim AFU-(Außenfunk)Check 2 untersuchten wir dasObjekt selbst. Es war wichtig, ob das Dach mit Dämm-wolle und Alufolie isoliert war. In diesem Fall wurde derFunkverkehr über weite Distanzen erheblich beeinträch-tigt. Wir führten Messungen in der unmittelbaren Umge-bung des Objekts durch und funkten selbst testhalber. Erstwenn alle Faktoren für die Werbung einer bestimmtenZielperson positiv in das Raster passten, sprachen wir sieoffen an.

In jedem einzelnen Fall konnte sich diese Prozedur mo-natelang ausdehnen. Um überhaupt an Informationen zukommen, die unsere Entscheidungen erleichterten, be-dienten wir uns der Legende eines Meinungsforschungs-instituts, das wir selbst gegründet hatten. Dazu hatten wirfür »Stay Behind« zwei Postfachadressen mit Kontaktte-lefonnummern eingerichtet. Jeder Anbahner konnte nacheigenem Gusto darüber verfügen. Die Fragebogen bestan-den in der Regel aus rund zwanzig Punkten zu allgemei-nen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Themen.

Damit gingen wir zu den jeweiligen Zielpersonen underklärten ihnen, sie seien für eine Repräsentativumfrageausgewählt worden. Wenn sie bereit waren, die Fragen zubeantworten, baten wir darum, alles im Haus erledigen zu

102

Page 104: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

dürfen. So erhielten wir einen ersten Eindruck über diepersönlichen Lebensverhältnisse. In dem Testbogen warenauch Fragen versteckt, die zur Abklärung persönlicher Da-ten dienten. Wir bemühten uns, mit den Zielpersonen inein persönliches Gespräch zu kommen, um noch mehrüber sie zu erfahren. War das Interview positiv verlaufenund eine weitere Anbahnung wahrscheinlich, dann zahl-ten wir ein kleines Honorar von zehn bis zwanzig Markaus.

Schließlich fragten wir unsere Gesprächspartner, ob wirfür ein so genanntes Fachinterview nochmals kommendürften. Wenn auch das möglich war, füllten wir mit derPerson unseres Interesses von Zeit zu Zeit so genannteFachfragebögen aus. Dabei ging es dann um Staatstreueund Loyalität oder um die Einstellung gegenüber Behör-den und staatlichen Organisationen.

Ganz gezielt wurde die Grundeinstellung der möglichenkünftigen Mitarbeiter abgefragt. Bei Ehepaaren hatten wireinen speziellen Partnerfragebogen parat. In der Regel be-nötigten wir drei bis sechs Besuche, um alle wichtigen Fra-genkomplexe abzuarbeiten. Waren sämtliche Informationenausgewertet und passte das Gesamtbild einer Zielpersonin das vorgegebene Bedarfsprofil, ordnete unsere Füh-rungsstelle die Werbung an.

Dazu vereinbarten wir mit den »Kandidaten« einen ge-eigneten Abendtermin. Beide Ehepartner sollten anwesendsein. Recht zügig nach Beginn des Treffens schenkten wirden Gastgebern »reinen Wein« ein. Als Beweis für unsereZugehörigkeit zum BND wurden beispielsweise der Dienst-ausweis oder andere reguläre Papiere vorgelegt. Wenn dieZielpersonen unsere Identität anzweifelten, dann botenwir ihnen den »Bonitätsbeweis« an.

Zunächst mussten sich die »Stay Behind«-Kandidatenvon der Telefonauskunft die Nummer des BND geben las-sen. Wir baten sie, den Beamten vom Dienst anzurufen.

103

Page 105: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Dem wurde dann aus den Ausweispapieren des Verbin-dungsführers die Nummer oder das Geburtsdatum bezie-hungsweise der Name durchgegeben. Der BND vervoll-ständigte dann die Angaben, indem er dem Anrufer dieLaufzeit des Dokuments oder irgendeine andere ergän-zende Information gab.

So sinnvoll dieser Bonitätsbeweis war, nach der Wendekam etwas ganz Fatales ans Tageslicht. Die Staatssicher-heit der DDR hatte die BND-Beamten vom Dienst überlange Jahre abgehört. So konnten sie die Daten von Deck-papieren und anderen Dokumenten ziemlich lückenlossammeln. Die Stasi drehte dann den Spieß um und be-nutzte eigene gefälschte Papiere mit den Daten von BND-Leuten.

Am ersten Abend unserer gemeinsamen Reise stiegenwir in einem kleinen Hotel an der Ems ab. Mein Chef ver-abschiedete sich für zwei Stunden, um das QuellenehepaarDeister aufzusuchen und die Übergabe dieser Quelle anmich vorzubereiten. Auf die Deisters war der Dienstwa-gen im »Heidehaus« angemeldet. Sie waren so genannteKFZ-Deckkennzeichengeber, kurz KFZ DA (Kraftfahrzeug-Deckadresse). Die Kosten für Steuer und Versicherungwurden ihnen regelmäßig vom BND erstattet. Gab es Pro-bleme, zum Beispiel Nachfragen der Polizei bei Verkehrsver-stößen, dann informierten die Betroffenen über eine Not-rufnummer den zuständigen Verbindungsführer. "Wolltejemand unerwartet den Wagen sehen, dann mussten sie sa-gen, er sei gerade an einen Bekannten ausgeliehen worden.Einmal im Quartal legten wir dafür ein kleines Entgeltdrauf. Das hielt den Teamgeist konsequent hoch.

Mit dem Ehepaar Deister wurde bei einem gemeinsa-men Abendessen die veränderte Situation besprochen. Dasnahmen die beiden weitgehend kommentarlos hin. Einesfiel mir allerdings bei der Unterredung auf. Eine Tatsache,die ich später auch bei anderen nachrichtendienstlichen

104

Page 106: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Verbindungen feststellen konnte: Es war die ehrfürchtige,fast unterwürfige Haltung der Mitarbeiter gegenüber denVerbindungsführern.

In ihren Augen waren die Kontaktleute des BND etwasganz Besonderes. Sie verfügten über Geld, bewegten sichkonspirativ, besaßen Tarnpapiere und so weiter. Diesen007-Nimbus pflegten natürlich viele Verbindungsführer,vor allem die Eitlen unter ihnen. Auf der anderen Seite gabes auch so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl der Quel-len. Sie durften im Auftrag des Staates etwas Heimlichestun, irgendwie illegal und unbeobachtet. Das stärkte ihrEgo.

Am nächsten Tag fuhren wir weiter in Richtung Schles-wig-Holstein. Im Raum Heide wurde noch eine »Stay Be-hind«-Quelle gesucht. Wir hatten einige Tipps dabei undsichteten diese bei einer Kaffeepause in Rantrum. Für denRaum Husum verfügten wir über zehn Zielpersonen. Andiesem Nachmittag wollten wir es bei zweien versuchen.Unsere Planung sah vor, erst einmal eine so genannte Ver-bindungs- und Weiterleitungs- (VWL-) Quelle anzuwer-ben.

Das waren Helfer, die zum Schleusen von Personen ge-nutzt wurden. Mit unserem ausgeklügelten System solltensie im Ernstfall Gefährdete unerkannt durch das gesamteBundesgebiet schaffen, ohne dabei Hauptverkehrswege zubenutzen. Die Routen waren vorbereitet und getestet. Sieführten zumeist durch Wälder und anderes schlecht zu-gängliches Terrain. Unsere Verbindungsleute bekamen alleUtensilien, die sie für solche Aktionen brauchten, von derTaschenlampe bis zum Rucksack.*

Jede Quelle verfügte über ein Dauerversteck (DV), indem die Hilfsmittel langfristig lagen. Im Normalfall wardas ein Metallbehälter, der nach unseren exakten Vorga-ben vergraben wurde. Jedes Dauerversteck war auf eige-nen Karten für den Verbindungsführer (VF), die Quelle

105

Page 107: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

und die Führungsstelle eingezeichnet. VF und Quelle muss-ten zudem einmal im Quartal den Behälter überprüfen.Das erledigten sie mit einem stabilen Metalldraht, denman an der im Plan ausgewiesenen Stelle ins Erdreich stieß.Ein metallener Widerstand zeigte, dass sie an der richtigenStelle suchten.

Im Raum Husum benötigten wir nun etwas ganz Spe-zielles, eine VWL-See-Quelle. Diese Person hatte im Kriegs-fall sicherzustellen, dass Agenten oder Einzelkämpfer vonSee aus bei Nacht und Nebel ungesehen anlanden konn-ten. Dazu musste unsere Quelle nicht nur funktechnischausgebildet werden. Sie sollte auch in der Lage sein, miteinem »Lampenschema« ein U-Boot oder andere Schiffein Strandnähe zu dirigieren. Die Quelle musste körperlichfit und geistig flexibel sein. Waren die heimlichen Besuchererst einmal angekommen, dann benötigten sie auch Hilfefür die Weiterreise an ihr Ziel im Inland.

Das waren die Vorgaben. Ein »Gehilfe« für die See-Quelle war bereits vor Jahren angeworben worden. Esfehlte aber immer noch die richtige See-Quelle. Die beidenMänner würden sich erst bei einem echten Einsatz kennenlernen. Sie durften nur dann zusammengeführt werden.

Mit diesem Anforderungsprofil im Hinterkopf erreich-ten wir das Krabben-Mekka Husum. Die erste Adresse be-fand sich in Simonsberg, südlich der Stadt, direkt an derKüste gelegen. Das Haus sah verwahrlost aus, das Grund-stück wirkte ungepflegt. Eine Frau im Alter von Mittedreißig öffnete uns die Tür.

Mein Chef fing sofort mit der üblichen Masche an: » Gu-ten Tag, wir kommen vom Avacon-Befragungsdienst miteiner repräsentativen Meinungsumfrage. Sie sind dafürausgewählt worden. Würden Sie uns ein Interview ge-ben?« Die Frau willigte ein und beantwortete jede unsererFragen. Sie war sogar ziemlich redselig. Nach einigen Mi-nuten war uns aber schon klar, dass wir hier unsere Zeit

106

Page 108: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

umsonst vergeudeten. Der Ehemann hatte sich von ihr ge-trennt, und das Haus stand zum Verkauf.

Auf dem Weg zum Auto jammerte mein Chef: »Schade,selten genug, dass mich jemand reinbittet. Hoffentlichwerden wir in diesem Bereich bald fündig. So viele geeig-nete Objekte, dicht am Wasser gelegen, gibt es nicht. Ichhabe hier schon eine Menge Tipps verbraten.« Er war sicht-lich frustriert.

Für den zweiten Anlauf wählten wir eine Person, die amOrtsrand von Husum in einem Reiheneckhaus lebte. Wirstellten unseren Wagen vorschriftsmäßig außer Sichtweiteauf dem Parkplatz eines Supermarktes ab und gingen aufdas Haus zu. Einige Jahre später sollte diese Familie imZusammenhang mit ihrer BND-Mitarbeit völlig unberech-tigte Ärgernisse in einem solchen Ausmaß erleiden, dassich mir heute wünsche, ich hätte dies an jenem Tag geahnt.Wir aber klingelten und eine attraktive, junge Frau öffnetedie Tür einen Spalt breit.

»Guten Tag, wir fuhren eine Meinungsumfrage durch. Siesind dafür repräsentativ ausgewählt worden ...« - »Mo-ment mal«, antwortete die Frau und drehte sich um: »Hans-Peter, kommst du mal bitte.« Einen Augenblick späterstand er in der Tür. Er öffnete sie ganz weit. Die Ehefrauraunte noch etwas wie »Meinungsumfrage oder so«. Dafragte er schon: »Worum geht es?« Mein Chef antworteterasch: »Wir kommen von der Avacon und haben Sie füreine Umfrage ausgewählt.« Dann deutete er auf mich:»Dieser neue Kollege wird gerade eingearbeitet. Haben Sieetwas dagegen, wenn er an dem kurzen Gespräch teil-nimmt? Es dauert höchstens zehn Minuten.«

Wir wurden in das Wohnzimmer gebeten. Der Chefspulte seinen Fragebogen ab. Die Zielperson war freund-lich und kooperativ. Nachdem wir fertig waren, fragte ichihn, ob wir in nächster Zeit nochmals vorbeischauen dürf-ten, für eine Sonderbefragung zur Familienpolitik. »Aber

107

Page 109: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gerne«, antwortete er, »klingeln Sie einfach, wenn Sie wie-der in der Nähe sind.«

Auf dem Rückweg war ich richtig begeistert. Das Inter-view hatte geklappt, und für den nächsten Termin war al-les vorbereitet. Mein Chef gab sich skeptisch: »Na ja, erstmal abwarten. Das sagt noch gar nichts.« Irgendwie passtees ihm nicht, dass alles so reibungslos gelaufen war. Aberwas sollte ihn die Sache kümmern, er würde ohnehin baldversetzt.

Am nächsten Tag musste ich eine zweite Quelle über-nehmen, ebenfalls eine KFZ-Deckadresse. Ein Goldschmiedaus Eckernförde gab seinen Namen und seine Adresse füreines unserer Deckkennzeichen her. Wir trafen uns ineinem Cafe in Schleswig. Nach einer knappen Stunde waralles erledigt. Der Mann war zwar steinreich, aber er nahmtrotzdem einen kleinen Obolus an, denn er genoss ganz of-fensichtlich die Heimlichtuerei drum herum.

Ich sah die Ausbeute der ersten Rundreise als optimalan. Zwei KFZ-Deckadressen übernommen und eine Op-tion auf eine mögliche »Stay Behind«-Quelle. Daraufplante ich zwei Wochen später gleich wieder eine »Nord-land«-Anbahnungstour; mich zog es ins beschauliche Hu-sum. Ich wollte unbedingt ein weiteres Gespräch mit demEhepaar aus dem Reihenhaus führen. Im Gegensatz zumeinem Chef hatte ich ein gutes Gefühl gehabt. Und beiihm war es wohl »Zweckpessimismus« gewesen.

Diesmal bereitete ich den Familienfragebogen vor. Damitwürden wir klammheimlich die wichtigsten personenbe-zogenen Daten erhalten. Bei den Fragen ging es um Schei-dung, Adoption von Kindern, Grundeigentum und Erb-schaftsangelegenheiten. Wie versprochen, meldete ich michtelefonisch an. Der Ehemann erinnerte sich sofort an unsererstes Gespräch und stimmte einem zweiten zu. Ehe ich michversah, stand ich mit Herzklopfen wieder vor der Haustür.

Der Mann öffnete und begrüßte mich freundlich mit

108

Page 110: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

einem deutlich zu hörenden norddeutschen Dialekt. »Ja,hallo, pünktlich wie die Maurer. Na, dann kommen Sieman mit durch.« Diesmal passierten wir die Essecke, wowir letztes Mal miteinander gesprochen hatten, und ließenuns in den gemütlichen Ledersesseln im Wohnzimmer nie-der. Die Ehefrau reichte Kaffee und Gebäck. Eine gewisseVertrautheit kam auf.

Meine Gastgeber waren ausgesprochen freundlich undbeantworteten alle Fragen zügig und ohne Umschweife.Wir kamen sogar zu politischen Themen. Dabei erzählteer mir von seiner Mitgliedschaft in der CDU. Seine Fraufavorisierte dagegen die Sozialdemokraten. Beide schienenauch hier offen und tolerant zu sein. Wir waren uns sym-pathisch und plauderten fast eine Stunde lang. Auf demHeimweg rief ich den Leiter »Operationen« an. Auch Hillwar begeistert.

Die folgenden Kontakte liefen ähnlich gut. Mein ersterEindruck war also richtig gewesen. Die Freude über denguten Verlauf der Operation übertrug sich auch auf dieFührungsstelle in München. Nach einigen Wochen solltebereits die Klaransprache folgen. Vorher wurde ich abernochmals in die Zentrale beordert. Hill und Ollhauermeinten, ich sollte vor der Klaransprache, dienstintern als»die Hose runterlassen« beschrieben, die letzten Weihenerhalten. Zu oft war in der Vergangenheit gerade bei dersensiblen Schlussphase etwas danebengegangen. Das wollteOllhauer verhindern.

Von ihm erfuhr ich, dass manche Kandidaten auf einesolche Eröffnung ungehalten, andere sogar äußerst wütendreagierten. Einigen Verbindungsführern stand sogar in sol-chen Momenten plötzlich die örtliche Polizei gegenüber.Es wollte eben nicht jeder mit Schlapphüten kooperieren.Das Misstrauen gegenüber dem BND schien größer, alsman allgemein annehmen würde. Später erwies sich, dassdieses Misstrauen auch mehr als begründet war.

109

Page 111: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

In München schilderte ich »mein« Husumer Ehepaar inden tollsten Farben und schlug eine rasche Klaransprachevor. Ich konnte dabei kein Problem erkennen. Nach einerkurzen Nachdenkpause rief mich Hill zu sich: »Ollhauerhat genickt. Wann wollen Sie wieder rauf?«

Es sollte gleich Anfang der Woche sein, denn dann konnteich zwei Tage später meinen Folgetreff einplanen. Da lagkein langes Wochenende dazwischen. Die Erfahrung deranderen zeigte, dass Bedenkzeit über ein Wochenende dieGefahr einer Absage durch die Zielperson deutlich ver-größerte. Hill war begeistert und drückte mir seine Pri-vatnummer in die Hand: »Melden Sie sich immer vor undnach den Treffs bei mir. Ich hole Sie schon raus, wenn Sieeinsitzen, Dannau.« Er schien sich köstlich zu amüsieren.

Ich wusste sehr wohl, was er meinte. Einer der Anbah-ner hatte kürzlich eine ganze Nacht in Polizeigewahrsamgesessen. Er hatte sich zwar gegenüber den Uniformiertenausgewiesen, aber in Pullach, wo die Polizisten nachfrag-ten, kannte angeblich niemand seinen Decknamen. Erst alssich der Verbindungsführer am nächsten Tag immer nochnicht bei seiner Dienststelle gemeldet hatte, wurden dieVorgesetzten unruhig und fingen an, nach ihm zu suchen.

In meinem besonderen Fall blieb ich von alledem ver-schont. Die Werbung verlief reibungslos. Cornelsen, so derspätere Deckname, reagierte positiv und war neugierig,worum es bei unserer Tätigkeit ging. Seine Ehefrau gabsich reservierter. Sie stellte Fragen und hakte nach, wollteauch nicht sofort zusagen. Ich beruhigte sie. Sie solle sichalle offenen Fragen aufschreiben. Beim nächsten Malwürde ich alles ausführlich und ungeschminkt beantwor-ten. Wenn sie sich dann immer noch nicht mit einer Mit-arbeit anfreunden könne, dann würden wir uns nie mehrmelden und auch sämtliche Unterlagen vernichten.

Für einen Moment beschlich mich ein schlechtes Gewis-sen. Ich wusste doch, dass bestimmte Daten weiter gespei-

110

Page 112: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

chert blieben. Der Dienst hatte sein eigenes Datenschutz-konzept. Das Ehepaar schien Gefallen zu finden an der ge-heimen Aufgabe, so dass ein Ja immer wahrscheinlicherwurde. Als der Ehemann jedem von uns einen Cognac ein-schenkte, war mir klar, dass ich gewonnen hatte.

Beim nächsten Kontakt, der noch in derselben Wochefolgte, lud ich beide zum Essen ein. Bei dieser Gelegenheitsagten sie zu. Ich garantierte ihnen absolute Diskretion.Niemand sollte und durfte von ihrer Tätigkeit für denBND und »Stay Behind« erfahren.

Wenn ich nur damals schon gewusst hätte, wie wenigsich der BND selbst an dieses Versprechen halten würde!Mit Hilfe der Staatsanwaltschaft München fiel der Dienstim Dezember 1998 ganz offiziell in den Geschäftsräumendes Bankkaufmanns Cornelsen ein und legte seine exzel-lente Arbeit für uns fahrlässig offen. Der Abteilungsleiterund seine Frau wurden damals von den Ermittlern wie ge-meine Kriminelle vernommen. Ohne triftigen Grund, rück-sichtslos, und ohne dass dies letztlich der Aufklärung eineraufgebauschten Staatsaffäre dienen konnte. Die Folge fürbeide waren ernste persönliche Schwierigkeiten. WennPullach merkt, was alles mutwillig kaputtgemacht wird,ist es immer zu spät. Und niemand zieht eine Entschuldi-gung auch nur in Betracht.

Nach meiner Werbung der Cornelsens verkündete ichstolz meinen Erfolg. Mit Lob und Schulterklopfen wurdenicht gespart. Also lief die nächste Phase an. Ich bereiteteein Ausbildungsprogramm für das Husumer Ehepaar vor.Parallel dazu suchte ich weitere Mitarbeiter, graste vonItzehoe bis Flensburg drei Dutzend Tipps ab. Ein paar die-ser Interviews sollten erfolgreich verlaufen.

Von einem der neuen Kontakte will ich ausführlicher be-richten. Es geschah in Dithmarschen, oder genauer gesagt inMarne, einem kleinen Nest hinterm Deich. Als ich klopfte,

111

Page 113: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

öffnete mir eine kleine, dunkelhaarige Frau, die offensicht-lich gerade aus der Küche kam. Sie hatte ein Geschirrtuchin der Hand und trug eine Schürze. Nachdem ich meinenSpruch heruntergespult hatte, lachte sie hell auf: »Sie sindja ein echter Glückspilz. Wenn jetzt mein Mann hier wäre,dann hätte er Sie hochkant vom Hof geschmissen.« Miteinem Grinsen beantwortete sie meinen schüchternen Ver-such, eine Erklärung abzugeben: »Nun gut, Sie können jagegen 18 Uhr noch einmal kommen. Das wird bestimmtlustig. Dann ist mein Mann zu Hause. Aber da müssen Sieschon richtig mutig sein. Der steht nämlich überhauptnicht auf Hausierer.« Sie lachte und verschwand im Haus.

Tief frustriert steuerte ich Friedrichskoog an. Dort hatteich noch zwei Tipps zu bearbeiten. An diesem Tag erlebteich zum ersten Mal die Einsamkeit des Anbahners. Wersich konspirativ verhalten und unauffällig bleiben will,muss auch den Kontakt zu anderen Menschen möglichstmeiden und sich so wenig wie möglich in den Vordergrunddrängen. Wenn Geschäftsleute abends an der Hotelbar ho-cken und sich gegenseitig ihre Erfolge erzählen, ist es füreinen operativ Tätigen sinnvoll, fernzubleiben. Das hatteich in den ersten Tagen nicht so empfunden. Mit begin-nender Routine drang jedoch dieses Gefühl durch, ver-bunden mit einem wachsenden Defizit an ganz persön-lichen menschlichen Kontakten.

Es war bereits später Nachmittag, als ich in einem klei-nen Cafe saß und in den prasselnden Regen starrte. Dasdämmrige Licht, der starke Wind und das viele Wasservom Himmel - in einer solchen Stimmung muss TheodorStorni seine Geschichten geschrieben haben. Nein, zu demrabiaten Ehemann würde ich nicht mehr zurückkehren.Ich war überzeugt, dass ich mir das auf alle Fälle ersparensollte. Doch plötzlich, ich weiß nicht mehr warum, kamder Sinneswandel. Ich staunte selbst über mich. Diesenwilden Typen sollte ich mir anschauen, dachte ich. Eine

112

Page 114: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Herausforderung ist dazu da, bewältigt zu werden. Ge-sagt, getan.

Als ich nach Marne zurückkehrte, war mir klar, dass ernun da sein musste. Der weiße Ford Fiesta hatte vorhernicht dort gestanden. Ich atmete tief durch und klopfte.Beim zweiten Klopfen schallte mir ein Brüllen im lokalenDialekt entgegen: »Herrgott, ich komme ja schon. Ich kanndoch nicht so schnell - ich bin Beamter.« Die Tür öffnetesich und ein Hüne stand vor mir. Er füllte den gesamtenEingang aus. Der Mann streckte seinen Kopf nach vorneund fragte in einem breiten Tonfall: »Biitteee?« Ich sagteerst einmal gar nichts und dachte nur: »Norbert, was hastdu getan? Keiner hat dich gezwungen, hier noch einmalherzufahren.«

Da ich erwartete, sofort eine gelangt zu bekommen,brachte ich nur ein schüchternes »N'Abend, Meinungs-umfrage« heraus. »Ach ja«, hörte ich ihn sagen, »meineFrau hat mir schon von Ihnen erzählt.« Zu meiner totalenVerblüffung fuhr er fort: »Na, dann immer mal rein in diegute Stube.« Ehe ich mich versah, saß ich in einer gemüt-lichen Polsterecke des Wohnzimmers. Völlig verunsichertbegann ich mit meinem Interview, denn ich konnte die Si-tuation noch gar nicht einschätzen.

Es war unglaublich. Die Zielperson beantwortete nichtnur die Standardfragen. Der »Riese« erzählte auch nochüber sich, seine Familie und sein Haus. Er war Beamtereiner holsteinischen Landesbehörde. Seine Eltern hattenfrüher eine umfängliche Landwirtschaft betrieben. DieseLändereien waren inzwischen verpachtet, und er nutzte sienur noch zur Jagd. Alle guten Kriterien einer »Stay Be-hind«-Quelle schienen in diesem Mann vereint zu sein. Icherkannte das ziemlich schnell und sollte mich dabei nichttäuschen.

Mein Gastgeber, nennen wir ihn Eilers, stellte mir sogarseine Kinder vor. Jenny war gerade eingeschult worden,

113

Page 115: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

und der zwei Jahre jüngere Florian begleitete den Vater be-reits zur Jagd. Eilers sprach ihn an: »Florian, erzähl maldem Herrn, was wir machen, wenn wir eine Katze im Busch(gemeint war sein Jagdrevier) antreffen.« Mit einer tiefenReibeisenstimme tönte der Kleine wie einstudiert: »Derknallen wir was mit Schrot vor'n Arsch.« Der Papa nicktestolz.

Eilers und ich unterschieden uns ganz entschieden. Unddoch verstanden wir uns schon beim ersten Mal. Dass sichhier eine beständige Freundschaft entwickeln würde, hätteich damals nicht vermutet. Der Kontakt reichte späterweit über seine Tätigkeit als Beschaffungshelfer hinaus.

Die ersten Treffen erfolgten noch unter der Legende»Meinungsforschung«. Wir arbeiteten die bekannten Frage-bögen ab. Bei meinem vierten Besuch standen schon belegteBrote auf dem Tisch. Ich beantragte bei meiner MünchnerFührungsstelle die Freigabe der Klaransprache. Sie ließnicht lange auf sich warten. Nun wurde es ernst. Ich fuhrwieder nach Marne und arbeitete mit Eilers zur Einstim-mung den Fragebogen »Sicherheitsdienste« ab. Dabei er-kundete ich die Einstellung des Befragten zu Behörden, zuPolizei und Geheimdiensten. Dieses Papier war in der Regelder letzte Fragenkatalog vor der Klaransprache. Wenn alleFragen positiv beantwortet waren, durfte ich mich outen.

Eilers und seine Frau, die übrigens skeptischer war alser, beantworteten alles zu meiner Zufriedenheit. Zögerlichleitete ich über zum Geständnis: »Ich muss Ihnen etwasbeichten. Ich gehöre zu keinem Meinungsforschungsinsti-tut.« Weiter kam ich gar nicht, weil mir Eilers ins Wortfiel. Er grinste seine Frau an und klopfte sich auf denOberschenkel. »Ich hab's doch gewusst, dass da irgendet-was anderes dahinter steckt. Habe ich mich doch nicht ge-täuscht. Das hatte ich doch im Urin.« Um die Prozedur ab-zukürzen, erklärte ich ihm das Bonitätsverfahren. Er müssenun bei meiner Dienststelle anrufen. »Und«, fragte Eilers,

114

Page 116: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»wo ist die? Beim BKA, dem MAD, oder ist es der Verfas-sungsschutz, oder die Mafia?« - »Nein, keiner davon. Esist der Bundesnachrichtendienst.«

»Dann gib mal gleich die Nummer, ich werde mit dei-nem Chef ein paar Worte wechseln«, kam es fordernd vomSofa. »Soll ich ihm etwas Nettes über dich sagen? Viel-leicht steht ja 'ne Beförderung an.« Er folgte meinen An-weisungen und fragte die Auskunft nach der Rufnummerdes BND. Eilers wurde immer aufgekratzter, seine Frauimmer nachdenklicher. »Wie? Nein! Aber wieso? Und un-ter Pullach? Auch nicht, das verstehe ich nicht.« Er reichtemir den Hörer. Am anderen Ende hörte ich eine freundlicheStimme, die mir versicherte, dass sie die Rufnummer nichtherausgeben könne. Ich ließ mich mit dem Schichtleiterverbinden.

Auch er gab sich freundlich, aber bestimmt: »Ja, die Ruf-nummer vom BND ist hier schon verzeichnet. Dabei musses sich aber um ein Versehen handeln. Ich kann mir wirk-lich nicht vorstellen, dass es beabsichtigt ist, diesen An-schluss zu veröffentlichen. Deshalb haben alle meine Mit-arbeiter die Anweisung erhalten, keinerlei Angaben zumachen. Es muss sich um einen EDV-Fehler handeln,wenn diese geheime Rufnummer bei uns angezeigt wird.«Mit Engelszungen redete ich auf den Mann von der Aus-kunft ein, aber es brachte wirklich nichts. Selbst der Ein-wand, dass die Nummer des BND in jedem Münchner Tele-fonbuch verzeichnet sei, brachte uns nicht weiter. MeinStanding bei den beiden Zielpersonen ließ deutlich nach.

Ich stellte meine Versuche ein und bat Eilers, die von mirmitgebrachte Nummer des diensthabenden Beamten an-zurufen. Das tat er auch: »Hier ist Werner. Ich möchte eineBonitätsprüfung durchführen.« Es ging kurz hin und her.Dann reichte er mir wieder schmunzelnd den Hörer. DerMann am anderen Ende wies mich zurecht: »Da haben Siewohl den falschen Augenblick gewählt. Es ist Donnerstag!«

115

Page 117: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Ich weiß«, polterte ich zurück. »Tja, und nach 18 Uhr«,fuhr er fort. »Das weiß ich«, kam es von mir, »ich habeauch eine Uhr. Na und?« - »Nichts na und«, schimpfte erweiter. »Haben Sie den Umlauf nicht gelesen?« In mir stiegeine große Einsamkeit empor.

»Welchen Umlauf?« Er nannte eine achtstellige Zahl.Nun schwoll mir der Kamm. Merkte dieser Armleuchternicht, dass ich hier auf weiter Flur mit der Nummer nichtsanfangen konnte? »Und was steht in diesem Umlauf?« -»Das kann ich am Telefon nicht sagen!« Ich begann zukochen. Werner Eilers deutete mir an, dass er in der Kü-che ein Bier für uns holen würde. Als er außer Sicht war,befand ich mich einen kleinen Moment allein im Wohn-zimmer. Allein mit einem offensichtlich Wahnsinnigen ander Strippe, der dabei war, mein schönes Werbungsge-spräch in den Sand zu setzen.

»Hören Sie zu, Mann, werter Herr Kollege. Ich bin hierin einem wichtigen, außerordentlich wichtigen Gespräch.Alles hängt nun von dieser Scheiß-Bonitatsprüfung ab.Und wenn Sie mir nicht gleich sagen, worum es sich in die-sem Umlauf handelt und warum Sie mir nicht weiterhel-fen wollen, dann ziehe ich Sie mit dem Arsch voran durchdiese Telefonleitung. Mann, haben Sie mich verstanden?«Er schien ein bisschen beeindruckt zu sein, weil er vor-sichtig einlenkte.

Nach einer kurzen Pause begann er leise, als würde erdurch die zusammengebissenen Zähne sprechen, mir etwaszuzuraunen. »Donnerstags, 18 bis 23 Uhr, ist keine Boni-tätsprüfung mehr möglich. Da wird doch jetzt jede Wocheder Zentralrechner in der Zentrale gewartet. Da kommtder BvD an keine Daten. Es geht nicht. Sorry!« Als er mirdas zuwisperte, vermittelte er den Eindruck, als habe ersich dabei dreimal umgedreht, um sicher zu sein, dass ihmdabei auch niemand zuhörte.

Ich war geplättet. Werner stand mit zwei Flaschen Bier

116

Page 118: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

vor mir. »Na, mein Jung«, strahlte er mich an, »das warwohl nüscht? Macht nichts, Kopf hoch, ich glaub dir auchso. Die Tatsache, dass es nicht geklappt hat, ist für michder Beweis, dass es sich hier wirklich um eine Bundesbe-hörde handeln muss.« Er stieß mit mir an und leerte seineFlasche Bier in einem Zug. »Auf gute Zusammenarbeit!«

Wir setzten uns wieder, und mir war hundeelend. Meineganze zur Schau gestellte Professionalität hatte schwer ge-litten. Bedauerlicherweise sollte ich in den nächsten Jah-ren noch mehrere Beispiele erleben, wie der weltfremdeApparat des BND erfolgreiche Frontarbeit in unglaub-licher Weise erschwert und manches Mal sogar völlig ver-hindert hat.

Die Antenne in der Wäscheleine

Für meine Paradequellen Eilers und Cornelsen musste eineInfrastruktur aufgebaut werden. Zunächst wurde für Eilersein Schreibtisch gekauft. Per Spedition ging er nach Mün-chen, und dort wurde vom BND ein Arbeitsversteck (AV)in Form eines doppelten Bodens eingebaut. Es befand sichim schweren Eichensockel. Darin konnte unser Mann seinFunkgerät und einige Unterlagen verstauen. Für das Funk-gerät ließen wir eine Antenne installieren. Sie befand sichin einer Wäscheleine, die auf dem Dachboden befestigtwurde.

Ein Kabel diente als Verbindung zwischen der »Wäsche-leinenantenne« und dem Funkgerät im Keller. Dafür muss-ten die Wände aufgestemmt und Löcher zwischen den Eta-gen gebohrt werden. Anschließend wurde alles neu tapeziertund gestrichen. Unter einer eigens angeschafften Auslege-ware verbanden wir Leitung und Anlage. Um nicht von der

117

Page 119: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Baustelle über Gebühr belästigt zu werden, schickte Eilersseine Familie über das Wochenende in einen vom Dienstbezahlten Kurzurlaub.

Für Cornelsen gestaltete sich der Einbau des Arbeitsver-stecks und der Antenne einfacher. Er hatte in seinem Schlaf-zimmer bereits einen privaten, versteckten Safe. Die An-tenne brachten wir ebenfalls im Schlafzimmer unter. Dafürließ ich sie in München in eine Tapetenkordel einfügen, diezwischen den Wänden und der Decke befestigt wurde. DieSuche nach einem Dauerversteck (DV) gestaltete sich beibeiden Quellen ähnlich. In unmittelbarer Nähe der Wohn-orte wurde jeweils in einem Waldstück, nahe an einemWanderweg, ein unauffälliger Platz gesucht, der sich trotz-dem gut beschreiben ließ. Nicht nur unsere Quelle mussteden Platz wiederfinden, sondern auch ein Ortsunkundiger.Und für beide sollte die Anwesenheit gut legendierbar sein.

Als wir die DVs gefunden hatten, wurden sie vom LeiterOperation (Op) genehmigt. Erst danach durften die Behäl-ter eingegraben werden. Dann legten unsere Leute verschie-dene neutrale Trefforte oder -strecken (NTRs) fest. Die Treff-punkte lagen am Wohnort der Quelle. Treffbeschreibungenlegten Tage und Uhrzeiten sowie Codewörter für die Treffsim Ernstfall schriftlich fest. Übungen mit so genanntenNeutraltreffs waren ein wichtiger Bestandteil der »StayBehind« -Ausbildung. Unsere Quellen reisten regelmäßigzu Treffübungen, bei denen sie Unbekannte kennen lernten.

Neutrale Trefforte dienten jeweils dazu, Kontakt mit un-bekannten Personen aufzunehmen. Konnte ein bestimm-ter Treffort nicht genutzt oder die festgelegte Zeit nichteingehalten werden, wurde der Ausweichtreffort (ANTR)angelaufen. Auch diese Örtlichkeit erkundete unser Teamund legte sie für alle Quellen fest. Nach dem ersten Kon-takt wurde vorschriftsmäßig ein Folgetreffort (FNTR) ver-einbart. Den FNTR legten immer ortsfremde Personenfest. Man konnte nämlich davon ausgehen, dass dieser

118

Page 120: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Punkt von einem Ortskundigen leichter gefunden würdeals umgekehrt. Die Quellen übten deshalb nicht nur dieDurchführung eines Treffs, sondern auch das Festlegenweiterer Treffkonditionen.

Noch eine Einrichtung musste für alle Quellen bestimmtwerden, der in Krisenzeiten für die Quellenführung sowichtige Ablageort (AO). Dabei handelte es sich um kleineVerstecke, in denen Kurznachrichten, Kartenausschnitteoder Treffkonditionen ohne persönlichen Kontakt überge-ben werden konnten. Zu den AOs gehörten Zinken, die sig-nalisierten, dass sich im Ablageort etwas befindet oderdass das Material aus dem AO geborgen worden war. Ichfavorisierte als AO Zaunpfähle aus einem runden Stahl-rohr. Sie verfügen über einen Plastikdeckel, der verhindernsoll, dass Regenwasser in das Rohr eindringen kann.

An der Innenseite eines solchen Deckels wurde derSchraubverschluss einer Hülse befestigt, zum Beispiel einesMetallröhrchens, in dem normalerweise edle Zigarrenaufbewahrt werden. Dann musste der Eingeweihte ledig-lich den Pfostendeckel abnehmen und das Röhrchen ab-schrauben. Auf diese Weise konnte sehr schnell ein Ablage-ort belegt oder aber geborgen werden. Die Hülsen wurdenjeweils einfach nur ausgewechselt.

Jeder Verbindungsführer pflegte seine persönlichen Vor-lieben. Manche bevorzugten in klassischer Manier alteSteinmauern, aus denen man in der Regel einen bestimm-ten Quader unschwer entfernen konnte. Andere favori-sierten Waldverstecke unter Wurzeln. Der Fantasie warenkeine Grenzen gesetzt. Lediglich die im »Stay Behind«-Handbuch festgelegten Kriterien mussten erfüllt werden.Im ersten Jahr befasste ich mich also mit dem Erstellen derQuelleninfrastruktur. Alle vier bis sechs Wochen besuchteich meine nachrichtendienstlichen Verbindungen (NDV),und schon bald waren die Grundvoraussetzungen für eineaktive Schulung gegeben.

119

Page 121: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Der Fortgang der Dinge verzögerte sich jedoch, weil ichin der Zwischenzeit mehrere schon langjährig aktive Quel-len von meinem Kollegen Urban übernehmen musste. DerGrund für diese plötzliche Aktion war eine unglaublicheGeschichte, die doch exemplarisch ist für viele ähnlicheFälle innerhalb des BND. In der Regel geht es dabei umMenschen, die auf Grund einer persönlichen Schwäche-phase niedergemacht und geschasst werden. Die ganzemenschliche Kälte des Mikrokosmos Nachrichtendiensttritt hier deutlich zutage.

»Charles Bronson« dreht durch

Was war passiert? Roland Urban, der »Charles Bronson«aus unserer Dienststelle, war einer der Engagiertesten undFleißigsten seiner Zunft. Immer gut aufgelegt, freundlichund hilfsbereit, nicht gekünstelt oder gestelzt, einfach»Stay Behind«-Urgestein. Er lebte bescheiden und tratrücksichtsvoll auf. Wenn jemand Hilfe oder einen fach-lichen Rat brauchte, Roland war für ihn da. Urplötzlichkursierten Gerüchte, er habe sich auf Kosten von Quellenbereichert. Mir erschien das fraglich. Er selbst war in derFolge wie verwandelt. Der einst offene Kollege wurde nurnoch als verschlossen und misstrauisch wahrgenommen.

Die »Stay Behind «-Quellen erhielten pro Quartal imSchnitt 300 D-Mark Entgelt, ein mehr als bescheidenes Sa-lär. Das war jeder Quelle bekannt. Also wurde immer vonallen quittiert und sauber abgerechnet. Auf welche Weisesollte Roland sich bereichern? Ihn selbst wollte ich zu-nächst nicht fragen, deshalb ging ich den Gerüchten nach,

120

Page 122: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

die im »Heidehaus« gestreut wurden und im »Sattelhof«offensichtlich auch schon angekommen waren.

Inzwischen hatte sich einiges getan. Lange geplant, warunser Chef gleich nach meinem Wechsel in das »Heide-haus« in ein anderes Referat abgewandert. Während einereinwöchigen Klausurtagung im »Reitstall« am Hohen Pei-ßenberg wurde der Kollege Tegtmeier zum neuen Dienst-stellenleiter gekürt. Ollhauer hatte ihn ganz simpel nachdem Prinzip »Wer ist der Dienstgradälteste?« ausgewählt.Das weckte Verdruss in der Dienststelle.

Roland Urban war, darüber gab es keinen Disput, weit-aus kompetenter als sein neuer Chef, dessen Qualitätenangezweifelt wurden. Das machte die Angelegenheit nochkomplizierter. Der konkrete Vorwurf gegen ihn lautete, erhabe sich von Quellen zum Essen einladen lassen und da-bei seine eigene Ersparnis nicht angegeben, wenn es umdie Berechnung der Tagegelder ging. Mit diesem Vorwurfwar auch noch das Gerücht verbunden, da gäbe es mögli-cherweise noch mehr Unkorrektheiten. Plötzlich stand dasböse Wort vom »Sicherheitsrisiko« im Raum, ohne dasses jemand erklären oder gar belegen wollte. Aus unsinni-gen und fahrlässigen Vorwürfen entstand bald eine wildeHatz gegen einen der Besten von »Stay Behind«.

Das Schlimmste sollte aber noch kommen: Es geschahan einem Dienstagvormittag. Das »Heidehaus« hatte Besuchaus München. Der Finanzverantwortliche für das Referat12C war vom Bonner Platz in München nach Hannovergekommen. Ohne Vorankündigung setzte er in regelmä-ßigen Abständen eine Kassenprüfung an. Allerdings hatteer wie immer am Vortag angerufen, damit man ihm einHotelzimmer besorgen konnte. So kamen ausnahmsweisealle Mitarbeiter des »Heidehauses« morgens um acht Uhrins Büro, um noch alle ausstehenden Abrechnungen fertigzu stellen.

Gegen neun Uhr traf der Münchner Finanzverantwort-

121

Page 123: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

liche ein. Trotz seiner Tätigkeit war er für uns keine Ne-gativfigur. Wir kannten ihn nur mit einem freundlichenLächeln auf den Lippen und mit klaren, intelligenten Au-gen. Seine leicht nach vorn gebeugte Haltung, die aufeinen Rundrücken zurückzuführen war, verriet den Büro-menschen. Er verhielt sich irgendwo zwischen superkor-rekt und pedantisch. Keiner hatte ihn je als Ankläger er-lebt. Wir sahen ihn eher als Helfer in der Not.

Er begann, Kasse, Bücher und Belege zu überprüfen.Nach etwa einer Stunde saßen der Tippbeschaffer Korbach,Udo und ich zusammen mit ihm in unserem Bespre-chungsraum. Bei einer Tasse Kaffee erzählte er uns von sei-nen Erlebnissen in Fernost, wo er sich eine Malariainfek-tion eingefangen hatte, unter deren Nachwirkungen erimmer noch zu leiden hatte. Dann sahen wir, wie RolandUrban mit einigen Schriftstücken in der Hand in das Bürovon Tegtmeier ging.

Plötzlich stand Tegtmeier vor uns. Er hielt eine Quittungin der Hand, drehte den Zettel hin und her, hielt ihn gegendas Licht, als würde er einen Geldschein auf Echtheitüberprüfen. Dann sagte er laut zu Roland, der immer nochin dessen Büro stand: »Na, mein Lieber, diese Unterschrifthast du doch selbst gemacht, oder?« In diesem Momenttat Tegtmeier ganz scheinheilig, als würde er uns gar nichtbemerken, und ging wieder zurück in sein Büro. Es war al-len klar, was er bezwecken wollte. Wenn er im Beiseineines wichtigen Mitarbeiters aus München solche Vorwürfein den Raum stellte, würde das erneut Gerede auslösen.Gerade der Kassenprüfer käme nicht umhin, diesen Vor-fall an Ollhauer weiterzumelden. Tegtmeier verschwandwieder. Unser Kollege aus München blickte uns verwirrtan und fragte: »Was sollte das jetzt?« Roland kam kreide-bleich aus dem Büro und stand zitternd vor uns. »Ihr glaubtdoch nicht, dass ich Unterschriften fälsche. Hier, das istdas Entgelt für Kiebel (eine langjährige Quelle, d. A.), ge-

122

Page 124: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

nau 300 Mark. Glaubt denn irgendeiner, dass ich dem wasklaue?«

Roland schlug immer wieder mit der Faust auf die be-sagte Quittung und redete sich in Rage. Er hatte, wie wiralle, sofort erkannt, was Tegtmeier mit ihm gemacht hatte.Dieser Vorwurf im Beisein des »Kopekenscheichs«, wieder Kassenprüfer von den Mitarbeitern neckisch genanntwurde, war ein Frontalangriff gewesen. Roland rasteteaus: »Ich bin kein Betrüger. Ich mache das Geschäft dochschon so viele Jahre.« Er rannte in sein Büro und kam miteinem ganzen Packen von Belegen und Abrechnungen zu-rück.

Er warf uns alles auf den Tisch. »Da schaut es euch an.Alles korrekt abgerechnet.« Dann griff er nach einem Teilder Papiere und warf sie in hohem Bogen in TegtmeiersBüro. »Da«, brüllte er wie von Sinnen, »kannst du allesnachrechnen.« Korbach, der aufgestanden war, drückte ereinen Packen in die Hand. »Sag mir, was ist da falsch?Habe ich was gefälscht?« Plötzlich klappte er einen Ak-tenordner auf. Gleich im Dutzend riss er die Blätter herausund warf sie in die Luft.

Dabei rannte er von einem Raum in den anderen undschrie: »Alles gefälscht, alles Lug und Trug. Wir sind dochalles Berufsganoven und Universaldilettanten. Hoch be-zahlte Staatsverbrecher sind wir.« Die Situation war grauen-voll. Roland hatte sich nicht mehr in der Hand. Er sprangauf den Schreibtisch und trampelte auf seinen Berichtenherum, kickte alles vom Schreibtisch. Ein Locher kam durchdie offene Tür geflogen. Wir schauten uns fassungslos an.Keiner wusste, wie man ihm helfen konnte.

Als Erster reagierte Korbach: »Mensch, Roland, keinerglaubt die Scheiße, die der Tegtmeier hier verbreitet. Nunberuhige dich doch erst einmal.« Aber Roland war völligzu. Er nahm überhaupt nichts wahr und stand zitternd voruns. Dann sank er auf die Knie. In flehendem Ton und mit

123

Page 125: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gefalteten Händen versicherte er: »Ich habe keine Unter-schrift gefälscht, ich betrüge nicht. Sagen Sie das bitte demOllhauen Das könnt ihr doch nicht mit mir machen.« Dabeibeugte er mehrfach den Oberkörper nach vorn und trom-melte mit den Fäusten auf den Fußboden.

Udo sprang auf und ergriff Rolands Schultern. Er zogihn hoch, und Roland sank in seine Arme. Dann fing erhemmungslos an zu weinen. Udo griff nach seiner schwar-zen Lederjacke und zog Roland aus dem Raum. »Komm,Junge«, sagte er zu ihm, »lass uns an die Luft gehen.« MeineKehle war wie zugeschnürt. Was mit einem Tobsuchtsan-fall begonnen hatte, war zu einem Nervenzusammenbruchmit Weinkrämpfen geworden. So etwas habe ich wedervorher noch nachher erlebt.

Der Verursacher war die ganze Zeit über in Deckung ge-blieben. Nun wagte er sich kleinlaut aus seinem Büro.Tegtmeier gab sich ratlos: »Ja, was war das jetzt? Das habeich doch nicht gewollt. Was mache ich jetzt? Ich muss die-sen Vorfall Ollhauer melden.« Korbach kochte vor Wut. Erherrschte Tegtmeier an. »Mein Lieber, das verantwortestdu. Ganz allein. Und überleg dir genau, was du sagst. Sonstkönnte es sein, dass ich auch einmal anfange zu plaudern.«

Irgendwie versuchte ich die Situation zu retten und be-gann zusammen mit Korbach auf unseren Kassenprüfereinzureden: »Wissen Sie, er ist nervlich momentan etwasangespannt. Das wird schon wieder. Das kann alles nur einMissverständnis sein.« Unsere Worte passten nicht rich-tig, denn das Büro sah aus wie ein Schlachtfeld, und imGeschäftszimmer saß die heulende Sekretärin. Eigentlichwirkte alles, was man nun sagte, dämlich. Also fingen wiran, das Chaos wieder zu beseitigen. Ab und zu schaute ichaus dem Fenster auf den großen Parkplatz, wo zwei guteFreunde Arm in Arm ihre Runden drehten.

Nach einiger Zeit kamen sie zurück. Roland blickte insein Büro und fragte erstaunt: »Was ist denn hier passiert?«

124

Page 126: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Er drehte sich zu mir um und legte den Kopf leicht zurSeite: »Das war doch nicht ich, oder?« Dabei presste erseine Fingerspitzen zusammen und drückte sie gegen dieBrust: »Oder etwa doch? Norbert sag, war ich das?« Ichnickte und zog meine Mundwinkel zur Seite: »Jau, Ro-land - ganze Arbeit!« Dann fasste ich ihn bei der Schulterund schob ihn in mein Büro. Er setzte sich, und ich schlossdie Tür. »Ich habe überhaupt keine Ahnung, was hier loswar. Das ist mir noch nie passiert.« Dann erschrak er:»Habe ich dem Tegtmeier was angetan?« Ich konnte ihnberuhigen: »Nein - leider nicht!« Er schmunzelte, und solangsam kam die Farbe zurück in sein Gesicht.

Die Folgen der Geschichte sind kurz, traurig und BND-typisch erzählt. Der Vorfall schlug hohe Wellen. Alle Mit-arbeiter wurden hochnotpeinlich befragt. Hill reiste eigensnach Hannover, um die Untersuchung persönlich zu lei-ten. Es sollten alle Vorwürfe gegen Roland lückenlos auf-geklärt werden. Zuerst wurde er aber für einige Wochenzur Kur geschickt. Die hausinternen Ermittlungen erga-ben, dass an den Vorwürfen gegen Roland nichts gestimmthatte. Nicht eine einzige falsche Abrechnung wurde ent-deckt.

Nur, Roland hatte bewiesen, dass er den extremen nerv-lichen Belastungen eines »Stay Behind«-Agenten nichtmehr standhalten konnte. So argumentierte der BND. AlsRoland von seiner Kur zurückkehrte, musste er alle Quel-len abgeben und wurde sofort in den vorzeitigen Ruhe-stand geschickt. Seine Enttäuschung über den BND warriesengroß.

125

Page 127: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Der Landeplatz im Aktenkoffer

Roland musste mir vier seiner Quellen übergeben. So bega-ben wir uns getrennt, jeder mit seinem Auto, auf die Rund-reise. Es war eine aufwändige Prozedur. Ich sollte die Quel-len nicht nur persönlich kennen lernen, sondern allebestehenden Einrichtungen übernehmen und begutachten.Für zwei der Mitarbeiter waren aufgrund ihrer Aufga-benstellung so genannte Absetzzonen (ASZ) erkundetworden. Sie lagen in der Nähe ihrer Wohnorte und muss-ten für sie schnell erreichbar sein. In diesen ASZ sollten imKriegsfall nachts Fallschirmspringer landen. Unsere Quel-len sollten sie dann zu Sabotagezielen und zu anderenSondereinsätzen weiterleiten.

Diese ASZ mussten ausreichend groß und offen sein, da-mit die Springer nicht gefährdet waren. Daneben sollte ih-nen ein kleiner Wald zur Verfügung stehen, damit sie so-fort ihre Schirme in einem Dauerversteck unterbringenkonnten. Zu der ASZ waren auch schon Trefforte (TO)bestimmt. Vor einem nächtlichen Absetzeinsatz musstensich nämlich Quelle und Gehilfe treffen, um alles vorzube-reiten. Zu einer Verbindungs- und Weiterleitungsquelle ge-hörten jeweils zwei Gehilfen. Quellen und Gehilfen durf-ten sich aber erst im Ernstfall kennen lernen. Wenn derVerbindungsführer eine Fallschirmausbildung hatte, wardas eine Idealsituation.

Nur ganz wenige Piloten der Bundeswehr beherrschtendieses Absetzverfahren. Ausschließlich mit solchen einge-wiesenen Crews übten wir Absetztechniken. Dabei gingnatürlich nicht immer alles glatt. Die Piloten mussten ent-sprechend tief fliegen, die kleinen Signal-Funzeln am Bo-den erkennen und die richtige Achse über der ASZ treffen.Kleine Fehler hatten hier verheerende Auswirkungen.Durch die geringe Höhe konnte es den Springern kaum

126

Page 128: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

mehr gelingen, einen Anflugfehler auszugleichen. Und sorauschte der eine oder andere »Stay Behind«-Mann unge-wollt in irgendeine Tannenschonung. Keinem ist dabeiernsthaft etwas passiert.

Ich erinnere mich ganz deutlich an eine Absetzübung derbesonderen Art. Eine Last sollte zu Boden schweben. DieTransall der Bundeswehr flog in geringer Höhe über dieASZ und verschwand wieder im Dunkeln. Alles war kor-rekt berechnet, auch der leichte Wind. Am Boden standendie »Stay Behind«-Quelle und zwei Mitarbeiter der Münch-ner Dienststelle. Sie traten als Quellengehilfen auf. DerVerbindungsführer beobachtete die Szene. Im Flugzeug be-fanden sich die angestammte Crew und ein Absetzer von»Stay Behind«.

Der zweite Anflug der Transall begann. An der Abwurf-stelle hörten sie schon das sich nähernde Grollen der beidenPropellertriebwerke. Die Übung wurde während der Ta-gesstunden durchgeführt, da sich die Quelle noch am An-fang ihrer Ausbildung befand. Nun rauschte das Flugzeugüber den Platz. Alles war perfekt, auch Windberechnungund Abdrift. Der Pilot hatte seine Anflugrichtung leichtkorrigiert. Die Heckklappe der Maschine war geöffnet,und im richtigen Moment rollte die Last aus dem Flieger.

Der Fallschirm zog sich auf, aber er öffnete sich nichtvorschriftsmäßig. Mit einer langen, knatternden Fall-schirmfahne surrte die Fracht abseits von der ASZ haar-scharf an einer kleinen Friedhofskapeile vorbei und knalltein einen nahe gelegenen Schrebergarten. Alle rannten sofortin diese Richtung und hofften, dass sich niemand zu der-art früher Morgenstunde - gegen sieben Uhr - in der An-lage befinden würde. Als die ersten Akteure der Absetz-übung über den Zaun des Gartens schauten, stand dort einealte Frau, die ihre Rüben hackte. Die Last lag zwanzig Me-ter weiter im Nebengarten. Als die Greisin die beiden »StayBehind «-Operateure bemerkte, kommunizierte sie mit ih-

127

Page 129: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

nen im tiefsten bayerischen Dialekt: »Ha Buam, da is eichwos auskäme, gell?« Sie lächelte und setzte ihre Gartenar-beit unbeirrt fort.

Wir wussten, dass wir jede ASZ sorgfältig erkundenmussten, um solche Pannen ausschließen zu können. JedeVWL-Quelle betreute zwei ASZ. Wenn die erste aus be-stimmten Gründen nicht oder nicht mehr zur Verfügungstand, wurde die zweite genutzt.

Nun stapfte ich also mit Roland durch Wälder und Fel-der und ließ mir seine Einrichtungen vorführen. Dabei stellteich fest, dass er wirklich perfekt gearbeitet hatte. Ich lernteunglaublich viel in jenen Tagen. Dazu zeigte er mir eine Aus-bildungsfinesse, die mich nicht nur überraschte, sondernauch erheiterte. Roland hatte für jede seiner Quellen einendicken Hartschalenkoffer angeschafft. Eines Tages zeigteer mir den Inhalt. Er hatte zur ASZ der Quelle ein origi-nalgetreues Modell gebastelt. Bäume, Sträucher, Bachläufe,alles war vorhanden. Die dazugehörigen Elemente, wie TO,AO, DV, waren ebenfalls markiert. Alle Geländemerkmale,mit Höhen und Tiefen, wiesen den exakten Maßstab auf.

Roland schmunzelte, als er alles erklärte: »Siehst du, Nor-bert, damit marschiere ich zu meiner Quelle, klappe denKoffer auf und sage, der Wind kommt heute mit fünf Kno-ten aus 270 Grad. Dann bekommt der >Quelling< (sonannte er seine Leute liebevoll) drei Pins in die Hand ge-drückt, das Schema der Signallampen. Und schon beginntdie Absetzoperation. Besonders empfehlenswert bei Sau-wetter! « Sogar ein kleines Modellflugzeug war vorhanden,Roland atmete tief ein, presste die Luft durch seine zu-sammengedrückten Lippen und imitierte Motorengeräu-sche. Dann ließ er sein Flugzeug kreisen, und ich mussteunweigerlich lachen.

Zur Ausbildung der Quellen gab es noch ein besonderesInstrument, die so genannte Ferienschulung. Wir luden einQuellenehepaar für etwa eine Woche zu einem Kurzurlaub

128

Page 130: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ein. Dabei erwartete sie wenig Erholung und viel Lern-programm. Ich selbst fuhr mit Eilers in den Schwarzwaldund begleitete das Ehepaar Cornelsen eine Woche in denHarz. Bei Cornelsen stand damals, neben einer allgemei-nen nachrichtendienstlichen Ausbildung, Unterricht mitdem neuen Funkgerät FS 5000 im Vordergrund. Bei einem»Long Range Test« - eine Verbindung in die USA - kames zu einer unangenehmen Panne.

An der Strecke zwischen Braunlage und Hohegeiß be-fand sich unmittelbar an der Zonengrenze ein Parkplatz.Wenn man einem Waldweg in Richtung Osten folgte, be-fand man sich nach etwa 50 Metern am Zaun, der die bei-den Machtblöcke teilte. Ich parkte meinen Wagen in derhintersten Ecke mit dem Heck nach Osten rückwärts ein.Im Kofferraum lag ein für den Funkverkehr vorbereitetesFS 5000. Eine Antenne, die aus dreißig Meter langem,dünnem schwarzem Draht bestand, verlegte ich auf demWaldboden in Richtung Grenze. Cornelsen saß auf demBeifahrersitz und ich hinter dem Lenker. Das Gerät warprogrammiert und würde zur eingestellten Zeit selbst-ständig seinen Spruch absetzen.

Plötzlich flüsterte Cornelsen: »Oh, oh, schau mal da.«Er deutete mit dem Daumen über seine rechte Schulter. Ichverdrehte den Rückspiegel, so dass ich besser nach hintenrechts schauen konnte. Ein Beamter des BGS hatte dasEnde des Drahtes entdeckt und war gerade dabei, die sauberverlegte Antenne langsam zu einem Knäuel zusammen-zurollen. Dabei kam er unserem Fahrzeug immer näher.Ich stieg aus und ging ihm entgegen. Der Grenzschützerhatte bereits eine dicke Kugel in der Hand, als wir unsgegenüberstanden. »Machen Sie hier irgendetwas, was ichvielleicht wissen sollte?«, fragte er freundlich.

Mir blieb nichts anderes übrig, als mich auszuweisen.Ich zog meinen Dienstausweis und legte ihn auf die Kof-ferhaube. Der Bundespolizist schmunzelte und schüttelte

129

Page 131: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

dabei seinen Kopf- Er hatte immer noch das Drahtknäuelin der Hand. Dann fragte er mit einem Fingerzeig auf denKofferraum: »Kann ich da mal reinschauen?« Ich schüt-telte den Kopf. Mit einem leichten Seufzer gab er nach:»Meinetwegen, aber melden muss ich das.« Er drücktemir das Antennenkabel in die Hand.

Ein letzter Versuch galt dem im Wagen sitzenden Cornel-sen. Der BGS-Mann deutete auf ihn: »Und der da? Was istmit dem?« Ich antwortete mit einem breiten Grinsen. »Ichglaube, das wollen Sie gar nicht wissen.« Er rollte mit denAugen und ließ uns mit einem ungewöhnlichen Gruß zu-rück: »Na dann, frohes Spionieren noch.« An der Haupt-straße holte ihn einen Moment später ein Bus des Grenz-schutzes ab. Der Mann blickte nicht mehr zurück.Nachfragen zu diesem Vorfall erreichten mich nie. WenigeTage später fiel die Berliner Mauer.

Meine »Stay Behind«-Zeit verlief ansonsten unspekta-kulär. Als Ende 1990 die »Gladio-Affäre« - eine Mi-schung aus staatsgefährdenden Geheimdienst-, Militär-und Neonazimauscheleien - von Italien aus wie ein Step-penfeuer die europäischen Nachrichtendienste überzog,war sehr schnell klar, dass unsere Organisation ihre besteZeit hinter sich hatte. Das System war ein Auslaufmodell,ein Relikt des zu Ende gehenden Kalten Krieges.

Es hätte im Ernstfall auch nie funktioniert. Diese bittereErkenntnis gewannen wir am Ende unserer »Stay Be-hind«-Tage. Der DDR-Staatssicherheit waren schon langealle »Stay Behind«-Quellen bekannt. Auch später soll esin diesem Bereich noch Verratsfälle gegeben haben. DerBND hat diesen tragischen Umstand gegenüber seinenVerbindungsfuhrern aber nie eingestanden. Das wäre je-doch seine Pflicht gewesen, denn wir konnten davon aus-gehen, dass die Daten aus Ostberlin an den großen Bruderin Moskau weitergegeben worden waren. Dass unsereLeute weder gewarnt wurden noch eine Beratung erfolgte,

130

Page 132: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wie sie sich verhalten sollten, belegt eindrucksvoll, wiefahrlässig der BND mit seinen Quellen umgegangen ist.

Die Pullacher setzten sogar noch eins drauf. Sie genehmig-ten 1992 und 1993, trotz des ihnen bekannten und mitt-lerweile bestätigten Verrates der »Stay Behind«-Mitarbei-ter, die erneute Anmeldung aller meiner acht Quellen alsBeschaffungshelfer. Selbst ich war arglos, weil ich bis da-hin fest glaubte, »Stay Behind« sei unerkannt geblieben.Bei keinem anderen Dienst der Welt wäre die Weiterbe-schäftigung unserer Quellen unter solchen Umständenmöglich gewesen. So wurde zum einen den Quellen per-sönlich geschadet, zum anderen ließ man die Verbindungs-führer brutal ins Messer laufen und brachte unsere neuenQuellen im Ostblock in Lebensgefahr.

»Gladios« Ende

Aufgeschreckt durch massive »Gladio«-Skandale beiausländischen Nachrichtendiensten und beeinflusst durchdas Ende des Kalten Krieges teilte die BundesregierungEnde 1990 mit, die deutsche Geheimorganisation »StayBehind« werde bis April 1991 aufgelöst. Also gingen wirdaran, unsere mühsam geschaffenen Abwehrstrukturenwieder zu demontieren.

Wenige Monate zuvor hatte ich noch einen Mitarbeiterkennengelernt, der in meiner weiteren Laufbahn beim BNDmein wichtigster Partner und bester Freund werden sollte.Ich wurde nach München gerufen, wo mir Ollhauer denNeuen in seinem Büro vorstellte. Er hieß Teubner - FreddyTeubner. Ollhauer trug mir auf, ihm »das Laufen« beizu-bringen. Nichts lieber als das, weil es mich langsam an-ödete, immer allein durch die Lande zu fahren.

131

Page 133: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Im Besprechungszimmer hatten wir unter vier AugenGelegenheit, uns ein bisschen näher kennen zu lernen.Freddy war Ende dreißig, drei Jahre älter als ich. Er hattees bei der Bundeswehr zum Hauptfeldwebel gebracht, wargleichfalls Fallschirmspringer, ein »Freifaller«. Zu seinenSpezialitäten gehörte die Funktechnik. Freddy war sehr hu-morvoll und bei allen beliebt. Er war ausgesprochenfreundlich, redete aber nicht um den heißen Brei herum.Diese Offenheit zog mich an. Wir waren uns von Anfangan sympathisch.

Zuerst stimmten wir unsere Anbahnungsvorhaben auf-einander ab, dann fuhren wir eine Woche lang gemeinsamdurch den Harz, um neues »Stay Behind«-Personal zu re-krutieren. Es war Spätsommer. Die Bäume begannen sichzu verfärben, aber noch beherrschte die Sonne die kürzerwerdenden Tage. Unsere Tour begann im »Heidehaus«.Von Anfang an wies ich Freddy in alle Höhen und Tiefendes Geschäfts ein. Unsere Gespräche reichten bald überdas Berufliche hinaus, und dabei stellten wir viele Ge-meinsamkeiten fest.

Im ersten Ort sollten wir drei Adressen anlaufen. Als Er-stes parkten wir unseren Wagen weit entfernt von denZielwohnungen. Dann griff ich zu meinem Aktenkofferund entnahm ihm eine Plastikhülle mit den Daten des ers-ten Tipps. Ich öffnete eine blaue Schreibmappe, steckte dieUnterlagen rein und überreichte sie dem verdutzten Freddy.»Mein Lieber«, entließ ich ihn, »eine Avacon-Mappe blau,ein Kuli, ein Fragebogen, Visitenkarten, richtig übergeben,Feuer frei und los ...« - »Wie - gehst du nicht mit?« Erwar verwundert, weil wir das nicht abgesprochen hatten.

Ich gab den Erstaunten. »Soll ich dir womöglich Händ-chen halten? Du weißt doch, worum es geht. Erstens bist duviel lockerer, wenn du allein gehst, und zweitens - überlegmal. Da stehen plötzlich zwei finstere Gestalten vor derTür. Da sinken doch unsere Chancen gegen Null. Außerdem,

132

Page 134: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

soll ich vielleicht nachher eine Bewertung über deinen Auf-tritt an die Zentrale schicken? Also dann, viel Spaß!« Danndrehte ich meine Sitzlehne zurück und schob mir dieSchirmmütze ins Gesicht.

Eine halbe Stunde später war er wieder zurück. Nach-dem er ein paar Anläufe gemacht hatte, vereinbarten wirdoch noch gemeinsame Auftritte. Im Wechsel wollten wirimmer als Wortführer auftreten. Im Anschluss daran kri-tisierten wir uns gegenseitig, um es beim nächsten Mal bes-ser zu machen. Freddy erwies sich als sehr geschickt. Seinepositive Art kam gut an, und deshalb schafften wir aucheinige Interviews. Freddy schien die Idealbesetzung für un-seren Job zu sein. Darüber hinaus ergänzten wir uns aufeinem weiteren Gebiet. Freddy brachte eine lange Dienst-erfahrung und Kenntnisse aus vielen Lehrgängen mit ein.Er war ein Verwaltungsfachmann. Also wurde er nun zuder Hälfte unseres Teams, die sich mit der Verwaltung he-rumschlug. Eine Aufgabe, die man nicht wichtig genugnehmen konnte.

Freddy arbeitete von den Büros am Bonner Platz aus. Wirtrafen uns gelegentlich in Hessen, um uns abzustimmenund Neuigkeiten auszutauschen. Als uns der Auflösungs-befehl erreichte, kamen wir laufend zusammen, denn wirmussten eine Vielzahl von »Stay Behind«-Einrichtungenabbauen. Dabei hatten wir einige ziemlich skurrile Erleb-nisse. Manche Dauerverstecke konnten beispielsweise garnicht mehr gefunden werden. Einige Verbindungsführerhatten es sich besonders leicht gemacht und bei ihrem»Dauerversteck« keinen Behälter, sondern lediglich des-sen Deckel versenkt. So mussten sie kein tiefes Loch bud-deln. Einer Kontrolle durch die Führungsstelle hätte die-ses Scheinversteck immer standgehalten.

Ein Verbindungsführer hatte bereits nach drei Tagen alleseine Funkgeräte eingesammelt. Auf die Frage, wie er das soschnell geschafft hatte, antwortete er lapidar: »Sag bloß,

133

Page 135: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

du hattest alle Funkgeräte bei den Quellen draußen. Das warmir viel zu gefährlich. Wenn da eines weggekommenwäre ...« Des Rätsels Lösung: Er hatte sämtliche Geräte zuHause aufbewahrt. Im Falle einer Übung durfte seine Frauran. An der Innenseite des Besenschranks hing der Funk-kalender für alle Quellen des Ehemannes. Da wusste sie,wann sie senden und empfangen musste.

Die Auflösung von »Stay Behind« löste große Unruheund Zukunftsängste aus. Das zuständige Personalreferathielt sich bedeckt» und die Chefs demonstrierten Weitsicht.Hill hatte sich noch vor dem Auflösungsbeschluss derBundesregierung als Erster abgesetzt und war in einer an-deren Ecke des BND untergetaucht. Sein Nachfolger alsLeiter »Operation« eines sinkenden Schiffes wurde einMann namens Gassing.

134

Page 136: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Freund und Feind

Gassing wechselte Mitte 1990 nach Berlin, um dort dieneue bilaterale Dienststelle mit den Amerikanern aufzu-bauen. Wenige Wochen nachdem der Pulverdampf unse-rer turbulenten Rügen-Mission verraucht war, stand auchmein endgültiger Wechsel zu 12YA an, zur gemeinsamenDienststelle von BND und amerikanischer DIA in Berlin.Das »Heidehaus« in Hannover war bereits aufgelöst. Nurder renitente Korbach weigerte sich, seinen Posten zu ver-lassen. Er konnte als Angestellter nicht willkürlich versetztwerden, und das wusste er ganz genau. Also blieb er bisauf weiteres im leeren Objekt und schob einen Dienst, fürden es längst keine Vorschrift mehr gab.

Ich bildete gemeinsam mit meinem Kollegen Udo, derim niedersächsischen Peine wohnte und der wie ich von»Stay Behind« nach Berlin wechselte, eine Fahrgemein-schaft. Mein Antrag auf Versetzung nach Berlin war mitder Begründung abgelehnt worden, es sei nur eine begrenzteVerwendung von wenigen Jahren. Also versuchten Udound ich Kosten zu sparen, indem wir zusammen zwischenBerlin und Hannover pendelten. Unsere erste gemeinsameReise nach Berlin fand in Udos VW Golf statt. Unterwegsberichtete ich ihm von den bisherigen Erfahrungen mitden Partnern bei der Beobachtung der russischen Atom-waffentransporte auf Rügen und von der Arbeit der neuenDienststelle. Gegenseitig bestärkten wir uns in allen Zwei-feln, die sich bei dieser unnatürlichen Konstellation auf-drängten, trotzdem entschieden wir uns mitzuspielen.

135

Page 137: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Unsere Büros waren beinahe menschenleer. Mark Hand-ridge vom DIA stand auf dem Flur und begrüßte uns freu-dig. Unsere Sachbearbeiterin saß in ihrem Zimmer. In derZwischenzeit war es dem BND auch gelungen, die Zahl-stelle mit einer Kollegin zu besetzen. Nachdem wir beideDamen begrüßt hatten, meldeten wir uns bei Gassing.

Das erste Gespräch begann mit einer schlechten Nach-richt. Aus dem »Buschgeld«, erklärte der Chef, würdenichts, weil die Dienststelle im alten Westberlin läge. DerUmstand, dass wir 90 Prozent unserer Arbeit in den neuenBundesländern zu leisten hatten, interessierte in Pullachniemanden. Wieder einmal kamen wir uns verarscht vor.

Die Neuigkeit Nummer zwei war ähnlich leistungsstei-gernd. Gassing erklärte, dass die Amerikaner ab sofort fürunsere operativen Einsätze verantwortlich seien. Was warjetzt los? Hatten die Pullacher so wenig Interesse, dass -wirnun den Amerikanern unterstellt waren? Wer hielt denKopf hin, wenn etwas passierte? Würden die im Keller unsjetzt sagen, wann und wie wir wohin fahren müssten? Fra-gen über Fragen stellten sich.

Nichts wirklich Grundsätzliches war geregelt. Alle BND-internen Regeln wurden einfach willkürlich über den Hau-fen geworfen. Ein typisches Beispiel: Im Interesse der Berli-ner Dependance sollten wir den Dienstwagen mit nachHause nehmen, damit wir schnell und ohne Umwege aucham Wochenende einsatzbereit waren. Das ließ das BND-Haushaltsrecht aber nicht zu. Ausnahmen von der Regelgab es offiziell nicht, auch wenn sie zweckmäßig gewesenwären.

Also erfanden wir unsere eigene Ausnahme. Wenn aufdem Weg in unsere Heimatorte und dann wieder auf demHinweg nach Berlin offizielle Geschäfte zu erledigen waren,dann durften wir den Dienstwagen mitnehmen. So wurdenentsprechende Termine festgelegt. Ob die immer sinnvollund gerechtfertigt waren, steht auf einem anderen Blatt.

136

Page 138: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Zunächst mussten wir ein anderes Problem lösen. Wirbrauchten eine Wohnung. Gassing hatte bereits Kontaktezur ARWOBAU geknüpft, und einige Kollegen waren inObjekten dieser Firma unweit der Dienststelle unterge-kommen. Von München genehmigt, hatten sie sich alle-samt unter Klarnamen angemeldet.

Das war den früheren »Stay Behind«-Leuten nicht ge-heuer. Sie wollten nicht in der Nähe des alten Keitelhau-ses im Föhrenweg wohnen, in dem sich die Dienststelle be-fand, und schon gar nicht unter Klarnamen. Also fuhrenGert Arnstein, Udo Hippler, Freddy Teubner und ich zueiner ARWOBAU-Filiale am Buckower Damm, um ein ge-eignetes Wohnobjekt zu finden. Arnstein, der Franke,hatte sich inzwischen mit Teubner zusammengetan, deraus dem Ansbacher Raum stammte. Noch eine funktio-nierende Arbeits- und Fahrgemeinschaft.

Um Geld zu sparen, hatten wir folgende Idee: Wir wür-den pro Team je ein Einpersonenappartement anmieten.Freddy und Udo sollten sich eine Wohnung teilen, Gertund ich die andere. Der Hintergedanke war, dass in derRegel nur ein Team unterwegs war und dass dem anderendann zwei kleine Wohnungen zur Verfügung standen. Fürden Fall, dass wir einmal zu viert anwesend sein sollten,organisierten wir pro Appartement ein zusätzliches Feld-bett. Das Ganze hatte den weiteren Vorteil, dass wir proAnmeldung nur einen Decknamen »verbrannten«. Warumsollten wir uns unnötig in Gefahr begeben?

Wir entschieden uns für einen großen Wohnkomplex inder Ringslebenstrasse 2, Ortsteil Buckow. Dort würden wirin der Masse untergehen, und auch die »Doppelbelegung«fiele keinem auf. Darüber hinaus lagen unsere Wohnun-gen ziemlich verkehrsgünstig. Nicht weit entfernt verliefdie Bundesstraße 96, die sich von Finsterwalde bis hinaufnach Saßnitz auf Rügen zieht. An der 96er lagen auch einigesowjetische Garnisonen, die für uns von Interesse waren.

137

Page 139: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Nachdem diesmal alle Koordinaten stimmten, wolltenwir uns teamweise häuslich einrichten, ansonsten aber au-tark bleiben. Später stellten wir fest, dass wir die Apparte-ments noch seltener nutzten, als wir ursprünglich gedachthatten. In den folgenden vier Jahren kamen wir maximalauf eine zehnprozentige Auslastung. Allerdings befandensich unsere Teams umgekehrt deutlich häufiger gemein-sam in Berlin, als vorher angenommen. Im Endeffekt ver-brachte ich jene Nächte überwiegend auf dem Feldbettvon Gert. Leider wurde unser Hang zur Sparsamkeit vomStaat, in diesem Fall der BND-Verwaltung, nicht hono-riert. Die Buchhalter zogen jedem von uns den gleichenPauschalbetrag für die Wohnungsmiete vom Trennungs-geld ab, so dass wir vier zwar nur zwei Wohnungen hat-ten, aber trotzdem für vier Wohnungen zahlen mussten.

Die geheime Mülltrennung

Nur wenige Tage vergingen, und wir erhielten den erstenEinsatzauftrag der Amerikaner. Sein Inhalt überraschteuns sehr. Keine Kaserne, kein Transport, keine Zielpersonsollten überprüft werden. Wir bekamen die wenig spekta-kuläre Order, eine Vielzahl von Müllkippen nach den»Schätzen« der Westgruppe der Sowjetstreitkräfte zu durch-suchen. Dafür stellte man uns als Arbeitskleidung Stiefelund Plastikhandschuhe zur Verfügung. Unser Mercedes-Geländewagen, der in Rügen gute Dienste geleistet hatte,war inzwischen von natogrün in metallicrot umlackiertworden. So stand er auf dem Parkplatz der Dienststelleund wartete auf uns.

Den ersten Arbeitseinsatz traten wir mit gemischten Ge-fühlen an. Warum sollten gerade wir in einem teuren Off-

138

Page 140: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

roader vorfahren und dann die Müllkippe durchsuchen?Ich war Bundeswehroffizier, und nun wollten sie mich zumMüllwerker degradieren.

Vor der ersten Tour schauten wir noch bei den Ameri-kanern vorbei. Wir holten Kartenmaterial, das aus Pullachseit Wochen avisiert, jedoch nicht geschickt worden war.Aus unserer Zentrale hatten wir immerhin eine nagelneueSpiegelreflexkamera erhalten, aber kein Filmmaterial. Damussten auch die Amerikaner aushelfen. Bei dieser Gele-genheit zeigte uns Hans Diethard vom amerikanischenDIA eine Art Vorratsraum mit einem großen Kühlschrank.Dort lagen kistenweise Wodka, Whisky und andere Spiri-tuosen, dazu stangenweise Zigaretten. »Hier könnt ihr zu-schlagen, bevor ihr losfahrt. Nehmt es sozusagen als Tausch-mittel, falls ihr bei den Müllkippen auf Russen trefft, diegerade Schutt abladen. Ihr könnt euch nehmen, so viel ihrwollt. Natürlich auch etwas zum eigenen Verbrauch«,fügte er gönnerhaft hinzu.

Es war ein erster kleiner Bestechungsversuch, denn je-dem war klar, dass das eigentlich nicht den Regeln ent-sprach. Ihm sollten andere, eindeutigere Angebote folgen.Der kleine Vorratsraum sollte später noch zum Stein desAnstoßes werden. Viele Verbindungsführer versorgten sichvor der Abfahrt mit Zigaretten und Alkohol, um die Be-diensteten der Mülldepots freundlich zu stimmen. Zuneh-mend bedienten sich auch andere im Untergeschoss, nämlichdie Innendienstler des BND. Sie schleppten die kostenlo-sen Köstlichkeiten kistenweise nach oben. Deshalb muss-ten die DIA-Oberen irgendwann durchgreifen und einigenLeuten »Kellerverbot« erteilen. Selbst unser Chef kamdiesbezüglich ins Gerede.

Oberst Groove, der Nachfolger des von der Rügen-Ope-ration im Juli 1990 bereits bekannten Oberst Dego, musstedas Schlaraffenland irgendwann einmal einschränken,weil die Nachfrage sonst alle Dimensionen gesprengt hätte.

139

Page 141: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Dego war ins Hauptquartier nach Augsburg versetztworden, und Groove hatte das Kommando am Föhrenwegübernommen. Der neue Mann war ein Arbeitstier, stets inUniform und mit grimmigem Blick. So flößte er schon imersten Moment allen Leuten Respekt ein. Groove führtezwar ein strenges Regiment, konnte aber auch sensibelund fürsorglich sein. Er duldete keine Fehler, ließ jedochseinen Leuten trotzdem so viel Spielraum, wie sie brauch-ten. Für Groove zählten vor allem die Erfolgsmeldungen.

Schon nach einigen Touren war mir klar, dass wir einehistorische Chance verpassen würden, wenn wir uns nurauf die Müllkippen konzentrierten. Die russischen Mili-tärangehörigen waren überall anzutreffen. Sie bildeten eingroßes Potenzial, das wir systematisch abschöpfen muss-ten. Unsere neuen Kollegen Wulf und Ernst hatten das zu-erst erkannt. Sie wohnten übrigens im selben Block in derRingslebenstrasse. Wir sahen uns regelmäßig und tausch-ten Erfahrungen aus.

Einmal wöchentlich lieferten wir das eingesammelteMaterial bei den Amerikanern im Föhrenweg ab. Wirbrachten schwere Säcke mit offiziellen Militärunterlagen.Manchmal mussten wir mehrmals fahren, um alles trans-portieren zu können. Zählen oder katalogisieren konntenwir es nicht. Die russischen Militärangehörigen entsorg-ten einfach zu viel. So wurde das Material in blaue Müll-säcke verpackt und einfach gewogen. Die Unterlagenreichten von Speiseplänen der Kantinen und Einsatzlistendes Personals bis hin zu Befehlen mit streng geheimer Ein-stufung.

Inzwischen hatten wir auch unser Verhältnis zu den ost-deutschen Müllmännern durchorganisiert. Für fünfzig oderhundert Mark West sortierten sie uns den Abfall der rus-sischen Garnisonen und achteten dabei vor allem aufSchriftstücke und technisches Gerät. Eine frühe Form derMülltrennung. Erst nach Monaten erreichte uns ein Haus-

140

Page 142: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

haltstitel aus Pullach. Nun konnten wir unsere Beschaf-fungshelfer auf den Müllkippen ordentlich entlohnen. DerOrdnung halber bekam unsere Arbeit auch einen Namen:»Operation Giraffe«.

Nach wie vor hatten die Amerikaner den ersten Zugriff.Sie sichteten das Material und übersetzten nach Priorität.Im Gegensatz zum deutschen Teil der Dienststelle verfüg-ten sie über Personal, das russisch sprechen oder lesenkonnte. Einmal pro Woche übergaben sie uns dann eineHand voll Meldungen mit nachrichtendienstlichem Wert,die sie aus den abgelieferten Dokumenten erstellt hatten.

Tausche Toaster gegen Geheimpapiere

Wulf und Ernst waren inzwischen dazu übergegangen,persönliche Kontakte zu russischen Militärangehörigen zuknüpfen. Nach etwa einem halben Jahr merkte ich, dassdie Qualität der von ihnen beschafften Unterlagen immerbesser wurde. Es fiel uns nicht schwer, die Ursache heraus-zufinden. Wulf hatte einen Kastenwagen gekauft und ihnmit allerlei Küchen- und Unterhaltungsgeräten bestückt.Ernst und er waren damit vor allem im Raum Wünsdorfunterwegs, wo sich das Oberkommando von MarschallBurlakows Westgruppe befand.

Eines Tages fuhr ich mit Freddy nach Wünsdorf, um zu se-hen, was Wulf und Ernst trieben. Wulf hatte seinen Mar-ketenderwagen auf einem großen Parkplatz an der Bahn-hofstraße, in Sichtweite der russischen Kaserne, aufgestellt.Aus einer Entfernung von hundert Metern beobachtetenFreddy und ich Unglaubliches. Die seitliche Schiebetür desroten Busses war weit geöffnet. Dahinter sah man Wulf miteinem Riesenstapel von Toastern, Bügeleisen, Küchenma-

141

Page 143: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

schinen, Videorekordern, Rasierapparaten und vielemmehr.

Vor dem Bus hatte sich eine Menschenschlange gebildet,unter ihnen auch Soldaten und Offiziere in Uniform. Jederhatte einen Karton oder eine Tasche mitgebracht. Ernstsaß bei geöffnetem Fenster auf dem Beifahrersitz und nahmvon den Russen Schriftstücke aller Art entgegen. Er sich-tete das Material oberflächlich, um danach seinem PartnerInformationen über den möglichen nachrichtendienst-lichen Wert der Unterlagen zu geben.

Der händigte dann, je nach Leistung, eine Kaffeemaschine,einen Pürierstab oder einen Eierkocher an den Lieferantenaus. Einige der Soldaten kehrten schon mal zurück in dieKaserne, um weitere Dokumente zu holen, wenn es zumBeispiel für einen Videorekorder noch nicht gereicht hatte.Nach einer gewissen Zeit packten unsere Kollegen dannalles zusammen, um bald in einer anderen Garnison vorder nächsten Kaserne zu stehen.

Freddy grinste auf der Rückfahrt vor sich hin: »Bitte sagmir, dass ich das nicht wirklich erlebt habe. Das habe ichdoch geträumt, oder?« Diese individuelle Beschaffungs-aktion hatte natürlich wenig mit unserem gemeinsamenVerständnis von nachrichtendienstlicher Arbeit zu tun. Soetwas konnte nur in den Wendewirren des deutschen Os-tens passieren. Eine absolut surreale Situation.

Inzwischen war ich mit Udo bereits einige Monate un-terwegs, und Freddy zeitweise mit Gert. Wir hatten alleGarnisonen der russischen Streitkräfte besucht. Nun wuss-ten wir, wo sich die Soldaten nach Dienstschluss aufhiel-ten. Wir erkannten, wann sich ein persönliches Gesprächlohnte, um etwas über den Verlauf des Truppenabzugs zuerfahren und um herauszubekommen, wo die einzelnenVerbände nach ihrer Rückkehr stationiert werden sollten.

Die anerzogenen Berührungsängste der ersten Wochenwaren einer positiven Aufgeschlossenheit den Fremden

142

Page 144: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gegenüber gewichen. Ich stammte, wie alle anderen Kol-legen auch, aus der alten Bundesrepublik, in der man stetszu wissen glaubte, wo das Böse, die Gefahr saß. Nämlichgenau hinter dem großen Zaun, der die Welt in zwei La-ger teilte. Solange diese Regel gegolten hatte, war alles soschön einfach gewesen. Nun befanden wir uns in der pri-vilegierten Position, hautnah zu beobachten, wie die ruhm-reiche Westgruppe der sowjetischen Truppen abzog. Wirerlebten aber auch mit, wie die Wessis bei den Ossis ein-fielen und sich dabei rücksichtslos bedienten. Ein vorherfest zementiertes Bild begann zu bröckeln.

Das betraf gerade die Russen, Weißrussen, Ukrainer, mitdenen wir nun persönliche Kontakte knüpften. Plötzlichbestand diese Armee für uns aus Menschen mit den glei-chen Problemen, wie wir sie hatten. Sie wurden der An-onymität entrissen und stellten Schicksale dar, die mannicht so einfach ignorieren konnte. Sie hatten Kinder, sorg-ten sich um ihre Zukunft, besaßen kulturelle Werte undtrotz genereller Armut auch ein Stück Lebensfreude.

Die Lebensqualität der sowjetischen und später russi-schen Truppen in der DDR tendierte gegen Null. Der ein-fache Soldat lebte in Mannschaftsquartieren mit bis zu120 Kameraden. Er besaß kein persönliches Eigentum.Sein Alltag war in einer Sieben-Tage-Woche lückenlos ver-plant. Der Einzelne zählte nichts, das Kollektiv alles. DieRekruten wurden unter permanenter Missachtung derMenschenrechte geschliffen. Sie bekamen weder Ausgangnoch Urlaub und mussten sich mit einem Rubel pro Tagund zusätzlichen 25 DDR-Mark pro Monat begnügen.Das Essen der Soldaten war miserabel, die Gesundheits-versorgung mangelhaft.

Häufig herrschte im Verhältnis zwischen Offizier undSoldat, aber auch unter den Soldaten nur die nackte Gewalt.In den achtziger Jahren sollen 400 bis 500 Soldaten derWestgruppe pro Jahr aus ihren Einheiten geflüchtet sein.

143

Page 145: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

In der Regel wurden sie gefasst, und dann hatten sie bis zufünfzehn Jahre Lagerhaft oder gar die Todesstrafe zu er-warten.

Auch den im Vergleich zu ihren westlichen Kollegen im-mer noch unter einfachen Verhältnissen lebenden Offizie-ren und ihren Familien war es strikt verboten, mit denDeutschen(Ost) Kontakt aufzunehmen. Erschwerend warsowieso die Sprachbarriere zwischen den Bruderstaaten.Freundschaften konnten erst gar nicht entstehen, weil sichbeide Seiten nur an besonderen Feiertagen sahen. So kames - abgesehen vom Geheimdienst- und Militärbereich -zu keinem Trennungsschmerz, als sich die Wege der Ost-deutschen und ihrer 50-jährigen Schutzmacht 1994 trenn-ten. Dennoch schrieb WGT-Oberst Gennadi Luschetzkidas »Abschiedslied der russischen Soldaten«:

»Deutschland, wir reichen dir die Hand/Und kehr'n zu-rück ins Vaterland/Die Heimat ist empfangsbereit./Wir blei-ben Freunde allezeit./Auf Frieden, Freundschaft und Ver-trauen/Sollten wir uns're Zukunft bauen./Die Pflicht erfüllt!Leb wohl, Berlin!/Uns're Herzen heimwärts ziehn.«

Wie war das nun im Vergleich zu unseren eigenen Ver-bündeten, denen wir doch viel näher stehen mussten? Be-günstigt durch die Unfähigkeit des bundesdeutschen Nach-richtendienstes, sorgte die DIA dafür, dass wir in Berlingut motiviert blieben, aber dafür schlecht informiert. DieAmerikaner behandelten uns zuvorkommend, ließen unsaber nur an einem verschwindend geringen Teil der durchuns gewonnenen Informationen teilhaben. Das lag daran,dass es der BND nicht schaffte, eigenes Übersetzungsper-sonal zu rekrutieren. Also übernahmen die Yankees dasRohmaterial. Das saugten sie auf und gaben einen Bruch-teil der daraus gewonnenen Erkenntnisse an uns zurück.An diesem Ungleichgewicht von 1991 hatte sich fünf Jahrespäter noch nichts geändert. Wir bekamen es einfach nichtin den Griff.

144

Page 146: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Wanzen im Föhrenweg

Ein Erlebnis aus unserer deutsch-amerikanischen Geheim-dienst-Partnerschaft werden wir wohl nie vergessen. EinesTages bereiteten Udo und ich eine Reise an die Ostsee vor.Wir wollten den Abtransport russischer Panzerverbändein den Verladehäfen dokumentieren. Im Normalfall setz-ten wir dabei immer ein kleines Diktafon, einen so ge-nannten Pearlcorder ein. Ich merkte beim Zusammenstel-len meines Gepäcks, dass ich keine Aufnahmebänder mehrhatte. Auf dem Weg in den Keller traf ich Mark Handridge,der offensichtlich unter Druck stand, weil er einen Terminbei Groove wahrnehmen musste.

Trotzdem blieb er einen Moment bei mir stehen undfragte, was er für mich tun könne. »Ja, Mark«, sagte ich,»wenn du mir schnell ein paar von den kleinen Tonbändernfür den >Pearl< geben könntest. Ich habe nämlich kein ein-ziges mehr.« Wir gingen schnellen Schrittes in sein Büro. Erkramte zuerst in einem Schrank. »Scheiße«, entfuhr es ihmungeduldig, »hier sind auch keine mehr.« Gedankenver-loren öffnete er seine Schublade, griff erleichtert rein.»Hier, Norbert, sind noch zwei. Nimm diese.« Er drücktemir die beiden Minibänder in die Hand und verschwandeilig in Grooves Zimmer.

Udo und ich verließen Berlin. Wir hatten uns für denNachmittag mit Gert und Freddy in Wismar verabredet.Die beiden waren schon dort, und wir wollten uns mit ih-nen austauschen. Auf der Autobahn in Richtung Hamburgpassierte es. Ich suchte gerade im Radio einen neuen Sen-der und Udo legte eines der Bänder in den Pearlcorder. Erdrückte auf Wiedergabe und erstarrte. »Sei mal ruhig! Machmal leise! Hier sind doch Stimmen auf dem Band.« - »Wasist los?«, fragte ich meinen Beifahrer mit einem kurzen Sei-tenblick. Udo lachte und wurde plötzlich ganz aufgeregt.

145

Page 147: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Da ist gerade Gerts Stimme gewesen. Mal sehen, was derso aufgequatscht hat.« In diesem Moment hielt er die Kas-sette für ein altes Band, das Gert besprochen hatte.

Udo spulte zurück und drückte wieder auf »Play«. »Dasist aber nicht Gert, das ist der Gassing. Ich werd verrückt«,stotterte er. Ein Parkplatz kam in Sicht. Mit Karachorauschten wir in eine Lkw-Bucht. »Gib her!« Ich nahmihm kurzerhand das Bandgerät aus der Hand und drückteerneut auf »Play«. Ich stellte noch lauter. Beide spitztenwir die Ohren. Wir befanden uns mitten in einer Dienst-besprechung, die allem Anschein nach in Gassings Bürostattfand. »Warum nimmt der Alte heimlich seine Konfe-renzen auf?«, fragte Udo mit einem leisen Vorwurf in derStimme. Wir lauschten weiter. Auf dem Band war zu hören,wie sich Gassing von Gert und der anderen Person verab-schiedete. Dann telefonierte er.

»Und warum nimmt der Alte auch noch gleich seine eige-nen Telefonate mit auf?«, entfuhr es mir. Udo schlug mitder Faust auf das Armaturenbrett. »Scheiße«, er legte einelange Pause ein, »er nimmt alles auf, um dann das Bandhinterher bei den Amerikanern abzugeben - vielleicht.Nein! Ich fasse es nicht. Die hören uns ab. So eine Sauerei.«»Wir müssen zurück zum Alten!«, schlug ich vor, währenddas Band weiterlief. »Nein. Das muss Gert erst hören«,setzte Udo dagegen. Wir gaben Gas und steuerten Wismaran, wo wir verabredet waren.

Im Hafen standen mehrere Kolonnen der WGT-Streit-kräfte. An diesem Tag warteten in erster Linie Sanitäts-einheiten auf ihre Schiffsverladung. Deshalb gingen wirbeide nicht direkt ins Zentrum, sondern schlenderten dieGerberstraße entlang. Da sahen wir sie - Gert und Freddyrollten in ihrem blauen Geländewagen an einer russischenMilitärkolonne entlang. Wir begrüßten uns herzlich. Dannlotste ich die beiden zu einem kleinen Cafe.

Noch auf dem Bürgersteig holte ich den Pearlcorder her-

146

Page 148: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

vor und ließ das Band laufen. Gerts gute Laune verschwandschlagartig. »Wo hast du das her?« Ich erzählte ihm dieUmstände. Gert erinnerte sich: »Es muss vorletzte Wochegewesen sein. Das sind der Alte, der OpSi-Gehilfe und ich.Es ging um Urlaubsvertretungen. Der Alte will in die Ferienund geht dann noch für einige Wochen auf einen Schlapp-hutlehrgang an die Schule. Das haben wir alles bespro-chen. Dass ich dann nur noch selten rausfahren werde,und so weiter ...« Kein Zweifel, die Amerikaner hörtenmindestens das Chefbüro ab. Das hatte keiner von uns er-wartet.

Wir fluchten und schimpften. Der Frust der letzten Mo-nate, die leeren Versprechungen unseres Arbeitgeberssuchten einen Blitzableiter. Wir rechneten an unseren Le-bensjahren herum, weil wir wissen wollten, wie lange wiruns solchem Verdruss noch aussetzen mussten. Dann be-schlossen wir, den Einsatz abzubrechen und zurückzufah-ren. Gassing sollte schleunigst das Tonband kennen ler-nen. Nun hatten wir das Problem, dass wir den Alten nichtin seinem Büro informieren konnten, wenn die »Kelleras-seln« ihre Bänder laufen ließen. Wir mussten ihn rauslo-cken. Ich setzte Udo bei einem Restaurant in der Nähe derDienststelle ab und ging die 400 Meter zu dem rostbrau-nen Backsteinhaus zu Fuß.

Gassing saß in seinem Zimmer und brütete über Unter-lagen. Ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, ergriff ich dieInitiative: »Wir haben ein Problem mit dem Auto.« Gas-sing blickte gequält hoch: »Motor oder Getriebe?« Er warkeineswegs überrascht, weil das die Standardleiden bei un-seren inzwischen neun Geländewagen waren. »Nein, soschlimm scheint es nicht zu sein. Aber, Sie kennen sichdoch mit Autos aus, vielleicht könnten Sie mal ...« Erstand auf und folgte mir. Draußen blies ein eiskalter Wind.Ich hatte noch meinen Mantel an, während Gassingschlotternd auf der obersten Treppenstufe stehen blieb. Ich

147

Page 149: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

informierte ihn mit knappen Worten über unsere neuestenErkenntnisse. Er wirkte etwas verdutzt, ließ sich aber dieMinikassette geben und verschwand wieder in unserenAmtsräumen. Er werde sich um alles kümmern, waren seineletzten Worte.

Die beiden zurückgekehrten Teams trafen sich in derRingslebenstrasse. Da fühlten wir uns sicher und konntenfrei sprechen. Das Haus Nummer zwei besteht aus dreizehnstöckigen Blöcken, die sternförmig zusammenstoßen.Sie sind über einen zentralen Haupteingang verbunden.Von hier kommt man in die Aufzüge und in die einzelnenTreppenhäuser. Udo und Freddy wohnten in der zweitenEtage des Westflügels, Gert und ich im vierten Stock desNordostbereichs. Die meisten aus unserer alten »Stay Be-hind«-Mannschaft waren hier untergekommen. Ich begabmich erst einmal in meine Wohnung, wo ich zufrieden fest-stellte, dass die Hausverwaltung das neue Türschild ange-bracht hatte: Werner Schrader.

Nach einer Weile kam Udo nach. Wir beratschlagten, wowir zum Abendessen hingehen könnten. Wir einigten unsauf das »Bussola« - ein italienisches Restaurant, etwa 850Meter entfernt an der Kreuzung Lipschitz-/Fritz-Erler-Allee,mitten in der Gropiusstadt. Es war ein witziger Rundbaumit ausgezeichneter Küche, gedämpftem Licht und sehrprivaten Sitznischen. Dort konnte man gut miteinandersprechen, ohne die Leute an den Nachbartischen zwangs-läufig zu beteiligen. Während des Essens diskutierten wirnochmals die Situation der Dienststelle. Die Reaktion vonGassing kam uns eigenartig vor. Egal, nun müssten dieMünchner reagieren. Was wäre aber, wenn nicht? Auf die-ser Basis könnte man ja nicht mehr mit den Amerikanernzusammenarbeiten.

Wir mussten jetzt darauf vertrauen, dass Gassing die un-angenehme Angelegenheit regelte. Uns selbst war es seiteinigen Wochen verboten, Kontakte in die Pullacher Zen-

148

Page 150: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

trale zu pflegen. Das lag daran, dass sich mehrere von unsbei den verschiedensten Stellen beschwert hatten, weil wirunter chaotischen Verhältnissen und ohne genaue Richtli-nien unseren Dienst verrichteten. Jeder, vom Chef bis zurZahlstellenverwalterin, machte in der jeweiligen Situation,was er für richtig hielt. Nach eigenem Gutdünken und aufeigenes Risiko.

Diese offene Kritik schien nicht gut angekommen zusein. Also gab es nun unerfreuliche Richtlinien. Nur unserChef durfte ab sofort mit München sprechen und dortausschließlich mit dem Führungsstellenleiter Gigl. Mit so-fortiger Wirkung wurden die Zugangsberechtigungen von12YA für die Zentrale eingezogen. Das zeigte besondersanschaulich, wie wenig bedeutend man uns und unsereArbeit einstufte.

Am nächsten Morgen fuhren wir neugierig in den Föh-renweg. Noch immer herrschte kaum Betrieb auf dem Ge-lände. Die Teams waren unterwegs, nur ein paar Leutevorn Innendienst anwesend. Was uns sofort erstaunte, wardie Tatsache, dass Gassing gar nicht erschien. Er hatte sichfür den ganzen Tag entschuldigt. So verging eine gute Wo-che, bis wir ihn nochmals auf das Problem mit der Wanzein seinem Büro ansprechen konnten. Wir waren verunsi-chert, weil er in keiner Weise reagiert hatte. Auch jetzt ver-suchte er das Problem klein zu reden: »Ich halte das Ton-band eher für ein Versehen als für eine gezielte Aktion. Esläuft doch alles tadellos mit den Amerikanern. Wir habenschon genug Probleme. Diesen Ärger möchte ich nichtauch noch auf mich laden.«

Sein Vize wollte das nicht akzeptieren. »Wir gehen alsojetzt einfach zur Tagesordnung über. Bei allem Respekt, soetwas habe ich noch nicht erlebt.« Er setzte noch einendrauf: »Ich werde nur noch wenige Monate hier sein, aberihr müsst weiterhin mit den Verhältnissen hier zurecht-kommen. Auf Dauer würde ich das aber nicht ertragen.«

149

Page 151: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Nun platzte Gassing der Kragen: »Herr Arnstein, es zwingtSie niemand. Hier kann jeder gehen, wenn er meint, etwasBesseres zu haben.« Der Angesprochene stand auf undverließ den Raum. Ich traute meinen Sinnen nicht. Dasmusste den Abhörern im Keller einen richtigen Kick ge-ben, uns weiter zu belauschen. Gassing hatte es zuvorschon abgelehnt, dieses unangenehme Gespräch außer-halb seines Büros zu führen. Hatte er damit Zeichen set-zen wollen?

Unsere etwas ambivalente Sympathie für die Amerikanerschmolz spürbar dahin. Erstens nahmen wir ihnen übel,dass sie uns bespitzelten. Zweitens hielten sie offensicht-lich Informationen zurück, die durch uns beschafft wor-den waren. Wir bekamen jedenfalls nur einen unzureichen-den Rücklauf der ausgewerteten Dokumente. Und drittensschnüffelten sie regelmäßig in unseren Sachen. Dafür gabes eindeutige Zeichen. Gegenüber von Gassings Büro hat-ten wir den Aktensicherungsraum eingerichtet. Dort wur-den unsere sensiblen Schriftstücke verwahrt, ab Mitte1992 auch die operativen Quellenakten. Tagsüber standdieses fensterlose, von einer schweren Panzertür gesicherteZimmer offen. Es war allen Mitarbeitern zugänglich. Einigeder dort aufgestellten Stahlschränke waren niemals ge-schlossen, andere wiederum tagsüber durch steckendeSchlüssel zugänglich.

Nun hatten die DIA-Kollegen ausgerechnet in unseremAktensicherungsraum ihr Faxgerät und eine interne Tele-fonleitung installiert. Angeblich konnten sie beides nir-gendwo sonst betreiben. Jeder wusste, dass diese AussageBlödsinn war, aber man hatte sich längst daran gewöhnt,dass sich die Amerikaner hier regelmäßig und mehrmalsam Tag aufhielten. Manchmal befand sich in unserem Teilder Dienststelle halbe Tage lang nur die Sekretärin. Diemerkte natürlich nicht, was im Aktensicherangsraurn pas-sierte.

150

Page 152: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Dann war es auch schon vorgekommen, dass MarkHandridge gebeten wurde, einige Stunden auf unsereRäume aufzupassen. Der hatte sich nicht lange bitten las-sen und das Zimmer unseres Mannes für Operative Si-cherheit bezogen. Als wir zurückkamen, war Mark Han-dridge, Füße auf dem Schreibtisch, gerade in eineQuellenakte vertieft.

Das Leben lief weiter, trotz aller Bedenken und War-nungen. Gerade in den Monaten bis zum April 1992 pas-sierte eine ganze Menge. In der Regel waren wir viel unter-wegs, beobachteten russische Transporte und grastenunsere »stinkenden Fundstellen« ab. Eines Tages bekamenwir von der neuen Bundesvermögensverwaltung in Mag-deburg den Hinweis auf ein Gebäude, in dem sich das rus-sische Militärgericht befunden hatte. Die Juristen warenüber Nacht abberufen worden. Aber immerhin waren dieRussen so freundlich gewesen, ihre sämtlichen Akten zu-rückzulassen.

Es war wie ein Spuk, als ich durch die Flure des mehrstö-ckigen Gebäudes ging. Alles sah so aus, als würden die Sol-daten jeden Moment zurückkommen. Akten lagen herum,die Panzerschränke waren offen. In einem Besprechungs-raum standen die Kaffeetassen auf dem Tisch. In den pri-vaten Schränken hingen Uniformjacken, standen Stiefelund Schuhe. Um das ganze Material abtransportieren zukönnen, mussten wir Verstärkung anfordern. Mit mehre-ren Lastwagen schafften wir schließlich Gerichtsakten,Vorschriften, Geheimbefehle und Personalordner nachBerlin. Einige Panzerschränke wurden noch in verschlos-senem Zustand an die Amerikaner übergeben.

151

Page 153: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die russische Abwehr schläft nicht

Inzwischen war der Job beileibe nicht mehr so einfach wiein den ersten Wochen und Monaten. Die andere Seite fingan, sich gegen unsere Operationen zu wehren. Auf einenMajor wurde während einer Observation geschossen. MeinKollege Freddy kam bei der nächtlichen Erkundung desFlugplatzes Sperenberg in eine bedrohliche Lage. Mit spe-ziellen Videokameras der Amerikaner führte er Geräusch-messungen durch. Das sollte uns helfen, Freund und Feindakustisch voneinander zu unterscheiden. Die Russen ent-deckten den Eindringling und jagten ihn mit Hubschrau-bern vom weitläufigen Gelände.

Der bis dahin spektakulärste Fall war aber in Neuruppinpassiert. Ein einziges Mal wurde ein Verbindungsführervon München aus direkt eingesetzt. Er sollte eine russischeInnenquelle werben. Pullach bereitete alles hochprofessio-nell vor, bildete für diese Operation sogar einen eigenenStab. Der Verbindungsführer nahm Kontakt mit dem russi-schen Offizier auf und traf ihn zweimal. Dann lud der Russeihn zu sich nach Hause ein. Er versprach, bei dieser Gele-genheit »streng vertrauliche« Unterlagen zu übergeben.

Als der BND-Agent in Neuruppin die Wohnung seinesneuen Informanten betrat, wurde die Haustür hinter ihmverschlossen. Plötzlich stand er in gleißendem Schein-werferlicht. Videokameras begannen zu laufen. Der Verbin-dungsführer musste sich setzen und wurde im Beiseinmehrerer Offiziere vom russischen Militärstaatsanwaltvernommen. Die Gastgeber staunten nicht schlecht, als siebei der Durchsuchung seiner Aktentasche feststellten, dasser selbst auch einige Unterlagen mitgebracht hatte.

Es handelte sich um persönliche Abrechnungen vonDienstreisen und Treffkosten sowie den gesamten Opera-tionsplan zur Anwerbung dieses Offiziers aus Neuruppin.

152

Page 154: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Dazu kamen die Einsatz- und Ausführungsanordnungender neuen Berliner Dienststelle. Solche Papiere waren fürdie russische Abwehr von großem Wert. Der Skandal wurdespäter im BND klein geredet. Keiner zog daraus Konse-quenzen. Auch die Berliner Mitarbeiter erhielten dazu keineBelehrung. Die Verantwortlichen gingen zur Tagesord-nung über und beförderten den Verbindungsführer einigeWochen später.

Ein ähnlicher Fall sollte Monate später passieren undeinen unserer Berliner Verbindungsführer in arge Bedrän-gnis bringen. Er hatte sich auf Automärkte spezialisiert, diein unmittelbarer Nähe von WGT-Kasernen entstandenwaren. Der Verbindungsführer war ständig allein unter-wegs, ein Beweis, wie wenig sich der Dienst um operativeAngelegenheiten kümmerte. Den Russen blieben seine Akti-vitäten nicht verborgen, und so beschlossen sie, ihm eineFalle zu stellen.

Sie versetzten ganz einfach Schilder, die auf ein militäri-sches Sperrgebiet hinwiesen. Der Verbindungsführer wähntesich in einem Automarkt, befand sich aber in Wirklichkeitschon auf russischem Militärgelände. Er wurde festgenom-men und von einem Militärstaatsanwalt verhört. Um ihngefügig zu machen, drohten ihm die Russen mit der Über-führung nach Moskau - ein Hubschrauber stand startbe-reit. Dann übergaben sie ihn aber doch der örtlichen Poli-zei.

Derart gefährliche Überraschungen hätten uns auch pas-sieren können. Das Wissen über diese Gefahr belastete unszusätzlich. Mein neuer Partner Freddy war mit den Ner-ven ohnehin fertig und trug sich mit dem Gedanken, alleshinzuschmeißen. In jenen Tagen führten wir lange Ge-spräche über unsere persönliche Situation. Ich wusste, woes hakte. Freddy kam zu wenig nach Hause, konnte sichnur sehr eingeschränkt um seine Familie kümmern und dieProbleme mit den halbwüchsigen Kindern in den Griff be-

153

Page 155: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

kommen. Also versprach ich ihm eine Neuordnung unse-rer Arbeit, um ihm ein geregelteres Leben zu sichern. Daswar Anfang 1992.

Die zehn Gebote

Künftig würden wir schwerpunktmäßig russische Quellenwerben, die nach ihrer Rückkehr in die Heimat weiter füruns arbeiten sollten. Dabei müssten wir ein völlig gleich-berechtigtes Team sein, bei dem einer sich um die operati-ven Aspekte, der andere um den Verwaltungskram küm-mern würde. Alle Entscheidungen müssten einstimmigerfolgen. Bei Meinungsverschiedenheiten sollten wir beideeinen tragfähigen Kompromiss suchen. Ich merkte, dassFreddys Jagdfieber langsam wieder erwachte. Dass wiruns ganz eigene Regeln schaffen wollten, schien ihm Spaßzu machen. Also setzten wir uns hin und tüftelten zweiTage lang an einer Agenda für unsere künftige Teamarbeit.Wir einigten uns auf zehn Punkte:1. Künftig sollten wir unsere Aufenthalte in der proble-

matischen Berliner Dienststelle so kurz wie möglichgestalten. Das betraf auch die Kontakte zu den ame-rikanischen Partnern. Über operative Dinge würdenwir mit ihnen gar nicht mehr sprechen.

2. Wir vereinbarten, einen Test auszuarbeiten, der unserkennen ließ, wie der Rücklauf an Meldungen vonSeiten der Amerikaner funktionierte.

3. Mündliche Berichte sollten nur oberflächlich abgegebenwerden, um der bekannten Abhörgefahr vorzubeugen.Künftig wollten wir jede Chance wahrnehmen, unserenChef außerhalb der Dienststelle zu sprechen, insbeson-dere wenn wichtige Entscheidungen anstünden.

154

Page 156: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

4. Es durften keinerlei Unterlagen in der Dienststellebleiben. Wenn wir in den Amtsräumen zwangsläufigetwas deponieren mussten, dann sollte es für einenAußenstehenden unverständlich sein.

5. Die Aufgabenverteilung im Team wurde wie bespro-chen geregelt.

6. Um mit einer Erfolg versprechenden Quellenwerbungbeginnen zu können, war es notwendig, gut funktio-nierende Kontakte zur Bundesvermögensverwaltungaufzubauen. Die Westgruppe der sowjetischen Streit-kräfte kooperierte eng mit dieser Behörde, weil mangemeinsam die Rückgabe der Liegenschaften abwi-ckelte. Dazu musste die WGT deutschsprachige Sol-daten oder Dolmetscher einsetzen. Exakt dieser Per-sonenkreis interessierte uns.

7. Wir wollten keine Aufträge mehr zur Aufklärung in derNähe von militärischen Einrichtungen übernehmen.Die Russen hatten mittlerweile eine Ahnung von unse-ren nachrichtendienstlichen Aktivitäten und deshalb dieGegenoperation »Pautina« (Spinnennetz) eingeleitet.

8. Wir beabsichtigten, einem gewissen operativen Mus-ter zu folgen. Da wir für groß angelegte Anbahnungs-operationen nicht genügend Zeit hatten, sollte Fol-gendes gelten: Wir wollten versuchen, die potenziellenZielpersonen außerhalb ihrer Garnisonen anzuspre-chen. Der Erstkontakt würde unter Legende ablaufen.Der zweite Mann aus unserem Team müsste vorerst un-erkannt bleiben, um den Treff zu überwachen. Solltees mit der Zielperson zu einem zweiten Treffen kom-men, dann würden wir sofort unsere wahre Identitätoffen legen.

9. Wir vereinbarten, dass wir unsere Zielpersonen ehr-lich und anständig behandeln würden. Es sollten keineDossiers entstehen und nichts schriftlich fixiert wer-den. Druck und Kompromate lehnten wir ab.

155

Page 157: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

10. Wir versprachen uns gegenseitig, diesen Plan absolutvertraulich zu behandeln.

Soweit die Theorie. Sie würde erst zu Praxis werden, wennGassing uns beide zusammenarbeiten ließe und Freddysich zum Bleiben entschieden hätte. Nun war ich gefragt.Ich meldete mich Mitte März 1992 beim Chef. Er empfingmich freudig. Unser Verhältnis war weitgehend entspannt.Er schätzte meine Arbeitsergebnisse, und wir vermiedenin der Regel jeglichen Streit. Seiner Auffassung nach sahich die Rolle der Amerikaner zu kritisch. Aber dieses Themasparten wir bei unseren Gesprächen meistens aus.

Wir waren uns einig, dass Freddy auf dem besten Wegwar, depressiv zu werden und dass er wohl als Nächsterausscheiden würde. Ich betonte, dass ich mir nach dembevorstehenden Abgang von Gert und Udo aber nur mitFreddy eine enge Zusammenarbeit vorstellen könnte. Gas-sing beurteilte die Lage aus seinem Elfenbeinturm. Freddyhabe sich entschlossen, nach Berlin zu gehen. Nun dürfe ernicht dauernd herumjammern und irgendwelche Vergüns-tigungen erwarten.

Es war atemberaubend, wie der Alte die reellen Problemeunseres Alltags ignorierte. Mittlerweile lief die Dienststellebeinahe von selbst. Die täglichen Meldungen waren soausgezeichnet, wie der Dienst sie nie zuvor gekannt hatte.Und das, obwohl ein Großteil der Erkenntnisse sozusagenim Keller auf der Strecke blieb. Gassing wurde in Mün-chen hoch gehandelt. Das löste bei ihm eine Selbstsicher-heit aus, die mit einer ordentlichen Prise Selbstgefälligkeitangereichert war. Dadurch veränderte sich auch allmäh-lich sein Ton gegenüber den Mitarbeitern. In der schwieri-gen Anfangsphase hatte er um jeden Einzelnen gebetteltund gerungen. Nun sah er in ihnen nur noch die Erfüllungs-gehilfen seines Erfolges.

Mir wurde schlagartig bewusst, wie wir Gassing packen

156

Page 158: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

konnten. Die Aussicht auf Erfolg, auf noch mehr Ruhmund Glanz in München würde ihn veranlassen, allem zu-zustimmen, was ihm erfolgsträchtig erschien. Also unter-breitete ich ihm einen Vorschlag, den er nicht ablehnenkonnte: »Sie teilen mir Freddy zu, wenn er aus dem Urlaubzurückkommt. Ich sorge dafür, dass er keinerlei Schwie-rigkeiten mehr macht. Wir erfüllen weiterhin unsere Auf-träge für die Amerikaner. Zusätzlich beauftragen Sie mich,die Bundesvermögensverwaltung zu kontaktieren. Überdie dortigen Mitarbeiter werden wir Verbindungen zu rus-sischen Offizieren aufnehmen. Das wird uns qualitativ bes-sere Informationen bringen. Die Münchner werden stau-nen.« Er nickte wohlwollend.

»Na gut, wenn Sie sich das zutrauen. Ich schau es mir an.Aber ich will Sie trotzdem alle zehn Tage mal sehen.« Gas-sing akzeptierte uns als Team, fügte aber einschränkendund mit Nachdruck hinzu: »Sehen Sie, dass bei Ihren Kon-takten auch etwas für die anderen Verbindungsführer ab-fällt.« Es war viel einfacher gelaufen, als ich erwartethatte. Dass ich die Aufträge der Amerikaner weiterhin er-ledigen würde, war schlichtweg gelogen, aber langfristigwürden sie auch von unseren Ergebnissen profitieren.Manchmal muss man eben die Menschen zu ihrem Glückzwingen, dachte ich mir. Aber für das Abgrasen von Müll-kippen hatten wir nun wirklich keine Zeit und Lust mehr.

Als ich Freddy später Bericht erstattete, antwortete ermit einem Satz, der in unserem weiteren beruflichen Le-ben zu einem geflügelten Wort werden sollte: »Und dumeinst, das stehen wir durch?« - »Ja, das stehen wirdurch!« Freddy besiegelte den Pakt mit einem festen Hän-dedruck.

Am Morgen des 20. November 2002 wiederholte sich die-ser Dialog unter ganz anderen Umständen. »Ja«, antwor-tete ich bei dieser Gelegenheit, »das stehen wir durch. Wir

157

Page 159: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

haben nichts verbrochen!« Freddy und ich standen an die-sem Tag vor dem Gebäude des Landgerichts München I,Wir waren die Angeklagten in einem Geheimprozess, derunsere Arbeit für den BND beendete. Doch davon später.

Irgendwann ließ sich der Personalschwund unserer Dienst-stelle nicht mehr verbergen. Als das neue Heeresstruktur-gesetz kam, stellten einige der Soldaten sofort Antrag aufvorzeitigen Ruhestand. Einer von ihnen war ein BND-Mitarbeiter aus Braunschweig-Wenden. Ein ziemlich pfiffi-ger Kollege, der bis zur Wende den in Braunschweig-Wag-gum stationierten BND-Aufklärungshubschrauber geflogenhatte. Als es an der Grenze nichts mehr zu tun gab, ver-setzte man den Hubschrauberpiloten und seine Leute nachBerlin. Auch er sollte nun Müllhalden abklappern undPanzer beim Verladen zählen. Schon nach kurzer Zeit er-gab es sich, dass ich ihn am Wochenende als Beifahrer mit-nahm.

Er war völlig frustriert. »Ich werde das nicht mehr mit-machen. Vom eigenen Dienst werden wir verarscht, vonden Amis beschissen. Nichts von dem, was mir verspro-chen wurde, ist eingehalten worden. Der BND bezahltzwar großzügig unsere Wohnung, zieht aber den Betragdann wieder von unserem Trennungsgeld ab. Ich höre auf.Mir reicht es.«

Als ich meinen Kollegen zu Hause ablieferte, verab-schiedete er sich herzlich von mir. In der folgenden Wochewollten wir gemeinsam nach Rügen fahren, um die Verlade-tätigkeiten der Russen weiter zu beobachten. Darauswurde nichts, denn er meldete sich krank. Trotz mehrfa-cher Aufforderungen zurückzukehren und massiver Dro-hungen durch den Dienst weigerte er sich eisern, jemalswieder die Berliner Räume zu betreten. Nach etwa einemJahr Abwesenheit wurde er aus gesundheitlichen Gründenvorzeitig entlassen. Ich habe ihn leider nie mehr gesehen.

Page 160: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Er war beileibe nicht der Einzige, der uns verließ. Unteranderem gingen auch Udo und Gert. Im Juni 1992 verab-schiedeten wir beide in den vorzeitigen Ruhestand. Dieletzten Monate ihrer Dienstzeit waren sie nur zeitweise inBerlin gewesen. Sie nahmen ihren Jahresurlaub, den Rest-urlaub vom Vorjahr und einen Teil ihrer erworbenen Zeit-guthaben. Bis sie alles überstanden hatten.

159

Page 161: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Technologietransfer

Zu Beginn des Jahres 1992 kam ich mit Gert ins Gespräch,der gerade Gassing vertrat. Ich erzählte ihm von unsererVereinbarung mit dem Alten, und dass es sehr vorteilhaftwäre, wieder einmal einen spektakulären Coup zu landen.Denn dann könnten wir uns in den nächsten Monaten un-gestört auf die Werbung von Quellen konzentrieren.Schließlich wollten Freddy und ich nicht damit enden, andie Russen Kaffeemaschinen zu verteilen. »Gibt es etwasInteressantes, wo wir uns einklinken können?«

Gert ließ seine laufenden Operationen Revue passierenund blieb bei einer Beschaffungsaktion hängen, die er als»momentan recht heiß« bezeichnete. »Hast du schon ein-mal etwas von >C55 Patrol< gehört?«, fragte er mich. »Dasist ein Freund-Feind-Erkennungsgerät. Die russischenStreitkräfte haben es in Flugzeugen oder auch in Schiffeneingebaut. Wir wissen, dass hier noch ein paar Dutzenddieser Dinger im Einsatz sind. Die Amerikaner wolleneines davon haben. Geh doch mal zu Mark. Er kann dirmehr darüber sagen.«

Mark stellte einen Samsonite-Koffer auf den Tisch undöffnete ihn mit einer großspurigen Geste, wie man es ausden einschlägigen Filmen kennt. Ein Sergeant blieb stumman der Tür stehen und ließ den Behälter nicht aus den Au-gen. Der Koffer war randvoll mit Dollarnoten gefüllt.»Das ist die erste Hälfte, die wir für das Gerät zahlen. Be-schaffe uns ein Patrol, und du kannst den Deal sofort ab-wickeln«, erläuterte er mir schmunzelnd.

160

Page 162: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Wie viel ist das?«, wollte ich wissen. »Eine Million US-Dollar. Aber es gibt mindestens doppelt so viel im Erfolgs-fall. Hast du eine Möglichkeit?« - »Mal sehen«, blieb ichbetont vage, »irgendetwas geht immer.« - »Willst du denKoffer gleich mitnehmen?« -«Nein, natürlich nicht. Soll ichmit einer Million durch Berlin latschen?« Mark lachte:»Warum nicht? Der Koffer hat in den neuen Bundesländernschon einige 100 Kilometer hinter sich. Innerhalb von Ber-lin war er auch schon mehrere Male unterwegs. Deine Kol-legen haben ihr Versprechen aber bislang nicht gehalten.«

»Ist auch nicht leicht, das Gerät zu klauen.« Ich war et-was durcheinander. Auf der einen Seite war es von Vorteil,sich vom Föhrenweg fern zu halten, andererseits bekamman aber vieles nicht mit. Die Geschichte mit dem Kofferwar völlig an mir vorbeigegangen.

»Na, da staunste, wa?« Gert grinste mich an. Dann er-zählte er mir von einem Kontakt, den er mehrere Monatelang zusammen mit Freddy gepflegt hatte. Er war durchVermittlung eines Berliner Kriminalhauptkommissars zu-stande gekommen, der im Milieu ermittelte. Dieser Mannhatte uns auf einen Militariahändler aufmerksam ge-macht, der in der Nachwendezeit allerlei Gerätschaftender russischen Streitkräfte feilbot. Gert und Freddy be-suchten ihn. Der Händler wurde mit dem Decknamen»Tinte« als Informant gewonnen. In der Folge kauften sievon ihm einiges an Hardware. Wegen seiner Unzuverläs-sigkeit mussten sie ihn aber wieder abschalten.

In Verbindung mit ihm stand ein gewisser Rainer K., derdie Beschaffung eines C55 Patrol mehrfach in Aussichtstellte. Mit ihm waren meine beiden Kollegen jedoch nie zu-sammengetroffen. Gert versprach mir, Gassing nach seinerRückkehr zu bitten, mich mit diesem Fall zu betrauen. K.hatte sich nämlich gerade beim Berliner Verfassungsschutzgemeldet und sich dort über einen gewissen Dieter H. be-schwert. Genau dieser H. war unser »Tinte« gewesen.

161

Page 163: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Gassing verbrachte jetzt viel Zeit in München. Dortsonnte er sich in den Erfolgen von 12YA. Sein Berliner»Laden« schüttete die Auswertung mit Material förmlichzu. Zumindest dort, wo die Meldungen bewertet wurden,brach eine gewisse Begeisterung aus. Das steckte natürlichandere an. Nun wollte jeder dabei gewesen sein und sichseinen Anteil am Erfolg sichern. Gassing fuhr also gernnach »unten«, wie er immer sagte. Dass er dabei übersWochenende seine Eltern besuchte, die in Ellmau am Wil-den Kaiser lebten, hob er nicht weiter hervor.

Gassing war kurz angebunden, weil ihm die Zeit zu lan-gen Erklärungen fehlte. Er drückte mir den gesamten Vor-gang um H. und eine Visitenkarte des Verfassungsschutzesin die Hand, wünschte viel Erfolg und bugsierte mich wie-der aus seinem Büro hinaus. Die Papiere enthielten einenBericht von Gert sowie einen schriftlichen Beschaffungs-auftrag des BND-Präsidenten. Dort stand es schwarz aufweiß: »Für die Besorgung des Freund-Feind-Gerätes, ge-nannt Patrol, bewillige ich einen Betrag von 500 000 Markals Verhandlungsgrundlage.« Ich traute meinen Augenkaum.

Ich fuhr zuerst zum Verfassungsschutz. K. hatte sichdort, wie ich bereits wusste, über seinen einstigen PartnerH. und über den BND beschwert und massive finanzielleNachforderungen angemeldet. Der Vorgang im Landes-amt für Verfassungsschutz wurde mir von einem Mitar-beiter mit konstruktiven Worten übergeben: »Da habenSie alles. Das ist ein echter Spinner. Macht schwer aufstaatstragend. Dabei hat er 'ne Menge anderen Dreck amStecken. Wenn er für Sie jetzt nicht so wichtig wäre, dannhätten wir ihn sicher an den Hammelbeinen.« Eine wei-tere Nachfrage brachte die zweite Warnung: »Das ist einDampf plauderer. Er tanzt auf vielen Hochzeiten. Seien Sievorsichtig bei ihm.«

Noch am gleichen Tag rief ich Rainer K. an. Wir verab-

162

Page 164: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

redeten uns für den nächsten Abend um 18 Uhr im HotelPalace am Europa-Center. Eine Viertelstunde vorher be-trat ich das Foyer des Hotels. Direkt am Ende der Hallebefand sich eine lauschige Sitzecke. Von hier aus konnteich alles überblicken. Ich wartete voller Spannung auf K.,den ich vorher noch nie gesehen hatte. Auch in den Aktenfand sich kein Foto von ihm. Um ihn zu erkennen, hatteich ihn gebeten, das neueste Exemplar des Nachrichten-magazins Der Spiegel mitzubringen.

Kurz vor 18 Uhr trat ein mittelgroßer Mann mit einemschwarzen Aktenkoffer und dem vereinbarten Zeichen indie Halle. Er schaute sich mehrfach um und blickte dannwieder auf seine Armbanduhr. Ich blieb noch ein paar Mi-nuten sitzen, um ihn beobachten zu können. Der Mannwirkte nervös und unsicher. Nach einer Weile gab ich michzu erkennen. »Hansen«, stellte ich mich vor, »ich glaube,wir sind verabredet.« Er nickte erleichtert.

Wir verließen das Foyer und schlenderten wortlos durchdas Europa-Center. Mit einem Fahrstuhl begaben wir unsin das oberste Stockwerk zu einem Restaurant, wo icheinen Tisch reserviert hatte. Dann begann er ohne Unter-lass zu reden. Er berichtete von seinem Leben in der DDR,wie er H. kennen gelernt hatte, wie der ihn betrogen hatte,und so weiter ... Immer wieder wies er auf seine Staats-treue hin und darauf, dass er am Wiederaufbau des Ostensaktiv mitwirken wolle. K. berichtete von seinen gutenKontakten zum russischen Militär. Da er selbst mit einerRussin verheiratet sei, beherrsche er natürlich auch ihreMuttersprache.

Wir speisten eine Kleinigkeit, und dann fiel ich gleichmit der Tür ins Haus. »Was ist mit dem Freund-Feind-Ge-rät? Können Sie mir eines beschaffen?« Er antwortete aus-weichend: »Na ja, im Prinzip geht das schon. Es ist abermindestens fünf Millionen Dollar wert.« Im Übrigen habeer noch Geld zu bekommen für Lieferungen an H. Er habe

163

Page 165: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ihm Proben der neuen Schamottpanzerung des T 80 be-sorgt, eine komplette ABC-Spürausrüstung und vieles mehr.

Seine unverschämte Art war nicht auszuhalten. Auf dereinen Seite gab er sich staatstragend, auf der anderen Seitewar er absolut geldgierig. Ich musste ihm den Wind ausden Segeln nehmen. »So ein Gerät hat früher sicher einmalgroßen Wert gehabt. Aber jetzt, wo alle damit hausierengehen, sieht das schon ganz anders aus. Ich habe eine Füllevon Angeboten, die ich zurzeit prüfe. Und ich sage ganzehrlich: Der Erste, der das Gerät liefert, wird bezahlt. Na-türlich nicht in dieser Größenordnung. Sie sollten auchnicht versuchen, es an jemand anderen zu verhökern. Siewissen doch, dass Sie sich damit strafbar machen würden.Zu Ihren vergangenen Geschäften kann ich nichts sagen.Jedenfalls kann ich dafür nichts bezahlen. Wir müssen un-seren Blick in die Zukunft richten. Da haben wir gute Chan-cen, ins Geschäft zu kommen.«

K. war nervös. Auf seiner Stirn bildeten sich kleineSchweißperlen. Er wirkte unsicher und fahrig. Ich fragteihn, wie er an das begehrte Gerät kommen wolle. »Wir kön-nen es aus dem Hubschrauber einer Alarmstaffel ausbauen.Er steht in Oranienburg. Ein russischer Offizier ist mir da-bei behilflich. Wenn er am kommenden WochenendeDienst hat, dann kann das sofort passieren.« Wir fingen an,um den Preis zu pokern. »Herr K., wenn Sie mir das Ge-rät am Montag liefern, dann bekommen Sie 40 000 Mark.Mehr bewilligen mir meine Leute ganz bestimmt nicht.Sehen Sie, wir verbraten hier immense Steuergelder.Außerdem sollten Sie nicht vergessen, dass unsere Zu-sammenarbeit gerade erst beginnt. Wir können zusammennoch vieles bewegen.«

Gut, sagte er, aber dann müsse das Geld bei der Über-gabe vorhanden sein. Wieder musste ich ihn enttäuschen.»Das ist unmöglich. Unsere Spezialisten wollen natürlichzuerst einmal prüfen, ob es sich auch um das richtige Ge-

164

Page 166: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

rät handelt. Ich bin technisch so wenig versiert, dass ichsogar einen russischen Toaster dafür halten würde. Kön-nen Sie denn mit Sicherheit ausschließen, dass man Sie nichtübers Ohr hauen will? Also, wenn Sie am Montag liefern,dann zahle ich am Freitag. Das ist mein Angebot. Einver-standen?« K. atmete schwer. »Gut, Montag die Ware undam Freitag das Geld. Wo wollen wir uns treffen?«

Ich überlegte lange, weil mir bewusst war, dass diese An-gelegenheit sehr gefährlich werden könnte. Ich wurde dasGefühl nicht los, dass sich das wertvolle Teil schon in derHand des Händlers befand. Wie konnte er sonst die Lie-ferung so sicher zusagen, als würde er uns eine Kiste Bierbesorgen? Aus dieser Einschätzung heraus hatte ich auchso tief gepokert. Der Mann saß vermutlich auf der »hei-ßen Ware« und musste sie so schnell wie möglich loswer-den. Lange würde den Verantwortlichen in Oranienburgdas Fehlen des Geräts nicht verborgen bleiben. Dannkäme eine Maschinerie in Gang, die alles versuchenwürde, das C55 wieder zurückzuholen. Schließlich han-delte es sich hier um eine der geheimsten Entwicklungender sowjetischen Rüstungsindustrie.

Als ich K. noch einmal auf seine persönliche Gefähr-dung hinwies, war es mit seiner Geschwätzigkeit vorbei.Gerade aus Sicherheitsgründen wolle er keine Detailsmehr verraten. Die Lieferung könne er zu 100 Prozent zu-sagen. Man müsse schließlich seinem eigenen Staat helfen.Ob er das Gerät schon in seiner Hand habe, wollte er nichtmehr beantworten. Er war nur noch am Übergabeortinteressiert.

Ich schärfte ihm ein, er müsste das Gerät auf alle Fälleaus der ehemaligen DDR heraus und in den Bereich der al-ten Bundesrepublik bringen, weg aus dem Zugriffsbereichder WGT. In den alten Bundesländern hatten die Besatzerimmer noch ihren Heimvorteil. Ich schlug ihm vor, überMagdeburg nach Braunschweig zu fahren. Den Ort kannte

165

Page 167: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ich seit meiner Jugend sehr gut. K. sollte den Parkplatz vordem Eisstadion ansteuern - kein Problem über die Auto-bahn A 2 und die Hamburger Straße. K. war von der wei-ten Anfahrt anfangs nicht begeistert, aber dann willigte erein, weil der Vorgang so einen aufregenden Touch hattewie in den Geheimdienst-Thrillern.

Braunschweig bot noch einen Vorteil. Mein ehemaligerPartner Udo lebte lediglich vierzig Kilometer entfernt. Ihnkonnte ich für diese Operation C55 aktivieren. Gert undFreddy waren gerade nicht verfügbar, und mit den ande-ren »Berlinern« wollte ich die Aktion nicht anpacken. Er-stens waren die meisten zu unerfahren, und zweitens soll-ten die Amerikaner erst so spät wie möglich von derBeschaffung des Freund-Feind-Erkennungssystems erfah-ren. Ich war der Überzeugung, dass dieses Gerät erst ein-mal nach Pullach gehörte. Was dann damit geschehenwürde, war mir egal.

Das Allerheiligste der russischen Armee

Am nächsten Morgen saß Hans Diethard im Büro desOpSi und wartete auf mich. Unser Chef und einige seinerMitarbeiter waren tags zuvor nach München gefahren.Also standen wir uns nun unter vier Augen gegenüber. DerAmerikaner brachte einen Kaffee und kam sofort zur Sa-che: »Wie war es gestern? Läuft etwas mit C55?« Ichfragte erstaunt, woher er das bereits wusste. Er zuckte mitden Schultern. Ob ich an diesem Mittag Zeit zu einem kol-legialen Essen hätte. Dabei könne man grundsätzliche Pro-bleme erörtern, zum Beispiel die Finanzen. Hans zwin-kerte mit den Augen: »Wie du das Geld einsetzt, bleibt dirüberlassen. Es zählt doch nur der Erfolg.« Als er noch wei-

166

Page 168: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ter in mich dringen wollte, antwortete ich ausweichend.Ich hatte es an jenem Tag auch eilig, und deshalb bat ichihn, das Mittagessen um zwei Wochen zu verschieben.

Auf dem Rückweg hielt ich auf der A 2 an der RaststätteZiesar, heute »Buckautal Nord«, um wie üblich einen Kaf-fee zu trinken und eine Bockwurst zu essen. Dieser Stoppwar seit vielen Monaten obligatorisch. Er gehörte bei je-der An- und Abreise zum Ritual. Dort gab es auch einenMünzfernsprecher. Einige Minuten stand ich davor undüberlegte, ob ich den Chef in München anrufen sollte.Dann verzichtete ich auf dieses Telefonat. Wenn man dortvon der geplanten Transaktion wüsste, dann würde wohlein enormer Wirbel entstehen. Auf den wollte ich, so naheam Erfolg, verzichten. Dafür rief ich Udo zu Hause an undfragte, ob er einen Moment Zeit für mich hätte.

Natürlich hatte er Zeit, und so rollte ich weiter nachPeine. Das war so angenehm bei ihm und allen »Stay Be-hind«-Veteranen, die durch Ollhauers Schule gegangenwaren, dass sie am Telefon keine Fragen stellten. Sie woll-ten nicht wissen, weshalb und warum. Sie wussten in-stinktiv, dass es wichtig war. Wir palaverten ein wenig he-rum, bis ich ihm alle Einzelheiten der bevorstehendenOperation erzählte. Er sagte mir sofort seine Unterstüt-zung zu: »Aber nur den einen Tag und nur für dich!«

Am Montagvormittag rief ich bei Gassing an: »Ich mussSie nur kurz darüber informieren, dass ich heute die Ope-ration »Gesangsverein< durchziehe. Nehme Udo mit undmelde mich heute Nacht bei Ihnen zu Hause.« Der ulkigeOperationsname war nicht frei erfunden, sondern mit ihmnoch abgestimmt worden. Gassing konnte es gar nicht fas-sen, dass die Beschaffung des Freund-Feind-Erkennungs-systems so schnell gehen sollte, und stellte eine Reihe vonFragen. Ich würgte das Gespräch ab: »Die Aussichten aufErfolg sind groß. Bitte vertrauen Sie mir. Ich habe alles imGriff.«

167

Page 169: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Gegen Mittag holte ich den Urlauber Udo ab. Wir fuh-ren in Richtung Braunschweig. Ich war aufgeregt und ge-spannt, wie immer in außergewöhnlichen Situationen.Udo hatte längst mit dem BND abgeschlossen. Für mich,so sagte er, würde er noch einmal Räuber und Gendarmspielen. Wir erkundeten den Treffort und legten den Ab-lauf fest.

Der Jeep sollte am Stadion abgestellt werden. Von dortkonnte Udo den Großparkplatz überblicken. Ich selbstpostierte mich neben der Einfahrt, damit K. mich sofortsehen und bei mir stoppen konnte. Dann würden wir dieKartons mit den Geräteteilen neben das Fahrzeug stellen.Der Lieferant sollte sofort weiterfahren. Udo könnte auf-grund der Einbahnregelung gleich erkennen, ob K. obser-viert würde. Im Anschluss an die Übergabe sollte er direktüber den Parkplatz fahren und mich mit dem Gerät abho-len. So würde das schnell, sicher und zügig ablaufen. Weitgefehlt!

K. kam pünktlich wie die sprichwörtlichen Maurer. Erparkte auch sofort neben mir in eine freie Parklücke ein,öffnete strahlend die Fahrertür und begrüßte mich. Dannwar die Kofferraumtür an der Reihe. Wir stellten gemein-sam einen großen Pappkarton neben den Wagen. K. gingzur Beifahrerseite, um noch etwas aus dem Handschuh-fach zu holen. Plötzlich schoss sein kleiner Jagdterrier wievon der Tarantel gestochen aus dem Wagen. Laut kläffendrannte er über den großen Parkplatz und verschwand inder Dunkelheit, bis man sein Bellen nicht mehr hörte.

K., voller Panik, rannte nun seinerseits hinterher undließ mich mit dem kompletten russischen Freund-Feind-Gerät und einem offenen Auto zurück. Lauthals rief ernach seinem Hund und blies dazwischen immer wieder ineine Trillerpfeife. Geschlagene fünfzehn Minuten warteteich, bis er mit dem Hund zurückkam. Mit den Worten»Das macht er manchmal so« setzte sich K. in sein Auto

168

Page 170: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

und fuhr ohne weiteren Kommentar mit seiner Töle da-von.

Eigentlich war ich geschafft. Aber nun sollte Udos Auf-tritt beginnen. Ich konnte sehen, wie in unserem Gelände-wagen die Innenbeleuchtung anging. Dann wieder aus undwieder an. Mehrmals hörte ich die Türen schlagen. Einlautes »Scheiße« hallte über den Parkplatz. Die Schein-werfer gingen an und wieder aus, an und wieder aus. DieTür wurde zugeschlagen. In der Dunkelheit sah ich Udoauf mich zukommen. Schnaufend und achselzuckendstand er vor mir: »Die Scheißkarre springt nicht an.«

Ich ging zum Wagen, stieg ein und stellte den Schalthe-bel der Automatik auf »P«. Dann startete ich und blickteauf meinen Freund Udo, der mit seiner schwarzen Leder-jacke an einer Laterne lehnte und rauchte. Ich verharrtefür einen Augenblick und beobachtete ihn, wie er im hel-len Licht den Umzugskarton bewachte. Die innere An-spannung fiel von mir ab. Meine ganze aufgestaute Wutüber diese stümperhafte Übergabe war auf einmal wie ver-flogen. Ich sagte lachend: »Mensch, was sind wir doch fürProfis!«

Als wir eingeladen hatten, entfuhr es Udo: »Mann, Klei-ner, hat doch alles super geklappt, oder?« Ich drehte mei-nen Kopf langsam in seine Richtung. Er schaute immernoch ausdruckslos nach vorne. Irgendwie fühlte ich micheinsam und unverstanden.

Zu Hause stellte ich die Kartons auf den Küchentischund rief meinen Chef an: »Es ist alles glatt gegangen. Habedas Gerät vor mir stehen. Es besteht aus mehreren Einzel-teilen.« Die Reaktion war noch zögerlich: »Klasse, Dan-nau. Und Sie sind sicher, dass Sie das richtige Gerät ha-ben?« Die Frage wiederholte sich mehrfach, und deshalbging ich dazu über, den Skeptikern zu raten, einfach einenFachmann vorbeizuschicken, der das Teil identifizierenkonnte. Führungsstellenleiter Gigl kümmerte sich: »Unser

169

Page 171: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

einziger Spezialist macht gerade Urlaub am Gardasee.Meinen Sie, es lohnt sich, ihn zurückzubeordern, damit ersich alles ansieht?« Langsam wurde es surreal.

Der Techniker wurde schließlich für den nächsten Tagvon Mailand nach Hannover gebucht. Die Nacht ver-brachte ich sehr unruhig und schlief kaum. Das Freund-Feind-Gerät des Warschauer Pakts stand unter meinemBett. Die Schrotflinte lag in Griffweite. Ich war allein zuHause. Meine Familie befand sich für einige Tage beimSkilaufen.

Der Spezialkollege landete schon früh am Morgen undgab sich erst einmal misstrauisch: »Ich bin ja gespannt,was Sie da beschafft haben. Wissen Sie, es ist ja vieles mög-lich, aber das C55 zu bekommen ist mehr als unwahr-scheinlich. Meine Güte, was wir schon alles angestellt ha-ben. Nichts hat geklappt. Nicht einmal die Amerikanerwaren erfolgreich. Also seien Sie nicht enttäuscht, wenn esetwas anderes ist.« Es war wie gewohnt. Die Herren ausder Zentrale waren die absoluten Überflieger. Ich riskiertemein Leben, und die redeten mir alles klein. Tief in mirnagte es, und selbst ich begann zu zweifeln.

Der Techniker verbreitete einen genervten und gelang-weilten Eindruck. Er gab den armen, dienstbeflissenenMitarbeiter, der sogar einen Auslandsurlaub unterbricht,um sich irgendeinen Mist anzusehen. Aber was tut mannicht alles als Beamter im Höheren Dienst? Der Zustandsollte aber nicht mehr lange andauern. Ich hatte die Gerä-teteile auf dem Esstisch angerichtet und mit einem Lakenzugedeckt.

170

Page 172: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Einer der größten Erfolge meines Dienstes«

Wir standen uns gegenüber, und ich zog am Tuch wie beieinem Zaubertrick. Der Sachverständige starrte zuerst aufden Tisch. Dann blickte er mir tief in die Augen und er-starrte zur Salzsäule. Ich hatte das Gefühl, er würde jedenMoment umfallen. Er war aschfahl. Langsam bewegtensich seine Augen, und ganz leise kam es: »Mensch, Dan-nau, das ist ein russisches Freund-Feind-Erkennungsge-rät.« Er begann über das ganze Gesicht zu strahlen. Ichschnaufte erleichtert durch: »Habe ich doch gesagt.«

Er konnte es noch gar nicht fassen. »Wissen Sie über-haupt, was das bedeutet? Das ist ein C55. Komplett mitallen Zusatzkomponenten. Sie sind ja ein Himmelhund.Wie haben Sie das nur gemacht?« Der vorher so reservierteHerr Kollege tanzte wie Rumpelstilzchen um meinen Tischherum und schlug sich auf die Schenkel, zuweilen auchmir auf die Schultern. Dann telefonierte er mit seiner Füh-rungsstelle, wobei er die Beschaffung des Geräts als einender größten Erfolge des Dienstes in den höchsten Tönenlobte. Ich war sprachlos, und das heißt etwas.

Nun begann es in ihm zu arbeiten. »Wie geht es jetztweiter? Ich meine den Transport nach München. WissenSie, mit operativen Dingen kennen wir uns nicht so gutaus. Das müssen Sie schon irgendwie organisieren.« Ichhatte es dunkel geahnt. Auf dem Weg vom Flughafen hatteer mich wie einen armen Irren behandelt, und nun bliebwieder alles an mir hängen.

Das forderte mich heraus. Wenn ich es schon bewerk-stelligt hatte, das seltene Wunderding in meine Wohnungzu schaffen, dann würde ich es auch unversehrt nach Bay-ern bringen. Also ging ich in mein Schlafzimmer zu einemanderen Telefonapparat. Ich rief Gert in Schweinfurt an.»Hallo, Gert, ich brauche deine Hilfe.« - »Wo soll ich hin-

171

Page 173: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

kommen?« - »Nirgendwo, ich komme zu dir, und dannmusst du mich begleiten. Ich muss dringend etwas trans-portieren.« - »Geht es um H. &c Co.?« »Ja, genauer ge-sagt um seinen Nachfolger.« - »Dann fahr schnellstenslos, aber bitte nicht mit dem Dienstwagen. Ich befürchtenämlich, da sind jetzt ganze Heerscharen unterwegs. Ichwarte ab 14 Uhr an der B 19 Richtung stadteinwärts mitdem Blauen.«

Mein Gast war richtig verdutzt, als ich meine Anwei-sungen gab: »Sie packen jetzt alles in den Karton. Ich be-sorge ein anderes Auto.« Ich wollte gerade zur Tür hinaus,da hörte ich noch seine Frage: »Aber Sie haben nicht andem Gerät herumgeschraubt, oder?« - »Nein, warum?«,fragte ich mit einer dumpfen Ahnung. »Ich gehe davonaus, dass das Gerät mit Sprengstoff gesichert ist!« Ich warwie vom Blitz getroffen. »Das Teil soll mit einer Sprengla-dung gesichert sein? Und ich fahre damit durch die Ge-gend und schlafe auch noch darauf. Danke für den Hin-weis!« Ich knallte die Tür zu.

Dann lief ich zu meinen Schwiegereltern, die nur 500 Me-ter entfernt wohnten. Sie waren mit meiner Lebensge-fährtin in Urlaub gefahren. Ihren Zweitwagen, einen sil-berfarbenen VW Polo, hatten sie in der Garage abgestellt.Ich griff nach den Zweitschlüsseln. Nach fünfzehn Minu-ten waren wir bereits unterwegs. Wenige Stunden späterfuhr ich von der Autobahn ab in Richtung Schweinfurt-Zentrum. Schon nach 500 Metern stand links der blaueGeländewagen. Ich blendete mehrmals auf. Als Gert micherkannte, stellte er den Daumen hoch und fuhr los.

Es ging durch mehrere Nebenstraßen, bis er irgendwoanhielt, um zu parken. Lachend kam er auf mich zu: »Na,haste es?« Ich nickte, und wir umarmten uns herzlich.Dann wandte er sich zu meinem Beifahrer: »Und Sie sindalso der Spezialist, was?« Der grüßte freundlich, und Gertzog die Augenbrauen hoch. Mit einem gedehnten »Na -

172

Page 174: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ja« drehte er sich wieder zu mir. »Den kriegen wir auchnoch heil in den Süden.« Vor dem Geländewagen war ein3er BMW geparkt. »Hab ick schnell mal jemietet, wa«,berlinerte Gert.

Unser Stopp hatte keine drei Minuten gedauert, und schonwaren wir wieder auf Achse. Ohne Verzögerung ging esnach München. Was uns dort erwartete, sprengte meinVorstellungsvermögen. Es muss gegen 18.30 Uhr gewesensein, als wir über die Talbrücke in Grünwald fuhren unddie Isar überquerten. Wenig später bogen wir von der Mar-gareten- in die Heilmannstraße ein. Das große Haupttorwar hell erleuchtet. An Schranke 1 rollten wir direkt in dasCamp und bogen rechts ab.

Wir wollten zu Gigl, der im Park nebenan sein Domizilhatte. So weit kamen wir aber nicht, weil gleich hinter derKurve eine Traube von hochrangigen Mitarbeitern stand.Gert hielt an. Er kannte offensichtlich einige von ihnen.Sie hatten uns schon erwartet. Als ich ausstieg, applau-dierten sie. Mir war - bis auf Gigl - keiner der freund-lichen Herren in grauem Flanell bekannt. In einem der Bü-ros wurden Sekt und Gebäck gereicht. Ehrfürchtigbetrachteten alle das Gerät und lauschten den Ausfüh-rungen des Sachverständigen.

Dann stellte mir Gigl eine Frage, die alle im Raum ver-stummen ließ: »Na, Herr Dannau, und was hat uns derSpaß nun gekostet?« Ich genoss diesen Augenblick und zö-gerte die Antwort noch einen Moment hinaus: »Ich habeversprochen, also ich habe dem Lieferanten zugesagt, ihmam Freitag 40 000 Mark auszuzahlen.« Es brach ein all-gemeines Gelächter aus, was mich verwunderte. Als ich et-was irritiert schaute, kam mir Gigl zu Hilfe. »Herr Dannau,Sie haben 40 000 Mark gesagt. Sie meinen natürlich400 000 Mark. Das ist weit unter dem, was wir zu erwar-ten hatten. Gute Arbeit.« - »Nein, nein«, wehrte ich mich,und es wurde wieder still, »40 000 Mark, keine 400 000

173

Page 175: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Mark. Ich habe es für vierzigtausend Mark gekauft. Viel-leicht kommen noch 500 Mark Auslagen dazu.« Die Be-geisterung der BND-Oberen kannte keine Grenzen. Es gabnur noch Lobeshymnen und Schulterklopfen.

Am nächsten Morgen trat ich nochmals in der Zentralezum »Schaulaufen« an. Die Freude über das »Patrol« warnach wie vor ungebrochen. Es hagelte Lob und Anerken-nung. Besonders die extrem niedrigen Kosten wurden da-bei immer wieder hervorgehoben. Für Orden und Ehren-zeichen sollte ich damals vorgeschlagen werden. BesondereFörderung und Beförderung wurde mir versprochen. Essollte aber ganz anders kommen. Der BND unternahmzehn Jahre später nichts dagegen, dass mich die Staatsan-waltschaft München wegen genau dieser Zahlung beimLandgericht anklagte. Der BND half sogar mit, mich vorden Richter zu bringen. Das hätte ich mir in diesem Au-genblick nicht im Traum vorstellen können, und nochheute erscheint es mir wie ein Spuk.

Euphorisch fuhren Gert und ich damals nach Schwein-furt zurück. Ich wechselte den Wagen und war Stundenspäter wieder daheim. Noch am Freitag, unmittelbar nachder Scheidung von meiner ersten Ehefrau, machte ich michdirekt auf den Weg nach Berlin. Am Vortag hatte ichschon mehrfach mit Gassing telefoniert, um die Bezahlungvon K. zu organisieren. Es war nichts geschehen. Hektikbrach aus. Die Zahlstelle war bereits im Wochenende, derVize Völler aber noch in seinem Büro. Gassing machte essich leicht: »Sehen Sie zu, dass Sie das Geld herbringen.Ich kann mich doch nicht um alles kümmern.«

Völler begann zu telefonieren, da seine Kasse bei weitemnicht über ausreichende Mittel verfügte, um die 40 000Mark auszahlen zu können. Er versprach mir aber, dasGeld zusammenzukratzen. Er sammelte es bei mehrerenBerliner Außenstellen des BND ein. Um 18 Uhr wolltenwir uns vor der Haustür in der Ringslebenstrasse 2 treffen.

174

Page 176: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Ich begab mich in meine Wohnung. Um 18.15 Uhr saß ichziemlich frustriert vor dem Haus in meinem Geländewa-gen und wartete. Niemand war gekommen, um das Geldzu bringen.

Im Haus befanden sich zwei öffentliche Fernsprecher.Ich versuchte, die Dienststelle im Föhrenweg zu erreichen.Dort herrschte absolute Funkstille. Stinksauer überlegteich, was ich nun tun konnte. Um 19.30 Uhr war ich mitK. im Europa-Center verabredet. Für die Fahrt dorthinwürde ich im Feierabendverkehr eine gute halbe Stundebrauchen. Würde ich jetzt losfahren, dann käme vielleichtVöller eine Minute später um die Ecke. Ich entschlossmich zu warten. K. würde sicher nicht gleich wieder ge-hen. Er hatte schließlich einen Batzen Geld zu erwarten.

Es kam, wie es immer kommt. Um 18.40 Uhr traf einvöllig atemloser Völler ein. »Mensch, Norbert. Glaubstdu, ich hätte diese doofe Hausnummer 2 gefunden? Ichbin von der anderen Seite in die Ringslebenstrasse gefah-ren. Dann wird sie plötzlich zur Einbahnstraße. Glaub janicht, dass ich jemanden gefunden hätte, der mir die 2 zei-gen konnte.« Er reichte mir einen braunen Umschlag:»40 000 DM tutto completti.« Ich quittierte ihm dieSumme. Dann erklärte ich ihm den Ort der Geldübergabe.Wir fuhren getrennt in Richtung Kudamm.

Fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit stand ich an dergroßen Wasseruhr im Europa-Center. K. kam mit seinerFrau. Nach der Begrüßung begaben wir uns zu zweit in einSchnellrestaurant. Es lag an der Seite zum ZoologischenGarten. Die gesamte Front war dort verglast, so dass mangut hineinsehen konnte. Ich postierte mich direkt am Fen-ster, mit dem Rücken zum Center gewandt. K. saß mirgegenüber, ebenfalls direkt an der Glaswand.

Wir wechselten einige Floskeln und redeten uns geradewarm, als ich Völler erkannte, der auf der anderen Seiteder Passage Schaufenster betrachtete. Als er so postiert

175

Page 177: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

war, dass K. ihn nicht mehr im Blickfeld haben konnte,Völler selbst aber alles überblickte, wurde ich gespieltfeierlich: »So, nun kommen wir zum offiziellen Teil desAbends!« Ich legte den Umschlag, einen Quittungsblockund einen Kugelschreiber auf den Tisch.

Er nahm das Kuvert und verstaute es in seinem schwar-zen Lederkoffer. Dann füllte ich eine Quittung aus, und K.unterzeichnete. Als ich meine Utensilien wieder verstauthatte, nickte Völler von draußen und ging. K. und ich ver-einbarten, unsere Geschäftsbeziehung zu pflegen. Dannverließen wir das Lokal.

Als ich eine Stunde später in Ziesar vor meiner Bockwurstsaß, kam mir diese Woche irgendwie völlig unwirklich vor.

176

Page 178: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Münchhausen«

Anfang 1992 hatte meine gemeinsame Arbeit mit Freddybei 12YA begonnen. An unsere erste Tour erinnere michnoch ganz genau. Die Fahrt begann ziemlich früh beischönstem Wetter. Unsere Stimmung war blendend. Wirwollten in den Norden fahren, genauer gesagt über dieBundesstraße 96 in Richtung Oranienburg. Um nicht imBerliner Berufsverkehr stecken zu bleiben, waren wirschon zeitig am Steuer. Freddy lenkte einen Geländewagen,und ich saß in einem 7er BMW. Freddy hatte zwei kleineWalkie Talkies organisiert, also konnten wir uns unter-wegs verständigen.

Als wir beim Flughafen Tempelhof an einer breiten Kreu-zung nebeneinander standen, nickte er zu mir herüber miteinem Gesichtsausdruck, der wohl heißen sollte: Donner-wetter, du lebst ja nicht schlecht auf Staatskosten. Ichfragte ihn über Funk: »Warum eigentlich diese Staatska-rosse?« - »Hat Gert besorgt, mit einem Sondertarif. DasAuto, hat er gesagt, muss pünktlich am Montag um zwölfUhr mittags in Hannover abgegeben werden. Nicht früherund nicht später. Er hat gesagt, es war nichts Kleineresmehr zu kriegen. Wird sich aber übermorgen gut machen,mit einem Gesteck auf der Motorhaube.«

Dabei zog Freddy mit dem Finger das Augenlid herun-ter. Schlitzohren, dachte ich mir. Heute war Donnerstag,am Samstag wollte ich heiraten, und Gert hatte mir of-fensichtlich etwas Gutes tun wollen. Er konnte das ent-scheiden, weil er ja gerade den Chef vertrat. Außerdem wa-

177

Page 179: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ren es ohnehin seine letzten Wochen im Dienst. Und einweiteres Argument: Wir wollten heute eine Zielperson ausder Westgruppe der russischen Truppen (WTG) kontak-tieren. Da mussten wir einen guten Eindruck hinterlassen.

Unser erster Stopp sollte in Löwenberg sein, wo wir ineinem kleinen Cafe an der Bundesstraße mit »Sänger« ver-abredet waren. Rainer K. wurde seit der Operation »Ge-sangsverein«, der Beschaffung des russischen Freund-Feind-Gerätes C55, unter diesem Decknamen geführt. Erhatte uns eine Liste mit deutschsprachigen Russen ver-sprochen, die wir uns einmal ansehen sollten. »Sänger«wohnte nur einen Steinwurf von Löwenberg entfernt, ineinem kleinen Dorf. Er wollte um acht Uhr kommen. Dasheißt, wir hatten genügend Zeit, die Autos außer Sicht-weite zu parken und uns umzusehen. Nun quälten wir unsdurch Oranienburg, wo die Straßen total heruntergekom-men waren und gerade erneuert wurden. Überall um unsherum Verkehrschaos. Wir kannten aber bereits einigeSchleichwege. Einer führte direkt am KonzentrationslagerSachsenhausen vorbei.

Als wir diesen erschütternden Ort passierten, wurde ichnachdenklich. Wie war das alles nur möglich gewesen?Welche Einstellung zum Gehorsam hatten die Deutschendamals gehabt? Und welche Einstellung haben sie heute?Wir fuhren durch ein graues, verschmutztes Wohngebiet.Die in der DDR, dachte ich, hatten sich in gewisser Hin-sicht ähnlich verhalten. Sie hatten das Ideal des Sozialis-mus ganz akkurat einer falsch verstandenen Staatstreuegeopfert. Vielleicht einte die Deutschen ihr Hang zu einerArt von zerstörerischer Loyalität und Treue.

Aber das ist nicht mein Ding, dachte ich. Für die Sachewar ich hier, nicht für ein paar verträumte Vorgesetzte inMünchen. Wem gegenüber war ich eigentlich zur Loyalitätverpflichtet? Einem Amt? Einer Person? Einer Behörde?Alle, die so denken, machen denselben Kardinalfehler wie

178

Page 180: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

die Anhänger der Nazis oder die unkritischen Duckmäuserin der DDR. Während meiner langen Dienstreisen hatteich immer wieder Zeit, über solche Fragen nachzudenken.Gerade an den Plätzen, wo mir ein Teil der deutschen Ge-schichte gegenüberstand, waren diese Gedanken am stärk-sten. So auch während dieser Fahrt durch Oranienburg.

In der Nähe des angepeilten Cafes verließen wir dieAutos und stellten sie in einer Nebenstraße ab. Pfeifendkam mir Freddy entgegen. Unsere Stimmung war bestens.Wir waren schon gespannt, was uns »Sänger« erzählenwürde. Als wir das Cafe betraten, waren wir die einzigenGäste. Wir freuten uns auf das Frühstück, da wir an die-sem Morgen noch nichts gegessen hatten.

Nach einer guten halben Stunde schlug ich Freddy vor,doch einmal zu schauen, ob unser Freund auch wirklichallein kam. »Gute Idee«, erwiderte Freddy, »ich werdeeinen kleinen Spaziergang machen. Wann soll ich hier wie-der aufschlagen?« - »Warte noch fünfzehn Minuten, wenn>Sänger< angekommen ist. Dann kommst du rein, und ichstelle dich vor. Wenn irgendetwas Besonderes sein sollte,fährst du mit dem Wagen in Richtung Gransee. Ich kanndas von hier aus sehen und werde dir dann folgen. Treff-punkt irgendwo an der 96er.«

Er zog ab, und ich wartete auf unseren Gesprächspart-ner. Ein bisschen Unsicherheit beschlich uns, weil wir nichteinschätzen konnten, ob die russische Seite das Verschwin-den des Freund-Feind-Erkennungsgerätes mit »Sänger« inVerbindung brachte. In diesem Fall hätte es sein können,dass er observiert wurde. Also war Vorsicht geboten. Einenseparaten Abendtermin, wie ihn jeder Verbindungsführeraus Pullach organisiert hätte, konnten wir uns aus zeit-lichen Gründen nicht leisten. Der Treff musste so neben-bei erfolgen. Also galt es, doppelt vorsichtig zu sein.Immerhin wollten wir am selben Tag noch einen hochde-korierten Russen der WGT anwerben.

179

Page 181: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Sängers« Erzählungen

»Sänger« kam pünktlich und begrüßte mich freudig. Wiees seine Art war, schwätzte er erst einmal ausgiebig. DieGeschichte klang wie eine Räuberpistole, aber vielleichtwar sie doch wahr: »Es klingelte an meiner Haustür. Einrussischer General, ein Militärstaatsanwalt und vier wei-tere Personen standen da. Vermutlich KGB. Sie fragtenmich, ob ich etwas über das C55 wüsste. Dann kamen sierein und haben mein Haus eine Stunde lang durchsucht.Ich hatte nichts zu verbergen, also wehrte ich mich auchnicht dagegen. Dann sind sie wieder abgezogen.« Als ichihn nach Namen und Details fragte, konnte er keine Aus-kunft geben. Das ließ mich am Wahrheitsgehalt der Ge-schichte zweifeln.

Freddy kam zurück. Sein dezentes Nicken bedeutete,dass alles in Ordnung war. Ich stellte die beiden vor undbat »Sänger«, seine Geschichte noch einmal zu wiederho-len. Gleichzeitig zwinkerte ich Freddy zu. Er setzte sichschmunzelnd. »Sängers« Story wurde nun zwar umfang-reicher als zuvor, brachte aber noch weniger verwertbareInformationen. Dann legte er seine Namensliste vor. Aufdem Zettel waren Namen von etwa einem Dutzend WGT-Offiziere aneinandergereiht.

Freddy notierte eine Vielzahl von Informationen überdie Zielpersonen, die ich bei »Sänger« abfragte. Alter, Fa-milienstand, Funktion in der Armee, persönliche Eigen-heiten. Das war ein ziemlich ungeordnetes Sammeln vonDaten, aber wir hatten keine Unterlagen mitgenommen,die uns beim Prüfen der Angaben hilfreich gewesen wären.Dienstintern gab es keine Anweisungen, und wir wolltendie Pannen nicht wiederholen, bei denen BND-Unterlagenin russische Hände gelangt waren. Das Einzige, was unsauf späteren Fahrten als BND-Agenten identifiziert hätte,

180

Page 182: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wären unsere Dienstausweise gewesen, die wir in einemVerbringungsmittel (VBM) versteckt hielten.

Nach etwa einer Stunde verabschiedete sich unser Gast.Freddy hielt das Papier in die Höhe und tippte mit demFinger darauf. Mit siegessicherer Miene verkündete er:»Das ist es, das ist der Schlüssel!« - »Einer von vielen«,antwortete ich ihm. Unsere gute Laune hatte sich noch ge-steigert. Euphorisch fuhren wir weiter nach Norden. AmOrtseingang von Gransee hatte gerade eine neue Tankstelleaufgemacht. Das nahmen wir als Symbol für den »AufbauOst« zur Kenntnis.

Bald erreichten wir einen weiteren Ort, der für unsereZukunft von entscheidender Bedeutung werden sollte. Inder Ortsmitte lag eine Kirche. Zwischen der Kirche undder Hauptstraße befand sich ein Parkplatz, der gelegent-lich für den Wochenmarkt genutzt wurde. Er war in einemsolchen Zustand, dass einen die Suche nach einem Park-platz schier seekrank werden ließ. An dem nostalgischenKopfsteinpflaster war offensichtlich seit seiner Erstverle-gung nie mehr etwas repariert worden. Das Befahren for-derte deshalb auch etwas Mut, wollte man seine Stoß-dämpfer nicht ruinieren.

Der kleine Ort hatte einen gewissen Charme. Wir lagengut in der Zeit und legten daher eine kleine Pause ein. Ge-genüber vom Parkplatz stand ein Hotel, das offensichtlichschon bessere Zeiten gesehen hatte. Die Fassade war ver-wittert und sicherlich jahrzehntelang ohne Farbe ausge-kommen. Leider war das Hotel an jenem Tag geschlossen.Gleich daneben hatte jemand offensichtlich erst vor kurzemeinen kleinen Fotoladen eröffnet. Dieser passte so gar nichtin das graue Einerlei jener Tage. Auf der anderen Seite derBundesstraße war ein Schnellimbiss entstanden. So sah da-mals die typische Gastronomie der Ex-»Zone« aus.

Gerade als wir die Straße überqueren wollten, hörtenwir plötzlich Stiefeltritte im Marschtakt. Ich blieb wie an-

181

Page 183: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gewurzelt stehen und beobachtete das Schauspiel. AusRichtung Norden näherten sich mehrere Kompanien Sol-daten. Sie trugen khakifarbene Uniformen und blockier-ten die Straße in ihrer gesamten Breite. Die Stiefelgeräu-sche hallten laut und kamen immer näher. Freddy und ichblickten uns wortlos an. Dann zog das fremde »Heer Ost«direkt an uns vorbei. Eine nicht enden wollende Kolonne.

In diesen Minuten hatte ich ein eigenartiges Gefühl. DieSoldaten waren alle jung und ihre Gesichter zeigten, dasssie von sehr weit herkamen. Keiner von ihnen war größerals 1,65 Meter. Sie wirkten ängstlich. Nicht einer schautenach links oder rechts. Die Blicke stur geradeaus, mankonnte keine Gefühlsregungen erkennen.

Neben jedem Zug ging ein Fähnrich oder Leutnant. DieBegleiter sahen genauso jung aus wie ihre Soldaten. Einfremder, süßlicher Duft lag in der Luft. Er war vermischtmit dem Geruch von muffigen und klammen Militärkla-motten, den Ausdünstungen der Soldaten und dieser un-beschreiblichen DDR-Geruchsnote von Öl- und Kohle-ofenheizungen sowie Trabi-Auspuffgasen. Es war einunwirklicher Moment - fremde Menschen und Gerüchean einem fremden Ort.

Ich atmete tief ein, als sie vorbeigezogen waren. Freddystand zunächst mit offenem Mund sprachlos vor mir. Ichfragte ihn knapp: »Habe ich das jetzt geträumt?« Total be-eindruckt antwortete er: »Das war wie ein Spuk. Als hät-ten sie diese Parade nur für uns organisiert. Das waren jaalles noch Kinder. Mein Gott, und vor denen haben wirimmer Angst gehabt. Der böse Feind aus dem bösen Osten.Die sind doch heilfroh, wenn sie regelmäßig etwas zu bei-ßen haben. Mensch, was haben wir doch für ein verkorks-tes Bild von diesen Menschen gehabt.« Dann war erst ein-mal Sendepause. Wir gingen über die Straße und trankenwortlos unseren Kaffee.

Innerlich war mir eiskalt geworden, und als wir wieder

182

Page 184: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

an unseren Autos standen, schärfte ich Freddy ein: »Ganzegal, wen wir zu einer Mitarbeit für unseren Laden über-reden. Von uns wird jeder anständig behandelt. Ganz of-fen und ehrlich. Keine Hinterfotzigkeiten, kein Druck odersonst etwas. Das hat keiner von denen verdient. Wenn unsjemand hilft, dann helfen wir ihm auch. Alles auf gleicherAugenhöhe.«

Stark beeindruckt von dieser fast hautnahen Berührungmit den fremden Soldaten fuhren wir weiter durch einewunderschöne Landschaft, über Neustrelitz nach Neu-brandenburg. Dort bogen wir in eine Nebenstraße, umnoch einmal in Ruhe alles durchzusprechen. Unsere Ziel-person kam aus Wünsdorf. Es war ein Oberst, der perfektund akzentfrei Deutsch sprach und ständig mit den deut-schen Behörden verkehrte. In den letzten Wochen hatte er,im Auftrag des WGT-Oberkommandierenden Burlakow,mehrfach mit der Bundeswehr verhandelt.

Über einen damaligen Generalstabsoffizier der Bundes-wehr hatte ich von dem Kontakt erfahren. Diesen Offizierkannte ich noch aus meiner aktiven Militärzeit. Damalswar er Hauptmann und Kompaniechef im benachbartenBataillon gewesen. Der drahtige Offizier, von seinen Sol-daten immer als Kampfschwein tituliert, hatte mittlerweilenicht nur Karriere gemacht, sondern befand sich bereitswieder auf dem Sprung in eine neue Verwendung beimAmt für Nachrichtenwesen in Euskirchen. Er hatte meh-rere interessante Kontakte zu russischen Offizieren ge-habt, eine Delegation der WGT sogar nach Bonn eingela-den. Er wollte auch den BND dabei haben, war aber inPullach abgeblitzt. Durch Zufall hatten wir uns wieder ge-troffen, und so kam der Stein ins Rollen.

183

Page 185: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Ein russischer Oberst für den BND

Jetzt war es an der Zeit, aus einem der Kontakte des deut-schen Offiziers etwas zu machen. Der russische Oberst,nennen wir ihn Wladimir Abrassimow, wusste nichts vondem, was ihn erwartete. Im Normalfall hätte er zunächstvon uns eine BND-interne OPPA-Nummer erhalten müs-sen. Jeder potenzielle Informant bekommt sie bei der er-sten Personen-Abfrage. Nach der Werbung wird sie in eineV-Nummer mit Decknamen umgewandelt.

In Berlin lief das alles ganz anders. Angesichts einer Viel-zahl von Informanten, des kleinen Arbeitsstabes und der da-mit verbundenen hohen zeitlichen Belastung der Verbin-dungsführer wurde abweichend von der Regel verfahren -mit Wissen der Münchner Zentrale. So gab es später einigeQuellen und Informanten, die ohne OPPA-Nummer undohne V-Nummer über lange Zeiträume geführt und auchbezahlt wurden. Nicht wenige von ihnen wurden erst Mo-nate oder gar Jahre nach der Werbung aktenmäßig verwal-tet. So war es auch zu erklären, dass im vorliegenden Falldie Quelle erst im Juni 1992 in der Pullacher Registraturerfasst und überprüft wurde. Daraus entstand die OPPA-Nummer 12YA000100692. Wir teilten unserer Zielper-son Abrassimow erst einmal den Decknamen »Münch-hausen« zu. Er sollte ihn im weiteren Verlauf der Führungauch behalten.

Eine solche Vorgehensweise ohne BND-interne Prüfungder Klaridentität war nicht unkorrekt, denn bei Ostblock-Offiziellen, insbesondere bei Soldaten der WGT, war inder BND-Zentrale keine echte Überprüfung möglich.Wenn eine Zielperson aus diesem Bereich geprüft wurde,dann betraf das lediglich zwei Punkte. War die Zielpersonim Westen straffällig geworden? Oder wurde sie bereitsvon einem anderen BND-Agenten bearbeitet? Die Wahr-

184

Page 186: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

scheinlichkeit, dass eines von beiden zutraf, war kleinerals ein Lottogewinn, und deshalb hatte die Prüfung aus-schließlich formalen Charakter.

Die Abweichung von der BND-Norm mag dem Außen-stehenden in diesem Fall unwesentlich erscheinen, wirdaber Jahre später von dem zuständigen Referatsleiter desUntersuchungsreferats vor dem Landgericht München ve-hement bestritten werden. Die damals bei 12YA völlignormale Vorgehensweise sollte für mich später verhee-rende Auswirkungen haben.

Den ersten Kontakt mit der Zielperson »Münchhausen«wollte ich nach Plan allein durchführen. Freddy hatte dieAufgabe, die Umgebung des Gebäudes zu beobachten.Wir wollten vor allem wissen, wann und wie unsere Ziel-person an- und abreiste.

Es ging los. Zuerst fuhr Freddy in Richtung der Neu-brandenburger Bundesvermögensverwaltung. Die Behördelag direkt an einer Bundesstraße. In einer Kehre stellte ersein Auto ab. Ich folgte fünf Minuten später und hielt ne-ben dem Eingang. Rechts davon stand bereits ein russi-scher Jeep. Darin konnte ich einen Kraftfahrer in Uniformerkennen. Im Rückspiegel sah ich noch, wie der russischeOberst eine Aktentasche aus dem Militärfahrzeug holteund dann zu Fuß das Dienstgebäude betrat. In der Nähedes Gebäudes stellte ich den Wagen ab und ging rasch insHaus. Im ersten Stock traf ich auf meinen Verbindungs-mann, der mich in sein Dienstzimmer brachte. Der russi-sche Oberst hatte heute weiter nichts mit ihm zu tun. Ersollte lediglich Dokumente abholen.

In einer kleinen Sitzecke warteten Kaffee, Tee und etwasGebäck auf mich. Dann ging alles sehr schnell. Durcheinen Türspalt konnte ich beobachten, wie der russischeOberst Unterlagen auspackte und andere Papiere in Emp-fang nahm. Der deutsche Mittelsmann hatte ihn freund-lich begrüßt und bat ihn nun in sein Arbeitszimmer. »Ich

185

Page 187: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

komme gleich wieder, wenn Sie sich vielleicht selbst be-kannt machen würden«, sagte er und schloss die Tür hin-ter sich. Oberst Abrassimow legte seine Mütze und diebraune Ledertasche auf einen kleinen Tisch. »Mein Nameist Schrader, Werner Schrader«, begrüßte ich ihn. Der rus-sische Oberst war freundlich, blickte aber doch etwasskeptisch. Denn die Situation war, zugegeben, etwas ei-gentümlich. Wir nippten am Tee und begannen eine müh-same Konversation.

Dann entschied ich mich, die Katze aus dem Sack zu las-sen: »Sie wundern sich vielleicht, hier ein fremdes Gesichtzu sehen. Ich würde gern mit Ihnen sprechen. Aber zuerstwill ich meine Karten auf den Tisch legen. Ich bin Mitar-beiter des BND.« Er wurde auf der Stelle kreidebleich.»Ich möchte, dass Sie Folgendes wissen: Wenn Sie jetztoder später nicht mehr mit mir reden wollen, akzeptiereich das völlig. Dann gehen wir beide in fünf Minuten hierraus, und niemand wird etwas von der Begegnung erfah-ren. Sie werden aber verstehen, dass ich diese Chance nut-zen muss.«

Ich redete auf ihn ein mit dem Ziel, ihm zunächst dieAngst zu nehmen. Langsam kehrte seine normale Gesichts-farbe zurück. Dann erzählte er mir einige ganz persönli-che Dinge, was mich wiederum überraschte. Er schien mirzu vertrauen. Ich hatte das Gefühl, dass die Chemie zwi-schen uns stimmte. Abrassimow war zunächst stark be-eindruckt. Seine Hände zitterten. Ich spürte, wie seine Ge-danken hin und her rasten.

Wir tranken noch eine Tasse Tee. Ich bat ihn, mir dieChance eines weiteren Gesprächs auf neutralem und siche-rem Boden zu geben. Der Russe willigte zögernd ein. Dannbeschlossen wir, dem Kontaktmann zu sagen, dass wirklar gekommen seien. Außer ihm wusste hier niemand vondem Treffen. Ich überreichte dem Russen zwei Termine inBerlin und einen in Bad Freienwalde. Für die Hauptstadt

186

Page 188: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wählte ich wie schon bei der Angelegenheit mit demFreund-Feind-Gerät das Europa-Center, und dort diesesMal die große Wasseruhr. Der Ort war für ein unauffälli-ges Treffen bestens geeignet, und in Sachen C55 hatte ichihn noch in guter Erinnerung. Außerdem war er leicht zufinden und lag verkehrsgünstig.

Dass aus dieser riskanten Anbahnung eine Freundschaftbis zum heutigen Tag entstehen würde, die alles Offizielleund Dienstliche überdauerte, konnte ich damals nochnicht ahnen.

Ich ließ dem Ansprechpartner nur eine Woche Zeit zumÜberlegen. Wie heißt es doch? Das Eisen soll man schmie-den, solange es heiß ist. Als Ausweichtermin wählte ichden folgenden Tag, also Mittwoch, den 6. Mai 1992, wiederum 21 Uhr. Für den Fall, dass beide Termine aus irgend-welchen Gründen platzten, gab es noch die nächste Treff-möglichkeit am Montag, dem 18. Mai 1992, um 18.30 Uhram Bahnhof in Bad Freienwalde. Am Ende verabschiede-ten wir uns mit einem Handschlag. »Na, dann sehen wirmal, was wird. Reden kann man ja mal. Bis nächste Wochedann«, waren seine letzten Worte.

Als ich fünf Minuten später das Gebäude verließ, warder russische Jeep nicht mehr zu sehen. Auf einem Park-platz an der B 96, wenige Kilometer südlich von Neu-brandenburg, traf ich Freddy wieder. Er hatte den An- undAbmarsch unserer Zielperson observiert und dabei keineAuffälligkeiten feststellen können. »Wie ist es gelaufen?«,fragte er knapp. »Ich denke, ganz gut. Nach meiner Ein-schätzung wird er zum Treff kommen.« Dann traten wirbeide den Rückweg an. Über Neustrelitz ging es, zum Teilauf unbefestigten Straßen und Wegen, über Wesendorf undMirow nach Wittstock. Dort verabschiedeten wir uns.

Freddy musste nach Berlin zurück, um seine Sachen zupacken, und durfte dann den lange ersehnten Urlaub an-treten. Ich eilte nach Hannover, wo am übernächsten Tag

187

Page 189: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

mein Hochzeitstermin geplant war. Wir trennten uns miteiner gewissen Zufriedenheit. Nun hatten wir eine klarePerspektive für die künftige Arbeit. Vielleicht würden wirschon in Kürze eine echte nachrichtendienstliche Quellewerben. Es schwang so etwas wie Wehmut mit, als wirzwei verschiedene Autobahnauffahrten ansteuerten.

Eine Woche später. Meine innere Spannung war ins Un-ermessliche gestiegen. Gert wünschte mir noch viel Erfolg,als ich den Weg in die Innenstadt antrat. Würde »Münch-hausen« zum Treff im Europa-Center erscheinen? Ichrechnete fest damit. Zur Absicherung nahm ich einen Kol-legen mit. Er postierte sich im ersten Stock des Innenhofs,im Restaurant Mövenpick. Von dort konnte er die Halleum die große Wasseruhr gut überblicken. Ich setzte michan eine Bar in Sichtweite der überdimensionalen Uhr. Dahatte ich auch alles im Visier. Noch fünfzehn Minuten,dann müsste er kommen. Ich ließ noch einmal alles geistigRevue passieren. Die erste Begegnung in Neubranden-burg, die Abschiedsworte.

Nach einer Stunde brachen wir frustriert ab. Unsere ein-zige Hoffnung war der Ausweichtreff am nächsten Tag.Morgens begegnete mir als Erster Hans Diethard. Deramerikanische Kollege fing mich gleich beim Betreten derDienststelle im Föhrenweg ab und wich mir nicht mehrvon der Seite. »Der Norbert, ein seltener Besucher. Ichhabe gehört, du hast etwas Größeres am Laufen. Brauchstdu irgendeine Unterstützung? Sollen wir mit Geld aushel-fen? Komm doch nachher mal in den Keller, da könnenwir alles besprechen. Vielleicht brauchst du ja auch Ziga-retten oder Alkohol zum Tauschen.« Dabei zwinkerte ermir bedeutsam zu.

Er wusste genau, dass ich keine Kontakte unterhielt, fürdie ich Tauschmaterial brauchte. Es war außerdem ein of-fenes Geheimnis, dass die Verbindungsführer von 12YAdas so genannte Tauschmaterial hauptsächlich für den Ei-

188

Page 190: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

genbedarf nutzten. Darauf habe ich an anderer Stelle be-reits hingewiesen. Die Amerikaner lockten unsere Mitar-beiter regelmäßig in den Keller, um sie dann in ihrem Sinne»abzuschöpfen«. Das war zwar plump angelegt, verfehlteaber nicht sein Ziel. Dem Dienst war diese Verfahrens-weise bekannt; sie wurde aber großzügig toleriert. Ich sahsogar den einen oder anderen Münchner Vorgesetzten, derdie Berliner Dienststelle besuchte, mit einer Stange Marl-boro oder einer Gallone Whisky oder auch mit beidem ausdem Keller kommen.

Mein Kollege und ich fuhren wieder zum Kudamm undbezogen unsere Positionen im Europa-Center. Um es kurzzu machen, es passierte auch diesmal nichts. Wieder stie-gen Zweifel in mir hoch. Was hatten wir falsch gemacht?War ich zu dreist oder zu selbstgefällig vorgegangen?

Ich kam ziemlich entnervt in Buckow an und ging gegenMitternacht in unsere Stammkneipe, dem »Mauerblüm-chen« in der Ringslebenstrasse. Dort saßen ein paar Kol-legen von uns schon seit ein paar Stunden in einer feucht-fröhlichen Runde. Das brachte mich gleich auf andereGedanken. Es wurde hin und her gefrotzelt. Ordentlichabgefüllt verließ die Truppe kurz nach zwei Uhr das Lo-kal.

Der kurze Weg zu unseren Wohnungen, es dürften wohlnur 300 Meter gewesen sein, dauerte etwas. Einige Laternen-pfähle und die eine oder andere Hecke mussten begossenwerden, was seine Zeit benötigte. Dann sahen wir plötz-lich den Dienstwagen des von allen so geschätzten Kolle-gen Tegtmeier, der damals in Hannover den »Stay Be-hind«-Mann Roland Urban in Schwierigkeiten gebrachthatte. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich michab und zu an dem nun folgenden Ritual beteiligte. Allewirkten plötzlich stocknüchtern.

Einer aus der Gruppe sagte: »Schöner Wagen!« Ein an-derer darauf: »Ein Opel, sind die denn zuverlässig?« Der

189

Page 191: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Nächste: »Nein, nein, die haben oft Startschwierigkeiten.Vor allem halten die Reifen die Luft nicht.« Dann sagteirgendwer: »Ich wette, dass Tegtmeier morgen nicht pünkt-lich ist.« Darauf ein weiterer »Tegtmeierfreund«: »Ichhalte nicht dagegen.« In Windeseile waren alle Reifenohne Luft. Lachend, kichernd und zufrieden verschwan-den alle im Wohnblock Nummer zwei. Dieses »Ritual«hatte ich schon mehrfach miterlebt. Jedem der 12YA-Be-wohner aus der Ringslebenstrasse war der Text geläufig.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einenAbend im Herbst 1992. Wir waren wieder einmal auf demHeimweg vom »Mauerblümchen«. Voller Vorfreudewurde Tegtmeiers Dienstwagen aufgespürt. Er hatte seinAuto mittlerweile immer in einer der Nebenstraßen ver-steckt abgestellt. Das änderte natürlich nichts an der Tat-sache, dass ihn der Rest der Truppe regelmäßig fand. Alswir das Gefährt diesmal genauer betrachteten, musstenwir feststellen, dass es bereits von einer anderen Mann-schaft tiefer gelegt worden war. Einer der Kollegen warrichtig enttäuscht: »So ein verpatzter Abend, das nächsteMal gehen wir eher nach Hause.«

Warten auf »Münchhausen«

Am nächsten Morgen unterrichtete ich Gert bei einem ge-meinsamen Kaffee in unserer Wohnung über den Sach-stand in der Operation »Münchhausen«. Er teilte meinenPessimismus nicht. »Warte ab, Norbert, der kommt schonnoch. In Wünsdorf ist doch gerade die Hölle los. Also wirdihm sicherlich etwas dazwischengekommen sein.« Als wirim Föhrenweg eintrafen, wartete bereits die Sekretärin aufuns: »Mark Handridge und Hans Diethard wollen euch

190

Page 192: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

sprechen. Sie befinden sich in deinem Zimmer, Norbert.«Wir gingen gemeinsam in das Obergeschoss. Dort wartetendie beiden amerikanischen Kollegen in einem völlig leerenBüro.

Die Möbel waren uralt und stammten eindeutig auseiner Kasernenauflösung. Einige Stühle waren nicht mehrsicher, und so lehnten die Besucher an Tischen und Fens-terbänken. Mit einem provozierenden Blick und einemwissenden Grinsen betrachtete Mark den leeren Raum.Gert schmunzelte: »Sehr ordentlich aufgeräumt, Norbert,sehr akkurat! Respekt!« Es war schon ein bizarres Bild,das sich den beiden Amerikanern bot. Während bei allenanderen Verbindungsführern die Tische mit Unterlagenüberquollen, war bei mir kein Fetzen Papier zu sehen.Nicht einmal ein Bleistift lag auf dem Schreibtisch. AlleTüren und Schubladen waren weit geöffnet und gähnendleer. Kein Kalender an der Wand, kein Notizblock, nichts.Es muss auf die beiden DIA-Männer wie eine Demonstra-tion des puren Misstrauens gewirkt haben.

Mark wählte den Weg nach vorn: »Wir wollten eigentlichnur mal hören, was du so treibst. Wie läuft es mit >Münch-hausen<? Habt ihr heute Mittag Zeit? Wir laden euch zumEssen ein. Dann können wir ja vielleicht etwas entspann-ter reden.« Wie eine Fata Morgana waren sie wieder ver-schwunden. »Saubande«, sagte ich zu Gert, »die werdennicht locker lassen.« Wir beschlossen, die Esseneinladunganzunehmen, um die Amerikaner besser einschätzen zukönnen. Trotzdem musste dieses Problem unbedingt ein-mal ausführlich mit unserer Zentrale erörtert werden. DiePartner waren uns zu aufdringlich.

Beim Mittagessen wurde weitgehend Smalltalk betrie-ben. Mark und Hans vermieden es tunlichst, konkreteFragen zu stellen. Mehrfach boten sie Geld und sonstigeUnterstützung an. Sie hatten inzwischen auch mitbekom-men, dass meine Aktivitäten zur Quellenwerbung eine

191

Page 193: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

breitere Perspektive boten als das allgemeine Müllsam-meln von 12YA.

Eigentlich kamen wir alle gut miteinander aus. Die bei-den Amerikaner waren ziemlich sympathisch. Aber ihrWissensdrang und die dreiste Vorgehensweise ließen eherDistanz entstehen. Vielleicht ahnten die Partner bereits,was sich hier später entwickeln sollte. Dass »Münchhau-sen« eine der besten Quellen des BND werden würde,konnte aber zu diesem Zeitpunkt niemand voraussehen.

Am Montag, dem 18. Mai 1992, stand der letzte Ver-such an, »Münchhausen« ins Boot zu holen. Wenn er beimdritten Mal auch nicht käme, würde ich das Unternehmenabhaken. Immerhin bearbeitete ich inzwischen eine ganzeReihe anderer aussichtsreicher Tipps. Wenn nicht er, dannein anderer, dachte ich pragmatisch.

Um 18 Uhr kam ich in Bad Freienwalde an. »Münch-hausen« traf zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit ein.An diesem Maitag war es bereits erstaunlich warm, so dasswir uns in kurzärmeligen Hemden am Bahnhof gegen-überstanden. Der gesamte Vorplatz war menschenleer.Den Schutzobservanten hätte ich mir sparen können.Während ich wegen der unsicheren Verkehrslage in jenenTagen direkt aus Hannover kam, war mein Kollege, denich schon zum Europa-Center mitgenommen hatte, ausBerlin angereist und fotografierte die Szene.

»Münchhausen« lächelte freundlich, als er auf mich zu-kam. Zunächst entschuldigte er sich für die beiden ge-platzten Treffs: »Der Oberkommandierende hatte wich-tige Termine vorzubereiten. Da brauchte er mich fast Tagund Nacht.« Der Bahnhof war ungünstig für diskrete Ge-spräche, also schlug ich einen Ortswechsel vor. Er hattekeine Einwände.

Wir stiegen in meinen Wagen und kamen durch eine wun-derschöne Landschaft. Über weite Strecken war der Fahr-weg lediglich eine befestigte Sandpiste. Ich musste also vor-

192

Page 194: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

sichtig und langsam fahren. Dadurch hatten wir schoneinmal Zeit zum Reden. Mein Begleiter klammerte sichzunächst an sein Herrenhandtäschchen, das er auf seinemSchoß liegen hatte. Dann wurde er zunehmend gelöster. Indieser Umgebung, weitab von seinem Wünsdorfer Stand-ort, fühlte er sich sicher. Als uns kurz vor Bralitz beinaheein Rehbock ins Auto gesprungen wäre und wir uns vondem Schreck erholt hatten, lachten wir erstmals.

Der Abend verlief harmonisch. Wir wurden uns schnellüber das große Ganze einig. Also konnten wir uns auch zuvielen Einzelheiten verständigen. Über allem stand meinVersprechen, für »Münchhausens« Sicherheit zu sorgenund ihm jederzeit die Option offen zu halten, den Kontaktohne Angabe von Gründen zu beenden. Im Werbungsbe-richt für den BND hieß es später: »Hauptmotiv sind fi-nanzielle Überlegungen und die Sorge um die eigene Fami-lie. Zitat: >Die Erfolge sagen alles über euer System aus.<«

Die eher spartanisch ausgefallene Aktennotiz entstanderst viele Monate nach dem Treffen. In der Zwischenzeitlieferte »Münchhausen« eine Menge erstklassiger Infor-mationen und erhielt dafür rund 10 000 Mark Agenten-lohn. Es gab bis zum damaligen Zeitpunkt nicht einmaleine formale Überprüfung der neuen Quelle. Wichtige per-sönliche Details musste ich ohnehin weglassen, damit esim Föhrenweg - insbesondere bei den Amerikanern - un-möglich war, die Identität von »Münchhausen« aufzuklä-ren. Das war zwar formal unkorrekt, aber - wie die wei-tere Geschichte zeigen wird - durchaus vertretbar. Auchder Gigl-Nachfolger Tawe riet mir in einem späteren Ge-spräch, die Klaridentitäten von Quellen und Beschaf-fungshelfern zu verschleiern.

Ich wusste damals nicht, dass es einen Vorgang 1/11/A mitdem Aktenzeichen 80-38/45-27-01 vom 22. April 1991gab. Er stammte vom damaligen Abteilungsleiter 1 (Be-schaffung), Volker Foertsch, und betraf die »nachrichten-

193

Page 195: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

dienstliche Nutzung von Staatsbürgern osteuropäischerLänder und von Deutschen in den neuen Bundesländern«.Foertsch ordnete an, dass Klaransprachen in diesem Be-reich »weiterhin meiner vorherigen Zustimmung« bedür-fen. In den Jahren 1992 und 1993, als ich zusammen mitmeinem Partner Freddy ein halbes Dutzend Quellen ausdem alten Sowjetbereich warb, wusste ich von dieser Vor-schrift nichts. Auch die anderen Verbindungsführer unse-rer Dienststelle waren nicht informiert.

Hätten wir tatsächlich für jede Werbung die Zustim-mung des Abteilungsleiters einholen müssen, dann wäredies ein eklatanter Sicherheitsverstoß gewesen. Der BNDnahm damit billigend in Kauf, dass die Klardaten jedereinzelnen Innenquelle noch vor der eigentlichen Werbungauf dem Dienstweg durch die Abteilung 1 vagabundiertwären. Ein Graus.

Anfang Juni kam Freddy aus dem Urlaub zurück. Wirplanten die weitere Strategie. Es war uns schnell klar, dassuns gute Ergebnisse von »Münchhausen« den Rücken fürweitere Quellenwerbungen offen halten würden. Wir hat-ten eine Reihe von Zielpersonen im Visier. Es gab noch vielzu tun.

Am 8. Juni 1992 traf ich »Münchhausen« erneut. Wirwaren so verblieben, dass er sich mein Ansinnen noch ein-mal in Ruhe überlegen sollte. Diesmal hoffte ich auf einefeste Zusage. Er hatte an einem Standort bei Wriezen zutun, und somit trafen wir uns dort in der Nähe des Orts.Wir saßen fast den ganzen Abend in einem Gasthaus undunterhielten uns sehr angeregt. An einem entfernten Tischbeobachtete uns Freddy, um sich einen ersten Eindruckvon »Münchhausen« zu verschaffen.

Es war mein Glückstag. »Münchhausen« sagte nicht nurzu, er hatte auch schon Unterlagen mitgebracht. Nachetwa einer Stunde holte er einen Ordner aus seiner Tasche.»Hier, nimm das«, sagte er mit fester Stimme, »ich muss es

194

Page 196: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

aber nachher wiederhaben. Vielleicht kannst du es kopie-ren.« Beim Durchblättern sah ich bereits, dass der gesamteVorgang streng geheim eingestuft war.

»Münchhausen« lächelte: »Ich liefere dir eine vollstän-dige und zudem aktuelle Bestandsliste aller Flugzeuge undHelikopter der gesamten ehemaligen Sowjetarmee, alsonicht nur die in der DDR stationierten. Komplett mit allenRegistriernummern, Zuordnungen zu den Einheiten und soweiter.« Ich war sprachlos. »Kann ich damit kurz weg?«,fragte ich ihn. »Nur wenn du mich mit der Rechnung nichtallein lässt«, war die launige Antwort. Ich verstaute denOrdner in einer großen Plastiktüte und verließ das Lokal.

In einer Nebenstraße saß Freddy inzwischen wieder inseinem Wagen und wartete. »Wir müssen das hier foto-grafieren«, sagte ich ihm und hielt die Tasche in die Luft.»Aber wir können hier im Auto nicht umherblitzen. Daswürde möglicherweise jemandem auffallen«, war FreddysEinwand. »Also, dann ab in den Kofferraum«, grinste ichihn an. Widerwillig verschwand er in dem unbequemenKabinett. Einige Male reichte er mir die Kamera heraus,damit ich einen neuen Film einlegen konnte. Nach fünf-zehn Minuten war alles erledigt. Freddy verabschiedetemich in tiefstem Fränkischund witzelte: »Das wenn ichbei mir zu Hause in Aurich erzähle, das glaubt mir keinMensch.« »Deine Enkel werden einmal stolz auf dichsein«, lautete meine Antwort im Weggehen.

Diese Liste schlug in Pullach wie eine Bombe ein. Nochnie zuvor war es möglich gewesen, an derart geheime Doku-mente zu kommen. Entsprechend gut war auch die Stim-mung im Föhrenweg. Die Amerikaner flippten richtig aus.Unser hochintelligenter russischer Stabsoffizier, der nichtnur fünf Fremdsprachen beherrschte, sondern auch ein ge-schultes fotografisches Auge hatte, versorgte uns regel-mäßig mit sensationellen Informationen. »Münchhausen«entwickelte sich zu einer Spitzenquelle.

195

Page 197: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Im Juni folgten noch mehrere Treffen. Wir bekamen vonihm Originaldokumente, Fotos und Tonbandaufzeichnun-gen. Besonders begehrt waren die Tonkassetten. Er zeichneteden Inhalt der Dokumente auf, die er nicht anders besor-gen konnte. Auf diese Weise wurde von »Münchhausen«eine illustre Liste von streng geheimen Papieren geliefert.Alle Namen der russischen Militärführung fanden sich hier,wie in einem Who's who der Generalität.

Schon damals warnte uns »Münchhausen« vor seineneigenen Leuten. Der KGB, sagte er mit Nachdruck, seisehr aktiv und verfüge über wichtige Zugänge zum BND.Das bereitete ihm Sorgen. Er bat um größtmögliche Vor-sicht, was seine Identität betraf. Ich hielt ihn damals nochfür überempfindlich. Wir vermuteten, dass es sich bei demBND-Gerücht um eine Taktik des KGB handeln könnte,um dem Nachrichtenabfluss prophylaktisch entgegenzu-wirken. Aber gut, wir notierten alle Informationen undsammelten sie, ohne weiter darauf einzugehen.

Es kam wie erwartet. Die erfolgreiche Anwerbung derQuelle »Münchhausen« brachte uns erhebliche Anerken-nung ein. Nun erhielten wir genug Spielraum, um auf dieserSchiene weiterzufahren. Zunehmend bereiteten uns jedochdie amerikanischen Kollegen von CAD-B (»Combined Ana-lysis Detachment Berlin«), so bezeichneten sie sich selbst,ernsthafte Sorgen. Die eine oder andere, von »Münch-hausen« besprochene Kassette ging bei ihnen verloren.

Der »Lackmus-Test« in Hannover

Erneut fiel uns auf, dass der Rücklauf an Meldungen vonder amerikanischen zur deutschen Seite in keinem Verhält-nis zu unserem Zulauf an die Amerikaner stand. Am Ende

196

Page 198: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

hatten wir immer zu wenig Material für die eigene Aus-wertung in München.

Ich schlug Freddy eine so genannte Neunerprobe vor,eine Art Lackmus-Test. Das ging so: Zuerst mussten wireinen »Münchhausen«-Text kopieren und übersetzen lassen.Dann sollte er an unsere eigene Auswertung in Pullach ge-hen, das Original wie üblich an die Amerikaner. Nur sokonnten wir feststellen, was die DIA mit unseren Infor-mationen anstellte. Etwas ratlos waren wir bei der Frage,wer unsere russischen Texte risikolos übertragen konnte.Die Zentrale kam nicht in Frage, weil dort Übersetzungs-arbeiten bis zu einem Jahr dauerten.

Da fiel mir Peter Pilar ein, der ehemalige Kollege aus derPostkontrolle in Hannover, der mit dem Pflanzen- undGartentick. Er war damals unser Russisch-Übersetzer ge-wesen und gehörte auch heute - nach dreißig Jahren - nochzum BND. Ihm konnten wir so eine spezielle Arbeit an-vertrauen. Freddy überließ mir die Entscheidung: »Wenndu sicher bist, dass er dicht hält, dann ruf ihn an und macheinen Termin.«

Am nächsten Tag fuhren wir nach Hannover. Pünktlichum 12.30 Uhr stand Peter Pilar vor uns. Er umarmte michherzlich. Nachdem ich ihm Freddy vorgestellt hatte, schlen-derten wir zum Stadtpark. Peter wollte uns das alte Ge-lände der Bundesgartenschau vorführen. Dort setzten wiruns auf eine Parkbank, und ich begann von unserer chao-tischen Situation in Berlin zu erzählen, von der Misere mitden Meldungen und den ungleichen amerikanischen Part-nern. Am Ende versicherte er uns seiner Hilfe, auch wenner noch nicht so genau wusste, worauf wir hinauswollten.

Wir zeigten ihm ein streng geheimes Papier, das von»Münchhausen« stammte. Fünfzehn Seiten, zu denen un-ser Lieferant gesagt hatte, dass es um die weitere Nutzungvon taktischen und strategischen Nuklearwaffen ging. Ichdrückte Pilar das Dokument in die Hand und fragte neu-

197

Page 199: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gierig: »Es soll sich um Atomraketen handeln. Stimmtdas?« Er blätterte die erste Seite um, und seine Hände be-gannen zu zittern. »Wo, verdammt, habt ihr das her? Wisstihr überhaupt, was ihr da in der Gegend herumfahrt?« Pe-ter drückte mir den kleinen Papierstapel wieder in dieHand, als ob er sich von einer Last befreien wollte.

Nun stand er auf und ging ein paar Schritte, blickte nachlinks und nach rechts. Er durchbohrte uns mit seinemBlick. Dann holte er tief Luft. »Ihr verarscht mich dochnicht, oder? Das kommt direkt aus dem Generalstab desrussischen Verteidigungsministeriums. In diesem Papiersteht eine Fülle von Details, zum Beispiel genaue Koordi-naten von Standorten, Angaben zu den Einheiten. Es lis-tet auch die weitere Einsatzplanung für diese Waffen auf.Hört zu, dieses Ding ist unbezahlbar. Habt ihr öfter sowas? Ich werde es euch übersetzen. Aber das muss abso-lut unter uns bleiben.«

Peter kam wieder näher. Griff nach den Fotokopien undhielt sie in die Luft. Sein Tonfall wurde jetzt richtig konspi-rativ. »Ihr habt solche Sachen? Ihr geht mit dem Einge-machten der russischen Streitkräfte hausieren, und die daunten sind nicht in der Lage, euch einen Dolmetscher andie Hand zu geben? Ich bin Dolmetscher. Wisst ihr, was diemich machen lassen? Ich muss die aktuellen Lebensmittel-preise aus Wladiwostok übersetzen. Warum habe ich michnur an diesen kaputten Laden verkauft? Warum nur?«

Er drückte mir die Papiere wieder in die Hand: »Wartethier, ich mache jetzt Dienstschluss. Ich will diese Doku-mente nicht mit in die Dienststelle nehmen. In zwanzig Mi-nuten bin ich zurück. Dann gehe ich in meine Datscha, undmorgen früh könnt ihr die komplette Übersetzung haben.«Peter schien ganz schön frustriert zu sein. Aus allem, waser sagte, sprach die Überzeugung, dass wenig funktionierte,eigentlich aber nur das, was man in eigener Verantwortungdurchzog.

198

Page 200: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Nach Dienstschluss kam Peter noch einmal zurück.Mittlerweile hatte er sich wieder beruhigt und entschul-digte sich für seinen emotionalen Auftritt. Am nächstenMorgen, noch vor Dienstbeginn, sahen wir uns wieder. Pe-ter hatte alles sorgfältig übersetzt und abgetippt. Wir ver-sprachen uns gegenseitiges Stillschweigen, und dass wir inKontakt bleiben wollten, um seine Hilfe gelegentlich inAnspruch nehmen zu können.

Freddy reiste mit dem deutschen Text direkt nach Mün-chen. Dort hatte er ein weiteres Problem zu meistern. Be-kanntlich war uns untersagt worden, direkte Kontakte zurZentrale, und speziell zur Auswertung, zu unterhalten. Die»Großkopferten« aus der Abteilung 1 hatten sich das ein-fallen lassen. Unserer Meinung nach konnte das kaum imSinne der Abteilung 3 (Auswertung) sein, in diesem Falleder 33H. Also nahm ich Kontakt zu einem ehemaligenKollegen aus der Postüberwachung auf, der inzwischenzur Münchner Auswertung versetzt worden war. Horst El-kenbach war ein kerniger, dunkelhaariger Typ, den ich beieinem Stabslehrgang der Bundeswehr in Sonthofen ken-nen gelernt und dann beim BND wieder getroffen hatte.Für unser Vorhaben war er der Richtige. Ihm konnte ichblind vertrauen.

Die »Bypass-Operation«

Horst ließ sich nichts gefallen und vertrat stets konsequentseine Überzeugung. Dabei nahm er auch etwaige persön-liche Nachteile in Kauf. Ein kritischer, konsequenter Offi-zier, wie es nur wenige gab. Sein damaliger Chef bei 33Hhielt sehr viel von ihm. Zufällig traf es sich, dass er derHauptabnehmer unserer nachrichtendienstlichen Erkennt-

199

Page 201: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

nisse war. Und so starteten wir unsere Operation »By-pass«. Nachdem ich Horst am Telefon unterrichtet hatte,brachte er Freddy und den Chef der militärischen Aus-wertung zusammen.

Da mein Partner unter seinem Decknamen Teubnerkeine Zutrittserlaubnis zur Zentrale hatte, gab er an derWache einfach seinen Deckpersonalausweis mit dem Ar-beitsnamen Franke ab. Elkenbach geleitete ihn zum Büroseines Chefs. Dort war eine kleine Gruppe von Auswer-tern versammelt. Sie staunten, als Freddy ihnen die Situa-tion in unserer Dienststelle und das Versickern der Infor-mationen auf der amerikanischen Seite beschrieb. Dannlegte er die übersetzten Dokumente auf den Tisch.

Freddy beschrieb den Moment später wie folgt: »Ruhe,absolute Ruhe. Ein Kollege durchbrach als Erster dasSchweigen. >Das haut mich um<, sagte er. Dann wurden dieBlätter herumgereicht. Wieder war es mäuschenstill. >Ham-rner<, sagte dann einer. >Hammermäßig!<«

Es war Montag, und wir standen auf dem Bahnhof inBerlin-Wannsee. Ich hatte Freddy, wie üblich, von seinemZug abgeholt. Auf dem Weg zum Auto schilderte er mirausführlich sein Erlebnis bei 33H in Pullach. »Dann ha-ben sie gesagt, wir bekommen von ihnen eine exakte Be-wertung der Einzelmeldungen. Das läuft alles informellüber deinen Kumpel. Wir sollten jetzt möglichst schnelldie neuen Infos an die Amerikaner geben, damit wir baldeinen Rücklauf haben und erkennen können, was CAD-Balles weggelassen hat. Mann, Norbert, bei denen stehenwir super da.«

Als wir in unserer Dienststelle ankamen, empfing michGassing ziemlich mürrisch. Die Abteilung 3 in Münchenhatte bereits reagiert. »Das Referat 33H hat Sie nachMünchen gebeten. Die denken da unten wohl, wir hättenhier Langeweile. Es geht wohl um Auftragssteuerung undein paar gezielte Fragen. Am besten, Sie machen einen Ter-

200

Page 202: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

min mit denen für Anfang der kommenden Woche. Da binich auch unten, dann können wir zusammen hingehen.«

Den Rest der Woche verbrachten wir damit, unsere Bun-desvermögensämter abzugrasen und dort entsprechendeKontakte zu knüpfen. Die Anreise nach München legtenwir auf den Sonntag, weil wir wussten, dass unser Cheferst am Montag Nachmittag eintreffen würde. Er solltekeine Gelegenheit haben, an den Gesprächen teilzuneh-men und die Amerikaner danach mit unbedachten Indis-kretionen zu versorgen.

Am Montag meldeten wir uns gleich morgens bei 33H.Zunächst erfuhren wir, dass unsere Einladung in die Aus-wertung beim Abteilungsleiter 1 auf Missbilligung gesto-ßen war. Er hatte angeblich bis zuletzt versucht, über seineUnterabteilung 12, zu der unsere Dienststelle in Berlin ge-hörte, den Besuch zu verhindern. Die 33H hatte sich aberdann mit dem Hinweis auf die besonderen Umstände so-wie auf die Meldungsdichte durchgesetzt. Das, so ließendie Gegner wissen, sei aber eine einmalige Ausnahme.

Die Auswerter zeigten uns stolz ihre Ergebnisse. Zu demvon Peter Pilar übersetzten Dokument hatten die Ameri-kaner nur Textauszüge übermittelt und zwölf Einzelmel-dungen von mittlerer Qualität angefertigt. Die BND-Aus-werter hatten dagegen aus dem Originalmaterial ganze 80Meldungen verfasst. Ein Großteil davon war als »hervor-ragend« eingestuft worden.

Nur am Rande: Das Bewertungssystem ordnete die Zu-verlässigkeit einer Quelle von A bis F ein. A bedeutete un-umstritten »zuverlässig«. Die Meldungen wurden von 1 bis6 gewertet. Wie in der Schule, war auch hier die Eins dasBestmögliche.

Unser Testergebnis war also eindeutig. Um trotzdem ab-solut sicher zu gehen, starteten wir einen neuen Versuch.Diesmal verwendeten wir viel mehr Unterlagen, und dochwar am Ende das Ergebnis ähnlich katastrophal. Nach

201

Page 203: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

drei Monaten stand fest, dass in den Untiefen der Koope-ration mit dem amerikanischen Militärgeheimdienst DIA70 bis 80 Prozent aller von uns beschafften Informationenauf der Strecke blieben - ganz zu schweigen von den qua-litativen Verlusten.

Fortan lief die Meldungsbearbeitung im Team Dan-nau/Teubner nach einem klaren Schema ab. Das Materialwurde von uns im »Bypass-Verfahren« an die Auswertungin München gegeben. Ein Großteil davon lief wieder anuns zurück, damit wir es den US-Partnern weiterreichenkonnten. Bis dahin war lediglich dass, was von den Ame-rikanern zurückkam, bewertet und in der Quellenaktefestgehalten worden. Das war manchmal recht wenig. Trotz-dem hatte es dem BND ausgereicht, um »Münchhausen«als Topquelle einzustufen.

Die Quelle »Münchhausen« sprudelte also, und alle wa-ren zufrieden. Das änderte aber nichts an einem grundle-genden Problem. Eine Innenquelle dieser Art benötigteeine Infrastruktur, um reibungslos arbeiten zu können. EinMelde- und Führungsweg musste geschaffen werden. Dasbenötigt im BND normalerweise mehrere Jahre. Über soviel Zeit verfügten wir nicht. Also gingen wir in unsererBuckower Wohnung wieder einmal in Klausur. Es bewährtesich, weitab vom Trubel der Dienststelle in Ruhe nachzu-denken und zu planen. Unser Teamwork klappte bestens,und Freddy war auch deshalb in Hochform, weil sich seinNervenkostüm wieder beruhigt hatte. Er schimpfte zwarimmer noch auf den »Saftladen«, ging aber alles ausge-ruhter an, sehr zuverlässig und fleißig.

202

Page 204: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Stay Behind« wird reaktiviert

In diese scheinbare Idylle platzte im Spätsommer 1992»Münchhausens« Mitteilung, er werde Anfang 1993 nachHause geholt. Nun mussten wir in Windeseile eine Strukturmit Kurieren, Kontaktpersonen, Deckadressen, Telefon-nummern und so weiter schaffen. Wieder einmal scheiterteeine Anfrage in Pullach. Wir wollten praktische Hinweisezur Vorbereitung einer Quelle dieser Größenordnung, zuden Geschäften unseres neuen Mitarbeiters, zum Umgangmit ihm. Ein altgedienter Verbindungsführer raunte unszu: »Da kann euch keiner helfen, wir hatten hier nochkeine Innenquellen dieses Kalibers.«

Auf der Fahrt zum Bahnhof Wannsee an der RaststätteZiesar hatte ich eine blitzartige Idee, die ich Freddy soschnell wie möglich mitteilen musste. »Ich habe die Lö-sung. Wir mobilisieren alle unsere >Stay Behind<-Quellenund machen daraus Beschaffungshelfer für >Münchi< undalle, die noch folgen werden. Sie sind in der letzten Phasevon >Stay Behind< geworben worden, also mit großerWahrscheinlichkeit noch nicht verbrannt.«

Ich fuhr fort: »Normalen Beschaffungshelfern haben sieeiniges voraus, weil sie sogar ND-mäßig ausgebildet wor-den sind. Wir brauchten nur alle zu besuchen und ihnendie neue Aufgabe mitzuteilen, fertig ist der gesamte Quel-lenunterbau. Außerdem hätten wir dann noch ein Polsterfür mindestens drei weitere Innenquellen.« Freddy warwie üblich skeptisch, wollte der Idee aber eine Chance ge-ben. Er glaubte, dass wir wieder einmal an den verkruste-ten Strukturen des Hauses scheitern würden.

Wir legten los, malten Kreise und Verbindungslinien.Wir notierten alles, was zur Führung einer derart expo-nierten Quelle notwendig war. Bald hatten wir ein Systemauf dem Papier, das als Diskussionsgrundlage dienen

203

Page 205: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

konnte. Wir formulierten auch noch zusätzlich ein Strate-giepapier. Am nächsten Morgen waren fast alle anwesend.Die gesamte Dienststelle stand auf dem Flur und geneh-migte sich, unter den Augen der Vorgesetzten, ein erstes Glä-schen. Irgendetwas wurde gefeiert. Ich ging darüber hinwegund erbat bei Gassing ganz förmlich einen Gesprächster-min. Huldvoll gewährte er ihn für 13 Uhr. Der Chef war be-ster Stimmung. Er genoss sein hohes Ansehen, schwelgtegern in seinem Ruhm.

Mit einer gewissen Anspannung, weil wir nicht wussten,wie er auf unsere Vorschläge reagieren würde, trafen wirin Gassings Büro ein. Einige kleine Schachteln lagen aufseinem Schreibtisch. Er hatte gerade ein paar neue Mo-dellautos ausgepackt. Die Vitrine mit seinen nostalgischenPkw-Modellen war weit geöffnet. Gassing saß hinter sei-nem Schreibtisch und hielt ein blaues Spielzeug-Gefährtmit beiden Händen in die Höhe. Nun folgte einer der aber-witzigsten Dialoge, den ich je erlebt habe.

»Hallo Chef, wir melden uns, wie befürchtet!«, ver-suchte ich das Gespräch aufzulockern.

»Kommen Sie herein und setzen Sie sich. Na, ist dasnicht ein Juwel von Nachbildung?«

»Wir haben ein Konzept für >Münchhausen<, für seinekünftige Führung«, stolperte ich durch meinen Text.

»Ja - interessant. Schauen Sie mal, ein Düsenberg von1933. Genial, was?«

»Wir dachten, dass möglicherweise unsere alten >StayBehind<-Quellen als Beschaffungshelfer ...«

»Jetzt sehen Sie sich das an, einzeln aufgehängte Fe-dern.« Der Alte drückte immer wieder auf unterschiedli-che Ecken des Fahrzeuges, ließ es auf und ab wippen. Ichsaß direkt neben der Vitrine, und Freddy fläzte sich in dieschwarze Ledergarnitur. Ich zuckte ihm gegenüber mit denSchultern. Freddy antwortete mit einer Handbewegung,die mich anfeuern sollte.

204

Page 206: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Also, Herr Gassing, das wäre doch ideal, haben wiruns gedacht. Wir könnten die Leute schnell reaktivieren.Ich glaube, die meisten von ihnen werden ...«

Er unterbrach mich wieder: »Schauen Sie sich das an,sogar das Lenkgestänge funktioniert.« Er drehte am Lenk-rad des Düsenberg.

Als Freddy merkte, dass ich zu kochen begann, setzte ermit einem launigen »Donnerwetter, starkes Auto« nocheins drauf. Ich deutete zum Chef und nuschelte zu Freddy:»Er freut sich, dass sich die Räder bewegen.« - »Ja«, ant-wortete der hochinteressiert, »ist doch fantastisch. Die Rä-der müssen sich bewegen, nicht wahr, Herr Gassing?Wenn die sich nicht bewegen würden, wäre es ja kein gu-tes Modell!«, fügte er altklug hinzu. Ich fühlte mich mitt-lerweile von beiden verarscht. »Was halten Sie nun davon?Das wäre doch eine ideale Lösung, >Stay Behind< zu akti-vieren, meinen Sie nicht auch?«

Endlich kam eine erkennbare Reaktion von Gassing:»Ja, machen Sie das doch. Schauen Sie mal her. Motor-haube auf, und der gesamte Motorblock ist original nach-gebildet. Kann ich Ihnen auch besorgen. Unter Laden-preis, versteht sich.« Dann sinnierte er einen Moment, undentschied ad hoc: »Lassen Sie sich das von Rosipol abseg-nen. «

Wir gehen bereits, da dreht Freddy sich noch einmal umund fragt rotzfrech: »Sind die Reifen aus Vollgummi oderaufgepumpt?« Ich versetze ihm einen heftigen Stoß in dieRippen und drücke ihn aus der Tür. Da höre ich noch Gas-sings Worte: »Keine Ahnung mit den Reifen, mal sehen.Aber hier, der Kofferraumdeckel...«

Das war es schließlich. Die Tür hatte sich hinter uns ge-schlossen. Freddy prustete und kicherte. Schnell passier-ten wir das Vorzimmer und das Foyer. Mit Blick auf denFöhrenweg löste sich so etwas wie ein Urschrei. Einen sol-chen Auftritt hatten wir noch nirgendwo erlebt.

205

Page 207: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Ich telefonierte sofort mit Rosipol von der Sicherheit. Erwar verantwortlich, wenn es um die Freigabe von Quellenund Beschaffungshelfern ging. Da bei der Berliner Dienst-stelle kaum etwas seinen geregelten Gang hatte, war erziemlich genervt, wenn 12YA bei ihm anrief. Seine Reak-tion war also bezeichnend: »Wenn Sie unbedingt wollenund wenn es der Chef abgesegnet hat, dann soll es so sein.Schicken Sie mir die Decknamen. Ich aktiviere sie alle.Meinetwegen auch den Papst.«

Und so aktivierten wir guten Glaubens und mit den be-sten Vorsätzen unseren »Stay Behind«-Quellenstamm.

Erst viele Jahre später habe ich erfahren, dass die ge-samte Mannschaft längst an die DDR-Staatssicherheit ver-raten worden war. Es darf angenommen werden, dassauch der KGB über diese Informationen verfügte. Als wirum die erneute Freigabe dieser Leute baten, war der Ver-rat dem BND bereits bekannt. Mir ist schleierhaft, warumsich diese Tatsache nicht zu den verantwortlichen Ent-scheidungsträgern herumgesprochen hatte. In der Konse-quenz ließen uns die Chefs in Pullach Beschaffungshelferführen, die dem nachrichtendienstlichen Gegner bekanntwaren. An die Risiken für unsere Quellen darf ich garnicht erst denken.

Das G-Verfahren

Die »Profis« aus Pullach leisteten sich noch eine weitereernsthafte Sicherheitspanne. Damit »Münchhausen« nachseiner Heimkehr weiter mit uns in Kontakt bleiben konnte,musste er mit einem so genannten G- oder Geheimschrift-verfahren ausgestattet und geschult werden. Dazu reistenwir wieder einmal nach Pullach, zur Dienststelle 63 BC. Bei

206

Page 208: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

der Begrüßung entschlüpfte mir der Satz: »Hier wird alsogezinkt, gefälscht und getäuscht.« Der freundliche Herr mitden etwas provozierenden Ärmelschonern schien Humorzu haben. Er schüttelte nämlich schmunzelnd den Kopfund meinte: »Nein, nein, meine Herren. Wir fälschen hiernicht. Wir empfinden nur nach. Andere fälschen Geld-scheine oder Ausweise. Wir nicht! Wir empfinden nach.«

Dann wurden wir recht zügig in das Geheimschriftver-fahren CP 430-0 eingewiesen. Es besteht aus zwei Kom-ponenten. Die eine davon ist recht einfach. Eine Chemika-lie, verstaut in einem Rasierwasserflakon, mit deren Hilfeman die Schrift lesbar machen kann. Dazu taucht man le-diglich ein Wattestäbchen in die Flüssigkeit und benetztdamit das Papier mit der Geheimschrift. Das zweite Ver-fahren zum Anfertigen eines Geheimschriftbriefes warkomplizierter und musste geübt werden. Dazu beschriebdie Quelle zunächst ein Blatt Papier mit einem unverfäng-lichen Tarntext. Dann wurde ein Blatt Spezialpapier aufdas Schriftstück gelegt und darauf der Geheimtext ver-fasst. Es funktionierte im Prinzip wie Blaupapier, nur dassman die Durchschrift nicht ohne spezielle Hilfsmittel le-sen konnte.

Bewaffnet mit unserem CP 430-0 fuhren wir stolz zu-rück nach Berlin. Wir begannen damit, die Quelle »Münch-hausen« zu schulen. An einem ruhigen Ort außerhalb derStadt trainierten wir immer wieder das Anfertigen von G-Briefen. Als »Münchhausen« zurück nach Russland ver-setzt wurde, war er mit allem ausgestattet, was er als funk-tionierende Quelle brauchte. Er hatte einen Meldeweg,einen Führungsweg, etwas Bargeld und verschiedene Mög-lichkeiten der Kontaktaufnahme.

Wir wussten leider nicht, dass unser G-Verfahren einenSchönheitsfehler hatte. Es war, wie man im Milieu sagt,seit vielen Jahren »verbrannt«, also dem Gegner bekannt.Wenn unser Mann in seiner Heimat ins Visier der Abwehr

207

Page 209: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

geraten wäre, hätten die KGB-Nachfolger seine Post ent-schlüsseln und »Münchhausens« nachrichtendienstlicheArbeit für uns beweisen können.

Ich erfuhr von dieser unsicheren Situation von einemaltgedienten BND-Mitarbeiter, der mich unter dem Siegelder Verschwiegenheit aufklärte. Zu diesem Zeitpunkt wa-ren aus »Münchhausens« Feder bereits vier G-Briefe ein-getroffen. Von uns hatte er zudem mehrere Führungsan-weisungen erhalten. Nach etwa einem Jahr stellten wir diePullacher Insider zur Rede. Sie antworteten uns sehr ein-silbig: »Wir hatten Anweisung, so zu handeln.« Wer diesangeordnet hatte, konnten wir nicht in Erfahrung bringen.Es war aber sicher niemand aus der Kleiderkammer odervom Wachdienst.

An einem der letzten Abende, bevor »Münchhausen«zurück in die Heimat ging, trafen wir ihn, um vorüberge-hend Abschied zu nehmen. Das Verhältnis unter unsdreien war mittlerweile recht herzlich geworden. Also wardiese Trennung mit einer gewissen Wehmut verbunden.Als unser russischer Freund im Taxi Richtung Wünsdorfdavonfuhr, blickte mich Freddy ernst an: »Und du glaubst,wir haben alles richtig gemacht? Machst auch du dir Sor-gen? Sag, stehen wir das durch? Eine ganz schöne Verant-wortung, die wir uns da aufgehalst haben.«

»Ja, Freddy, das stimmt! Wir stehen das auch durch.Wir schon!« Meine Antwort kam leise rüber. Ob sie über-zeugend war, das weiß ich nicht.

Nach einigen Wochen lieferten wir dem BND die erstenDokumente, die nicht mehr aus der WGT stammten, son-dern direkt aus Russland kamen. Sie sorgten in Pullach fürhelle Begeisterung. So erhielt der BND zum Beispiel eineDokumentation über das neue Waffensystem »Buratino«.»Münchhausen« avancierte zu einer der Topquellen desdeutschen Auslandsnachrichtendienstes, die stets erst-klassiges Material lieferte.

208

Page 210: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Eulenspiegel«

Ein eiskalter Wintertag war es, als wir Anfang 1993 inRichtung Neubrandenburg fuhren. Nun »grasten« wirschon beinahe ein Jahr lang die Bundesvermögensämterab und sammelten Tipps auf deutschsprachige Russen.Wir hatten alle unsere früheren »Stay Behind«-Quellen re-aktiviert und damit bei den »Verwaisten« echte Freudeausgelöst. Die meisten Treffen mit den Untergrundlernfanden abends und am Wochenende statt, eine zusätzlicheBelastung. Ganz nebenbei holten wir uns Begehungsge-nehmigungen für alle Liegenschaften der WGT, die in ab-sehbarer Zeit an den Bund übergeben werden sollten.12YA hatte dadurch die Möglichkeit, nach Abzug derWGT als Erste diese Gebäude zu besichtigen.

Was gab es sonst noch Neues? Gert und Udo lebtenschon seit einem halben Jahr als zufriedene Pensionäre.Den Geländewagen hatten wir firmenintern bei einer pas-senden Gelegenheit in einen neuen Opel Vectra umge-tauscht. Diese Maßnahme linderte unsere Rückenschmer-zen, denn immerhin fuhren wir in neun Monaten nichtweniger als 100 000 Kilometer. Unser Glücksfall »Münch-hausen« arbeitete wie ein Uhrwerk. Wir wünschten unsmehr von seiner Sorte.

Nun rollten wir wieder durch Oranienburg, auf der B 96in Richtung Norden. Wir hatten über einen MittelsmannKontakt zu einem perfekt deutsch sprechenden russischenGeneral aufgenommen. Unter dem Vorwand, mit gebrauch-ten Pkw zu handeln, wollten wir ihn persönlich sprechen.

209

Page 211: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Punkt 19 Uhr sollte er zu zwei bestimmten Telefonzellenkommen. Das Thermometer zeigte minus acht Grad, alswir den Wagen abstellten. Wir parkten hinter einem Bus-wartehäuschen, auf halber Strecke zwischen Bundesstraßeund Marktplatz. Von dort konnten wir die beiden Tele-fonzellen und auch den Eingang des gegenüberliegendenHotels »Zur Post« beobachten. Es blieben noch zwanzigMinuten.

Wir wollten mit ihm in das Hotel gehen, weil das zu je-ner Zeit die einzig annehmbare Gaststätte im Ort war. DieVorgehensweise war schon besprochen, nur nicht, wer denErstkontakt machen sollte. Sicher war, dass der eine ihnansprechen, der andere das Umfeld beobachten und denTreff sichern sollte. Als ich den Motor abstellte, atmeteFreddy tief durch: »Und wer stellt sich jetzt in die Kälte?«Ich zuckte mit den Schultern: »Wir können Streichhölzerziehen!«

Freddy kannte das Ritual und wirkte darüber keines-wegs glücklich. Er reichte mir die Streichholzschachtel. Ich.nahm wie immer zwei Hölzer heraus und brach mit denWorten »Wer das kürzere zieht« von einem ein Stück ab.Dann legte ich beide zwischen Daumen und Zeigefinger,so dass nur die beiden Köpfe zu sehen waren. Daraufhinzog ich mit der anderen Hand das kurze Streichholzstückheraus und gab es Freddy. Der nahm den Stummel, wie ge-wohnt, senkrecht zwischen Daumen und Zeigefinger, hieltihn auf Augenhöhe und murmelte »Na ja ... Wenigstensfair!«

Er zog seinen dünnen grauen Regenmantel über, nahmeine Plastiktüte und wollte gerade weggehen, als ich dieSeitenscheibe herunterließ und ihm noch einen guten Ratgab: »Hier, pack was in die Tüte, sieht ja sonst nach nichtsaus.« Dabei reichte ich ihm eine Stange Marlboro aus denBeständen unserer amerikanischen Freunde. Freddyschlotterte und grummelte etwas von »Saukälte«. »Ich

210

Page 212: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

finde, es geht«, war meine Antwort. Ich drehte die Stand-heizung etwas höher und ließ das Fenster nach oben glei-ten. Etwas gebückt, rauchend und zitternd, stand er etwaeine Stunde an der Hauswand hinter den Telefonzellen.Dann kam jemand, der ihn ansprach. Nach einem kurzenWortwechsel gingen sie über die Straße und verschwandenim Hotel.

Draußen war es ruhig, ja beinahe totenstill. Keine Autosauf der Straße, keine Fußgänger unterwegs. Zwischen-durch warteten einige Leute im Bushäuschen. Diese ver-schwanden aber auch mit dem öffentlichen Verkehrsmit-tel. Langsam wirkte die Situation gespenstisch. ZwanzigMinuten, nachdem Freddy mit dem dunkelhaarigen,hochgewachsenen Typ im Gasthaus verschwunden war,folgte ich den beiden.

Die Inneneinrichtung war mehr als ernüchternd. Sie ver-breitete den Charme einer volkseigenen Kombinatsküche.Die Stahlrohrstühle sahen schön ziemlich mitgenommenaus. Der Deckenkronleuchter passte überhaupt nicht zurübrigen Einrichtung, er hätte jedem Jugendstilhaus zurEhre gereicht. Hinten rechts saßen vier Arbeiter, die - ih-rem Gespräch nach - wohl aus dem Westen stammten. Siesollten irgendwelche Telefoneinrichtungen reparieren.Ganz hinten links sah ich Freddy mit unserem General. Sieorderten gerade zwei große Gläser Wodka. An der Mimikder beiden konnte ich erkennen, dass es schon passiertwar. Ich setzte mich an den Tresen, um beide eine Weile zubeobachten.

Wir hatten uns angewöhnt, bei unseren Anbahnungs-touren nicht lange zu fackeln. Im Fachjargon nennt mandas wohl »cold approach«. Das bedeutete in unserem FallFolgendes: Einer von uns ging an die Zielperson untereiner Legende heran. Meistens erzählten wir, dass wir füreine Investorengruppe geeignete Flächen für neue Golf-plätze erkunden wollten. Damit begründeten wir nicht nur

211

Page 213: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

unsere Aktivitäten abseits von befestigten Straßen und We-gen, sondern auch das notwendige Fotografieren. Leute,die Kontakte zu Investoren, also zu kapitalkräftigen Men-schen haben, interessieren sich auch für andere Geschäfte.Jedenfalls verfügen sie über die entsprechenden Beziehun-gen. So sah jedenfalls das Grobraster unserer Legendenaus. Die Filigranarbeit der jeweiligen Legende musstedann mit viel Liebe zum Detail der individuellen Situationangepasst werden. Schon beim ersten Gespräch erkanntenwir ziemlich schnell, ob die entsprechende Person für unsgeeignet war oder nicht. Die meisten unserer Zielpersonenwollten mit Autos, Möbeln, Haushaltsgeräten und so wei-ter handeln. Nicht deutsch sprechende Russen baten ihresprachbegabten Freunde und Bekannten um Hilfe beimKauf des einen oder anderen Konsumartikels.

Schocktherapie bei der Anbahnung

Die versierten Mittelsmänner kassierten dafür eine ent-sprechende Provision. Je höher der Dienstgrad war, destolukrativer waren auch die Aufträge und die entsprechen-den finanziellen Beteiligungen. Wenn das Gespräch einenpositiven Verlauf nahm, kamen wir irgendwann zum Ver-kauf von Informationen. Wir taten so, als hätten wir beiunseren weitreichenden Kontakten auch Verbindungen,die uns Informationen abkaufen würden.

Reagierte die Person neugierig oder interessiert, dannorganisierten wir einen Folgetreff. Passte sie nicht in un-ser Bild, war sie zu ängstlich oder lehnte gleich ab, dannwürgten wir das Gespräch ganz schnell ab. Auf dieseWeise trafen wir viele WGT-Offiziere nur ein- oder zwei-mal. Bei der großen Menge an Personenhinweisen konn-

212

Page 214: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ten wir gar nicht anders vorgehen. Die Münchner Zentralewar nur sehr mäßig interessiert, weil sich niemand derMühe unterziehen wollte, wochenlang durch den »wildenOsten« zu reisen. Also blieb uns nichts anderes übrig, alsselbst die Spreu vom Weizen zu trennen.

In diesem Stil hatten wir bis zum Frühjahr 1993 runddreißig »Einzelgespräche« erledigt. Deshalb war ich mirim vorliegenden Fall auch ziemlich sicher, dass Freddy dieKatze bereits aus dem Sack gelassen hatte. Die Frage nacheinem eventuellen Nachrichtendeal musste ganz bestimmtschon gefallen sein. Der Große war nämlich kreidebleichund zitterte. Er kippte gerade seinen dritten doppeltenWodka. Der Mann hatte beide Hände hinter dem Kopfverschränkt, seine Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt.Mit dem Gesicht knapp über der Tischplatte, blickte erstarr nach unten. Freddys Gesten waren beschwichtigend.Er schien beruhigend auf ihn einzureden. Na dann, dachteich mir, da hat wieder mal jemanden der Blitz getroffen.Ich leerte zügig mein Bier und verließ das Lokal.

Der Russe befand sich nun in einer Zwickmühle. Des-halb war die Reaktion auch typisch. Wenn er den Vorfallmeldete, dann würde er massiven Ärger bekommen undpeinliche Fragen auf sich ziehen. Allein der Kontakt miteinem Unbekannten, noch dazu aus dem Westen, war ihmverboten. Schon durch das Treffen hatte er sich ins Un-recht gesetzt. Dabei war ja noch gar nichts gelaufen.Würde er »petzen«, dann wären seine Geschäfte für alleZeiten kaputt. Auf der anderen Seite stand das Angebot,ganz schnell und unkonventionell Geld zu verdienen.Diese vertrackte Situation warf die meisten erst einmal zuBoden. Das war die genaue Situation von ZP12YA000100393, wie wir den Mann bereits bezeichneten.

Draußen ging ich nicht direkt zum Wagen, sonderndrehte eine Runde um die Marktkirche. Von weitem konnteich sehen, wie Freddy und sein neuer Schützling das Lokal

213

Page 215: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

verließen. Der Russe ging fort. Freddy stand im Warte-häuschen und rauchte. Fünfzehn Minuten später warenwir schon wieder auf der Strecke. Ich saß am Steuer, undFreddy erzählte: »Macht einen guten Eindruck, der Mann.War aber ziemlich platt, als ich ihm sagte, wie er am meis-ten Geld verdienen könnte.«

»Kommt er nochmals, oder war es das?« - »Derkommt! Ganz sicher! Was daraus wird, kann ich nochnicht einschätzen. Ist ein hochintelligenter Typ. Schaunwir mal.« Freddy war auffallend zuversichtlich. »Du bistdoch sonst skeptischer. Was macht dich so optimistisch?«,hakte ich nach. Er griff in die Jackentasche und holte einenNotizzettel hervor. Mit dem wedelte er vor meiner Naseherum: »Deshalb! Seine dienstlichen Telefonnummernund eine private Kontaktadresse in Neustrelitz, über dieer am Wochenende immer zu erreichen ist. Macht das je-mand, der nie wiederkommen wird?«

Mein Puls ging schneller. »Mensch, Freddy, der ist Gene-ral. Seine Zugänge sind fantastisch! Junge, wenn das waswird!« Im Autoradio lief eine Kassette, die ein Kollegedort hinterlassen hatte. Da gab es ein Duett von Hans Al-bers und Heinz Rühmann: »Wer hinterm Ofen sitzt unddie Zeit wenig nützt, schont zwar seine Kraft, aber wirdauch nichts erreichen ...« Wir sangen laut grölend mit.

Im Hotel »Goldener Stern« kamen wir an diesem Abendnoch unter. Ein graues, unscheinbares Gebäude mitschlichten, aber sauberen Zimmern. Es lag zentral undhatte einen kleinen Parkplatz, der unseren Bedürfnissensehr entgegen kam. Das Hotel war in eine Häuserfronteingebettet, bei der es nur eine schmale Durchfahrt zumHinterhof gab. Dort befanden sich einige Parkplätze undvier Garagen. Das zweiflügelige Holztor an der Straßen-seite wurde abends verschlossen.

Wir nutzten das Hotel in den nächsten Monaten regel-mäßig. Wenn unser Dienstwagen auf dem Hinterhof in

214

Page 216: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

einer Garage stand, dann waren wir förmlich von der Bild-fläche verschwunden. Außerdem hatte das Haus einen Hin-tereingang, der von nirgends her einsehbar war. Und eswar recht preiswert, was uns entgegen kam. Viele Nächtelang haben wir dort regelmäßig russische Geheimdoku-mente fotografiert, die anderntags wieder in ihrem ange-stammten Panzerschrank liegen mussten.

An diesem Abend kamen wir also zum ersten Mal in un-ser Rheinsberger Domizil. Wir waren dankbar, dass unsder Chef des Hauses, ein sympathischer Herr in den Fünf-zigern, noch so spät bekochte. Am nächsten Morgen gin-gen wir erst einmal auf Erkundungstour. Wir spaziertendurch den Park von Schloss Rheinsberg. Das einst edle Ge-mäuer vermittelte damals noch einen verwahrlosten Ein-druck. Erste Restaurateure verloren sich auf ein paar klei-neren Gerüsten, aber das stimmte noch nicht optimistisch.

Am nächsten Tag fuhren wir in Richtung Warenthin.Der Ort liegt zwei Kilometer westlich von Rheinsberg.Nur dort gab es eine Stelle, wo unser neues Funktelefonseinen Dienst tat. Rheinsberg und Umgebung waren in je-nen Tagen ein einziges Funkloch. Kurz vor Warenthiazweigte ein schnurgerader Weg nach Südwesten ab. Er istin den Landkarten mit der Nummer K6812 gekennzeich-net. Von dort ging es ein paar Meter bergauf, und schonhatten wir unser Funknetz. Später stellte sich heraus, dassdies wirklich die einzige Stelle im Umkreis von zehn Kilo-metern war, von wo aus man telefonieren konnte. Das ha-ben wir 1993 und 1994 ausgiebig genutzt.

Das Gespräch lief an diesem Vormittag recht einförmig.»Ich möchte nur kurz melden, dass bei uns alles nach Planläuft. Wir machen hier gute Geschäfte und kommen vor-aussichtlich am nächsten Montag wieder ins Büro.« AmApparat war die Sekretärin unserer Dienststelle. Der Altewar wieder einmal in München. »Der ist beim Schaulau-fen«, sagte sie und wünschte uns alles Gute. »Tja, Freddy«,

215

Page 217: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

sinnierte ich laut, »vermissen tut uns niemand in Berlin.Wenn wir hier in der Versenkung verschwinden, dannmerkt das auch keine Sau.«

Klaransprache im Plattenbau

Wir fuhren langsam zurück und weiter durch Warenthinin Richtung Norden. Die Ortsschilder wiesen nach Zech-liner Hütte. Etwa drei Kilometer außerhalb führte eineStichstraße nach Westen. Sie endete auf einem Hotelpark-platz, direkt am Rheinsberger See. Das »Hotel am See«war ein zehnstöckiger Klotz, der uns an die Plattenbautenin Berlin-Marzahn erinnerte. »Hier muss derselbe Archi-tekt am Werk gewesen sein«, sinnierte Freddy. ZwischenSee und Haupthaus lag ein großer Flachbau, der zum Was-ser hin verglast war. Hier waren nicht nur ein paar kleineLäden untergebracht, sondern auch ein Bistro, ein Lokal,die Hotelrezeption und im Untergeschoss eine Diskothek.

Hinter diesen Hauptgebäuden standen einige mehrge-schossige Wohnblocks sowie ein Heizkraftwerk, das diegesamte Anlage mit Energie versorgte. Genau hier wolltenwir am Abend eine neue Quelle werben. Den Platz hattenwir schon vor Wochen erkundet. Da wir immer nur zuzweit unterwegs waren, bereitete uns die Überwachungder Treffs manchmal richtig Mühe. Gerade bei ersten Kon-takten war es uns besonders wichtig, »sauber zu bleiben«,wie wir es nannten. Dieses Gelände erschien uns geeignet.Es gab nur eine Zufahrt, und diese war gut zu überschauen.Wenn unsere Zielperson also jemanden im »Schlepptau«hatte, dann konnten wir das in einem solchen Umfeld vielbesser erkennen als anderswo. Plattenbau hin, Plattenbauher.

216

Page 218: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Um 18 Uhr nahmen wir unsere Positionen ein. EineStunde später sollte die Zielperson kommen. Im Foyer warreger Betrieb, das Restaurant dagegen fast leer. Ich hatteunseren Wagen zwischen anderen Fahrzeugen so abge-stellt, dass ich die Zufahrt und den ganzen Eingangsbe-reich überblicken konnte. Als sich um 19.45 Uhr nochimmer nichts getan hatte, ging ich in das Bistro am Ein-gang und trank einen Kaffee. Freddy, der im Foyer saß, tatso, als würde er eine Zeitung lesen. Er schaute fragend zumir herüber. Ich zuckte mit den Schultern und ging wiedernach draußen, um ihm zu signalisieren, dass ich noch war-ten wollte. Ziemlich missmutig verkroch ich mich wiederim Auto.

Gegen 20 Uhr regte sich kaum mehr etwas außerhalbdes Hotels. Freddy sah ich ab und zu mit seiner dunkel-braunen Leinenjacke durch das Foyer schlendern. Plötz-lich bog, aus Rheinsberg kommend, ein Pkw langsam indie Stichstraße ein. Es war ein Taxi, das an mir vorbeirollteund vor der großen Freitreppe stoppte. Erst als der Insassedie Treppe emporstieg, konnte ich ihn richtig erkennen. Erwar es - unser Mann von gestern Abend. Er war wirklichgekommen. Ich atmete tief durch.

Nach einer Viertelstunde verließ ich den Wagen undging in das Restaurant. Nur wenige Gäste verteilten sichin dem großen Raum. Ich suchte mir einen separaten Fens-terplatz und bestellte eine Kleinigkeit. Mit Blick auf denvom Vollmond beschienenen Rheinsberger See wartete ichauf ein Signal von meinem Partner. Freddy ließ nicht langeauf sich warten. Mit freundlicher Miene kam er auf michzu und setzte sich. »So, Herr Doktor, nun bist du dran«,sagte er siegessicher.

Wir gingen gemeinsam in das Untergeschoss, direkt indie rot und blau beleuchtete Diskothek. In einer schumm-rigen Ecke saß unser Mann an einem kleinen, quadratischenTisch. »Guten Abend. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft

217

Page 219: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

zu machen«, begrüßte ich ihn betont nonchalant. »Ichfreue mich auch«, kam es zurück. Das klang keineswegsdialektfrei, wie mir angekündigt worden war. Unser Gastsprach tiefstes Sächsisch!

»Verzeihen Sie, wenn ich etwas verwundert bin, aber ichhatte einen russischen Staatsbürger erwartet«, versuchteich ihm zu schmeicheln. Er lächelte. »Wollen Sie meinenPass sehen? Ich habe mir diesen Dialekt ein wenig ange-eignet. Wenn ich mir aber Mühe gebe, dann geht es auchhochdeutsch.« - »Das wird nicht unser Problem werden«,entgegnete ich und setzte mich zu ihm. Als mein Blickdurch den Raum schweifte, merkte ich, dass wir völlig al-lein waren. Lediglich eine junge Bedienung stand hinterder Bar und putzte Gläser.

Er war mir auf Anhieb sympathisch. Nervös drehte eran seinem Bierglas. In Freddys Augen las ich, was er dachte:»Nun bin ich mal gespannt, wie du das stemmst.« Ichkonnte förmlich spüren, wie er sich innerlich zurückge-lehnt hatte. Also begann ich mit den üblichen Argumen-ten: »Mein Partner hat Ihnen ja bereits erklärt, dass wireine interessante Möglichkeit haben, für gute Informatio-nen Geld zu bezahlen. Ich will aber gleich ganz ehrlich zuIhnen sein. Wir sind keine Nachrichtenhändler. Wir kom-men vom Bundesnachrichtendienst. Ich will Sie nicht an-lügen. Wenn Sie mit uns ins Geschäft kommen, dann ha-ben Sie ein Anrecht darauf, zu wissen, dass Sie sich inguten Händen befinden. Wenn Sie mit uns nichts zu tunhaben wollen, dann schafft Ihnen das keine Probleme. Wirbekommen für jede Absage zwei neue Zusagen. Ich sichereIhnen zu, dass in diesem Fall keiner von unserem Ge-spräch erfahren würde. Wenn Sie >Njet< sagen, dann trin-ken wir zwei Bier miteinander und vergessen wieder alles.Nicht einmal meine Führung weiß von unserem Kontaktund wird es dann auch nie erfahren.«

Er drückte sich gegen die mit Teppich verkleidete Rück-

218

Page 220: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wand und stieß einen gedämpften Laut aus, der sich unge-fähr so anhörte: »Uhaaaahh!!« Dann blies er die Luft durchden gespitzten Mund. Freddy realisierte die gespannte Si-tuation und wirkte sofort deeskalierend: »Ich bestelle unsallen ein Bier auf den Schreck!« Der Russe schaute ihn an,legte den Kopf leicht zur Seite, nickte, zog dabei die Schul-tern nach oben und fügte hinzu: »Und einen Wodka!Wenn das geht! Bitte!« Dann redete ich weiter über unsereMöglichkeiten, über Sicherheiten, Geld und so weiter.

Ob das wirklich professionell war, darf man getrost an-zweifeln. Darüber, was in unserem Metier profihaft istund was nicht, scheiden sich die Geister. Uns schien dasdamals die einzig vernünftige Vorgehensweise. Heute weißich, dass diese ungenierte Methode zumindest in dem kon-kreten Fall die einzige Chance war. Viele Jahre späterschilderte mir unser Mann, der von jenem Tag an »Eulen-spiegel« hieß, seinen Eindruck. Er sei wie vom Schlag ge-troffen gewesen: Erst die Einladung eines Nachrichten-händlers zu einem gemeinsamen Treffen. Das sei schonziemlich heftig gewesen. Er habe in der Nacht zuvor keinAuge zugetan. Und dann dieser arrogante Pinkel, der sichals BND-Mann vorstellt.

»Ich habe gedacht, so macht man das doch nicht. Dasgeht doch auch feinfühliger. Dieser Typ hat anscheinendnoch keinen Spionageroman gelesen. Setzt sich hin undsagte einfach: >Ich bin der Agentenführer und du der Spion!<Auf der anderen Seite: Wenn ich erst später gemerkt hätte,worauf das hinausläuft, dann wäre ich in der Versenkungverschwunden. Nur wegen dieser dummdreisten Art habeich Ja gesagt. Zu Hause sah ich deinen Auftritt plötzlichanders. Ich dachte mir, der mag sein, wie er will. Aber erwar schonungslos ehrlich. Ich denke, dass es in Wahrheitder einzige Weg war, um mich rumzukriegen.«

»Eulenspiegel« beruhigte sich langsam wieder. Nach-dem er meinen Redeschwall in sich aufgenommen hatte,

219

Page 221: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

war er nun selbst am Zug. Recht zögerlich berichtete erüber seine Tätigkeit in der Armee, seine Zukunftspläneund die Familie. Im Laufe des Abends taute er langsam aufund war am Ende ziemlich redselig. Wir verabredeten unserneut für einen Termin vier Tage später. So hatte er nocheinmal Bedenkzeit. Selbst für den Fall, dass er uns danneinen Korb geben würde, sicherte er uns zu, dass dies nichtohne Begründung laufen sollte. Das ließ bei uns die Hoff-nung keimen, er würde eher zu- als absagen.

Als wir gegen 23.30 Uhr bei Familie Lucega im »Golde-nen Stern« saßen, herrschte noch reger Betrieb. Ein paarFischer vom Grienericksee hatten sich festgesetzt und be-gossen ihren Fang. Die Gespräche über Reusen, Netze unddie aktuelle Zander-Population lenkte uns rasch ab. Daswar auch besser so. Man soll nicht alles zerreden, sondernauch im eigenen Interesse Optimismus verbreiten.

48 Stunden später begannen die Vorbereitungen für dennächsten Treff mit »Eulenspiegel«. Am Sonntag, um zwölfUhr mittags, sollte der General beim Obelisken stehen,gegenüber vom Rheinsberger Schloss. Da nicht auszu-schließen war, dass er mit »Gefolge« erscheinen könnte,wollten wir nicht blauäugig sein. In eine Falle durften wirnicht tappen, das war für uns ein ungeschriebenes Gesetz.Jedenfalls war es unser Ehrgeiz, die Treffen so sicher wiemöglich abzuwickeln.

Samstag saßen wir spätabends wieder in der drögen Gast-stube vom »Goldenen Anker«. Wir hatten alles durchge-sprochen, alle Eventualitäten diskutiert, waren jeden Wegabgelaufen. Nun war es wieder einmal an der Zeit, überSinn und Unsinn des Lebens und unserer Einsätze zuphilosophieren. Wir dachten an die Menschen, mit denenwir es zu tun hatten, und in dieser Hinsicht fanden wir al-les rundherum in Ordnung. Wir hielten uns für hoch mo-tiviert, selbstsicher und voller Tatendrang.

Sobald aber auch nur ein Gedanke den schwerfälligen

220

Page 222: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Apparat BND sowie das Chaos seiner Führungs- undKonzeptionslosigkeit streifte, wurden wir still und nach-denklich. Ein solches Wechselbad der Gefühle sollten wirin den nächsten Jahren noch häufig durchmachen. Wirlebten ständig unter dem Eindruck, dass man uns in derZentrale die gebührende Fürsorge verweigerte. Wir warenvöllig allein gelassen mit unseren Problemen.

Die Operateure der Abteilung 1 belächelten unsere »Es-kapaden«, während die Auswerter der Abteilung 3 unseher anfeuerten und motivierten. Unsere Streifzüge wur-den von der hilflosen Berliner Dienststelle wohlwollendbegleitet, von den amerikanischen Partnern argwöhnischbeäugt. Und trotzdem hofierten uns alle irgendwie. Deneinzigen Halt fanden wir aber schließlich bei uns selbst.Das Jagdfieber trieb uns voran, ebenso der Gedanke, einehistorische Chance wahrzunehmen. Und natürlich auchdie Tatsache, dass wir uns aufeinander verlassen konnten.Darauf waren wir stolz.

Am Sonntagmittag erwarteten wir »Eulenspiegel«. Vonmeinem Hotelzimmer aus konnte ich die Straße überbli-cken und auch den Obelisken sehen. Wir gingen nichtnach draußen. Freddy hatte einen Fotoapparat mit Tele-objektiv aufgestellt. Misstrauisch wie wir waren, wolltenwif zuerst ein bisschen beobachten. Diesmal sollte diekünftige Quelle auf uns warten. Wir wollten sehen, ob es inder Umgebung des Obelisken auffällige Veränderungengeben würde. Als »Eulenspiegel« kam, war schon wiedereine Stunde vergangen. Er ließ sich mit einem Taxi direktzum vereinbarten Treff chauffieren. Nun stand er dort miteiner Plastiktüte und wartete.

Als es uns sicher erschien, dass er allein gekommen war,ging ich zu ihm, um ihn zu begrüßen. Wir begaben uns indas nahe gelegene Lokal »Deutsches Haus«. Es lief besser,als wir erwartet hatten. Wir hatten die neue Quelle gebe-ten, beim nächsten Treffen möglichst schon etwas Mate-

221

Page 223: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

rial zu liefern, hatten aber nicht wirklich damit gerechnet.Nun befanden sich in der Plastiktasche 80 Blatt an gehei-men Dokumenten. Ein gelungener Einstand.

Alltagsstress im Föhrenweg

Die kalte Dusche sollte am nächsten Tag in der BerlinerDienststelle folgen. Gassing war nicht da. Er hatte das Wo-chenende in Bayern verbracht und wollte den Montag zueinem Besuch in Pullach nutzen. Dafür lauerte aber seinneuer Stellvertreter auf uns: Tempo! Mehrere Monate,nachdem Gert gegangen war, hatten die Münchner einengeeigneten Nachfolger für ihn gesucht. Unter welchemAktenberg der BND auf Tempo stieß, ist mir bis heute un-klar.

Der etwa fünfzig Jahre alte »wahre Führer der Dienst-stelle« (so seine eigene Einschätzung) hatte das dünne,graublonde Haupthaar akkurat drapiert. Sein Gesicht kenn-zeichneten zwei Hauptmerkmale. Zum einen die Tränen-säcke unter den Augen, die tiefschwarze Ränder hatten.Zum anderen ein kunstvoll an den Seiten gezwirbelterSchnauzbart, der ihm den Spitznamen »Schnauzer« ein-brachte. Er sprach bayerisch, das heißt, er tat so. Geborenund aufgewachsen war er irgendwo im Ruhrpott. Jeden-falls hörte es sich so an, als würde der FernsehmoderatorJochen Busse versuchen, das Fußballidol Franz Becken-bauer zu imitieren.

Seine persönliche Mitarbeiterin, die erst Wochen vorherin der Dienststelle begonnen hatte, um Op-Akten einzu-richten und zu pflegen, brachte es auf den Punkt. Ich fragtesie, ob sie den neuen OpSi für normal hielte. Darauf schobsie mich in sein Dienstzimmer und zeigte auf die Fotowand:

222

Page 224: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Wer in seinem Büro so viele Fotos von sich selbst aufhängt,der kann nicht ganz dicht sein.« Ich sah Tempo beim Ski-laufen, Tempo am Meer. Tempo beim Kochen, Tempobeim Wandern. Eine Wand mit einem Motiv: Tempo.

Als er mir an jenem Montagmorgen gegenüberstand,sah er verkatert aus und war mies gelaunt. »Wo kommtihr denn her?«, maulte er uns an. Schnaufend ging er insein Zimmer und kam mit einem Formblatt zurück. »Absofort weht hier ein anderer Wind!« Er polterte weiter.»So läuft das hier nicht mehr. Jetzt wird alles ganz genaueingetragen.« Ich traute meinen Augen nicht. Er wedeltemit einem Formular herum, das die Amerikaner erstellthatten. Es nannte sich »Meldungsvorblatt« und wurdeoben und unten von dicken Lettern eingerahmt: »Confiden-tial«. Darauf sollte der Klarname der Quelle vermerktwerden, der Deckname oder die Operationsbezeichnung,die V-Nummer oder PA-Kennung, Treffdaten ebenso wiegenaue Angaben zur Übergabe des Materials. Künftig solltedieses Formblatt an jede Einzelmeldung geheftet werden.In Kenntnis unseres Meldungsaufkommens hatten dieAmerikaner allein für unser Team vorsorglich 500 Blattvorbereitet. Freddy starrte auf das Blatt: »Jetzt sind alleverrückt geworden. Der Schnauzer findet das auch nochklasse. Wenn wir das ausfüllen, können wir unsere Quellengleich beim Erschießungskommando anmelden.« Dannöffnete er das Fenster und flüsterte: »Wenn der Schnauzerwüsste, dass das Material, das er bekommt, schon inMünchen war, bevor wir es ihm geben, bekäme er einenHerzkasper.«

Die Amerikaner hatten diese Maßnahme clever begrün-det. Sie sagten, wenn sie alles komplett ausgefüllt bekom-men würden, könnten sie sich an der Finanzierung dernachrichtendienstlichen Verbindungen beteiligen. Sie müss-ten natürlich in jedem Fall wissen, wer das Geld bekommeoder wem es zustehe.

223

Page 225: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Das stellte natürlich nicht nur eine Gefährdung unsererVerbindungen dar, wir riskierten damit auch eine mögli-che Überwerbung durch die amerikanischen Freunde. Un-sere Quellen wären für den US-Dienst erpressbar gewor-den. Der hätte dann nämlich ganz genau gewusst, wer wasgeliefert hat. Ich konnte über eine solche Dreistigkeit nurden Kopf schütteln. Noch mehr regte mich aber unserOpSi auf, der eigentlich wegen der Quellensicherheit ausMünchen eingeflogen worden war.

»Nichts«, schärfte ich Freddy ein, »kein Klarname gehthier über den Tresen, nicht für das Meldungsvorblatt undfür keine Op-Akte. Ich werde mich nicht zum Mörder ma-chen lassen. Wir werben da draußen Leute, die uns ihr Ver-trauen schenken. Unsere Ergebnisse sind außergewöhn-lich. Wir geben weit weniger Geld aus als all die anderen.Deshalb kriegen sie von uns erst dann Klarnamen, wennich der Überzeugung bin, sie können damit auch umgehen.Punkt, aus, Schluss!«

Freddy hatte noch zehn Einzelmeldungen von »Münch-hausen« zu »verwursten«, wie er sagte. Sie waren bereitsin München gesichtet worden und durften nun in den all-gemeinen Dienstweg und zu den Amerikanern weiterge-geben werden. Also diktierte ich Freddy ein paar Angabenfür die Meldungsvorblätter. Alles, was es an klangvollenrussischen Namen gab, musste herhalten. Was mir geradein den Sinn kam, ließ ich in die Formulare eintragen, vonGorbatschow über Schewardnadse bis zu Tolstoi und Pas-ternak. Ich war so sauer, dass ich sogar einen Josef Stalinund einen gewissen Grigori Rasputin bemühte. Bei Letz-terem fragte Freddy ungläubig: »Soll ich wirklich Raspu-tin schreiben?« - »Schreib das hin. Die wollen es gar nichtanders. Keine Angst, ich gebe die Meldungen dem Schnau-zer persönlich in die Hand.«

Nach fünfzehn Minuten verließen wir unser Büro. Freddyging zur Kasse und ich zum OpSi. Ich warf ihm einen Pa-

224

Page 226: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

cken. Meldungen auf den Tisch. Er blätterte den Wust kurzdurch und blickte dann triumphierend hoch: »Na also.Geht doch. Treffer!« »Treffer« sagte er immer, wenn er derMeinung war, ein besonders schlagendes Argument ge-bracht zu haben. Manchmal benutzte er das Wort auch,ohne dass wir anderen dann wussten, was er gerade meinte.Das führte regelmäßig zu Irritationen, auf die wir mit Ach-selzucken reagierten.

Schnauzer liebte es, über seine Quellen im Ostblock zuschwadronieren. Spätestens, wenn dieses Thema kam,wurde es höchste Zeit, abzuhauen. Uns war inzwischen zuOhren gekommen - beim BND bleibt eben nichts geheim -,dass er Anfang der achtziger Jahre eine Quelle geführt ha-ben sollte. Angeblich handelte es sich um einen Postbotenaus Budapest, der einmal im Jahr über die aktuelle Wirt-schaftslage in Ungarn informierte. Das kann natürlichauch eine gezielte Desinformation aus der Zentrale gewe-sen sein.

Von »Eulenspiegel« berichteten wir jedenfalls an diesemMorgen mit keiner Silbe. Das sollte erst Wochen späterpassieren. Das von ihm übergebene Material nahm Freddymit nach München. Nur einen Tag später rief mich einerder Auswerter an. Er konnte die Superlative kaum inWorte fassen. Die Unterlagen seien einfach sensationell.Wenn das so weiterlaufe, dann werde man die Partner-dienste in diesem Bereich glatt abhängen. Das tat gut. Bal-sam für die Seele.

Im Laufe des Frühjahrs trafen wir dann »Eulenspiegel«einige Male, um möglichst viele Informationen zu sammelnund das persönliche Verhältnis zu ihm zu festigen. Damiter beweglich war, kauften wir ihm ein Auto. An seinemPotsdamer Standort parkten wir es in einer Seitenstraße. Esdiente als toter Briefkasten, aber auch für seine Anreisen zuunseren Treffen. Der rote Golf wurde von uns nirgendwoerwähnt, in keinem Bericht und in keinem Gespräch.

225

Page 227: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Wir hatten Angst, die Amerikaner könnten »Eulenspie-gels« wahre Identität auf dem Umweg über das Auto inErfahrung bringen. Es war schon auffällig, dass uns Markund Hans nicht mehr von der Seite wichen, wenn wir unsim Föhrenweg aufhielten. Wir registrierten auch, dass sieuns immer genau dann anriefen, wenn wir auf dem Wegzu einer unserer Quellen waren. Das beunruhigte uns undbewirkte, dass wir mehr und mehr unsere Quellen undTreffdaten verschleierten.

Auch andere Dinge bereiteten uns Sorgen. Sowohl »Eu-lenspiegel« als auch »Münchhausen« hatten von Anfangan vage Andeutungen über eine mögliche Quelle des KGBbeim Bundesnachrichtendienst gemacht. Gerade »Eule«bat uns immer wieder eindringlich, besonders vorsichtigmit seinen persönlichen Daten umzugehen, da sie beimBND nicht sicher seien. Was war nun wirklich an der Sa-che dran? Wir sammelten akribisch jede Anmerkung, jedenHinweis, alles, was diesen Verdacht stützen konnte. Dazuhatte Freddy extra einen Schreibblock gekauft, in dem wirnach den Treffen alles eintrugen. Wir notierten, was unsdie Quellen bewusst und auf Nachfrage sagten, aber auchscheinbar nebensächliche Bemerkungen und gedanklicheFußnoten.

Eines wurde im Laufe der Zeit deutlich: »Eulenspiegel«musste irgendwo Zugang zu diesem sehr sensiblen Bereichhaben, wenn nicht direkt, dann mittelbar. Damit hielt erauch nicht lange hinterm Berg. Er nannte uns den Nameneines Offiziers, der, so viel gab er uns zu verstehen, zumrussischen Nachrichtendienst Zugang hatte. War diesePerson nun selbst KGB-Offizier oder Angehöriger des mili-tärischen Dienstes GRU? Handelte der Genannte nur mitInformationen, oder sollten wir gezielt auf eine falscheFährte geführt werden? Das blieb bis auf weiteres im Ne-bel. Für uns war es eine Herausforderung. Wir wollten ge-nau an dieses Bindeglied zu den russischen Diensten ran.

226

Page 228: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Eulenspiegel« half uns schließlich dabei, auch wenn derWeg mit Hindernissen gespickt war.

Die Quelle »Eulenspiegel« entwickelte sich prächtig.Nach einem halben Jahr interessierten sich nicht nur dieAuswerter der Abteilung 3 für ihn, sondern auch dieSpürnasen bei der Beschaffung (Abteilung 1). Schon dieExistenz von »Münchhausen« hatten sie bestaunt. Nungab es also einen zweiten »Kracher« dieser Art, wie eseiner der Chefs in München ausdrückte.

Plötzlich waren wir doch gern gesehene Gäste in Pullach.Neugierig wurden wir von Zuständigen und anderen,eigentlich gänzlich Unbeteiligten, ausgefragt. Eine kleinechronologische Auswahl der Kommentare der Verant-wortlichen in der Abteilung 1, vermerkt an den Begrün-dungen für operative Ausgaben sowie an den Kontakt-und Treffenberichten:

14. Dezember 1993: »Erstklassige Innenquelle mit be-sten Zugängen.«

17. November 1994: »Ein überdurchschnittliches Mel-dungsaufkommen. «

4. April 1995: »Das Beste zur aktuellen Krisenlage.«22. April 1995: »33HB ist mehr als zufrieden.«20. Dezember 1995: »Zurzeit das Beste, was wir ha-

ben.«8. Januar 1996: »Er ist eine unserer besten Quellen.«29. Januar 1996: »Wir müssen im Dienst einen Über-

setzer einstellen, der ausschließlich für >Eulenspiegel< ar-beitet. «

2. Februar 1996: »>Eulenspiegel< ist unschätzbar, einedermaßen wichtige und sensitive Quelle.«

Wir hatten nicht im Traum damit gerechnet, dass wireinen Informanten werben würden, der unseren »Münch-hausen« noch überflügeln würde. »Eulenspiegel«, V-Num-mer 077834, übertraf alles, was es vorher gegeben hatte.

227

Page 229: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die Legendenfirma

Im Herbst 1993 trennten uns nur noch wenige Monatevom Ende des Abzugs der WGT. Freddy und ich hatten ineinem eineinhalbjährigen Kraftakt sechs Innenquellen ge-worben, von denen jede Einzelne über dem Leistungs-durchschnitt des BND lag. Fast alle operierten inzwischenaus ihren Heimatländern, in die sie zurückgekehrt waren.Das Berliner Büro - wir mieden es mittlerweile wie diePest - war uns ein Dorn im Auge. Wir mussten eine Alter-native finden, die dem Anspruch unserer Verbindungen imOsten gerecht wurde. In der Münchner Zentrale leistetesich jeder Verbindungsführer, der auch nur eine einiger-maßen funktionierende Quelle betreute, ein so genanntesLegendenbüro. Unsere Kollegen unterhielten Reisebüros,Versicherungen, Makleragenturen, journalistische Abde-ckungen und so weiter. Wir grübelten, wie wir ohne denüblichen Riesenaufwand des Dienstes dasselbe Ziel errei-chen konnten. Auch wir brauchten eine Legendenfirma.

Da kam mir eine Idee. Meine Schwiegereltern waren seitJahren mit einem Hamburger Kaufmann befreundet. Er hießFriedrich, und sein Name war schon häufig in Gesprächengefallen. Ich hatte aber nie weiter nachgefragt. Nun waraber plötzlich die Erinnerung da. Vielleicht könnte er unserProblem lösen helfen. Meine Frau, die nach ihrem Abitureine Weile in Friedrichs New Yorker Büro gearbeitet hatte,schilderte mir diesen Mann in den schönsten Farben.

Friedrich war früher Topmanager bei einem Ölkonzerngewesen. Dort hatte er sich im Mineralölbereich einen Na-

228

Page 230: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

men gemacht. Nach der Ölkrise in den frühen siebzigerJahren pflegte Friedrich vor allem seine Kontakte in diearabische Welt. Bald danach gründete er in Hamburgseine eigene Firma. Der Zufall wollte es, dass eben dieserFriedrich am folgenden Wochenende in den Wohnort mei-ner Schwiegereltern kommen würde, um an einem Ten-nisturnier teilzunehmen. Das war eine Chance, ihn ken-nen zu lernen. Ich nutzte sie.

Nachdem man uns vorgestellt hatte, vertieften wir unsgleich in ein anregendes Gespräch. Ich war sehr beein-druckt von diesem Mann, der anscheinend ziemlich wohl-habend war und dennoch die Bodenhaftung nicht verlo-ren hatte. Ich berichtete ihm natürlich nichts von meinerTätigkeit, ließ aber an der richtigen Stelle den Hinweis fal-len, dass ich plante, ein Büro einzurichten. In ausgepräg-tem norddeutschem Dialekt antwortete er mir: »Das soll-ten wir doch irgendwie hinkriegen. Komm man nachHamburg in mein Büro. Das gibt immer einen guten Kaf-fee bei mir und was zu schmauchen. Dann erzählst du mirmal genau, was du vorhast, und dann sehen wir weiter.«

Gesagt, getan. Wenige Tage später begab ich mich in dieHansestadt. Das Büro lag 200 Meter von der Binnenalsterin einer der besten Lagen der Stadt. Reedereien, Banken,alles was Rang und Namen hatte, war dort versammelt.»Na, mein Jung', hast hergefunden?«, begrüßte er michbetont freundlich. Während seine Sekretärin Kaffeekochte, musterte ich die Chefetage. Die edlen Holzmöbelin Friedrichs Büro erinnerten mich an die Innenausstat-tung einer noblen Yacht. Einige gerahmte Fotos zeigten dieKontakte des Hausherrn in den Nahen Osten sowie auchin den ehemaligen Ostblock. Man spürte die Freude amDetail und auch eine gewisse Perfektion. In diesem Raumschien alles mit Bedacht ausgewählt zu sein. Und nichts da-von kam protzig rüber.

Friedrich selbst hatte viel Ähnlichkeit mit dem damali-

229

Page 231: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gen Außenminister Genscher. War es seine Statur oder dieFrisur, vielleicht die große Brille, möglicherweise aber dergelbe Pullover? Wahrscheinlich war es eine Mischung vonallem. Wenn es ein Klischee vom klassischen HamburgerKaufmann gab, dann steckte es eindeutig in Friedrich. Einechter Hanseat, der Hamburger würde sagen, der anstän-dige Geschäfte tätigt. In einem seiner Musterverträge fandich später den Satz, der ihn auch heute noch charakteri-siert: »Die Vertragspartner sind gehalten, den Vertragloyal und nach den Grundsätzen verständiger Kaufleute zuerfüllen.« Das war er, unverkennbar.

Da saß mir ein Mann gegenüber, dem ein Versprechen,verbunden mit einem Handschlag, noch etwas bedeutete.Einer, der auch die anderen leben ließ und an den man sichstets hilfesuchend wenden konnte. Ich wusste, ich konnteihm unser Problem anvertrauen. Friedrich lehnte sich inseinen Sessel zurück, schmauchte am Zigarillo, nippte anseinem Kaffee und hörte mir aufmerksam zu. Gelegentlichnickte er verständnisvoll.

Er berichtete auch von seiner Arbeit. Besonders interes-sant war für mich die Tatsache, dass er als Energieberateran diversen Nato-Übungen teilgenommen hatte. In diesemZusammenhang musste er sich auch regelmäßigen Sicher-heitsüberprüfungen unterziehen. Anscheinend wollte ermir durch die Blume versichern, dass er mit sensiblen In-formationen vertraulich umgehen konnte.

Nach einer guten halben Stunde stand er auf und sagte:»Dann komm man mit.« Wir gingen gemeinsam in einNebenzimmer. Es war kleiner als sein eigenes Büro, aberebenso nobel ausgestattet. Offensichtlich wurde es nichtgenutzt, denn die Schränke standen offen. An den Wändenfehlten die Bilder. »Hier kannste meinetwegen einziehen,wenn du willst!«, hörte ich ihn sagen. Ich war sprachlos.Um dieses Office würde mich sogar mein Unterabtei-lungsleiter beneiden, dachte ich. Von hier könnten wir, un-

230

Page 232: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gestört durch neugierige amerikanische ND-Partner, ar-beiten. Ich vereinbarte einen weiteren Termin, um ihmFreddy vorstellen zu können.

In der Zwischenzeit wollte ich mich darum bemühen,eine Freigabe des Dienstes für dieses Büro zu bekommen.Auf dem Weg zum Auto kam mir alles wie ein Märchenvor. Die Lage und die Ausstattung unserer ganz persön-lichen Dienststelle waren erstklassig. Der geschäftlicheHintergrund passte zu uns und unseren Quellen. Aber einHaken kam mir in den Sinn. Friedrich kannte mich nurunter meiner Klaridentität. Dieser Stolperstein musstenoch aus dem Weg geräumt werden.

Freddy war ähnlich begeistert, aber nun musste Gassingüberzeugt werden. Die Voraussetzungen waren günstig.Die Anlaufphase der ersten Monate war vorbei, der Erfolgunserer unkonventionellen Arbeitsweise unbestreitbar.Deshalb hatte er sich auch daran gewöhnt. Wir trafen unsnoch am selben Abend in einem Cafe unweit des Kurfür-stendamms.

Ich schilderte ihm so plastisch wie möglich die Not-wendigkeit eines Büros in Hamburg. Besonders das Pro-blem, dass Friedrich und ich uns nicht fremd waren,sprach ich an. Hier sah unser Chef kein echtes Problem.Erstens, sagte er, sei das gar nicht so selten im Dienst, dassnachrichtendienstliche Verbindungen die wahre Identitäteines Verbindungsführers kennen, und außerdem könntenwir ja diesmal nicht mich, sondern Freddy offiziell als Ver-bindungsführer einsetzen. Das würde zwar nichts an dentatsächlichen Fakten ändern, aber für die Aktenlage bes-ser aussehen.

231

Page 233: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Der Kurier der Quellen

Wir hatten noch ein zweites Problem zu erörtern. Zahl-reiche Fotografien von Geheimdokumenten, die noch un-entwickelt in Russland lagerten, mussten dringend abge-holt werden. Zunächst hatten wir gehofft, der BND habefür diese Zwecke jemanden, den wir einsetzen könnten.Das war aber nicht der Fall. In Wahrheit waren wir des-halb auch nicht traurig. Nach der Panne mit dem Ge-heimschrift-Verfahren konnten wir die Sicherheitsrisikennicht mehr einschätzen. Wir warben lieber selbst jeman-den an, der uns direkt verpflichtet war.

Im Übrigen kam hinzu, dass uns die recht konkretenHinweise unserer Quellen immer mehr verunsicherten.Irgendwie hatte der SWR, eine der Nachfolgeorganisatio-nen des alten KGB, möglicherweise direkten Zugang zuunseren Pullacher Dateien. Angesichts der persönlichenLage und der Brisanz unserer Quellen für die russischeSeite mussten wir vom Schlimmsten ausgehen. Deshalbwollten wir um jeden Preis verhindern, dass die Klardatenunseres Kuriers, der bei seiner Arbeit nicht nur sich, son-dern im Falle einer Enttarnung auch die von ihm besuch-ten Quellen in Gefahr bringen würde, in die Operativak-ten gelangten.

Unser Vorschlag für Gassing lautete: Eine real existie-rende Person, die in Wirklichkeit aber gar nicht fahrenwürde, sollte für die eigene Aktenlage als Dummy einge-setzt werden. Damit würde die größtmögliche Sicherheitfür den eigenen Kurier entstehen. Finanziell sei das unkom-pliziert, denn der Dummykurier würde die Gelder fürseine nicht angetretenen Reisen quittieren und der eigent-liche Kurier bekäme sie ausbezahlt. Beide, das »Double«und der echte Übermittler, wüssten von dem Verwirrspiel,sie würden sich aber selbst niemals kennen lernen.

232

Page 234: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Herr Gassing, ich sage Ihnen ganz ehrlich, wenn da inPullach etwas faul ist, und es gibt ganz klare Anzeichendafür, dann wäre es mehr als fahrlässig, jemanden unterden üblichen Voraussetzungen reisen zu lassen. Wir habenuns das lange überlegt. Entweder der echte Kurier wirdhundertprozentig gedeckelt, oder wir lehnen seinen Ein-satz ab. Dann muss das anders abgewickelt werden. Wirverantworten das nicht.« Gassing nahm alles ziemlich lo-cker: »Machen Sie doch! Sie wissen ja, dass wir - schonwegen CAD-B -, nicht so großzügig mit den Klardatenumgehen sollten.« Damit war das Thema durch. Es lohntesich also doch, den Alten außerhalb seines Büros und ineinem völlig anderen Milieu zu treffen.

Wir konnten die Erfolge des Tages kaum fassen. DasHamburger Büro genehmigt, der Op-Kurier auch, jetztmusste nur noch ein Dummy gefunden werden. Es konntedoch nicht so schwer sein, jemanden für eine Arbeit zu ge-winnen, bei der er versprechen musste, sie in Wirklichkeitzu vermeiden.

Am nächsten Morgen waren wir schon sehr früh aufdem Weg nach Hamburg. Wir sahen sehr ungewöhnlichaus. Legten wir normalerweise Wert auf eher rustikalesOutfit mit Jeans und Rollkragen, so kamen wir uns dies-mal richtig verkleidet vor. Freddy trug einen dunklen An-zug mit Weste und blauem Hemd. Ich hatte meine graueFlanellhose gewählt, dazu ein dunkelblaues Sakko und einweißes Hemd. Jeder von uns hatte eine dezente Krawatteum den Hals gebunden. Erstens wollten wir bei Friedrichden bestmöglichen Eindruck hinterlassen, und zweitenstrafen wir am Abend eine unserer Quellen im Hotel »VierJahreszeiten«. Trotzdem konnte sich Freddy einen seinerüblichen Kommentare nicht verkneifen: »Jetzt sehen wirauch schon aus wie diese Dampfplauderer aus Pullach.«

Friedrich verstand sich mit meinem Partner auf Anhieb.Sie fanden auch gleich ein gemeinsames Thema, das Se-

233

Page 235: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

geln. Freddy, stolzer Besitzer eines gültigen Segelscheins,interessierte sich voller Bewunderung für das Schiff desKaufmanns. Der hatte in Kiel eine imposante Yacht liegen.So brachten wir rasch die Förmlichkeiten hinter uns. ImÜbrigen behandelte mich Friedrich wie einen langjährigenFreund, und das schuf eine ungezwungene Atmosphäre,

Tarnfirma »Handelskontor Hamburg«

Wir kamen auf die Details unserer Legendenfirma zu spre-chen. Friedrich stellte uns alles zur Verfügung, was wir fürein existentes Unternehmen brauchten. Von der Handels-registernummer über den Telefonanschluss bis zum Fir-menkonto. Dafür wollte er lediglich die anteiligen Be-triebskosten erstattet haben, also Heizung, Reinigung undStrom. Das war mehr als großzügig, denn die gesamtenTelefonkosten übernahm er. Wir konnten auch über Bü-romaterial frei verfügen und hatten die eine oder andereVergünstigung.

Am Ende diskutierten wir über den Namen der künftigenFirma. Ich schlug spontan vor: Handelskontor Hamburg.Und siehe da, in der Hansestadt waren schon mehrere»Handelskontore« registriert, aber noch keines mit dieserWortkombination. Eine Woche später standen wir erneutvor unserem Hamburger Bürogebäude, da gab mir Freddyeinen Stoß in die Rippen. Er lachte laut auf. Im Foyer hing,mitten unter den Glasscheiben mit den im Haus ansässigenUnternehmen, eine neue Tafel: HANDELSKONTORHAMBURG. Als Logo diente eine Weltkugel, auf der Ham-burg rot eingezeichnet war. Von diesem Punkt aus wiesenvier Pfeile in alle Himmelsrichtungen.

Im Fahrstuhl entdeckten wir eine kleine Plakette und im

234

Page 236: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Flur der zweiten Etage ebenfalls so eine Glastafel wie imFoyer. Das Staunen sollte uns so schnell nicht vergehen.Friedrich war verreist, aber seine Sekretärin führte uns so-zusagen ein. Sie deutete auf eine Wand: »Ein Geschenkvon Friedrich!« Dort hing in einem gediegenen Messing-rahmen ein sicherlich hundert mal hundert Zentimetergroßes Foto des Kreml. Wenn das kein Omen war!

Auf dem Schreibtisch lag geprägtes Briefpapier mit far-bigem Firmenlogo. Visitenkarten mit unseren Decknamenund der neuen Firmenbezeichnung waren ebenfalls vor-handen. Eine russische und eine deutsche Fahne stecktenneben dem Fenster in einem Bodensockel aus Edelholz.»Wenn Sie noch irgendetwas brauchen, dann sagen Sie esmir bitte«, verabschiedete sich die sympathische Sekretä-rin. Wir waren völlig durcheinander. »Norbert, das glaubtuns kein Mensch da unten - und du meinst, das stehen wirdurch?« - »Warum nicht?«, fragte ich dagegen und ließmich in den großen Sessel fallen. Dann krempelten wir dieÄrmel hoch und gingen an die Arbeit.

Bis unser echter Kurier, eine junge, hübsche und sehr gutdeutsch sprechende Ukrainerin, endlich an die Arbeit ge-hen konnte, musste auch die »Papierlage« so weit sein.Also planten wir ihren Einsatz und die Funktion desDummy. Den Segen des Chefs hatten wir ja.

Wir hatten eine Idee für unseren Kurierdummy. Seit vie-len Jahren kannte ich einen jungen Mann aus einem Han-noveraner Vorort. Er war gebildet, ledig, zuverlässig undstammte aus einem beinahe schon vorbildlichen Eltern-haus. Mein junger Bekannter hatte mich Wochen zuvorgerade erst angerufen, weil er seinen Musterungsbescheiderhalten hatte. Nichts zog ihn zur Bundeswehr, denn erhatte längst Karriereweichen gestellt. Nach der Ausbil-dung bei einem deutschen Großunternehmen sollte er so-fort in eine gut dotierte Position übernommen werden.Nun hatte er mich angerufen und um meinen Rat gebeten.

235

Page 237: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Wir begaben uns also zu meinem Bekannten nach Han-nover und berichteten ihm von unserem Vorhaben in Sa-chen Kurier. Er war sehr zurückhaltend und brauchtemehrere Wochen, bis er uns erhörte. Er hatte Zweifel ander Seriosität des BND und unserer Arbeit. Als Gegenleis-tung verschafften wir ihm, solange er bei uns mitarbeitete,die Freistellung von der Bundeswehr. Langsam gerietenwir in Panik, was die Bergung des russischen Materials be-traf. Deshalb waren wir heilfroh, als uns einige Wochenspäter der erste Transport aus Georgien erreichte.

Ab sofort operierten wir beide hauptsächlich von Ham-burg aus. Berlin besuchten wir nur sporadisch und galtendort bald als Exoten. Einigen Kollegen waren wir längstsuspekt geworden. Nicht zu greifen, immer unterwegs,außergewöhnliche Erfolge. Besonders jene, mit denen wirkeinen persönlichen Kontakt pflegten, beäugten uns arg-wöhnisch. Aber Gassing, den wir ständig über den Standder Dinge auf dem Laufenden hielten und der deshalb un-seren Arbeitseinsatz auch beurteilen konnte, tolerierte un-ser Verhalten.

Mittlerweile versuchte ich Gassings Vertreter Tempomöglichst aus dem Weg zu gehen. Wenn der Chef abwesendwar, dann mied ich die Dienststelle und schickte lieberFreddy vor. Unterschriften holten wir uns mit dem Verant-wortungstrick. Freddy hatte dafür immer dieselbe Formelparat: »Norbert hat gesagt, er braucht das unbedingt. Mehrweiß ich auch nicht. Aber wenn Sie anderer Meinung sind,hat er gesagt, dann sollten Sie es einfach schriftlich ableh-nen, damit Norbert von der Verantwortung entbunden ist.«Unglaublich, wie schnell wir unsere Signatur hatten. Sokonnten wir stressfrei weitermachen. Im Laufe der Jahrewurde nicht ein einziger Antrag, sei es für die Beschaffungeines Geräts oder für die Bezahlung einer Quelle, abgelehnt.Es lief so gut bei uns, dass sich niemand traute, irgendwoNein zu sagen und damit eventuell einen Fehler zu riskieren.

236

Page 238: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Es ging uns natürlich nicht darum, irgendwelche unsin-nigen Dinge durchzudrücken. Die üblichen einfältigenDiskussionen waren uns einfach zu aufreibend und vor al-lem zu zeitraubend. Das schlaue Geschwätz von Leuten,die selbst nie richtige Quellen geführt hatten, bedrückteuns, und besonders die arrogante Art gegenüber den In-formanten erschreckte uns zunehmend. Wir gingen mehrund mehr eigene Wege, um alles, was man von uns er-wartete, gewissenhaft vertreten zu können.

237

Page 239: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

MAD

Langsam drohte uns die mühsam organisierte Vollbeschäf-tigung über den Kopf zu wachsen. Wir mussten unserenQuellenstamm betreuen, aber auch die Beschaffungshel-fer und Kuriere. Sogar die Büroarbeit im Handelskontornahm immer stärker zu. Wir behielten Pullach im Auge,durften aber auch die Belieferung der Amerikaner nichtvernachlässigen.

Interessanterweise entkrampfte sich das Verhältnis zuden DIA-Kollegen zunehmend. Da wir den Unfug mit denMeldevorblättern nicht ernst genommen hatten, ver-schwanden diese sang- und klanglos wieder in der Versen-kung. Die Zusammenarbeit mit Hans Diethard verbes-serte sich. Mitte 1993 wurde ganz augenfällig, dass manuns wichtiger nahm. Wir bemühten uns ja auch, mit denAmerikanern auf Augenhöhe und zudem fair umzugehen.

Nun begann die DIA, unsere Quellen auch finanziell zuunterstützen. Das war nicht ganz unproblematisch. Immerwieder wurden für uns Umschläge mit Geld hinterlegt. DieAmerikaner erhielten beispielsweise von uns einen SchwungMeldungen, und Tage später lag ein Kuvert mit 10 000 Dol-lar bereit. Auf dem Umschlag stand der Name des Infor-manten, an den das Geld ausbezahlt werden sollte. Es gabkeinerlei Regeln für den Umgang mit solchen Agenten-löhnen, und Anweisungen aus Pullach blieben aus, obwohlGassing und ich wiederholt nachgefragt hatten, wie wirdie Gelder verbuchen und handhaben sollten. Zu unseremgroßen Erstaunen kam dann die Weisung aus der Zentrale,

238

Page 240: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

die Geldbündel müssten an die Quellen ausbezahlt wer-den, dürften aber in keinem Bericht und in keiner Ab-rechnung erscheinen. Das lehnten wir kategorisch ab. Einesolche Praxis hätte der Manipulation durch die Verbin-dungsführer Tür und Tor geöffnet. Das wäre nur durcheine heimliche Buchführung auszugleichen gewesen.

Das zweite Problem war gravierender. Eine Spitzen-quelle wie »Münchhausen« hätte beispielsweise pro Jahr100 000 Mark erhalten, die eine Hälfte von uns und dieandere von den Amerikanern. In den Op-Akten hätten wirnur 50 000 Mark vermerkt, also lediglich unseren Anteil.

Wenn nun die Amerikaner eines Tages als Teilhaberweggefallen wären, hätten wir große Schwierigkeiten mitden Finanzen bekommen. Wir hätten dann nämlich auchdie zweite Hälfte übernehmen müssen. Ein Rattenschwanzvon Fragen wäre aufgetaucht, und das wollten wir um je-den Preis vermeiden. Wir buchten also, trotz gegenteiligerWeisung, beide Hälften in unseren Akten.

Es gab noch ein weiteres Problem: Die Geldbriefe derAmerikaner waren namentlich gekennzeichnet. Da standdann zum Beispiel »Für Norbert/Freddy in Sachen Münch-hausen«. Eine Summe war nicht vermerkt. Anfangs kames zu fragwürdigem Umgang mit diesen Geldern, die in derRegel bei Tempo gelagert waren. Einmal entschieden wiruns, »Eulenspiegel« seinen amerikanischen Anteil auszu-zahlen. Zum einen stand ihm das Geld zu, zum anderenentlasteten wir damit den eigenen Quellenetat. Als wir dieMittel abholen wollten, waren sie bereits für eine andereQuelle eines Kollegen ausgegeben worden. Häufig erfuh-ren wir nur zufällig von den Amerikanern, dass ein Um-schlag für uns bereit lag. Das Ganze war wirklich eine du-biose Verfahrensweise.

Die Hinweise auf Nachrichtenabflüsse aus dem BND anden russischen FSB rissen nicht ab. Freddy hatte bereits eingutes Dutzend Seiten seines »ND-Schreibblocks«, wie ich

239

Page 241: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

es nannte, mit Indizien und Andeutungen, konkreten Na-men und Fakten beschrieben. Er fragte mich, wie wir da-mit umgehen wollten. Meine Antwort lautete: »Wir solltenes eintüten und an die Führungsstelle in Pullach schicken.Das muss ausgewertet werden. In München können sie be-stimmt etwas damit anfangen.« Also gaben wir alles andie für das Meldungswesen verantwortliche Kollegin imFöhrenweg. Die schickte das Päckchen nach Pullach. Ko-pien gab es nicht, auch nicht für die Amerikaner.

Dann geschah das absolut Erstaunliche. Eine Wochewar vergangen, und Freddys Seiten lagen wieder in unse-rem Fach in der Berliner Dienststelle. Daran hing ein gel-ber Notizzettel mit dieser Nachricht: »An Norbert undFreddy in Sachen Fremde Dienste. Die Meldungen sindnicht verwertbar. Es handelt sich ausschließlich um pres-seöffentliche Informationen. Kein Interesse. Gruß Herle.«

Wir waren sehr erstaunt. So wurde also in Pullach mitkonkreten Spionagehinweisen umgegangen. Möglicher-weise war das eine oder andere schon durch die Medienbekannt. Es gab in den Notizen aber auch exakte Namenund Personenbeschreibungen, von denen wir wussten,dass sie mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht öffentlichsein konnten. Außerdem wunderte uns, wie schnell diesePapiere zurückgekommen waren. Da hatte keiner analy-siert oder gar weiter recherchiert. Diese Hinweise hattenauch die Abteilung 1 nicht verlassen. Aber warum?

Warum hatte dieser Dr. Herle, der völlig unbemerkt vonuns den Führungsstellenleiter Tawe abgelöst hatte undnun Herr über 12YA war, so sonderbar reagiert? Das löstebei uns erst einmal nur Achselzucken und Kopfschüttelnaus. Wenn wir den Herrschaften zu viel Arbeit bereitensollten, dann könnten wir das auch lassen. Wir würdenuns vielleicht nicht für den neuen Chef quer legen, ganz si-cher aber für unsere Quellen. Ihnen galt unsere ganzeSorge. Nun begann ich in den Papieren zu blättern. Es

240

Page 242: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

fand sich keine Randnotiz, keine Schlussbemerkung, keineStellungnahme, einfach nichts. Das war ziemlich unge-wöhnlich.

Wir konnten damals nicht ahnen, was dahinter steckte.Und wir konnten beide nicht wissen, dass weder Faulheitnoch Dummheit beim eigenartigen Umgang mit unserenInfos am Werk waren. Erst Jahre später würde uns klarsein, dass hier mit eiskaltem Kalkül operiert worden war.

Beim Durchlesen unserer »presseöffentlichen Informa-tionen« fielen mir einige Passagen auf, die für den Militä-rischen Abschirmdienst, kurz MAD, von Bedeutung seinkonnten. »Freddy, wir fahren zum MAD. Stell doch bitteaal fest, wo die hier in Berlin sitzen«, stellte ich entschlos-sen fest. »Und du meinst, das ist korrekt, wenn wir da soeinfach hingehen?«, lautete die Gegenfrage. Ich wackeltemit dem Kopf, als würde ich gleich in Ohnmacht fallen,und konterte: »Korrekt - welch ein großes Wort in Zu-sammenhang mit dem BND. Was ist hier korrekt? Korrektist nur, wenn unsere Quellen am Leben bleiben. Denen inPullach ist das ja offensichtlich schnurz. Außerdem bin ichder Meinung, dass ich als Soldat, wenn ich ein Sicher-heitsproblem habe, mich durchaus an meinen zuständigenMAD wenden kann.«

Es dauerte keine zehn Minuten, dann hatte Freddy nichtnur die Adresse des Militärischen Abschirmdienstes er-fragt, sondern bereits einen Termin beim Chef der Außen-stelle in Potsdam vereinbart, für denselben Tag um 15 Uhr.Nun grinste er über das ganze Gesicht. »Oh nein, nichtschon wieder!« Ich wehrte mit beiden Händen ab. Pots-dam hatten wir nämlich noch in ganz frischer Erinnerung.Der Name der brandenburgischen Metropole erheiterteuns seit Wochen. Das Wort war sozusagen zum »RunningGag« geworden.

241

Page 243: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Ais Brandstifter unter Verdacht

Es war bereits ein paar Wochen her, als wir auf unsererTour zu den Bundesvermögensämtern der neuen Länderauch dasjenige in Potsdam besuchten. An der uns bekann-ten Adresse fanden wir nur ein bis auf die Grundmauernniedergebranntes Gebäude vor. Nach einigem Herumfra-gen entdeckten wir dann die Behörde in einem neuen, pro-visorischen Domizil. Bei der telefonischen Terminabspra-che war uns bereits aufgefallen, dass sie uns schroff undunfreundlich behandelten. Das waren wir nicht gewöhnt.

In allen Ämtern der Vermögensverwaltung sprachen wirmit dem Dienststellenleiter und wiesen uns als BND-Mit-arbeiter unter Decknamen aus. So auch hier. Wir traten indas sehr spartanisch wirkende Büro des Chefs. Ich be-grüßte ihn und streckte meine Hand aus. Er ging jedochan mir vorbei, um unsere beiden Dienstausweise zu be-gutachten, die Freddy rechts von mir in der Hand hielt.Dann umkreiste er uns beide in Form einer großen Achtund fixierte uns sehr genau. Ich hielt meine Hand immernoch ausgestreckt, aber er reagierte nicht darauf.

Er blickte uns an, als wollte er uns jeden Moment um-bringen. So kam es mir fast wie eine Ewigkeit vor, als erendlich etwas sagte: »Warum haben Sie das gemacht?«Freddy guckte mich fragend an und schien an des Amts-leiters geistigen Fähigkeiten zu zweifeln. »Nun reden Sieschon«, herrschte er uns noch einmal an, »warum habenSie das getan?« Mit heruntergezogenen Mundwinkelnfragte ich zurück: »Was? Bitte, was? Was haben wir ge-macht?« Der Chef tobte nun: »Sie fragen, was? Sie wissendoch genau, was! Sie haben mein Amt angezündet!«

Ich blickte zu Freddy und fragte spontan: »Hast du?«Der schüttelte seinen Kopf und wehrte mit den Händenab. Wir konnten uns das Lachen kaum noch verkneifen.

Page 244: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Was lief hier nur ab? »Machen Sie sich nur noch lustigüber mich!«, wetterte der Amtschef weiter. »Wer war es?Der da?« Er zeigte auf Freddy. »Wer hat meine Bundes-vermögensverwaltung angezündet?« Alle unsere Beteue-rungen, nichts mit dem Feuer zu tun gehabt zu haben, hal-fen nichts. Es war wie ein Witz, er glaubte uns kein Wort.Der Mann war zutiefst davon überzeugt, die Brandstiftervor sich zu haben.

Nach wenigen Minuten warf uns der erboste Amtsleiterkurzerhand wieder aus seiner Notunterkunft hinaus. Erstunsere Recherchen lösten das Rätsel. Die Bundesvermö-gensverwaltung Potsdam war wenige Tage vorher einemPyromanen zum Opfer gefallen. Sofort hatte es Gerüchtegegeben, die den Bundesnachrichtendienst als Schuldigenidentifizierten. Genau als diese Parole in Umlauf kam,meldeten wir uns und baten um einen Termin mit demAmtschef. Für ihn schien das ein weiterer Beweis für dieRichtigkeit der abstrusen These zu sein. Beim Verlassendes Hauses bemerkte Freddy trocken: »Müssen wir jetztnoch warten, bis Kurt Felix kommt?«

Am Ende hatten wir, anstelle von Zugangsgenehmigun-gen für Objekte der Westgruppe, ein offizielles Hausver-bot des Bundesvermögensamtes Potsdam. Der Bescheidwurde nach einigem Hin und Her von der vorgesetztenDienststelle, dem Bundesvermögensamt Cottbus, wiederaufgehoben. Es gelang uns jedoch nicht mehr, unser Ver-hältnis mit dem Chef der Postdamer Bundesvermögens-verwaltung in Ordnung zu bringen. Jedenfalls hatte Pots-dam für uns seitdem etwas ganz Besonderes. Daher hoffteich, dass unser erster Kontakt mit dem MAD in Potsdametwas angenehmer verlaufen würde.

243

Page 245: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Kooperation mit den Militäragenten

Der Militärische Abschirmdienst (MAD) ist das Gegen-stück zum zivilen Verfassungsschutz im Bereich derBundeswehr. Er sammelt Informationen über extremisti-sche Bestrebungen innerhalb der Streitkräfte und zu ge-heimdienstlicher Tätigkeit gegen sie. Im Bereich der Spiona-geabwehr ermitteln die MAD-Offiziere sowohl in öffentlichzugänglichen Quellen als auch mit nachrichtendienst-lichen Mitteln. Sie unterhalten jedoch kein Informan-tennetz innerhalb der Bundeswehr. Während der BNDdem Bundeskanzleramt untersteht, kommen die Befehlefür den Dienst der Truppe vom Verteidigungsminister.

Die Potsdamer MAD-Dienststelle war in der Havelland-Kaserne untergebracht. Ein Mitarbeiter vom »Trachten-verein«, so nannten wir die MAD-Leute beim BND in An-spielung auf ihre Uniformen, holte uns bei der Wache ab.Er brachte uns zum Dienstgebäude. Im Chefzimmer emp-fingen uns Oberstleutnant Wojatzki und sein Stellvertre-ter, Hauptmann Jendritzky. Wojatzki stieg gleich lockerein: »Aha, da sind ja die beiden Herren von der Südfrucht-firma! « - »Schön, mal jemanden vom Trachtenverein kennenzu lernen«, schoss ich zurück. Wir beschnupperten uns undblieben in Deckung, bis wir mehr voneinander wussten.

Wojatzki, der aus der Oberpfalz kam, bemerkte raschden fränkischen Dialekt meines Partners, und mit Jen-dritzky verband mich das norddeutsche Element. Mit die-sen Hilfskonstruktionen fanden wir rasch einen Draht zu-einander. Unsere Kaffee- und Teerunde dauerte schließlichzwei Stunden. Hier war alles anders als am Föhrenweg.Woja, wie in seine Mitarbeiter vertraut nannten, stelltesich rasch als Autorität heraus, der sich nicht an vieleWorte klammern musste. Überhaupt schien diese Dienst-stelle nicht auf Trommeln und Schaulaufen aufgebaut zusein. Der Laden war erkennbar klein, aber fein.

244

Page 246: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Ich fackelte also nicht lange und klagte den beiden»Trachtlern« mein Leid. Dann legte ich die Unterlagen aufden Tisch. »Es wäre toll, wenn Sie sich das mal anschauenkönnten. In Pullach hatte man dafür keine Verwendung.«Woja blätterte interessiert und reichte dann ein paar Blätteran seinen Stellvertreter weiter. Dabei tippte er auf bestimmtePassagen im Text. »Alles Quellenaufkommen?«, fragte er.»Ja, wir fuhren das unter unserer eigenen Bezeichnung >Sor-bas-Material« Ein Augenaufschlag vom Chef reichte undJendritzky verschwand mit dem Spruch: »Weiß schon, holeich ...« Minuten später kam er mit einem Ordner zurück.

Der MAD-Chef spazierte zum Fenster und schaute langenach draußen. »Wisst ihr, Männer, ich will euch ja nicht zunahe treten. Aber ...«.Es folgte eine ausführliche und ein-deutige Analyse des BND, die keineswegs positiv ausfiel.Woja führte zahlreiche Beispiele an, die seine Aussagen be-legten, zugleich aber auch bewiesen, dass er Ahnung vonder Materie hatte. Um ihm im Nachhinein keine Schwie-rigkeiten zu bereiten, verzichte ich auf die Wiedergabe sei-ner Ausführungen. Ich kann nur so viel sagen, dass ich dieseBeurteilung heute in vollem Umfang unterschreiben würde.

Dann verglichen die beiden Offiziere einige Daten ausihrem Ordner mit unseren Memos. Einiges passte haarge-nau in die bisherigen Ermittlungen, anderes bedurfte derÜberprüfung. Manches konnten die MAD-Kollegen nochnicht bewerten. »Eines ist sicher«, fasste Wojatzky zumSchluss zusammen, »das hier hat mit Presseveröffentli-chungen nichts zu tun.« Nach dieser Besprechung warenwir froh, den Weg nicht gescheut zu haben. Wir hattennicht nur einen Abnehmer gefunden, was unser sensitives»Sorbas-Material« betraf, sondern auch endlich jemandenkennen gelernt, der für uns so etwas wie eine fachlicheAutorität sein konnte. Endlich mal ein bisschen Orientie-rung, ein nachrichtendienstlicher Gradmesser.

Uns war klar, dass wir den Kontakt unbedingt halten

245

Page 247: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wollten. Wenn wir uns mit dem MAD aber regelmäßigtrafen, dann mussten wir das legalisieren. Also schlug ichGassing vor, diesen fachlichen Austausch unbedingt zunutzen. Zweifelsohne hatten die »Trachtler« auch einigesan Erkenntnissen zur WGT, was unsere Arbeit ganz sicherfördern würde. Ohne Umschweife erteilte uns der Alte denAuftrag, den Draht zum MAD am Glühen zu halten. Be-richte brauchten wir darüber nicht zu schreiben, denn da-für hätten wir sowieso keine Zeit gehabt. Wir sollten abereine Treffliste führen, aus denen die Termine unserer Be-gegnungen hervorgingen.

Diese Liste habe ich heute noch, aber sie ist leer. Wirmüssen wohl vergessen haben, die Daten einzutragen.Allerdings hat mich auch nie mehr jemand danach gefragt.Jedenfalls entstand ein reger und für beide Seiten frucht-barer Kontakt zum MAD, der erst lange nach meinemAusscheiden aus dem geheimen Geschäft enden sollte.

In den sehr aktiven frühen neunziger Jahren besuchtenwir regelmäßig die Havelland-Kaserne, um unsere neues-ten Erkenntnisse in Sachen »Sorbas-Material« und aucheinschlägige andere Informationen weiterzugeben. EinesTages tauchte eine hausinterne Studie zu Abwehrmaß-nahmen, Verdachtsfällen und ähnlichen Hintergründen inunserer Berliner Dienststelle auf. Da der MAD teilweiseinvolviert war und zahlreiche Passagen für die militärischeAbwehr wichtig zu sein schienen, ließ ich mir die Weiter-gabe des sensiblen Papiers genehmigen. Das sollte aberrasch und diskret ablaufen, damit die Information überunseren Freundschaftsdienst nicht in die Pullacher Chef-etage dringen würde.

Als Wojatzky von dem ganz speziellen Geschenk hörte,organisierte er in Windeseile ein Kopierkommando. EinDutzend MAD-Leute rückte mit vier Kopierern an undfüllte unsere kleine Buckower Wohnung bis zum letztenZentimeter aus.

246

Page 248: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Fortan hatten wir ein offenes und ehrliches Verhältniszu den militärischen Abwehrleuten. Wir gingen respekt-voll, aber auch unkompliziert miteinander um. Die Nach-richtenleute der Bundeswehr, oft belächelt und alsinkompetent dargestellt, zeigten uns ihre ganze Leistungs-fähigkeit. Beide Seiten profitierten davon.

247

Page 249: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Operation »Spielball«

Ab Mitte 1993 hieß es wiederholt, unsere Dienststelle12YA würde verlegt, vermutlich sogar nach Nürnberg. Obes stimmte oder nicht - der mögliche Umzugstermin ver-zögerte sich immer weiter. Bis Mitte 1994 änderte sichnoch nichts, außer dass wir in 12AF umgetauft wurden.Auch unsere Nähe zu den Amerikanern blieb bestehen,doch das war wohl ausgemachte Sache.

Über unser Arbeitspensum konnten wir uns nicht be-klagen. Das Meldungsaufkommen wuchs unaufhörlich.Die Dankschreiben der Auswertung und das üppige Lobder Vorgesetzten wurden zur täglichen Normalität. Freddyund ich dachten über einen neuen Schachzug nach, der un-sere Arbeit ganz sicher effektiver machen würde. Wir woll-ten das Tagesgeschehen noch stärker rationalisieren. Ge-rade die Quellen und der eigene Führungsapparat nahmenungeheuer viel Zeit in Anspruch. Dadurch litten auch dieMeldungsbearbeitung und die Berichterstattung. Wir woll-ten dieses Manko schrittweise ausgleichen. Dafür war esunserer Ansicht nach auch höchste Zeit.

Den eigenen Leuten gegenüber wurden wir immer miss-trauischer. Wir glaubten, unsere Quellen besser schützenzu können, je weniger wir schrieben und je stärker wir dasVerwirrspiel mit der Identität der Quellen und dem Inhaltvon Sachverhalten betrieben. Das »Sorbas-Material«wuchs ständig und beunruhigte uns zunehmend. Wir ver-muteten stark, dass es im Dienst einen gut platzierten In-formanten gab, der für die andere Seite arbeitete.

248

Page 250: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Also widmeten wir uns diesem Meldungsaufkommen.An der Tatsache, dass nur ein Teil unserer Informationenvon der Abteilung 3 bewertet wurde, wollten wir nichtsändern. Wenn wir die nachrichtendienstlichen Verbin-dungen meldungstechnisch klein hielten, konnte dies un-sere Quellen zusätzlich schützen. Uns genügte die Beno-tung der Meldungen, denn das reichte aus, um die Quellenanständig entlohnen zu können. An der Gesamtausbeuteund der Qualität konnte man sicherlich noch etwas ver-bessern. Deshalb boten wir den Auswertern an, unsereQuellen persönlich befragen zu können. Eine kleine Re-volution für die Arbeitsmethoden des Bundesnachrich-tendienstes.

Die Auswerter wollten sich diese Gelegenheit nicht ent-gehen lassen. Sie reisten für zwei Tage an und schöpftenunsere Quellen selbst ab. Das erhöhte die Ausbeute undentlastete uns, weil die Spezialisten von der 3 selbst ihreMeldungsprotokolle schrieben. Damit waren wir für un-sere Fachbefrager die Größten, gleichzeitig aber der Füh-rungsstelle 12 A immer mehr ein Dorn im Auge. Wir gin-gen wieder einen neuen Weg, misstrauisch beäugt von Dr.Herle, dem Leiter des Referats 12 A.

Wir waren immer noch Exoten, obwohl wir zusammenmit dem Team Wulf/Ernst das Zehnfache der geheimenMeldungen der gesamten restlichen Dienststeile beschaff-ten. Und dort waren immerhin 65 Mitarbeiter beschäftigt,gut zwei Drittel davon Verbindungsführer. Ein gewisserNeidfaktor begleitete uns auf allen Wegen. So gerieten wirlangsam, ohne es noch selbst zu merken, in die Schussli-nie. Im Frühjahr 1995 nahm ein verhängnisvolles Ge-schehen seinen Lauf, das auch unser weiteres Leben ent-scheidend beeinflussen sollte.

Alles begann ganz harmlos. Wir saßen üblicherweiseeinmal im Monat mit unseren Kollegen Wulf und Ernstzusammen, um den Umgang mit gemeinsamen Problemen

249

Page 251: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

zu erörtern. Normalerweise lag reichlich Gesprächsstoffvor, den wir bei einem Abendessen oder einigen GläsernBier abarbeiteten. Eines Tage kam auch unser HamburgerLegendenbüro zur Sprache. Das Tarndomizil von der Al-ster war inzwischen zum musterhaften Vorzeigeobjektavanciert und dadurch intern in aller Munde. Wir solltendiese Art von Legendenfirma sogar in nächster Zeit bei derBND-Schule vorstellen.

So kam es, dass Wulf eines Tages im Frühjahr 1995 un-ser Hamburger Handelskontor besuchte. Wir redeten übervieles, unter anderem auch über die Höhe und Qualitätunseres Meldungsaufkommens. Da platzte es aus Wulfheraus: »Bei der Menge könntet ihr auch ein wenig ab-zweigen. Wir haben da einen polnischen Nachrichten-händler, der uns hin und wieder was abkauft. Wenn ihrwollt, dann kann ich für euch etwas vermarkten. Daslohnt sich wirklich.«

Wir stutzten, und ich fragte nach: »Ihr verhökert Mate-rial von euren Russen an Dritte?« - »Ja, warum nicht. Esreicht doch immer noch, was wir da unten abliefern. Man-ches kann man auch doppelt verkaufen. An den Dienstund an die Tommys, zum Beispiel.« - »Nee, ich glaube,das ist nichts für uns«, wiegelte ich ab. Dann wechselte ichdas Thema. In der Vergangenheit war so etwas schon malangedeutet worden, aber noch nie so klar und so eindeu-tig. Nachdem uns Wulf wieder verlassen hatte, saßen wirbeide wie begossene Pudel da. Warum hatte er das erzählt?Wer war der polnische Händler? War das unser Leck imDienst? Wulf hatte uns in eine missliche Lage gebracht.

Freddy regte sich ziemlich auf. Kreidebleich fing er zuschimpfen an: »Warum zieht der uns da mit hinein? Wasmachen wir jetzt bloß?« - »Ich habe keine Ahnung. Wenndas stimmt, dann können wir einpacken. Wer weiß, wasdie alles verhökert haben.« Ich stutzte für einen Moment.»Könnte es nicht auch sein, dass jemand versucht, uns ganz

250

Page 252: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

clever auf die Probe zu stellen? Stell dir mal vor, die wol-len uns testen, wollen unsere Reaktion sehen. Wenn wirbeim Besuch von Wulf nur gezuckt hätten, möglicherweisewären wir dann über Nacht draußen, und ein andererSüdfruchtvertreter würde mit Freude unsere Quellen über-nehmen. Ist das so abwegig? Du weißt, dass wir da untennicht viele Freunde haben. Aber würde Wulf sich für soeine Falle benutzen lassen?«

Wir wälzten das Problem hin und her. Nichts machte sorichtig Sinn. Was wäre, wenn die beiden bei einem ihrerDeals hochgingen und plötzlich bekannt würde, dass wirüber ihre Machenschaften Bescheid wussten? Dann wärenwir mit ihnen zusammen fällig. Wie sollten wir nur ausdieser Situation wieder herauskommen? Wir drehten unspermanent im Kreis. Ist es wahr, ist es ein Bluff, sind un-sere Quellen gefährdet oder nur wir, wer steckt dahinter,warum erzählt er uns das, warum, warum? Wie solltenwir nur reagieren? Nichts zu tun wäre ein Fehler undwirklich nicht unsere Art gewesen. Was dann? Wir woll-ten Klarheit. Wenn es bloß ein Spielchen war, würden wirdas schon herausbekommen. Also bereiteten wir einenkleinen Fragenkatalog vor und beschlossen, Wulf nocheinmal auf den Zahn zu fühlen. Bis dahin wollten wir al-les für uns behalten.

Will man uns eine Falle stellen?

Es vergingen nur einige Tage, und wir saßen wieder zusam-men. Wir ließen ein Tonband mitlaufen, weil wir hinter-her analysieren wollten, ob Wulf uns möglicherweise an-gelogen hatte. Zum Schein zeigten wir gesteigertesInteresse und ließen uns von ihm noch einmal alles erläu-

251

Page 253: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

tern. Wir wollten sozusagen unser Risiko abwägen. Nachdem Gespräch lauschten wir dem Band und versuchtenaus jeder Wortfärbung, aus jeder Redewendung Erkennt-nisse zu ziehen. Nun waren wir uns sicher. Das musste einegetürkte Sache sein. Irgendjemand wollte uns auf dieProbe stellen. Was nun?

Ein paar Tage später saßen wir wieder in der Wirtsstubedes Hotels Buchenhain. Unsere Gedanken schweiften zu-rück. Wir hatten uns noch nicht entschieden, wie wir mitWulfs möglicherweise gefälschtem Angebot umgehen soll-ten. Nach einem langen Palaver war uns schließlich nachtsum zwei Uhr klar, dass wir die Sache melden mussten.Freundschaft zu Wulf hin, Freundschaft her. Es ging nichtanders. Und wenn er uns nur testen wollte, könnte es dochnicht so schlimm sein, ihn anzuschwärzen. Dann würde jaletzten Endes nichts weiter passieren.

Trotzdem fühlten wir uns so unwohl wie nie zuvor. Alswir am nächsten Morgen durch das Tor fuhren, zeterteFreddy erneut: »Er hat uns keine Wahl gelassen, dieserIdiot. Egal, was wir jetzt zusammen mit Wulf machenwürden, es wäre immer falsch. Das müssen wir melden.Wir haben doch überhaupt keine andere Chance.«

Wir hielten vor Haus 109. Von unten konnten wir se-hen, dass Mödling da war, der OpSi unseres Führungs-stellenleiters. Im obersten Geschoss, zur Straße hin, da lagsein Büro. Er hatte eine charakteristische Angewohnheit.Wenn er in seinem Büro war, dann zog er die Vorhänge zurSeite, kippte das Fenster und hängte seine Jacke an die Fens-terklinke. Heute war er mit dem schwarzweiß gemuster-ten Wollsakko gekommen. Mödling war einer der weni-gen alten und wirklich erfahrenen Operateure im Dienst.Er war nicht gerade stattlich, schleppte einen Bauchansatzmit sich herum, und sein markanter Schädel wies eine grauumrahmte Glatze auf. Mödling war ein umgänglicherMann, dem wir vertrauten. Einer der wenigen.

252

Page 254: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Strahlend, mit vielen Lachfalten im Gesicht, bot er unsin seinem Büro Sitzplätze an. Wir besprachen zunächst un-sere Pläne. Dienstreisen, Abrechnungen, operative Gelder,Kuriereinsätze und so weiter. Dann kam er ganz von sichauf Wulfs Team zu sprechen. »Was da läuft, ist nicht ko-scher. Die ganze Arbeitsweise entspricht nicht dem, washier üblich ist. Außerdem haben wir, sagen wir einmal, di-verse Unregelmäßigkeiten festgestellt. Aber bald kriegenwir sie. Dauert nicht mehr lange. Das ist nur eine Frageder Zeit.«

Ich gab Freddy ein Zeichen, das so viel wie Rückzug be-deutete. Ohne auf Mödlings lockeres Gerede einzugehen,kehrten wir ihm den Rücken, um administrative Dinge zuerledigen. Jedenfalls hatten wir ihm das so dargestellt.Ruckzuck verließen wir das Gebäude wieder. Das Wetterwar fantastisch, und so schlenderten wir durch das Camp.Am Schwimmbad und an den Tennisplätzen vorbei, biswir keine Menschenseele mehr sahen und die mit Stachel-draht gesicherte Außenmauer erreicht hatten. Erst dortdiskutierten wir nochmals die ganze Situation.

Mödlings Anmerkungen konnten kein Zufall sein. Erwusste doch genau, dass wir mit den beiden anderen be-freundet waren. Warum zog er uns so demonstrativ insVertrauen? Wollte er uns einen Wink geben? War vielleichtschon alles aufgeflogen? Was lief hier eigentlich? Wir wa-ren völlig verunsichert.

Ein Gefühl breitete sich aus, das uns nie mehr verlassensollte: Draußen, wenn wir beide uns selbst überlassen wa-ren, lief alles perfekt. Da herrschte absolutes Vertrauen.Ein fast blindes gegenseitiges Einverständnis. Dass wir unshundertprozentig aufeinander verlassen konnten, gab unsSicherheit. Hier drinnen dagegen, im BND-Camp, fühltenwir uns eingesperrt, weggeschlossen, unfrei, fanden unsnicht mehr zurecht. Wem konnte man hier eigentlich ver-trauen? Wem durfte man was erzählen? Die Kommunika-

253

Page 255: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

tion war mehr von Gesprächstaktik geprägt als von sach-lichen Inhalten. Dieser ganze Laden schien uns völlig ab-gehoben zu sein. Eine eigene Welt für sich, lebensfern undnicht zu greifen.

Ab einer bestimmten Führungsebene ging es hier nichtmehr vorrangig um die Sache, sondern nur noch um denpersönlichen Vorteil. Ein derartiges Klima konnte nurMisstrauen erzeugen. Wenn wir hier noch eine Weile ar-beiten wollten, musste das unter höchster Vorsicht ge-schehen. Wir durften absolut keine Fehler machen und nurso wenig wie möglich preisgeben. Allein dadurch konntenwir die Sicherheit unserer Quellen garantieren und auchweiter erfolgreich sein.

Uns war klar, wir mussten jetzt schnellstens handeln.Also spazierten wir zurück. Freddy stoppte an der großenTreppe vor Haus 109 und blickte nach oben. Mödlingstand am Fenster und winkte uns zu. »Norbert, halten wirdas durch?«, wollte Freddy leise wissen. Meine Antwortließ keinen Spielraum: »Ja, natürlich. Warum denn nicht?Wir melden diese Scheiße jetzt, und dann sollen sie dochsehen, was sie machen. Das ist nicht unser Bier.«

Wenige Minuten später berichtete ich dem Mann vonder Operativen Sicherheit über Wulfs Ansinnen. Mödlingholte sofort den Führungsstellenleiter Herle. Wir gabenuns so zurückhaltend wie möglich. Mit vorsichtigen Wor-ten berichteten wir von einem Gefühl der Unsicherheitund des Unwohlseins. Das wiederholten wir mehrfach. Esverging keine Stunde, und wir saßen im Arbeitszimmer desUnterabteilungsleiters Wolbert Smidt. Wieder schildertenwir das Gespräch mit Wulf, inzwischen zum dritten Mal.Gerade waren wir wieder durch, da erschienen zwei Mit-arbeiter, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Es warender UAL 52, Wilhelm, der Sicherheitsbeauftragte des BND,und der Sachgebietsleiter des Untersuchungsreferats, Ul-bauer. Nun durften wir unsere Geschichte ein viertes Mal

254

Page 256: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

referieren. Freddy und ich wechselten uns ab. Wir ver-suchten uns gegenseitig zu ergänzen oder zu korrigieren.

Wilhelm und Ulbauer begannen, Fragen zu stellen. Einebizarre Situation entstand. Als die Rede auf die Situationim Berliner Föhrenweg kam, antworteten wir kurz undwahrheitsgemäß. Unseren direkten Vorgesetzten, Herleund Smidt, schienen diese Zustände nicht unbekannt zusein. Deshalb reagierten sie auf unsere Schilderungen sehrunleidlich. Wilhelm und Ulbauer spürten das offenbar undwaren nun ganz besonders interessiert. Also gingen wirstärker in die Details. Die Mienen von Herle und Smidtverfinsterten sich endgültig.

Unser Unterabteilungsleiter Smidt wirkte nach einerWeile wie ein Reiter, dem das Pferd weggelaufen war. Erstellte seltsame Fragen, zum Beispiel, ob er selbst in irgend-einer Weise mit disziplinarischen Maßnahmen zu rechnenhabe. Dann gab er wieder den Ahnungslosen, der jaeigentlich nicht zuständig sei. Am Ende entschuldigte ersich ständig, ohne gefragt worden zu sein. Als wir denRaum verließen, verabschiedete er sich übertriebenfreundlich mit Schulterklopfen und lobte unsere Aufrich-tigkeit. Es war so peinlich.

Ulbauer fuhr mit uns wieder nach unten. Dort wechsel-ten wir in den anderen Flügel des Gebäudes. Er führte unsin sein Büro, das sich ebenerdig in der äußersten hinterenEcke befand. Sein Arbeitszimmer und jenes von Dr. Herlelagen in Haus 109 diametral entgegengesetzt. Dieser Um-stand war zwar ein reiner Zufall, sollte jedoch bald einensymbolischen Charakter bekommen.

Ulbauers Büro war spartanisch eingerichtet. Auf derFensterbank standen jedoch mehrere Grünpflanzen, unddadurch wirkte der Raum nicht so trostlos, wie wir es vonden anderen Büros gewohnt waren. Ulbauer bot uns Kaffeean, und seine Sekretärin trat sofort in Aktion. Sie war einebeachtliche Erscheinung mit einem freundlichen, offenen

Page 257: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Gesicht und einem starken bayerischen Akzent. »Ich bindie Ria«, stellte sie sich vor und schwebte lächelnd ausdem Raum. Ein Rasseweib, im positivsten Sinne des Wor-tes. Uns blieb die Spucke weg. »Hast du Miss Money-penny gesehen?«, fragte Freddy später in seiner üblichenArt und traf damit den Nagel auf den Kopf.

Wie wir bald feststellen konnten, waren die Arbeitsab-läufe im Untersuchungsreferat anders organisiert als imübrigen Dienst. Während ansonsten ein riesiger Verwal-tungsapparat für Dienstreisen, operative Ausgaben undinterne Kommunikation zuständig war, tickten hier dieUhren alternativ. Die Organisationsstrukturen waren en-ger und abgeschotteter. Wenn es sich nicht gerade um ge-schlossene Operationen handelte, liefen alle Verwaltungs-angelegenheiten über Rias Tisch. Sie rechnete Gelder ab,führte Anwesenheitslisten und erledigte jeglichen Schreib-kram. Ria war die gute Seele des Ulbauer-Ladens undirgendwie auch Mädchen für alles. Außerdem fehlte es ihrnicht an Courage, wie sie uns später beweisen sollte.

Ulbauer hatte wieder hinter seinem Schreibtisch Platzgenommen. Er befragte uns weiter nach der BerlinerDienststelle und der Kooperation mit den Amerikanern,nach den Treffen mit Wulf und nach allem, was mit derPullacher Unterabteilung 12 zu tun hatte. Seine Art warangenehm und ruhig. Das Gespräch hatte nichts von einerVernehmung oder einem Verhör. Uns tat es gut, nach lan-ger Zeit wieder einmal alle Probleme anzusprechen, dieuns bedrückten. Ulbauer redete leise und notierte sich daseine oder andere. Der Mann strahlte Vertrauen aus. Seinestahlblauen Augen wirkten verbindlich, leuchteten hinund wieder aber auch verschmitzt.

Nach einer Weile kam einer seiner Mitarbeiter hinzu. Erwurde uns als ein Herr Gaisbauer vorgestellt. Er sollte denFall mitbearbeiten und uns betreuen. Gaisbauer ähnelteseinem Chef. Auch er sprach besonnen und zurückhaltend,

256

Page 258: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

war aber genauso verbindlich. Im Gegensatz zu Ulbauerkommentierte Gaisbauer von Zeit zu Zeit das Gehörte. Zuden Berliner Arbeitsumständen hatte er bald eine klareAuffassung: »Mein Gott, was bauen die da oben für einenMist. Da müssen wir ran. Das dürfen wir nicht alles aufsich beruhen lassen.«

Ein Wechselbad der Gefühle

Gaisbauer und Ulbauer kannten den Laden in- und aus-wendig. Natürlich war ihre Sichtweise geprägt von denvielen kleinen und großen Pannen, die sie in ihrem Bereichzu bearbeiten hatten. Das hinderte sie aber nicht, deutlichzu machen, wie loyal sie dem System »Bundesnachrich-tendienst« gegenüberstanden. Bei aller Kritik an der eige-nen Behörde ackerten sie förmlich daran, Schaden von ihrfern zu halten oder ihn zumindest zu begrenzen. Die bei-den arbeiteten noch für das große Ganze und nicht aus-schließlich für sich selbst. Das unterschied sie von unserenChefs, und das bereitete uns ein Wechselbad der Gefühle.

Wir waren plötzlich von einer Welt in die andere ge-taucht. Dort oben, in Haus 109, Abteilung 1, Unterabtei-lung 12, trafen wir auf eine Herde von Egozentrikern, diewir immer als »Dampfplauderer« bezeichneten. Für michein selbstgefälliger Laden, angefüllt mit Spezialisten imnachrichtendienstlichen Geschäft. Trotzdem war nie je-mand in der Lage, uns praktische Ratschläge zu gebenoder uns sinnvoll zu unterstützen. Anspruch und Wirk-lichkeit klafften hier so weit auseinander.

Gelegentlich sahen wir, was dort produziert wurde. Ei-nige Verbindungsführer zeigten uns stolz ihre Treffberichte.Die Inhalte waren zwar dünn, die sie umgebenden Be-

257

Page 259: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

richte aber wahre Juwelen der Erzählkunst. Ich werdemich immer an den Bericht eines früheren Stellvertretersvon Dr. Herle erinnern. Dieser Agentenlyriker hatte einenLokführer aus dem südafrikanischen Kimberley gewor-ben. So beschrieb er den entscheidenden Moment der An-bahnung: »Er wollte partout nicht für einen ausländischenDienst arbeiten. Da setzte ich plötzlich und für ihn völligunerwartet meinen stechenden Blick ein. Lange Zeit be-drängten meine Augen dieses nachrichtendienstliche Op-fer. Wie ein waidwund geschossenes Tier versuchte ermeinem durchdringenden Blick zu entkommen. Dann warer nicht mehr in der Lage, meinem Scharfblick zu wider-stehen. Er war geschlagen und willigte zu einer Mitarbeitein ...«

Diese und ähnliche »Spitzelprosa« war im oberen Stock-werk gang und gäbe. Das passte zum alltäglichen Klimader Selbstbeweihräucherung und Geheimniskrämerei. Werhier arbeitete, in der operativen Beschaffung einer der sen-sibelsten Aufklärungsbereiche, der trug dies auch zurSchau. Ausgestattet mit einem bescheidenen Herrschafts-wissen, gab man sich selbstgefällig und zufrieden. Bei der12 zu sein, das war wichtig, aber nicht das Arbeitsergeb-nis.

Wir verbrachten den gesamten restlichen Tag mit denbeiden Leuten von der Sicherheit. Am Ende wurde einetelefonische Erreichbarkeit vereinbart, die nicht über nor-male Dienstkanäle lief. Ulbauer verpflichtete uns zur ab-soluten Verschwiegenheit. Das galt auch für den Umgangmit unseren Vorgesetzten im oberen Teil des Hauses. Alswir gingen, wurde in einigen Zimmern im Erdgeschossnoch gearbeitet. Draußen aber standen kaum noch Fahr-zeuge, denn bei der Abteilung 1 hatte der Letzte bereits vorStunden, pünktlich zum Feierabend, das Licht gelöscht.

258

Page 260: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die Untersuchung beginnt

Wir wussten, dass wir eine Maschinerie in Gang gesetzthatten, die uns jetzt schon unheimlich erschien. Viel mehrals das konnten wir zu diesem Zeitpunkt nicht erahnen.Und das war auch besser so.

Wenige Tage später wurden wir erneut zu den Sicher-heitsleuten zitiert. Niemand durfte von diesem Treffen er-fahren, nicht einmal unser Führungsstellenleiter Dr. Herle.Also parkten wir sogar unser Auto außerhalb des Haupt-eingangs und kamen - kurz nach dem morgendlichen Be-rufsverkehr - zu Fuß an die Pforte. Wie zwei Strauchdiebeschlichen wir durch das Gelände, passierten den Fußgänger-tunnel, das neu erbaute Lagezentrum und bewegten unsan Hecken und Büschen vorbei, bis wir Haus 109 erreich-ten. Wir waren ganz schön nervös, weil wir auf den letz-ten Metern nicht noch von den 12ern gesehen werdenwollten. »Keine Angst«, beruhigte mich Freddy, »die sindjetzt beim Kaffeetrinken.« Es war kurz vor zehn Uhr.

An jenem Tag wurde die Operation »Spielball« geboren.lHbauer und sein Team wollten herausfinden, ob es Unre-gelmäßigkeiten bei Wulf und seinem Partner gab, aber siewollten auch inoffizielle Aktivitäten unserer amerikani-schen Partner aufklären. Keiner unserer Vorgesetztendurfte davon erfahren, lediglich der Führungsstellenleitervon 12 A. Freddy und mir waren unterschiedliche Rollenzugedacht. Ich sollte den Kontakt zu Wulf intensivieren,gleichzeitig aber auch meine Beziehungen zu unserem US-Kollegen Hans Diethard verstärken. Das war nicht schwie-rig, weil sich die Amerikaner aufgrund unseres hohenMeldungsaufkommens ohnehin für mich interessierten.

Freddy, der mit dem ersten der beiden Betroffenen engbefreundet war und deshalb unter der Situation stärker littals ich, sollte sich aus dem aktiven Geschehen weitestge-

259

Page 261: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

hend heraushalten, mich aber administrativ unterstützen.Ich ahnte gleich, dass eine Menge zusätzlicher Arbeit aufuns zukommen würde, denn das operative Tagesgeschäftlief ja ungebremst weiter. Nachdem wir alle Einzelheitenkannten, baten wir um Bedenkzeit und verließen dasCamp. Abends spazierten wir von unserem Hotel übereinen kleinen Waldpfad zur Isar. Da waren wir ungestörtund konnten unser Elend von allen Seiten betrachten.

»Es ist doch zum Kotzen«, entfuhr es mir, »reicht esdenn nicht, dass wir alles gemeldet haben? Jetzt sollen wirfür die Herren auch noch die heißen Kartoffeln aus demFeuer holen.« Was wäre, wenn sich nun herausstellenwürde, dass an der Sache nichts dran ist? Dann wären wirbeide am Ende die Denunzianten und Verräter. Ich fühltemich äußerst unwohl und mochte unseren Laden wenigerdenn je. Was hatten wir aber für eine Chance, aus der Sa-che völlig unbeteiligt herauszukommen? Konnten w i rüberhaupt die Zusammenarbeit mit dem Untersuchungs-referat 52 ablehnen?

Am Ende saßen wir im Biergarten und beschrieben einleeres Blatt Papier. Wir formulierten Voraussetzungen, u n -ter denen wir bereit waren, bei der Aktion »Spielball«mitzumachen. Verdeckte Ermittlungen, so unsere These ,könnten nur funktionieren, wenn wir auch völlig geheimagierten. Also standen auf unserer Liste viele kleine M a ß -nahmen. Wir wollten beispielsweise keine Abrechnungenmehr über die Zahlstelle laufen lassen und unsere Tä t ig -keitsberichte nur einem kleinen Kreis zugänglich machen .Ganz oben stand die Forderung, dass wir nach dem E n d eder Aktion unerkannt bleiben wollten.

Keine 24 Stunden später waren wir weichgeklopft. Ichweiß nicht mehr wie, aber es war so. Nach einem herzzer-reißenden Appell an unsere Loyalität und unser Pflichtbe-wusstsein hatten sie versprochen, unsere Forderungenweitgehend zu erfüllen, da sie zum Großteil auch im Inter-

260

Page 262: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

esse der Sicherheitsabteilung lagen. Hatten wir uns so täu-schen können? Sogar unserer Hauptforderung, die Opera-t i o n in absolutes Stillschweigen zu hüllen, war man nach-gekommen,. Wir sollten völlig »gedeckelt« bleiben, so dieklare Zusicherung. Freddy bestand sogar auf einer ent-sprechenden schriftlichen Erklärung. Er bekam sie post-wendend von UAL 52 Wilhelm überreicht, der völlig kon-sterniert darüber war, dass wir seinem Wort nicht trauten.Wir konnten losziehen.

In den nächsten Wochen befanden wir uns quasi aufeinem Horrortrip. Im Sommer 1995 häuften sich dieQuellentreffs. Besonders »Rübezahl«, der uns seit Wochenm i t höchst geheimen Informationen förmlich traktierte,n a h m viel von unserer Zeit in Anspruch. Hinzu kam derUmzug von der deutsch-amerikanischen Dienststelle 12AFin die Nürnberger Infanteriekaserne an der Tillystraße.Wir sollten die am Zehlendorfer Föhrenweg begonneneZusammenarbeit mit den Amerikanern an neuer Wir-kungsstätte (Deckadresse »Koordinierungsstelle für Wehr-technik«) fortsetzen. Und neben all diesen Anstrengungenmusste ich nun auch noch konspirative Treffen mit Wulfu n d Hans Diethard wahrnehmen.

Für den neuen Standort unserer Dienststelle hatte dieZentrale auch schon einen Chef bestimmt. Es war derSachgebietsleiter Schöner, der Gassing ablösen sollte.Schöner erwartete uns bereits in Nürnberg, wo er mit denAmerikanern das neue Büro einrichtete. Er war ein Ver-t rauter des Führungsstellenleiters Dr. Herle, und er gingm i t großer Begeisterung an die Arbeit. Für ihn war dieAufgabe so etwas wie ein Lottogewinn. Er übernahm mit12AF den hochwertigsten Quellenstamm, über den derB N D verfügen konnte. Außerdem hatte dieser »Laden«wegen der Nähe zu den DIA-Kollegen innerhalb des Diens-t e s einen besonderen Stellenwert. Alle Voraussetzungenfür Schöners Erfolg waren vorprogrammiert. Deshalb ver-

261

Page 263: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

hielt er sich in der Übernahmephase sehr umgänglich undverständnisvoll. Freddy und ich hatten sofort den Ein-druck, nun bekämen wir einen Chef, der die Anforderun-gen an unsere Quellenführung und unsere persönlichenBedürfnisse erkennen und unterstützen würde.

Von Anfang an versuchten wir, ihm die Problematik derKooperation mit den Amerikanern zu verdeutlichen.Schöner gab sich ausgesprochen verständnisvoll. DenPartnern blieb das nicht verborgen, und so dauerte es nichtlange, bis Mark Handridge und Hans Diethard bei mirauftauchten. Es begann recht harmlos. Kleine Einladun-gen zum Essen, großzügige Zuschüsse für unsere Quellen.Bald waren die Angebote eindeutiger. Die Amerikanerschlugen vor, bestimmte Informationen am BND vorbeiund nur mit ihnen umzusetzen. Sie köderten uns dabei mitdem Angebot kostenloser Reisen in die USA, selbstver-ständlich in Begleitung unserer Ehefrauen.

Freddy und mir wurde sehr schnell klar, dass wir hierhöllisch aufpassen mussten, um nicht in ein trübes Fahr-wasser zu geraten. Auf der einen Seite waren wir gehalten,mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten, und viele In-formationen konnten letztlich nur sie beurteilen. Auf deranderen Seite wollten wir unsere Quellen nicht durch Un-achtsamkeit an die US-Partner verlieren. Wenn sie dieIdentität unserer Russen erführen, dann hätten sie be-stimmt keine Skrupel, uns zu überbieten.

Wir befanden uns ohnehin gerade in einer Phase wach-senden Misstrauens gegenüber den Amerikanern. Dabeibereitete uns ein bestimmter Umstand Kopfzerbrechen.Immer wenn wir eine unserer Quellen trafen, klingelte we-nig später das Handy. Dann war Hans am Apparat undfragte mit gewisser Anteilnahme, wie es denn beim Treffso liefe. Er war informiert, obwohl wir unsere Treffter-mine sogar in der eigenen Dienststelle geheim hielten. Le-diglich der Chef oder sein Stellvertreter wussten in der Re-

262

Page 264: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gel Bescheid. Ihnen war aber auch bekannt, dass wir imVorfeld unsere Aktivitäten aus Sicherheitsgründen beson-ders stark abschotteten. Die Anrufe der Amerikaner wa-ren uns deshalb unangenehm, ja sogar unheimlich, weilwir nicht wussten, wo die undichte Stelle war. Wer erzählteihnen von unseren Treffen?

Die Amerikaner spielen nach eigenen Regeln

Mitte September lud mich Hans Diethard zu einem Ge-spräch ein, bei dem er mit mir einige grundsätzliche As-pekte unserer Zusammenarbeit besprechen wollte. Mirwar klar, dass er wieder eindeutige Absichten hatte, weiler mich nicht in der Dienststelle treffen wollte. Er habeAngebote und Vorschläge, so sagte er mir, die nur für michbestimmt seien.

Einige Tage zuvor hatte er mich bereits am MünchnerFlughafen getroffen und dabei mit der Tatsache konfron-tiert, dass wir ihm und seinen Leuten seit einiger Zeitwichtige Informationen vorenthalten würden. Unter an-derem belegte er das mit der Existenz eines umfangreichenStrategiepapiers aus dem russischen FSB, das von der Um-strukturierung des Dienstes handelte. In der Tat hatten wirdas Dokument einige Wochen vorher beschafft. Aber wo-her wussten die Amerikaner von seiner Existenz? Es warzum Verrücktwerden.

Bei dieser Gelegenheit machte mir Hans das Angebot,alle Papiere, die bisher an den Amerikanern vorbei an un-sere eigene Auswertung gegangen waren, besonders zu be-handeln und »separat« abzurechnen. Dabei legte er gro-ßen Wert auf das FSB-Dokument sowie eine Liste vonrussischem Wehrmaterial, das an Serbien geliefert worden

Page 265: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

war. Auch diese Unterlage befand sich in unseren Händen.Über die Entlohnung sollten wir, wie er erklärte, noch ein-mal getrennt verhandeln.

Vom Flughafen fuhren wir in unser Domizil im SüdenMünchens, zum Hotel Buchenhain. Freddy und ich ver-suchten dort die Situation zu analysieren. Eines war klar,irgendwer aus der Chefetage musste die Amerikaner in-formiert haben. Dafür kamen aber nur sehr wenige inFrage. In unsere spezielle Verfahrensweise mit dem Mel-dungsaufkommen war nur ein kleiner Personenkreis ein-geweiht. Das waren Gassing, sein Nachfolger Schöner unddie Pullacher Vorgesetzten Herle und Smidt. Der OpSiMödling wusste auch davon, unterhielt aber keine Kon-takte zu unseren Partnern.

Noch am selben Tag gaben wir unsere neuen Überle-gungen und Erkenntnisse an die Sicherheit weiter. Die dor-tigen Mitarbeiter der Unterabteilung 52 waren gerade da-bei, die Zusammenarbeit mit den Partnern aus Übersee zudurchleuchten. Unsere bisherigen Schilderungen über dieVorgänge in der Berliner Außenstelle hatten zu weiterenBefragungen Berliner Mitarbeiter geführt. Am Ende unse-rer Besprechung baten mich die Vertreter der Unterabtei-lung 52, den neuen Treff mit den Amerikanern wahrzuneh-men, um deren Vorgehen besser einschätzen zu können.

Außerdem erwog man, Schöner in die laufenden Er-mittlungen zum Komplex Wulf und gegen die DIA einzu-weihen. Das geschah einige Tage später in meiner Anwe-senheit. Es beruhigte mich sehr, denn nun musste ichmeinem Chef gegenüber nicht mehr mit Halbwahrheitenoperieren und konnte mit den heiklen Vorgängen offenumgehen. Dieses Gefühl sollte schnell wieder schwinden.

Hans Diethard drängte erneut auf einen Treff. Am 5. Ok-tober sahen wir uns bei einem gemeinsamen Betriebsaus-flug, der uns in die Nähe von Nürnberg-Feucht führte.Wir vereinbarten einen vertraulichen und inoffiziellen

264

Page 266: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Kontakt eine Woche später in Buchschwabach, fünfzehnKilometer westlich von Nürnberg an der Bundesstraße 14.Schon während des Betriebsausflugs deuteten Hans undMark vorsichtig an, dass es sich um Anregungen für eine»engere« Zusammenarbeit handeln würde. Dazu erbatensie absolute Diskretion.

Zur Vorbereitung der Begegnung wurde ich ein weiteresMal nach München zitiert. Damit es nicht auffiel, sollteich den Tag bei der Abteilung 1 in Haus 109 verbringenund administrative Dinge erledigen. Jeder erkennbareKontakt in den Ulbauer-Bereich musste vermieden wer-den. Am späten Nachmittag fuhr ich zum Hotel Buchen-hain, wo Freddy auf mich wartete. In einem Zimmer ent-warfen wir die Reiseplanung der nächsten Wochen. EinigeQuellentreffs waren angedacht, und Beschaffungshelfermussten besucht werden. Jede Menge an Formalitäten warzu erledigen. Freddy füllte einen Stapel Formblätter aus,und ich ordnete den Terminkalender immer wieder neu.

Er schimpfte vor sich hin: »Wenn ich mir vorstelle, dasswir hier in unserer Freizeit, denn eigentlich ist ja für unsFeierabend, die Arbeiten erledigen, die andere in allerRuhe während der Dienstzeit in ihren Büros machen,kriege ich das Würgen. Das ist doch ein verrückter Laden.Da drinnen kannst du keinem trauen. Deshalb sitzen wirin unserer Bude und machen alles heimlich, damit es keinermitbekommt. Wenn uns aber einer von denen mit der hö-her bezahlten Einsicht hier mit all diesen Unterlagen er-wischen würde, dann wäre der Teufel los.«

Nach einigen Stunden, es war mittlerweile 23 Uhr,machte ich mich auf den Weg. Ich ging Richtung Süden,auf einem Pfad, der nach einer Weile im Wald verschwin-det. Er verläuft oberhalb der Isar und mündet in die Her-mann-Roth-Straße. Sie gehört zum Nachbarort Baier-brunn. Dort lag zum wiederholten Mal mein nächtlichesZiel. Ich hatte mich bereits an diese seltsamen Treffen zu

265

Page 267: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

später Stunde gewöhnt. Auch an diesem Abend war ichfroh, als ich den Wald hinter mir hatte und mich dem Ho-tel »Zur Post« näherte. Das mulmige Gefühl ließ langsamnach.

Die Mitternachtskonferenz in der Kegelbahn

Wie üblich, betrat ich den Gasthof durch einen Neben-eingang. Vor der Kegelbahn: stand ein junger Mann mitschwarzer Lederjacke. Er sicherte unsere Verabredung vorungebetenen Zaungästen, nickte freundlich, als ich kamund öffnete die Tür. »Na, Meister«, begrüßte mich Ol-gauer salopp, »war auf dem Weg etwas Besonderes? Siesind ja überpünktlich.« Die übliche Prozedur begann. Ichberichtete über alle Kontakte zu den Amerikanern seit un-serem letzten Treffen. Dann folgten die Neuigkeiten in Sa-chen Wulf. Die Männer von der Sicherheit schrieben eifrigmit und stellten gezielte Fragen. Schließlich wollten sienoch die aktuelle Lage in der Berliner Dienststelle und denInhalt meiner Gespräche mit der Unterabteilung 12 er-fahren.

Unser wichtigstes Thema war mein geplantes Treffenmit Hans Diethard. Frank Offenbach, der Leiter des dienst-internen, geheimen Observationskommandos QB 30,strahlte mich an: »Jetzt werde ich dich mal richtig ver-drahten.« Den kernigen Offenbach hatte ich erst kürzlichkennen gelernt. Er leitete die streng geheime Außenstelleder Sicherheit in der Schubertstraße direkt an der There-sienwiese. Dort arbeitete eine halbe Hundertschaft an Ob-servanten und Abhörspezialisten.

Der in Ostdeutschland geborene Cheffahnder des BND,dem man seinen leichten sächsischen Dialekt trotz vieler

Page 268: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Jahre im Münchner Kulturkreis noch deutlich anmerkte,war ein aufrechter und erfahrener Praktiker. Trotz desschwierigen Arbeitsfeldes hatte er sich seinen Humor be-wahrt. Offenbach war eine Institution innerhalb der Si-cherheit, kompetent, bescheiden, zielstrebig. Ich hatte so-fort einen Draht zu ihm gefunden. Nicht zuletzt, weil seinStellvertreter mit mir zusammen die Schulbank bei derBundeswehr gedrückt hatte. Beim BND hatten wir unsnun wiedergetroffen, so klein ist die Welt. Mein alter Ka-merad hatte mich seinem Chef vorgestellt, und dieser hattesofort erkannt, was Freddy und ich leisteten.

Nun installierte er an mir eine komplette Aufzeich-nungsanlage. Ein Bild für die Götter. Da stand ich mitfreiem Oberkörper in der Kegelbahn des Hotels »ZurPost« und trainierte unter der Aufsicht meiner Sicher-heitschefs das korrekte An- und Ablegen von Wanzen undden dazugehörigen Apparaturen. Als »Hintergrundmu-sik« ließ Frank Offenbach einige seiner Leute kegeln. »AusLegendengründen, damit wir draußen im Lokal nicht auf-fallen«, griente er mich an.

Es muss kurz vor zwei Uhr morgens gewesen sein, alsich das Hotel wieder verließ. Im Weggehen hatte Ulbauermir noch eingeschärft: »Und kein Sterbenswort, zu nie-mandem! Auch nicht zu Freddy. Jedenfalls keine Details!«Dann trottete ich im strömenden Regen denselben Wald-weg zurück. Es kam mir alles wie ein Spuk vor. So eineScheiße, dachte ich bei mir, als ich nass wie ein begossenerPudel in meinem Zimmer stand. Ich fühlte mich wie gerä-dert, und mein inneres Gefühl entsprach meinem äußerenZustand. Lange würde ich diesen Arbeitsrhythmus nichtmehr durchhalten können. Mit unruhigen Gedanken schliefich ein.

Freddy weckte mich bereits dreieinhalb Stunden späterund begrüßte mich im Frühstücksraum mit der aufbauen-den Bemerkung: »Siehst heute wieder aus wie ein gut er-

267

Page 269: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

haltener Endsiebziger.« So fühlte ich mich auch. Er wolltealle Details der vorausgegangenen Nacht wissen. Etwasgenervt berichtete ich ihm den Ablauf des Treffens undwies dabei besonders auf die Passagen hin, die er eigent-lich nicht wissen durfte.

Dann begaben wir uns zum Routinebesuch in die Zen-trale. Gespräche mit Mödling, Herle, Schöner folgten. Wirerläuterten die weitere Quellenführung und holten uns dieGenehmigung für Kurierreisen und andere Aktivitäten.Dann brachte ich Freddy zum Münchner Hauptbahnhofund setzte meinen Weg nach Nürnberg fort. Um 15 Uhrsollte der Treff mit dem DIA-Kollegen in Buchschwabachstattfinden. In der Raststätte Feucht stoppte ich kurz, ummein Wanzengeschirr anzulegen.

Wider Erwarten schaffte ich es, diese Prozedur bis zehnvor drei zu bewältigen. Direkt am Ortseingang, vor demLandgasthof »Rotes Ross«, parkte ich meinen Wagen.Hier waren wir auch verabredet. Voller Spannung warteteich auf meinen amerikanischen Freund. Kurz vor 15 Uhrlief der Countdown an. Ich begab mich nochmals zur Toi-lette, um meine Geräte zu aktivieren. Es war ein warmerTag. Trotzdem musste ich meine Jacke anbehalten, damitdie Verkabelung nicht auffiel. Nach einigen langen War-teminuten fuhr schließlich ein amerikanischer Straßen-kreuzer vor. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie Hansaus dem Auto kletterte. Obwohl ich ihn erwartete, löstesein Erscheinen bei mir große Verwunderung aus.

Dazu muss ich eines erklären: Hans, wie auch alle an-deren DIA-Mitarbeiter, kam immer ausgesprochen lockerdaher. Jeans, Boots und Poloshirt, zuweilen ein leichtesHawaii-Hemd reichten ihm und seinen Kollegen als Out-fit vollkommen aus. Selbst bei offiziellen Anlässen unter-schieden sie sich deutlich von allen anderen Gästen. Kra-watten hatte ich an ihnen noch so gut wie nie gesehen, undAnzüge oder Kombinationen waren weitgehend verpönt.

268

Page 270: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die DIA-Leute kokettierten mit ihrem legeren Auftreten.Mehr Sein als Schein, lautete die Devise. Kamen die Deut-schen wie wandelnde Hugo-Boss-Werbeträger zu einer Be-sprechung, so war es nicht ungewöhnlich, dass ihnenMark Handridge in einer alten Jeans, einem derben Farmer-hemd und breiten Hosenträgern gegenübersaß.

Und nun erschien Hans zu einem Treffen, das einen sehrpersönlichen Charakter haben und sehr konspirativ seinsollte, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er trug einenhellen, eierschalenfarbenen Sommeranzug, dazu ein weißesButton-Down-Hemd und eine schmale, dunkle Krawatte,die oben fest verknotet war und den geschlossenen Kra-gen verschnürte. Die Außentemperatur von nahezu 30Grad, ungewöhnlich für diese Jahreszeit schien ihm nichtsauszumachen. Hans hatte seinen übergroßen Schlitten mitden getönten Scheiben auffällig direkt neben dem Gast-haus geparkt. Als er ins Haus trat, nahm er seine dunkleSonnenbrille ab und steckte sie in die äußere Brusttaschedes Jacketts. Alles in allem wirkte er wie James Bond.

So unwirklich und gestelzt sein Aussehen war, so künst-lich verlief unser kurzes Gespräch. Gegen alle Gewohnhei-ten begrüßte er mich formelhaft und siezte mich. Mir wurdesofort klar, dass im Vorfeld etwas passiert sein musste.Sein Benehmen war dermaßen gekünstelt, dass es schonwieder komisch wirkte. Der Originalton klang dann so:»Ich freue mich außerordentlich, Sie hier antreffen zu kön-nen. Wir, das heißt der amerikanische Teil der bilateralenDienststelle, sind stets bemüht, den positiven Fortgang dergemeinsamen Unternehmungen aktiv zu unterstützen. Diebisher so erfolgreiche Kooperation sollte in beiderseitigemInteresse unter Wahrung aller Grundprinzipien eines offe-nen und ehrlichen Umgangs miteinander fortgesetzt wer-den. Hierzu möchte ich nochmals verdeutlichen ...« Undso weiter, und so weiter. So dozierte er eine ganze Weile.

Ich kochte innerlich. Alles deutete darauf hin, dass die

269

Page 271: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Amerikaner von unserer Aktion Wind bekommen hatten.Als Hans sein Kurzreferat über die deutsch-amerikanischeFreundschaft schließlich beendet hatte, sagte ich nur: »O. k.,o. k., ich habe verstanden.« Wir rundeten unseren Dialogmit einigen Anmerkungen zum Wetter und zum bevorste-henden Bundesligaspieltag vom Wochenende ab. Weshalbwir uns getroffen hatten, war dem Gespräch ganz sichernicht zu entnehmen. Nachdem jeder sein Glas Wasser ge-leert hatte, verließen wir gemeinsam das Gasthaus. An derTür fragte ich ihn: »Hans - und was sollte das jetzt?« Erlächelte mich an, zuckte mit den Schultern, streichelte mirkameradschaftlich über den Kopf und erwiderte: »Gingnicht anders, Alter, leider!«

Hans Diethard entfernte sich in Richtung Nürnberg. Eswar das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.

Rasend vor Wut jagte ich mit meinem Wagen über dieAutobahn. Über Heilbronn und die Auffahrt Aich steuerteich die Raststätte Frankenhöhe Nord an. Dort warteteFrank Offenbach mit seinem Truppführer, um seine Tech-nik wieder in Empfang zu nehmen. Es war Freitag, unddeshalb herrschte reger Betrieb. Mit quietschenden Reifenkam ich neben dem grauen E-Mercedes der beiden Ob-servanten zum Stehen. Ich war mit den Nerven völlig fer-tig. Alles belastete mich: die tagelangen Versteckspiele mitden Kollegen, die nächtlichen Treffen mit der Sicherheit,unendliche Grundsatzdiskussionen über den Dienst mitFreddy, die Sicherheitslage unserer Quellen, die Geschichtemit Wulf- und nun das!

Jetzt kam mir Frank Offenbach gerade recht. Noch eheer auch nur ein Wort sagen konnte, legte ich los: »Seid ihrdenn eigentlich alle besoffen? Wisst ihr überhaupt, was ihrhier treibt?« Ich zog mitten auf dem Parkplatz meine Jackeaus und warf sie zu Boden. Dabei schimpfte ich weiter:»Die haben alles gewusst, alles! Und ich habe mich bis aufdie Knochen blamiert. Der Diethard kam wie Roger Moore

27©

Page 272: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

daher und hat mich verarscht. Da habt ihr euer Scheißge-rät zurück.« Ich warf es mit einem Knall auf das Pflaster,so dass es in mehrere Stücke zerbrach.

Der Truppführer ging in Deckung, und Offenbach, derängstlich um sich blickte, weil mein Wutausbruch auchanderen auffiel, versuchte mich zu beruhigen. »Norbert,die Leute kriegen alles mit. Jetzt lass uns doch in Ruhe re-den. Was war denn los?« Ich tobte weiter. »Was los war?Ich geistere für euch Tag und Nacht herum, und du fragstmich, was los war. Ich habe die Schnauze voll!«

Mittlerweile hatte ich auch mein Poloshirt ausgezogenund mit Wucht auf die Rückbank meines Wagens ge-schleudert. »Das sind alles Gipsköpfe, da unten. Das kannstdu denen von mir ausrichten. Schicken mich in einen der-art beschissenen Treff.« Ich riss meine gesamte, mit Heft-pflastern befestigte Verdrahtung vom Körper und warfdas Knäuel Kabel in die Büsche. Offenbach versuchte wei-ter mich zu beschwichtigen: Er sagte, dass ihm alles sehrLeid tue, aber die Informationen seien aus Schöners Um-feld durchgesickert und er habe mich auch nicht warnenkönnen.

»Was?« Nun hatte er genau das Gegenteil von dem er-reicht, was er eigentlich wollte. »Schöner, dieser Scheiß-schleimer, bläst das durch. Ja, seid ihr denn total zugekifft?Warum wusste der überhaupt davon?« Ich trommelte mitbeiden Fäusten dermaßen auf den Kofferraum, dass esschmerzte. »Warum wusste der davon? Warum nur? Ichwerde ständig vergattert, die Schnauze zu halten, und nunso was. Schluss, aus und vorbei. Sag denen da unten, diekönnen mich mal. Und dem Schöner kannst du schoneinen schönen Gruß bestellen. Wenn ich den zu fassenkriege, dann werde ich ein intensives Gespräch mit ihmführen. Ein sehr intensives. Der kann sich warm anziehen.Wenn du weißt, was ich meine!«

Dann angelte ich mir meine Jacke, stieg in den Wagen

271

Page 273: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

und rauschte davon. Mein Auftritt hatte die beiden Leuteaus der QB30 überfordert. Völlig verdattert blickten siemir hinterher. Offenbach erzählte mir jedenfalls später ein-mal, dass dies von allen »konspirativen« Treffen seines Le-bens das eindrucksvollste gewesen sei.

Die Panne mit Hans Diethard hatte ein weiteres Malmein Vertrauen in den Dienst erschüttert. Natürlichkonnte ich das Verhalten des neuen Nürnberger Chefsirgendwo nachvollziehen. Noch ehe es richtig losging, wardie Sicherheitsabteilung quasi dabei, seine schöne neueDienststelle zu demontieren. Gerade durch die deutsch-amerikanische Komponente hatte er sich einen besonde-ren persönlichen Erfolg ausgerechnet. Nun versuchte ereben zu retten, was zu retten war. Aber dass er so dämlichwar, anzunehmen, seine neuen Diensträume seien nochnicht verwanzt, das schockierte mich einmal mehr. MeinEindruck vom Dienst wurde immer klarer: Nichts und nie-mandem etwas erzählen! Alles konnte man sich leisten,nur eines nicht - Offenheit!

Der Ausraster auf der Autobahn hatte übrigens keiner-lei Nachspiel. Im Gegenteil, es ging alles so weiter wie bis-her. Beim nächsten Kegelbahntreff vergatterte mich Uli,wie wir Ulbauer mittlerweile nannten, erneut zu absolu-tem Stillschweigen. Über die Erkenntnisse der dienstinter-nen Abhöraktionen wurde ich nicht informiert. Langsamkristallisierte sich aber heraus, dass der ultimative Knallkurz bevorstand.

Das Doppelspiel mit MI 6

Meine Gespräche mit Wulf brachten auch keine Entspan-nung. In der Zwischenzeit hatte ich ihn mehrmals getrof-fen. Im Auftrag der Gaisbauer-Truppe offerierte ich ihm

272

Page 274: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ein hochgeheimes Papier, das er weiterleiten sollte. Es han-delte sich um eine Materialliste, auf der verschiedene Do-kumente aufgeführt waren.

Wulf wollte mich mit den Abnehmern direkt zusam-menbringen - dem britischen AuslandsnachrichtendienstMI 6. Begeistert erzählte er mir, dass er bereits einige Dealsmit den britischen Kollegen abgewickelt hatte. Auch de-nen waren die Erfolge unserer Berliner Dienststelle nichtverborgen geblieben, und deshalb hatten sie zunehmendInteresse an unseren Erkenntnissen entwickelt.

Ich sollte also eine englische Agentin namens RosemaryShaver treffen. Wulf hatte den Treff für den 12. August 1995am Flughafen Hannover-Langenhagen organisiert und mirals Erkennungsmerkmal lediglich gesagt, dass die Dameein Pferdegebiss hätte. Ich sollte ein weißes Oberhemd mitroter Krawatte tragen. Am späten Nachmittag fuhr ichnach Langenhagen. Die - in meinen Augen mittelmäßige -Liste beförderte ich in einem braunen Kuvert. Ich parktemeinen Leihwagen direkt vor der Abflugebene im BereichA. Da ich etwas zu früh war, schlenderte ich durch das Ge-bäude.

Mir fiel sofort auf, dass vor der Lufthansa-Lounge aus-nahmsweise Sicherheitspersonal postiert war. Nachdemich das Geschehen eine Weile beobachtet hatte, erkannteich den Grund des Aufgebots. Der damalige niedersäch-sische Ministerpräsident Gerhard Schröder war mit gro-ßem Gefolge gekommen, ebenso VW-Chef FerdinandPiech. Entweder hatten sie etwas zu besprechen, oder siewollten eine gemeinsame Reise antreten. Schröder, demich noch in Erinnerung war, winkte mir im Vorbeigehenkurz zu.

Zuletzt hatte ich als Wahlkampfhelfer für Monika Ganse-forth, Schröders Nachfolgerin in seinem Bundestagswahl-kreis, mit ihm Kontakt gehabt. Einen Augenblick sinnierteich über diesen Zufall nach. Ich war seit 1974 im gleichen

273

Page 275: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

SPD-Bezirk wie Schröder gewesen, und hin und wiederwar man sich über den Weg gelaufen. Seit einigen Jahrenkletterte er auf der Karriereleiter steil nach oben. Das ver-folgte ich mit gewissem Stolz, denn schließlich gehörte ichzu seinen frühesten Anhängern. Und nun wickelte ich di-rekt unter seinen Augen einen konspirativen Treff mit demMI 6 ab. Es war irgendwie unwirklich.

Als sich die Türen der Lufthansa-Lounge schlossen undich immer noch geistesabwesend hinter der Delegationherblickte, wurde ich plötzlich angesprochen. »Ich glaube,Sie warten auf mich«, sagte eine Dame mittleren Altersund lächelte mich an. Mein Gott, dachte ich, was für einGebiss. Sie was es, sie musste es sein. Wir gingen in einesder Flughafencafes und unterhielten uns eine Weile. Zumeiner großen Verblüffung hielt sie weder mit ihrer Her-kunft noch ihrem Ansinnen hinter dem Berg. Sie kam vomMI 6 und wollte von mir Material kaufen. Basta. Nachkurzer Sichtung der Liste stellte sie sinngemäß fest: »Dassind ja hervorragende Aussichten. Ich muss das von unse-ren Spezialisten prüfen lassen. Im Übrigen liegt das weitjenseits meiner Befugnisse. Bis 50 000 Mark hätte ichselbst entscheiden können. Aber das hier ist ja ein Vielfa-ches wert.« Ich war erstaunt. Was würden die Engländerwohl zahlen, wenn sie die richtig guten Sachen bekommenkönnten? Innerlich schüttelte ich den Kopf.

Wenig später fuhr ich an meinen Wohnort zurück, undRosemary Shaver trat die Rückreise nach Berlin an. Dabeiwurde sie von einem Dutzend Offenbach-Observanten be-gleitet. Sie hatten den ganzen Treff überwacht und doku-mentiert. In Berlin-Charlottenburg endete die Reise, alsdie Dame in einem Objekt des britischen Dienstes ver-schwand.

Nun wurde ich von den Sicherheitsleuten förmlich aufden Fall gehetzt. Zwischen dem 12. August und dem30. Oktober 1995 musste ich Wulf neunzehn Mal kon-

274

Page 276: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

taktieren. Das bedeutete für mich eine ungeheure An-spannung, aber auch für meinen Partner. Freddy musstemir den normalen dienstlichen Kram aus dem Weg räu-men. An diesen konspirativen Treffen mit Wulf hing ja einganzer Rattenschwanz von Vorgängen. Die Sicherheitsab-teilung musste mich zuerst einweisen, und danach folgtenwieder langatmige Besprechungen. Das alles lief meistensam späten Abend oder in den Nachtstunden ab. Ganznebenbei galt es, unser normales Tagesgeschäft abzuwi-ckeln. Niemand durfte die ganz geheimen Aktivitäten mit-bekommen. Und die wenigen, die eingewiesen waren, soll-ten keine Details erfahren.

Bis Ende Oktober trugen die Leute von der Sicherheiteine Flut von Erkenntnissen zusammen. Nach diesen In-formationen standen sowohl Wulf selbst als auch seinPartner Ernst und unser ehemaliger Berliner Chef Gassingunter dem Verdacht des schweren Landesverrats. Inwie-weit ein östlicher Nachrichtendienst in diese Geschäfteverwickelt war, blieb bis heute unbekannt. Das spielteauch keine wesentliche Rolle, weil die unerlaubten Ge-schäfte mit den Engländern bereits kriminell genug waren.

Für den 30. Oktober organisierte Wulf ein weiteres Tref-fen mit den Briten. Einen Tag zuvor holte er mich vomMünchner Flughafen ab. Das Meeting sollte in Schwabingstattfinden, also direkt vor der Haustür des BND. Wirfuhren in das Hotel Marriott und reservierten einen Tisch.Ich verbrachte die Nacht wie üblich in Buchenhain undtraf die Leute von der Sicherheit an der Kegelbahn in Bai-erbrunn.

Am nächsten Vormittag brachte mich Wulf zum Schwa-binger In-Cafe »Monopteros«. Dort überreichte ich ihmeinen Umschlag mit einer »Warenprobe« für die Englän-der. Das Dokument stammte aus meinem Quellenauf-kommen und war von der Sicherheitsabteilung ausge-wählt worden. Um nicht das gesamte Papier vorab aus der

275

Page 277: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Hand zu geben, hatte ich es halbiert. Die zweite Hälftesollte über den Tisch gehen, wenn die Kunden sich zumKaufen entschlossen hätten. Wir fuhren weiter zum Mar-riott, und Wulf begab sich allein in das Restaurant.

Wulf und seine Engländer waren dort nicht allein. Aneinem großen Nachbartisch fand eine lautstarke Geburts-tagsfeier statt. Acht Mitarbeiter der Firma »SchmidtElektrotechnik München« begossen den runden Geburts-tag einer Mitarbeiterin. In Wirklichkeit verbarg sich da-hinter ein Sonderkommando der Offenbach-Truppe. DieSpezialisten filmten, knipsten und lauschten, was das Zeughielt. Draußen in der Schinkelstraße, direkt vor WulfsAuto, stand ein geschlossener Kastenwagen, das Ü-Mobilvon QB 30. Hier liefen alle Informationen zusammen undwurden gespeichert.

Ich wartete zwischenzeitlich im Wagen oder ging rau-chend auf und ab. Nach langen zweieinhalb Stunden kamWulf zurück. »Tja, war wohl nichts«, berichtete er miteinem bedauernden Achselzucken, »die hatten das Mate-rial schon. Deshalb wollten sie auch nur 10 000 Dollar da-für bezahlen. Das ist zu wenig. Da mache ich mir diePreise kaputt.« In meinem Kopf begann es zu arbeiten.Irgendetwas schien faul zu sein. Wenn die Engländer dasMaterial schon hatten, warum wollten sie dann überhauptetwas zahlen?

Beim Aussteigen am Odeonsplatz dämmerte es mir. »Ambesten, du gibst mir jetzt gleich die zweite Hälfte, dannverbrenne ich das Zeug zu Hause«, versuchte er mich zuüberrumpeln. »Nein, Wulf, ich nehme alles wieder mit«,antwortete ich. Er wirkte verwirrt und wollte mir seinenUmschlag nicht ohne weiteres aushändigen. Ich mussteihm das Kuvert buchstäblich entwinden. Er bog in dieBrienner Straße ab und verschwand.

Mit einem Taxi fuhr ich zum Goetheplatz, wo mich Frankbereits erwartete. Dann ging es in die Schubertstraße zur

276

Page 278: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Nachbearbeitung. Als ich ankam, wurden gerade die Video-aufzeichnungen gesichtet. Die QB-30-Leute hatten ganzoffensichtlich gute Arbeit geleistet. Nicht nur die Tischge-spräche waren aufgezeichnet worden, sondern auch alles,was sich im Fahrstuhl und in den Zimmern der Engländerabgespielt hatte. Zwei von ihnen hatten nämlich wieder-holt das Mittagessen verlassen, um von ihren Zimmernaus zu telefonieren. Was die Leute vom Partnerdienst mitWulf vereinbart hatten, wurde mir nicht gesagt. Frank Of-fenbach nahm mich nach meiner Schilderung beiseite undsagte: »Die Geschichte, die er dir aufgetischt hat, istschlichtweg gelogen. Wenn du mich fragst, der wollte dichauch einfach nur bescheißen.«

Ende 1995 erstattete der Bundesnachrichtendienst wegender regen Geschäfte mit dem britischen GeheimdienstStrafanzeige gegen die drei Verdächtigen. Die Bun-desanwaltschaft nahm Ermittlungen auf. Das Trio mit denDecknamen Gassing, Wulf und Ernst wurde aus demDienst entlassen beziehungsweise suspendiert. BND-Prä-sident Konrad Porzner versuchte die Gunst der Stunde zunutzen, um bei dieser Gelegenheit auch zwei weitere Füh-rungskräfte loszuwerden: Volker Foertsch, bislang Chefder Beschaffungsabteilung 1, aber inzwischen Leiter derSicherheitsabteilung 5 sowie Unterabteilungsleiter Wol-bert Smidt. Der Präsident verlangte vom Kanzleramt, diebeiden in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Bonnspielte nicht mit. Daraufhin warf er das Handtuch.

Gassing, Wulf und Ernst wurden Ende 1997 von derStaatsanwaltschaft München I wegen Betruges, Unter-schlagung und Bestechlichkeit angeklagt. Im Sommer 1998endete die Schlapphut-Klamotte mit einer echten Überra-schung. Die 5. Strafkammer des Landgerichts Münchenentkräftete die Vorwürfe gegen das geschäftstüchtige Trio.Das Gericht erklärte, keiner der Angeklagten habe Geld

277

Page 279: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

eingesteckt. Einer der Beamten wurde wegen gefälschterQuittungen zu sieben Monaten Haft auf Bewährung so-wie einer Geldbuße von 25 000 Mark, ein zweiter zu36 000 Mark Geldbuße verurteilt, der dritte freigespro-chen. Das Gericht stellte fest, die BND-Mitarbeiter seienvon ihrer Aufgabe überfordert gewesen und ihre Sonder-einheit in Berlin sei aus der Zentrale unzureichend beauf-sichtigt worden.

278

Page 280: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die Jagd beginnt

Als der Skandal um Wulf und seine beiden Freunde vor-bei war, tappten wir ziemlich im Dunkeln, was die Ermitt-lungen betraf. Wir wussten nicht, wie weit sich unsere Ber-liner Kollegen tatsächlich in schmutzige Geschäfteverstrickt hatten. Aber wir waren froh, von UAL Wilhelmeine schriftliche Zusage bekommen zu haben, dass die Pul-lacher uns nicht als Zeugen in das Verfahren holen wür-den.

Nun war es für uns endlich wieder an der Zeit, sich mitvoller Kraft der Quellenführung und damit der Beschaf-fung zu widmen. Nach der Auflösung der NürnbergerAußenstelle planten wir einfach wie bisher alle Aktivitä-ten aus unserem Hamburger Deckbüro - zum Beispiel dieReise nach Rumänien.

Einmal Karpaten und zurück

Am Morgen des 17. November 1995 flogen wir von Mün-chen nach Bukarest. Es sollte eine Abenteuertour ohne-gleichen werden. Unser Mann aus Kiew wartete 400 Kilo-meter entfernt von der Hauptstadt, in Iasi, direkt an derGrenze zu Moldawien. Wir wollten den Weg mit einem In-landsflug bewältigen. Also wechselten wir in Bukarest dieFlughäfen, von Otopeni nach Baneasa. Es schien alles in

279

Page 281: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

bester Ordnung zu sein. Durch das Fenster sahen wir eineTupolew, die gerade zum Start vorbereitet wurde. Nachgut zwei Stunden leerte sich der Wartesaal schlagartig.Irgendwann saßen wir zu dritt da - Freddy und ich, dazueine Frau aus Paris, die immer nervöser wurde.

Nach einer Durchsage auf Rumänisch schickte ichFreddy los, um herauszufinden, wo es hakte. Zehn Minu-ten später kam er grinsend zurück: »Die haben alles fürden Flug vorbereitet. Nur eine Kleinigkeit ist momentanwohl aus, das Flugbenzin!« Die Dame aus Paris, eine eherunscheinbare Erscheinung, der ich die aktuelle Lage zuübersetzen versuchte, wurde kreidebleich. »Ich fahre nichtmit der Bahn quer durch Rumänien«, verweigerte sichFreddy meinen ersten Überlegungen, »und dann vielleichtauch noch nachts, oder was? Da können wir unsere Kla-motten ja gleich am Bahnhof verschenken.«

Nun war die Dame weiß geworden wie eine Wand undstand wie angewurzelt da, als wir uns artig verabschiedeten.Draußen vor dem Gebäude reihten sich einige bunt zusam-mengewürfelte Autos aneinander. Das waren wohl die Ta-xen. Alles alte Skoda, Lada, alle mehr oder wenigerschrottreif. Mitten unter ihnen befand sich ein altes deut-sches Mercedes-Taxi, das jedem Verkehrsmuseum zur Zi-erde gereicht hätte. »Mit dem fahren wir nach Iasi«, er-klärte ich kurz und knapp. Freddy war verdutzt: »Duwillst mit dem Taxi nach Iasi fahren? Na, da freue ichmich jetzt schon auf die Abrechnung. Das ist ja wohl dannwieder mein Part, oder?«

Mit dem Fahrer wurden wir uns rasch handelseinig. Erwar bereit, uns für 200 Dollar plus Übernachtungskostenvon Bukarest nach Iasi und am nächsten Tag wieder zu-rückzubringen. Der Mann sprach leidlich Englisch undschien auch sonst ganz umgänglich zu sein. Wir verstautenunsere Koffer und nahmen Platz auf den durchgesessenenPolstern der Rückbank. Freddy blickte mich an. Ich ahnte,

280

Page 282: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

was er dachte. »Das können wir doch nicht verantworten,oder«» eröffnete ich den wortkargen Dialog. »Mmmmmh«,war seine Antwort. »Also, geh schon und beeile dich.«Nach drei Minuten kehrte er mit der Französin und ihrendrei großen Gepäckstücken zurück. Schmunzelnd raunteer mir zu: »Die stand immer noch so hilflos da, wie wir sievorher verlassen haben.«

Trotz aller professionellen Bedenken nahmen wir alsoeine Frau mit, die unter solchen Umständen absolut le-bensuntauglich war. Sicherlich hätten wir dafür von unse-ren Chefs einen ordentlichen Anschiss bekommen. Aberin diesem Sonderfall brachten wir es einfach nicht übersHerz, eine gestrandete Mitreisende im Stich zu lassen. Werweiß, was ihr am Ende zugestoßen wäre.

Dann ging es endlich los. Die Pariserin nahm neben demFahrer Platz und schien richtig erleichtert und ausgespro-chen dankbar zu sein. Das sollte sich allerdings bald än-dern. Als der Chauffeur realisiert hatte, dass er am Zielorteinmal übernachten würde, wollte er sich wenigstens zuHause abmelden. Dazu fuhr er mit seinem Taxi über einenFußweg zu einer Telefonzelle, vor der eine Reihe Menschenwartete. Sie liefen schimpfend auseinander. Bei laufendemMotor sprang unser Fahrer nach draußen und zerrte einenjungen Mann, der gerade am Telefonieren war, aus derZelle. Die Leute wetterten und tobten. Wir drückten ver-stohlen die Türknöpfe nach unten. Nach zehn Sekundenwar alles erledigt, und wir durchquerten die dunklen Vor-orte der arg heruntergekommenen Metropole. »Bis jetzt«,knurrte ich, »ging es ja sehr unauffällig und konspirativzu.«

Nach wenigen Kilometern mündete die breite, gut aus-gebaute Überlandstraße in eine befestigte Schotterpiste,und unser Chauffeur - den wir fortan Fangio nannten,nach dem legendären Rennfahrer -, war plötzlich in sei-nem Element. Die Französin hatte gerade ihre normale

281

Page 283: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Gesichtsfarbe zurückerhalten, da begann eine Autofahrt,wie ich sie niemals zuvor erlebt hatte und hoffentlich auchniemals mehr erleiden werde. Fangio war Mercedeslieb-haber durch und durch. Er verehrte seinen Untersatz undwar offensichtlich der Meinung, alle anderen Verkehrs-teilnehmer müssten es ihm gleichtun.

Die Staatsstraße A1 führte uns direkt nach Norden bisPloiesti. Dann ging es in östlicher Richtung nach Buzäu,und von da wieder nach Norden über Focsani, Tecuci undVaslui an den Ostkarpaten entlang bis nach Iasi an der mol-dawischen Grenze. Unser Fahrer hatte eine Angewohn-heit, die uns den Angstschweiß auf die Stirn trieb: Trotz desdichten Verkehrs überholte er unentwegt und gnadenlos.Er setzte vorschriftsmäßig den Blinker und betätigte seineDauerhupe, um den zu Überholenden zu warnen. Mit derLichthupe alarmierte er den Gegenverkehr. Dann über-holte er, egal ob uns jemand entgegenkam oder nicht.Wenn der hoch riskante Vorgang beendet war, bekreuzigteer sich jedes Mal an Stirn, Mund und Brust.

Die Pariserin quittierte die Aktion jedes Mal mit einemlangen, quietschenden Schrei, der erst endete, wenn Fangioweiter vorne wieder eingeschert war. Seine Strategie führteimmer zu brisanten Situationen, weil die entgegenkom-menden Lkw stets Vollbremsungen hinlegen mussten, umin letzter Sekunde einen Unfall zu vermeiden. Einige vonihnen landeten beinahe im Straßengraben. Freddy, demsonst nie der Witz fehlte, brachte nur noch einzelne Sätzeraus: »Sorge für meine Familie, denn vielleicht überlebstwenigstens du.« Dann folgte schon wieder das Kreischenund Hupen von vorne. Es war die Hölle.

Auch als der starke Nebel in den Karpaten die Dunkelheitnoch undurchdringlicher werden ließ, änderte sich nichtsan der Überholtechnik unseres Fahrers. Das hatten wirnun davon. Ein lebensmüder Fahrer und eine total hyste-rische Beifahrerin hielten uns permanent in Aufregung. Erst

282

Page 284: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

nach der Hälfte der Strecke nahmen die Schreie der Fran-zösin ab. Dann lärmte sie nur noch, wenn uns ein Lkwentgegenkam. Außerdem gönnte sie sich immer wiedereinen Schluck Cognac, den sie in einem Flachmann her-umreichte. Das schien ihr Gemüt zu besänftigen und diegrößte Todesangst zu lindern.

Am späten Abend erreichten wir jedenfalls unser Ziel.Aber Fangio brachte uns nicht direkt in ein Hotel, sondernhielt an einer wunderschönen, alten Backsteinkirche. »Ichmuss eine Kerze anzünden, weil die Fahrt so gut verlaufenist«, erklärte er in salbungsvollem Englisch. Freddy undich schlossen uns wortlos an, während unsere Mitfahrerindankend ablehnte und lieber noch einen kleinen Schluckaus ihrer Flasche nahm. Als wir zu dritt vor dem kleinenAltar standen, seufzte Freddy anerkennend: »Na ja, derErfolg gibt ihm ja recht.«

Dann fuhren wir zum Hotel »Traian«, das zentral gele-gen war. Die Pariserin bedankte sich für die Fahrt und ließsich von einem Fahrer abholen, der sie zu ihrem Zielbrachte. Sie war von Beruf Ärztin und sollte in Iasi fürsechs Wochen in einem Austauschprogramm arbeiten. Miteinem eher unspektakulären Abendessen - die Pommesfrites waren immerhin mit Käse überbacken - und einemkleinen Verdauungsspaziergang neigte sich der aufregendeTag offiziell dem Ende zu.

Nachts um ein Uhr rückten wir aber schon wieder aus,um unsere Quelle zu treffen. Wir hatten die GrenzstadtIasi als Treffort gewählt, weil es in der Nähe einen unbe-wachten Grenzübergang gab, über den unser Mann seinMaterial sicher transportieren konnte. Zuerst übernahmenwir die Filmrollen und verstauten sie, so gut es ging, ineinem speziell dafür hergestellten »Container« des BND.Der Informant hatte mehr Material gebracht, als wir er-warteten, und deshalb mussten wir einen Teil ganz einfachin den Koffer packen.

283

Page 285: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Am nächsten Morgen ging es zusammen mit dem Infor-manten zurück nach Bukarest. »Wer sitzt vorn?«, fragteFreddy scheinheilig, wohl wissend, dass wir erneut eineHöllenfahrt vor uns hatten. Ich holte zwei Streichhölzeraus der Manteltasche, ein kurzes und ein langes. Dann gabich ihm, wie gewohnt, das kürzere von beiden, und lä-chelte ihn provokativ an. Freddy warf sich todesmutig inden Wagen und wandte sich zu unserem Freund, der schonauf dem Rücksitz Platz genommen hatte: »Ist er nichtnett?« Die Tour verlief genauso wild, wie wir sie schonkannten. Auf halber Strecke tranken wir diesmal einenKaffee, weil uns eine Unfallstelle auf den Magen schlug.Ein Lkw mit großen Stahlrohren als Ladung hatte ein Pfer-defuhrwerk gerammt. Mehrere Männer bemühten sichdarum, die Tiere zu schlachten, um wenigstens noch dasPferdefleisch verwerten zu können.

Auch unser Kaffee ist eine Fußnote im Reiseberichtwert. Neben einer Autowerkstatt hatten wir ein kleines,spartanisch eingerichtetes Lokal entdeckt, dessen einzigeZierde ein Glas Nescafe war. Die freundliche Bedienungnahm vier Tassen und füllte in jede einen halben Teelöffeldes Instantpulvers. Dann goss sie mit kaltem Wasser aufund stellte alles vor uns hin. Wir schauten uns fragend an.Der Taxifahrer fragte in unserem Auftrag, ob es sich umeine regionale Spezialität der Ostkarpaten handeln würde,den Kaffee kalt zu nehmen. Er übersetzte sofort ihre Ant-wort. Sie habe derzeit kein warmes Wasser, weil der Stromin der Werkstatt beim Schweißen gebraucht würde.

Vor dem Lokal stand auch tatsächlich der Schweißer. Ertrug weder Schutzbrille noch Handschuhe. Die Funkenflogen. Um sich zu schützen, hielt er seine Hand mit etwasAbstand vor das Gesicht. Sein Handrücken war durch denFunkenbeschuss schon ganz schwarz. Freddy schüttelteden Kopf: »Ich glaube, Rumänien ist doch nichts für uns.«Noch nach Kilometern knirschte das Kaffeepulver, das

284

Page 286: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

sich in dem kalten Wasser nicht gelöst hatte, zwischenmeinen Zähnen.

Bevor uns Fangio am Hotel absetzte, sollte er uns nochein Lokal mit echt rumänischer Küche empfehlen. In einemVorort von Bukarest stießen wir auf einen Wochenmarkt.Dahinter befand sich ein Restaurant. Es war menschen-leer, und deshalb wurde bereits nach wenigen Minuten dasvom Fahrer bestellte Essen aufgetischt. Als die Suppentel-ler vor uns standen, sprang unser russischer Freund aufund verschwand in Richtung Toilette. Ihm war ganz offen-sichtlich übel geworden. Fangio dagegen fing unter lautemSchlürfen an, die gelblich-wässerige Brühe zu verspeisen.

Ich tauchte meinen Löffel mit der Spitze vorsichtig in dieSuppe. Dann leckte ich ihn ab. Es war grauenhaft. DerFahrer schmatzte und war so sehr in seine Mahlzeit ver-tieft, dass er nichts mitbekam. Nachdem Freddy seinen ers-ten Löffel mit dieser undefinierbaren Brühe runtergewürgtund Fangio einen Fettklumpen geschluckt hatte, der in derBrühe schwamm, war es aus. Unter lautem Würgen rannteich vor die Tür und übergab mich. Dort stand unser In-formant mit einer Zigarette und grinste: »Ich kenne das,man kann es nicht essen.« Freddy kam auch vor die Tür.Er hatte im Gesicht mittlerweile die gelbgrüne Farbe an-genommen, mit der uns der Eintopf erschreckt hatte.

Am Abend versuchte ich meine Frau in Deutschland an-zurufen. Als sich auch nach Stunden noch niemand mel-dete, kontaktierte ich die Nachbarn und bat sie, nach demRechten zu sehen. Dann versuchte ich es erneut und hattesie am Telefon. Sie wirkte völlig verstört und bat mich, soschnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen. Wei-ter wollte sie nichts sagen. Was war passiert?

Trotz meiner Beunruhigung mussten wir uns erst einmalum unsere Quelle kümmern. Am nächsten Tag klebten wirein neues Visum für die Bundesrepublik in den Pass desMannes und versahen es mit einem ganz speziellen Stem-

285

Page 287: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

pel. Dann vernichteten wir den Stempel. Würde trotzdemalles gut laufen? Schon einmal hatte es mit den selbst ge-fertigten Visa des BND Probleme gegeben. Ein bestimm-tes Sicherheitsmerkmal hatte gefehlt, was wir aber nochrechtzeitig entdeckt hatten. Wir begaben uns nun getrenntzum internationalen Flughafen Otopeni. Unsere Taschenwaren voll mit geheimdienstlichem Material. Da wolltenwir kein Risiko eingehen. Letztlich ging alles glatt, und wirgönnten uns nach dem Abflug ein Glas Sekt, um den Stressder vergangenen Tage abzulegen.

Normalerweise vermieden wir es, mit unseren Quellennach München zu reisen. In diesem Fall machten wir abereine Ausnahme, denn es handelte sich um die einzige guteFlugverbindung nach Deutschland. Außerdem hatten wirin Erinnerung, dass der Führungsstellenleiter Dr. Herle imLaufe der Zeit einmal alle unsere Quellen treffen wollte.Also, dachten wir, wäre das eine günstige Gelegenheit, un-seren Topmann vorzustellen. Deshalb planten wir eineNacht in München ein. Aber wieder einmal sollte allesvöllig anders kommen.

In Gedanken war ich bei meiner Frau, deren Verhaltenich nicht einordnen konnte. Sie hatte auf mir unbekannteWeise abweisend und frostig reagiert. Nach der Landung inMünchen schaltete ich reflexartig das Handy ein, um neueNachrichten abzuhören. Die Mailbox war voll. Im Wech-sel hatten mir Gaisbauer, Ulbauer und meine Frau mitge-teilt, dass ich sofort nach der Rückkehr bei ihnen anrufensollte.

286

Page 288: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Böse Überraschung in München

»Hallo, mein Schatz, ich bin es«, säuselte ich in das mobileTelefon, »wir sind wieder heil zurück.« Noch ehe ich wei-terreden konnte, fuhr sie dazwischen: »Das wurde aberauch Zeit! Sieh zu, dass das alles wieder in Ordnungkommt! Hörst du?« - »Ich habe keine Ahnung, was dumeinst, was ist denn los?«, fragte ich leicht säuerlich zu-rück. »Frag deine dämlichen Chefs, diese geistigen Tief-flieger!«, klang es aus dem Hörer, und dann legte sie auf.

Auf der Autobahn erreichte ich endlich Ulbauer. Erwollte uns dringend wegen einer wichtigen Sache spre-chen. Wir verabredeten uns für 19 Uhr im Holiday Inn ander Leopoldstraße. »Da ist doch etwas oberfaul, wenn derUli extra raus nach Schwabing fährt«, gab Freddy zu be-denken. Und er sollte Recht behalten. Wir hatten noch et-was Zeit und gingen erst einmal zur Rezeption.

Ich füllte brav meinen Meldezettel aus. Horst Herzig,Husum, Straßenname, Hausnummer, Geburtsdatum. InGedanken war ich weit weg. Also unterschrieb ich denZettel am Ende mit meinem richtigen Namen. Eine kurzeSchrecksekunde, und ich knüllte ihn zusammen, steckteihn blitzschnell in meine Manteltasche. Die Dame an derRezeption war gerade mit einem anderen Hotelgast be-schäftigt gewesen und hatte es gottlob nicht bemerkt.

Nun wandte sie sich mir wieder zu. Ich lächelte sie an.Sie schaute verdutzt. Ihre Blicke wanderten zuerst auf demTresen nach links und nach rechts, dann vor sich auf denFußboden, leicht über die Theke hinweg vor meine Füße.»Hatte ich nicht eben ...?«, fragte sie und tippte mit demZeigefinger auf die Schreibunterlage. Ich schüttelte leichtden Kopf. »Wirklich nicht?«, hakte sie nach. Ich schütteltewieder den Kopf. »Ich bin mir ganz sicher«, setzte sie nocheins drauf. Nun zog ich die Schultern hoch. Dann gab sie

287

Page 289: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

mir ein neues Meldeformular, verschränkte die Arme undbeobachtete mich beim Ausfüllen wie eine strenge Gouver-nante. Auch so etwas kann gelegentlich passieren.

Auf dem Weg zum Fahrstuhl meldete sich unser Mannaus Kiew mit ernster Stimme: »Leute, ich brauche jetzteine Frau!« Da ich das im ersten Moment für einen Scherzhielt, schlug ich ihm auf die Schulter und antwortete:»Klar doch, wir auch! Wann wollen wir uns zum Essentreffen?« Er blickte finster: »Nein - du hast mich falschverstanden. Ich meine das ernst. Könnt ihr mir eine Pros-tituierte beschaffen?« Er nannte seine Zimmernummerund verschwand mit dem Fahrstuhl.

Ich wandte mich an meinen Partner: »Also, wie jetzt?Der will jetzt hier, hier im Hotel. Das musst du organisie-ren, Freddy. Das kann ich nicht.« Genervt trotteten wirzurück an die Rezeption. Ich stellte unsere Koffer zur Seiteund versank in einer Sitzgruppe, um das weitere Gesche-hen zu beobachten. Als mein Partner beim Concierge ander Reihe war, stellte er seine Frage: »Können Sie mir eineProstituierte beschaffen? Aber möglichst schnell, es eilt!«

Hinter ihm wurde es mucksmäuschenstill. Eine Dame,die mit ihrem Gatten gerade auf dem Weg zum Lift war,hielt ihn dezent am Ärmel fest und blieb stehen. Es waroffensichtlich, dass sie Freddys Anliegen weiter miterlebenwollte. Ich rutschte in meinem Polster weiter nach unten.Dieser Himmelhund, dachte ich, der traut sich was. Freddyfragte weiter: »Was hätten Sie denn so im Angebot?« Derfreundliche junge Hausdiener beschrieb eine Reihe vonDamen anhand ihrer Größe, des Gewichts und der Haar-farbe.

»Welche kann am schnellsten hier sein?«, bohrte Freddyweiter, ohne auch nur im Geringsten seine Stimme zu sen-ken. »Da wäre eine nette Asiatin mit schwarzen Haarenund zierlicher Statur«, lautete die prompte Antwort. »Waskostet sie und wie schnell geht das?«, hörte ich Freddy

288

Page 290: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

nachfragen. Dann wurde Freddy ein Telefon gereicht. Ersprach mit unserem Gast. Dabei stellte er sich mit dem Rü-cken zum Tresen, um mich sehen zu können, und nicktedabei immer zustimmend. Nun konnten alle noch besserzuhören.

»Also, sie wäre wohl in fünfzehn Minuten hier. Gehtauch eine Schwarzhaarige? Klein, Asiatin. Zierliche Sta-tur. Oberweite? Nein, dazu können wir hier nichts sagen.Das weiß ich nicht. Ja. O.k.? Also bis später und vielSpaß!« Nun kam er zu mir: »Ich warte hier und mache dieFinanzen. Dann treffen wir uns in der Bar.« Ich verschwandmit den Worten: »Das habe ich doch jetzt alles nur ge-träumt, oder?«

Uli und Gaisbauer kamen pünktlich. Wir nahmen in einerstillen Sitzecke Platz. »Wo habt ihr euren Mann?«, fragtemich der Sicherheitschef. Freddy grinste, und ich stam-melte: »Der ist oben auf seinem Zimmer, der äh - also der,tja der, der ist noch, der muss noch, also der arbeitet ge-rade noch etwas durch!« Mein Partner prustete ins Bier-glas. »Guter Mann, wie ich gehört habe, jetzt noch flei-ßig? !«, lobte uns Uli. »Ja, doch, äh - wir können uns nichtbeklagen. Ist gut bei der Sache«, bestätigte ich ihm undverband das mit einem deutlichen Räuspern. Dann mus-sten wir laut lachen. Die beiden aus dem U-Referat guck-ten verwirrt. Nun musste ich den Fall aufklären. Ich be-tonte, dass es sich hier um einen absoluten Ausnahme-und Notfall gehandelt habe.

Danach blieb uns allerdings das Lachen förmlich imHals stecken. Uli teilte uns mit großem Bedauern mit, dassman im Fall Wulf und Komplizen bei der Vernehmung derBeschuldigten vor Gericht unsere Namen und Aktivitätenoffen gelegt hatte. Es traf uns beide wie einen Blitzschlag.Schließlich hatte uns der BND die absolute Vertraulichkeitunserer verdeckten Ermittlungen nicht nur mündlich, son-dern auch schriftlich zugesagt. Nur unter dieser Voraus-

289

Page 291: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

setzung hatten wir uns zu Beginn der Aktion mit einerMitarbeit einverstanden erklärt. Freddy schwieg. Sein Ge-sicht jedoch sprach Bände.

Dann tischten uns die beiden unwissentlich ein Märchenauf. Der Führungsstellenleiter von 52D, Tomberg, habeunsere Namen versehentlich ausgeplaudert. Diese Versionwurde einige Tage später durch eine weitere Variante korri-giert. Der Richter habe Tomberg gefragt, ob er aus ver-nehmungstaktischen Gründen unsere Namen erfahrenkönne, um die Beschuldigten damit zu konfrontieren. Erstdaraufhin habe Tomberg unsere Namen genannt. ImHerbst 1998 hörte ich, dass auch das wohl nicht stimmte.Frank Offenbach schüttete mir damals sein Herz aus undging in die Details dieses Verfahrens. Abteilungsleiter 5,Volker Foertsch, habe gegenüber dem Gericht nicht dichtgehalten.

Es war nicht das einzige Debakel, das uns die 52er mit-zuteilen hatten. Während unserer Abwesenheit waren zuHause ganz dubiose Dinge passiert. Aus Rücksichtnahmeauf meinen damaligen Partner beziehe ich mich nur auf dieZwischenfälle, die meine eigene Familie betrafen. Zu-nächst wurde meine Frau mehrmals telefonisch bedroht.Sie möge mich endlich zur Räson bringen, sonst würde ihrund den Kindern Schreckliches passieren. Anscheinendum den Ernst der Lage zu demonstrieren, vergifteten Un-bekannte unseren Jagdhund. Meine Frau entdeckte dasarme Tier röchelnd in seinem Zwinger. Nur ihrer Ent-schlossenheit und der engagierten Hilfe eines befreundetenTierarztes war es letztlich zu verdanken, dass der Hundüberlebte. Die Unterabteilung stellte sofort Bewachungs-personal zum Schutz meiner Familie ab.

Jetzt war das Maß endgültig voll. Der letzte Funke Ver-trauen in diesen morbiden Apparat war dahin. Als beson-deres i-Tüpfelchen teilte uns Uli abschließend mit, dassDr. Herle am nächsten Tag keine Zeit für uns habe. Die rus-

290

Page 292: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

sische Quelle wolle er auch nicht sehen. Angeblich wollteer mit seiner Gattin am Viktualienmarkt einkaufen gehen.Wir konnten es nicht fassen. Der zuständige Führungs-stellenleiter hatte keine Zeit für die ergiebigste nachrich-tendienstliche Verbindung des BND.

Das Einzige, was uns bewegte, überhaupt noch einenFinger für diese »Firma« krumm zu machen, war unserMann aus dem Osten, der sich inzwischen am Tresenniedergelassen und ein Bier bestellt hatte. Den durften wirauf keinen Fall enttäuschen oder gar im Stich lassen.Außerdem mussten wir den Treff auf alle Fälle durchzie-hen, weil wir bereits bei der Auswertung avisiert waren.Ein Fachbefrager stand auf Abruf bereit.

Bis spät in die Nacht diskutierte ich mit Freddy die neueSituation. Wir änderten unsere Pläne. Für die nächstenTage wählten wir als Unterkunft eine Jagdhütte in derNähe meines Hauses, damit ich wenigstens die Nächte da-heim verbringen konnte. Dort hatte sich seit meiner Ab-reise nach Rumänien einiges getan. Die Polizei fuhr regel-mäßig Streife, und meine Kinder wurden zur Schulegebracht, wieder abgeholt und in den großen Pausen be-wacht. Zeitweise tummelten sich bis zu acht Personen-schützer in unserem kleinen Heimatort, um meine Fami-lie abzuschirmen. Viele Wochen lang durften meine Frauund die Kinder keinen Fuß ohne Leibwächter vor die Türsetzen. Unsere Lebensumstände verschlechterten sich dras-tisch, so auch unser psychischer Zustand.

Nachdem wir den Treff abgewickelt hatten, zitierte unsDr. Herle nach München. Als Leiter von 12A war er wei-ter unser Chef, obwohl wir nach der Auflösung derAußenstelle Nürnberg innerhalb unserer Führungsstelleneu platziert worden waren. Dr. Herle wollte Einzelge-spräche mit Freddy und mir führen. Das lehnten wir ab.Wir spürten den eisigen Wind, der uns in München vonAnfang an umfing. Das stimmte uns misstrauisch. Unser

291

Page 293: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

erstes Gespräch in der Zentrale wird uns unvergesslichbleiben.

Unverzüglich ließ Herle die Katze aus dem Sack, ordneteunsere Versetzung nach München und eine ständige Prä-senz in der Zentrale an. Die Tatsache, dass unsere Fami-lien bedroht wurden und unter ständigem Schutz standen,zählte nicht. Die nächste Anweisung betraf unseren Quel-lenstamm. Wir sollten alle Berichte der letzten fünf Jahrenacharbeiten. Herle wollte die persönlichen Daten unse-rer Informanten in transparenter Form präsentiert haben.Die Quellenakten, das warf er uns vor, gäben in dieserHinsicht nicht genug her. Um sein Ansinnen abzusichern,verschanzte er sich hinter Vorschriften und Formalien.

Wir sahen das als Teil einer Strafaktion. Man nahm unsoffensichtlich übel, dass wir für die Sicherheit gearbeitethatten. Herle lieferte uns selbst die Auflösung. Als er mitseiner Litanei an Maßnahmen und Anordnungen fertigwar, gefror sein Grinsen. Herle wandte sich mit Blick-kontakt an mich: »Herr Dannau, ich hoffe, Sie verstehendas alles. Wir mögen hier einfach keine Nestbeschmutzer.Don't fight against the System. Fight with it! Warum ma-chen wir uns hier eigentlich alle das Leben schwer? Ich binIhnen sehr dankbar für Ihre Arbeit. Warum müssen Sieaber immer gegen den Strom schwimmen? Denken Sie maldarüber nach.«

Meine Antwort war kurz und unmissverständlich: »Nurein toter Fisch schwimmt mit dem Strom!« Herle wurdeknallrot und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch:»So, wie ich es gesagt habe, wird es jetzt gemacht. Wennnicht, dann können Sie etwas erleben.« Ich griff nachFreddy, der kurz vor der Explosion stand, und zog ihn ausdem Zimmer. Wütend fuhren wir im Haus 109 mit demFahrstuhl nach unten.

Freddy begab sich zur Sicherheit, ich zum UAL 12, Wol-bert Smidt. Der hagere Agentenführer mit der Aura eines

292

Page 294: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Politkommissars empfing mich mit gequälter Freundlich-keit. Dann legte auch er los. Zuerst bedankte er sich fürmeine aufopferungsvolle Arbeit. Er lobte das Engagementdes Teams und würdigte unsere Erfolge. Ich fragte michandauernd, worauf will er hinaus? Wann kommt er zumPunkt? Sinnbildlich gesprochen, schwebte über ihm einFragezeichen. Dann platzte endlich die Bombe. Ich hattemit vielem gerechnet, aber nicht damit.

»Landesverrat« soll vertuscht werden

In der Küchensprache würde man sagen: Herle hatte unsweich geklopft, und Smidt wollte uns nun den Rest geben,uns in die Pfanne hauen. Meine persönlichen Probleme,die Bedrohung am Wohnort, das bedauere er, aber leiderkönne er da auch nichts machen. Da wäre man ja macht-los. »Aber wissen Sie, was mich bedrückt, Herr Dannau?«,fragte er scheinheilig, »der Fall Nürnberg [Prozess Gas-sing, Wulf, Ernst - Anm. d. Autors] und der damit ver-bundene Stress hat uns doch allen nur Ärger und Sorge be-reitet. Wissen Sie, Sie sollten sich mal Gedanken über IhreAussage in Karlsruhe machen. Das bringt Ihnen doch auchnur Probleme. Verstehen Sie? Es ist doch alles immer nureine Frage der Darstellung. Könnten Sie sich vorstellen,von Ihren bisherigen Schilderungen abzuweichen und einetwas milderes Bild zu zeichnen?«

Ich schwieg, und das veranlasste ihn zu einem Satz, denich nie vergessen werde: »Sie sollten Ihre Aussage beim Er-mittlungsrichter in Karlsruhe so herunterfahren, dass wirvon einer Anklage in Sachen Landesverrat wegkommen!«Wir hatten den Tiefpunkt der Unterhaltung erreicht. Ichstand auf und ging zur Tür. Smidt blickte mir verwundert

293

Page 295: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

nach. Dann antworte ich ihm. »Herr Smidt, Sie könnenhier alles machen, was Sie wollen. Sie können drehen undtürken und weiß der Teufel was. Aber ich mache das nichtmit. Ich nicht.«

Jetzt war es so weit. Ich spürte, ich hatte meinen letztenTag beim BND erreicht. Nun wollte ich nur noch meineKündigung einreichen, und zwar an der richtigen Stelle.Alles fiel von mir ab. Während ich nach unten fuhr, fühlteich mich erleichtert. Auf einem Zettel notierte ich die letz-ten Worte des UAL Smidt. Mit wehendem Mantel stürmteich in Ulbauers Büro. Ria kam mir entgegen: »Ja mei, wasmachen die denn mit euch?« Ich klopfte ihr freundschaft-lich auf die Schulter und beruhigte sie: »Jetzt ist alles vor-bei. Keine Angst.« Sie runzelte die Stirn, weil sie natürlichnicht verstehen konnte, was in mir vorging.

Freddy war schon bei Ulbauer und berichtete von demGespräch. Aus heiterem Himmel erteilte ich ihm das ersteund einzige Mal während unserer Zusammenarbeit eineAnweisung in barschem Befehlston: »Du holst jetzt sofortden Wagen und fährst mich zum Präsidenten!« Ulbauerging dazwischen: »Was wollen Sie denn beim Präsidenten?Sie haben doch gar keinen Termin!« Ich fauchte ihn an:»Dann sagen Sie denen da oben Bescheid, dass ich komme!Es wird nicht lange dauern.«

Wieder schnauzte ich Freddy an, der noch neben mirstand. »Hol die Kiste vor die Tür, mach endlich!« Nunahnte er wohl, was die Stunde geschlagen hatte, und ver-schwand mit einem ernsten Seitenblick: »Bring jetzt nurkeinen Fehler rein.« Ich nahm mir wortlos eine von Ul-bauers Zigaretten und zündete sie an. Ulbauer telefoniertemit dem Referenten des Präsidenten. Ich wartete das Endedes Gesprächs gar nicht erst ab, sondern ging.

Mein Partner chauffierte mich zum Haus, in dem sichdas Büro des BND-Präsidenten Konrad Porzner befand.Vor der Tür traf ich mehrere Personenschützer. Sie be-

294

Page 296: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

grüßten mich freundlich. Ich kannte mittlerweile die meis-ten von ihnen, denn sie hatten wechselweise meine Fami-lie beschützt. Die Männer fragten nach meinen Kindernund ob die Gefahr schon gebannt sei. Es war ein aufrich-tiges Interesse, das mir irgendwie gut tat. Herle hatte sichnach meiner privaten Situation nicht einmal erkundigt.

Ich ging ins Haus und gab meinen Mantel an der Gar-derobe ab. Dann meldete ich mich beim Empfang. Nochehe ich etwas erklären konnte, sprach mich eine jungeDame mit einem Klemmbrett an: »Die Herren wartenschon am Kamin, es wird wohl noch etwas dauern.« Ichblickte in einen Vorraum, wo ein paar Leute standen. DasKaminfeuer brannte, und sie sammelten sich dort in klei-nen Grüppchen, waren in Gespräche vertieft. Alle warenausgesprochen elegant gekleidet, die meisten in dunklenAnzügen mit auffälligen Einstecktüchern an den Sakkos.

»Ich habe einen Termin beim Präsidenten«, erklärte ichder Empfangsdame. Sie konzentrierte sich auf ihr Klemm-brett und antwortete etwas verlegen: »Oh Verzeihung, ichdachte, Sie nehmen auch an der Abteilungsleiterbespre-chung teil. Aber Sie müssen sich irren, der Präsident hatkeine Zeit. Und ein Termin ist hier auch nicht vorge-merkt.« - »Ich habe aber einen«, log ich sie an. Da hörteich von drinnen jemanden rufen: »Dannau, ist hier einHerr Dannau?« Darauf ließ ich die Dame vom Empfangeinfach stehen und ging in das Kaminzimmer. Dort ver-stummten die Gespräche, als ich eintrat. Ein freundlicher,grauhaariger Lockenkopf kam die Treppe runter und riefnochmals: »Dannau?« Ich antwortete mit einem kleinlau-ten: »Ja, hier, das bin ich!«

Der Lockenkopf fixierte mich: »Kommen Sie bitte, es gehthier herauf.« Die Herrschaften in den dunklen Anzügenbegannen zu murmeln. Mein Abholer wandte sich zu ih-nen: »Meine Herren, der Präsident bittet Sie noch um et-was Geduld. Die Besprechung verschiebt sich um wenige

295

Page 297: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Minuten.« Dann drückte er mir die Hand und stellte sichvor, während wir nach oben gingen: »Zausinger ist meinName. Ich bin der persönliche Referent des Herrn Präsi-denten.«

Aufklärung für den Präsidenten

Auf dem kurzen Weg nach oben ging mir nochmals allesdurch den Kopf. Meine größte Wut war jetzt verraucht,denn die Tatsache, dass mich der Chef des BND empfing,beeindruckte mich. Aber das änderte nichts an meinergrundsätzlichen Einstellung. Im Gegenteil, ich hatte jetztdie notwendige innere Ruhe, um meinem obersten Chefdas zu sagen, was ich für notwendig hielt.

Konrad Porzner trat aus der Tür seines Arbeitszimmers.Er begrüßte mich mit ruhiger, fast sanfter Stimme und batmich herein. Als wir vor seinem Schreibtisch standen,fragte er mich: »Herr Dannau, was kann ich für Sie tun?Was haben Sie auf dem Herzen?«

Ich antwortete ruhig und bestimmt: »Ich möchte zu-nächst etwas Grundsätzliches sagen. Ich bin kein Berufs-nörgler. Seit fast 22 Jahren gehöre ich der Bundeswehr an,zwölf Jahre davon hier im Dienst. Zu Beginn habe icheinen Treueeid geschworen. Das habe ich damals sehrernst genommen, und das tue ich heute noch. DieserSchwur bezog sich unter anderem auf Menschenwürde,Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Nun bin ich aber ineiner Situation, in der ich den BND verlassen werde, weilich hier weder dieses Menschenbild noch demokratischeund rechtsstaatliche Strukturen finde, für die ich eigent-lich eintreten soll. Ich denke, Sie, Herr Präsident, habenein Anrecht darauf, das Warum zu erfahren.«

296

Page 298: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Kommen Sie«, sagte er und führte mich zu einer mitschwarzem Leder bezogenen Sitzgruppe, »nehmen SiePlatz.« Er setzte sich an die Stirnseite des Tisches, Zausin-ger auf das Sofa an der Wand und ich auf einen Sesselgegenüber. »Was ist passiert?«, fragte Porzner. Ich erzählteder Reihe nach von den Vorgängen der letzten Wochen,besonders nachdrücklich von den letzten Gesprächen mitHerle und Smidt. Der Präsident blickte finster zu seinemReferenten: »Sagen Sie den Herren da unten, das wird hiernoch etwas dauern. Sie möchten bitte warten, bis ichkomme.« Der Assistent stand auf und ging. Porzner standauch auf: »Moment, ich will mir etwas notieren.« Von sei-nem Schreibtisch holte er sich einen großen weißen Block.

Dann begann ich erneut zu erzählen. Er hinterfragteviele Details und schrieb und schrieb. Zausinger, der sichnach seiner Rückkehr ebenfalls einen Schreibblock geholthatte, schüttelte hin und wieder den Kopf. Der Präsidentgab sich nach außen hin ruhig und gefasst, aber ich merkte,wie ihn die Informationen innerlich immer stärker auf-wühlten. Er forderte mich unter anderem auf, ihm die Be-dingungen der Zusammenarbeit mit den Amerikanern zuschildern. Ich holte weit aus und verschwieg keines derProbleme.

Mit einem ernsten Blick fasste er seinen Adlatus ins Auge:»Wieso betreiben eigentlich einige Leute hier ihre privateDienstpolitik?« Konrad Porzner lehnte sich zurück und at-mete schwer. Die Tür öffnete sich. Eine Frau trat hereinund wies in entschuldigendem Ton darauf hin, dass unteneinige Herren ungeduldig würden. Da blaffte der Präsi-dent sie an: »Wenn ich so weit bin, werde ich schon kom-men! Die Besprechung findet auf jeden Fall statt. Sagen Siedas da unten.« Die Sekretärin zog den Kopf ein und ver-schwand so schnell, wie sie erschienen war.

In der Zwischenzeit waren immerhin beinahe zwei Stun-den vergangen. Porzner, der Seiteneinsteiger aus der SPD-

297

Page 299: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Bundestagsfraktion, verabschiedete mich mit knappenWorten: »Herr Dannau, es gibt keinerlei Veranlassung fürSie, den Dienst zu verlassen. Ich bin Ihnen sehr dankbardafür, dass Sie zu mir gekommen sind. Natürlich muss ichalles, was Sie mir erzählt haben, erst noch eingehend über-prüfen. Aber schon jetzt kann ich Ihnen sagen, dass dasKonsequenzen haben wird.« Dann erteilte er zwei Wei-sungen: Aufgrund meiner vagen Sicherheitslage wurdemein Wohnort zum Dienstort erklärt. Alles, was an admi-nistrativen Dingen zu erledigen war, durfte ich von zuHause aus regeln. Diese Regelung galt auch für meinenVertreter.

Sollte es Probleme geben, dann dürfte ich mich selbstver-ständlich über Herrn Ulbauer an seinen Referenten wen-den. Für die Stunden außerhalb der Dienstzeit sollte ichdie Privatnummer seines Referenten erhalten. Der dik-tierte sie mir sofort. Dann trennten wir uns. Im Gehen ver-einbarte ich mit Zausinger eine weitere Begegnung für dennächsten Tag, bei der alles Schriftliche erledigt werdensollte. Im Erdgeschoss war es ziemlich laut, als ich dieTreppe herunterkam. Mittlerweile befanden sich fünfzehnbis zwanzig Personen im Kaminzimmer. Als ich die letzteStufe genommen hatte, wurde es auffällig still.

Wortlos ging ich durch ein Spalier der wichtigsten BND-Ober- und Unterchefs, und es kam mir wie Spießruten-laufen vor. Wieder war sie da, diese Kälte. Mein Freddyhätte an dieser Stelle gesagt: »Alles Papiertiger für die Cock-tailfront und sonst zu nichts zu gebrauchen!« Als ich die»Meute« hinter mir gelassen hatte, dachte ich spontan, al-les geschafft. Aber da hatte ich mich gründlich getäuscht.Diese Tage waren erst der Anfang.

Draußen wartete Freddy und blickte mich fragend an:»Ich habe schon gedacht, ich muss dich rausholen. Washast du denn jetzt wieder gemacht?« - »Tja, Freddy - wosoll ich anfangen? Reinen Tisch habe ich gemacht. Reinen

298

Page 300: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Tisch.« - »Und du meinst, das stehen wir durch?«, karteteer nach. Und wie immer antwortete ich: »Ja, Freddy, dasstehen wir durch!«

Innerlich gestärkt und zuversichtlich, dass jetzt alles insReine käme, meldeten wir uns bei der Sicherheit zurück.Ulbauer wartete schon gespannt auf unseren Bericht. Alles,was ich erzählte, nahm man bei der 52 mit Genugtuungauf. Trotzdem änderte sich wenig an unserer Situation.Wir mussten weiterhin geschützt werden, unter anderemauch wegen des »Sorbas-Materials«, unserer Sammlungüber mögliche »Abflüsse« aus dem Dienst. Die Sicherheitwollte über unsere Quellen noch mehr Informationen indieser Richtung erhalten. Wir liefen also weiterhin zwei-gleisig, dienten zwei Herren in einem Haus.

Am nächsten Tag trafen wir erstmals unseren neuen di-rekten Chef bei der Abteilung 1, Dr. Karberg. Seine Bürosbefanden sich gegenüber von Haus 109, in einer der oberenEtagen. Er empfing uns ausgesprochen nett. Der großeund schlank wirkende Brillenträger war völlig anders, alswir bisher unsere Vorgesetzten erlebt hatten. Hier saß unseiner gegenüber, der einen sehr engagierten Eindruck ver-mittelte, dem aber Erfolg und Arbeit nicht alles zu seinschienen.

Obwohl er nichts von meinem Vorstoß beim Präsiden-ten wusste und sein Verhalten davon nicht beeinflusst seinkonnte, fragte er zunächst nach unseren Sorgen und Nö-ten. Sein Interesse schien aus echter und wirklicher Für-sorge geboren zu sein. Die angenehme und verbindlicheArt erleichterte es uns, ihm offen und ehrlich alle Problemezu schildern. Über mehrere Stunden hatten wir so ausrei-chend Zeit, uns gegenseitig auszutauschen. Besonders be-eindruckte uns seine ehrliche Selbsteinschätzung, wasQuellenführung betraf. Dr. Karberg war lange Zeit ineiner Residentur des BND in London gewesen und hattedort wertvolle Erfahrungen gesammelt. Aber mit unserer

299

Page 301: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

praktischen Routine war das natürlich nicht zu verglei-chen.

Der Neue sah ebenfalls die Notwendigkeit, bestimmteGespenster der Vergangenheit aufzuarbeiten. In der Haupt-sache interessierte ihn aber die Zukunft. Der gelernte Geo-loge schien auch ein Planer zu sein. Dr. Karberg war Her-les Stellvertreter, hatte aber nichts mit ihm gemeinsam. Erstellte den Menschen in den Vordergrund, die Mitarbeiter,ihre Familien, die Quellen. Wir teilten die Auffassung, dassman mit einem besseren Menschenbild auch im Dienstgute Erfolge erzielen könne. Gerade im Umgang mit Men-schen konnte man Karberg und Herle gut unterscheiden.Wir bezeichneten nun Karberg als »großen Doktor«, sei-nen Vorgesetzten als »kleinen Doktor«. Mit diesen neuenPerspektiven schauten wir wieder etwas optimistischer indie Zukunft.

Knüppel zwischen den Beinen

Dr. Herle ließ die Weisung des Präsidenten zunächst nichtgelten, sondern ordnete an, dass wir so lange in Münchenbleiben rnussten, bis diese schriftlich bei ihnen vorliege.Sage und schreibe sechs Wochen dauerte das Hin und Her,bis er es akzeptiert hatte. Sechs Wochen lang wurden wirmassiv mit Disziplinarstrafen bedroht, wenn wir nicht dieganze Woche in München Dienst verrichteten. Zwei Ver-setzungsschreiben gingen auf dem Dienstweg, wie es hieß,angeblich verloren. Es war eine irre Situation. Alle wuss-ten, was los war, nur Herle beharrte weiter auf unsererAnwesenheit. Ich fertigte wöchentlich exakte Tätigkeits-berichte an, die über das normale Maß hinausgingen. Je-des Telefonat, jede andere dienstliche Verrichtung wurde

300

Page 302: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

von mir in einer Übersicht festgehalten. Dr. Karberg, der na-türlich seinem Chef gegenüber auch zur Loyalität verpflich-tet war, quittierte das mit den Worten: »Ich verstehe ihnauch nicht, keiner versteht das. Aber was soll ich machen?Ich habe ihm mitgeteilt, dass hier alles perfekt läuft.«

Als dann das Versetzungsschreiben endlich persönlichan Herle übergeben wurde, akzeptierte er widerwillig un-sere Situation. »Wenn Sie glauben, dass das von langerDauer ist«, herrschte er uns an, »dann haben Sie sich ge-täuscht.« Die Situation wurde für uns immer schwieriger.Herle entwickelte Meisterschaft in der einzigen Tätigkeit,die er wirklich beherrschte - dem Intrigenspinnen. Er in-itiierte hinter unserem Rücken Untersuchungen, weil erangeblich Unregelmäßigkeiten festgestellt hatte.

Unter anderem leitete er Teile aus der Op-Akte eines un-serer Top-Informanten an das Bayerische Landeskrimi-nalamt weiter. Hier handelte es sich nicht um irgendwas,sondern ausgerechnet um die Klardaten der Quelle. Herlezweifelte beispielsweise die Unterschriften der Quelle an.Dabei war für jeden deutlich zu erkennen, dass die Signa-turen auf den Belegen mit der Schrift im Pass des Infor-manten identisch waren. So kam aus dieser Aktion bis aufeine erhebliche Gefährdung der Quelle nichts heraus.

Natürlich sprach ich ihn auf diese unnötige Aktion anund wies ihn darauf hin, in welche Gefahr er unsere Quel-len mit solchen Aktivitäten bringen würde. Da entschlüpfteihm ein Satz, der seine ganze Einstellung dokumentierte:»Was wollen Sie eigentlich? Das sind doch sowieso nurVerbrecher: Spione, die ihr eigenes Land verraten.« Herlelöste in den Jahren 1996 und 1997 drei große Überprü-fungen aus. Allem voran wurde die Quellenführung ge-checkt und dabei bevorzugt das Abrechnungswesen. Dazukamen das private Umfeld und die persönlichen Kontakte.Alle Personaltests gingen positiv aus. Nichts war an unshängen geblieben.

301

Page 303: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Der kleine Doktor machte uns die Hölle heiß. Aber wo-her kam das alles? Was hatte er für einen Grund, seine bei-den erfolgreichsten Verhandlungsführer so niederzubügeln?Herles Kommentare im Berichtswesen waren plötzlich el-lenlang. Er versuchte, uns in einen regen Schriftwechsel zuverwickeln, den man schon fast als Brieffreundschaft hätteauslegen können - wenn es nicht von ihm gekommenwäre. In einer der umfangreichen zusammenfassenden Be-urteilungen, die damals unter Federführung des BND-Si-cherheitsbeauftragten Wilhelm über Freddy und mich ent-standen, findet sich die folgende Passage:

»Tatsächlich gab es in der Vergangenheit eine Vielzahlvon Verdächtigungen durch die ehemalige Dienststelle derVE Sie reichten von Fälschung der Unterschriften bis zurUnterschlagung von Quellengeldern und vielem mehr. Allediese Vorwürfe wurden hier im Haus eingehend geprüft undkonnten als falsch festgestellt werden. Trotzdem hörten dieAnschuldigungen nicht auf. Es war so, als wolle man dieVerbindungsführer für alle Zeiten unglaubwürdig machen.«

Gleichzeitig begann Herle hinter unserem Rücken, dievon uns geführten Quellen zu kontaktieren. Der erste Ver-such lief recht plump. Während wir eine Quelle namens»Lilienthal« trafen, schickte er plötzlich einen anderenVerbindungsführer namens Schubeck und ordnete kur-zerhand die Übergabe von »Lilienthal« an. Wir fügten unsder Weisung, obwohl es nicht den Regeln des Gewerbesentsprach, derart tief greifende Änderungen ohne ausrei-chende Vorbereitung durchzuziehen.

Bei der Quelle »Eulenspiegel« ging Herle subtiler vor.Auf seinen Wunsch hin nahmen wir unseren ehemaligenNürnberger Chef Schöner zu einem Treff mit »Eule« mit.Dann passierte Folgendes: Schöner reiste vorzeitig ab. Un-mittelbar bevor er zum Bahnhof fuhr, sprach er mit »Eulen-spiegel« unter vier Augen. Er fragte ihn, ob er exklusiv mitihm zusammenarbeiten wolle. Freddy und ich würden so

302

Page 304: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wieso bald große Probleme bekommen, und dann seienwir nicht mehr in der Firma. Außerdem könne er von ihm,Schöner, mehr Geld erhalten. »Eulenspiegel« war stock-sauer und beklagte sich bitterlich. Das sei kein Stil, sagteer, und für Spielchen sei er sich zu schade.

Die dritte »Bypassoperation« des Dr. Herle missglückteebenfalls. Karberg rief uns zu sich. Herle, so sagte er, habeangeordnet, dass er unsere Quelle »Münchhausen« hand-streichartig übernehmen solle. Karberg plädierte aber füreine saubere Übergabe, ohne einen der Beteiligten zu ver-ärgern. Begeistert waren wir nicht. Wer gibt schon gernund freiwillig eine so ergiebige Quelle ab? Wir organisier-ten schließlich den Transfer, weil wir Karberg als seriöseinstuften.

Der vierte Fall betraf die Quelle »Rübezahl«. Seine Ge-schichte spricht für sich. Bekanntlich waren nicht nur dieSicherheitsleute an unserem Sonderaufkommen »Sorbas«interessiert, also an den Informationen über einen mög-lichen Maulwurf der Russen im BND. Herle hatte unsereersten Erkenntnisse zu Berliner Zeiten noch als »wertlo-ses Zeug« abgetan, aber nun wollte er es ganz genau wissen.Hinweise auf das Leck im Dienst kamen vor allem von derQuelle »Rübezahl«. Der Wissensdurst von Dr. Herle, was»Rübezahls« Berichte betraf, wurde grenzenlos. Dabeiwar er für Abwehroperationen gar nicht zuständig.

Die Quelle und das ganze Drumherum lagen in HerlesAufgabenbereich. Die Meldungsinhalte aber gingen grund-sätzlich nur die Auswerter an, die Hinweise auf eine un-dichte Stelle allein die Haussicherheit. Herle verhielt sichüberhaupt recht eigenartig, als er erfuhr, dass »Rübezahl«Zugang zu ganz speziellen Informationen hatte. War er inder Vergangenheit mit operativen Geldern recht knause-rig umgegangen, entdeckte er bei »Rübezahl« plötzlichseine großzügige Ader. Er wollte jeden Betrag zahlen undübertraf sich mit Superlativen.

303

Page 305: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Am 16. April 1996 forderte Herle blind die Summe von100 000 US-Dollar bei der zentralen Zahlstelle 90FY ab,ohne zu wissen, ob »Rübezahl« überhaupt verwertbareInformationen liefern würde. Darüber hinaus ließ er durchseinen OpSi Mödling zusätzliche Haushaltsmittel in Höhevon 500 000 Dollar bereitstellen. Das erfuhren wir abererst lange nach dem Treff und kamen richtig ins Staunen.

Was geschah beim »Londontreff« wirklich?

So lief die Geschichte ab: Bei einem routinemäßigen Ter-min im Londoner Hotel »The Hampshire« hatte es »Rübe-zahl« am 7. März 1996 abgelehnt, sich mit ihm unbekann-ten BND-Mitarbeitern zu treffen. Gerade weil er vonundichten Stellen im Dienst wusste, war er hypervorsichtiggeworden. Nun stand am 17. April 1996 ein neuer Treffmit ihm an, wieder in der britischen Hauptstadt. Als un-sere Abreise unmittelbar bevorstand, erklärte Dr. Herle,er wolle uns begleiten, um »Rübezahl« kennen zu lernen.Das bereitete uns keineswegs Freude.

Eine Diskussion über Sinn und Unsinn entflammte. ImHaus 109 gingen die Wogen hoch. Nach allem, was schonpassiert war, trauten wir dem Chef von 12 A nicht mehr.Wir bangten um unsere Quelle. Außerdem, so warfen wirein, sei es ein ungeschriebenes Gesetz, gegen den Willendes Informanten keinen Unbekannten zum Treff mitzu-bringen. An der Runde nahmen nicht nur Herle, Mödling,Freddy und ich teil, sondern auch Wilhelm, Ulbauer unddrei weitere Mitarbeiter der Sicherheit. Es war eine Riegevon Bedenkenträgern; mit allen Mitteln versuchten sie, Dr.Herle von der Reise nach London abzuhalten.

Als Wilhelm am Ende noch einmal nachfasste und ihn

304

Page 306: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

fragte, was seine Teilnahme an dem Treffen für einen Vor-teil bringen würde, reagierte Herle beleidigt und beriefsich auf seinen Vorgesetztenstatus. Immerhin brachte dieBesprechung ein positives Ergebnis. Ich sollte zuerst mit»Rübezahl« unter vier Augen reden, um ihn auf die Be-gegnung mit unserem Chef vorzubereiten. Das wurde so-gar in einem schriftlichen Protokoll festgehalten.

Am Nachmittag holten wir Dr. Herle von seiner Woh-nung in Taufkirchen ab und fuhren gemeinsam zum Flug-hafen. Gegen 19.30 Uhr kamen wir in London an undfuhren ins Hotel »Berkshire«. Wir waren schon gespannt,wie sich der nachrichtendienstliche Profi Herle »im Ge-lände« bewegen würde. Es war ein Desaster» Ohne Gespürfür Diskretion und Zurückhaltung trampelte er durchLondon. Wir versuchten dagegen, konspirativ und unauf-fällig zu sein.

Am nächsten Tag, genau um zwölf Uhr mittags, riefmich »Rübezahl« an. Er sei bereits in London und würdeim Zimmer 506 im Hotel »Mountbatten« auf uns warten.Wir verließen unser Hotel und steuerten die MonmouthStreet unweit vom Covent Garden an. Am Leicester Squaretrennten wir uns. Dr. Herle blieb in einem Cafe zurück.Am U-Bahnhof Leicester Square nahm Freddy den kürze-ren Weg über die Monmouth Street direkt zum Hotel»Mountbatten«, während ich mich nach links wandte undden Umweg über die Charing Cross Road und die Shaf-tesbury Avenue wählte. Ich gelangte also aus nördlicherRichtung, Freddy entgegengesetzt, zum Hotel der Quelle.Es war ein gewohntes und eingespieltes Prozedere.

Gegen 14 Uhr saß ich bei »Rübezahl«, der gerade vomEssen gekommen war. Eine gute Stunde redeten wir mit-einander und besprachen den Treff mit Dr. Herle, der unterdem Arbeitsnamen Berg vorgestellt werden sollte. »Rübe-zahl« war erneut sehr skeptisch, willigte dann aber ein.

Freddy hatte ungefähr eine halbe Stunde lang draußen

305

Page 307: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

gewartet. Als alles ruhig und unauffällig geblieben war,hatte er sich zu Dr. Herle begeben. Ich erreichte die beidenetwa um 15.30 Uhr. Nachdem ich von meinem Gesprächberichtet hatte, besprachen wir die weitere Vorgehens-weise. Um 19 Uhr sollte ich »Rübezahl« erneut treffen, umdann kurze Zeit später den Chef dazuzuholen. Freddyschlug einen gemeinsamen Spaziergang in der Stadt vor.Der »kleine Doktor« lehnte dankend ab. »Gehen Sie ru-hig allein«, sagte er, »ich möchte noch ein bisschen an derThemse herumspazieren. Wir treffen uns um 18 Uhr inunserem Hotel.« Uns war das auch recht, und so trenntenwir uns um 16 Uhr am Leicester Square.

Um Punkt 19 Uhr starteten wir von einem Pub, schräg ge-genüber dem Hotel »Mountbatten«. Dr. Herle/Berg bliebnoch in der Warteschleife. Er sollte erst zehn Minuten spä-ter in das Foyer folgen und dort auf unser vereinbartesZeichen warten. »Rübezahl« war nicht in seinem Zimmerzu erreichen. Also fragte ich an der Rezeption nach demHerrn von Zimmer 506. »Sorry«, sagten sie, der sei bereitsseit 17 Uhr abgereist. Wir waren völlig vor den Kopf ge-stoßen. Stinksauer kehrten wir zu Dr. Herle zurück. Mir warklar, dass wir nun eine heftige Debatte zu erwarten hatten.Niemand konnte sich über einen Fehltreff amüsieren.

Weit gefehlt. Die Reaktion unseres Vorgesetzten fielganz unerwartet aus, und wir konnten sie uns lange nichterklären. Ich war wütend über »Rübezahl« und speku-lierte, was das wohl zu bedeuten hätte. Herle dagegenblickte uns beide gelassen an und zuckte mit den Schul-tern: »Machen Sie sich nichts draus. Das kommt schonmal vor. Ich übernehme die ganze Verantwortung.« Danndrehte er sich um und bestellte drei Guinness für uns.Ich fragte Freddy: »Was für eine Verantwortung? Was istdenn nun los?« - »Ich begreife gar nichts mehr«, war dieAntwort, »ich möchte nur wissen, warum >Rübe< abge-hauen ist.« Der Rest der Reise verlief recht unspektakulär.

306

Page 308: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Während ich mir wie ein Idiot vorkam, machte Herle aufcool, als wären wir lediglich zum Sightseeing unterwegsgewesen.

Ein Rätsel löst sich auf

Aufgelöst wurde dieses Rätsel fast vier Monate später.Beim nächsten Treff, am 8. August in Lausanne, erklärteuns »Rübezahl« den Grund seiner überhasteten Abreise.Nachdem wir uns im »Mountbatten« getroffen hatten,war er noch zu einer Shopping-Tour aufgebrochen undum 16.15 Uhr wieder in sein Zimmer zurückgekehrt. Einehalbe Stunde später läutete sein Telefon. Es meldete sicheine männliche Stimme und begrüßte ihn auf Russisch mit»Guten Tag, Herr ... Wie geht es Ihnen?« Dann fügte derAnrufer auf Deutsch hinzu: »Könnte ich Sie kurz spre-chen?« »Rübezahl« fragte ihn, wer er sei. Daraufhin habeer geantwortet, er sei ein Freund. Nun geriet unser Infor-mant in Panik, packte seine Sachen und verschwand.

Ob Herle »Rübezahl« angerufen hatte, blieb im Dun-keln. Er stritt es jedenfalls vehement ab. Gegen seine Ver-sion spricht, dass er allein unterwegs war, als »Rübe« an-gerufen wurde. Neben Freddy und mir wusste nur nochHerle, wo und unter welchem Namen unsere Quelle ab-gestiegen war. Wenn er es gewesen wäre, der angerufenhatte, dann würde das auch sein unerwartet gelassenesVerhalten und das Gerede von der Verantwortung erklä-ren. Hinzu kommt, dass er für den Treff in London ohneunser Wissen die besagten 100 000 Dollar angeforderthatte. Die Auszahlungsanordnung - basierend auf demSchreiben Pr 0147/96 - liegt uns vor.

Einige Wochen nach dem London-Debakel sollte es zum

307

Page 309: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

absoluten Gipfelpunkt unserer Rivalitäten kommen. »Rü-bezahl«, der uns später von dem seltsamen Anruf berich-ten würde, meldete sich wieder aus London, erstmals seitseiner überhasteten Abreise aus dem Hotel. In England liefdie Fußball-Europameisterschaft, und unser Mann schienohne Material angereist zu sein. Er müsse mit uns übergrundsätzliche Dinge reden, auch über den missglücktenletzten Treff. Von Seiten der Quelle wollte ich mir keinenTermin diktieren lassen. Eine neue Verabredung nach derletzten Panne brauchte außerdem eine besonders gute Vor-bereitung. Darüber hinaus hätten wir in London wegender Fußballspiele ein Problem mit Flügen und Hotels ge-habt. Also war diesmal keine Eile geboten, und ich bot»Rübezahl« an, uns in der Zeit vom 16. bis 23. August zutreffen, sowie eine neue telefonische KontaktaufnahmeMitte Juli.

Freddy und ich gingen pflichtgemäß zu Dr. Herle, um ihmvon »Rübezahls« Anruf zu berichten. Seine erste Reaktionverblüffte mich: Er wurde kreidebleich und stand langsamauf. Ich stockte für einen Moment und schaute zu meinemPartner. Der zog leicht die Augenbrauen hoch. Mit leichtgeöffnetem Mund und weißen Lippen sagte Herle leise»Ja«, dann folgte eine Pause, »und?« Nun berichtete ichausführlich über das Telefonat und über meine Pläne. Un-ser Gegenüber bekam wieder Farbe. Wir hatten das deut-liche Gefühl, dass ihm die Nachricht irgendwie nicht inden Kram passte.

Konsterniert und leicht stotternd ordnete er an: »RufenSie ihn zurück. Sofort. Wir fliegen gleich nach London.Heute. Oder morgen. Egal. Machen Sie schon.« Ich fragteihn, ob er das wirklich für richtig hielte. Außerdem kämenoch dazu, dass ich nicht wüsste, wo »Rübezahl« zu errei-chen sei. Ich hätte keine Ahnung, in welchem Hotel erwohne. Herles Gesicht färbte sich von weiß nach rot. Erschrie: »Rufen Sie an! Fragen Sie in den einschlägigen

308

Page 310: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Londoner Hotels nach! Telefonieren Sie mit allen Hotels,in denen er schon einmal übernachtet hat. Wir fliegennach London.« - »Das sind vielleicht ein paar Dutzendoder noch mehr, die hier in Frage kämen«, wandte ich ein.Herle war völlig hysterisch. »Ja, meinetwegen in hundertHotels.« Freddy und ich schüttelten den Kopf, ließen denschimpfenden Herle stehen und gingen.

Erneut begaben wir uns in das unterste Geschoss, zu denLeuten von der Sicherheit. Auf dem Weg zum Fahrstuhlsagte Freddy: »Jetzt ist er ganz verrückt geworden. Das istdoch ein Irrenhaus hier. Wirft uns ständig vor, dass wirkeine Profis sind, und will dann mit uns die Hotels auf derInsel nach unserer Quelle abklappern. Norbert, verstehstdu das noch?«

Ulbauer hörte uns geduldig zu. Er war derselben Mei-nung. »Rübe« konnte in irgendeinem Hotel sein. Wegender Fußball-Meisterschaft war alles möglich. In Londonwar die Hölle los. Der Sicherheitschef trommelte einigeLeute zusammen und schilderte ihnen das Problem. FrankOffenbach, der gerade im Haus war, schimpfte: »Wenn inmeinem Laden auch nur einer so etwas ansatzweise ver-suchen würde, könnte er sich sofort verabschieden. Wasist das nur für ein Saftladen?« Keiner konnte sich für dieIdee von Herle erwärmen. Für den Nachmittag wurde eineBesprechung anberaumt. Teilnehmer waren wieder einmalHerle und Mödling, deren Führungsstelle inzwischennicht mehr mit 12A, sondern mit 13 A bezeichnet wurde,Tomberg, Ulbauer und Gaisbauer von 52D sowie derUAL 52 Wilhelm. Der Fall wurde erörtert, ohne dass mansich einigen konnte. Deshalb ergriff Wilhelm am Ende dieInitiative. Als Ranghöchster in der Runde erteilte er fol-gende schriftliche Weisung: »Herrn Dannau wird nachRücksprache mit UAL 52 aus sicherheitlichen Gründenuntersagt, nach der NDV in Londoner Hotels zu suchen.«

Herle war wütend, dass seine Weisung widerrufen wor-

Page 311: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

den war. Er wandte sich an den damaligen Abteilungslei-ter 5, Foertsch, und bat um unsere Versetzung. Außerdemließ er uns ausrichten, dass er uns nicht mehr sehen wolle.Am 1. August 1996 kamen wir dann formal zu 52DB, alsozu Ulbauer. Zu diesem Zeitpunkt erhielten Freddy und ichneue Dienstnamen. Aus Dannau wurde Busemann, undaus Teubner wurde Frasing.

In der folgenden Zeit wurden wir hinter unserem Rückender Unterschlagung und anderer Dienstvergehen beschul-digt. Das führte zu zwei weiteren großen Untersuchungenund Sicherheitsüberprüfungen, von denen wir - die Be-troffenen - freilich nichts erfuhren. Auf uns lastete einDruck, der bald nicht mehr auszuhalten war.

Trotz wochenlanger Schnüffeleien in unser beider Privat-leben und den dienstlichen Aktivitäten der Vergangenheitergaben die Nachforschungen jedes Mal ein positives Er-gebnis zu unseren Gunsten.

310

Page 312: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Kosak 3« -Der Fall Foertsch

In der Folgezeit sammelten wir bei unseren Quellen wei-terhin Informationen, die auf einen Spion im BND hin-deuteten. Dabei stellte sich heraus, dass unser »Rübezahl«offensichtlich über die besten Zugänge verfügte. Nach dernächsten Reise in die Schweiz - wir trafen »Rübezahl«Anfang August in Lausanne - kam es deshalb zum endgül-tigen Eklat mit dem Chef der neu benannten Führungs-stelle 13 A, Dr. Herle. Wir hatten vom OpSi Mödling dieOrder erhalten, das »Sorbas«-Aufkommen auf den neu-esten Stand zu bringen. »Rübezahl« versorgte uns amGenfer See mit neuem, sehr gutem Material aus dem rus-sischen Dienst. Einige der Informationen gaben Aufschlussüber Strukturveränderungen bei unseren östlichen Ge-heimdienst-Rivalen. »Rübezahl« wirkte sehr angespanntund übervorsichtig. Er wollte weiter mit uns arbeiten, wiesaber auch auf die schwierige Sicherheitslage hin. Die Tat-sache, dass er den mysteriösen Anrufer von London füreinen Deutschen mittleren Alters hielt, beruhigte unsnicht. Im Gegenteil. Wenn es wirklich Herle gewesen seinsollte, was hatte er damit erreichen wollen? Warum ver-hielt er sich so?

Noch vor unserer Rückreise löste ich unbeabsichtigtTurbulenzen aus. Ich rief den OpSi Mödling an und teilteihm mit, dass der Treff erfolgreich abgeschlossen sei. Ganzungeduldig fragte er nach dem neuen »Sorbas«-Material.Wie immer antwortete ich verklausuliert: »Wir haben diebestellte Lieferung und aus dem Sonderbereich eine Viel-

311

Page 313: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

zahl von sehr guten Einzelexponaten.« Mödling gratu-lierte und wünschte uns eine gute Heimreise.

Telefonterror

Eine knappe halbe Stunde später, als wir gerade bei VillarsSaint-Croix auf die Autobahn A9 in Richtung Montreuxgekommen waren, rief der »kleine Doktor« auf meinemHandy an. Auch er ließ sich berichten, wie alles gelaufenwar. Dann bat er uns, auf direktem Weg zurückzukehrenund noch am selben Tag das neue Material bei ihm per-sönlich abzuliefern. Er werde auf uns warten, egal wielange es dauere. Seine abschließenden Worte sind mir nochheute im Ohr: »Und wie ich Ihnen bereits sagte: Alleskommt zu mir. Zu mir persönlich. Auch nicht zu Mödlingoder einem anderen. Ich warte auf Sie.«

»Freddy, was hältst du davon«, fragte ich den vor sichhin sinnierenden Beifahrer. »Irgendetwas stimmt hier nicht«,war seine Schlussfolgerung, »was haben wir alles an Infor-mationen geliefert, ohne dass sich jemand dafür interes-siert hat. Wann und wo und wie wir es nach Pullach trans-portieren. Und nun macht der so eine Staatsaffäre draus.Was hat der eigentlich?« - »Mir kommt das auch sehr du-bios vor«, warf ich ein, »was will er vor allem mit dem>Sorbas<-Material? Das ist doch für die Unterabteilung 52bestimmt. Wenn wir Material für die normale Auswertungbeschaffen, dann schaut er es sich ja auch nicht an. Aberegal, soll er doch machen, was er will. Hauptsache, er lässtuns in Ruhe weiterarbeiten.«

Eine Weile später befanden wir uns gerade in der Nähevon Fribourg, da klingelte das Mobiltelefon erneut. Ul-bauer war am anderen Ende: »Na, Meister, wie war's? Ist

312

Page 314: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

alles gut gelaufen? Wie geht es euch?« Ihm berichtete ichdasselbe, was ich schon Mödling und Herle gesagt hatte.Daraufhin gratulierte auch er uns beiden. Am nächstenTag, so sagte er, sollten wir bei ihm vorbeikommen, umseinen Anteil an den russischen Unterlagen bei ihm abzu-geben.

Ich erzählte ihm von der gegensätzlichen Order. SeineAntwort: »Sie werden die Papiere auf keinen Fall woan-ders abliefern. Ich melde mich in einer halben Stunde nocheinmal bei Ihnen.« Sein zweiter Anruf kam prompt. Er-neut erhielten wir von ihm die Anweisung, von dem neuenMaterial - ob schriftlich oder mündlich - nichts an die Ab-teilung 1 abzugeben. Seine Vorgesetzten, so sagte Ulbauer,würden das genauso sehen.

Nun wurde es immer spannender. Über Zürich und St.Gallen näherten wir uns der deutschen Grenze. Auf baye-rischem Boden klingelte das Handy erneut. Jetzt war Dr.Herle dran. Wie weit wir gekommen seien und wie langewir noch brauchten. Ich erzählte ihm von dem Telefonatmit Ulbauer und dessen Anweisung. Dr. Herle schriedurch das Telefon, dass er der Chef sei. Sollte ich seinerAnweisung nicht Folge leisten, dann könnten wir beidemit einem Disziplinarverfahren rechnen.

Wir stoppten an einer Raststätte und tranken einen Kaf-fee. Als wir wieder im Wagen saßen, hatten wir bereitsmehrere neue Anrufe der Herren aus den Abteilungen 1und 5 auf der Mailbox, jeweils verbunden mit der Bitteum Rückruf. Noch während ich den Meldungsstau abhörte,klopfte es schon wieder in der Leitung. Ulbauer war dran:»Ich habe mit den Einsern gesprochen. Die Unterlagenkommen zu mir. Basta!« Sollten wir der Weisung nicht fol-gen, habe das disziplinarische Folgen. Und wieder meldetesich Herle auf dem Mobiltelefon: »Das Material kommtzu mir!«

Der BND mutierte zum Komödienstadel. »Was machen

313

Page 315: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wir nun, Freddy?«, fragte ich meinen Fahrer, der nur nocheine Hand vor die Stirn hielt und seinen Kopf voller Re-signation schüttelte. »Schmeiß doch den ganzen Scheißaus dem Fenster«, zürnte er. Er kurbelte die Scheibe runter,so dass es im Wagen laut rauschte. »Gib her, wenn du dichnicht traust. Ich hau das jetzt weg. Dann ist endgültigRuhe«, wetterte er. Meine Antwort: »Dann prügeln unsnachher zwei Stellen. Aber was machen wir wirklich? Jetztkannst du dir noch in Ruhe aussuchen, bei wem du nach-her ein Disziplinarverfahren holen willst. Ist das nichtrichtig toll? Wir haben die Wahl zwischen zwei schickenFettnäpfchen. Na, Companero, hätten wir gerne das Fün-fer- oder das Einsernäpfchen?«

Es klingelte wieder. Nun schaltete ich schnell das Tele-fon ab. »Scheißladen«, brüllte ich an Freddy gewandt, »fahrbitte rechts ran.« - »Hier? Auf freier Strecke? Da kommtjetzt gleich das Autobahnkreuz Memmingen. Soll ich nichtbesser dort runter?« - »Nein, halt an. Ich weiß, was wirmachen. Hier, direkt auf dem Standstreifen.« Freddymaulte: »Bitte, wenn du mitten auf der Autobahn haltenwillst, das erledige ich doch gerne. Wenn du es möchtest,dann mache ich dir auch noch den Geisterfahrer.« Er fuhrauf den Standstreifen, schaltete die Warnleuchten ein undhielt an. Es goss in Strömen. »Soll ich jetzt wenden und zu-rückfahren?« witzelte er. »Nein, das mit der Geisterfahrtlassen wir lieber«, antwortete ich. »Wir wollen doch denHerren in Pullach nicht zu ähnlich werden, oder?«

Ich rief Ulbauer an: »So geht das nicht. Der eine sagt >hü<,und der andere sagt >hott<. Wir stehen jetzt auf dem Stand-streifen der Autobahn 96, kurz vor der Abfahrt zur A 7 inRichtung Kempten. Was ich jetzt sage, das meine ich wirk-lich ernst. Wer zuerst kommt, der kriegt den ganzen Scheiß,Das ist doch hier zum Verrücktwerden.« Nach einer klei-nen Pause fragte er: »Wo wollen Sie von heute auf morgenübernachten?« - »Am Starnberger See«, erwiderte ich, im

314

Page 316: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Hotel am See«. »Gut, dann bringt eure privaten Sachenerst dorthin, bevor ihr ins Camp kommt. Alles andere ma-che ich. Wenn der Doktor wieder anruft, dann sagt, dassIhr die Unterlagen gleich bei ihm vorbeibringen werdet.So, nun fahrt vorsichtig weiter. Bis später, Jungs. Ärgerteuch nicht, es wird euch nichts passieren.«

Der Aktenkoffer wird beschlagnahmt

Gegen 20 Uhr trafen wir in unserem Hotel ein. Nachdemwir uns angemeldet hatten, trugen wir unsere Koffer in dieZimmer und gingen wieder zum Wagen. Da stand plötz-lich Gaisbauer vor dem Hoteleingang und grinste uns an:»So ein Theater, was? Die machen mit euch aber auch Sa-chen. Nun regeln wir das ganz elegant.« Dann zog er sei-nen Dienstausweis und eine schriftliche Ermächtigung ausder Tasche. In feierlichem Ton informierte er uns: »Ichhabe vom Sicherheitsbeauftragten des BND den Auftrag,alle in Ihrem Besitz befindlichen dienstlichen Unterlagenan mich zu nehmen. Ich fordere Sie auf, alles herauszuge-ben.« Meine Antwort war knapp: »Aber gerne doch.«Dann überreichte ich ihm den Aktenkoffer.

»So«, verabschiedete er sich von uns, »nun ist das nichtmehr euer Problem. Ich werde Herle sagen, dass ihr euchlange gewehrt habt und die Unterlagen nicht herausgebenwolltet. Zwecklos, ihr hattet keine Chance, dem Befehl eu-res Chefs Folge zu leisten. Nun rufen Sie ihn bitte an undsagen ihm, was passiert ist.« Ich atmete kurz durch undfragte Freddy, ob er das übernehmen würde. »Nein«, lehnteer eisern ab, »auch keine Streichhölzer ziehen.« Herle mel-dete sich mit: »Ja, bitte?« Als er mich hörte, fragte er so-fort: »Wo bleiben Sie denn? Ich warte hier auf Sie!« Schnell

315

Page 317: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

erzählte ich ihm, was passiert war, und hielt dann mit ver-zogener Miene den Hörer etwas weiter vom Ohr weg.Herle schrie in einzelnen Worten: »Bis - morgen - Herr -Dannau!« Dann knallte er den Hörer auf.

Nach dieser Aktion spielte sich das Leben mit Herle nurnoch in Form gegenseitigen Misstrauens ab. Er forderte,dass wir unsere gesamte Arbeit in Berlin bürokratisch auf-arbeiten sollten, also Berichte schreiben über etwa 850Treffen mit Quellen, Beschaffungshelfern und Informan-ten. Wie bereits geschildert, war in Berlin nicht alles so ak-kurat erfasst worden wie in München. Angesichts derAussichtslosigkeit, dies nachträglich in einem vernünfti-gen Rahmen zu bewerkstelligen, unternahm ich nocheinen Vorstoß, um die Dokumentation auf einen einiger-maßen aktuellen Stand zu bringen.

Ich schlug Dr. Karberg umfangreiche Quellenbespre-chungen vor. Dabei könnte Herle, er leitete nun 13A (dasfrühere 12A) gezielte Fragen stellen, die wir beantwortenwürden, soweit es noch alles nachvollziehbar war. An-schließend, so schlug ich weiter vor, könnte man entspre-chende Protokolle erstellen, die wir an den erforderlichenSteilen ergänzen würden. Karberg war einverstanden.Ziemlich frustriert kam er aber wieder von Herle zurück,»Es tut mir außerordentlich leid«, teilte er uns mit, »aberder Chef hat das abgelehnt. Sie sollen alles formal so nach-arbeiten, wie es die Verbindungsführer hier auch tun müs-sten. Ich will ganz ehrlich sein, ich verstehe ihn auch nicht.Auf der einen Seite bemängelt er fehlende Berichterstat-tung, und auf der anderen Seite fordert er eine rationelleund vernünftige Aufarbeitung.«

Was wollte der Mann eigentlich? Wir hatten große Er-folge gehabt. Unsere Einsätze waren überdurchschnittlichgut beurteilt worden. Freddy galt als einer der Bestbeur-teilten seiner Dienstgradgruppe. Wir hatten Überstundenangehäuft, die uns - wenn wir sie beansprucht hätten - ein

316

Page 318: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ganzes Jahr Urlaub beschert hätten. Was wollte Dr. Herleerreichen? Warum bestand er permanent auf persönlichemEinblick in das »Sorbas«-Material? Warum klopfte er jedeunserer Quellen danach ab, ob sie über Informationen desgegnerischen Dienstes verfügte, um sie dann blitzschnellabzuschalten?

Kurz nach dem Treffen in Lausanne Anfang Augustfolgte ein weiterer Kontakt mit »Rübezahl«. Er stimmteeinem so genannten Spezialistengespräch zu und kamdazu nach Frankfurt. Das Treffen fand am 19. August 1996im Airport Sheraton statt. Ulbauer reiste mit großemTeam an, und die Observanten von QB30 installierten inZimmer 7034 ein so genanntes Schnellbahnsystem. Daswar ein verschlüsselter Kommunikationsweg nach Pul-lach, über den die Angaben der Quelle während des Ge-sprächs überprüft werden konnten.

An der eigentlichen Runde in Zimmer 7048 nahmen»Rübezahl«, Ulbauer, Freddy und ich teil. Die Quellesprudelte und lieferte auch viele personenbezogene Daten,die wir über unsere »Schnellbahn« prüfen ließen. Die An-gaben stellten sich als korrekt heraus. »Rübezahl« wies er-neut auf einen ernsten Verratsfall im BND hin. Daraussollte sich ab 19. August 1996 die interne Abwehropera-tion »Kosak 2« entwickeln. Sie richtete sich gegen einenBND-Mitarbeiter des gehobenen Dienstes. Der verdächti-gen Person konnte zwar später kein direkter Kontakt miteinem russischen Nachrichtendienst nachgewiesen wer-den, aber dennoch ergaben sich Zusammenhänge, die denVerdacht gegen ihn begründeten. Unter anderem wurdenin der Wohnung Disketten mit vertraulichen, dienstinter-nen Unterlagen gefunden. Außerdem hatte er, obwohlverheiratet, ein intimes Verhältnis mit einer Mitarbeiterinaus dem Stab des BND-Präsidenten.

Während der Ermittlungen kam übrigens der Verdachtauf, diese Person sei gewarnt worden. Bei 52 gingen auch

31?

Page 319: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

immer wieder Hinweise auf eine weitere Innenquelle derRussen im BND ein. Dabei stützten sich die Ermittler aufdie Quelle »Rübezahl« und auf eigene Informationen.Dass »Kosak 2« offenbar verraten wurde, stellte für dieAufklärer ein großes Problem dar. Der Sicherheitsbeauf-tragte Wilhelm hat, mit zeitlichem Abstand, die Situationvon damals so charakterisiert: »Dieser Bundesnachrich-tendienst war zu jener Zeit löchrig wie ein SchweizerKäse.« Mit neuen Erkenntnissen lief deshalb ab Dezember1996 zusätzlich eine Abwehroperation »Kosak 3« an.

Schwere Vorwürfe gegen Volker Foertsch

Zur gleichen Zeit geschah noch etwas anderes. Freddyund ich nahmen es zunächst kommentarlos zur Kenntnis,weil wir die Hintergründe bis auf weiteres noch nichtkannten. Tomberg, der damalige Chef des Untersuchungs-referats, wurde bereits nach kurzer Zeit auf einen neuenDienstposten in der BND-Verwaltung versetzt. Dem Ver-nehmen nach hatte der Volljurist schon kurz nach seinemDienstantritt im Untersuchungsreferat eine umfangreicheStudie über die Pannenfälle der vergangenen Jahre ange-fertigt. Als Fazit sollen einige Führungskräfte des BND alspotenzielle Verräter in Betracht gekommen sein. An ersterStelle sei der Name Foertsch aufgelistet gewesen.

Mit diesem Wissen und dem Gutachten sei der mutigeTomberg zu seinem Abteilungsleiter Foertsch gegangenund habe ihm die Ergebnisse vorgelegt. Die graue Eminenzdes Dienstes habe ungewöhnlich schroff reagiert und dieAblösung des unbequemen Tomberg verlangt. Das sei ihmauch gewährt worden. Keiner der Insider verstand die Re-aktion von Foertsch, denn dieser war kein jugendlicher

318

Page 320: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Heißsporn, sondern immerhin seit Dezember 1957 Ange-höriger des BND. Wenn Foertsch ein reines Gewissen ge-habt hätte, wäre es dann nicht sinnvoller gewesen, eineUntersuchung einzuleiten, um alle Vorwürfe aufzuklären?Stattdessen wurde Tomberg versetzt - eine beliebte Me-thode, mit hausinternen Kritikern umzugehen.

Was wir von diesen Ereignissen erfuhren, konnte ichnachvollziehen, weil Freddy und ich selbst erlebt hatten,dass Foertsch die fachliche Auseinandersetzung scheute.Er setzte in heiklen Situationen auf seinen Einfluss undseine Kontakte im Apparat. Er hatte ein weit verzweigtesNetz von Beziehungen im Dienst. Bei einer Besprechungim Untersuchungsreferat entglitt einem Teilnehmer derSatz: »Da war wohl wieder der Schwager am Werk!« Aufmeine Frage nach dem Sinn dieser Worte offenbarte manmir, was alle anderen offenbar schon seit langem wussten:Dr. Herle war mit Foertsch verwandt.

Nach meinem Ausscheiden aus dem Dienst fand icheinen Aktenvermerk des OpSi Mödling. Darin hieß eshandschriftlich: »Herr Ulbauer, 52D, hat sich am Abenddes 12.03.96 mit Dannau/Teubner getroffen und denTreffbericht nach dem letzten Treffen mit Rübezahl >kas-siert... Seitdem hat FüStl Dr. Herle mehrere Gesprächemit der Abteilung 5, auch mit Ulbauer und AL 5 geführt,weil dieses Vorgehen nicht hinnehmbar ist. UAL 12 isteingeschaltet. AL 5 (Foertsch) hat entschieden, dass derFüStl Dr. Herle voll informiert wird und auch die vollenTreffberichte bekommt.«

Mein Partner und ich entwickelten nach unserem Aus-scheiden deshalb folgende These: Hinter den Anfeindun-gen von Herle stand womöglich ein ganz anderer, nämlichFoertsch. Um die Jahreswende 1995/96 hatten wir einenWandel im Verhalten von Herle uns gegenüber feststellenkönnen. Das begann kurz nach meiner Beschwerde beimPräsidenten Porzner. Zur gleichen Zeit waren die Informa-

319

Page 321: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

tionen über einen Verräter im BND immer konkreter ge-worden. Foertsch hatte aber wohl nicht genau lokalisierenkönnen, woher sie kamen. Herle schaltete eine Topquellenach der anderen ab. In Einzelfällen ließ er auch die Tref-fen platzen. Wenn das nicht gelang, dann versuchte erQuellen hinter unserem Rücken abzuwerben.

Wir, die beiden »freischaffenden Künstler aus Berlin«,verfügten plötzlich über brisante Informationen, die wo-möglich dem Verräter schaden konnten. Wir hatten auchkaum noch eine Motivation, jemandem im Dienst zu ver-trauen. Der Quellenschutz ging uns über alles. Dazu kamdie Tatsache, dass sich die Hinweise auf einen Spion imDienst häuften. Zu dieser Zeit wiederholten sich zuneh-mend Herles Anwürfe über angebliche Unregelmäßigkei-ten in unserem Team. Wir hatten den Verdacht, dass unsjemand unglaubwürdig machen wollte.

Zeitgleich mit dem Beginn der Operation »Kosak 3 « er-reichte uns die so genannte Fünfermeldung. Eine Quelleberichtete, »dass dem FSB alles bekannt sei, nachdem derletzte der fünf Stellvertreter des BND, der mit dem 1. Stell-vertreter des FSB gut bekannt sei, alles weitergegebenhabe«. Diese Meldung schlug ein wie eine Bombe. Wer sieim Original liest, muss wissen, dass bei den Russen Abtei-lungsleiter immer zugleich als Stellvertreter des Leitersfungieren, und zwar in der numerischen Reihenfolge derAbteilungen. Im vorliegenden Fall wäre also der »5. Stell-vertreter« mit dem Abteilungsleiter 5 des BND gleichzu-setzen.

Ein schwerwiegender Verdacht stand im Raum. UAL 52Wilhelm informierte deshalb am 13. März 1997 den Prä-sidenten des BND, Geiger. Er bat ihn um ein Gespräch un-ter vier Augen. Durch Indiskretionen im Umfeld des Prä-sidenten erfuhr Foertsch noch am gleichen Tag über dieneue Entwicklung. Am nächsten Morgen stellte Foertschseinen Unterabteilungsleiter Wilhelm zur Rede. Die Frage

320

Page 322: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

lautete, ob er etwas wisse, was er (Foertsch) nicht wisse.Daraufhin berichtete Wilhelm von der »Stellvertreter-Mel-dung« und seiner Vorsprache beim Präsidenten.

Foertsch reagierte ungehalten und beantragte die sofor-tige Ablösung seines Untergebenen Wilhelm. Er begründetees mit einem gestörten Vertrauensverhältnis. Dem Anlie-gen wurde nicht stattgegeben. Danach kursierten Ge-rüchte, die geeignet waren, Wilhelms Glaubwürdigkeitund Fachkompetenz in Frage zu stellen.

Von diesem Zeitpunkt an, so eine Mitarbeiterin aus demUmfeld des Abteilungsleiters 5, veränderte Foertsch sichzusehends. Leute, die ihn lange Jahre kannten, berichtetenüber eine auffallende Nervosität. Er ließ sich mehrfach dieOperationsakte »Rübezahl« vorlegen, arbeitete sie durch,und kopierte bestimmte Meldungsinhalte, darunter auchdie »Stellvertreter-Information«. Dieses Papier zeigte er,nach eigenen Angaben, im Kanzleramt herum. Damit habeer einen großen Lacherfolg erzielt. Die Handlungen diesesFührungsmannes wurden zunehmend ungewöhnlicher.

Es wurde immer dramatischer, denn kurze Zeit späterbestätigten sich Quellenhinweise über ein Durchsickernder BND-internen Abwehroperation nach Moskau. Be-reits am 28. Februar 1997 hatte der Präsident des BND inBern mitgeteilt, den dortigen Partnern beim SND lägen Er-kenntnisse vor, dass in Moskau eine geplante Operationdes BND mit den Schweizer Staatsschützern bekannt ge-worden sei. Dabei konnte es sich nur um zwei Operatio-nen handeln. Eine davon war eine Anbahnungsoperationin der Anfangsphase.

Die zweite war ein Treffen mit »Rübezahl«, das dem-nächst in der Schweiz stattfinden sollte. Im Vorfeld hattedie Truppe um Ulbauer ein Amtshilfeersuchen in Sachen»Kosak 2« an die Schweizer gestellt. Nun reagierten dieEidgenossen sehr irritiert, weil Moskau anscheinend schonüber alles Bescheid wusste. Als Foertsch am 17. März 1997

321

Page 323: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

darüber informiert wurde, handelte er sofort. Er ordnetean, beim Schweizerischen Dienst nähere Einzelheiten zuder Moskauer Quelle zu erfragen. Das löste bei unserenSicherheitsleuten Unverständnis und zugleich Rätselratenaus.

Der falsche »Rübezahl« wird verhaftet

Am 25. März 1997 fuhren Freddy und ich nach Emden inOstfriesland, um eine alte »Stay Behind«-Quelle aufzusu-chen. Es war ein kalter, aber trotzdem klarer Tag. Währendeines Spaziergangs am Hafen klingelte plötzlich meinHandy. »Rübezahl« war am Apparat. Er befand sich geradeaußerhalb von Russland und konnte deshalb einigerma-ßen ungehindert telefonieren. Was er mir erzählte, war sounfassbar, dass mir der Atem stockte. Da die Verbindungnicht sonderlich gut war, bat ich ihn dringend, mich noch-mals anzurufen, weil ich alles erst mit meinem Partner be-sprechen musste. Freddy hatte bereits an meinen Reaktio-nen erkannt, dass etwas Einschneidendes passiert seinmusste.

Ich kam gleich zur Sache: »>Rübezahl< wurde von denRussen verhaftet!« Freddy blieb wie angewurzelt stehen.»Verhaftet??? Du hast doch gerade mit ihm telefoniert. Siehaben ihn verhaftet, und dann lassen sie ihn aus demKnast telefonieren. Machst du Witze?« — »Ja, weißt du,im es genau zu sagen, sie haben nicht den richtigen »Rü-bezahls sondern unseren Papierrübezahl. Sie haben Larryverhaftet und vernommen.« Freddy wurde kreidebleich.»Jetzt schlägt es dreizehn! Das ist ja wohl der OberhammerSie haben den Falschen gepackt. Ich werde verrückt. Hatunser >Rübezahl< ein Schwein.«

322

Page 324: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Folgendes war passiert: Als wir unsere Quelle beim BNDregistrierten, schrieben wir einen falschen Namen in dieOperativakte. Wegen der neugierigen US-Partner in Ber-lin waren wir so oder auch ähnlich mit allen unseren Ver-bindungen verfahren. Als wir später nach Nürnberg undMünchen wechselten, änderten wir daran nichts, weil sichdie Informationen über die undichte Stelle im BND bereitsmehrten. Zahlreiche WGT-Quellen anderer Verbindungs-führer waren in der Zwischenzeit festgenommen worden,das Schicksal einiger von ihnen ungewiss.

Da gab es zum Beispiel die Pannenfälle »Ladoga« V-076970 und »Alf« V-078176 (beides WGT-Quellen). DieRussen verhafteten die BND-Quellen »Küstennebel« V-077848 und »Ameisenbär« V-076072, Anfang 1997 auchdie Top-Quelle »Basar« V-078178. Dazu kamen mindes-tens zehn weitere Quellen, die alle vorschriftsmäßig mitihrer Klaridentität in den Operationsakten geführt wur-den.

Unsere Informanten hingegen erfreuten sich bester Ge-sundheit, wahrscheinlich, weil wir ihre Identitäten so ver-schleiert hatten, dass sie nur schwer zu lokalisieren waren.»Rübezahl« hatten wir den Namen Wassili Larinowsky(kurz Larry) verpasst. Dabei handelte es sich zwar um einereale Person, die in Moskau lebte, die aber zu uns oderdem BND niemals Kontakt gehabt hatte. Auf nachrich-tendienstlichem Weg war ich an seinen Ausweis gekom-men, hatte ihn fotokopiert und dann in der Operativakte»Rübezahl« als Klardaten eingetragen.

Nun war also dieser bedauerliche Fall eingetreten undder wahre Wassili Larinowsky wegen des dringenden Ver-dachts der Agententätigkeit verhaftet worden. Das konntenur geschehen, weil jemand beim BND Zugang zu denOperativakten und den falschen Klarnamen an die Russenweitergegeben hatte.

Wir fuhren zu einem Parkplatz, wo das Funknetz stär-

323

Page 325: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ker war. Als »Rübezahl« nochmals anrief, musste er dieGeschichte ein zweites Mal erzählen, damit Freddy mithö-ren konnte. Wir waren ziemlich geschockt und uns wurdeschnell bewusst, dass wir nun die falsche Klaridentität un-bedingt melden mussten. Das bedeutete für uns mögli-cherweise disziplinarische Konsequenzen, aber das durftekein Beweggrund sein, weiter zu schweigen. Schließlichhatten wir die Namen zum Schutz der Quellen und zumWohle des Dienstes verfälscht. Genau besehen, gab unsder Erfolg Recht. Aber jetzt hatte es einen Unschuldigengetroffen.

Wem sollten wir uns nun anvertrauen? Wir waren in-zwischen überfordert und am Ende, ohne dass wir es unseingestehen wollten. Vorwürfe und Anfeindungen aus demObergeschoss von Haus 109 hatten uns mürbe gemacht.Eigentlich vertrauten wir keinem mehr, nur noch unsselbst. Auf der Weiterfahrt fragte Freddy kleinlaut: »Unddu meinst, das stehen wir durch?« Ich antwortete ohne zuzögern: »Natürlich stehen wir das durch!« Lange über-legten wir, mit wem wir nun sprechen sollten. Es musstejemand sein, der keinen Einblick in die Operativakte hatte.Offenbach! Im gleichen Moment kam uns beiden dieserName über die Lippen.

Der Mann stand voll im Stoff und war erfahren, was dasND-Geschäft betrifft. Wir mochten ihn wegen seinermenschlichen und fürsorglichen Art. Das war der Richtige.Ich versuchte, ihn zu erreichen. Leider gelang es erst amnächsten Abend, weil er sich bis dahin auf Dienstreise be-fand. Tage später kamen Freddy und ich nach München.Wir trafen uns mit der Fallführerin »Kosak 2« und mitFrank Offenbach in unserem üblichen Hotel Buchenhain.Beide drängten mich, den Sachgebietsleiter Ulbauer ein-zuweihen. Schließlich willigte ich ein.

Am 10. April 1997 wurde die Sicherheit von mir offiziellüber die falsche Namensgebung und die Hintergründe der

324

Page 326: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Festnahme des falschen »Rübezahls« informiert. Ulbauerbat mich, den Vorgang schriftlich zu fixieren. Der Chef imU-Referat 52D und dessen direkter Vorgesetzter UAL Wil-helm zermarterten sich mit diesem neuen Vorgang weni-ger das Hirn, als ich es getan hatte. Sie wiesen prompt undohne Verzug den unter Verdacht stehenden Foertsch in dieSache ein. Das geschah am 16. April 1997. Ulbauer undWilhelm befanden sich, zusammen mit ihrem Abteilungs-leiter, bei der Einweihungsfeier der neuen Diensträumevon QB30.

Während der Rückfahrt nach Pullach erzählten sieFoertsch von Larrys Verhaftung und der falschen Identitätvon »Rübezahl«. Danach fertigten sie unabhängig von-einander jeweils ein Protokoll des Gesprächs an. Zitat:

» Wir ... setzten AL 5 während der Autofahrt von derVerhaftung des falschen Rübezahl in Kenntnis ... Ulbauerfuhr, und AL 5 saß auf dem Beifahrersitz, UAL 52 hinterdem Bahrer auf der Rückbank. Die erste Reaktion vonFoertsch war beinahe panisch. Er wurde bleich und gerietsichtbar außer Kontrolle. Das zeigte sich in Schweißaus-brücken und Zittern am ganzen Körper. Er reagierte sehrungehalten darüber, dass er erst jetzt davon in Kenntnisgesetzt wurde und zeigte sich nicht interessiert an der Er-örterung der Bedeutung dieser Information ...«

Unmittelbar darauf lief das Foertsch'sche Verhaltens-muster ab. Er zweifelte offen meine Fachkompetenz anund zog meine Glaubwürdigkeit in Zweifel. Darüber hin-aus stellte er den Wahrheitsgehalt der »Kosak«-Operationan sich in Frage. Weder er noch ich wussten in jener Phase,dass die Sicherheit außer der Quelle »Rübezahl« über wei-tere Informanten verfügte, die das Lagebild abrundeten,jedenfalls wurde Foertsch ab sofort über Informationslie-ferungen nicht mehr in Kenntnis gesetzt. Das Untersu-chungsreferat präparierte eine Quellenakte speziell für denAbteilungsleiter 5, um ihm gegenüber den weiteren Ablauf

325

Page 327: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

verborgen zu halten. Diesen präparierten Ordner forderteer auch mehrmals an. Immer wieder arbeitete er die Akteakribisch durch.

Bemerkenswert ist, dass die Anfeindungen und Vor-würfe des Referatsleiters 13A in zeitlicher Nähe zu den ak-tuellen Abläufen im Fall Foertsch ihren Höhepunkt fan-den. Das hinterließ Spuren bei der Zusammenarbeit mitFreddy wie auch der Arbeit für den Dienst. Warum solltenwir für Informationen verantwortlich gemacht werden,die von unseren Quellen stammten? Der BND arbeitete imPrinzip nach altertümlichen Mustern. Schon damalswurde der Überbringer schlechter Nachrichten gehängtoder geköpft. Ähnliche Erfahrungen hatten wir bereits imZusammenhang mit der Operation »Spielball« sammelnkönnen. Und nun war es wieder so.

Eines Vormittags ging ich durch das Pullacher Camp.Ich kam vom Truppenarzt und näherte mich, an der Ost-mauer entlang schlendernd, der Rückseite des Hauses109. Mein Blick fiel auf die Fensterfront. Einige der Kol-legen wollten anscheinend eine Brise der frischen Früh-lingsluft in ihre Zimmer strömen lassen. Das Gebäude wurdevon der Sonne angestrahlt, die durch eine sich bereits grünfärbende Front von Bäumen lugte. Das Wetter war soherrlich, dass ich trotz der relativ kühlen Temperaturenfür einen Augenblick meine Sorgen vergaß.

Kurz bevor ich das Haus erreichte, schaute ich nochmalszu den Fenstern. Da sah ich einen Mann stehen, der michbeobachtete. Er hatte die Fäuste in die Hüften gestemmtund bewegte sich nicht. Sein Blick folgte mir, bis ich umdie Ecke in Richtung Haupteingang verschwand. Ich pas-sierte das alte Wachpostenzimmer, das schon seit Jahrennicht mehr besetzt war. Dann ging ich durch den langenGang, am Ende nach rechts. Nun stand ich vor der Glas-tür, durch die man in den Zwischenflur und ins Treppen-haus gelangte. Hier befand sich der Bereich von Ulbauer,

326

Page 328: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

der aber dahinter noch durch eine weitere Glastür ver-sperrt war. Im Treppenhaus gelangte man außerdem wei-ter nach oben in die anderen Unterabteilungen und Refe-rate der Abteilung 5.

Vor der ersten Tür blieb ich stehen und klingelte, wiegewohnt. Es dauerte eine Weile, bis jemand den langenWeg zur Glastür geschafft hatte, um dann den Türöffher zubetätigen. Während ich wartete und ins Innere des Hau-ses blickte, sah ich hinter der Mauerecke des Treppenauf-gangs zwei Fußspitzen über die unterste Stufe ragen. Dortstand also jemand. Ich konnte den Bereich nicht einsehen.Wenn die Tür summte und ich eintrat, würde ich die Per-son, zu der die Fußspitzen gehörten, erkennen können.Wer stand da? Und warum bewegte sich diese Personnicht? Mein Herz begann zu pochen. Keine Menschen-seele war zu sehen. Nach einer Weile, die mir wie eineEwigkeit vorgekommen war, drückte endlich eine Mitar-beiterin auf den Türöffner.

Dann schaute sie nach rechts zum Treppenaufgang undsah dort die Person stehen, von der ich bislang lediglichwusste, dass sie schwarze Herrenschuhe trug. Die Frauzuckte vor Schreck regelrecht zusammen, lächelte dann et-was gequält und nickte leicht, als wollte sie jemanden be-grüßen. Ich trat ein. Als ich mich der zweiten Glastür nä-herte, kam die mysteriöse Person einen Schritt nach unten.Ich erschrak.

Foertsch stand vor mir. Er trug ein dunkelblaues Hemd,hatte die Hemdsärmel umgeschlagen, die Krawatte gelöst,den oberen Hemdknopf geöffnet. Er atmete tief und schwerund schnaubte fast. Die dunklen Flecken unter den Ach-seln reichten beinahe bis zum Gürtel. Beide Hände warenleicht zur Faust geballt. Schweiß stand ihm auf der Stirn.Er durchbohrte mich mit einem finsteren Blick.

Einen kurzen Augenblick verharrte ich und quälte mirein leises »Guten Tag« heraus. Er blieb zunächst regungs-

327

Page 329: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

los stehen. Als die Kollegin die zweite Tür geöffnet hatte,zog sie mich förmlich herein und schloss hinter mir wiederab. Da drehte sich Foertsch um und ging wortlos wiedernach oben. Mein Herz raste. »Um Gottes willen, was wardas denn? Das sah ja beängstigend aus«, entfuhr es derKollegin, »der sah ja aus wie sein eigener Geist. Hat er et-was zu Ihnen gesagt?«

Kündigungsschreiben an den BND

Sofort erzählte ich Ulbauer von diesem Vorfall. Plötzlichwar mir auch klar geworden, dass ich hier nichts mehrverloren hatte. Gegen diesen Apparat würde ich den Kür-zeren ziehen. Nach einem langen, bierseligen Abend be-schlossen Freddy und ich, unsere Teamarbeit zu beenden.Am darauf folgenden Sonntag schrieb ich einen langenBrief an Ulbauer und Wilhelm. Wenn ich ihn heute wiederlese, wird mir die psychische Lage erst richtig klar, in dieuns einige Herren des BND gebracht hatten.

Ein Auszug aus dem Schreiben soll das verdeutlichen:

20. April 1997»Sehr geehrter Herr Wilhelm, sehr geehrter Herr Ulbauer,heute schreibe ich Ihnen nach der Parole:>Sie werden lachen - ich meine es ernst<[...]Deshalb muss ich Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, dassich beabsichtige, zunächst eine Urlaubspause von sechs Wo-chen einzulegen, mit dem Ziel, meine Arbeit für den Bundes-nachrichtendienst gänzlich zu beenden.Wie Sie wissen, bin ich Bundeswehroffizier und auf freiwil-liger Basis in meiner derzeitigen Tätigkeit. Diese Tätigkeitwerde ich unter den jetzigen Umständen nicht weiterfuhren.

328

Page 330: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

[,..]die Angriffe auf mich nehmen kein Ende und verstär-ken sich sogar noch. Und der Rufmord, der gegen michbetrieben wird, zeigt seine Wirkung. Mit dem, was HerrFoertsch und seine verwandtschaftliche Gefolgschaft be-treiben, will ich nichts mehr zu tun haben.Ich spüre das tiefe Misstrauen, das auf Grund [der] Kam-pagne gegen mich entstanden ist. Und ich kann das sogarverstehen. Aber ich werde dem einen Riegel vorschieben,indem ich den BND verlasse und mich damit der Ein-flussnahme einiger Herren entziehe.1. Trage ich Verantwortung gegenüber meiner Familie[...]2.Trage ich Verantwortung gegenüber meinem Kollegen

Freddy, der auf Grund der letzten Ereignisse, die eben-falls im Zusammenhang mit AL 5 stehen, mittlerweileschon gesundheitlich angeschlagen ist. Ich muss verhin-dern, dass ein derart anständiger und fleißiger Mitar-beiter, der sich mehr als bewährt hat, langsam zerstörtwird.

3. Und nicht zuletzt trage ich natürlich Verantwortung fürmeine Quellen und Beschaffungshelfer, die mir un-glaubliches Vertrauen entgegenbringen. Das Vertrauenist größtenteils nicht mehr gerechtfertigt, denn der Um-gang zum Beispiel mit den Klardaten der NDV »Eulen-spiegel« durch AL 5 und FüStl 13A ist einzigartig ver-antwortungslos.

Aber im Einzelnen[...][...]insbesondere bei zeitlichen Abläufen habe ich Treffenund Kontakte häufig viel später dokumentiert und in einpassendes Bild gebracht. Zwischen 1991 und 1995 habeich ungefähr 850 Treffen durchgeführt.[...] Ich werde mich für nichts aus dieser Zeit rechtferti-gen[...] Ich habe nie die Ziele und Belange des eigenenDienstes aus den Augen verloren und nur den Erfolg imVisier gehabt.[...]Durch diese Materialien wurde der Bundesnachrich-

329

Page 331: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

tendienst nach eigener Einschätzung, was die militärischeAufklärung der GVS-Staaten anbelangt, zum bestinfor-mierten Dienst der Welt.

Nürnberg - Operation >Spielball<:Ich habe durch mein pflichtgemäßes Verhalten zwar dieOperation >Spielball< mit ausgelöst, aber natürlich nichtverursacht. Das scheinen einige Verantwortliche verwech-selt zu haben ... Denn das war und ist meine Interpretationvon Loyalität, und wie ich weiß, teilen Sie dieses Ver-ständnis. Bedauerlicherweise haben meine Vorgesetztenvon damals eine andere Einstellung zu den Dingen. Na-türlich war es für die betroffenen Chefs eine unangenehmeSituation. Aber anstatt sich der Verantwortung zu stellen,passierte [...] wurde vernebelt, vertuscht [...][...] Der FüStl 13A gab mir schon damals Ratschläge wie>Sie dürfen nicht immer gegen den Strom Schwimmernoder >Don't fight against the system<. Diese perverse Ein-stellung zu Loyalität und Verantwortung werde ich mirnie zu Eigen machen. Alle, die mich kennen und mir un-voreingenommen gegenübertreten, wissen, dass ich demGanzen gegenüber loyal bin. Und zwar leidenschaftlichund engagiert.Aber mit diesem Engagement ist jetzt Schluss. Ich lassemich nicht als >Nestbeschmutzer< abstempeln. Es steht mirvielleicht nicht zu, eine bestimmte Führungsebene desDienstes zu kritisieren. Ich werde aber nie die Wahrheitverschweigen, nur aus einem unkritischen Opportunismusheraus. Das mache ich nicht mit[...]

Grundsätzlich:Es ist meine Überzeugung, dass es saubere ND-Arbeitgibt. Entscheidend dafür ist der Umgang mit Menschen,und damit meine ich sowohl uns Mitarbeiter als auch dieQuellen selbst.

330

Page 332: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Ich habe mir selbst bewiesen, dass das geht. Inwieweit un-sere Zuträger sauber und ehrlich sind, bleibt immer einespannende Frage ...Es war vielmehr die Arbeit bei 13A,die sich für mich in weiten Teilen als schmutzig und intri-gant erwiesen hat... Ich will hier nur meinen NürnbergerChef zitieren, der vorschlug, einen Op-Kurier, der die Ab-sicht hatte aufzuhören, bei der Polizei zwangsweise vor-führen zu lassen. Sei's drum.Mir ist klar, dass ich Unruhe gestiftet habe. Aber ich musstedie Dinge so nehmen, wie sie kamen. Das hatte ich vonmeiner Führung auch erwartet. Dem war leider nicht so ...[...] Man kann natürlich über meine Vorgehensweise strei-ten. Die allgemeine Situation und alle Angriffe der bekann-ten Personen haben mich verunsichert. Aber ich musstedas Gespräch suchen, weil ich die Fakten als sehr wichtigeinschätze. Die Reaktionen darauf wundern mich indesgar nicht mehr. Dennoch werden diese Personen akzep-tieren müssen, dass ich nicht wie das Kaninchen vor derSchlange sitzend abwarte.

Mit freundlichen Grüßenund bleiben Sie heiter auf verlorenem Posten

Kritischer Gesundheitszustand

Unser nächster Schritt war ein gemeinsamer Besuch beimArzt. Dabei handelte es sich beileibe nicht um irgendeinenMediziner, sondern um den ehemaligen Oberfeldarzt imPullacher BND-Camp. Auch er war vor einiger Zeit beiden Dienstoberen in Ungnade gefallen und hatte sich inseine kleine Praxis im Süden von München zurückgezo-gen. Die Ursache waren tiefgreifende Meinungsverschie-

331

Page 333: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

denheiten gewesen. Für den Doc kam eben zuerst derMensch und dann die Arbeit. Beim BND lief es häufig um-gekehrt. Bestimmten Führungskräften war der Menschvöllig unwichtig und nur Mittel zum Zweck. Man liebteden Verrat, aber hasste den Verräter. Man schätzte dieMitarbeit, aber verachtete die Mitarbeiter.

Hier war also schon der erste grundsätzliche Webfehlerzu erkennen. Der zweite bestand darin, dass die Interessendes Dienstes und die Verschwiegenheit und Fürsorge desArztes nicht miteinander vereinbar waren. Der BND er-wartete hier etwas ganz anderes, nämlich Indiskretion undInstrumentalisierung. Dazu war unser Oberfeldarzt nie be-reit gewesen. Er ließ seine Arbeit keineswegs missbrau-chen. Aufopferungsvoll kümmerte er sich um die Mitar-beiter des Dienstes und ihre Angehörigen. Die Patientenkonnten offen mit ihm sprechen und brauchten dabeinicht um die eigenen Beschäftigungsverhältnisse oder diedes Ehepartners herumeiern. Außerdem blieben Krank-heitsursachen, die nicht selten auf dienstinterne Problemezurückzuführen waren, sozusagen in der Familie.

Über die Jahre hinweg hatte er sich immer wieder be-harrlich geweigert, kleinere und größere Schweinereienmitzumachen. Also wurde er gemobbt, was das Zeughielt. Man überzog den weithin geachteten Mediziner miteiner Flut von Disziplinarverfahren und lancierte sogar einErmittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft. Selbstver-ständlich endete immer alles zu seinen Gunsten.

Als der Doc uns sah, gefror sein Lachen zu Eis: »MeinGott, wie schauen Sie denn aus? Wer hat Sie denn so zuge-richtet?« Gemeinsam berichteten wir über die vergangenenJahre und das Erlebte. Dann begann eine intensive medizi-nische Untersuchung, die alles umfasste, was in einer gutenArztpraxis möglich ist. Es stellte sich heraus, dass der Ge-samtzustand sowohl bei Freddy als auch bei mir wesentlichschlechter war, als wir es uns selbst eingestanden hatten.

332

Page 334: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Beim Abschlussgespräch war der Doc sehr ernst, aberzugleich freundschaftlich verbindlich: »Also Norbert,seien Sie mir nicht böse, wenn ich es Ihnen so salopp sage,aber Sie sind völlig fertig. Da müssen wir jetzt was ma-chen. So geht das nicht weiter. Jetzt ist wirklich Schluss.Sie haben Familie, und dafür tragen Sie auch Verantwor-tung. Ich sage das jetzt als alter Stabsarzt zu Ihnen. DieserVerantwortung müssen Sie gerecht werden. Wenn Siebeide so weitermachen, dann leben Sie nicht mehr lange.«

Der Doc riet mir dringend zu psychologischer undpsychotherapeutischer Behandlung. Er füllte sofort eineÜberweisung zu einem renommierten Professor aus undtelefonierte mit ihm, um für den nächsten Morgen einenTermin zu vereinbaren. »Wir kriegen das alles wieder inden Griff«, versicherte er mir und drückte kräftig meineHand. Plötzlich fiel die ganze Last von mir ab. Ich fing an,bitterlich zu weinen. Endlich war da jemand, der sich ummich kümmerte, ohne etwas von mir zu wollen. Ulbauerund seine Leute von der Sicherheit behandelten uns keines-falls schlecht. Aber sie brauchten mich und die Quellen,und so war immer ein gewisser Druck zu spüren.

Wir fuhren zurück zum Waldhotel Buchenhain, umeinen langen, ärztlich verordneten Isarspaziergang anzu-treten. Ein letztes Mal trällerten Heinz Rühmann undHans Albers von der Tonkonserve: »Wer hinterm Ofensitzt und die Zeit wenig nützt...« Mitten im Lied drückteFreddy, der am Steuer saß, den Knopf und holte die Kas-sette heraus. Er gab sie mir. Auf der hohen Isarbrücke beiHöllriegelskreuth fuhr er rechts ran und stieg aus. Wirstellten uns beide an das Brückengeländer und blicktennach unten auf den Fluss. Dann warf ich die Kassette inhohem Bogen in die Isar. Wir beobachteten das Plastikteil,das wie ein Herbstblatt im Wind langsam nach unten se-gelte, bis es verschwunden war.

333

Page 335: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Show-down imBundeskanzleramt

Beim BND war in der Zwischenzeit mein Kündigungs-schreiben eingegangen. Ulbauer hatte den Ernst der Lageerkannt und Olgauer eingeschaltet, der zu dieser Zeit des-sen direkter Vorgesetzter in der Sicherheit war. Der kamdann - nachdem wir uns strikt geweigert hatten, das Pul-lacher Camp zu betreten - zusammen mit dem UAL 52Wilhelm in den Landgasthof Buchenhain. Bei einem gemein-samen Spaziergang gingen wir alle Punkte noch einmaldurch. Am Ende glich es mehr einem Verhör als einer Plau-derstunde.

Eines wurde ganz schnell deutlich. Unsere Vorgesetztenwollten Klarheit über den Quellenhintergrund von »Rü-bezahl«. Wir standen unter erheblichem Druck. Natürlichhatten wir personelle Details, Treffdaten und so weiterverdreht, doch die Motive dafür lagen ganz klar auf derHand. Nun war der Moment gekommen, an dem alle Fak-ten auf den Tisch gelegt werden mussten. Ich schilderteOlgauer und dem Sicherheitsbeauftragten des BND, anwelchen Stellen wir die Identität der Quellen verschleierthatten. Was ich aber auch bei dieser Gelegenheit nicht ver-riet, waren die Klarnamen.

Am Ende des Rundgangs legte mir Olgauer seine Handauf die Schulter und sprach die »Absolution«: »Jetzt ha-ben Sie gewonnen. Ich vertraue Ihnen.« Anscheinend hatteer vorher schon Bruchstücke erfahren und mich damit ge-testet. Nun gab es aber keinen Grund mehr, etwas zu ver-schweigen, denn wir hatten die Endphase unserer Zusam-

334

Page 336: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

menarbeit erreicht. »Herr Oberst«, sagte ich zu ihm, »wennwir nicht so gehandelt hätten, dann säßen unsere Leutelängst im Bau.«

Im Gegenzug bat er mich weiterzumachen. Um der Sa-che willen. Mir kam das alles sehr bekannt vor, und 01-gauer merkte rasch, dass seine Argumente nicht zogen.Also bediente er sich einer Schwachstelle von mir, die erbesser unbeachtet gelassen hätte. Er lenkte das Gesprächauf meine Bundeswehrzeit und auf die Fallschirmjäger-ausbildung. »Bei wem haben Sie Ihre Luftlandeausbildunggemacht?« - »Bei Major Morscheid«, antwortete ichknapp. Olgauer, der selbst Luftlandeoffizier mit umfang-reicher Sprungausbildung war, kannte den Major von frü-her und erzählte ein wenig von dieser Zeit. Wieder legte ereine Hand auf meine Schulter: »Mann! Wir haben da min-destens einen Verräter in Pullach. Wer es ist, wissen wirnicht. Aber wir müssen es verdammt noch mal herausbe-kommen. Dazu brauchen wir Sie und die Quellen. Wirbeiden alten Luftlander werden doch wohl herauskriegen,wer das Schwein ist.«

Jetzt hatte er mich bei meiner Fallschirmjägerehre ge-packt. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein Fall-schirmjäger den anderen nicht hängen lässt. Dieser Eh-renkodex wird zumindest von den »Alten« noch sehr ernstgenommen. Was tun? Ich bat um Bedenkzeit bis zum nächs-ten Morgen. Dann wollte ich ihn meine Entscheidungdurch Ulbauer wissen lassen. Es wurde ein langer Abendim Buchenhain, bis die endgültige Entscheidung fiel. Wasimmer ich noch unternahm, es sollte ohne Freddy sein.Allerdings wollte er mir bei meinem Schreibkram helfen.

Wir beschlossen, weiter in engem Kontakt zu bleiben,um jeden Schritt gemeinsam überlegen zu können. Einesmussten wir auf alle Fälle noch gemeinsam tun, nämlichunsere Quellen eindringlich warnen. Wie lange unser pa-pierenes Schutzschild noch Bestand haben würde, das

335

Page 337: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

konnten wir nämlich nicht voraussagen. Wir mussten siealle treffen, und zwar schnell. Dafür waren einige außer-planmäßige Reisen erforderlich, von denen im Camp nie-mand etwas erfahren durfte. Die erforderlichen Maßnah-men mussten also auf eigene Kosten geschehen.

Mit »Eulenspiegel« gab es ohnehin schon ernste Pro-bleme. Er hatte sich Hilfe suchend an mich gewandt. Da-bei ging es keineswegs um seine Situation zu Hause,sondern um Schwierigkeiten mit seinen neuen Verbin-dungsführern.

Trauerspiel um »Eulenspiegel«

Zwei Monate vorher hatte alles begonnen. Im Februar 1997sollte »Eule« an einen anderen Betreuer abgegeben wer-den. Nach der Pleite mit Schöner, unserem ehemaligenNürnberger Chef, der jetzt Sachgebietsleiter von 13 A warund der versucht hatte, »Eulenspiegel« hinter unseremRücken abzuwerben, brachte Herle nun den Verbin-dungsführer Detlev Schuster ins Spiel, der bereits »Lilien-thal« übernommen hatte. Schuster war nach Berlin gereist,um »Eulenspiegel« zu treffen. Diesmal wollten wir unsaber nicht wieder über den Tisch ziehen lassen. Also or-ganisierten wir zuerst eine intensive Vorbesprechung mit»Eulenspiegel«.

Ich war grundsätzlich bereit, diese Quelle zu übergeben,aber nur, wenn sie weiterhin unter anständigen Voraus-setzungen geführt würde. Nach der ersten Runde mit»Eule« trafen wir Schuster. Der Kollege nahm den Mundordentlich voll, sprach von seinen großen Erfahrungen.Diese Art von Selbstbeweihräucherung kam mir irgend-wie bekannt vor. Schuster war ein Paradeexemplar des

336

Page 338: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

klassischen BND-Verbindungsführer, wie man sie öfter inHerles Umfeld traf. Der Kabarettist Werner Finck hat maleinen Satz geprägt, der mir immer einfällt, wenn ich aufähnlich strukturierte Menschen treffe: » Gedanken! Wirmachen uns keine Gedanken! Und wenn uns welche kom-men, dann finden wir uns damit ab! Aber dass wir unswelche machen sollten, welch ein Gedanke!«

Mit Schuster saßen wir im Hotel Schweizerhof, gegen-über vom Berliner Zoo. Freddy rollte mit den Augen, alser das Profigeschwätz von Schuster hörte. Diesem Hob-byagenten versuchte ich nun meine Philosophie von derFührung einer menschlichen Quelle näher zu bringen. Erverstand alles und bejahte alles, und dabei nickte er fort-während. Wir hatten sehr schnell den Eindruck, dass seinzustimmendes Gehabe nur dem Zweck diente, uns ruhigzu stellen. Ein Idiot, dachte ich mir. Wenn »Eule« mit ihmarbeiten wollte, meinetwegen. Diese Quelle war einfachzu wertvoll, um sie gedankenlos abzuschalten.

Wir vereinbarten einen gemeinsamen Treff und begabenuns - ein Observationsteam aus München im Schlepptau -zum mehrere Straßen entfernten Hotel Sylter Hof. Zuvorhatten wir Schuster erzählt, »Eule« würde hier wohnen,so dass es dem neuen Verbindungsführer selbstverständ-lich erscheinen musste, die Quelle hier zu treffen. Nachdem ersten Gespräch mit Schuster bat sich der russischeInformant einige Stunden Bedenkzeit aus. Ich schleuste ihnwieder durch den Hinterausgang aus dem Sylter Hof undwir gingen dann in sein Hotel.

Freddy beschäftigte inzwischen die Observation, wasihm große Freude bereitete. Erst schleifte er sie durch dasKaDeWe und andere Kaufhäuser am Kudamm, um dann ineiner öffentlichen Toilette so lange zu warten, bis von außeneine Stimme zu hören war, die jemand anderen fragte, ob»er« noch drinnen sei. Mein Partner spazierte zum Hände-waschen und teilte es den Observationsleuten direkt mit:

387

Page 339: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Ja, der Freddy ist noch drin.« Lachend verließ er die Toi-lette.

Nachdenklich blickte mich »Eule« an: »Was denkst du?«Ich zuckte mit den Schultern. »Überleg dir, was du machenwillst. Bisher weiß keiner, wer du wirklich bist. Also kanndich auch niemand unter Druck setzen. Du kannst also je-derzeit aufhören, wenn du willst. Aber es wäre schade.Vielleicht versuchst du es trotzdem mal.« Er seufzte tief:»Oh ha! Das ist ein Spaß! Hast du gesehen, da war nocheiner in der Lobby. Was sind das für Leute, fangen gleichbeim ersten Mal mit Indianerspielen an?« Ich hatte demnichts entgegenzusetzen, konnte mich nur für meine Kol-legen entschuldigen.

Am Abend trafen wir uns im »Bacco«, einem italieni-schen Restaurant in der Marburger Straße. »Eule« hattesich das gewünscht, weil wir dort schon häufig gewesenwaren. Uns war das recht. Das »Bacco« lag zentral undwar auch immer ausgebucht. So konnten wir uns vor dem»Schuster-Anhang« sicher fühlen und in Ruhe essen.Schuster selbst sagten wir erst fünf Minuten vorher, wo-hin wir gehen würden. Als wir das Lokal betraten, fiel ihmein, dass er noch ein wichtiges Telefonat vergessen hatte,und er ging kurz raus, um es nachzuholen. Der Mann warsichtlich deplaziert. Zwei Jahre später sollte er beim LKAMünchen folgenden Eindruck von diesem Treff zu Proto-koll geben:

»Es kam dann am Abend zur endgültigen Übergabe ineinem Speiserestaurant in Berlin. Dieses von den alten VFausgewählte Restaurant war nach den Grundsätzen einerÜbergabe denkbar ungeeignet (sehr klein, geringe Tisch-abstände, Tischnachbarn konnten jedes Gespräch mithö-ren). Ich nahm diese Konstellation als Hintergrund, umdie Quelle am Morgen des nächsten Tages noch einmal al-leine treffen zu können und ihm dann gewisse Details (Te-lefonverbindungen) mitteilen zu können und auch seine fi-

338

Page 340: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

nanziellen Forderungen zu diesem Zeitpunkt zu beglei-chen.

Bei dem Zusammentreffen am nächsten Morgen er-schien mir >Eulenspiegel< sehr müde. Auf mein Nachfra-gen hin gab er an, nach unserer Trennung am Abend vor-her noch mit den alten VF Abschied gefeiert zu haben. Daswar nach meinem Dafürhalten entgegen den Grundsätzennachrichtendienstlicher Arbeit. Ich übergab >Eulenspiegel<sein Geld und meine telefonische Erreichbarkeit.«

Heute bin ich sehr dankbar für Schusters Ausführungen.Sie zeigen bildhaft, dass sich meine Arbeitsphilosophie vonder allzuoft vom BND praktizierten grundsätzlich unter-schied. Schon dieser kurze Auszug belegt den überheblichenund herablassenden Umgang mit Quellen. Natürlich hat-ten wir uns am Abend zuvor mit »Eule« zusammengesetzt.Er war allein in Berlin und mittlerweile ein guter Freundgeworden. Wir unterhielten uns über die Kinder, derenWehwehchen und darüber, wie es so in der Schule lief. Daspersönliche Verhältnis zu »Eule« hatte Schuster bereitsbeim Essen gestört, und er machte nicht den Eindruck,dass er sich wohlfühlte. Offensichtlich hatte er sich auf einrhetorisches Feuerwerk eingestellt, in dessen Verlauf er»Eulenspiegel« über seine eigenen Fähigkeiten als Verbin-dungsführer und alle seine Verdienste aufklären wollte.

Daraus war nun nichts geworden. Nicht einmal ein klei-nes Tischfeuerwerk hatten wir zugelassen. Schuster musstebrav sein Carpaccio runterlöffeln. Dabei war er nicht inder Lage, sich wie ein normaler Mensch mit diesem Rus-sen zu unterhalten. Keiner an unserem Tisch brauchtediese Protzerei. »Eule« war die beste Quelle des ganzenDienstes - nicht zuletzt, weil wir so natürlich miteinanderumgingen. »Eule« wusste selbst, was er wert war. Er be-nötigte kein salbungsvolles Gelaber. Für ihn war es wich-tiger, dass wir ganz kurzfristig eine Duplo-Eisenbahn fürseinen Sohn beschafften, weil er sie ihm versprochen hatte.

339

Page 341: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Er wollte mit Freunden sitzen, Wein trinken, Witze erzäh-len und der einen oder anderen schönen Frau hinterher-schauen. Manchmal hatte er sogar Lust, sich zu betrinken.

Schuster wollte auftragsgemäß eine »Sache« übernehmen.Uns ging es darum, einen »Menschen«, der unserem Landdiente, in vertrauensvolle Hände zu geben. Gerade weil ersich so bemühte, weil er sein Leben aufs Spiel setzte, hatteer Anspruch auf besondere Umsicht und Fürsorge. Ausseinem Selbstverständnis heraus hatte Schuster schonRecht mit seiner Anmerkung, unser Verhalten widerspre-che den Grundsätzen nachrichtendienstlicher Arbeit.

Schuster schien tatsächlich der Meinung zu sein, er hätte»Eule« mit 20 000 Mark gekauft. In der Tat stimmte derInformant am nächsten Morgen einer weiteren Mitarbeitzu, knüpfte das aber an die Bedingung, dass ich beim nächs-ten Treff noch einmal dabei sein würde, um möglicher-weise offene Fragen zu klären. Gesagt, getan. Der Folge-treff wurde für April 1997 vereinbart. Schuster versprach,Freddy und mich zu benachrichtigen, sobald sich »Eulen-spiegel« meldete.

Im April rief mich »Eule« an. Er sei in Berlin, und ob ichfür ihn Zeit hätte. Ich machte mich sofort auf den Weg zuihm. Wir trafen uns in der Nähe von Neuruppin. AmAbend teilte er mir mit, dass er sich wegen »Günther« (sohatte sich Schuster vorgestellt) den Kopf zerbrechenwürde. Ich riet ihm, es mit dem neuen Verbindungsführerwenigstens zu versuchen. Zu dem Treffen in Hamburgwürde ich ihn auch begleiten.

Am nächsten Montag saßen »Eule« und ich in meinemDienstwagen. Wir rollten auf der Autobahn in RichtungWittstock. Bei Herzsprung fuhren wir auf einen Parkplatz.Mein Gast nahm das Handy und wählte die Nummer von»Günther«. Der Mann war sofort am Apparat. »Eulen-spiegel« meldete sich artig und sagte, er sei auf dem Wegnach Hamburg. Schuster, hocherfreut, nannte ihm sein Ho-

340

Page 342: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

tel. »Eulenspiegel« fragte nach: »Was ist mit Horst?« Dar-auf Schuster: »Ach, den brauchen wir doch nicht. Wir kom-men doch auch alleine gut aus.« »Eule« hakte nach undwurde laut: »Wir haben eine Vereinbarung. Horst hat nochnie sein Versprechen gebrochen. Wann kommt er zu unse-rem Treffen?«

»Naja, da ist ein Problem«, hörte ich Schuster stottern,»der ist krank, kann nicht, hat Schwierigkeiten zu kom-men.« »Eule« wollte es genau wissen: »Wie krank? Washeißt krank? Was ist mit ihm?« Schuster kam ins Schwim-men: »Er liegt im Bett. Unmöglich, dass er kommt. Aberich soll Sie von ihm schön grüßen.« »Eulenspiegel« schal-tete das Handy ab und warf es in hohem Bogen nach hin-ten, so dass es auf die Hutablage knallte. Dann raunzte ermich an: »Na los, leg dich hin, du bist krank.«

Er zog meinen Tränensack leicht nach unten. »Aha, halbtot dieser Mensch. Eine Langspielplatte würde ich mir andeiner Stelle nicht mehr kaufen, und eine Monatskarteschon gar nicht.« Dann stieg er aus, verschränkte seineHände auf dem Dach meines Opel Vectra, stützte sein Kinndarauf und schimpfte. »Was sind das nur für kopfloseMenschen. Sag mir das bitte! In Berlin beginnt er unsereZusammenarbeit mit einer Observation, und jetzt lügt ermich an. Los, lass uns nach Hamburg fahren, dann hauich ihm eine auf die Schnauze. Danach lade ich dich in dieSchifferbörse ein, und nachher wollen wir von diesenHohlköpfen nichts mehr sehen und hören.«

Als er sich wieder beruhigt hatte, besprachen wir das wei-tere Vorgehen. Immerhin wollten wir wissen, was Schusterim Schilde führte. Ich hatte noch etwa 100 Geheimdoku-mente auf dem Film, die ein Kurier geliefert hatte. Sie wa-ren von der Auswertung als herausragend begutachtet wor-den. Wir hatten dieses Material aber noch nicht in Umlaufgeben können, weil die Übersetzerkapazitäten bei weitemnicht reichten. Die Auswerter in Pullach hatten sich zwar

341

Page 343: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Notizen gemacht, warteten aber noch auf den komplettenSchwung an Dokumenten. Nun gab ich »Eule« das ge-samte Filmpaket zurück und sagte, er solle es abgeben. Dasbringe ihm wenigstens noch etwas Geld.

Um es vorwegzunehmen: »Eule« überreichte das Mate-rial an Schuster. Als dieser später vom LKA Bayern ver-nommen wurde, fällte er ein vernichtendes Urteil; »Ge-meinsam führten wir dann zum ersten Mal Gespräche mitnachrichtendienstlichen Inhalten, deren Ergebnisse jedochrelativ dürftig waren. Immerhin war diese Quelle alshochrangig eingestuft worden.« Relativ dürftig? Warendas nicht entlarvende Worte, die in einer gewissen Traditionstanden? Herle hatte von »abgeschriebenen Zeitungsarti-keln« gesprochen. Zufall? Für mich hatte das Methode.Nur warum, das blieb im Unklaren.

Aber weiter in der Chronologie: Ich war natürlich neu-gierig zu sehen, wie die wahren Profis arbeiteten. Deshalbsah ich mir das aus der Nähe an. Ich hatte »Eule« ver-sprochen, in Reichweite zu bleiben. Was ich dann erlebte,war eine echte 007-Nummer. Die Herren aus Pullach ga-ben sich extrem konspirativ. Mit fliederfarbenen, neuen7er BMWs holten sie den Informanten von der Raststätte»Harburger Berge« ab. Dort hatte er mit dem Taxi anrei-sen müssen. Dann ging es erst einmal einige Zeit über dieAutobahn.

Schuster war nicht allein mit einem Stellvertreter, son-dern gleich mit einem ganzen Observationsstab auf Tour.Ein Treff mit der Topquelle durfte richtig etwas kosten. Sie»schüttelten«, wie es in der ND-Sprache heißt, wie derTeufel. Dafür fuhren sie so lange im Kreis herum, bis siefast wieder dort angekommen waren, wo die Reise be-gonnen hatte. Sie scheuten keine »Special effects« undbauten sogar eine Fähre in ihr Programm ein. Dass »Eule«bei der Rundreise stinksauer wurde, störte nicht weiter,um ihn ging es nur am Rande.

342

Page 344: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Eulenspiegel« war von dem ganzen Zinnober nur mä-ßig beeindruckt. Das Imponiergehabe schreckte ihn ab. Alsdie Beschützer vom BND dann seine Sachen durchstöber-ten, während er im Hotelpool einige Runden schwamm,war seine Geduld endgültig aufgebraucht. Er rief mich anund berichtete empört, dass meine Nachfolger versuchthätten, ihn heimlich im Hallenbad zu filmen und dass sieseine Sachen durchwühlt hätten. Dann wollte er wissen,wie er am schnellsten unbemerkt wegkäme. Ich versuchte,ihn zu beruhigen. Am nächsten Tag packte »Eulenspiegel«seine Sachen und setzte sich in einen Zug Richtung Han-nover. Er befand sich regelrecht auf der Flucht. Am Tele-fon berichtete er von einem ganzen Tross Observanten,den er in seinem Schlepptau hatte.

Mit lautem Quietschen hielt der Zug im Hauptbahnhofvon Hannover. Die Türen öffneten sich, Menschen stiegenein und aus. »Eule« wartete noch einen Augenblick. Bevorder Zug sich wieder in Bewegung setzte, nahm er sein Ge-päck unter den Arm und sprang auf den Bahnsteig. Nurein Teil der Observationstruppe konnte noch reagieren.Die meisten seiner Verfolger mussten hilflos zusehen, wieer zurückblieb.

»Eule« folgte meiner Anweisung. Er verstaute seine Ta-schen in einem Schließfach. Dann ging er in die »GalerieLuise«, eine Nobeleinkaufspassage im Zentrum der Stadt,die nur einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt war. Dorttraf ich ihn im »Mövenpick«-Restaurant. Er kannte es be-reits von einem früheren Treffen. Wir tauschten Schließ-fachschlüssel gegen Autoschlüssel. »Eule« setzte sich inden Leihwagen, der im Untergeschoss auf ihn wartete, undfuhr zu einem Hotel außerhalb von Hannover. Ich folgtemit seinem Gepäck.

Als wir uns am Abend trafen, war er immer noch auf-gebracht. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ihn beruhigthatte. Wir konnten uns beide keinen Reim darauf machen,

343

Page 345: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

was die anderen mit diesem Geheimdienst-Zirkus bezweckthatten, und gaben es irgendwann auf, darüber zu speku-lieren. Dann verbrachten wir einige gemeinsame Tage.

Mit Freddy besprach ich den weiteren Umgang mit »Eu-lenspiegel«. Wir konnten nicht erkennen, dass die Weiter-führung der Quelle durch Schuster eine echte Perspektivebot, und trotzdem sollte der Neue noch einmal eine Chanceerhalten. »Eule« traf Schuster bei zwei weiteren Gelegen-heiten, einmal in Ungarn und einmal in der Türkei. SeinFrust steigerte sich zunehmend. Also beschlossen wir, dieQuelle abzuschalten. Bei seiner Werbung hatte sich keinerum uns gekümmert, also war uns auch jetzt das Interessedes Dienstes egal. Als Mensch war uns »Eule« wichtiger.Ende 1997 kappten wir die Leine.

Bei 13A hingegen spekulierten die Fachleute wild über einemögliche Übersteuerung und Fremdlenkung unserer Quelledurch den russischen Geheimdienst. Sie analysierten undmutmaßten wilde nachrichtendienstliche Verstrickungenund konnten einfach nicht verstehen, dass dieser Mann einevon Misstrauen beherrschte Arbeitsbasis nicht vertrug. InWahrheit wäre die Sache wirklich ganz einfach gewesen.

Ein Abteilungsleiter unterschwerstem Verdacht

Im Sommer 1997 kam es zu einem erneuten Treffen mit»Rübezahl« in Warschau. Zu diesem Zeitpunkt hatten sichdie Verdachtsmomente gegen den Abteilungsleiter Foertschbereits so weit erhärtet, dass mir angst und bange wurde.Bereits einige Zeit zuvor war sein Name im Zusammen-hang mit einer möglichen Quelle für einen russischenNachrichtendienst gefallen. Was sollte ich aber mit so einer

344

Page 346: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

brisanten Information ohne stichhaltige Beweise anfangen?Ich ging damit viele Wochen schwanger und war einiger-maßen ratlos. Nun kam die Information aber auch vonder Topquelle »Rübezahl«, die bisher immer ausgezeich-net und wahrheitsgemäß gearbeitet hatte. Zudem merkteich, dass »Rübe« langsam in Deckung ging, weil ihm seineigener Erkenntnisstand tiefste Sorgen bereitete.

Von ihm war ja unter anderem auch die so genannteStellvertretermeldung gekommen. Er hatte erzählt, dassder erste Vertreter des FSB vom fünften Stellvertreter desBND Informationen erhalten würde. In langen Diskussio-nen mit Freddy versuchte ich zu ergründen, was - außerLandesverrat - möglicherweise dahinter stecken könnte.Wir entwickelten mehrere Ideen. Das eine oder anderewirkte vielleicht sehr konstruiert und phantasievoll, abereigentlich suchten wir eine möglichst harmlose Begrün-dung für diese Vorwürfe.

Foertsch hatte, nach unseren Informationen, ganz offi-zielle Kontakte zum FSB. Daher fragten wir uns: Könntees sein, dass sich der Moskauer Gesprächspartner mit sei-nem deutschen Kollegen gebrüstet und aus offiziellen Ge-sprächen eine Quellenführung konstruiert hat?

Vielleicht gab es in den Verträgen zur deutschen Wieder-vereinigung geheime Vereinbarungen, wonach man sichgegenseitig nicht mehr wehtun wollte und sich deshalbaustauschte. Foertsch, als Freund des BND-Aufsehers undStaatsministers im Bundeskanzleramt, Bernd Schmidbauer,wäre in so einem Fall sicherlich die erste Adresse gewesen.

Gegen diese beiden Denkmodelle sprachen manche Hin-weise und Erkenntnisse. Vor allem wirkte Foertsch auf unswie jemand, der versuchte, das Geschehene zu vertuschen.

Wir zogen auch eine dritte Variante in Betracht - einegezielte Desinformation durch den FSB, um Foertsch zubelasten. Auch in dieser Hinsicht gab es wieder zwei Mög-lichkeiten. Entweder man belastete ihn, weil man ihm und

345

Page 347: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

dem BND schaden wollte. Schließlich hatten wir dem Os-ten durch Maulwürfe wie »Münchhausen« oder »Eulen-spiegel« auch schwer geschadet. Oder der FSB befürchtetedie Enttarnung des eigenen Agenten Foertsch und wolltedieser mit konstruierten Beschuldigungen zuvorkommen,die sich später als falsch herausstellen würden. Ein Ver-fahren, dass der russische ND in der Vergangenheit schonmit Erfolg angewandt hatte.

Wir wälzten das Problem hin und her. Was sollten wirtun? Einfach weghören? Nichts sagen? Ich wollte nichtnoch einmal der Überbringer der schlechten Nachrichtsein. Da kam mir eine Idee: Beim nächsten Treffen solltemir »Rübezahl« einfach seine Informationen auf Bandsprechen.

Am 29. Juni 1997 flog ich deshalb nach Warschau. Da ichmeine Zusammenarbeit mit Freddy beendet hatte, gabenmir meine Chefs einen Mitarbeiter der Unterabteilung Si-cherheit zur Unterstützung mit auf die Reise. Mit ihm trafich mich in Frankfurt. Von dort flogen wir dann mit derLufthansa. Wir hatten beschlossen, vorerst getrennt auf-zutreten, um uns gegenseitig besser helfen zu können. Be-reits bei der Ankunft in Warschau vermisste ich den Kol-legen. Nachdem ich im Hotel eingecheckt hatte, setzte ichmich in die Halle und wartete auf ihn.

Mein neuer Partner kam auch bald und ging zur Rezep-tion. Dort entstand Unruhe und sogar Aufregung. Errannte von einem Hotelbediensteten zum anderen und ges-tikulierte wie wild umher. Dann verließ er das Hotel, nahmein Taxi und fuhr weg. Nach einer Stunde tauchte er wie-der auf, offensichtlich ohne mich wahrzunehmen. Als erallein in den Fahrstuhl stieg, ging ich hinterher. »Was istlos?«, fragte ich ihn. »Ich musste erst einmal ins Kranken-haus fahren.« Ich erschrak. »Was, um Gottes willen, ist pas-siert?«

»Ich habe Ohrensausen«, sagte er knapp. Vermutlich sah

346

Page 348: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ich jetzt wie jemand aus, dem man einen Genickschlagverpasst hatte. »Ohrensausen, du hattest Ohrensausen?Und deshalb bist du ins Krankenhaus? Klar, logisch. Würdeich auch machen. Ich gehe immer ins Krankenhaus, wennich Ohrensausen habe.« Die Tür öffnete sich, und er ent-schwand mit dem Hinweis auf seine Zimmernummer. Wieangewurzelt stand ich im Aufzug. Ich war so verdattert,dass ich einfach vergaß, auszusteigen. Ohrensausen, Oh-rensausen hatte er gesagt.

In meinem Zimmer ließ ich mich in einen Sessel fallen.Anschließend öffnete ich eine Flasche Bier und nipptedaran. Nie zuvor hatte ich während des Tages Alkohol ge-trunken. Aber das war zu viel. Wo ist Freddy, dachte ich,ich will sofort Freddy zurückhaben. Wie sich später he-rausstellte, hatte mein Begleiter bei der Landung in War-schau Probleme mit dem Druckausgleich gehabt. Dashatte ihn so beunruhigt, dass es ihn nach ärztlicher Hilfedrängte. Zum Vergleich: Ich selbst hatte mir vor der Reisenach Warschau beim Sport eine schwere Muskelverlet-zung zugezogen, konnte kaum laufen, und war dann nochdrei Monate lang dienstunfähig geschrieben. Und dieserneue Kollege ging dagegen mit Ohrensausen zum Arzt undführte sich auf, als habe er nur noch kurze Zeit zu leben.

Gegen 20 Uhr kam »Rübezahl« ins Hotel. Er hatte Ge-heimdokumente fotografiert und brachte verschiedeneEinzelinformationen zu unseren aktuellen Fällen. Wie ge-plant, bat ich ihn, alles auf Tonband zu sprechen. Datippte er mir gegen die Stirn: »Du bist ja wohl völlig ver-rückt geworden. Da kann ich mir ja gleich einen Stricknehmen. Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Er hattesich, wie gewohnt, auf einem Zettel in seiner Sprache No-tizen gemacht. Aber auch den wollte er nicht aus der Handgeben. »Schreib alles auf, ich diktiere es dir«, sagte er. Daich Verständnis für seine Situation hatte, nahm ich das alsgegeben hin. Schließlich gab er mir dann doch noch seine

347

Page 349: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Zettel. Nun hatte ich zwei Informationen, »Rübezahls«Notizen und meine von ihm übersetzten Aufzeichnungen.

Ich zahlte »Rübezahl« Geld aus, das er noch zu bekom-men hatte. Dazu musste mein Kollege anwesend sein.»Rübezahl« gab uns den beschädigten Einlegeboden einesSamsonite-Koffers. In der BND-Sprache diente er als Ver-bringungsmittel, als Versteck für Schriftstücke. Wir soll-ten ihn mit nach Deutschland nehmen, damit er repariertwerden konnte. Diese Aufgabe wollte mein Kollege über-nehmen.

Am späten Abend traf auch »Eulenspiegel« in Warschauein. Als mein Begleiter bereits in seinem Bett lag, setzten wiruns noch mal zusammen. Ich musste »Eule« warnen. WennFoertsch ein Verräter war, dann brachte die Nähe zwi-schen Dr. Herle und Foertsch eine Gefahr für meine Quel-len. Ich fühlte mich für seine Sicherheit verantwortlich.Diese Einweisung war ich ihm schuldig.

Aber »Eule« war auch eine Chance für mich. Ich konntemit seiner Hilfe überprüfen, was die kyrillischen Auf-zeichnungen von »Rübezahl« bedeuteten. »Eulenspiegel«vertiefte sich in den Text und erschrak. Er hatte die Vor-würfe gegen den Abteilungsleiter 5 gelesen und sofort dieGefährdung für sich erkannt.

»Du musst mir helfen. Ich kann unmöglich die hand-schriftliche Aufzeichnung weitergeben. Bitte sprich mir das,was auf dem Zettel steht, auf Band«, bat ich ihn. Nachlangem Zögern willigte er unter der Maßgabe ein, dass ichdie Kassette nach der Auswertung wieder löschen würde.Das versprach ich ihm.

Am nächsten Morgen kam mein Kollege ganz aufgeregtzu mir. »Ich kann unmöglich das VBM (Verbringungsmit-tel) mitnehmen. Wenn das an der Grenze gefunden wird,nimmt man mich vielleicht fest.« »Dann entsorge es«,schlug ich ihm vor. »Wie denn, ich kann es doch nicht inden Müll werfen?« - »Dann schneide es eben klein und

348

Page 350: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

entsorge es stückchenweise.« Nach einer halbe Stundestand er wieder vor mir, in der Hand eine Plastiktüte.

Er öffnete sie und ließ mich hineinschauen. »Alles kleingeschnitten«, berichtete er ganz stolz, »mit meiner Nagel-schere klein geschnitten.« Tatsächlich hatte er das guteStück in Münzengröße zerlegt. Ich konnte mir das Lachennicht verkneifen, als ich anerkennend zu ihm sagte: »GuteArbeit, wirklich gute Arbeit. Und jetzt unauffällig entsor-gen.« Nun dachte ich, er würde die Tüte einfach in eineMülltonne werfen, aber da täuschte ich mich gewaltig. ImNachhinein ist es sehr schade, dass niemand gefilmt hat,wie der Kollege diesem Auftrag nachkam.

Betont unauffällig schlenderte er über den großen Parade-platz neben dem Hotel »Victoria Intercontinental«. Ichmusste zweimal hinsehen, um ihn zu erkennen. Ab und zustoppte er, vergewisserte sich, dass ihn niemand beobach-tete, griff in die Tasche und ließ einen Schnipsel des ehema-ligen Verbringungsmittels unauffällig zu Boden fallen.Irgendwie hatte ich genug vom Spionagespielen.

Ich riet dem armen Kollegen, die Rückreise mit der Bahnanzutreten, damit ihn sein Ohrensausen nicht wieder pla-gen konnte. Das befolgte er auch. Nach meinem Rückflugblieb ich noch zwei Tage in München. Während dieserZeit war von dem mitgereisten BN-Mann nichts zu sehenoder zu hören. Am dritten Tag meldete er sich aus Berlinbei seiner Dienststelle. Er hatte, nach einer Irrfahrt durchPolen, Deutschland endlich wieder erreicht.

Beim Warschauer Treff hatte ich »Rübezahl« im Auftragder Sicherheit gebeten, dringend mehr Material zum FallFoertsch zu liefern. Um keinen Hinweis zu übersehen, ba-ten die Pullacher nun auch ihre Partner in der Schweiz,Frankreich und England um Amtshilfe. Im Herbst 1997lieferte »Rübezahl« dann ein russisches Dokument, das er-drückende Beweise enthielt. Dazu kurz die Vorgeschichte.

349

Page 351: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Der »Rapport« wird geliefert

Meine Chefs hatten für die Übergabe des Materials zweiWege erkundet. »Rübezahl« sollte die Unterlagen bei einerseiner Auslandsreisen dem Flight Manager am FrankfurterFlughafen übergeben. Der würde sie an den BND weiter-reichen. Auf diese Weise hätte »Rübe« alles schnell undunkompliziert abladen können und dabei den Transitbe-reich des Frankfurter Flughafens nicht verlassen müssen.Der zweite Weg war eine Deckadresse in Geretsried beiMünchen. Dorthin konnte er seine Informationen auf demnormalen Postweg schicken. Beide Möglichkeiten hatteich nicht selbst erkundet. Es war ein Novum in meiner bis-herigen Dienstzeit, dass Quellenmaterial an mir vorbei di-rekt zum Dienst lief.

Wie geplant, meldete sich »Rübe« am 28. Oktober 1997während eines Zwischenstopps in Frankfurt beim FlightManager der Lufthansa, um einen Briefumschlag zu über-geben. Dabei kam es zu einer Panne: Eine Mitarbeiterinder Fluglinie wollte »Rübezahls« Ausweispapiere sehen.Ansonsten könne sie den Brief nicht annehmen. Unter einemVorwand verschwand »Rübe«, um mich sofort anzurufen:»Ist das ein Spiel, oder was? Sie sagen, sie brauchen mei-nen Pass. Hahahal Denkst du auch mal an meine Nerven?Vielleicht soll ich ja ein bisschen Probleme kriegen!«

Danach schickte er den Brief kurzerhand per Post an dieDeckadresse in Geretsried. Dort wurde er vom Leiter desObservationskommandos abgeholt. Ich bekam keine Infor-mationen über den Inhalt. Nur die Fallführerin teilte mirlapidar mit, dass das Material offenbar erstklassig sei,aber noch detailliert geprüft werden müsse.

Am 6. November 1997 wurde ich wieder nach Münchenzitiert. Es ging nicht direkt um den Fall »Kosak 3«, standaber damit in unmittelbarem Zusammenhang. Auslöser

350

Page 352: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

für die neuerliche Aktion war Foertsch selbst gewesen.Das Referat seines »Schwagers« Herle hatte fleißig Belas-tungsmaterial gesammelt. Dazu war ein ganzes Sammel-surium von Vorwürfen gegen mich mit der dienstinternenKennung 13A-0854/97 zusammengestellt worden. Unteranderem wurde behauptet, ich hätte Vollmachten überprivate Bankkonten von Quellen gehabt und daraus mög-licherweise Gelder veruntreut. Foertsch legte das Dossierdem Präsidenten des BND, Hans-Jörg Geiger, vor, um michein weiteres Mal zu denunzieren. Das geschah exakt einenTag später, nachdem »Rübezahls« Rapport eingetroffen war.

Meine Chefs Wilhelm, Olgauer und Ulbauer hatten sichversammelt und erwarteten mich. Auch die Fallführerinund Offenbach waren anwesend. Im ersten Moment zuckteich zusammen, weil dieses Empfangskommando wie einTribunal aussah. Es war keines. Die Sicherheitsleute teil-ten mir mit, dass sie aufgrund der massiven Herle-Vor-würfe wieder eine Untersuchung gegen mich durchgeführthatten. Sämtliche Vorwürfe seien akribisch überprüft wor-den. Olgauer erklärte mir zufrieden, alles sei widerlegtworden. Am Vortag hätten sie bereits den Präsidentenüber die Klärung aller Vorwürfe informiert, und zwar imBeisein eines in diesem Fall neutralen und unbeteiligtenDirektors im BND. Darüber freute ich mich, aber gleich-zeitig war mein Bedarf an Überprüfungen gedeckt.

Nun war ich neugierig auf die neuesten Informationen.Nach einigem Insistieren zeigte mir die Fallführerin dasrussische Original und schließlich auch die deutsche Über-setzung. Nach den Worten dieser Mitarbeiterin wies derInhalt des Papiers eindeutig auf Foertsch als Verräter hin.Das meiste, was ich in dem Dokument las, konnte ichselbst nicht zuordnen. Der BND hatte diesmal sogar einenSpezialisten aus der Staatssicherheit der DDR hinzugezo-gen, der Erfahrungen mit solchen Papieren hatte. Er hattedie Unterlagen als »sehr ernst zu nehmen« qualifiziert und

351

Page 353: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Reg. 24-171Briefkopf FSB

0004.76/279424.04.1997 Nr. einzige AusfertigungMoskau

Chef der Verwaltung für Koordinierung undOperative Information- Stellvertreter des Direktors -

(handschriftlich:)Ma Vortrag beim Direktoram 28.04.97 - persönlich!!A.Sokf

RAPORT

Ihnen zur Kenntnis berichte ich über den Zustand unddie Perspektive der Zusammenarbeit mit der QuelleChiffre 000-20/081. Die generelle Zeitspanne der unmittel-baren gemeinsamen Arbeit beträgt 4 Jahre 2 Monate. Biszum Beginn des Jahres 1990 wurden über einen Zeitraumvon etwa 16 Jahren die Informationen via Ministerium fürSicherheit der DDR gehandelt. Die Verbindung wurde 1993wieder aufgenommen - Kontakt 24-007-93 von Februar1993. Zum generellen Umfang und zur Qualität der erhalte-nen Informationen s. Anlage 1-0004.76/2794-1.[...]Gegenwärtig ist die Quelle durch das Faktum einesmöglichen Abflusses einer Information über die gemeinsameArbeit beunruhigt (mein Vortrag auf der Besprechung am14.02.1993). Das hängt desgleichen mit den bekannteninneren Widersprüchen in der Leitung der Organisation imAufenthaltsland zusammen.Die Quelle bestätigt, daß die Organisation im Aufenthalts-land über Informationen von uns verfügt, worüber bereitsdetailliert in der Analyse v. 25.03.97 (0004.76/2786,laufend) berichtet wurde.

352

Page 354: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Der mögliche Kanal des Abflusses wird aufgeklärt.(Anm.: Der linke Rand dieses Satzes ist mit einem Haken versehen,am rechten Rand ist ein handschriftlicher Vermerk »präzisieren«.)Die oben dargelegten Probleme wurden mit der Quelle wäh-rend ihres letzten Besuches in Moskau besprochen. In derletzten Zeit ist aus objektiven Gründen politischer Natur dieMöglichkeit beschränkt, in der operativen Arbeit von derQuelle Informationen zu erhalten.Eine mögliche Entdeckung der Quelle würde zu einer brei-ten unerwünschten politischen Resonanz führen, weil sieden gegenwärtigen Absprachen und den unterzeichnetenDokumenten zuwiderläuft.Ausgehend von dem Dargelegten sowie in Zusammenhangmit der geplanten Pensionierung der Quelle schlage ich vor:1. Die Zusammenarbeit einzustellen und die Quelle davon

im Verlaufe des geplanten Treffs Anfang Juni 1997 inEngland in Kenntnis zu setzen.

2. Einen stabilen Verbindungskanal mit der Quelle beizu-behalten und die Möglichkeit einzuplanen, bei einer auf-kommenden Gefahr für die Quelle oder die Angehörigenihrer Familie Hilfe zu leisten.

3. Zu den nicht ausgeführten Maßnahmen Kopien dererforderlichen Dokumente zurückzubehalten und dieübrigen bis zum 15.06.97 im internen Archiv unter derKenngruppe 000/07 abzulegen.

4. Zur Gewährleistung der Sicherheit der Infrastruktur, wiesie zur Gewährleistung der Tätigkeit der Quelle gebildetworden war, soll diese nicht vor dem 1. 3.1998 aufgelöstwerden; dazu ist bis zum 1.2.1998 ein entsprechenderBefehl und eine Instruktion vorzubereiten.

5. Abzufassen ist ein Antrag, der Quelle eine Prämie in Höhevon US-$ 100 000 bereitzustellen und die genannte Summezum 1.6.1997 an eine englische Bank zu überweisen.

Oberoffizier der VerwaltungOberst W.DOBREZOW

M 6 6 5maschinegeschrieben von Dobrezow

353

Page 355: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

war in einem Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dasssie echt seien. Gleichwohl sagte Bundesanwalt SchulzMonate später in einem Ermittlungsverfahren unter Be-zugnahme auf externe Gutachten, der »Rapport« sei mit100-prozentiger Sicherheit das Produkt einer Fälschung.

Der Sicherheitschef wird überwacht

Von Frank Offenbach wusste ich, dass die Sicherheitsleuteihren eigenen Chef, den Abteilungsleiter Volker Foertsch,bereits seit geraumer Zeit überwachten. Am Nachmittagdes 6. November traf ich Frank auf dem Flur in der Nähevon Olgauers Vorzimmer. Als er mich sah, blickte er vor-sichtig in die Runde und winkte mich dann zu sich. »Komm,ich zeig dir was«, sagte er. Offenbach zog mich in die Flur-ecke zu einer Tür, auf der ein kleines Schild mit der Auf-schrift »Geräteraum« montiert war. Ich kannte das Zimmerals Abstellraum, in dem alte Regale, Koffer und Gerümpelaller Art gelagert waren. Mir fiel auf, dass die Türklinkegegen einen Knauf ausgetauscht worden war.

Frank Offenbach klopfte einen bestimmten Takt gegendie Tür. Es kam ein Antwortsignal zurück. Frank pochteerneut, aber in anderer Folge. Die Tür wurde geöffnet undschloss sich hinter uns gleich wieder. Offenbach, der alteFuchs, strahlte mich an: »Das ist unsere Videoabteilung!«Er deutete auf einen Tisch, auf dem sich ein großer Fern-seher und mehrere kleine Monitore befanden. Dann zeigteer auf ein Mischpult: »Das ist das Tonstudio!« Frank gabdem Mitarbeiter ein Zeichen, und der drehte an einem Reg-ler und gab uns beiden Kopfhörer.

Foertsch telefonierte mit jemandem vom Leitungsstab.Wir hörten alles mit. Offenbach flüsterte mit seinem Mit-

354

Page 356: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

arbeiter, und der legte das Bild auf den großen Schirm. Ichkonnte den Abteilungsleiter 5 sehen und hören. Das Bildwechselte. Mehrere Einstellungen standen zur Auswahl.Sogar im Vorzimmer, bei der Sekretärin des AL 5, warenKameras installiert. Frank erkundigte sich nach der aktuel-len Lage. Der Mitarbeiter drehte sich kurz um und ant-wortete mehr als deutlich. Er machte aus seiner Verach-tung für Foertsch keinen Hehl.

Das war starker Tobak, und deshalb warf ich Frankeinen fragenden Blick zu. Der hielt mir seine Hand mit derInnenfläche entgegen, als wenn er sagen wollte, warte nureinen kleinen Moment. »Haben wir das von gestern Nach-mittag noch?«, fragte er den Techniker. »Sie meinen dasmit Olgauer.« Frank nickte. Ich war gespannt wie einFlitzbogen. Was ich dann zu hören und zu sehen bekam,nahm mir den letzten Funken Respekt vor diesem Abtei-lungsleiter.

Die Kassette lief, und ich sah auf dem Bildschirm, wieOlgauer in das Zimmer von Foertsch trat. Der begrüßteseinen Abwehrchef betont freundlich. Sie besprachendienstliche, mir fremde Dinge. Das Band wurde vorgespult,bis Olgauer sich wieder erhob. Foertschs Verabschiedungwar ausgesucht freundlich. Er geleitete seinen Besucherdurch das Vorzimmer nach draußen. Dann kam Foertschin sein Büro zurück. Nun hatte seine Miene gewechselt,und er zog in verächtlichem Ton über Olgauer her.

Als ich das hörte, spürte ich eine Gänsehaut. »Möchtestdu noch was anderes sehen?«, flüsterte Frank. Ich schüt-telte den Kopf.

Als mich Frank einige Zeit später in mein Hotel brachte,sprachen wir noch einmal über das Gesehene und das Ge-hörte. Frank war sehr nachdenklich. »Ich bin tief enttäuschtvon diesem Mann. Nicht, weil er vielleicht ein Verräter ist,sondern weil er mich menschlich anwidert. Was sich dortoben abspielt, das hätte ich nicht für möglich gehalten.«

355

Page 357: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Er schüttete seine Seele aus, berichtete von den Erkennt-nissen der Observation und lieferte noch ein weiteres Bei-spiel für seinen tiefen Frust: »Stell dir vor, der hat sogar denVorschlag für sein eigenes Bundesverdienstkreuz selbst ge-schrieben. Wir haben das Papier beim Einbau der techni-schen Geräte gefunden. Und der Hammer ist, dass er demBundespräsidenten darin großzügig freistellt, über denGrad der Verdienststufe selbst zu entscheiden. Du kannstdir nicht vorstellen, wie mich das ankotzt.«

Offenbach war aschfahl. Als ein Mann, der viele Jahrefür seinen Abteilungsleiter diskrete und knifflige Jobsdurchgezogen und ihm blind vertraut hatte, fühlte er sichins Mark getroffen. Das wahre Gesicht seines Chefs zu erle-ben, das hatte tiefe Spuren in ihm hinterlassen. »Weißt du,Norbert«, sagte er bedächtig, »vorhin hast du ja nur einenkleinen Ausschnitt von dem gesehen, was wir jeden Tagvon ihm Neues erfahren. Es ist einfach grauenvoll, washier passiert. Wir haben hier einen völlig anderen Men-schen vor uns, als wir gedacht haben.« Dann fragte ermich, ob ich auf dem Fensterbrett im Büro von Foertschden Kurzwellenempfänger gesehen hätte. Mir war das Ge-rät nicht aufgefallen, obwohl man es bei den Videomit-schnitten hinter dem Vorhang noch deutlich erkennenkonnte. Er wurde konkreter: »Dieselben Geräte gehörtenzur Grundausstattung der Stasi-Agenten im Ausland. Da-mit empfingen sie ihre Anweisungen.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Das ist Blödsinn. Derstellt sich doch so ein Teil nicht ins Büro.« - »Das habe ichzuerst auch gedacht«, verbesserte er mich, »aber nun habeich ein wenig mehr über diesen Charakter erfahren. Glaubmir, das ist sein Wesen. Hält sich für den Markus Wolf desBND. Er denkt wirklich, er sei der heimliche Chef des Diens-tes.« Für mich war das alles zu viel, und wenn ich ganz ehr-lich bin, verstand ich damals nur die Hälfte von dem, wasFrank berichtete. Aber er erzählte und erzählte ...

356

Page 358: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Die Vorermittlungen zum Fall Foertsch - »Kosak 3« -waren Ende November 1997 fast abgeschlossen. Der UAL52 versuchte immer noch und immer wieder, die vorlie-genden Erkenntnisse zu überprüfen. Ihm war deutlich anzu-merken, dass er unter dem schweren Verdacht gegen sei-nen Abteilungsleiter litt. Wilhelm war kein Leichtfuß. Ernahm die Sache sehr ernst und führte stundenlange Ge-spräche mit allen Beteiligten im U-Referat, um vielleichtdoch noch zu einem anderen Schluss zu kommen. Auf ihmlastete die ganze Verantwortung. Auch aus heutiger Sichtwar er völlig korrekt mit dem Fall umgegangen. Ich konntebei Wilhelm nie Häme oder Rachegefühle feststellen. Des-halb quälte er sich wahrscheinlich auch so. Wenn am Endeeiner Überprüfung wieder das gleiche Ergebnis heraus-kam, war er geradezu enttäuscht.

Hin und wieder saß er bei Ulbauer, grau im Gesicht, ge-zeichnet. Er suchte die Nähe seiner Untergebenen, nichtzuletzt, weil ihn sein Präsident Hans-Jörg Geiger mit demganzen Debakel völlig allein ließ. Der ehemalige Vizepräsi-dent der Gauckbehörde war nicht zu erreichen oder rea-gierte zögerlich und zaudernd. Häufig ging er Entschei-dungen aus dem Weg oder überließ sie Wilhelm. Der aberhätte jemanden gebraucht, der ihn stützte oder - für denFall eines Fehlers - bedingungslos hinter ihm stand.

Der Verfassungsschutz wird eingeschaltet

Bei einem Gespräch mit Ulbauer kam der Gedanke auf,den Fall außerhalb des Dienstes begutachten zu lassen. AlsEinzige kamen wohl die Kollegen vom Bundesamt für Ver-fassungsschutz (BfV) in Frage. Wilhelm griff den Vorschlagfür eine solche ungewöhnliche Vorgehensweise dankbar

Page 359: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

auf. Er schien sichtlich erleichtert zu sein. Sollten sichirgendwo handwerkliche Fehler eingeschlichen haben,könnte man sie auf diese Weise aufdecken und korrigieren.Der damalige Präsident des BfV, Peter Frisch, sandte einenMann seines Vertrauens zum BND. Dieser nannte sichSchmidt und sichtete nach und nach die Akten zu »Kosak3« und zur Operation »Rübezahl«.

Am 16. Dezember 1997 bat Schmidt in die Amtsräumevon Offenbachs QD 30 zu einer Arbeitsbesprechung mitallen Beteiligten. Sein Urteil war eindeutig. Schmidt hieltdie Verdachtsmomente gegen Foertsch für mehr als ausrei-chend und bat Wilhelm, dringend den Präsidenten zu ver-anlassen, beim Kanzleramt zu intervenieren. Er beglück-wünschte uns alle zu der bisher tadellosen Arbeit.

Trotzdem hatte der Präsident wieder keine Zeit, die er-forderlichen neuen Informationen entgegenzunehmen. Erdelegierte diese undankbare Aufgabe an seinen Adlatus,der nur telefonisch informiert werden wollte. Wilhelm be-mühte sich ein weiteres Mal um einen persönlichen Ter-min beim Präsidenten. Zwei Tage später bekam er ihn, aberauch nur am Telefon. Es sollte noch ein ganzer Monat ver-gehen, bis Geiger eine nennenswerte Reaktion zeigte. Dasich in der Zwischenzeit wenig getan hatte, bot sich BfV-Chef Frisch an, den Fall selbst zu begutachten. Darüberverging erneut ein Monat, bis der Kölner Verfassungs-schützer seinen Münchner Kollegen dringend aufforderte,den Fall Foertsch beim Bundeskanzleramt vorzutragen.

Anfang März 1998 raffte sich Geiger endlich auf, inBonn bei seinem »Bedarfsträger« (BND-Jargon) vorstelligzu werden. Möglicherweise wegen der Freundschaft zwi-schen Foertsch und dem Staatsminister Schmidbauerklopfte die kleine Delegation am 10. März erst einmal beimKanzleramtsminister Friedrich Bohl an. Der setzte sich überdie Bedenken der Pullacher hinweg und überwies die Be-sucher direkt an seine rechte Hand Schmidbauer. Damit

358

Page 360: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

lag der Fall auf dem Tisch, auf dem er nicht landen sollte.Keiner wusste genau, wie abhängig Foertsch und Schmid-bauer voneinander waren. Olgauer formulierte das so:»Jetzt wird die Luft für uns recht dünn. Aber wir sindauch mittlerweile schon ziemlich weit oben angelangt.«

Die streng geheime »Bonner Runde«

Am 17. März 1998 lud das Kanzleramt zu einer Geheim-konferenz ein, die ich wohl niemals vergessen werde. Ol-gauer rief mich vier Tage vorher an und bat mich, ihn trotzmeines Krankenstandes nach Bonn zu begleiten. Ich solltean der Besprechung teilnehmen, um mögliche Fragen zurQuelle »Rübezahl« zu beantworten. Wir kamen etwas zufrüh in Bonn an, parkten unterhalb des »Langen Eugen«und spazierten bei schönem Frühlingswetter zum nahenBundeskanzleramt. Im Foyer wurden wir bereits erwartetund in das Untergeschoss gebracht.

Der geräumige Vorraum wirkte wie eine Theatergarde-robe. Während sich das Treffen noch verzögerte, beobach-teten wir die emsig hin- und herlaufenden Bediensteten desKanzleramtes. Mit einem von ihnen kamen wir ins Ge-spräch. Es müsse ja etwas ganz Besonderes anliegen, meinteer. Auf unsere Gegenfrage, wie er darauf käme, holte er et-was aus: »Naja, den abhörsicheren Raum haben wir hierfast nie benutzt. Höchstens einmal im Jahr vor der Haus-haltsdebatte. Dann treffen sich die Fraktionsspitzen dadrin und verhandeln miteinander.« Er grinste wissend.

Bald darauf Öffnete sich die Fahrstuhltür. StaatsministerSchmidbauer trat heraus, gefolgt von einem ganzen Trossmehr oder minder Untergebener. Er rauschte förmlichheran. Im Vorbeigehen drückte er Olgauer die Hand und

359

Page 361: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

tat mit ihm so vertraut, als würde er ihn seit vielen Jahrenkennen. Als Nächstes stand der Minister vor mir, mustertemich kurz mit freundlichem Lächeln. Es folgte ein Hand-schlag und eine rasche Bemerkung: »Na, dann kommenSie mal, Herr Busemann. Das ist ja ein schöner Mist, denwir da zu bearbeiten haben.« Er legte die Hand auf meineSchulter und führte mich in Richtung Besprechungsraum.

Schmidbauer redete unaufhörlich: »Mannomann, dahaben Sie uns ja was Sauberes eingebrockt. Wer hätte dasgedacht. Ich glaube, ich werde mir neue Freunde suchenmüssen. Aber ihr habt bisher alle gut gearbeitet. Jetzt müs-sen wir mal zusehen, wie wir die Kuh vom Eis holen.« Da-bei klopfte er mir anerkennend auf die Schulter, die er im-mer noch festhielt.

Wir gingen in den abhörsicheren Raum, der durch zweischwere Stahltüren gesichert war. Man fühlte sich eher aneinen Panzerschrank erinnert als an einen Konferenzraum.Zuerst trat Schmidbauer ein, dann ich. Jemand drängeltesich von hinten an mir vorbei. Er versuchte, dicht beimStaatsminister zu sein. Zuerst erkannte ich ihn nicht undhielt ihn für einen persönlichen Referenten. Schmidbauerherrschte ihn an: »Immer mit der Ruhe. Sie sitzen mit Ih-ren Leuten da drüben.« Da drehte sich der Angesprochenekurz um. Er schien jemanden zu suchen. In diesem Mo-ment erkannte ich ihn. Es war mein Präsident, Hans-JörgGeiger.

Er suchte anscheinend nach Olgauer, der als Letzter ein-trat. Als Geiger mich sah, setzte er ein künstliches Lächelnauf und tat so, als würden wir uns zufällig in der U-Bahntreffen. »Ach, Herr Busemann. Es ist schön, dass Sie hiersind. Nun lernen wir uns endlich auch einmal persönlichkennen.« Noch ehe ich antworten konnte, schaute er irgend-wie durch mich hindurch. Er sprach mit Olgauer.

Jetzt konnte ich mich in Ruhe umschauen. Der Raum warnicht groß und wirkte ziemlich kahl. Es mangelte an Bil-

360

Page 362: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

dern und an Raumschmuck jeder Art. War ich einige Mi-nuten vorher noch aufgeregt gewesen, so wurde ich plötz-lich innerlich ganz ruhig. Wir setzten uns an den großen,rechteckigen Konferenztisch, der von zwanzig Stühlenumgeben war.

Schon beim Eintreten hatte der Geheimdienst-Aufsehereinen Mitarbeiter angeblafft: »Was ist das denn hier? Gibtes denn nicht wenigstens ein paar Häppchen oder irgend-was? Wie soll man denn so arbeiten?« Er saß vor uns imHemd, die Ärmel umgeschlagen und die Krawatte leicht ge-öffnet. Trotz seiner lässigen Art wirkte der Minister ner-vös und angespannt. Er knipste ständig mit seinem Kugel-schreiber herum. Noch bevor sich alle gesetzt hatten, gosser sich einen Kaffee ein und fragte die anderen, was sietrinken wollten. Er teilte die Sitzordnung ein. Auf einer derbeiden Längsseiten saßen Geiger, Olgauer und ich. Unsgegenüber befanden sich Schmidbauer, daneben der fürden BND zuständige Abteilungsleiter 6, August Hanning,außerdem eine Dame aus dem Bundeskanzleramt undSchmidbauers Mitarbeiter Staubwasser.

Der Referent schien genauso hibbelig zu sein wie seinChef. Auf den ersten Blick wirkte er gehetzt, als wolle ergleich davonlaufen. Hanning dagegen schien vor allem, neu-gierig zu sein. Er war neben Olgauer der einzige Anwesende,der einigermaßen Souveränität ausstrahlte. Mein Chef, Olgauer,zeigte keine Nerven. Er war wie ich gut vorbereitet, unddeshalb sicher. Geiger bildete den Gegenpol. Ich hatte denEindruck, als würde er kaum wissen, wovon er sprach.

Schmidbauer eröffnete die Sitzung: »Eine schöne Schwei-nerei ist das. Was machen wir denn nun? Wenn das raus-kommt, kauft doch keiner mehr von mir ein Stück Brot.Dann können wir doch alle gleich mit einpacken.« Erschaute fragend in die Runde. Da ging die Tür noch einmalauf, und jemand trug ein großes Silbertablett herein. Daraufwaren ein paar Dutzend Pralinen drapiert. Ich traute mei-

361

Page 363: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

nen Augen kaum. Alles Unikate, keine Praline glich deranderen. Schmidbauer war zufrieden: »Na also - gehtdoch! Greifen Sie zu.« Dann blickte er mich an. »Sie dür-fen sich auch welche nehmen«, sagte er höflich. Ich wolltenicht.

Olgauer begann den gesamten Fall noch einmal vorzu-tragen. Sachlich, ohne Wenn und Aber, erzählte er denStand der Dinge. Danach wurde ich zur Quelle und denanderen Informanten befragt. Mit den Ermittlungsarbei-ten war die Runde sichtlich zufrieden. Der Fall selbst be-reitete den Teilnehmern jedoch erhebliche Kopfschmerzen.Als Fazit schlug Olgauer vor, die Angelegenheit weiter zuuntersuchen.

Das stieß bei den Herren aus dem Bundeskanzleramt aufwenig Gegenliebe. Der eifrige Geiger schloss sich ihnen di-rekt an. Schmidbauer ergriff das Wort: »Der Fall ist dochfünfzig, fünfzig. Das reicht. Was sollen wir da noch großermitteln? Das darf, so oder so, nicht öffentlich werden.Stellen Sie sich vor, was das für Probleme gäbe. Auf jedenFall müssen wir Foertsch loswerden.« Staubwasser gabsich als Bedenkenträger: »Wie soll das gehen? Was glau-ben Sie, Herr Minister, was der alles anzetteln wird?« —»Ja was, meine Herren, ich kann doch keinen Verräter imDienst belassen. Keinen Tag länger als nötig. Was glaubenSie denn, was der tut? Meinen Sie, der packt aus?«, fragteder Chef in die Runde. Die quittierte das mit allgemeinemNicken.

Geigers Stunde war gekommen: »Also, er hat jede MengeDossiers angelegt. Über Gott und die Welt, er hält mit sei-nen Kenntnissen nicht hinterm Berg. Foertsch lässt keineSituation aus, um mich an sein Wissen zu erinnern. Dasläuft bisweilen recht subtil ab. Neulich sagte er in einemVieraugengespräch zu mir, er habe ein Gedächtnis wie einElefant. Das sei eine schlechte Eigenschaft, die er einfachnicht loswürde und auch nicht ablegen könne. Daraufhin

362

Page 364: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

habe ich diesen spitzfindigen Hinweis, mit dem er Druckauf mich ausüben wollte, mit der ebenfalls einfallsreichenAnspielung pariert, dass man seine schlechten Angewohn-heiten auch im hohen Alter ablegen könne.« Geiger lachteüber die Cleverness, die er Foertsch gegenüber gezeigthatte.

Er war allerdings der Einzige, der sich darüber amüsie-ren konnte. Die Runde war peinlich berührt. Geiger er-zählte noch einige dieser kleinen Foertsch-Anekdoten, diedavon berichteten, wie ihm der AL 5 unverhohlen mit sei-nem Hintergrundwissen gedroht hatte und wie standhafter ihm immer gegenübergetreten war.

Es entwickelte sich eine Diskussion über die Gefahr, dievom Sicherheitschef ausgehen könnte, wenn er entlassenwürde. Von Olgauer abgesehen, schien niemand im RaumInteresse an weiterer Aufklärung zu haben. Es war abermein Eindruck, dass keiner wirklich an der Schuld vonFoertsch zweifelte. Allem Anschein nach waren die belas-tenden Vorwürfe gegen den Abteilungsleiter viel weiterreichend, als ich es überblicken konnte. Alle beteiligtensich irgendwie an der Diskussion, aber jeder blieb bei sei-ner Rolle: Schmidbauer, der Betrogene, Staubwasser, derängstliche Bedenkenträger, Hanning, der Besorgte, Ol-gauer, der Analytiker, und Geiger, der Radfahrer. Für michwar das eine unwirkliche und groteske Konstellation.

So drehten sich die Herren über längere Zeit im Kreisherum. Einer, der im wahrsten Sinne des Wortes ins Schwit-zen geraten war, ergriff die Initiative und sagte, einen Lan-desverrat könne man sich nicht leisten, aber es müsse soviel an ihm hängen bleiben, damit es ausreiche, ihn raus-zuschmeißen. Jemand anders meldete sich zu Wort: »Undwie soll das gehen? Da müsste doch zunächst mal einermit Nehm reden.« (Kay Nehm, der Generalbundesanwalt,d. A.). Ein anderer warf ein: »Es sollte vorher geprüft wer-den, ob Nehm überhaupt in der Sache mit sich reden

363

Page 365: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

lässt.« Darauf Schmidbauer: »Irgendwer muss zu Nehmfahren und herausfinden, ob der ein informelles Gesprächführen würde, um dann zu entscheiden, ob man mit ihmoffiziell über die Sache sprechen kann.«

Staubwasser gab zu bedenken, dass Nehm zuerst einmalseinem Chef im Justizministerium verpflichtet sei. Wenner seine Aufgaben ernst nähme, wovon man ausgehenmüsse, werde die Geschichte im Justizministerium dieRunde machen. Im Übrigen sei ja der Justizminister vonder FDP, und das müsse schon a priori als Risiko einge-stuft werden.

Hanning warf ein, dass man sich dann unter Umständenauch noch mit der Parlamentarischen Kontrollkommis-sion auseinandersetzen müsse. Wenn also dieses Gesprächmit Nehm geführt werde, dann müsse es unter absoluterDiskretion geschehen. Es gelte sehr sensibel zu agieren, da-mit sich niemand bedrängt fühle.

Schmidbauer wurde unruhig: »Ja, doch, ja, ich weiß dasalles. Ich will jetzt wissen, wer zu Nehm fährt.« »008 «, sosein weithin bekannter Spitzname, schaute fragend in dieRunde. Stille. Keiner sagte etwas. Innerlich musste ichschmunzeln. Der Lehrer hatte etwas gefragt, und keinertraute sich nach vorne an die Tafel. »Was nun?«, polterteSchmidbauer und schaute einem nach dem anderen tief indie Augen. Staubwasser schüttelte pikiert den Kopf. Han-ning blickte geradeaus und vermied so Augenkontakt. Ertat so, als sei er gar nicht gemeint. Da meldete sich Geigermit wohl abgewogenen Worten: »Also, Herr Minister,wenn ich es mir recht überlege, könnte ich das machen. Se-hen Sie, Herr Nehm und ich haben kein konkurrierendesVerhältnis zueinander. Deshalb wäre es durchaus möglich,dass ich nach Karlsruhe fahre.«

Schmidbauer lächelte zufrieden: »Na also! Dann fahrenSie zu Nehm. Aber das wird so abgehandelt, wie wir eshier besprochen haben. Ich will keinen Wirbel. Staubwasser,

364

Page 366: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Sie schreiben gemeinsam mit Olgauer alles zusammen,was wir für den Vortrag bei Nehm brauchen.« Da bekamder Bedenkenträger einen hochroten Kopf: »Herr Staats-minister, dafür brauche ich Zeit. Mindestens eine Woche.Das muss ja alles juristisch sauber begründet werden.Wenn ich mir nur vorstelle, dass der Penner (Vorsitzenderder Parlamentarischen Kontrollkommission, d. A.) Windvon der Geschichte bekommen könnte und welcher Wir-bel dann daraus entstehen würde. Nicht auszudenken.«

Schmidbauer wurde giftig: »Sie machen das jetzt, gleich,sofort. In zwei Stunden will ich alles auf meinem Tisch ha-ben. Olgauer, Sie helfen ihm dabei. So wird es gemacht.Ende der Diskussion.« Prompt stand er auf und schritt zurTür. Auf halbem Weg blieb der Geheimdienst-Koordina-tor stehen und wandte sich noch einmal den ebenfalls auf-brechenden Teilnehmern der Runde zu: »Meine Herren,und dass das klar ist: Dieses Gespräch hier hat niemalsstattgefunden!«

Alle Teilnehmer entschwanden blitzschnell. Im Wegge-hen zog mich Hanning noch zur Seite: »Und wenn es neueFakten von Seiten der Quellen geben sollte, dann infor-mieren Sie mich bitte direkt hier im Kanzleramt.« Olgauerrief mir zu: »Sie können dann fahren.« Plötzlich stand ichganz alleine in dem abhörsicheren Raum. Ohne dass je-mand Notiz von mir nahm, ging ich zur Garderobe undzog meinen Mantel an. Ganz in Ruhe schlenderte ich nachdraußen. Es war schön, und ein kühler Wind strich überdas Gelände vor dem Kanzleramt.

Auf halbem Weg drehte ich mich um und schaute aufdas Gebäude, aus dem ich gerade gekommen war. Ichdachte: »Nein, Leute. Ich nicht. Das mache ich nicht mit!«Es beschlich mich ein unglaubliches Gefühl von Einsam-keit. Was sind wir für ein Staat geworden? Habe ich dafürmeine Knochen hingehalten? Zutiefst enttäuscht ging ichzum Wagen. Der Fahrer brachte mich zum Bahnhof. Dort

365

Page 367: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

blieb noch etwas Zeit, bis mein Zug kam. Auf dem Bahn-steig stehend, rief ich Freddy an und berichtete ihm. DieRückfahrt verlief wie im Fluge. Ich notierte mir Sätze undWortfetzen aus der Geheimbesprechung.

366

Page 368: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Von Verrätern und Betrügern

Ist Volker Foertsch ein Verräter oder nicht? Diese Fragebewegte mich, neben meinen persönlichen und gesund-heitlichen Problemen, über Monate hinweg. Was ich Ende1997 und Anfang 1998 erfahren hatte, warf kein gutesLicht auf ihn. Er war für mich eine menschlich fragwür-dige Person geworden. Aber ein Verräter? Vieles sprach da-für. Doch reichten die Beweise aus? Olgauer hatte Recht.Wenn der BND und die Verantwortlichen der RegierungKohl dieser Sache gerecht werden wollten, dann müsstensie die Ermittlungen fortführen. Was dann allerdings pas-sierte, hatte mit Rechtsstaatlichkeit rein gar nichts mehrzu tun.

Wie sich die Besprechung im Keller des Bundeskanzler-amtes auf Bonn und Karlsruhe auswirkte, entzieht sichmeiner Kenntnis. Ich bekam die Konsequenzen sozusagenauf der Arbeitsebene mit. In den letzten Märztagen 1998war die Bundesanwaltschaft in Pullach avisiert. Ein staats-anwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen den Ab-teilungsleiter 5 lief. Nun sollte er mit den Verdachtsmo-menten konfrontiert und zwei Tage lang vernommenwerden. Schon Tage vorher wurde auch ich in die BND-Zentrale zitiert. Zusammen mit anderen sollte ich alsZeuge vernommen werden. Bis dahin standen noch Vor-besprechungen an.

Eines war schon vor Beginn der Karlsruher Aktion klar:Bei den Sicherheitsleuten des BND herrschte Unmut, seitsie erfahren hatten, dass Bundesanwalt Schulz die Ermitt-

367

Page 369: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

lungen im Auftrag des Generalbundesanwalts Nehm lei-ten sollte. Schulz und Foertsch kannten sich seit Jahren be-stens. Der »Flurfunk« behauptete sogar, dass sich die bei-den duzen würden. Eine ungünstige Situation, wie einpaar Insider munkelten.

Frank Offenbach holte mich persönlich am Flughafenab und berichtete vom Stand der Dinge. Unter anderemhabe man den Eindruck gewonnen, Volker Foertsch wisseüber die bevorstehenden Maßnahmen der Staatsanwältebereits Bescheid. Einen Tag vor dem Besuch aus Karlsruhewurde ich wieder in das Sicherheitsreferat gerufen. Offen-bach spielte mir ein Videoband vor. Ich konnte den AL 5erkennen, wie er seinen Schreibtisch aufräumte und stän-dig mit irgendwelchen Papieren durch das Zimmer lief.

»Der säubert sein Büro«, erklärte Offenbach, »hörst dudas Geräusch im Hintergrund? Die Aufzeichnung ist vomSamstag. Foertsch war den ganzen Tag im Büro.« Ich hörteein Brummen, das ich nicht zuordnen konnte. »Wir habenlange gerätselt, was es ist. Erst als er am Abend wieder ge-gangen war, konnten wir es herausfinden.« Fragend blickteich ihn an. »Es war ein Reißwolf. Sogar sein Notizbuch,das er immer benutzt, ist jetzt völlig jungfräulich.«

Dann schaltete Offenbach ein Tonbandgerät an. Es wardeutlich zu hören, wie Foertsch und Schmidbauer telefo-nierten. Sie sprachen über das bevorstehende Ermittlungs-verfahren. »Das haben wir in der Nacht von Freitag aufSamstag aufgezeichnet. Sie haben mitten in der Nacht überzwei Stunden telefoniert«, erzählte Frank. Mein Freundsah kreidebleich aus, wirkte kraftlos und frustriert. Michwunderte nichts mehr.

Kurze Zeit später saß ich bei Ulbauer. Er bat mich drin-gend, das Hotel zu wechseln. Der BND hatte nämlich dieHerren der Bundesanwaltschaft in meinem StammhotelBuchenhain untergebracht. Da ich mit ihnen vorher nichtzusammentreffen sollte, musste ich in das Hotel »Zur

368

Page 370: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Post« nach Baierbrunn ausweichen. Widerwillig und un-einsichtig folgte ich der Anweisung und zog frustriert vondannen. Nach dem Abendessen mit Freddy betrauertenwir die Trennung von unserer Traditionsherberge und be-schlossen schließlich, dort ein Bier zu trinken.

Natürlich wollten wir uns auch die Bundesanwälte an-schauen. Schon der Gedanke an die zu erwartende Reaktionunserer Chefs bereitete uns Freude. Den Anschiss würdenwir locker wegstecken, schließlich hatten wir mit demBND innerlich längst abgeschlossen. Also begaben wir unsauf einen Abendspaziergang zum Waldhotel Buchenhain.Im Restaurant wurden wir fündig. UAL52 Wilhelm undein paar andere saßen mit den beiden Bundesanwälten ineiner gemütlichen Ecke und bemerkten unser Kommennicht. Wir setzten uns so, dass wir alles gut im Blick hatten.

Als Offenbach zwischendurch zur Toilette ging, be-merkte er uns, sagte aber keinen Ton. Er verdrehte ledig-lich seine Augen, als sei er bereits benommen vom Ge-spräch. Die beiden Vertreter des höchsten Anklägers derRepublik waren in feines, schwarzes Tuch gehüllt, hattensich aber bereits Erleichterung verschafft. Sie flüstertennicht, sondern redeten lauthals. Plötzlich stand Schulz aufund bewegte sich in einem leichten Bogen auf die Toilettezu. Dabei hatte er die rechte Hand in der Hosentasche unddie Linke weit von sich gestreckt, um das Gleichgewichtzu halten. Beim ersten Versuch verfehlte er die Klinke,schaffte er es aber doch noch, die schwere Tür zu öffnen.Die Bundesanwälte waren langst nicht mehr zurech-nungsfähig, und trotzdem bewiesen sie Steherqualitäten.Während Wilhelm zum wiederholten Male mahnend aufseine Armbanduhr blickte, rief Schulz erneut nach der Be-dienung. Wir verließen die feuchtfröhliche Runde.

Arn nächsten Tag ereiferte sich Wilhelm über den Auftrittder Bundesanwälte und besonders über Schulz. Er schienrichtig schockiert zu sein. Aber das war der geringste Är-

369

Page 371: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ger. Die Bundesanwaltschaft sorgte nämlich für massiveIrritationen - und nicht nur beim Sicherheitsbeauftragtendes BND.

Am späten Vormittag betraten die beiden Bundesan-wälte und Wilhelm gemeinsam mit Foertsch dessen Büro.Ich war kurz zuvor im Camp eingetroffen und beobach-tete eine verrückte Situation in Ulbauers Dienstzimmer. Ul-bauer stand in der Ecke und rauchte, schüttelte immerwieder den Kopf. Unsere Fallführerin und Frank Offen-bach saßen an einem kleinen Tisch und diskutierten mitsorgenvollen Mienen. Dazwischen stapfte ein kleiner, mirunbekannter Mann auf und ab und brüllte in den Tele-fonhörer. Ulbauer winkte mich aus dem Büro, und deshalbblieb ich für eine Weile im Vorzimmer. Ulbauers Sekretä-rin bemerkte trocken: »Die spinnen, die Römer! Wenn iches nicht selbst miterleben tät, ich würd's nicht glaub'n.«

Durch die Tür konnte ich sehen, wie der Fremde weiter-tobte. Die Fallführerin kam heraus und kommentierte dasGeschehen: »So eine Sauerei, was hier abläuft. Das gibt esin keinem Film.« Plötzlich kam Frank aus dem Zimmer:»Norbert, sie kommen. Los, wir schauen uns das im Fernse-hen an.« Schon waren wir auf dem Weg in das »Technik-zimmer«. Gerade betraten die Bundesanwälte das Bürovon Foertsch. Die Sekretärin stand auf. Sie wirkte sehrnervös und zitterte.

Im Dienstzimmer wurden Schränke und Schubladen be-gutachtet. Alles sah aufgeräumt und geordnet aus. Schulznahm einen Notizblock vom Schreibtisch und sichtete ihn,indem er die Seiten wie bei einem Daumenkino durch dieFinger gleiten ließ. Er zog eine Schublade auf und verschlosssie gleich wieder, ohne genau hineingeschaut zu haben.Wilhelm war rot vor Wut: »Herr Bundesanwalt, wollenSie denn nicht durchsuchen?« Schulz überhörte ihn. DerPanzerschrank wurde geöffnet. Foertsch erklärte kurz denInhalt und trat dann mit verschränkten Armen zurück.

370

Page 372: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

»Wollen Sie das denn nicht sichten?«, mahnte Wilhelmerneut. Er zog einen Stapel von etwa fünfzehn bis zwan-zig bunt zusammengewürfelten Mappen halb heraus, umSchulz zur genauen Sichtung zu animieren. Der ging da-zwischen, drehte sich herum und fragte Foertsch: »Sinddas alle Unterlagen, die sich in Ihrem Besitz befinden dür-fen?« Der sagte knapp »Ja« und nickte dabei gelassen. Bisdahin hatten Frank und ich schweigend der Show zugese-hen. Nun raunte er mir zu: »Ich bin gespannt, was sie da-mit machen werden.« Schulz nahm den Stapel heraus undließ ihn unter Bewachung in seinen Dienstwagen bringen.

Damit war die Sichtung des Foertsch-Büros beendet. BeimRausgehen, Foertsch stand bereits in der Tür, sprach ihnseine Sekretärin von hinten an: »Sehen wir uns noch malin diesem Leben?« Er drehte den Kopf zur Seite, ohne ihrdabei in die Augen zu sehen, und antwortete: »Ich denkeschon!« Dann verließ er mit dem kleinen Gefolge sein Büro.

Wenige Minuten später, wir saßen in Ulbauers Büro,stand plötzlich Wilhelm vor uns. Er war aschfahl undschäumte vor Wut. Mit nach unten ausgestreckten Armen,die Handflächen uns zugewandt, sagte er beinahe verzwei-felt: »Und nun - und nun — wissen Sie, was die jetzt ma-chen? Die fahren zum Essen. Schulz fährt mit Foertschzum Essen. Ich glaube, in die Waldwirtschaft nach Groß-hesselohe oder so. Ich fasse das nicht.« Da sprang der kleinefremde Mann in Ulbauers Büro von seinem Stuhl auf undschimpfte weiter: »Jetzt reicht es mir.« Dabei knallte er sei-nen Notizblock auf den Tisch und verschwand wut-schnaubend.

»Wer ist das eigentlich?«, fragte ich Ulbauer. »Das ist derChef der Truppe aus Meckenheim«, lautete seine Antwort.Wenig später sollte ich den BKA-Beamten wiedersehen.Auf dem Gang traf ich ein mir bereits bekanntes Gesicht,das nicht zum Dienst gehörte, mich aber freundlich anlä-chelte. Es war ein Kriminalhauptkommissar der Staats-

371

Page 373: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Schutzabteilung, den ich von einer früheren Zeugenaus-sage her kannte. Er begrüßte mich freundlich und schlen-derte dann mit mir gemeinsam in ein großes Büro, das sichdirekt neben unserem »Technikraum« befand.

Dabei plauderten wir über den Verlauf dieses eigenarti-gen Ermittlungsverfahrens. »Was wird hier eigentlich fürein Film gedreht?«, fragte ich ihn, als wir vor der Bürotürangekommen waren. Er öffnete, führte mich hinein undschlug mir freundschaftlich auf die Schulter. »Ach, wissenSie, das hier ist ein gigantisches Spiel. Und wir beide spie-len darin nur eine ganz, ganz winzige Statistenrolle.« Erseufzte und bot mir einen Sitzplatz an.

Ich traute meinen Augen kaum. Der Raum war voneinem knappen Dutzend Kripobeamten belegt. Sie tran-ken Kaffee, rauchten und unterhielten sich gelangweilt.Dennoch wirkte die Stimmung irgendwie explosiv. Der Chefder Truppe, den ich in Ulbauers Büro erlebt hatte, richtetegerade ein paar Worte an seine Leute. Als er den Raumwieder verließ, beobachtete ich allgemeines Kopfschütteln.Wortfetzen der Kripobeamten sind mir haften geblieben:»Das ist eine Farce. Die Verarschung des Jahrhunderts.Wie lange sollen wir hier noch eingesperrt bleiben?«Irgendwer nahm die volle Kanne aus der Kaffeemaschineund verteilte die schwarze Brühe in die Kaffeebecher. Dannhob er seine Tasse hoch: »Prost Kaffee - ihr Deppen.«

Konflikt mit dem Bundesanwalt

Am nächsten Tag stand meine Vernehmung als Zeugedurch den Bundesanwalt Schulz an. Er hatte sein Zimmerim Erdgeschoss des Präsidentenhauses eingerichtet. Nurer, sein Kollege Steudel und eine Schreibkraft waren an-

372

Page 374: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wesend. Schulz spielte den Eiskalten. Er saß dicht vor mirund hatte den geöffneten schwarzen Zweireiher links undrechts mit seinen Händen zusammengerafft, als würde erfrieren. Körpersprache, dachte ich, Körpersprache. Erfragte und ich antwortete. Dabei war ich mit den Gedan-ken nicht wirklich bei der Sache.

Mir geisterten Bilder der letzten Dienstjahre durch denKopf. Onkel Ben fiel mir wieder ein, die erste Begegnungmit Ollhauer und der ganze »Stay Behind«-Laden, Kanzler-amt und Schmidbauer, Waldspaziergänge und Föhrenweg,der Personenschutz für meine Familie, »Rübezahl«, Ulbauer,die Fallführerin und Freddy. Ich tauchte förmlich ab. »Bu-chenhain« kam mir in den Sinn, und unwillkürlich mussteich an den Schulz von gestern abend denken, der jetzt vormir saß und den Staatstragenden spielte. Da musste ichschmunzeln und war plötzlich wieder im Hier und Jetzt.

Ganz nebenbei hatte ich eine Reihe von Fragen beant-wortet. Als er mich lächeln sah, brach es aus ihm heraus:»Sie scheinen das hier alles wohl nicht sehr ernst zu nehmen,was?« - »Oh doch, ich nehme das sehr ernst«, antworteteich betont gespielt. »Sie brauchen eine Vernehmungs-pause«, stellte Schulz fest. »Kommen Sie mit«, ordnete eran und musterte den Raum, als würde er eine Wanze su-chen. Dann ging er voran, und ich folgte ihm.

Kurz darauf standen wir vor dem Gebäude. Der mitweißem Kies bedeckte Vorplatz war leer. Nur der blaueVectra stand in einer Ecke. Freddy saß hinter dem Steuerund rauchte aus dem geöffneten Fenster. »Treue Seele«,dachte ich. Schulz baute sich vor mir auf. Stinksauer hatteer erkannt, dass ich ihm weder Quellennamen nochHintergründe zu meinen Informanten nennen würde.Mehrfach hatte er nachgefragt, ob noch belastendes Ma-terial gegen den AL 5 zu erwarten wäre oder auftauchenkönnte und ob ich eventuell noch Material in Händenhätte, das bisher nicht bekannt war.

373

Page 375: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Er knöpfte sein Sakko zu und hob an: »Ich will Ihnenmal was sagen: Ich komme von der Bundesanwaltschaft.Verstehen Sie? Ich bin frei in meinen Entscheidungen.Geht das in Ihren Kopf? Keinem Zwang unterworfen. Ichunterliege keiner politischen Weisung. Sie müssen wissen,wir haben in Deutschland die Gewaltenteilung. VerstehenSie das? Haben Sie davon schon einmal gehört? Mir redetdie Politik nicht in meine Arbeit rein. Ich hoffe, das ist Ih-nen jetzt klar.«

Ich begann innerlich zu kochen. Was wollte dieser Menscheigentlich von mir? Sollte ich dieses Kasperletheater etwamitspielen? Ich war doch dabei gewesen, als im Bundes-kanzleramt die Sache ausbaldowert wurde. Ich hatte er-fahren, dass Schulz zuvor in Bonn gewesen war, um sichDirektiven abzuholen, und dass er nach getaner Arbeitwieder dorthin reisen würde. Ich hatte ihn im Foertsch-Büro beim Ermitteln gesehen, hatte mit den Kripoleutengeredet. Ich wusste, was Wilhelm und Olgauer über die-ses Verfahren dachten. Ich kannte die Tatsache, dass einRedakteur der Süddeutschen Zeitung bereits vor dem Ver-fahren von der Bundesanwaltschaft erfahren hatte, dassdie Ermittlungen gegen Foertsch eingestellt würden.

Deshalb fiel meine Antwort kurz und schroff aus: »Wa-rum, Herr Schulz, beantworten Sie mir eine Frage, die ichgar nicht gestellt habe? Ich bin der Meinung, wir solltendiesen Witz hier zu Ende bringen.« Er begann wütend zuschnauben. »Fühlen Sie sich nur nicht zu sicher, Buse-mann. Ich kann auch ganz anders. Sie scheinen meineMöglichkeiten zu unterschätzen.« Ich unterschätzte nichtnur seine Möglichkeiten, sondern auch seine Motivation.

374

Page 376: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Das »Imperium« schlägt zurück

Ich befand mich längst auf dem Heimweg und checkte fürden Flug nach Hannover ein, als mein Handy klingelte.Olgauer war in der Leitung. Er teilte mir aufgeregt mit,was er mir eigentlich gar nicht sagen durfte. Der General-bundesanwalt hatte das Verfahren an die Staatsanwalt-schaft München übergeben, und die ermittelte nun gegenFreddy und mich. Der Vorwurf im Kern: Betrug und Un-treue. Lachend und kopfschüttelnd saß ich mit meinemPartner vor der Kaffeetasse und wartete auf den Abflug.»Jetzt flippen sie ganz aus«, kommentierte er ungläubig.Dann hakte er nach: »Stehen wir das durch?« Noch wäh-rend ich meinen Gedanken nachhing, beantwortete er sichdie Frage selbst: »Also, das stehen wir durch. Das wollenwir doch mal sehen. Was haben wir denn gemacht? Un-sere Quellen haben wir geschützt. Na und? Sonst nichts,oder?«

Richtig ernst nahmen wir die Gefahr noch nicht. Wir hat-ten nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet und großeErfolge erzielt. Sieht man von dem notorischen NörglerDr. Herle mal ab, waren alle mit uns zufrieden gewesen.Meine letzte Beurteilung war besser als gut und von Ol-gauer gerade noch einmal erneuert worden. Wir hattenunsere Gelder immer sorgsam eingesetzt und, im Verhält-nis zu den erbrachten Leistungen, ausgesprochen wenigausgegeben. Drei große interne Überprüfungen hatten unsund unserer Arbeit ein makelloses Zeugnis ausgestellt. Esgab keinen Anlass zu Disziplinarmaßnahmen und keinenGrund für eine strafrechtliche Verfolgung. Letztlich bliebnur die Verschleierung der Quellen und unsere sture Hal-tung, was den Quellenschutz betraf. Aber war das straf-bar?

Nun warteten wir einfach mal ab. In den nächsten Wo-

375

Page 377: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

chen herrschte Funkstille. Die Staatsanwaltschaft Mün-chen schwieg. Das Presseecho war eindeutig und negativ,was uns betraf. Irgendwer schürte das Feuer gegen uns.Innerhalb der Behörde wurde Tabula rasa gemacht. Wil-helm musste zur BND-Schule in den Münchner VorortHaar wechseln, Ulbauer in ein Referat der Abteilung 1,und Olgauer verschwand im Nirwana des BND. Die ge-samte Sicherheitsabteilung bekam einen neuen Anstrich,und - siehe da - es saßen plötzlich die alten Foertsch-An-hänger in den frei gewordenen Funktionen.

Olgauers Nachfolger Barkus, der sich nicht auf Foertsch-Linie bringen ließ, wurde wenige Wochen später gleichwieder versetzt. Ihm folgte Koller, ein Günstling des AL 5.Er wurde später zu einem Belastungszeuge gegen uns undbezeichnete sich als »kritischer Bewunderer von Foertsch«.

Da sich also nichts tat, ich aber spürte, dass sich etwaszusammenbraute, was außerhalb unseres Einflusses lag,unternahm ich einen Schritt nach vorn. Ich rief in PetersBüro an und bat um ein persönliches Gespräch. Ich wollteihn über den Stand der Dinge informieren. Als einschlägigpositionierter Abgeordneter schien er genau der Richtigefür eine Beschwerde zu sein. Da er selbst nicht mehr derParlamentarischen Kontrollkommission angehörte, ver-mittelte er mich an den SPD-Sicherheitsexperten WilfriedPenner. Also fuhr ich nach Bonn.

Das Gespräch sollte zunächst am 27. Mai 1998 statt-finden. Da ich aus der Reise kein Geheimnis machenwollte, informierte ich meinen damaligen Chef Ulbauer.Der Dienst wusste also Bescheid. Dann wurde das Treffenum einen Tag vorverlegt, und somit änderte sich auch dieAnreise. Da ich das Reisedatum für unwichtig hielt, kor-rigierte ich meine Angaben beim BND nicht mehr. Freddyund ich nächtigten im traditionellen »Rheinhotel Dree-sen«. Bei schönem Wetter und Blick auf den Fluss warenwir guter Dinge. Das Hotel war uns bestens bekannt, weil

376

Page 378: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

wir dort schon mehrfach abgestiegen waren. Ganz in derNähe befand sich eine Außenstelle des BND, zuständig fürdas Dechiffrieren geheimer Unterlagen. Wir hatten hierwiederholt hochbrisante Chiffrierunterlagen russischerHerkunft abgeliefert.

Wir hatten Zeit, und so verbrachten wir hier einen un-serer beliebten » Weißt-du-noch-Abende«. Am nächstenMorgen trafen wir den Bundestagsabgeordneten Penner.Der hörte sich unsere Geschichte an und versprach Hilfe.

Bundesweite Polizeiaktionen

Freddy reiste nachts nach Hause, weil er am folgenden Tageinen frühen Termin hatte. Ich wollte am nächsten Tag Pe-ter informieren und blieb also noch in Bonn. Dann pas-sierte es: Als ich zum Frühstück gehen wollte, erreichtemich der Anruf meiner Frau. Sie schilderte mir detailliertdas Ereignis. Eine Stunde vorher war ein Rollkommandodes Bayerischen Landeskriminalamtes, begleitet von einemBeamten der Gemeinde und eskortiert von der örtlichenPolizei, vor unserem Haus aufmarschiert. Man wolltemich sprechen. Meine Frau erklärte, dass ich bereits seitzwei Tagen in Bonn sei und Gespräche mit einem Vertre-ter der Parlamentarischen Kontrollkommission führenwürde.

Die Störenfriede zeigten sich überrascht. Einer fragte:»Warum schon seit vorgestern? Weiß sein Dienstherr da-von?« Aufgrund dieser Situation waren sich die Münch-ner Polizisten nicht einig, wie sie weiter vorgehen sollten.Meine Frau schloss die Tür und beobachtete den Durch-suchungstrupp, der sich wieder einige Meter vom Hausentfernt hatte. Sie telefonierten und holten sich neue Or-

377

Page 379: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

der. Dann kamen sie zurück und begannen mit der Haus-durchsuchung, besser Hausdurchsicht.

Sowohl der Gemeindebeamte als auch meine Frau ge-wannen den Eindruck, die Polizisten wüssten gar nicht,wonach sie suchen sollten. Also nahmen sie einige Akten-ordner und meinen PC als Beutestücke mit nach Mün-chen. Später sollten daraus umfangreiche Ermittlungsak-ten entstehen. Allein der Ausdruck aller Dateien ergabmehrere Ordner. Beweise für Betrugsdelikte fanden unseremorgendlichen Besucher nicht. Es tauchten auch keinedieser staatsanwaltschaftlichen Trophäen im späteren Ver-fahren auf. Der wahllos herausgegriffene Krempel lagertbis heute noch in München. Mein PC hat in der Zwischen-zeit nur noch historischen Wert.

Da die Strafverfolger auch Ende 1998 noch nichts »Grif-figes« gegen uns gefunden hatten, wurden sie zunehmendsubtiler in ihrer Vorgehensweise. Angetrieben von der po-litischen Abteilung der Staatsanwaltschaft München undunter Mithilfe einer willfährigen Gefolgschaft aus Pullachbegann das LKA, unsere Quellen und Beschaffungshelferzu verhören. Sie gingen mit der Vorstellung ans Werk, je-der Verbindungsführer sei auch irgendwie ein Krimineller,man müsse nur lange genug suchen. Eine Vorgehensweise,die mich stark an der bundesdeutschen Rechtsstaatlichkeitzweifeln lässt.

Unsere Ex-»Stay Behind«-Quelle Cornelsen, den Bankeraus Husum, traf es besonders hart. Wir hatten ihn als Be-schaffungshelfer reaktiviert. Er hatte unter anderem eini-gen unserer russischen Quellen bei der Eröffnung vonKonten assistiert. Obwohl alle Kontodaten dem Dienst be-kannt waren und die Auszüge vorlagen, suchten die Er-mittler Cornelsen in seiner Bank auf und legten seine Arbeitfür den BND offen. Das brachte ihn seiner Geschäftslei-tung gegenüber in erhebliche Schwierigkeiten. Am Endezeigte sich, dass alle Einzahlungen korrekt und alle Aus-

378

Page 380: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Zahlungen vom Kontoinhaber selbst vorgenommen wor-den waren. Der BND sah diesem Treiben zu und füttertedie Polizei mit weiteren Personaldaten. Quellenschutz à laPullach.

Meine Leute wurden erheblich eingeschüchtert. Späterschilderten sie die überfallartigen Besuche der Ermittler inden düstersten Farben: »Ich hatte den Eindruck, manwollte unbedingt etwas gegen euch finden. Ich wurde imUnklaren gelassen, worum es eigentlich geht. Mir wurdesuggeriert, ich hätte möglicherweise für etwas anderes ge-arbeitet als für den BND. Man fragte mich, ob ich die Ent-gelte auch ordentlich versteuert hätte.« Einige musstensich selbst beim örtlichen Polizeirevier melden. Die ver-steckte Drohung, BND-Gelder möglicherweise nachträg-lich versteuern zu müssen, ängstigte die Quellen. Staats-anwaltschaft und BND verschwiegen ihnen ganz bewusstdie Tatsache, dass alle ausbezahlten Beträge bereits zentralversteuert waren.

Anfang 1999 wurde sogar eine unserer russischenInnenquellen mehrfach durch die Staatsanwaltschaft ver-nommen. Der BND hatte ihre Klardaten preisgegeben.Und das für ein mehr als fragwürdiges Verfahren. Dannpassierte mehr als drei Jahre lang nichts. Es war eine Zeitdes Wartens, der Spekulationen und des Nervenkrieges,den der BND gegen uns führte. Meine Entlassungsur-kunde erreichte mich mit offener Post und unkommen-tiert. Auf eine Abschluss- und Sicherheitsbelehrung wurde- völlig unüblich - verzichtet.

379

Page 381: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

In den Fängen der Justiz

Am Morgen des 20. November 2002 stand ich schließlichmit meinem Ex-Partner und Freund vor dem LandgerichtMünchen I. Freddy stellte, wie automatisch, seine Frage:»Und du meinst, das stehen wir durch?« Dabei hatte erwie immer diesen fragenden Blick. Aber diesmal fand ichweder Zufriedenheit noch Vertrauen in seinem Gesicht, alsich ihm die gewohnte Antwort gab: »Ja, Freddy, das ste-hen wir durch. Wir haben nichts verbrochen!« Wir warenan einem Schlusspunkt angekommen. Mit ein wenigGlück, so dachte ich, könnten wir hier auf ein paar cou-ragierte Richter stoßen, die dem ganzen Spuk ein Ende be-reiten würden. Weit gefehlt.

Was in dem Prozess geschah, unterliegt bis heute der Ge-heimhaltung. Nur das Ergebnis wurde - ohne unsere Na-men - öffentlich. Freddy und ich fanden uns in der Presseals zwei schmierige Betrüger wieder, die den BND jahre-lang an der Nase herumgeführt und sich die Taschen ge-füllt hatten. Das Verfahren selbst lief unter seltsamen Um-ständen ab. Am Ende fühlte ich mich hereingelegt. Ichhatte nur - wie zuvor auch - versucht, die Quellen zuschützen, die jedoch, so stellte sich heraus, die einzigenwaren, die mir wirklich hätten helfen können und wollen.Aber genau das wurde zu meinem Strick. Ich wurde zueiner Bewährungsstrafe von elf Monaten verurteilt.

Nach der Urteilsverkündung, auf dem Weg zurück nachHause, fühlte ich mich endlos niedergeschlagen; ich hatteReputation, Stellung und einen Gutteil meiner Gesundheitverloren. Später jedoch spürte ich, dass mir etwas geblie-ben war: Rückgrat.

380

Page 382: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Empfehlenswerte Literatur

Burlakow, Matwej: Wir verabschieden uns als Freunde.Der Abzug - Aufzeichnungen des Oberkommandierendender Westtruppe der sowjetischen Streitkräfte, Bonn/Fri-bourg/Ostrava 1994.

Gaudlitz, Frank/Kumlehn, Thomas: Die Russen gehen,Berlin 1993.

Hirschmann, Kai: Geheimdienste, Hamburg 2004.

Kowalczuk, Ilko-Sascha/Wolle, Stefan: Roter Stern überDeutschland, Berlin 2001.

Markwardt, Waldemar: Erlebter BND. Kritisches Plä-doyer eines Insiders Berlin 1996.

Mecklenburg, Jens (Hg.): Gladio - die geheime Terror-organisation der Nato, Berlin 1997.

Müller, Peter F. & Mueller, Michael: Gegen Freund undFeind. Der BND: Geheime Politik und schmutzige Ge-schäfte, Reinbek b. Hamburg 2002.

Müller, Leo A.: Gladio - das Erbe des Kalten Krieges,Reinbek b. Hamburg 1991.

381

Page 383: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

Naimark, Norman M.: Die Russen in Deutschland, Ber-lin 1997.

Roewer, Helmut/Schäfer, Stefan/Uhl, Matthias: Lexikonder Geheimdienste im 20. Jahrhundert, München 2003.

Ulfkotte, Udo: Verschlusssache BND, München/Berlin1997.

382

Page 384: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004
Page 385: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004

ISBN 3-550-07605-3© 2004 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.Gesetzt aus der Sabon und der Univers

bei LVD GmbH, BerlinDruck und Bindung: Bercker, Kevelaer

Printed in Germany

Page 386: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004
Page 387: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004
Page 388: Bedingt Dienstbereit - Norbert Juretzko - Wilhelm Dietl - Geheimdienst Top Secret Service Bnd Insider Report 9-2004